Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft: Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Bd. I: A – G. Bd. II: H – O. Bd III: P – Z [3rd ed.] 9783110914672, 9783110193558

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Inhalt
Über das neue Reallexikon
Hinweise zur Benutzung
Abgekürzt zitierte Literatur
Sonstige Abkürzungen
Verzeichnis der Artikel in Band I
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G
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Über das neue Reallexikon
Hinweise zur Benutzung
Abgekürzt zitierte Literatur
Sonstige Abkürzungen
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Sonstige Abkürzungen
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Verzeichnis der Verfasserinnen und Verfasser (Bnde I-III)
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Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft: Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Bd. I: A – G. Bd. II: H – O. Bd III: P – Z [3rd ed.]
 9783110914672, 9783110193558

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REALLEXIKON DER DEUTSCHEN LITERATURWISSENSCHAFT Band I

REALLEXIKON DER DEUTSCHEN LITERATURWISSENSCHAFT Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte gemeinsam mit Harald Fricke, Klaus Grubmüller und Jan-Dirk Müller herausgegeben von Klaus Weimar

Band I A-G

W DE

G

Walter de Gruyter · Berlin · New York

Die Originalausgabe dieses Bandes erschien 1997. Mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft (Finanzierung der Redaktorstelle)

Redaktion: Moritz Baßler

© Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

ISBN 978-3-11-019355-8 Bibliografische

Information

der Deutschen

Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© Copyright 2007 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandgestaltung: Christopher Schneider, Berlin Satz und Druck: Arthur Collignon GmbH, Berlin Buchbinderische Verarbeitung: Druckhaus Thomas Müntzer, Bad Langensalza

Inhalt Über das neue Reallexikon Hinweise zur Benutzung Abgekürzt zitierte Literatur Sonstige Abkürzungen Verzeichnis der Artikel in Band I Artikel A - G

VII IX XI XVI XVIII 1

Über das neue Reallexikon — Das ,Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte' heißt in seiner dritten, von Grund auf neu erarbeiteten Auflage ,Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft' (RLW). — Mit dieser Namensänderung wird zunächst nur eine Anpassung an die geänderten Verhältnisse vollzogen: das Fach, das sich beim Erscheinen der ersten Auflage ab 1926 noch ,Deutsche Literaturgeschichte' genannt hat, heißt heute im allgemeinen ,Deutsche Literaturwissenschaft'. Darüber hinaus resultiert die Namensänderung aus einer Anwendung des eigenen lexikographischen Programms: es ist untunlich, eine Wissenschaft mit demselben Wort zu bezeichnen wie ihren Gegenstandsbereich. — Dementsprechend strebt das RLW nicht eine alphabetisch geordnete Darstellung des Wissenschaftsgegenstandes .deutsche Literaturgeschichte' an, sondern eine lexikalische Darstellung des Sprachgebrauchs der Wissenschaft, d. h. des Faches ,Deutsche Literaturwissenschaft'. Denn Realien steht hier, wie schon bei den Begründern Paul Merker und Wolfgang Stammler, nicht für ,Sachen', sondern für ,Sachbegriffe' — im Kontrast zu ,Eigennamen' als Personalien (für die ζ. B. Stammler selbst das ,Verfasserlexikon' auf den Weg gebracht hat). — Leitfrage eines Lexikon-Benutzers ist: „Was versteht man unter ...?" — demgemäß wird man im RLW also nicht darüber informiert werden, was ζ. B. ,das Wesen der Klassik' sei, sondern seit wann und wie und in welchem Sinne Klassik unter Literaturwissenschaftlern im Gebrauch ist. — Das RLW als Begriffswörterbuch erstrebt zwar auch eine möglichst vollständige und systematische Bestandsaufnahme des literaturwissenschaftlichen Sprachgebrauchs, hat aber sein eigentliches Ziel darin, ihn zu präzisieren. Es ergreift deshalb Partei nur für die Genauigkeit des wissenschaftlichen Sprachgebrauchs und nicht für eine bestimmte Richtung des Faches. — Im Interesse von Klärung und Präzisierung des wissenschaftlichen Sprachgebrauchs will sich das RLW zunächst darin von anderen Lexika unseres Faches abheben, daß es so deutlich wie jeweils möglich zwischen Wort-, Begriffs-, Sach- und Forschungsinformation unterscheidet. Der Artikel „Drama" ζ. B. enthält in gekennzeichneten Abschnitten Informationen darüber, woher das Wort Drama kommt, was seine Bedeutungen waren und sind (WortGeschichte), wie sich der Begriff,Drama' konzeptuell verändert hat und ggf. alternativ benannt worden ist (BegriffsGeschichte), wie die heute mit Drama bezeichnete Sache - insbesondere im deutschen Sprachgebiet — von

Vili

Über das neue Reallexikon

den Anfangen bis in die Gegenwart ausgesehen hat (SachGeschichte), schließlich wie bzw. inwieweit die - insbesondere deutschsprachige — Literaturwissenschaft diese Sache bislang erforscht hat und wie man sich am zuverlässigsten darüber informieren kann (ForschungsGeschichte mit knapper Literaturliste). — Im Interesse von Klärung und Präzisierung des wissenschaftlichen Sprachgebrauchs will das RLW dabei die Wort- und Begriffsinformation, also den terminologischen Aspekt, eindeutig in den Vordergrund stellen und die in vielen anderen Nachschlagewerken ausführlich angebotene Sachdarstellung eher knapp (somit auch den Gesamtumfang aller Artikel überschaubar) halten. So bietet der Artikel „Drama" keine kurzgefaßte .Geschichte des deutschen Dramas', sondern nur so viel davon, wie nötig ist zur Ergänzung der Wortund Begriffsinformation sowie zur Begründung eines historisch adäquaten Präzisierungsvorschlags. — Im Interesse von Klärung und Präzisierung des wissenschaftlichen Sprachgebrauchs enthält das RLW in jedem Artikel eine Explikation: einen historisch gestützten Gebrauchsvorschlag dafür, mit welchen begrifflichen Merkmalen und mit welchem Begriffsumfang der betreffende Terminus in der gegenwärtigen Literaturwissenschaft sinnvollerweise zu verwenden ist und wie er sich ggf. zu seinem TERMINOLOGISCHEN FELD verhält. Da unser Fach zu einem nicht unbeträchtlichen Teil seine Termini aus der Umgangssprache bezieht, unternimmt es diese Explikation (und nicht etwa schon die zur Groborientierung vorangestellte ,Kopfzeile'), die Grenze zwischen dem umgangssprachlichen und einem geklärten fachsprachlichen Gebrauch ein- und desselben Wortes zu ziehen. — Ebenso wie viele Explikationen müssen dabei auch wort- und begriffsgeschichtliche Untersuchungen nicht selten ohne nennenswerte Vorarbeiten auskommen; dieser Umstand verdeutlicht schon, daß hier kein fraglos bestehender Konsens festgestellt oder gar festgeschrieben werden kann, sondern daß im RLW Ergebnisse terminologischer Forschung zu weiterer Nutzung und Diskussion bereitgestellt werden. Der Bezug auf einen solchen Thesaurus wissenschaftsgeschichtlich reflektierter Gebrauchsvorschläge wird es jedem einzelnen Forscher erleichtern, bei Bedarf seine eigenen terminologischen Entscheidungen zu treffen und sie ohne großen Aufwand, nämlich durch knappe Benennung der Übereinstimmungen und Differenzen zur RLW-Explikation, deutlich zu machen. — Um diese Verbindung von Kontinuität und Zukunftsoffenheit in jedem einzelnen Artikel zu erreichen, bedurfte es einer ungewöhnlich engen Kooperation von Artikel-Verfassern und Herausgebern. Für ihre Bereitschaft, sich dem viel Zeit und Toleranz abverlangenden Prozeß oft mehrstufiger Überarbeitungen und nicht selten auch schmerzhafter Kürzungen geduldig und kooperativ zu unterziehen, sollte den Verfassern aller Artikel der Dank der Fachwelt sicher sein; der Dank der Herausgeber sei ihnen auch an dieser Stelle ausgesprochen.

Hinweise zur Benutzung — Das RLW ist für sämtliche darin explizierten Termini konsequent alphabetisiert (in der jeweils gebräuchlichsten Wortform — À = Ae usw., Jambus statt Iambus usw., Kode unter Code usw.). Erfolgt nicht schon am alphabetischen Ort eine ausführliche Darstellung zu einem Lemma, so wird durch den Pfeil auf denjenigen anderen Artikel verwiesen, in dessen Rahmen dieses VerweisStichwort erläutert wird. — Ein Verweis-Stichwort verhält sich dabei zu seinem Artikel-Stichwort nicht in jedem Fall als Unterbegriff zur übergeordneten Kategorie (wie ANAPÄST ZU Versfuß), sondern oft auch als gleichrangiger Parallelfall (EPIPHER im Artikel Anapher), als Gegenstück eines Begriffspaars (FORM/INHALT gemeinsam im Artikel Form), als historische Spezialform (GÖTTINGER HAIN im Artikel Empfindsamkeit), als möglicher Konkurrenzbegriff (ERZIEHUNGSROMAN im Artikel Bildungsroman) oder einfach als partielles historisches Synonym von eigenem lexikographischen Gewicht (MUNDARTDICHTUNG im Artikel Dialektliteratur). — Auch auf sachlich angrenzende bzw. ergänzende Artikel wird aus dem Text mit einem Pfeil verwiesen. Wo sich dieser Verweis auf das Unterstichwort eines Artikels bezieht, wird dieses kursiv vor dem Pfeil aufgeführt, der auf das zugehörige Artikelstichwort lenkt (Hyperbel, ? Emphase). — Ein förmliches Verweis-Stichwort entfällt, wo bereits die allgemeine Sprachkompetenz problemlos zum zweiten Teilausdruck eines Terminus als der richtigen Fundstelle leiten sollte: Binnenreim wird man unter Reim nachschlagen, Externe Funktion unter Funktion usw. — Wo ein terminologischer Ausdruck schon innerhalb der deutschen Literaturwissenschaft systematisch mehrdeutig gebraucht wird, werden seine Lesarten durch Indizes unterschieden (Schwankt als frühneuzeitliche Erzählform, Schwank2 als gründerzeitliche Komödienform) und gesondert dargestellt (je ein eigener Artikel für Glosse! als Erläuterungs- und Erschließungsinstrument vor allem mittelalterlicher Texte, Glosse2 als Gedichtgattung, Glosse3 als publizistische Kleinform). Dabei stehen reine Verweise immer voran (ALLEGORIEΙ ist nur Unterstichwort zu Metaphernkomplex); im folgenden rangiert dann die allgemeinere jeweils vor der historisch begrenzteren Bedeutung (erst Allegorie2 als zeitübergreifende Schreibweise, dann Allegorie3 als vor allem mittelalterliche Gattung). — Metasprachlich thematisierte Wörter erscheinen kursiv, thematisierte ,Begriffe' und alle anderen ,Bedeutungen' in einfachen Anführungszeichen.

χ

Hinweise zur Benutzung

— Zugeordnete Verweis-Stichwörter innerhalb eines Artikels werden an der Stelle ihrer jeweils wichtigsten Erläuterung durch KAPITÄLCHEN hervorgehoben. Geschieht das in der Form eines förmlichen ,Gebrauchsvorschlages', so findet sich dies als ,Terminologisches Feld' am Schluß des Abschnittes Explikation. — Um den ungleichen altsprachlichen Vorkenntnissen der Benutzer Rechnung zu tragen, werden griechische Wörter und Zitate im Original mit anschließender Transkription in [...] wiedergegeben (Wörter aus anderen Schriften nur transkribiert); wo griechische oder lateinische Zitate nicht unmittelbar darauf in einfachen Anführungszeichen übersetzt sind, werden sie im Kontext unmißverständlich paraphrasiert. — Zur Entlastung des — gewollt knapp und damit überschaubar gehaltenen — bibliographischen Apparates werden häufig herangezogene Quellentexte, Nachschlagewerke und Zeitschriften in fachüblicher Weise abgekürzt zitiert; die Auflösung der Siglen wie auch aller sonstigen Abkürzungen findet man im Gesamtverzeichnis zu Beginn eines jeden Bandes. — Auch bei den übrigen bibliographischen Angaben rangiert im Bedarfsfall problemlose Identifizierbarkeit vor bibliothekarischer Vollständigkeit: Überlange Aufsatz- oder Kapiteltitel werden gegebenenfalls durch markierte Auslassungen [...] gekürzt; Untertitel werden durchweg nur angegeben, wo dies zur Verdeutlichung des Lemma-Bezuges unerläßlich ist. — Werktitel im laufenden Text stehen in einfachen Anführungszeichen (,Kabale und Liebe'). Werke antiker und mittelalterlicher Autoren werden im Regelfall mit eingeführtem Kurztitel und nach der Konvention zitiert (Aristoteles, ,Poetik' 1454 b). — Im Anschluß an die einzelnen Artikel-Rubriken werden in alphabetischer Ordnung jene Titel nachgewiesen, die nur in der jeweiligen Rubrik zitiert oder vorrangig dort von Belang sind. Kurznachweise im Text, die sich nicht gleich hier aufgelöst finden, verweisen auf die Rubrik Literatur, die für das Gesamtstichwort wichtige Titel verzeichnet.

Abgekürzt zitierte Literatur AdB Adelung

BMZ

Campe

CC Cgm Clm CSEL Curtius DEI DWb DWb 2 EJ EM

Ersch/Gruber

EWbD Findebuch Frnhd.Wb. Georges Gottsched

Allgemeine deutsche Bibliothek. Hg. v. Friedrich Nicolai. 118 Bde. Berlin, Stettin 1766-1796. Johann Christoph Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart. 4 Bde. Wien 31808 [5 Theile Leipzig '1774-1786; 4 Bde. Leipzig 21794], Mittelhochdeutsches Wörterbuch. Mit Benutzung des Nachlasses von Georg Friedrich Benecke ausgearbeitet von Wilhelm Müller und Friedrich Zarncke. 3 Bde. Leipzig 1854-61. Repr. Hildesheim 1963. Joachim Heinrich Campe: Wörterbuch der Deutschen Sprache. 5 Bde. Braunschweig 1807-1811. Repr. Hildesheim 1969-1970. Mit einer Einführung und Bibliographie von Helmut Henne. Corpus Christianorum Series Latina. Turnhout 1954 ff. Codex germanicus monacensis (Bayerische Staatsbibliothek München). Codex latinus monacensis (Bayerische Staatsbibliothek München). Corpus scriptorum ecclesiasticorum latinorum. Wien u. a. 1866 ff. Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. Bern 1948 u. ö. Dizionario Enciclopedico Italiano. 12 Bde. Rom 1955—1961. Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. 33 Bde. Leipzig 1854-1971. Repr. München 1984. Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. Neubearbeitung. Leipzig 1983 ff. Encyclopaedia Judaica. Das Judentum in Geschichte und Gegenwart. 10 Bde. A - L . Berlin 1928-34. Enzyklopädie des Märchens. Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung. Hg. v. Kurt Ranke zusammen mit Hermann Bausinger u. a. Berlin, New York 1977 ff. Johann Samuel Ersch, Johann Gottfried Gruber (Hg.): Allgemeine Encyclopädie der Wissenschaften und Künste. 167 Bde. Leipzig 1818-1889. Etymologisches Wörterbuch des Deutschen. Hg. v. Wolfgang Pfeifer u. a. Berlin (Ost) 1989. 2 Bde. 21993. Kurt Gärtner u. a.: Findebuch zum mittelhochdeutschen Wortschatz. Mit einem rückläufigen Index. Stuttgart 1992. Frühneuhochdeutsches Wörterbuch. Hg. v. Robert R. Anderson, Ulrich Goebel und Oskar Reichmann. Berlin, New York 1989 ff. Karl-Ernst Georges: Ausführliches Lateinisch-Deutsches Handwörterbuch. 2 Bde. Leipzig 81913. Repr. Basel 1951 u. ö. Johann Christoph Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst. Leipzig 41751. Repr. Darmstadt 1962.

XII GWb

Hain

Hebenstreit

Heyne HRG HWbPh HWbRh Kay ser Kluge-Mitzka Kluge-Seebold

Lausberg Lexer LexMA LThK LThK 3 MF

MG

MGG MGG 2

Mlat.Wb.

OED Paul-Betz

Abgekürzt zitierte Literatur Goethe-Wörterbuch. Hg. v. der Akademie der Wissenschaften der DDR, der Akademie der Wissenschaften in Göttingen und der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Stuttgart u. a. 1978 ff. Ludwig Hain: Repertorium bibliographicum, in quo libri omnes ab arte typographica inventa usque ad annum MD: typis expressi [...] enumerantur vel [...] recensentur. 4 Bde. Repr. Mailand 1966. Wilhelm Hebenstreit: Wissenschaftlich-literarische Encyklopädie der Aesthetik. Ein etymologisch-kritisches Wörterbuch der ästhetischen Kunstsprache. Wien 21848. Moriz Heyne: Deutsches Wörterbuch. 3 Bde. Leipzig 1890—95. Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte. Hg. v. Adalbert Erler und Ekkehard Kaufmann. Berlin 1971 ff. Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hg. v. Joachim Ritter und Karlfried Gründer. Basel, Darmstadt 1971 ff. Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hg. v. Gert Ueding. Tübingen 1992 ff. Wolfgang Kay ser: Das sprachliche Kunstwerk. Eine Einführung in die Literaturwissenschaft. Bern 1948 u. ö. Friedrich Kluge: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Bearbeitet von Walther Mitzka. Berlin 201967. Friedrich Kluge: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Unter Mithilfe von Max Bürgisser und Bernd Gregor völlig neu bearbeitet von Elmar Seebold. Berlin, New York 221989; 231995. Heinrich Lausberg: Handbuch der literarischen Rhetorik. Eine Grundlegung der Literaturwissenschaft. 2 Bde. München 1960. Matthias Lexer: Mittelhochdeutsches Handwörterbuch. 3 Bde. Leipzig 1872-78. Repr. Stuttgart 1992. Lexikon des Mittelalters. München, Zürich 1980 ff. Lexikon für Theologie und Kirche. Hg. v. Josef Höfer und Karl Rahner. 10 Bde. Freiburg 2 1957-65. Lexikon für Theologie und Kirche. Hg. v. Walter Kasper. Freiburg 1993 ff. Des Minnesangs Frühling. Unter Benutzung der Ausgaben von Karl Lachmann und Moriz Haupt, Friedrich Vogt und Carl von Kraus bearbeitet von Hugo Moser und Helmut Tervooren. Stuttgart 37 1982. Monumenta Germaniae Histórica. Hannover, Leipzig 1826 ff. SS — Scriptores. SS rer.Germ. — Scriptores rerum Germanicarum in usum scolarum separatim editi. Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik. Hg. v. Friedrich Blume. 17 Bde. Kassel, Basel 1949-1986. Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik. Begründet von Friedrich Blume. 2., neubearbeitete Ausgabe hg. v. Ludwig Finscher. 20 Bde. Kassel u. a. 1994 ff. Mittellateinisches Wörterbuch bis zum ausgehenden 13. Jh. Hg. v. der Bayerischen Akademie der Wissenschaften und der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. München 1967 ff. The Oxford English Dictionary. Hg. v. J. A. Simpson und E. S. C. Weiner. 20 Bde. Oxford 21989. Hermann Paul: Deutsches Wörterbuch. Bearbeitet von Werner Betz. Tübingen 71976.

Abgekürzt zitierte Literatur Paul-Henne PL Quintilian

RAC

RDK RGG RL 1 RL 2

Robert

Sanders

Scaliger

Schweikle Schulz-Basler Splett Sulzer Thesaurus TRE Trübner VL Weigand Wilpert Zedier

XIII

Hermann Paul: Deutsches Wörterbuch. Vollständig neu bearbeitete Auflage von Helmut Henne und Georg Objartel. Tübingen 9 1992. Patrologiae cursus completus. Series Latina. Hg. v. J. P. Migne. 221 Bde. Paris 1844-1865. Marcus Fabius Quintilianus: Institutionis oratoriae libri XII. Ausbildung des Redners. Hg. und übers, v. Helmut Rahn. 2 Bde. Darmstadt 1972, 1975. Reallexikon für Antike und Christentum. Sachwörterbuch zur Auseinandersetzung des Christentums mit der antiken Welt. Hg. v. Theodor Klauser, Ernst Dassmann u. a. Stuttgart 1950 ff. Reallexikon zur Deutschen Kunstgeschichte. Hg. v. Otto Schmitt u. a. Bde. 1 - 5 Stuttgart 1937-1967. Bd. 6ff. München 1973 ff. Die Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft. Hg. v. Kurt Galling. 6 Bde. Tübingen 3 1957-1965. Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte. Hg. v. Paul Merker und Wolfgang Stammler. 4 Bde. Berlin 1925-1931. Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte. Bd. 1 - 3 hg. v. Werner Kohlschmidt und Wolfgang Mohr. Berlin 2 1958-1977. Bd. 4 hg. v. Klaus Kanzog und Achim Masser. Berlin 21984. Le grand Robert de la langue française. Dictionnaire alphabétique et analogue de la langue française. Hg. v. Alain Rey. 9 Bde. Paris 2 1985. Daniel Sanders: Deutscher Sprachschatz geordnet nach Begriffen zur leichten Auffindung und Auswahl des passenden Ausdrucks. Ein stilistisches Hülfsbuch für jeden Deutsch Schreibenden. 2 Bde. Hamburg 1873. Repr. Tübingen 1985. Julius Caesar Scaliger: Poetices libri Septem = Sieben Bücher über die Dichtkunst. Unter Mitwirkung von Manfred Fuhrmann hg. und übers, v. Luc Deitz und Gregor Vogt-Spira. Stuttgart-Bad Cannstatt 1994 ff. Metzler Literaturlexikon. Stichwörter zur Weltliteratur. Hg. v. Günther und Irmgard Schweikle. Stuttgart 1984; 21990. Deutsches Fremdwörterbuch. Begonnen v. Hans Schulz, fortgeführt von Otto Basler. 7 Bde. Straßburg u. a. 1913-1988. Jochen Splett: Althochdeutsches Wörterbuch. Berlin u. a. 1993. Johann Georg Sulzer: Allgemeine Theorie der schönen Künste. 4 Bde. Leipzig 2 1792-94. Repr. Hildesheim 1967-1970. Thesaurus linguae latinae. Ed. auctoritate et Consilio Academiarum quinqué Germanicarum [...] et al. Leipzig 1900ff. Theologische Realenzyklopädie. Hg. v. Gerhard Krause und Gerhard Müller. Berlin, New York 1974 ff. Trübners Deutsches Wörterbuch. Hg. v. Alfred Götze, Walther Mitzka u. a. 8 Bde. Berlin 1939-57. Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. Hg. v. Kurt Ruh u. a. Berlin, New York 2 1978ff. Friedrich L. K. Weigand: Deutsches Wörterbuch. 3 Bde. Gießen 5 1909. Gero von Wilpert: Sachwörterbuch der Literatur. Stuttgart 71989. Johann Heinrich Zedier (Hg.): Großes vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschaften und Künste. 64 Bde. Halle, Leipzig 1732-50. Repr. Graz 1961-64.

XIV

Abgekürzt zitierte Literatur

Periodika ABAG AfdA AfK Annales ESC ASNSL BIOS Börsenblatt DA DaF DS DU DVjs EG FMLS FMSt GGA GR GRM GWU IASL JbFDH JbIG JEGP KZfSS LiLi LingBer LWU MfdU MIÖG MittellatJb MLN MLR Mu NLH PBB PMLA PTL Rev.Int.Phil. Schiller-Jb. STZ SuF SuLWU TeKo WB WW ZÄAK

Amsterdamer Beiträge zur älteren Germanistik Anzeiger für deutsches Altertum und deutsche Literatur Archiv für Kulturgeschichte Annales. Economies, Sociétés, Civilisations Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen Zeitschrift für Biographieforschung und Oral History Börsenblatt für den deutschen Buchhandel Deutsches Archiv für Geschichte des Mittelalters; ab 8/1951: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters Deutsch als Fremdsprache Deutsche Sprache. Zeitschrift für Theorie, Praxis, Dokumentation Der Deutschunterricht. Beiträge zu seiner Praxis und wissenschaftlichen Grundlegung (Stuttgart 1948-1982, Velber 1983 ff.) Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte Etudes Germaniques Forum for Modern Language Studies Frühmittelalterliche Studien Göttingische Gelehrte Anzeigen Germanic Review Germanisch-romanische Monatsschrift Geschichte in Wissenschaft und Unterricht Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts Jahrbuch für Internationale Germanistik The Journal of English and Germanic Philology Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie LiLi. Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik Linguistische Berichte Literatur in Wissenschaft und Unterricht Monatshefte für den deutschen Unterricht Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung Mittellateinisches Jahrbuch Modern Language Notes Modern Language Review Muttersprache New Literary History Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur Publications of the Modern Language Association of America A journal for descriptive poetics and theory of literature Revue internationale de philosophie Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft Sprache im technischen Zeitalter Sinn und Form Sprache und Literatur in Wissenschaft und Unterricht Text und Kontext Weimarer Beiträge Wirkendes Wort Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft

Periodika ZADSV ZfD ZfdA ZfdPh ZfdU ZfG

Zeitschrift Zeitschrift Zeitschrift Zeitschrift Zeitschrift Zeitschrift

des Allgemeinen Deutschen Sprachvereins für Deutschkunde für deutsches Altertum und deutsche Literatur für deutsche Philologie für den deutschen Unterricht für Germanistik

XV

Sonstige Abkürzungen Die Bücher der Bibel werden abgekürzt nach LThK 3 . =

t ae. afrz. ahd. am. aprov. arab. art. Art. asächs. AT Bd./Bde./ Bdn. begr. BegrG bes. Bl. c. cap. d. Gr. Diss. dt. ebd. engl. erw. Expl f. [Zahl] [Zahl] f. Fase. ff. ForschG Fr. frnhd. frz. Fs. gest. ggf· griech.

ist gleich gestorben altenglisch altfranzösisch althochdeutsch amerikanisch altprovençalisch arabisch articulus Artikel altsächsisch Altes Testament Band/Bände/Bänden begründet Begriffsgeschichte besonders Blatt carmen capitulum der Große Dissertation deutsch ebenda englisch erweiterte Fassung Explikation folium folgende Fasciculus (mehrere) folgende Forschungsgeschichte Fragment frühneuhochdeutsch französisch Festschrift für gestorben gegebenenfalls (alt-)griechisch

H. Habil. Hb./-hb. Hg. hg. v. Hs. ital. IVG

Jb./-jb. Jg. Jh./Jhs. Kap. lat. lib. Lit masch. mhd. mlat. mnd. mnl. Ms. nd. NF nl. NT obdt. o.J. o.O. Pers. port. pr. praef. ad prov. q· [Zahl]r Reg. Repr. russ.

Heft Habilitationsschrift Handbuch/-handbuch Herausgeber/Herausgeberinnen herausgegeben von Handschrift italienisch Internationale Vereinigung für germanische Sprach- und Literaturwissenschaft JahrbuchZ-jahrbuch Jahrgang Jahrhundert/Jahrhunderts Kapitel lateinisch liber Literatur(-verzeichnis) maschinenschriftlich mittelhochdeutsch mittellateinisch mittelniederdeutsch mittelniederländisch Manuskript niederdeutsch Neue Folge niederländisch Neues Testament oberdeutsch ohne Jahresangabe ohne Ortsangabe Person portugiesisch prooemium praefatio ad provençalisch quaestio recto Register Reprint, fotomechanischer Nachdruck russisch

Sonstige Abkürzungen s. SachG sc. SJ span. St. S. V.

tit. tschech. u. a. u. ä. u . a. m . übers, v.

siehe Sachgeschichte scilicet Societas Jesu (Jesuitenorden) spanisch Stück sub voce (unter dem Stichwort) titulus tschechisch und andere/und anderswo und ähnlich(es) und andere(s) mehr übersetzt von

u. ö. usw. V.

[Zahl]v v. a. vgl. vs. Wb./-wb. WortG z. B. zit. n. Zs. z.T.

XVII und öfter und so weiter Vers verso vor allem vergleiche versus (im Gegensatz zu) Wörterbuch/-wörterbuch Wortgeschichte zum Beispiel zitiert nach Zeitschrift zum Teil

Verzeichnis der Artikel in Band I Alle vier Herausgeber haben sich jeweils mit sämtlichen Artikeln dieses Bandes befaßt und sie untereinander wie mit den Verfasserinnen und Verfassern diskutiert. Die Herausgeber-Kürzel hinter den Lemmata der folgenden Liste (F = Harald Fricke, G = Klaus Grubmüller, M = Jan-Dirk Müller, W = Klaus Weimar; ohne Kürzel = Herausgeber-Artikel) geben an, welcher Herausgeber jeweils die Korrespondenz geführt und die Schlußredaktion verantwortlich überwacht hat. Abecedarium2 (G) Abenteuerroman (W) Absurd (W) Absurdes Theater (W) Abweichung (M) Äquivalenz (F) Äquivalenzprinzip (F) Äquivokation (W) Ästhetik (W) Ästhetizismus (M) Affektenlehre (M) Agitprop (W) Akademie (M) Akt (W) Aktant (W) Akzent (F) Alexandriner (G) Allegorese (G) Allegorie2 (F) Allegories (G) Alliteration (W) Alltagserzählung (M) Almanach (M) Alphabetisierung (W) Alterität (M) Alternation (F) Althochdeutsche Literatur (M) Altsächsische Literatur (G) Ambiguität (W) Amplificado (F) Anagramm (M) Anakoluth (G) Anakreonteen (M) Anakreontik (W)

Analytische Literaturwissenschaft (F) Analytisches Drama (W) Anapher Aneignung (W) Anekdote (W) Anonymität Anspielung2 (F) Anstandsliteratur (M) Anthologie (M) Antichristspiel (G) Antithese (G) Aphorismus Apophthegma (F) Apotheose (M) Apparat (G) Appellstruktur (F) Applikation (W) Aptum, Decorum (M) Arbeiterliteratur (W) Archäologie des Wissens (M) Archaismus (G) Argumentado (G) Argumentum ι (G) Argumentum2 (G) Argutia (W) Arie (F) Ars dictaminis, Ars dictandi (M) Ars moriendi (G) Artefakt (W) Artes liberales (M) Artes magicae (M) Artes mechanicae (F) Artesliteratur (M) Artusepik (G)

Verzeichnis der Artikel in Band I Assonanz (W) Attizismus (M) Aufklärung (W) Auftakt (F) Aura (M) Authentizität Autobiographie (F) Autonomie (M) Autor (M) Autorengruppe (F) Autorisation Avantgarde (M) Aventiure (G) Ballade (G) Ballett (M) Bänkelsang (W) Bar (G) Barock (M) Bedeutung (F) Bedeutungsaufbau (F) Beichte (G) Belehrung (F) Beschreibstoff (G) Bestseller (F) Bibelepik (G) Bibliographie (W) Bibliothek (M) Bildergeschichte (W) Bildungsroman (F) Biographie ι (F) Biographie2 (W) Blankvers (F) Blockbuch (G) Boheme (F) Botschaft (F) Boulevardstück (F) Brevier (M) Brief (W) Briefroman (W) Briefsteller (G) Buch (G) Buchhandel (M) Buchmalerei (M) Bühne, Bühnenform (M) Bühnenbild (M) Bühnenkomik Bühnenrede (W) Bürgerliches Trauerspiel (M) Bukolik (M) Camouflage (G) Cento (F)

Chanson (F) Charakter (W) Chiffre (F) Chor (W) Chronik (M) Code(F) Codex(G) Comic(s) (W) Commedia dell'arte (M) Computertext (F) Concetto (M) Conférence (F) Couplet (F) Cursus2 (M) Dadaismus (M) DDR-Literatur (F) Deklamation (M) Dekonstruktion (W) Descriptio (M) Determination (F) Deutschunterricht (F) Diachronie (F) Dialektliteratur (M) Dialog ι (F) Dialog2 (W) Dialogizität (F) Dichter (M) Diegesis Digression (W) Dilettant (W) Dinggedicht (F) Dirigierrolle (G) Diskurs (W) Diskurstheorie (W) Dispositio (M) Disputatio (G) Distichon (F) Distribution (W) Dithyrambe (W) Dokumentarliteratur (W) Dokumentartheater (F) Dominanz (F) Dorfgeschichte (F) Drama (F) Dramatisch (F) Dramaturgiei (F) Dramaturgie2 (F) Dramentheorie (F) Drehbuch (M) Drei-Einheiten-Lehre (W) Druck (G)

XIX

XX

Verzeichnis

Edition Editionswissenschaft (W) Einakter (M) Einfache Formen (G) Einfluß (F) Einfühlung Elegie (W) Elocutio (M) Emanzipatorisch (G) Emblem (F) Empfindsamkeit (F) Emphase (F) Empirische Literaturwissenschaft (F) Engagierte Literatur (G) Enjambement (F) Entfremdung (G) Enzyklopädie (G) Epenstrophe (G) Epicedium (M) Epigone (M) Epigramm (F) Epigraphik (G) Epilog (M) Episch (M) Episches Theater (W) Episode (M) Epistel (W) Epitaph (M) Epoche(F) Epos (M) Erbauungsliteratur (M) Erbetheorie (F) Erhaben (G) Erklärung (F) Erlebnis (M) Erlebnislyrik (W) Erlebte Rede (W) Erzähler (W) Erzählerkommentar(W) Erzählschema (M) Erzählsituation (W) Erzähltempo (W) Erzähltheorie (W) Erzählungi (F) Erzählung2(F) Essay (W) Etymologisieren (G) Euphemismus (F) Evolution (M) Exegese (G) Exempel (G) Exilliteratur (W)

Artikel in Band I Existentialismus (F) Exotismus (W) Experimentell (M) Exposition (W) Expressionismus (F) Fabeh Fachprosa (M) Fälschung Farbensymbolik Fassung (G) Fastnachtspiel (G) Fazetie (G) Feministische Literaturwissenschaft (F) Fernsehspiel (F) Fest (M) Feuilleton, (W) Feuilleton (F) Figur 3 (F) Figurengedicht (F) Figurenkonstellation (F) Figurenrede (W) Fiktion (F) Film (M) Fin de siècle (F) Florilegium Flugblatt (M) Folklore (M) Form (F) Formalismus (F) Formeh (M) Formgeschichte (W) Formularbuch (M) Fragment2 (M) Frauenliteratur (M) Freie Rhythmen (F) Freie Verse (F) Frühe Neuzeit (M) Frühmittelhochdeutsche Literatur (M) Fürstenspiegel (M) Funktion Furcht und Mitleid (M) Galante Literatur (M) Gattung (F) Gattungsgeschichte (W) Gattungstheorie (F) Gebet (M) Gebrauchstexte (W) Gebrauchszusammenhang (G) Gedankenlyrik Gedicht (F)

Verzeichnis der Artikel in Band I Gegenkultur (M) Gegenreformation (M) Geistesgeschichte Geistliches Lied (M) Geistliches Spiel (G) Gelegenheitsgedicht (M) Gemination (M) Gender studies (G) Genera dicendi (M) Generation (M) Generative Poetik (F) Genie Genre (F) Genre objectif (G) Germanistik Gesamtkunstwerk (F) Geschichtsepik (G) Geschmack (W)

Gesellschaftslied (G) Gespenstergeschichte (M) Gestalt (M) Ghasel (F) Gleichnis (W) Glosse ι (M) Glosse2 (F) Glosse3 (F) Gnomik (G) Goethezeit Gradatio (F) Grafitti (G) Grammatologie (F) Graphemik (G) Grobianismus (M) Grotesk (F) Groteske (F) Gründerzeit (M)

A Abbild

Widerspiegelung

Abbreviatio

Amplificado

9. Jh.) scheint auf Gelegenheitsbildungen beschränkt zu sein.

SachG: Die deutschen Hymnen und Sequenzen, die — vor allem seit dem 14. und 15. Jh. — in der Form des Abecedariums Abecedarium! /" Kinderverse verfaßt wurden, sind späte Vertreter einer schon im Frühmittelalter etablierten lateinischen Tradition, die letztendlich durch die Abecedarium 2 im Hebräischen beliebten abecedarischen Text, der nach dem Alphabet strukturiert ist. Psalmenstrophen (z. B. Psalm 119, Klagelieder 1 — 5) angeregt wurde. Namhafte mittelExpl: Der Terminus bezeichnet im literatur- alterliche Autoren, die diese Form benutzwissenschaftlichen Kontext hauptsächlich ten, sind u. a. der Mönch von Salzburg Gedichte oder Prosatexte (häufig /" Ge- (,Das guidein Abc') und Heinrich Laufenbete), bei denen die Anfangsbuchstaben der berg. Das niederdeutsche ,Marien-ABC' ist Strophen oder Absätze der Reihenfolge des ein Preis- und Bittgedicht in 23 Strophen. Alphabets entsprechen (alphabetisches Diese Beispiele belegen die Bedeutung des Akrostichon, Kryptogramm). Er wird ge- Texttyps für die spätmittelalterliche /" Malegentlich auch auf theologische und juristi- riendichtung. Neben den poetischen Abecesche Hilfsmittel und andere alphabetische darien steht eine Fülle von wenig erforschVerzeichnisse übertragen. ten und meist noch nicht gedruckten Prosatexten, in denen Regeln für das christliche WortG: Ableitung aus der seit dem 9. Jh. Leben und erbauliche Betrachtungen, belegten (Kluge-Seebold, 2) Bezeichnung hauptsächlich Gebete und Lobpreisungen, der lat. Buchstabenreihe nach deren ersten nach dem Alphabet strukturiert sind (wie vier Buchstaben; als Bezeichnung für da- z. B. das ,Goldene ABC' des ,Meisternach organisierte Texte gleichfalls seit dem buchs', 14. Jh.). Die umfangreichen deutfrühen Mittelalter geläufig. schen Rechtsabecedarien (s. VL 7, 1058— BegrG: Abecedarium konkurriert im Mittel- 1061), in denen Exzerpte aus mehreren alter wie im literaturwissenschaftlichen Ge- Rechtsbüchern nach alphabetischen Schlagbrauch bis heute mit Benennungen nach der worten geordnet sind, treten hinzu und bevom 12. Jh. an (Kluge-Seebold, 2) belegten legen das seit dem Spätmittelalter verbreidreigliedrigen Bezeichnung der Buchstaben- tete Phänomen der Alphabetisierung theoreihe (s. z. B. a.b.c. von dem heiligen sacra- logischer und juristischer Hilfsmittel. Das ment, VL 1, 6; ,Goldenes ABC', VL 3, spielerische Prinzip des alphabetischen 78 — 80) und auch mit der aus dem Griechi- Akrostichons war auch in der Frühen Neuschen übernommenen zweigliedrigen (s. z. B. zeit, besonders im 17. Jh. (z.B. im ,Kühlpsalter' des Quirinus Kuhlmann, 1684), be,Alphabetum narrationum', VL 1,478 f.). Die Ausweitung auf Buchstabentafeln liebt und ist noch bei zahlreichen späteren zur Erlernung des Alphabets oder zur Er- Autoren (u. a. Jean Paul, Wilhelm Busch, klärung von Zeicheninventaren (z. B. der Schwitters und Brecht; vgl. Kiermeier-DeRunen im ,Abecedarium Nordmannicum', bré/Vogel) bezeugt.

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Abenteuerroman

Das deutsche Kirchenlied von der ältesten Zeit bis zu Anfang des 17. Jhs. Hg. v. Philipp Wackernagel. Bd. 2. Leipzig 1867, Nr. 732-736, 1014. Die geistlichen Lieder des Mönchs von Salzburg. Hg. v. Franz Viktor Spechtler. Berlin 1972, S. 113-124.

ForschG: Zusammenfassende Untersuchungen über die abecedarischen Dichtungen fehlen bislang. Die wissenschaftlichen Abecedarien des Mittelalters stehen im Zusammenhang mit der Alphabetisierung von Registern und anderen Hilfsmitteln, die als ein wichtiger Markstein in der Mentalitätsgeschichte des scholastischen Zeitalters angesehen wurde (von den Brincken). Lit: Anna Dorothee von den Brincken: Tabula alphabetica. Von den Anfängen alphabetischer Registrierarbeiten zu geschichtlichen Werken. In: Fs. Hermann Heimpel. Göttingen 1972. Bd. 2, S. 900-923. - Franz-Josef Holznagel, Rudolf Weigand: Abecedarien. In: Marienlexikon. Bd. 1. St. Ottilien 1988, S. 12 f. - Joseph Kiermeier-Debré, Fritz F. Vogel: Das Alphabet. Die Bilderwelt der Buchstaben von A-Z. Ravensburg 1995. — Herman J. Leloux: Spätmittelalterliche Versionen eines Marianischen Abecedariums aus Norddeutschland und dem Nordosten der Niederlande. In: Studia Germanica Gandensia 16 (1975), S. 169-186.

Nigel F. Palmer

Abenteuerroman Romantypus mit dem Schwerpunkt auf ungewöhnlichen, spektakulären, den Rahmen des Alltagslebens sprengenden Geschehnissen. Expl: Der Terminus ist zum einen als Sammelbegriff für all jene längeren epischen Texte verwendet worden, die das Abenteuer — im Sinne „eines ungewöhnlichen, seltsamen, unsichern ereignisses oder Wagnisses, nicht nur eines schweren, ungeheuern, unglücklichen, sondern auch artigen und erwünschten" (DWb 1, 27) - in den Mittelpunkt der Darstellung rücken. Zum anderen ist er in neueren germanistischen Untersuchungen eingeschränkt worden auf Romane zwischen dem späten 18. und dem

frühen 20. Jh., mit den Hauptexponenten Cooper und Karl May. Der Abenteuerroman weist folgende Merkmale auf: (1) die vom Helden eindringlich erfahrene Polarität zwischen einer ihm bekannten, soliden Ordnung und demgegenüber zunächst befremdlich und wirr erscheinenden Verhältnissen; (2) die „Kettenstruktur des dargestellten Geschehens" (Fricke, 12), d. h. die Aneinanderreihung einer großen Zahl als,Abenteuer' qualifizierter Ereignisse in nahezu beliebiger Reihenfolge, die häufig als Reise organisiert ist; (3a) die Herkunft der Hauptfigur aus mittleren Ständen, im Unterschied zum ? Höfisch-historischen Roman einerseits und zum S Schelmenroman andererseits; (3b) eine — verglichen etwa mit dem Bildungsroman — allenfalls geringfügige geistig-seelische Entwicklung des Helden; (4) die sinnfällige Handgreiflichkeit des Geschehens sowie gelegentlich eine gewisse Nähe der Handlungsführung zur / Tragödie (Klotz); (5) den fiktiven Charakter des dargestellten Geschehens, der das Genre z. B. von der abenteuerlichen Reisebeschreibung trennt. WortG: Abenteuer geht auf mhd. aventiure zurück (/" Aventiure), das ein (zufallig) begegnendes Ereignis und die fremdartige Herausforderung meint. Der früheste bisher bekannte Beleg für das Kompositum Abenteuerroman stammt von 1879 (Koenig, 289); vorher war Abenteurer-Roman (Sanders, 557) schon länger gebräuchlich (vgl. BegrG). Robert Koenig: Deutsche Bielefeld, Leipzig 1879.

Literaturgeschichte.

BegrG: Im 19. Jh. umfaßte der Begriff, noch unter dem Namen Abenteurerroman (z. B. Hettner, 318), zuerst nur die „Robinsonsund Aventurier-Geschichten" (Schäfer, 69), d. h. die etwa zwischen 1720 und 1750 erschienenen Romane mit einem Helden vom frühneuzeitlichen Kaufmannstyp des Aventuriers (/" Robinsonade). Etwa in den 1870er Jahren wurde der vorher getrennt behandelte „Vagabunden-Roman" (Schäfer, 68) einbezogen, darunter als der erste Grimmelshausens ,Der Abentheurliche Simplicissimus Teutsch', der schon früher als „Vorläufer der Robinsonnaden" (Koch, 254) be-

Abenteuerroman zeichnet, unter Titeln wie „Abenteurer- und Vagabundenroman" (Scherr, 53) mit ihnen zusammengestellt worden war und dann im letzten Viertel des 19. Jhs. als der wichtigste deutsche „Abenteuerroman" (Koenig, 289) bzw. „Abenteurerroman" (Borinski, 126) figurierte. Im 20. Jh. hat der Begriff .Abenteuerroman' seine Unterscheidungskraft verloren. Einerseits hat er jegliches historisches Profil eingebüßt und ist zum „Oberbegriff für eine Reihe von gattungsmäßigen Erscheinungsformen des volkstümlichen realistischen Romans" (Rehm, 1) zu allen Zeiten geworden. Andererseits wurde er seit den 60er Jahren neu eingeschränkt auf die Romane von den Erben der deutschen Cooper-Tradition (Friedrich Gerstäcker, Balduin Möllhausen, Karl May, später Traven u. a.), die vorher ζ. B. als ,transatlantisch-exotische Romane' (weitere Belege bei Graf, 16 f.) etikettiert wurden. Daneben bezeichnet Abenteuerroman weiterhin thematisch nicht festgelegte, strukturell verwandte (s. Expl) Erzähltexte vornehmlich der Frühen Neuzeit und des 19. Jhs., die sich ζ. T. mit anderen Erzähltypen (Reiseroman, historischer Roman, utopischer Roman, Robinsonade) überschneiden. Karl Borinski: Geschichte der deutschen Literatur. 2. Teil. Stuttgart 1893. - Hermann Hettner: Literaturgeschichte des 18. Jhs. Bd. 3/1. Braunschweig 1862. - Erduin Julius Koch: Grundriß einer Geschichte der Sprache und Literatur der Deutschen. Bd. 2. Berlin 1798. - Koenig (s. WortG) - Walter Rehm: Art. .Abenteuerroman'. In: RL 1 1, 1 - 4 . - Johann Wilhelm Schäfer: Hb. der Geschichte der deutschen Literatur. Bd. 2. Bremen 1844. - Johannes Scherr: Geschichte der deutschen Literatur. Leipzig 2 1854.

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kaufmännische Unternehmungen das Motiv sein können oder auch der pure Zufall die Regie übernimmt. Dieser Wendung verdanken sich gerade auch die Abenteuerromane im engeren Sinne: Sie schildern überwiegend die Erlebnisse von Personen, die aus einer konventionellen Lebensweise in der Zivilisation ausbrechen, weil sie dazu gedrängt bzw. gezwungen werden oder weil sie sie als zu eintönig und lähmend empfinden. Der „Schritt aus der Ordnung" (Best, 71) führt in ferne Länder ( / Exotismus), mit Nordamerika als beliebtestem Schauplatz, in einer besonderen Ausprägung aber auch, wie modellhaft bei Eugène Sue in den ,Geheimnissen von Paris', zu den düsteren, unter einer scheinbar geordneten Oberfläche verborgenen Schattenseiten der Heimat des Protagonisten; die Begegnung mit dem Fremden, Widerständigen zeitigt dann jene extremen, häufig lebensgefahrlichen Erlebnisse, die den Inhalt des Abenteuerromans ausmachen: Kampf mit wilden Tieren, Naturgewalten oder menschlichen Kontrahenten. Innerhalb dieses Rahmens setzen die herausragenden Repräsentanten des Genres eigene Akzente: Charles Sealsfield (Karl Posti) etwa stellt seine Romane in den Dienst republikanischer Ideale, Balduin Möllhausen zeigt in einigen Arbeiten seine Figuren zunächst ausführlich in Deutschland, dann in der amerikanischen Wildnis, Karl May operiert mit einem Ich-Erzähler als heroischem Serienhelden. In der Nachfolge von Karl May wurde der Abenteuerroman zu einem der beliebtesten Genres des Trivialromans.

Spätestens seit der Mitte des 20. Jhs. verlagert sich die literarische Inszenierung abenteuerlichen Geschehens zunehmend in SachG: In der Geschichte des Abenteuerro- extraterrestrische Sphären (/" Science ficmans verschiebt sich die Motivierung des tion), und die alten Romane werden auf Abenteuers. Während der heroische Aben- dem Buchmarkt vor allem in Bearbeitungen teurer vom antiken Heldenepos bis zum hö- für jugendliche Leser vertrieben, die wohl fischen Ritterroman danach strebt, ,Ehre' ohnehin seit langem den größten Teil des — im Sinne hoher gesellschaftlicher Reputa- Publikums bilden. Andererseits wurde die tion — zu erlangen, das erfolgreiche Beste- Struktur des Abenteuerromans vor allem in hen des Abenteuers also „als Ausweis der außerdeutscher Literatur in experimentellen Zugehörigkeit zur Herrenklasse" (Ueding, Romanen (/* Nouveau roman) adaptiert. 69) wirkt, führt der spätere Abenteuerroman aus der bekannten Welt hinaus, wobei ForschG: Von der Erweiterung des Literaζ. B. Krieg, Fernweh, Entdeckungslust, turbegriffs in den 1960/70er Jahren und von

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Absurd

der Beschäftigung mit der /" Trivialliteratur profitiert auch der Abenteuerroman. Der ältere Typus wurde vor allem von sozialund mentalitätsgeschichtlichen Studien wiederentdeckt. Das vermeintlich simple Reihungsprinzip erwies sich als Instrument zur Thematisierung zuvor ausgegrenzter und unbeachteter Sachverhalte. An Verknüpfungsregeln und Aufbau ließen sich Integrationskraft und Wandel von Weltmodellen nachweisen. Ähnliches gilt auch für den Abenteuerroman des 19. Jhs. Hinzu kam die Auseinandersetzung mit Autoren, mit denen man sich vorher allenfalls am Rande befaßt hatte (May, Retcliffe, Möllhausen). Den zentralen Bezugspunkt bildet oft, implizit oder ausdrücklich, die Kolportagetheorie Ernst Blochs, der einen Gedanken Georg Simmeis (die „Atmosphäre des Abenteuers" sei „unbedingte Gegenwärtigkeit, das Aufschmelzen des Lebensprozesses zu einem Punkt"; Simmel, 77), zu der Vorstellung weiterentwickelt, im Extremismus des Abenteuers artikuliere sich ein „nach außen gebrachter Traum der unterdrückten Kreatur, die großes Leben haben will" (Bloch, 172), ein - bei aller Gefahr der Vereinnahmung durch reaktionäre Tendenzen — letztlich utopisch-revolutionärer Impetus. Diese von Bloch nur skizzierten Gedanken werden präzisiert und weiter entfaltet: Der Abenteuerroman knüpfe an bürgerlichemanzipatorische Tendenzen in der Literatur des 18. Jhs. an (Ueding); die dem Helden im Abenteuer zuteil werdende Initiation sei die „Konstitution einer neuen Persönlichkeit, die die Grenzen der alten verlassen hat" (Steinbrink, 18); und die Gattung erzähle vorwiegend „von den Abenteuern der fünf Sinne", die hier „zu ihrer höchsten, Sein und Bewußtsein verschmelzenden Bedeutung gelangen" (Eggebrecht, 7). Andere Kommentatoren ziehen dagegen die einseitige Pointierung der .progressiven' Seite des Abenteuerromans in Zweifel, indem sie darlegen, der Tagtraum dieser Texte funktioniere „auch nach rückwärts, in Richtung einer konservativen Gegenutopie, inklusive Machtrausch und Menschenverachtung" (Märtin, 17). Lit: Armin Ayrenschmalz: Zum Begriff des Abenteuerromans. Diss. Tübingen 1962. - Otto

F. Best: Abenteuer - Wonnetraum aus Flucht und Ferne. Frankfurt 1980. - Ernst Bloch: Erbschaft dieser Zeit. Frankfurt 1962. - Harald Eggebrecht: Sinnlichkeit und Abenteuer. Die Entstehung des Abenteuerromans im 19. Jh. Berlin, Marburg 1985. — Harald Fricke: Karl May und die literarische Romantik. In: Jb. der Karl-MayGesellschaft 1981, S. 11-35. - Andreas Graf: Der Tod der Wölfe. Das abenteuerliche und das bürgerliche Leben des Romanschriftstellers und Amerikareisenden Balduin Möllhausen (18251905). Berlin 1991. - Martin Green: Seven types of adventure tale. University Park 1991. - Hans Hofmann: Historische Wandlungen des Erlebnisphänomens .Abenteuer'. In: WB 23/1 (1977), S. 72-88. - Volker Klotz: Abenteuer-Romane. Sue - Dumas - Ferry - Retcliffe - May Verne. München, Wien 1979. - Ralf-Peter Märtin: Wunschpotentiale. Geschichte und Gesellschaft in Abenteuerromanen von Retcliffe, Armand, May. Königstein 1983. - Michael Neriich: Kritik der Abenteuer-Ideologie. Beitrag zur Erforschung der bürgerlichen Bewußtseinsbildung 1100-1750. 2 Teile. Berlin (Ost) 1977. - Volker Neuhaus: Der zeitgeschichtliche Sensationsroman in Deutschland 1855-1878. Berlin 1980. Hans Plischke: Von Cooper bis Karl May. Eine Geschichte des völkerkundlichen Reise- und Abenteuerromans. Düsseldorf 1951. - Alexander Ritter: Darstellung und Funktion der Landschaft in den Amerika-Romanen von Charles Sealsfield (Karl Posti). Diss. Kiel 1969. - Helmut Schmiedt: Karl May. Frankfurt 31992. - Gunter G. Sehm: Der ethnographische Reise- und Abenteuerroman des 19. Jhs. Wien 1972. - Georg Simmel: Philosophische Kultur. Leipzig 1911. Bernd Steinbrink: Abenteuerliteratur des 19. Jhs. in Deutschland. Tübingen 1983. - Jean-Yves Tadié: Le roman d'aventures. Paris 1982. - Gert Ueding: Glanzvolles Elend. Versuch über Kitsch und Kolportage. Frankfurt 1973. Helmut

Abgesang

Schmiedt

Barform Kanzone

Abstrakte Prosa

Kurzprosa

Absurd Widersinnig; sinnlos. Expl: Das Prädikat absurd wird allgemein verwendet sowohl (1) für Aussagen, die mit

Absurd den Anforderungen der Logik (ζ. B. Widerspruchsfreiheit) nicht zu vereinbaren, als auch (2) für Sachverhalte (ζ. B. Verhaltensweisen), die mit den Mitteln der Vernunft nicht zu begreifen sind. Als literaturwissenschaftlicher Terminus, der auf die existentialistische Philosophie (Sartre, Camus; f Existentialismus) zurückgeht, bezieht sich absurd (3) auf Texte über die Sinnlosigkeit der menschlichen Existenz als ganzer ( / Absurdes Theater). WortG: Lat. absurdus (der etymologische Zusammenhang mit lat. surdus ,taub' oder susurrus .Zischen' ist umstritten) bezeichnet etwas, das dem Gehör (Cicero, ,De oratore' 3,41) oder — im übertragenen Sinne - der Vernunft oder dem Anstand zuwider oder auch einfach nur für einen bestimmten Zweck ungeeignet ist (Cicero, ,De oratore' 2,85). Seit dem Anfang des 17. Jhs. ist das dt. Lehnwort absurd mit der Bedeutung .ungereimt', .widersinnig' gebräuchlich (DWb 2 1, 1113 f.). Daß schon Goethe die Substantivierung das Absurde häufig benutzt (z. B. „Das Absurde mit Geschmack dargestellt, erregt Widerwillen und Bewunderung"; FA 13, 1.227), dürfte ihren literarischen und literaturwissenschaftlichen Gebrauch in der 2. Hälfte des 20. Jhs. mitgeprägt haben. Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke [Frankfurter Ausgabe, FA], Frankfurt 1987 ff.

BegrG/SachG: Der vormoderne Begriff .absurd', seinem Inhalt nach (.Widersinniges') unverändert geblieben, ist in unterschiedlichen Verwendungszusammenhängen geradezu gegensätzlich ausgelegt worden. Im Kontext der Logik bedeutet absurd soviel wie ,den Anforderungen der Vernunft nicht genügend', im Kontext der Theologie kann absurd dagegen ,die Leistungsfähigkeit der Vernunft überfordernd' meinen. Die Logik kennt seit der Antike das Beweisverfahren der reductio (auch: deductio) ad absurdum: die Wahrheit eines Satzes kann indirekt bewiesen werden durch den Nachweis, daß aus dem kontradiktorischen Satz zwingend etwas Absurdes folgt, d. h. eine Aussage, die in sich widersprüchlich ist oder einer anderen, offenkundig wahren Aussage widerspricht. Die christliche Theologie verfügt seit ihrer Frühzeit über das Argument, daß

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Absurdes (z. B. der Tod des Sohnes Gottes), gerade weil es die menschliche Vernunft beleidigt, nur Gegenstand des Glaubens sein kann. Dieses Argument findet sich zuerst bei Tertullian (,De carne Christi', 5) und wird später u. a. von der mystischen Theologie im Gefolge des Dionysius Areopagita, von Pascal und Kierkegaard wieder aufgenommen. Es wird erst im 18. und 19. Jh. in die Formel ,credo quia absurdum' (ich glaube es, weil es absurd ist) gefaßt (vgl. Marwald, 79-87). Die theologische Verwendung des Begriffs wird im 20. Jh. maßgebend für dessen Umformung in der atheistischen Philosophie des französischen Existentialismus. Der Begriff wird von Sartre (,La nausée', 1938) und insbesondere von Camus (,Le mythe de Sisyphe', 1942) verdoppelt und universalisiert. Einerseits umfaßt er das — wegen der Abwesenheit eines sinngebenden Gottes — objektiv Sinnlose überhaupt, d. h. Welt und menschliche Existenz als ganze, andererseits eine subjektive und sich auch literarisch auswirkende Einstellung der Sinnlosigkeit gegenüber: die widervernünftige, weil in sich widersprüchliche Revolte gegen die gleichwohl als unabänderlich anerkannte Sinnlosigkeit der menschlichen Existenz. ForschG: Da ,absurd' erst durch den Existentialismus zu einem philosophischen Zentralbegriff geworden ist, hat die Erforschung seiner Vorgeschichte erst in den 1960er Jahren begonnen (vgl. HWbPh 1, 66 f.), ist aber kaum weitergeführt worden, so daß die begriffsgeschichtliche Kenntnis immer noch lückenhaft ist. Die Analyse des AbsurditätsbegrifTs von Sartre und Camus und seiner literarischen Auswirkungen (vgl. z. B. Baker, Milman) wird seit derselben Zeit kontinuierlich fortgesetzt. Lit: Richard E. Baker: The dynamics of the absurd in the existentialist novel. New York u. a. 1993. - H. Gene Blocker: The metaphysics of absurdity. Washington 1979. - Albert Camus: Le mythe de Sisyphe. Essai sur l'absurde. Paris 1942 (dt.: Der Mythos von Sisyphos. Hamburg 1959). - Donald A. Crosby: The speaker of the absurd. Sources and criticism of modern nihilism. Albany 1988. - Jean-Louis Gardies: Le raisonnement par l'absurde. Paris 1991. - Wolfgang F. Haug:

Absurdes Theater Sartre und die Konstruktion des Absurden. Hamburg 3 1991. - Régis Jolivet: Sartre ou la théologie de l'absurde. Paris 1965. - Michael Lauble: Sinnverlangen und Welterfahrung. Albert Camus' Philosophie der Endlichkeit. Düsseldorf 1984. - Johann Rudolf Marwald: Die Bedeutungsentwicklung von frz. absurde und absurdité. Diss. Bonn 1968. - Yoseph Milman: Opacity in the writings of Robbe-Grillet, Pinter, and Zach. A study in the poetics of the absurd literature. Lewiston 1991. - Leo Pollmann: Sartre und Camus. Stuttgart, Berlin 2 1971. - Matthias Rath: Albert Camus. Absurdität und Revolte. Heidelberg 1983. - Bianca Rosenthal: Die Idee des Absurden. Friedrich Nietzsche und Albert Camus. Bonn 1977. - Rainer Rutkowski: Zwischen Absurdität und Illusion. Widersprüche und Kontinuität im Werk von Albert Camus. Frankfurt 1986. - Susanne Schaper: Ironie und Absurdität als philosophische Standpunkte. Würzburg 1994.

Ute Frackowiak

Absurdes Theater Avantgardistische Dramen der 1950er Jahre, besonders in Frankreich. Expl: Unter dem Namen Absurdes Theater (verkürzt aus Theater des Absurden) werden vorwiegend französische Dramen (vor allem von E. Ionesco und S. Beckett) aus den 50er Jahren zusammengefaßt, in denen die menschliche Existenz als /" absurd dargestellt wird. Im Interesse dieser Darstellungsintention suspendiert das Absurde Theater grundlegende Konventionen des illusionistischen Theaters zugunsten avantgardistischer Präsentationsformen: Alle Träger dramatischer Aktion, und das können menschliche /" Figuren3 so gut wie Gegenstände sein, haben den Status eines Objekts mit unberechenbarem Eigenleben; die nicht-verbalen Elemente der Aufführung (im s Nebentext minutiös vorgeschrieben) werden in den Rang eigenständiger theatralischer Zeichen erhoben; die Figuren sind zumindest nicht in herkömmlicher Weise individualisiert; ihr Reden ist ein mechanisches Absondern von Sätzen und keine kommunikative Aktivität in gegenseitiger Bezugnahme; sie reden und bewegen sich

wie Automaten, bisweilen rein repetitiv, jedenfalls nicht zweckorientiert, so daß eine persönliche Entwicklung ebenso fehlt wie eine zusammenhängende und fortschreitende " Nonsens).

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Autorisation

Zeitlich schlossen sich dann zahlreiche lokale Gruppierungen an, die sich als , Literaturbüros' oder ,Schreibwerkstätten' (ζ. B. Prenzlauer Berg', ? DDR-Literatur) formierten. In anderen europäischen Ländern hat sich — mit wenigen Ausnahmen: ζ. B. die von Wissenschaftlern geprägte italienische ,Gruppo 63' (Eco, Pagliarani u. a.) oder die Pariser Gruppe ,Tel Quel' (Kristeva u. a.) — keine vergleichbare Tradition literarischer Gruppenbildung etabliert. ForschG: Bisher liegen literarhistorische und literatursoziologische Fallstudien vor, die keinem einheitlichen BegrifTsgebrauch folgen, sich auf die jeweils untersuchten Gruppen, Kreise oder Vereine beschränken und nur ansatzweise zu funktionsanalytischen Systematisierungen gelangen. Am Beispiel der ,Gruppe 47' hat allerdings Kröll den Komplex der „Anschlußmotivation" thematisiert: Neben dem „Typ der ideologisch-programmatisch auftretenden ,Manifest-Gruppe'" besitze auch der „Typ der pragmatisch-berufsorientierten ,Service bzw. Dienstleistungsgruppe'" starke Anziehungskraft. Beide aber versprächen, die eine nur stärker verschleiert als die andere, die folgenden soziokulturellen Funktionen zu erfüllen: (1) Anerkennung für das isoliert geschaffene Werk, (2) Bestätigung der intendierten beruflichen und personalen Identität, (3) Abtasten der Marktchancen im Schutzraum einer solidarischen Gruppe, (4) Festigung der sozial und marktwirtschaftlich instabilen Situation des einzelnen Schriftstellers durch berufliche Kontakte und (5) Stärkung des kulturpolitischen Rollenbewußtseins der Autoren (Kröll 1977; 1978). Eine Blockanalyse (Gerhards/Anheier) zu Kölner Schriftstellern, die zwischen vier Subgruppen (Elite, Nachwuchselite, Peripherie, etablierte Peripherie) differenzierte, kam zu dem Ergebnis, daß je nach dem Grad der erreichten Position unterschiedlich eng geknüpfte Beziehungsmuster dominieren: Reputation und Markterfolg steigen proportional mit dem Funktionieren eines teilöffentlichen Netzwerkes. In den bisherigen Forschungsbeiträgen sind die sozialen, wirtschaftlichen und schöpferi-

schen Potentiale literarischer Gruppen noch zu wenig in den Blick gekommen. Lit: Heinz Ludwig Arnold: Die Gruppe 47. München 2 1987. - Fritz Behrend: Geschichte des Tunnels über der Spree. Berlin 1938. - Otto Dann: Gruppenbildung und gesellschaftliche Organisierung in der Epoche der deutschen Romantik. In: Romantik in Deutschland. Hg. v. Richard Brinkmann. Stuttgart 1978, S. 1 1 5 - 1 3 1 . - Ingeborg Drewitz: Berliner Salons. Berlin 1965. Jürgen Gerhards, Helmut K. Anheier: Zur Sozialposition und Netzwerkstruktur von Schriftstellern. In: Zs. für Soziologie 16 (1987), S. 3 8 5 - 3 9 4 . - Katharina Günther: Literarische Gruppenbildung im Berliner Naturalismus. Bonn 1972. - Alfred Kelletat (Hg.): Der Göttinger Hain. Stuttgart 1967. - A. K.: Simon Dach und der Königsberger Dichterkreis. Stuttgart 1986. Friedhelm Kröll: Die „Gruppe 47". Stuttgart 1977. - F. K : Die Eigengruppe als Ort sozialer Identitätsbildung. In: DVjs 52 (1978), S. 6 5 2 - 6 7 1 . - Johannes Mahr (Hg.): Die Krokodile. Stuttgart 1987. - Jane Ogden Newman: Institution of the pastoral. The Nuremberg Pegnesischer Blumenorden. Diss. Princeton 1983. — Gerhard Rühm (Hg.): Die Wiener Gruppe. Reinbek 1985. - Michael Winkler: George-Kreis. Stuttgart 1972.

Otto Lorenz

Autorisation (Formelle) Anerkennung eines Textes durch seinen Autor. Expl: Editionsphilologisches Entscheidungskriterium zur Konstitution eines authentischen Textes (/* Authentizität), das die frühere Berufung auf den ,Willen des Autors' ablöst. Anders als die Berufung auf die ,Autorintention' greift der Begriff .Autorisation' auf die materiale Überlieferung des Textes zurück. Dabei ist zu unterscheiden zwischen (1) einem juristischen und (2) einem im engeren Sinn editionsphilologischen Begriff. Juristisch bedeutet Autorisation (1) die ausdrückliche, z. B. durch das Imprimatur bekundete Genehmigung des Autors, eine Textgestalt zu vervielfältigen oder zu veröffentlichen, ohne daß sich die Billigung auf jedes einzelne Element dieser Textfassung erstrecken muß. Dementsprechend ist ein solcher Begriff als Kri-

Avantgarde terium für die Textkonstitution (/" Textkritik) nur begrenzt hilfreich. Autorisation (2) ist demgegenüber in der Herstellung des Textzeugen (Handschrift, Typoskript, Tonband usf.) durch den Autor selbst oder zumindest unter dessen unmittelbarer Mitwirkung (ζ. B. durch Diktieren eines Textes) begründet. Diese unausdrückliche Autorisation verliert für den historisch arbeitenden Herausgeber selbst dann nicht ihre Gültigkeit, wenn der Autor den Text explizit gestrichen oder durch nachfolgende Fassungen ersetzt hat (Scheibe 1990). Textfassungen, die im Sinne des Begriffs (2) als autorisiert gelten können, sind für den Herausgeber stets gleichwertige authentische Textgestalten. WortG: Aus lat. auctorizare bevollmächtigen'; dt. als autorisieren zuerst 1500 in juristischem Zusammenhang belegt (Otto, 216), als auctorisieren 1524 bei Emser. Als Substantiv (.Bevollmächtigung, Befugnis') zuerst gebucht bei Heinsius 1818 (346). Zum editorischen Fachterminus wird Autorisation erst in der Editionstheorie des 20. Jhs. (Seiffert, Scheibe). Theodor Heinsius: V o l k s t ü m l i c h e s Wb. der Deutschen Sprache. Bd. 1. Hannover 1818. Ernst Otto: Zur historischen Wortforschung. Erstbelege und Frühbelege aus ostmitteldt. Handschriften des 16. Jhs. In: PBB 97 (Halle 1976), S. 2 1 2 - 2 5 2 . - Schulz-Basler 1, S. 65.

BegrG/SachG: Zum ersten Mal unterscheiden J. J. Bodmer und J. J. Breitinger in ihrer Opitz-Ausgabe (1745) autorisierte und nichtautorisierte Textzeugen. Sie machen ausdrücklich den vom Autor gebilligten Textzustand zur Grundlage ihrer kritischen Ausgabe. Die Bindung der Autorisation an die letztwillige Verfügung des Autors, wie sie noch in der .Sophienausgabe' der Werke Goethes (Weimar 1887-1919) als Grundsatz galt, sucht E.v.d. Hellen in der GoetheJubiläumsausgabe' (Stuttgart 1902-1912) durch die Unterscheidung von ,Autorisationsgraden' zu durchbrechen. Danach erlaube der vom Dichter ohne nähere Überprüfung pauschal autorisierte Textzustand — im Unterschied zur ausdrücklichen Autorisation — dem Herausgeber korrigierende Eingriffe. Dem wird entgegengehalten, daß Autorisation als nicht abstufbarer Begriff

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gelten müsse. Jede Art von Autorisation habe Anspruch auf editorische Beachtung; sie gehe aber ein in die (neu bestimmte) Aufgabe der s Edition, die Genese und Schichtung von Texten darzustellen (Scheibe, Zeller). Keinesfalls entbinde Autorisation jedoch den Herausgeber von der Pflicht, Korruptelen im zu edierenden Text festzustellen. Grundsätzliche Kritik am Begriff der Autorisation als textkritisch relevanter Größe leistet Kraft, für den Autorisation (ebenso wie der dadurch ersetzte ,Autorwille') textexterne Größen sind, über die „immer noch die Intention des Autors an Stelle der Bedeutung des Werkes zum Gegenstand der Literaturwissenschaft" gemacht werde (Kraft, 22). ForschG: Die Bemühungen um eine Präzisierung des Begriffs .Autorisation' und die Diskussion der Konsequenzen für die Editionspraxis werden im Rahmen der neueren /" Editionswissenschaft geführt. Eine historische Darstellung dieser Diskussionen gibt es nicht. Lit: Klaus Hurlebusch: Zur Aufgabe und Methode philologischer Forschung, verdeutlicht am Beispiel der historisch-kritischen Edition. In: Texte und Varianten. Hg. v. Gunter Martens und Hans Zeller. München 1971, S. 1 1 7 - 1 4 2 . Klaus Kanzog: Einführung in die Editionsphilologie der neueren deutschen Literatur. Berlin 1991. Herbert Kraft: Editionsphilologie. Darmstadt 1990. - Siegfried Scheibe: Probleme der Autorisation in der textologischen Arbeit. In: Editio 4 (1990), S. 5 7 - 7 2 . - S. Sch.: Editorische Grundmodelle. In: Zu Werk und Text. Hg. v. S. Sch. und Christel Laufer. Berlin 1991, S. 23—48. — Hans Werner Seiffert: Untersuchungen zur Methode der Herausgabe deutscher Texte. Berlin 1963. - Hans Zeller: Befund und Deutung. Interpretation und Dokumentation als Ziel und Methode der Edition. In: Texte und Varianten (s. Hurlebusch), S. 4 5 - 8 9 .

Klaus Grubmüller I Klaus Weimar

Avantgarde Sammelbegriff für Kunstströmungen des 20. Jhs., die sich gegen die bürgerliche Kultur wenden und den traditionellen Kunstbegriff sprengen.

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Avantgarde

Expl: Im weiteren Sinn bezeichnet Avantgarde alle künstlerisch und sozial .fortschrittlichen' Bewegungen der Vergangenheit, die sich gegen herrschende Verhältnisse richten. Die künstlerischen Avantgarden im engeren Sinn sind multimediale und meist internationale Bewegungen programmatischen Charakters (,Ismen'). Gemeinsam ist ihnen die Ablehnung des humanistischen Menschenbildes, der überkommenen Kunst- und Gattungsgrenzen sowie des organischen Kunstwerkes. Mit den Avantgarden werden alle Materialien und Verfahren kunstfahig und verschwimmt die Grenze zwischen Kunst und Leben. WortG: Das Wort ist ein militärischer Ausdruck französischer Herkunft, er setzt sich zusammen aus avant (in der Zeit oder in einer Reihenfolge vor einem anderen) und garde und wurde verdeutscht mit,Vortrab', ,Vorzug' und zuletzt ,Vorhut' (Gegensatz arrière-garde, ,Nachhut'). Im Rahmen des Fortschrittsdenkens, insbesondere der sozialistischen Bewegungen, entwickelte sich in Frankreich eine geschichtsphilosophische Avantgarde-Metaphorik. Breitenwirkung erhielt die appellative Funktion des Wortes im Sinne von „Vorwärts! Avanti! Uns nach!" (Böhringer, 101) durch zahlreiche Titel linker Journale in der 2. Hälfte des 19. Jhs. Lenin bezeichnete in ,Was tun?' (1902) die kommunistische Partei als „Avantgarde" des Proletariats und konzipierte sie als straffe Organisation von Berufsrevolutionären. Die marxistisch-leninistische Ästhetik übernahm den Begriff ,Avantgarde' hingegen nicht. Auf die Kunst übertragen wurde das Wort im Saint-Simonismus. Der früheste Beleg für den Künstler als Avantgarde an der Spitze einer sozialen Bewegung findet sich bei Olinde Rodrigues, einem Jünger Saint-Simons, in dem Dialog .L'Artiste, le Savant et l'Industriel' (1825). In der deutschen kunstkritischen und -wissenschaftlichen Diskussion gibt es das Wort seit der Jahrhundertwende. Es wird in den drei Bedeutungen (1) des geschichtlichen Fortschritts in den Künsten, (2) der Arbeit am Material bzw. den Mitteln der Künste und (3) von Künstlergruppen gebraucht, die

diese Zielsetzungen zumeist programmatisch vertreten. In den letzten Dezennien ist es zu einem Modewort geworden, das unterschiedslos auf alles Neue in Kunst und Kultur angewandt wird. Hannes Böhringer: Avantgarde - Geschichte einer Metapher. In: Archiv für Begriffsgeschichte 22 (1978), S. 90-114. - Robert Estivals u.a.: „L'avant-garde". Paris 1968.

BegrG: Entscheidend für den Gebrauch des Begriffs im Kunstzusammenhang ist seine ursprüngliche Verbindung mit geschichtlichem Fortschritt und sozialer Revolution. Gegenbegriffe zu .avantgardistisch' sind deshalb .reaktionär', .traditionell' und .konventionell' oder .akademisch'. Die zentralen Definitions- und Wertungsfragen betreffen das Verhältnis von Kunst und Politik: Worin befördert die avantgardistische Kunst den gesellschaftlichen Fortschritt (Propaganda, Einfluß auf Imagination und Emotion) und woran bemißt sich dieser in der Kunst (Weltbild, Thematik, Entwicklung des Materials)? Sie wurden verschärft durch die Spannungen zwischen den Parteiideologien und den sozialutopischen Gehalten der Kunst. Unter der Herrschaft des ? Sozialistischen Realismus galt die avantgardistische Kunst als Zeugnis spätbürgerlicher Dekadenz, als antihumanistisch und pathologisch (Lukács), unter dem Nationalsozialismus als .entartet'. Die /" Moderne wird teils als Oberbegriff und teils als Gegenbegriff zur Avantgarde verwendet. Die .klassische Moderne' — repräsentiert durch Autoren wie Kafka, Musil oder Thomas Mann — beläßt es bei der Autonomie der Kunst und greift ihre gesellschaftliche Institutionalisierung nicht an. Autoren, die mit dem sprachlichen Material experimentieren (wie Joyce und Beckett oder Benn und Mayröcker), lassen sich beiden Begriffen zuordnen. Matei Calinescu: „Avant-Garde": Some terminological considerations. In: Yearbook of comparative and general literature 23 (1974), S. 67-78. Donald D. Egbert: The idea of „avant-garde" in art and politics. In: The American Historical Review 73.1 (1967), S. 339-366. - Georg Lukács: Die Gegenwartsbedeutung des kritischen Realismus. In: G. L.: Essays über Realismus. Neuwied, Berlin 1971, S. 467-499.

Avantgarde SachG: Die Entstehung der historischen Avantgarden wird zum einen aus der Grundlagenkrise bürgerlicher Gesellschaft und Kultur, die zum 1. Weltkrieg führte, und zum anderen aus der geschichtlichen Tendenz des künstlerischen Materials (Adorno) erklärt. Die Beschreibung der Pathogenese arbeitet mit Stichworten wie .Entfremdung' und ,Sinnverlust', ,Ich-Dissoziation' und ,Weltzerfair, / Sprachkritik und ,-skepsis'. Habituell präformierten die ? Boheme mit ihrer Antibürgerlichkeit und ihren fließenden Gruppenbildungen sowie das Dandytum mit seiner Selbststilisierung die Lebensformen zahlreicher Avantgardisten. Literaturgeschichtlich prägten sich avantgardistische Verfahrensweisen in Deutschland zuerst während der Jahrhundertwende aus: in der Hinwendung auf die „Reproductionsbedingungen und deren Handhabung" (Arno Holz) im konsequenten /" Naturalismus', in der / Nonsens-Literatur (Paul Scheerbart, Christian Morgenstern) und im grotesken / Expressionismus. Von den zahlreichen avantgardistischen Bewegungen wurden der Futurismus in Italien und Rußland, die ,Wortkunst' des ,Sturm'Kreises im Expressionismus und der / Dadaismus in Deutschland sowie der s Surrealismus in Frankreich für die literarische Entwicklung bis zum 2. Weltkrieg am wichtigsten. Die avantgardistischen Strömungen wurden sowohl im Stalinismus wie im Faschismus unterdrückt. Nach dem 2. Weltkrieg knüpften die Wiener Gruppe und der Wiener Aktionismus sowie der Lettrismus und die f Konkrete Poesie an die Intentionen und Verfahren der historischen Avantgarden an. Die künstlerischen Verfahrensweisen gruppieren sich um einige Grundprobleme, die in den einzelnen Avantgarden mit unterschiedlicher Intention und wechselndem Gewicht bearbeitet wurden: (1) Die Avantgarden betreiben eine destruktive „Poetik der Infragestellung", die zu einer Dehierarchisierung der Gattungen und Stile sowie zur „Aufhebung der .ästhetischen Verbote' im Bereich von Lexik, Metaphorik und Thematik" (Glossarium der russ. Avantgade, 15) führt. Es fallen die Geschmacksgrenzen und potentiell die Oppo-

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sitionen von Kunst- und Gebrauchsliteratur, Kunst und Kitsch. (2) Die Avantgarden gehen mit der Sprache als Material um. Sie isolieren alle Elemente der gesprochenen, geschriebenen und gedruckten Sprache und experimentieren mit ihnen (/• Lautgedicht, Visuelle Poesie, typographisches Gedicht, skripturale Malerei). Soweit hierbei die semantische Dimension der Sprache in Frage gestellt wird, kommt es zu fließenden Übergängen in die bildende Kunst und die Geräuschmusik. (3) Die Avantgarden stellen das Konzept des geschlossenen organischen Werkes in Frage. Dies betrifft zunächst den Schaffensvorgang selbst: Der Künstler kann auf vorgefertigte Materialien zurückgreifen, die er destruiert und neu kombiniert ( s Montage) oder nur ihres Gebrauchszusammenhanges enthebt und in eine neue Perspektive rückt (Objet trouvé, / Poème trouvé, Ready made). Die Textelemente werden vielfach einem Prozeß der Variation und Kombination unterworfen oder aktionistischen und intermedialen Inszenierungsformen integriert (futuristische und dadaistische Aktionen, Happening, Fluxus). (4) Die Konstitution des Werkes wird an den Rezipienten delegiert. Er ist zu einem kreativen, assoziativen und spielerischen Umgang mit dem Produkt aufgefordert. Die Mechanismen der Bedeutungskonstitution, die Reaktionen des Publikums sowie letztlich der gesamte Kommunikationsvorgang können zum Material des Künstlers werden. (5) Das humanistische Menschenbild und mit ihm das rationale Subjekt als organisierendes Zentrum der Kunst wird teilweise verabschiedet. Die Struktur der Texte wird depersonalisiert. Auch im Produktionsprozeß erhält das Subjekt eine exzentrische Position. Der Dadaismus experimentierte mit dem Zufall, die Surrealisten entwickelten neben dem automatischen Schreiben eine Reihe weiterer Verfahren, um den Schaffensvorgang einer willkürlichen Lenkung und Planung zu entziehen. Dadurch soll eine Produktionsinstanz außerhalb der Ratio (das ,Leben', das ,Unbewußte', ein kosmischer Allzusammenhang o. ä.) Ausdruck finden. Die Abstraktion kann mit einem

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Avantgarde

„kosmischen Mystizismus" (Moser, 127) Hand in Hand gehen, der in der Lautdichtung zu einer Ontologisierung gegenstandsloser Phoneme führt (S Lautgedicht). In der Konzeption des Kommunikationsvorganges führt die antiintellektuelle Wendung zu einer Hervorhebung unbegrifflicher, d. h. lautlicher und bildlicher Informationen (vgl. die Rolle des ? Rhythmus bei Holz und in der ,Wortkunst'). Die Avantgarden sind Reflexionskulturen. Wissenschaftliches, pseudowissenschaftliches oder hermetisches Wissen dient ihnen sowohl als Produktionsmittel wie zur Legitimierung. Die literarische Entwicklung verläuft streckenweise parallel zum /" Formalismus (Petersburger ,Opojaz' und Moskauer Linguistik-Kreis um Roman Jakobson mit engen Verbindungen zum russischen Futurismus) und Strukturalismus (Prager Kreis) in der Linguistik, Poetik und Ästhetik. Die Sprachphilosophie (Wittgenstein) und -Wissenschaft dient der Orientierung der Arbeit am sprachlichen Material. Für die Konzeption des Produktionsvorganges erhält die Psychoanalyse von Freud und Jung eine vergleichbare Bedeutung im Surrealismus. Doch ist die Referenz auf Wissenschaft stets kritisch zu befragen. Seit der ,Pataphysik' von Alfred Jarry besitzen die Avantgarden ihre eigenen Formen der Parodie und Mystifikation von Wissenschaft. Seit den 1960er Jahren fanden die Avantgarden zunehmend Anerkennung und wurden in den Kunstbetrieb integriert. Da mit ihrer Historisierung eine Aktualisierung einherging (in der Pop-Kultur und im N o u veau Réalisme', mit den Happenings und im Fluxus), kam es zur Unterscheidung der ,historischen Avantgarden' von den ,Postavantgarden' nach dem 2. Weltkrieg, die sich auf die Verfahren und Resultate ihrer Vorgänger stützen. Indem die Avantgarden auf diese Weise traditionsbildend wirkten, verloren die Brüche, die Schocks und Skandale ihre gesellschaftskritische Funktion. Kritiker konstatierten das Ende einer authentischen Avantgarde: „Jede heutige Avantgarde ist Wiederholung, Betrug oder Selbstbetrug." (Enzensberger, 79) Ihre Verteidiger, die sich heute vor allem im Femi-

nismus und im Bereich der neuen Medien finden, halten an ihrer sowohl gesellschaftswie kulturkritischen Intention fest. Die Avantgarden haben die Kunst pragmatisiert und in das öffentliche Leben integriert, multimediale Inszenierungsformen und Propagandatechniken entwickelt und damit einen erheblichen Beitrag zur „Funktionalisierung und Instrumentalisierung der Kunst überhaupt" (Günther, 72) geleistet: Viele ihrer Verfahren — Collage, Montage, Schrift-Bild-Kombinationen, freie Typographie, Herstellung eines Ereignisses — sind feste Bestandteile der Gestaltung, Werbung und Öffentlichkeitsarbeit geworden. Theodor W. Adorno: Philosophie der neuen Musik. Frankfurt 2 1990. - Hans Magnus Enzensberger: Die Aporien der Avantgarde. In: H. M. E.: Einzelheiten II. Frankfurt 1984, S. 5 0 - 8 0 . Hans Günther: Avantgarde und Sozialistischer Realismus. In: Glossarium der russischen Avantgarde, S. 61—75. — Jost Hermand: Das Konzept ,Avantgarde' [1962], In: Faschismus und Avantgarde, S. 1 - 1 9 .

ForschG: Mit der Wiederentdeckung der Avantgarden in den 60er Jahren setzt ihre Aufarbeitung und Erforschung ein. Da die Avantgarden multimedial arbeiten, sich meist über mehrere Nationalkulturen erstrecken und oft mehrsprachig sind, erfordert ihre Erforschung eine interdisziplinäre Zusammenarbeit und einen komparatistischen Ansatz. Für eine Theorie der Avantgarde wurden wegweisend die Arbeiten von Poggioli (italienisch 1962) und Bürger. Nach Bürger stellen die Avantgarden einen Angriff auf die .Institution Kunst' (den KunstbegrifT unter Einschluß des Produktions- und Distributionsapparats) dar. Ihr Versuch, Kunst in Lebenspraxis zurückzuführen, scheiterte und enthüllte den Zusammenhang von Autonomie und Folgenlosigkeit. Die Konsequenzen des Scheiterns der Avantgarden — „Verfügbarkeit aller Traditionen", „Nebeneinander von Stilen und Formen" (Bürger, 130 f.) — werden in der Diskussion um Moderne, Postmoderne und ,Posthistoire' reflektiert. Lit: Avantgarde. Hg. v. der Bayerischen Akademie der Schönen Künste. München 1966. - Karlheinz Barck u. a. (Hg.): Künstlerische Avantgarde. Berlin 1979. - Peter Bürger: Theorie der

Aventiure Avantgarde. Frankfurt 1974, 8 1990. - Dictionnaire général du Surréalisme et de ses environs. Hg. v. Adam Biro und René Passeron. Fribourg 1982. - Peter Drews: Die slawische Avantgarde und der Westen. München 1983. — Faschismus und Avantgarde. Hg. v. Reinhold Grimm und Jost Hermand. Königstein 1980. - Helga Finter: Semiotik des Avantgardetextes. Stuttgart 1980. Ernst Fischer, Georg Jäger: Von der Wiener Gruppe zum Wiener Aktionismus. In: Die österreichische Literatur. Ihr Profil von der Jahrhundertwende bis zur Gegenwart. Hg. v. Herbert Zeman. Teil 1. Graz 1989, S. 6 1 7 - 6 8 3 . - Glossarium der russischen Avantgarde. Hg. v. Aleksandar Flaker. Graz, Wien 1989. - Jürgen Grimm: D a s avantgardistische Theater Frankreichs 1 8 9 5 - 1 9 3 0 . München 1982. - Jürgen Habermas: Die Moderne - Ein unvollendetes Projekt. Leipzig 1990. - Wilfried Ihrig: Literarische Avantgarde und Dandysmus. Frankfurt 1988. - Georg Jäger: Die Avantgarde als AusdifTerenzierung des bürgerlichen Literatursystems. In: Modelle des literarischen Strukturwandels. Hg. v. Michael Titzmann. Tübingen 1990, S. 221—244. — Thomas Kopfermann: Konkrete Poesie. Frankfurt, Bern 1981. - Kurt Moser: Literatur und die Große Abstraktion. Erlangen 1983. - Renato Poggioli: The theory of the avant-garde. Cambridge, Mass. 1968. — Hansgeorg Schmidt-Bergmann: Die Anfänge der literarischen Avantgarde in Deutschland. Stuttgart 1991. - Yvonne Spielmann: Eine Pfütze in bezug aufs Mehr. Frankfurt, Bern 1991. - Inge Stephan, Sigrid Weigel (Hg.): Weiblichkeit und Avantgarde. Berlin, Hamburg 1987. Theorie der Avantgarde. Hg. v. W. Martin Lüdke. Frankfurt 1976. - Rainer Warning, Winfried Wehle (Hg.): Lyrik und Malerei der Avantgarde. München 1982. - Jean Weisgerber (Hg.): Les Avant-Gardes Littéraires aux X X e Siècle. 2 Bde. Budapest 1984.

Georg Jäger

Aventiure Ritterliche Bewährungsprobe als Strukturelement des Artusromans. Expl: Aventiure ist das strukturbildende Bauelement des Artusromans: selbstgesuchte und gleichzeitig vorbestimmte ritterliche Bewährungsprobe, durch deren Bestehen der Held seinen Platz in der Gesellschaftsordnung findet. Die Folge der einzelnen Aventiuren konstituiert den Weg des

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Helden; aus ihrer Position und ihren internen Relationen entsteht das Strukturschema des Artusromans, über das die Sinnsuche des Helden vermittelt wird (/" Artusepik). WortG: Afrz. aventure, abgeleitet von vulgärlat. adventura (Part. Fut. von advenire) ,was geschehen wird', erscheint zuerst im afrz. ,Alexiuslied' und in den Chansons de geste im Sinn von ,Zufall, Geschick'. Nach 1150 wird es als aventiure in dieser Bedeutung ins Deutsche übernommen (,Graf Rudolf um 1170), bald (,Herzog Ernst', ,Erec', um 1185) steht es auch schon für den Inhalt einer providentiellen Begegnung (,ritterlicher K a m p f ) und für den Bericht darüber (,Erzählung, Vorlage, Quelle'), im N i b e l u n genlied' ist es Schreiberterminus für die Sinnabschnitte, steht aber auch für das ganze Werk. Neben Bedeutungen wie ,Turnier(preis)' im Spätmittelalter entwickelt sich ein pejorativer Sinn von ,(Lügen)geschichte', der zu ,Unerlaubtheit, Betrug' weiterentwickelt wird (15. Jh.). Die späteren Wortformen ebenteuer, abenteuer (affenteuer) lehnen sich an deutsche Wörter an. Im 17. Jh. kommt die Bedeutung ,Liebesaffaire' auf. DWb2 1, Sp. 1 5 0 - 1 6 5 . Frnhd.Wb. 1, Sp. 6 1 - 6 8 . - Hugo Palander ( = Suolahti): Der französische Einfluß auf die deutsche Sprache im 12. Jh. Helsingfors 1902, S. 106.

BegrG: Seine programmatische Bedeutung als Zentralbegriff der Artusdichtung erhält .aventiure' im ,Erec' des Chrétien de Troyes (um 1170). So wird es in den frühen deutschen Artusromanen übernommen, aber bald schon kritisch (oder ironisch?) relativiert (,Iwein', v. 525 — 537). Bei Wolfram von Eschenbach im ,Parzival' (1205/10) wird ,aventiure' als strukturelles Element der (eigenen) Erzählung personifiziert als ,frou Aventiure', was nachgeahmt wird von Ulrich von dem Türlín, Rudolf von Ems (,Willehalm von Orlens'), Ulrich Füetrer und insbesondere von Albrecht im J ü n g e ren Titurel', wo die personifizierte Aventiure zur Allegorie der didaktischen Perspektive tendiert. Bei Johanns von Würzburg W i l helm von Österreich' (1314) ist ,der aventiure houbetman' der allegorische Vertreter

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Aventiure

des Bewährungsprinzips für den Helden. Gelegentlich wird der Begriff auch mit schicksalsbestimmendem märchenhaftem Gehalt gefüllt. Im 13. Jh. wird aventiure zu einem Modewort der Epik im Sinn von u n vorhergesehene Begebenheit zu (kämpferischer) Bewährung unter widrigen Umständen'; so bleibt es fortan in Geltung. SachG: Die auf die Aventiure gegründete Symbolstruktur des Artusromans wird bei der Übernahme von Chrétiens Romanen ins Deutsche durch Hartmann von Aue und Wolfram von Eschenbach im Sinne einer Strukturdiskussion abgewandelt und kritisch weiterentwickelt. Die Auseinandersetzung mit den Aussagemöglichkeiten des Strukturmodells bestimmt zu einem guten Teil die Geschichte des nachklassischen Artusromans. Wo es, wie in vielen der späteren Romane, weniger um Problematisierung als um Bestätigung eines Gesellschaftsentwurfs geht, löst sich der symbolische Gehalt der aventiure weitgehend auf, sie wird zum Teil zweckfrei-erzählerisch (Heinrich von dem Tûrlîn, ,Crône'), zum Teil didaktisch-allegorisch (Albrecht, J ü n gerer Titurel') eingesetzt und auch inhaltlich mit neuer ,realer' Bedeutung gefüllt (Lion-aventiure im .Wigalois'), bzw. abgewertet als obsoletes Prinzip weltlicher Ritterschaft (,Prosa-Lancelot'). In der (nach den so beschaffenen Episoden benannten) ,aventiurehaften' Dietrich-Epik ist aventiure ähnlich unspezifisch wie im späten höfischen Roman als gefahrvolle Gelegenheit zur Bewährung' benutzt, wird aber auch in dieser Form noch zum Prinzip der Relativierung heldenepischer Fatalität. Bei Ulrich Füetrer (,Buch der Abenteuer', 1473-84) wird die Reihenstruktur der Abenteuer zur Makrostruktur seiner Summe der mittelalterlichen Artus- und Gralromane. In Kaiser Maximilians ,Teuerdank' (1517) wird die stereotype Abfolge von Abenteuern (,gferlichkeit') moralisch (gelegentlich allegorisch) funktionalisiert. Als Reihungsprinzip erscheint das Abenteuer auch im Prosaroman des 16. Jhs. (.Fortunatus'), im ,Amadis' und seiner deutschen Adaptation (1569-94), auf die durch stoffliche Phantastik dominierten Ritterromane reagierte der

,Don Quixote' des M. de Cervantes Saavedra (1605-15, dt. 1621). Schwächer ist die satirische Tendenz im pikarischen Roman (.Lazarillo de Tormes', dt. 1617), der bei Grimmelshausen (,Simplicissimus\ 1669) ein eigenes Profil mit weiter Nachahmung (Simpliziaden) findet. Im Gefolge von Daniel Defoes .Robinson Crusoe' (1719/29, deutsch 1720/21) entstehen J. G. Schnabels .Wunderliche Fata einiger Seefahrer...' (1731-42, als ,Die Insel Felsenburg' 1828) und andere / Robinsonaden. Die abenteuerlichen Reise- und Räuberromane des späten 18. und 19. Jhs. amalgamieren diese verschiedenen Traditionen, sie nähern sich der Trivialliteratur und gehen in diese ein. Der Ritterroman des späten 18. und des 19. Jhs. („ohne und mit Gespenstern", Heinrich von Kleist) wird zu einem der dominierenden Genres der Unterhaltungsliteratur. In den /" Abenteuerroman des 19. Jhs. gehen Anregungen von Walter Scott und James Fenimore Cooper ein; die Fülle der Texte im Bereich der Jugend- und Trivialliteratur ist unübersehbar. Typisch bleibt die Reihung von Bewährungssituationen des Helden, die zumeist speziell auf ihn hin entworfen sind und ihn zum Teil ein breites Spektrum menschlich vorbildlicher Fähigkeiten entwickeln lassen. ForschG: Jacob Grimm suchte die Frau Aventiure auf die personifizierte Saga zurückzuführen. Die eigentliche Beschäftigung mit .Aventiure' als Zentralkategorie ritterlich-höfischer Identität setzt mit Elena Eberwein (1933) ein und wurde von Hugo Kuhn, dann v.a. von Walter Haug als poetologischer Ansatz weiterentwickelt. Eine sozial-psychologische Deutung unternahmen Karl Bertau und Dieter Welz, die soziologische Interpretation wurde nach dem Vorbild von Erich Köhler v.a. von Gert Kaiser entwickelt. Lit: Karl Bertau: Deutsche Literatur im europäischen Mittelalter. 2 Bde. München 1972 f. Elena Eberwein: Zur Deutung mittelalterlicher Existenz. Bonn, Köln 1933. - Jacob Grimm: Frau Aventiure klopft an Beneckes Thür. In: Kleine Schriften I.Berlin 2 1879, S. 8 3 - 1 1 2 . Walter Haug: Literaturtheorie im deutschen Mittelalter. Darmstadt 1985, 2 1992. - Wolfgang Herrmann: Der allein ausziehende Held. In:

Aventiure DVjS 46 (1972), S. 320-358. - Dagmar Hirschberg: Zum Aventiure-Gespräch von der Bedeutung warer minne im .Jüngeren Titurel'. In: Wolfram-Studien 8 (1984), S. 107-119. - Gert Kaiser: Textauslegung und gesellschaftliche Selbstdeutung. Die Artusromane Hartmanns von Aue. Wiesbaden 21978. - Volker Klotz: AbenteuerRomane. München, Wien 1979. — Erich Köhler: Ideal und Wirklichkeit in der höfischen Epik. Tübingen 21970, S. 66-88. - Hugo Kuhn: Erec [1948]. In: H. K.: Dichtung und Welt im Mittelalter. Stuttgart 1959, S. 133-150. - Dieter Rei-

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chardt: Von Quevedos .Buscón' zum deutschen Avanturier. Bonn 1970. - Kurt Ruh: Höfische Epik des Mittelalter. Berlin I 21977, II 1980. Norbert Sieverding: Der ritterliche Kampf bei Hartmann und Wolfram. Heidelberg 1985. Bernd Steinbrink: Abenteuerliteratur des 19. Jhs. in Deutschland. Tübingen 1983. - Dieter Welz: The spirit of adventure in Middle High German romances of the Arthurian cycle. In: English Studies in Africa 16 (1973), S. 77-86. Volker

Mertens

Β Bänkelsang Populäre, moralisierende Kunstform des 17. bis frühen 20. Jhs., die Wort, Bild und Musik verbindet. Expl: Bänkelsang ist der öffentliche Vortrag einer Geschichte von Liebe, Mord, Kindsmord, von Räubern und Wilderern, von Unglücksfällen und Naturkatastrophen aller Art, gesungen nach den Melodien bekannter Volks- oder Kirchenlieder, begleitet von einem Musikinstrument, meistens von einer Drehorgel, veranschaulicht durch Hinweise mit einem Zeigestock auf eine gefelderte, plakative und grellfarbige Bildertafel mit einzelnen Szenen der Geschichte. Die während des Vortrags verkauften Moritatenzettel oder -heftchen enthalten den von anonymen Autoren verfaßten Text der Geschichte und meistens ein dazu gehörendes, balladeskes Lied mit abschließender Moralstrophe. Im Dienste moralischer oder geistlicher Belehrung betonen sie die Faktizität des schrecklichen Ereignisses und führen exemplarisch die Bedrohung und Wiederherstellung der religiösen und sozialen Ordnung vor. Nach Themen, Stoffen, Motiven und Ideologie, nach Produktions- und Distributionsformen stehen sie im Zusammenhang mit der Exempel-, s Flugblattund ? Kalender-Literatur Bänkelsang akzentuiert eher den szenischen und audiovisuellen Charakter des Phänomens, MORITAT dagegen eher den textuellen. WortG: Das Wort Bänkelsänger ist erstmals 1730 bei Gottsched nachzuweisen (Gottsched, 89); es erklärt sich aus dem wichtigen Requisit, dem ,Bänkel' (ostmitteldt. Diminutiv), der kleinen Bank, von der herab die Geschichte vorgetragen wird, und aus dem Vortragsmodus. Die etwas früher nachweisbare Form Bänkleinsänger (1709 in der

,Neukirchschen Sammlung'; s. BegrG) hat sich nicht durchgesetzt. Das seit 1841 nachweisbare Wort Moritat (Petzoldt, 110 f.) ist etymologisch nicht eindeutig geklärt (,Moralität', ,Mordtat'?). BegrG: Die Begriffsgeschichte spiegelt die negative Bewertung des Bänkelsangs als moralisch bedenklich und ästhetisch minderwertig. Der kulturellen und sozialen Elite diente der Bänkelsang zur kulturellen und ästhetischen Grenzziehung und damit der kulturellen Identitätsbildung (Braungart, 389—399). Bänkelsänger bezeichnet schon im 18. Jh. einerseits einen — negativ beurteilten — Berufsstand, andererseits metaphorisch einen schlechten Dichter. Die metaphorische Verwendung bereits im ersten Beleg in der sog. ,Neukirchschen Sammlung' weist darauf hin, daß der Begriff wohl schon vorher eingeführt war: „Die gelehrten bäncklein=sänger / Sind die ärgsten müßiggänger" (Neukirch, 414). Für Adelung ist 80 Jahre später der „Bänkelsänger [...] derjenige, welcher auf den Gassen von hölzernen Bänken allerley Mordgeschichten absinget; der Bänkelreiter. Figürlich und in verächtlichem Verstände, ein schlechter Dichter, der sich ein Geschäft daraus macht, gemeine Gegenstände auf gemeine Art zu besingen" (Adelung 1, 718). Bänkellied, Bänkelsang, Bänkelsong und bänkelsängerisch bezeichnen im 19. und 20. Jh. zunehmend auch balladeske Lieder, die die ästhetischen Mittel des Straßenbänkelsangs aufnehmen (Riha). [,Neukirchsche Sammlung':] Herrn von Hoffmannswaldau und andrer Deutschen auserlesener und bißher ungedruckter Gedichte. Sechster Theil. Hg. v. Erika A. Metzger und Michael M. Metzger. Tübingen 1988.

SachG: Graphische daß das Phänomen das erste Auftreten Bänkelsang ist aus

Darstellungen zeigen, tatsächlich älter ist als der Bezeichnung. Der dem frühneuzeitlichen

Bänkelsang Zeitungslied entstanden und hat sich im 16. und 17. Jh. in ganz Europa ausgebildet (Brednich 1972). In Deutschland hat er sich bis in die 30er Jahre des 20. Jhs. gehalten. In anderen europäischen Ländern (Italien, Bulgarien) gibt es ihn bis heute (Hirdt). In Protestbewegungen und in nostalgischen Inszenierungen populärer Kultur (Drehorgelfestivals) wird der Bänkelsang bisweilen neu belebt. Mit seiner Herkunft und mit der Entwicklung der Lesefahigkeit hängt zusammen, daß die erzählenden Lieder zunächst ganz ohne Prosatext auskamen oder nur durch kurze Prosaerläuterungen ergänzt wurden. Im 19. Jh. nahmen mit der Lesefahigkeit des Publikums die Prosateile im Umfang zu. Zunächst kamen die Sänger aus den untersten sozialen Schichten. Auch darum versuchten sie, durch Gestik, Habitus und Kleidung seriös zu erscheinen. Sie waren — wie schon die zu den unehrlichen Berufen zählenden mittelalterlichen Spielleute — politisch verdächtig. Ihre Texte hatten sie vor dem Auftritt und Verkauf den örtlichen Zensurbehörden vorzulegen. Im 19. Jh. professionalisierte sich das Gewerbe. Einzelne Verlage spezialisierten sich auf die Herstellung der Textheftchen. Größere Familienbetriebe entwickelten sich, die aber mit dem übrigen Schaustellergewerbe konkurrierten. Panorama und Stummfilm übernahmen die Schaustellerästhetik des Bänkelsangs. Der aus ökonomischen Gründen gegebene Zwang zur Selbstüberbietung führte den Bänkelsang mehr und mehr an den Rand der unfreiwilligen Selbstparodie und gefährdete die für die Didaxe wichtige Glaubwürdigkeit. Der Erlös aus dem Verkauf der auf billigstem Papier gedruckten Textheftchen sicherte den Lebensunterhalt der Bänkelsänger. Außer von den Sängern selbst wurden sie auch im Kolportagehandel mit anderer populärer Kleinliteratur verkauft (Schenda). In seiner Verbindung von Wort, Bild und Musik war der Bänkelsang immer eine didaktische, auf Wirkung zielende Gebrauchskunst vor allem für die städtischen Unterschichten, die Dienstleute, die aufkommende Industriearbeiterschaft. Die vorgetragenen Ereignisse wurden oft genau

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datiert. Formelhafte Wendungen auf den Titelseiten der Heftchen („Wirklich wahre Begebenheit") wie auch im Vortrag der Sänger sollten die Faktizität der Ereignisse unterstreichen. Sie sollten als beglaubigte Exempla zur Belehrung und moralischen Aufrüstung der Zuhörer und Leser verstanden werden. Im .geistlichen Bänkelsang' konnte sich die Tendenz zu Erbauung und Didaxe besonders gut entfalten (Brednich 1977). Am einzelnen schrecklichen Ereignis wurde exemplarisch die Bedrohung und Wiederherstellung der religiösen und sozialen Ordnung vorgeführt. Im Bänkelsang bleibt kein Verbrechen ungesühnt, und Tugendhaftigkeit zahlt sich am Ende doch aus; noch in der fürchterlichsten Katastrophe zeigt sich das Walten der Vorsehung. Der typische Doppeltitel und die Moralstrophe der Lieder sorgten dafür, daß diese Lehre beim Publikum auch ankam: ,Ludmilla oder die Unschuld schützt Gott' (19. Jh.). Der Bänkelsang kann deshalb auch als eine emblematische Kunstform beschrieben werden (Braungart, 407-417). Er simplifizierte Zusammenhänge, reduzierte Komplexität in der faktisch immer komplexer werdenden Lebenswelt der Industrialisierungsepoche. Er löste sich im Verlauf des 19. Jhs. von seinen eher lokalen und regionalen Bezügen, griff über die Lebenswelt der Leser/Hörer hinaus, suchte seine Themen stärker im Fremden und Exotischen und bot damit zunehmend auch eskapistische Funktionen an. In solchen stofflichen Verschiebungen zeichnen sich auch Säkularisierungstendenzen ab. Die Geschichte des Bänkelsangs ist auch die seiner Wechselbeziehungen mit der Hochliteratur. Die aufklärerische Wirkungsästhetik und das ästhetische Paradigma der Natur- und Volkspoesie des Sturm und Drang förderten seit der 2. Hälfte des 18. Jhs. ein Interesse der Hochliteratur am Bänkelsang (Gleim, Bürger, Hölty, Schiller). Schillers ,Kindsmörderin' und Bürgers ,Lenore' ζ. B. wurden tatsächlich auf den Jahrmärkten gesungen. Arnim und Brentano planten, eine Bänkelsängerschule aufzumachen. Romanze, Ballade, politisch-agitatorisches Lied, Chanson und generell die Song-

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Ballade

tradition des 19. und 20. Jhs. (Vischer, Wedekind, Bierbaum, Mühsam, Brecht, Degenhardt, Biermann) verdanken dem Bänkelsang entscheidende Anregungen. Der Bänkelsängerton war ihnen ein ästhetisches Modell; sie entwickelten daraus — mit ganz unterschiedlichen Intentionen — ein differenziertes ästhetisches Spiel mit inszenierter Naivität, mit dem schlechten Geschmack, mit dem schrägen Ton, mit der Blutrünstigkeit, und funktionalisierten sein didaktisches Potential um (Oettich, Riha, Sternitzke). ForschG: Schon im 19. Jh. wurden die Heftchen systematisch gesammelt. Die umfangreichste Sammlung von Drucken befindet sich heute im Deutschen Volksliedarchiv Freiburg. Die frühe volkskundliche Forschung hat den Bänkelsang der ,,primitive[n] Gemeinschaftskultur" zugeordnet (Naumann). Die jüngere Forschung ist mit Rückschlüssen auf Bedürfnisse und Mentalität des .Volkes' vorsichtiger geworden, sieht den Bänkelsang nun in seinem Zusammenhang mit der Geschichte der populären Literatur und Kultur überhaupt und arbeitet seine grundsätzlich affirmative und konsolatorische Tendenz und seinen Warencharakter heraus. Genauere Untersuchungen zur historischen Entwicklung, zu regionalen Besonderheiten, einzelnen Sängern und Verlagen fehlen noch weitgehend. Auch kulturhistorische und kulturanthropologische Fragestellungen wurden zur Erforschung des Bänkelsangs bislang noch wenig fruchtbar gemacht. Welche kulturellen und sozialen Normen der Bänkelsang durchsetzen half (z. B. Familien- und Mutterideologie; Cheesman), inwiefern er durch seine Position zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit bestimmt wird, inwiefern seine Geschichte auch die Faszination zeigt, die vom Schrecklichen und Grausamen wohl immer ausgegangen ist, m u ß ebenfalls noch näher untersucht werden. Lit: Bänkelsang. Text - Bilder - Kommentare. Hg. v. Wolfgang Braungart. Stuttgart 1985. Die freudlose Muse. Texte, Lieder und Bilder zum historischen Bänkelsang. Hg. v. Leander Petzoldt. Stuttgart 1978. - Grause Thaten sind

geschehen. 31 Moritaten aus dem verflossenen Jahrhundert. Hg. v. Leander Petzoldt. München 1968. - Die Moritat vom Bänkelsang oder Das Lied der Straße. Hg. v. Elsbeth Janda und Fritz Nötzoldt. München 1959. — D a s Moritatenbuch. In Zusammenarbeit mit Mia Geimer-Stangier hg. v. Karl Riha. Frankfurt 1981. - Traurige Schicksale der Liebe. Moritatentafeln. Hg. v. Theodor Kohlmann. Dortmund 1982. Bänkelsang und Moritat. Ausstellung der Staatsgalerie Stuttgart. Katalog Ulrike Eichler. Stuttgart 1975. - Rolf Wilhelm Brednich: Zur Vorgeschichte des Bänkelsangs. In: Jb. des Österreich. Volksliedwerkes 21 (1972), S. 7 8 - 9 2 . R. W. B.: Liedkolportage und geistlicher Bänkelsang. In: Jb. für Volksliedforschung 22 (1977), S. 7 1 - 7 9 . - Tom Cheesman: Bänkelsang. Studies in the history of German street balladry in the 18th and 19th centuries. With a selected annotated catalogue of printed and manuscript sources. 1 5 8 0 - 1 9 5 0 . 2 Bde. Diss. Oxford 1988 (masch.). - T. Ch.: The shocking ballad picture show. German popular literature and cultural history. Oxford, Providence 1994. - Willi Hirdt: Italienischer Bänkelsang. Frankfurt 1979. — Egbert Koolman: Bänkellieder und Jahrmarktdrucke. Katalog. Oldenburg 1990. - Hans Naumann: Studien über den Bänkelgesang. In: H. N.: Primitive Gemeinschaftskultur. Jena 1921, S. 1 6 8 - 1 9 0 . - Gisela Oettich: Der Bänkelsang in der Kunstdichtung des 20. Jhs. Diss. Wien 1964 (masch.). - Leander Petzoldt: Bänkelsang. Stuttgart 1974. - Karl Veit Riedel: Der Bänkelsang. Hamburg 1963. - Karl Riha: Moritat, Bänkelsong, Protestballade. Königstein 2 1979. - Rudolf Schenda: Volk ohne Buch. Studien zur Sozialgeschichte der populären Lesestoffe 1 7 7 0 - 1 9 1 0 . München 2 1977. - Erwin Sternitzke: Der stilisierte Bänkelsang. Diss. Marburg 1933. - Hans Dieter Zimmermann (Hg.): Lechzend nach Tyrannenblut. Ballade, Bänkelsang und Song. Berlin 1972.

Wolfgang Braungart

Ballade Gedicht-, meist liedförmige Erzählung einer merkwürdigen Begebenheit. Expl: (1) Fiktionaler Text (2) geringen Umfangs (3) in Versen, worin (4) ein konflikthaftes Ereignis (5) erzählt wird. — Z u (1): Die Fiktionalität der Ballade schließt (wie im Fall der Novelle) die historische Ver-

Ballade bürgtheit des Geschehens nicht aus. Zu (2): Ihr geringer Umfang unterscheidet die Ballade insbesondere von der (Vers-)Novelle; er verlangt zugleich eine zügige, gegebenenfalls elliptische Darbietung. Zu (3): Die vershafte (meist auch strophische) Bindung trennt die Ballade von verwandten Gattungen prosaischen Erzählens wie der Sage und dem Schwank und rückt sie (jedenfalls in der Spielart der ,Volksballade') mit anderen Gattungen sangbarer Dichtung zusammen. Zu (4): Der dargestellte Konflikt kann ebensowohl tragischen (jedenfalls ernsten) wie komischen Charakters sein. Zu (5): Die Mannigfaltigkeit der erzählerischen Darstellungsmittel erlaubt auch der Ballade den Gebrauch szenischer Formen wie des Gesprächs (,Dialogballade') und des Monologs (,Rollenballade'). Bei entsprechend engerer Fassung des Balladen-Begriffs hat man zumal im 18. Jh. die ? Romanze und neuerdings (weniger glücklich) das Erzählgedicht als eigene, wenngleich mit der Ballade verwandte Gattungen aufgefaßt. ERZÄHLGEDICHT: Gedicht von balladischer Prägung, jedoch ohne die im 19. Jh. dominant gewordenen ,heroischen' Züge. Stattdessen werden Elemente populärer Gattungen wie der Moritat und des s Chansons aufgegriffen. Andererseits verliert sich vielfach die Sangbarkeit, und selbst das Moment des Epischen tritt oftmals in den Hintergrund. WortG: Auf lat. ballare (nach griech. βαλλίζειν [ballízein]) ,tanzen' gehen ital. ballata, prov. balada, frz. ballade ,Tanzlied' zurück. Das dem Französischen entlehnte engl, bailad, das nun (anders als engl, ballade!) ein volksläufiges Lied erzählenden Charakters bezeichnet, wird in dieser Bedeutung seit 1770 als Ballade (Bürger, Goethe) ins Deutsche übernommen. Die Ableitung balladisch verwendet schon Bürger (1773); gegen Ende des 19. Jhs. kommt balladesk (Liliencron, Fontane) hinzu. In neuerer Zeit verwenden einzelne Dichter Ballade bisweilen auch im ungefähren Sinn des ital. oder frz. Wortes (Hofmannsthal: ,Ballade des äußeren Lebens', Brecht: .Ballade vom angenehmen Leben').

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Peter F. Ganz: Der Einfluß des Englischen auf den deutschen Wortschatz 1 6 4 0 - 1 8 1 5 . Berlin 1957. - Erwin Kircher: Volkslied und Volkspoesie in der Sturm- und Drangzeit. In: Zs. für deutsche Wortforschung 4 (1903), S. 1 - 5 7 .

BegrG: Seit seiner Einführung im späten 18. Jh. wird der Balladen-Begriff teils im engeren und teils im weiteren Sinn verstanden. Es fallt nämlich darunter teils nur der g o r dische', teils auch der ,südliche' Typus (die Romanze). Noch Hans Benzmanns Anthologie ,Die deutsche Ballade' (1913) nennt sich im Untertitel ,Eine Auslese aus der gesamten deutschen Balladen-, Romanzenund Legenden-Dichtung'. Seither aber hat sich der weitere Begriff (oft mit der Unterscheidung zwischen ,Volks-' und .Kunstballaden') allgemein durchgesetzt. SachG: Balladische Dichtungen hat es wahrscheinlich bei vielen Völkern schon in den ältesten Zeiten gegeben. Hierzu gehören die schwankhafte Erzählung von Ares und Aphrodite, von der die .Odyssee' berichtet (8, 266—369), und im deutschen Sprachbereich das sogenannte ,Altere Hildebrandslied' (8. Jh.). Als Gattung hat sich die Ballade jedenfalls in Deutschland erst im späteren Mittelalter ausgebildet. Erste Bezeugungen enthält vielleicht ein Gedicht des Marner (Mitte 13. Jh.); die ersten Aufzeichnungen sind (von einzelnen Vorläufern al\L\ sollen) nicht vor dem 15. Jh. erfolgt. Diese später so genannte ,Volksballade' überführt das adeliger Vorzeitkunde dienende ,Heldenzeitlied' (Fromm) in die bürgerliche Welt der Zeitenwende um 1500. Das hergebrachte Corpus solcher Balladen wird insbesondere um .Historische Volkslieder' (Episodengedichte zu historischen Ereignissen) erweitert und unter mancherlei Abwandlung der Texte (durch .Zersingen') größtenteils weiterhin mündlich überliefert. Schon darum hat die Regelpoetik des Barock und der frühen Aufklärung (von Opitz bis Gottsched) im Kanon der Gattungen für die Ballade keinen Platz. Erst im späteren 18. Jh. geht man zunächst in Frankreich und England, dann auch in Deutschland an die Sammlung der in mündlicher Überlieferung noch lebendigen oder in schriftlicher Form (etwa durch Einblattdrucke) festge-

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Ballade

haltenen Lieder. Unter Berufung zumal auf Macphersons vermeintliche Entdeckung des schottischen Barden Ossian (1760—1765) und die von Thomas Percy zusammengetragenen ,Reliques of Ancient English Poetry' (1765) wollen Herder und Bürger nun auch die ,Volkslieder' der Deutschen (darunter ,Balladen' und .Romanzen') ins Bewußtsein der Gebildeten, zumal der Dichter des gegenwärtigen Zeitalters, gehoben sehen. Herder selbst legt gegen Ende der 70er Jahre seine weitgespannte Sammlung europäischer .Volkslieder' (1778/1779) vor, und zur selben Zeit ist dem Widerstand, den die späte Aufklärung der neuen Mode leistet, mit Nicolais ,Kleynem feynen Almanach' (1777/1778) ein Vortrab dessen zu verdanken, was zu Beginn des 19. Jhs. dann Arnim und Brentano mit ,Des Knaben Wunderhorn' (1806/1808) für das deutsche Volkslied unternehmen werden. Bereits in die 70er Jahre fallen auch die ersten Versuche einer Fortführung und Erneuerung der ,Volksballade' — fallt die Begründung der deutschen ,Kunstballade' im Göttinger Hainbund, durch Höltys ,Adelstan und Röschen' (1771), mit epochaler Wirkung dann durch Bürgers ,Lenore' (1773). Gleichfalls in diesen Jahren entstehen Goethes erste Balladen — von denen eine, der ,Klaggesang von der edlen Frauen des Asan Aga', die Nachbildung einer serbokroatischen Volksballade, zugleich die Spielart der in stichischer (statt strophischer) Form abgefaßten Ballade begründet. Wenig später prägt ebenfalls Goethe zumal mit dem .Erlkönig' (1782) den Typus der ,numinosen' Ballade exemplarisch aus. Der neue Standard jedoch, den Goethe und Schiller mit den Produktionen des ,Balladenjahrs' 1797 setzen, indem sie die G a t t u n g nach Stoff, Gehalt und Form auf die Grundsätze der Weimarer Klassik verpflichten, insbesondere Schillers Konzept der ,Ideenballade' (,Die Bürgschaft'), wird schon von den Dichtern der Romantik kaum mehr anerkannt. Stattdessen breitet sich nach dem Erscheinen des ,Wunderhorns', wohl auch im Gefolge der Freiheitskriege, die .vaterländische' Ballade sagenhafter und historischer Richtung erheblich aus (Uhland, Strachwitz, Geibel). Das spätere 19. Jh. bietet ein

diffuses Bild: ein „undeutliches Neben- und Ineinander romantischer, ,biedermeierlicher', vormärzlich-jungdeutscher und sonstiger [...] Bestrebungen" (Laufhütte) — darunter auch allerlei Versuche, der Gattung die Lebenswelt der Gegenwart zu erschließen. So bildet sich auf der Spur von Goethes ,Vor Gericht' (um 1775) nun erst die Spielart der ,Sozialen Ballade' heraus (Chamisso, Heine, Droste-Hülshoff). Im übrigen fallt die Balladik des 19. Jhs. außer durch einzelne Meisterwerke (Mörike, C. F. Meyer, Fontane) besonders durch ihre inflationäre Menge auf — mithin auch dadurch, daß sie je später desto mehr epigonale (auch dilettantische) Züge trägt. Als gegen Ende des 19. Jhs. im Zeichen der Moderne, die in Deutschland mit dem Naturalismus beginnt, die Ballade (wie in geringerem M a ß auch die Novelle) obsolet zu werden droht, unternimmt ein Kreis um Börries von Münchhausen (Agnes Miegel, Lulu von Strauß und Torney) den Versuch einer Restauration der Gattung nach dem Muster der .Heldenballade' romantischer Prägung — der Jahrzehnte später bequem in die Literaturpolitik des Nationalsozialismus eingepaßt werden kann. Gleichfalls um 1900 leitet (neben anderen) Frank Wedekind eine Erneuerung der Ballade dadurch ein, daß er sie (noch halb parodistisch) mit Elementen des populären /" Bänkelsangs versetzt (,Der Tantenmörder'). Auf diesem Wege folgt ihm in den 20er Jahren Bertolt Brecht, dessen Balladen ihrerseits den .Liedermachern' der letzten Nachkriegszeit (Biermann, Degenhardt) zum Muster dienen. Daneben greift die Balladendichtung des 20. Jhs. immer wieder auch auf die ältere Ballade zurück — bald in strengerer (Kolmar), bald in freierer Gestaltung (Bobrowski). ForschG: Was die ältere, die .Volksballade' betrifft, so mußte die Forschung das größtenteils mündlich Überlieferte zunächst einmal sammeln und sichern, bevor sie versuchen konnte, das erstmals von Uhland 1844/1845 (später unter anderem von Erk/ Böhme, Meier, schließlich vom Deutschen Volkslied-Archiv) zuverlässig edierte Material historisch und systematisch zu ordnen. Diese Aufgaben hat im wesentlichen die

Ballade Volkskunde wahrgenommen, während die Literaturwissenschaft ihr Augenmerk so gut wie ganz der neueren Kunstballade gewidmet hat. Im Vordergrund des Interesses standen (1) die Definition, (2) die Typologie, (3) die Genese der Gattung. (1) Das , Wesen' der Ballade hat mit lange anhaltender Wirkung Goethe dahingehend bestimmt, daß in ihr „die Elemente" der Dichtung, nämlich das Lyrische, das Epische und das Dramatische, „noch nicht getrennt, sondern wie in einem lebendigen UrEi zusammen sind" (WA I 41/1, 223-227). Das mochte im Zeitalter der ,klassischen' Ästhetik der Unbequemlichkeit Rechnung tragen, daß die Ballade sich im Gefüge der lyrischen Gattungen (neben Lied, Ode, Hymne, Sonett usw.) nicht recht unterbringen ließ. Erst vergleichsweise spät hat sich die Literaturtheorie aus dem Schatten des Goetheschen Aperçus gelöst und die Ballade in die Reihe der epischen Gattungen (neben Sage, Schwank, Anekdote, Novelle usw.) gestellt — ohne sich davon beirren zu lassen, daß die Ballade durch die Gespanntheit der Handlung dem Dramatischen und durch die Anteilnahme des Sprechers dem Lyrischen verwandt erscheint. (2) Während sich die namhaftesten Ästhetiker des 19. Jhs., Hegel und Vischer, noch damit beschieden haben, die hergebrachte Unterscheidung zwischen .Balladen' und ,Romanzen' systematisch zu begründen, hat die spätere Literaturtheorie auf diesem Gebiet die nunmehr eine Gattung meist in eine Vielzahl von Arten, und k a u m je dieselben, zu unterteilen gesucht. Einige solche Arten führen seitdem auch recht passende Namen — so die ,Helden-', die ,Geister-', die ,Ideenballade'. Systematisch wohlbegründete Typologien sind allerdings selten geblieben. Im Anschluß an Goethes Bemerkungen über die Ballade als „Urei", in dem die „Naturformen der Dichtung" noch vereinigt seien, hat der Slawist F. W. Neumann 1937 den von der deutschen Philologie leider k a u m beachteten Vorschlag gemacht, in erster Instanz zwischen epischen, lyrischen und dramatischen Balladen zu unterscheiden. Die von Hinck 1972 ins Gespräch gebrachte Dichotomie von „nordischer" und „Legendenballade",

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aus dem Gesichtspunkt der Aktivität/Passivität des Helden, hat sich wohl schon darum nicht auf Dauer zu bewähren vermocht, weil sie im G r u n d e nur die Auffassung bestreiten sollte, die Gattung falle mit der Spielart,Heldenballade' so gut wie vollständig zusammen. Fruchtbarer ist Hassensteins 1986 unternommene Typologie, die das Corpus unter Bezugnahme auf Jolies' ,Einfache Formen' (1930) nach „Erzählmustern" einzuteilen empfiehlt in ,Sagen-', .Anekdoten-', ,Parabel-' und ,Schwankballaden'. (3) Die vieldiskutierte Frage, ob die Geschichte der Kunstballade mit Hölty oder mit Bürger beginnt, also schon im Zeichen der .Romanze' nach romanischem oder erst im Zeichen der .Ballade' nach englischem Muster, kann heute für geklärt gelten in der Weise, daß die .Romanzen' Gleims (und seiner Nachfolger) die .Balladen' Bürgers (und Goethes) nur vorbereitet haben. Den entscheidenden Anstoß hat nämlich Herder gegeben: im 2. Teil der ,Fragmente' (1767) und mit dem ,Auszug aus einem Briefwechsel über Ossian und die Lieder alter Völker' (1773). Erst seitdem gibt es neben der Volks- die Kunstballade — mit Bürgers t e nore' als Prototyp. Die von den Romantikern um 1800 herbeigeführte Erneuerung der Romanze spanischer Prägung gehört dann schon der neueren Balladen-Geschichte an. Die künftige Forschung wird insbesondere Laufhüttes .Grundlegung einer Gattungsgeschichte' zu überprüfen und fortzuführen haben. Lit: Volkslieder. Hg. v. Johann Gottfried Herder. 2 Bde. Leipzig 1778 f. - Deutschlands Balladenund Romanzen-Dichter. Hg. v. Ignaz Hub. Karlsruhe 1846. — Ludwig Erk, Franz M. Böhme (Hg.): Deutscher Liederhort. 3 Bde. Leipzig 1893 f. - Die deutsche Ballade. Hg. v. Hans Benzmann. 2 Bde. Leipzig 1913. - Balladen. Hg. v. John Meier. 2 Bde. Leipzig 1935 f. - Deutsche Volkslieder mit ihren Melodien. Hg. v. Deutschen Volksliedarchiv. Bde. 1 - 4 : Balladen. Berlin 1935-1959. - Neue deutsche Erzählgedichte. Hg. v. Heinz Piontek. Stuttgart 1964. - Deutsche Volkslieder. Hg. v. Lutz Röhrich und Rolf Wilhelm Brednich. Bd. 1: Erzählende Lieder. Düsseldorf 1965. - Das große deutsche Balladenbuch. Hg. v. Beate Pinkerneil. Königstein 1978. -

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Ballett

Deutsche Balladen. Hg. v. Hartmut Laufhütte. Stuttgart 1991. Rolf Brednich: Schwankballade. In: Hb. des Volksliedes 1 (1973), S. 1 5 7 - 2 0 3 . - Kurt Bräutigam (Hg.): Die deutsche Ballade. Frankfurt 1962. — Ludwig Chevalier: Zur Poetik der Ballade. In: Jahresberichte des Κ. K. Staats-Obergymnasiums in Prag-Neustadt 10 (1891), S. 3 - 6 1 ; 11 (1892), S. 3 - 5 6 ; 13 (1894), S. 3 - 3 9 ; 14 (1895), S. 3 - 2 6 . - Adalbert Eischenbroich: Anfänge einer Theorie der Ballade im Sturm und Drang. In: J b F D H 1982, S. 1 - 5 6 . - Winfried Freund: Die deutsche Ballade. Paderborn 1978. - Johann Wolfgang Goethe: Werke [Weimarer Ausgabe, WA]. Weimar 1 8 8 7 - 1 9 1 9 . - Gunter E. Grimm (Hg.): Gedichte und Interpretationen: Deutsche Balladen. Stuttgart 1988. - Friedrich Hassenstein: Die deutsche Ballade. Hannover 1986. - Walter Hinck: Die deutsche Ballade von Bürger bis Brecht. Göttingen 1968. - W. H. (Hg.): Geschichte im Gedicht. Frankfurt 1979. - Rupert Hirschenauer, Albrecht Weber: Wege zum Gedicht. Bd. 2: Interpretation von Balladen. München, Zürich 1963. - Wolfgang Kayser: Geschichte der deutschen Ballade. Berlin 1936. Gerhard Köpf: Die Ballade. Kronberg 1976. Hartmut Laufhütte: Die deutsche Kunstballade. Heidelberg 1979. - Walter Müller-Seidel (Hg.): Balladenforschung. Königstein 1980. - Börries von Münchhausen: Meister-Balladen. Stuttgart, Berlin 1923. - Elisabeth Pflüger-Bouillon: Probleme der Volksballadenforschung. Darmstadt 1975. — Karl Riha: Moritat, Song, Bänkelsang. Zur Geschichte der modernen Ballade. Göttingen 1965. - Rolf Schneider: Theorie der Ballade. Diss. Bonn 1950 (masch.). — Ulrike Trumpke: Balladendichtung um 1770. Stuttgart, Berlin 1975. - Gottfried Weißert: Ballade. Stuttgart 1980.

Christian

Wagenknecht

Ballett Kodifizierte Bewegungs- und DarstellungsForm des westlichen Theatertanzes. Expl: (1) Tänzerische Darstellung, die durch eine spezifische, akademisch kodifizierte Bewegungstechnik und eine entsprechende Ästhetik der Körper-Repräsentation von anderen Formen und Stilen des ? Tanzes und der /" Pantomime unterschieden ist: von sozialen und ethnischen Formen des

Tanzes, von Ausdruckstanz und modernem Tanztheater. (2) Bezeichnung für die in dieser Form dargebotenen Werke, sowohl für die Choreographie als auch für die musikalische Komposition. (3) Terminus für die Institution einer (professionellen) Kompanie (,Ballets Russes'). Häufig wird die Bezeichnung Ballett in einer wissenschaftlich unbrauchbaren Verallgemeinerung für sämtliche Erscheinungsformen des abendländischen Bühnentanzes verwendet; eine Nivellierung, die auch durch den Synkretismus der Tanzstile im 20. Jh. begünstigt scheint, die freilich eine Abgrenzung von historisch und ästhetisch unterschiedlichen Formen des modernen Tanzes (Modern Dance; Tanztheater) verhindert. WortG: Unter den Schlüsselwörtern für das Tanzen, wie sie bei den Kirchenvätern und im Mittelalter verwendet sind, erscheint ballare (lat. ballatio, von griech. ballein) neben saltare (,springen'; Saltarello: ,Springtanz') und choreare (lat. choreatio für Gruppentänze) als der generelle Terminus f ü r festlichen Tanz. Ballett (frz. und engl, ballet) geht zurück auf ital. balletto, das Diminutiv von ital. ballo (,Tanz'). Balletto bezeichnet auch die um 1600 entstandene musikalische Gattung eines strophischen, zweiteiligen, geradtaktigen Tanzliedes. BegrG: Die Balletttraktate des späten 16. Jhs. (Arbeau, Caroso, Negri) verbinden noch Bewegungs- und Choreographie-Anweisungen als höfische Etikette-Regeln mit den theatralen Darstellungskonventionen des ,Ballet de Cour', als dessen erstes vollgültiges Werk das ,Ballet Comique de la Reine' (1581) angesehen wird. Mit der G r ü n d u n g von Ballett-Akademien (Académie de Danse, 1661 in Paris; Kaiserliche Ballettschule, 1738 in St. Petersburg) verschiebt sich der Begriff; sie ist die Voraussetzung für die Professionalisierung und die Codifizierung des Balletts (Notation durch Feuillet). In der 2. Hälfte des 18. Jhs. wurde der in der Aufklärung und Empfindsamkeit geprägte Begriff des Natürlichen' mit den Reformideen des .Ballet en action' (Cahusac, Noverre) verknüpft. In den Schriften von Carlo Blasis erscheint das System des

Ballett Balletts in der im wesentlichen für das 19. Jh. gültigen Reglementierung (weitergeführt durch E. Cecchetti und A. Waganowa). — Der Begriff des .klassischen Balletts' — wiewohl im späten 19. Jh. entstanden — bezeichnet nicht eine Epoche, sondern umschreibt als normativer Terminus Werke im Stil der franko-russischen ,danse d'école'. Thoinot Arbeau: L'orchésographie. Langres 1588. — Carlo Blasis: The code of Terpsichore. London 1828. - Louis de Cahusac: La danse ancienne et moderne. Den Haag 1754. - Marco Fabritio Caroso: Il ballerino. Venedig 1581. M. F. C : Nobiltà di Dame. Venedig 1600. Raoul-Auger Feuillet: Chorégraphie, ou l'art de décrire la danse par caractères, figures ou signes démonstratifs. Paris 1700. - Cesare Negri: Le gratie d'amore. Mailand 1602. - Jean Georges Noverre: Lettres sur la danse, et sur les ballets. Stuttgart, Lyon 1760. - Agrippina J. Waganowa: Die Grundlagen des klassischen Tanzes. Wilhelmshaven 4 1977.

SachG: Nach Vorstadien im mittelalterlichen Volkstheater, in festlichen Aufzügen der Renaissance (allegorische Huldigungsspiele, ,Trionfi', ,Entrées solennelles'), im Maskenspiel (,Masque') und ? Intermedium sowie Vorstufen im italienischen und französischen Gesellschaftstanz (Tanz-Traktate von G. Ebreo und C. Negri) entwickelt sich das Ballett als szenische Form höfischer Repräsentation im ,Ballet de Cour', dessen Sujets meist der griechischen Mythologie entstammen. Im 17. Jh. dominiert das barocke ,Ballet à Entrées'. Die Verknüpfung mit dem Sprech- und mehr noch mit dem Musiktheater bildet eine fortgesetzte Linie in der Geschichte des Balletts, im ,Comédieballet' (Molière), in der ,Tragédie lyrique' des 17. Jhs. (Lully, Beauchamp) und im ,Opéra-ballet' des frühen 18. Jhs (Rameau), über die Oper im 19. (Meyerbeer, Wagner) bis ins 20. Jh. (Henze). Die Geschichte des Balletts als eigenständiger, von Oper und Theater abgegrenzter Bühnengattung nimmt in der 2. Hälfte des 18. Jhs. mit den Reformideen zu einem ,ballet en action' (F. Hilverding, J. Weaver, J. G. Noverre, G. Angiolini) eine Wende. Neu ist die Synthese von / Szenario, dramatischer Aktion und s Tanz, weitergeführt im ,coreo-

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dramma' (S. Vigano, G. Gioia) des beginnenden 19. Jhs. Für die Vermittlung der komplexen mythologischen und historischen Stoffe erhält das Szenario eine wichtige und auch im Hinblick auf die Autonomie des Tanzes umstrittene Funktion. Das zentrale Thema der Ästhetik und der Tanztechnik (,Spitzentanz') des romantischen Balletts' ist die ,Elevation'. Die Idee des Antigraven, entfaltet aus der Dialektik von Schwerelosigkeit und Erdenschwere, wird mitgeprägt durch die romantische Literatur und ihre (in Frankreich z. B. durch Heine und Gautier vermittelten) Stoffe (,La Sylphide',,Giselle'). Höhepunkte der Tradition des .klassischen Balletts' Ende des 19. Jhs., in dem es - anders als in den übrigen Kunstgattungen — keinen /" Realismus¡ gibt, sind die Werke des kaiserlichen russischen Balletts der Ära Petipa/Tschaikowski (,Nußknacker' ; ,Schwanensee'). Die gegen das normative System des Balletts gerichtete Entwicklung des ,freien Tanzes' und des .Ausdruckstanzes' zu Beginn des 20. Jhs. wirkte verändernd auf das Ballett zurück, in Abwandlungen und Öffnungen seines Zeichensystems - ein Charakteristikum des ,modernen Balletts', das neben anderen tanzästhetischen Darstellungsformen wie Modern Dance (M. Graham) und Tanztheater (R Bausch) weiterbesteht: Schon in S. Diaghilews ,Ballets Russes', sodann im ,Neoklassizismus' (G. Balanchine), im .Sinfonischen Ballett' (L. Massine, H. von Manen), in Werken der amerikanischen Avantgarde nach 1945 (M. Cunningham), im europäischen Theaterballett der Nachkriegszeit (J. Cranko, M. Béjart, J. Neumeier) und der Postmoderne (W. Forsythe) verbinden sich unterschiedliche, jeweils aktuelle choreographische Aufgabenstellungen mit dem ästhetischen und tanztechnischen Darstellungsspektrum des Balletts. ForschG: In einer ersten Phase, von der 2. Hälfte des 19. bis in die 30er Jahre des 20. Jhs., überwiegt die Erforschung der Geschichte des Balletts, häufig unter wertenden Gesichtspunkten und mit nationalistischen Argumentationen. Das Ballett ist dabei zumeist — und ohne systematische Dif-

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Bar

ferenzierungen - unter die allgemeine Geschichtsschreibung des ? Tanzes subsumiert. Es folgen in einer zweiten Phase monographische, kunst- und kulturhistorische und anthropologische Darstellungen. Eine im engeren Sinn wissenschaftliche Forschung, die quellenkritisch, problemorientiert und analytisch vorgeht in der Untersuchung der schwierigen Fragen der Uberlieferung, der Notation, des Werk-Begriffs und der Ästhetik, besteht seit etwa den 1960er Jahren. L i t : Janet Adshead-Lansdale (Hg.): Dance analysis. Theory and practice. London 1988. - Cyril W. Beaumont: A bibliography of dancing. London 1929. - Oskar Bie: D a s Ballett. Berlin 1904. - Gabriele Brandstetter: Elevation und Transparenz. In: Augenblick und Zeitpunkt. Hg. ν. Christian Thomsen und Hans Holländer. Darmstadt 1984, S. 4 7 5 - 4 9 2 . - Richard Buckle: Diaghilew. L o n d o n 1979. - Marie-Françoise Christout: Le ballet de cour de Louis XIV. 1 6 4 3 - 1 6 7 2 . Paris 1967. — Dictionary catalog of the dance collection. 10 Bde. N e w York 1974 ff. - Susan L. Foster: Reading dancing. Berkeley, Los Angeles 1986. - Ivor Guest: Le ballet de l'Opéra de Paris. Paris 1976. - Ann Hutchinson-Guest: Dance notation. London 1984. - Claudia Jeschke: Tanzschriften. Bad Reichenhall 1983. - Lincoln Kirstein: Movement and metaphor. Four centuries o f ballet. N e w York 1970. - Vera Krasovskaja: Russki baletny teatr natcala X X veka. 2 Bde. Leningrad 1971 f. - Rudolf zur Lippe: Naturbeherrschung am Menschen. 2 Bde. Frankfurt 2 1979. - Natalia Roslavleva: Era of the russian ballet. N e w York 1979. - Curt Sachs: Eine Weltgeschichte des Tanzes. Berlin 1933. - Walter Sorell: Der Tanz als Spiegel der Zeit. Wilhelmshaven 1985. - Francis Sparshott: Off the ground. First steps to a philosophical consideration o f the dance. Princeton 1988. - Marian Hannah Winter: The pre-romantic ballet. L o n d o n 1974.

Gabriele Brandstetter

Bar Das mehrstrophige Lied des Meistergesangs im 15.-17. Jh. Expl: Als Bar bezeichnet man im Anschluß an den Sprachgebrauch der Meistersinger des 15. —17. Jhs. das in ihren Kreisen übli-

che mehrstrophige Lied (/" Meistergesang). Das Bar (nicht der Bar!) besteht stets aus einer ungeraden Anzahl von Strophen (mindestens drei). Das metrisch-musikalische Strophenschema, das den einzelnen höchst unterschiedlichen Meistertönen zugrundeliegt (MEISTERSINGERSTROPHE), entspricht in seinem Bau der Kanzonenstrophe (Grundform AAB: zwei gleichgebaute STOLLEN (AUFGESANG und ein im Bau abweichender ABGESANG; / Kanzone). Die einzelnen Strophen eines Bars wurden ursprünglich liet, später Gesätz genannt. WortG: Die Herkunft des mhd. Wortes bari par ist unsicher. Es wird gewöhnlich als Kurzform von parat/barant aufgefaßt, mit dem seit dem 14. Jh. besonders anspruchsvolle, durch Form und Inhalt, später auch durch Umfang hervorstechende Lieder bezeichnet wurden. Parat war ein Terminus der Fechtersprache und ist vielleicht von dorther übernommen; das Wort geht möglicherweise auf frz. barai/barate (,Betrug, Kunststück') zurück. Eingebürgert hat sich das Wort Bar wohl erst im Laufe des 15. Jhs.; die beiden Schreiber der ,Kolmarer Liederhandschrift' verwenden es um 1460 ganz selbstverständlich in Liedüberschriften (z. B. Nr. 434 „Daz ander par..."). Seit dem 16. Jh. wird als Synonym für Bar das Wort Meisterlied oder einfach nur Lied verwendet; im 17. Jh. scheint Bar deswegen nicht mehr gängig gewesen zu sein. BegrG: Der in der Musikwissenschaft, gelegentlich auch in der Neugermanistik gebräuchliche Terminus Barform bezieht sich nicht auf das mehrstrophige Lied, sondern auf die einzelne Strophe und die Bauform ΑΑΒ bzw. ihre Varianten. Diese Begriffsbildung beruht auf einem Irrtum Richard Wagners, der in seinen ,Meistersingern' Hans Sachs das Wort Bar für die meistersingerliche Strophenform verwenden ließ (111,2, vgl. aber auch Kothners Tabulaturlesung in 1,3). Da es sich um eine Fehlprägung handelt, ist vom Gebrauch des Wortes Barform abzuraten; treffender wäre der allgemeinere Begriff ,Kanzonenform'. SachG: Die prinzipielle Mehrstrophigkeit hat sich in der Sangspruchtradition erst im

199

Barock Laufe des 14. Jhs. durchgesetzt. Bis dahin galt die Einzelstrophe (/* Sangspruch) als konzeptionelle Einheit, was freilich die freie Kombination solcher Strophen oder auch die Schaffung mehrstrophiger Gebilde nicht ausschloß. Bereits bei Heinrich von Mügeln (2. Hälfte des 14. Jhs.) herrscht die Mehrstrophigkeit, jedoch begegnen noch vereinzelt Texte mit 2, 6 oder 12 Strophen. Bei den Meisterlieddichtern und Meistersingern seit dem 15. Jh. gilt das Barprinzip ausnahmslos. Neben den neugeschaffenen (homogenen) Baren werden besonders im 15. Jh. nicht selten auch Einzelstrophen des 13./14. Jhs. weiterüberliefert, nun aber mit anderen Einzelstrophen zu Baren zusammengefaßt oder durch zugedichtete Strophen ergänzt (heterogene Bare). Die Meisterlieder des 16./17. Jhs. sind hingegen fast ausnahmslos Neudichtungen, jedoch häufig noch in Tönen der alten Meister. ForschG: Eine wissenschaftliche Bestimmung der Bedeutung des Wortes Bar wurde in Auseinandersetzung mit Morhof unter Rückgriff auf einschlägige Quellen erstmals von Wagenseil 1697 vorgenommen (499—502), freilich mit abenteuerlicher Etymologie. Diese ist bis heute nicht eindeutig geklärt. Wagenseils korrekte Begriffsdefinition ist gegen Richard Wagners Fehldeutung und ihre Folgen erst in der neueren germanistischen Forschung wieder zu ihrem Recht gekommen. Lit: Horst Brunner: Die alten Meister. Studien zu Überlieferung und Rezeption der mhd. Sangspruchdichter im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit. München 1975, S. 160 Anm. H. B.: Bar form. In: The New Grove dictionary of music and musicians 2 (1980), S. 156. - Kurt Gudewill: Barform, Bar. In: M G G 1, Sp. 1259-1267. - Ernst Martin: Die Meistersinger von Straßburg. Beilage zum Jahresbericht des Volksbildungswesens für Elsaß-Lothringen 1882. - Christoph Petzsch: Parat- (Barant-) Weise, Bar und Barform. In: Archiv für Musikwissenschaft 28 (1971), S. 3 3 - 4 3 . - Johannes Rettelbach: Variation-Derivation-Imitation. Untersuchungen zu den Tönen der Sangspruchdichter und Meistersinger. Tübingen 1993, S. 8 - 1 3 . Frieder Schanze: Meisterliche Liedkunst zwischen Heinrich von Mügeln und Hans Sachs. 2 Bde. München 1983-84 (bes. Bd. 1, S. 2 - 4 ) . - Johann

Christoph Wagenseil: Buch von der Meister-Singer Holdseligen Kunst [1697]. Hg. v. Horst Brunner. Göppingen 1975.

Frieder Schanze

Barde

Sänger

Barock Von der Kunstwissenschaft und Kulturgeschichte übernommene Bezeichnung für eine Epoche der Literaturgeschichte. Expl: Der Terminus Barock umfaßt in seiner chronologischen Bedeutung den größten Teil des 17. Jhs. Nach dem weitesten Verständnis beginnt die Barockepoche im letzten Drittel des 16. Jhs. Sie schließt dann Gegenreformation bzw. Konfessionalismus (auch: .Zeitalter der Glaubenskämpfe') und Späthumanismus ein und reicht bis ans Ende des 17. Jhs., wo sie sich mit der übernationalen Frühen Aufklärung bzw. der in Deutschland so genannten Phase des ,Galan ten Stils' (s Galante Literatur) überschneidet. Zwischen / Reformation und /" Aufklärung ist Barock die zweite der konventionellen Epochen, die in der Makroepoche ? Frühe Neuzeit aufgehen können. In stilgeschichtlicher Bedeutung meint Barock vor allem die Programmatik und Praxis einer reformierten deutschen ,Kunstdichtung'; unter diesem Aspekt setzt die Epoche erheblich später ein, etwa mit dem ,Buch von der deutschen Poeterey' von Martin Opitz (1624). In einer dritten, strategischen' Bedeutung gilt Barock gelegentlich als große Epoche der Vormoderne und dient dann zur Abgrenzung gegenüber dem 18. Jh., mit dem man sich im Verhältnis der ,Kontemporaneität' verbunden glaubt. WortG: Für die etymologische Herkunft von barock (das Substantiv Barock erst seit der Mitte des 19. Jhs.) sind zwei Quellen am wahrscheinlichsten: das portug. barroco zur Bezeichnung einer Perle von unregelmäßiger, ,schiefrunder' Form und das zufallig ähnlich klingende, im 13. Jh. entstandene mnemotechnische Abkürzungswort baroco,

200

Barock

mit dem eine bestimmte Schlußfigur der scholastischen Syllogistik gemeint war (Migliorini, Lüdtke, Jaumann 1976). Die neuzeitliche Abwertung der sogenannten Scholastik verstärkt den Nebensinn des Abstrusen' und läßt beide Quellen zusammenfließen. Fabulös sind dagegen Zurückführungen auf lat. verruca (,Warze'), auf Perücke (Bariicke 1680, vgl. Pazaurek) oder auf den Namen des italienischen Malers F. Baroccio (1535—1612). Frz. baroque, goût baroque, gehört zum allgemeinen Geschmacksvokabular, Diderots ,Encyclopédie' verzeichnet Synonyme wie bizarre, fantastique und capricieux. Deutsche Belege finden sich seit dem frühen 18. Jh. und gelegentlich im 19. Jh.; barock (barok, baroc; DWb 1, 1139 [1854] hat nur barockisch) wird annähernd synonym mit grotesk, bizarr, schwülstig, sonderbar gebraucht, jedoch, anders als in Frankreich (dazu Lüdtke, 353), nie als Modeausdruck. Seit den 20er Jahren des 19. Jhs. dient barock immer häufiger auch zur Bezeichnung von Gegenständen und Stilzügen der Kunst und Literatur, aber noch ohne terminologische Funktion. Prozeßdenken in der Kunsthistorie und die Entstehung einer festen historiographischen und analytischen Kategorie ,Stil' sind Voraussetzungen auch für Barock als Name für einen Epochenstil und davon abgeleitete Merkmale. Seit Burckhardt (1855), Gurlitt (1887/89) und Borinski (1893) ist Barock in der kulturgeschichtlich dominierten Kunstgeschichte sowie in der Literaturgeschichte fest etabliert. Als emphatisch positiver, auch modischer Epochenname wird Barock seit dem 1. Weltkrieg außerhalb der Kulturwissenschaften gebraucht (dazu Jaumann 1976, 1991). Karl Borinski: Geschichte der deutschen Literatur. Bd. 2. Stuttgart 1893. - Jacob Burckhardt: Cicerone. Basel 1855. - Cornelius Gurlitt: Geschichte des Barockstiles, des Rococo und des Klassicismus. 3 Bde. Stuttgart 1 8 8 7 - 1 8 8 9 . Herbert Jaumann: Die Entstehung der literarhistorischen Barockkategorie und die Frühphase der Barockumwertung. In: Archiv für Begriffsgeschichte 20 (1976), S. 1 7 - 4 1 . - H. J.: Der Barockbegriff in der nicht-wissenschaftlichen Literatur- und Kunstpublizistik um 1900. In: Europäische Barock-Rezeption. Hg. v. Klaus Garber. Wiesbaden 1991, S. 6 1 9 - 6 3 3 . - Helmut Lüdtke:

Zur Wort- und Begriffsgeschichte von frz. Baroque. In: Romanische Forschungen 77 (1965), S. 3 5 3 - 3 5 8 . - Bruno Migliorini: Etymologie und Geschichte des Terminus Barock [1962], In: Barner 1975, S. 4 0 2 - 4 1 9 . - Gustav Pazaurek: Der-die-das Barocke. In: Antiquitäten-Zeitung 34 (1926), H. 9, S. 82 f.

BegrG: Der Epochenbegriff meint bei Burckhardt (1855) Stilphänomene des M a lerischen' in der Spätphase der italienischen Renaissance: einen „verwilderten Dialekt" davon (Burckhardt). Zur Kennzeichnung der Spätphase einer „deutschen Renaissancedichtung" dient er anfangs auch der Literarhistorie (Borinski 1893), wo er die älteren Negativbezeichnungen Schwulst, Zweite Schlesische Schule und Gelehrtenpoesie allmählich ablöst. Noch Cysarz hält, wie die ältere Literaturgeschichtsschreibung, am Konzept einer ,Renaissancepoesie' fest, „Barockdichtung" ist „das noch erfolglose Ringen" um eine „deutsche Hochrenaissance", die erst in der Klassik erreicht werde (Cysarz 1924, 2). Entscheidend für die Ablösung des Barockbegriffs von .Renaissance' wurde Wölfflins Stiltypologie (1888, 1915), die auf eine Disjunktion hinauslief: Barock als Gegenrenaissance. Zur Benennung der Spätrenaissance in Kunst und Literatur diente nach 1945 für kurze Zeit f Manierismus, auch als Versuch der Abwehr eines geistesgeschichtlich .mißbrauchten' Barockbegriffs (Adorno 1967). Seither ist immer wieder versucht worden, die spezifische Notwendigkeit des Barockbegriffs plausibel zu machen, vor allem als Bezeichnung für rhetorische Phänomene der Steigerung, Häufung, Pointierung und kühnen Bildlichkeit (Conrady 1962: „insistierende Nennung"; Lange 1974). Man verwies auch auf seine besondere Eignung für kunstvergleichende Fragen (Barner 1971). In neuerer Zeit konkurriert ,Späthumanismus' mit ,Barock' (Trunz, Kühlmann); die Überzeugung von der Tauglichkeit des Barockbegriffs und seiner herkömmlichen Konnotationen zur angemessenen Benennung der Epoche nimmt weiter ab (vgl. Garber 1991). ,Barock' hat von Beginn an kein eigenes Deutungsmodell offeriert, anders als etwa Burckhardts Renaissance' (1860). Die deutsche Literatur des 17. Jhs.

Barock läßt sich vor allem in ihren Teilkonzepten (Späthumanismus, Konfessionalismus, Höfische Kultur) ohne den BarockbegrifF differenzierter bezeichnen. Theodor W. Adorno: Der mißbrauchte Barock. In: T . W . Α.: Ohne Leitbild. Frankfurt 1967, S. 1 3 3 - 1 5 7 . - Wilfried Barner: Stilbegriffe und ihre Grenzen. A m Beispiel Barock. In: DVjs 45 (1971), S. 3 0 2 - 3 2 5 . - W. B. (Hg.): Der literarische Barockbegriff. Darmstadt 1975. - Jacob Burckhardt: Die Cultur der Renaissance in Italien. Basel 1860. - Karl Otto Conrady: Lateinische Dichtungstradition und deutsche Lyrik des 17. Jhs. Bonn 1962. - Herbert Cysarz: Deutsche Barockdichtung. Leipzig 1924. - Klaus Garber: Europäisches Barock und deutsche Literatur des 17. Jhs. In: Europäische Barock-Rezeption. Hg. ν. K. G. Wiesbaden 1991, S. 3 - 4 4 . - Wilhelm Kühlmann: Gelehrtenrepublik und Fürstenstaat. Entwicklung und Kritik des deutschen Späthumanismus in der Literatur des Barockzeitalters. Tübingen 1982. - Hans-Joachim Lange: Aemulatio veterum sive de optimo genere dicendi. Die Entstehung des Barockstils im 16. Jh. durch eine Geschmacksverschiebung in Richtung der Stile manieristischen Typs. Bern u. a. 1974. - Erich Trunz: Die deutsche Literatur des Späthumanismus als Standeskultur. In: Zs. für Geschichte der Erziehung und des Unterrichts 21 (1931), S. 1 7 - 5 3 . - Heinrich Wölfflin: Renaissance und Barock. München 1888. - H. W.: Kunstgeschichtliche Grundbegriffe. München 1915.

SachG: Unter materialen Aspekten läßt sich für die Abgrenzbarkeit und annähernde Kohärenz einer Epoche der deutschen Barockliteratur wie folgt argumentieren: (1) Programm und praktische Entfaltung einer , Kunstdichtung' in deutscher Sprache, (2) weiterer Ausbau des literarischen Lebens mit neuen Zentren und Institutionen, (3) Zweisprachigkeit der nationalkulturell wie europäisch orientierten Gelehrtenkultur und (4) konfliktreiche Modernisierungsschübe zu Beginn und am Ende des 17. Jhs. (1) Die sogenannte Opitzsche Reform bildet nach diesem Epochenkonstrukt den Kernbereich der Barockliteratur. Schon für Gottsched ist Opitz der „Vater der deutschen Dichtkunst" (1759, dazu Garber 1984, 116). Aus dem evolutionären Schema ergeben sich eine Reihe weiterer ,Reformen' (bes. Lessing, dann Herder). Entscheidend ist die Forderung nach einer deutschsprachigen Poesie, die mit den bereits entwickel-

201

ten nationalsprachigen Renaissanceliteraturen in West- und Südeuropa ,gleichziehen' sollte. Opitz lehnt sich eng an J. C. Scaliger (.Poetices libri septem', 1561) an und schärft dessen Prinzipien einer rhetorisch fundierten Poetik ein: Mittellage im Verhältnis zwischen natura und ars, imitatio der antiken auctores classici, Dichtung als .verborgene Theologie', defensio poetices gegen topische Vorwürfe und gegen Rollen und Funktionen des Dichters im Dienst der Adels- und Konfessionspolitik. Nur gebundene Rede (oratio ligata) kommt als literarische Kunst in Betracht. Daß diese Poetik nicht ,neu* ist, hat ihre Wirkung nur gesteigert. Die Normierungen von Gattungswahl und Stil (elocutio) fußen auf der ,Dreistillehre' (S Genera dicendi). Die sehr knapp gehaltenen einzelnen Anweisungen werden in den Poetiken Gleichgesinnter ausgeführt und exemplifiziert (August Buchner u. a.). Erst das .politische' Konzept Christian Weises sowie die zunehmende Kritik an den Steigerungen in der .erhabenen' Stillage (,Schwulst') befördern eine Entfernung vom opitzianischen Klassizismus. Daß es zum Opitzianismus keine Alternativen gegeben zu haben scheint, ist ein Effekt der Barockforschung, die sich mit der Durchsetzungskraft dieses ,Kulturpatriotismus' identifizierte. Doch gab es - wenig erforschte — ältere und konkurrierende Konzeptionen, die sich auch mangels systembildender Reflexivität weder ausreichend artikuliert noch durchgesetzt haben. (2) Die Verheerungen des Dreißigjährigen Krieges haben die Entwicklung einer literarischen Kultur nicht völlig unterbunden; zu den Differenzierungen des literarischen Lebens im 17. Jh. gehören Schritte zu institutioneller Modernisierung (ζ. B. Gründung gelehrter Journale seit 1682, Ansätze zu einer die laufende Produktion begleitenden Literaturkritik). Die Zentren der literarischen Kultur verschieben sich gegenüber dem 15. und 16. Jh. eher in mittel-, nordund ostdeutsche Regionen (Ketelsen); in der nationalsprachigen Perspektive des Opitzianismus wird Schlesien zur wichtigsten Literaturlandschaft (SCHLESISCHE DLCHTERSCHULE; Opitz, Gryphius, Lohenstein, Hofmann von Hofmannswaldau). Auch die Ba-

202

Barock

rockmystik ist in Schlesien zu Hause (D. Czepko, J. Böhme, V. Weigel), und zahlreiche auswärtige Autoren unterhalten Beziehungen dorthin, besonders die Nürnberger (PEGNITZSCHÄFER; Birken, Harsdörffer) und C. R. von GreifFenberg. Neben die städtischen und kirchlich-konfessionellen Zentren treten einzelne Höfe und Universitäten. Die ? Sprachgesellschaften, darunter führend

die

FRUCHTBRINGENDE

GESELL-

SCHAFT, tragen die ,kulturpatriotischen' Impulse der Sprach- und Literaturreform weiter ( / Akademie). (3) Die literarische Kultur des 17. Jhs. ist zweisprachig: deutsch und neulateinisch. Blickt man auf die dominanten gelehrten Publikationsgenres und die Orte der Literaturverzeichnung, so überwiegt das lat. Schrifttum bei weitem. Poesie oder gar Prosawerke (oratio soluta) gelten noch immer als gelehrte Produkte der ,Nebenstunden'. In den gelehrten Disziplinen herrscht in Deutschland das Latein länger vor als in anderen europäischen Ländern. Ausnahmen sind die realistische' Pädagogik (Ratichius) und damit assoziierte Oppositionen gegen die klassischen Sprachen, einzelne Tendenzen der Frühaufklärung (E. Weigel, Ch. Thomasius u. a.) sowie Schriften der radikalreformatorischen ,Schwärmer' und Mystiker. Erst gegen Ende des 17. Jhs. kommt es zur Abwendung vom Gelehrtenlatein (z. B. explizit bei E. W. von Tschirnhaus). Die deutschsprachige Poesie findet Anschlüsse sowohl an die Nationalliteraturen der europäischen Renaissance als auch an deren neulateinische Literatur, durch imitatio wie durch Übersetzungen (am frühesten Regnart, Schein, Georg Rudolf Weckherlin). Älteren, auch der ungelehrten Volkssprache näheren Traditionen folgen hingegen Autoren wie die Jesuiten Conrad Vetter und Friedrich von Spee (,Trutznachtigall·, 1649). Auch Teile der Satire und der Epigrammatik, teils mit antihöfischer Kritik, zählen zur literarischen Praxis abseits des Opitzianismus, der ausschließlich auf die Kultur der Oberschichten setzt. Die neulateinische Literatur führt Traditionen des Renaissance- und Späthumanismus fort, nun aber in Themen, Gattungen

und Zwecken gespalten und fast immer differenzierbar durch Bezüge zu den Konfessionen, zwischen Irenismus und missionarischer Militanz. Der weitgehend konfessionalisierte Späthumanismus (Kühlmann) kennt keinen Neuansatz am Beginn des Jhs. Epoche macht eher die Dynamik, mit der die Offensiven der s Gegenreformation und der protestantischen Orthodoxien, die antiorthodoxe Opposition in den Konfessionen und die sich radikalisierenden und vermehrenden häretischen Bewegungen, u. a. des ,weltreformatorischen' Utopismus, aufeinandertreffen. Am stärksten beachtet wird die literarische Produktion der Jesuiten, vor allem das lat. s Jesuitendrama (Jakob Bidermann, Jakob Masen, Nikolaus Avancini in Wien), das dem deutschsprachigen protestantischen Schultheater der Gryphius, Lohenstein und Hallmann gegenübersteht. Die Poetiken (von Pontanus die ,Institutiones poeticae', 1594, von Masen die ,Palaestra eloquentiae ligatae', 1654) lehnen sich eng an die humanistischen Dichtungslehren an (Valentin 1985). Die lat. Erzählliteratur scheint schwächer vertreten, doch wie im Falle der Schulschriften und der Propaganda- und Erbauungsliteratur fehlt eine breite Erschließung. Verstärkte Aufmerksamkeit findet die Lyrik Jakob Baldes, einzelne Werke von Jeremias Drexel oder die aus Predigten entstandenen deutschen Bücher des Abraham a Sancta Clara. Die sehr adressatenbewußte Literatur der Jesuiten ist vor allem im Bereich der volkstümlichen Erbauungstraktate (Petrus Canisius, Drexel, Spee) zweisprachig (Valentin 1985, 179-182). (4) Schließlich verleiht das Auftreten zweier Modernisierungsschübe der Barockepoche eine zusätzliche Markierung: auf der einen Seite die heftigen Turbulenzen, die durch Konfessionalismus und neue Wissenschaften seit ca. 1600 ausgelöst wurden (Utopismus, Auflösung der biblizistischen Chronologie u. a.); auf der anderen Seite und speziell in Deutschland seit ca. den 1680er Jahren ein ,Durchbruch' zu neuzeitlichen funktionalen Systemdifferenzierungen: die Umstellung des Literatursystems auf das (Markt-)Prinzip der Sukzession und

Barock Überbietung und die periodisch organisierte Befassung damit (neue Literaturkritik, Journale; vgl. Jaumann 1995); weiter die Ausdifferenzierung vor allem der Systeme Wissenschaft (Philosophie), Politik und Recht gegenüber Theologie, am deutlichsten an den Kontroversen um Christian Thomasius abzulesen; schließlich in der Literatur eine Verstärkung von Autonomie zumindest gegenüber religiös-kirchlichen Ansprüchen. Man kann beide Phasen beschleunigter Modernisierung unter dem Begriff der Pluralisierung fassen, der die Frühe Neuzeit zentral kennzeichnet. ForschG: Im Anschluß an die Übertragung der Barockkategorie auf die deutsche Literatur des 17. Jhs. und deren gleichzeitige Neubewertung ist die Barockforschung geistes- und stilgeschichtlich orientiert. Seit dem 2. Weltkrieg konzentriert man sich zunehmend auf Fragen der Sozial- und Bildungsgeschichte. Das heißt in erster Linie Erforschung der f Rhetorik und, damit in engem Zusammenhang, der Gelehrtenkultur und ihrer Institutionen zwischen Humanismus und Aufklärung, in Deutschland mit einem besonderen Interesse am Späthumanismus (Barner 1970, Braungart 1988, Grimm, Jaumann 1985 u. 1995, Kühlmann, Sinemus). Daß Barockdichtung „gelehrte Ordnungsutopie", „ästhetische Vorausprojektion" des modernen Zentralstaats (Wiedemann 1972, 187 u. 181) gewesen sei, ist die vorläufig jüngste Deutungshypothese mit umfassendem Geltungsanspruch, erneut entschieden im Opitzianismus zentriert (eine Deutung auf der Grundlage eines Textcorpus, das anderen Normen folgt, käme zu anderen Aussagen). Das hier implizierte Forschungsprogramm ist bei weitem nicht ausgeschöpft. Die Hypothese stellt Barock in eine zukunftsgerichtete Perspektive der /" Frühen Neuzeit (,Ordnungsutopie' - .moderne Staats- und Beamtenmentalität'). Das Ordnungsdenken erschöpft sich dabei nicht in der höfischen Kultur des heraufkommenden Absolutismus. Zweifel könnte hingegen die extreme Geschlossenheit erregen: Gibt es nur eine Ordnung? Gibt es nicht ebensoviele Brüche, Auflösungen, ,Gegen-Ordnungen'? Es feh-

203

len Gegenkonzepte auf gleichem analytischen Niveau. Während für ,Sturm und Drang' oder ,Expressionismus' seit langem Konzeptionen der Vermittlung an Laien, d. h. topische Klischees und andere Abbreviaturen zu Lehrzwecken bereitliegen, ist die Befassung mit Barock zum größten Teil Barockforschung. Andererseits besitzt Barock noch immer den Reiz des Fremdartigen, das auf geheimnisvolle Weise mit der Aktualität in Verbindung steht. Jedenfalls finden die modischen Reize eines von der Geschichte abgelösten, frei verfügbaren Barockbegriffes Liebhaber seit nahezu hundert Jahren (vgl. Buci-Glucksmann). Dabei gehören nicht selten Anknüpfungen an Walter Benjamins .Ursprung des deutschen Trauerspiels' (1928) zu den unerfreulichen Begleiterscheinungen der Exegese und Wirkung dieses schwierigen, umstrittenen Buches (Garber 1987 und 1992, Steiner). L i t : Wilfried Barner: Barockrhetorik. Tübingen 1970. - Georg Braungart: Hofberedsamkeit. Tübingen 1988. — Christine Buci-Glucksmann: L a raison baroque. De Baudelaire à Benjamin. Paris 1984. - Gerhard Dünnhaupt: Personalbibliographien zu den Drucken des Barock. 6 Bde. Stuttgart 1 9 9 0 - 9 3 . - Klaus Garber: Martin Opitz. In: Deutsche Dichter des 17. Jhs. Hg. v. Harald Steinhagen und Benno von Wiese. Berlin 1984, S. 1 1 6 - 1 8 4 . - K. G.: Zentraleuropäischer Calvinismus und deutsche ,Barock'-Literatur. In: Die reformierte Konfessionalisierung in Deutschland. Hg. v. Heinz Schilling. Gütersloh 1986, S. 3 1 7 348. - K. G.: Rezeption und Rettung. Tübingen 1987. - K. G.: Barock und Moderne im Werk Benjamins. In: Rowohlt Literaturmagazin 29 (1992), S. 2 8 - 4 6 . - Gunter E. Grimm: Literatur und Gelehrtentum in Deutschland. Tübingen 1983. - Herbert Jaumann: Die deutsche Barockliteratur. Bonn 1975. - H. J.: Die Epoche in der Literaturgeschichtsschreibung. In: Steinhagen, S. 4 3 0 - 4 4 6 . - H. J.: Critica. Untersuchungen zur Geschichte der Literaturkritik zwischen Thomasius und Quintilian. Leiden 1995. - UweIC. Ketelsen: Literarische Zentren - Sprachgesellschaften. In: Steinhagen, S. 1 1 7 - 1 3 7 . - Sebastian Neumeister, Conrad Wiedemann (Hg.): Res Publica Litteraria. Die Institutionen der Gelehrsamkeit in der frühen Neuzeit. 2 Bde. Wiesbaden 1987. - Albrecht Schöne (Hg.): Stadt - Schule - Universität - Buchwesen und die deutsche Literatur im 17. Jh. München 1976. - Volker Sinemus: Poetik und Rhetorik im frühmodernen

204

Bedeutung

deutschen Staat. Göttingen 1978. — U w e Steiner: Allegorie und Allergie. In: Daphnis 18 (1989), S. 6 4 1 - 7 0 1 . - Harald Steinhagen (Hg.): Zwischen Gegenreformation und Frühaufklärung: Späthumanismus, Barock, Frühaufklärung. 1 5 7 2 - 1 7 4 0 . Reinbek 1985. - Marian Szyrocki: Die deutsche Literatur des Barock. Stuttgart 1979. - Jean-Marie Valentin: Le théâtre des Jésuites dans les pays de langue allemande ( 1 5 5 4 - 1 6 8 0 ) . 3 Teile. Bern 1978. - J.-M. V.: Jesuiten-Literatur als gegenreformatorische Propaganda. In: Steinhagen, S. 172—205. - Conrad Wiedemann: Barockdichtung in Deutschland. In: Renaissance und Barock. Bd. 2. Hg. v. August Buck. Frankfurt 1972, S. 1 7 7 - 2 0 1 . - C. W.: Barocksprache, Systemdenken, Staatsmentalität. In: Internationaler Arbeitskreis für deutsche Barockliteratur I. Wolfenbüttel 1973, S. 2 1 - 5 1 .

Herbert Jaumann

Basis /" Überbau Bauernliteratur

Heimatliteratur

Bedeutung Das durch Zeichen unterschiedlicher Art (Worte, Bilder, Gesten, Töne) Bezeichnete. Expl: Bedeutung steht einerseits für B e deutsamkeit' (die hier nicht weiter thematisiert wird), andererseits für ,das Bezeichnete'. Das Verb bedeuten meint den Verweis eines f Zeichens auf diese ,Bedeutung'. U m die Klärung des Bedeutungsbegriffs sowie die Ermittlung konkreter Bedeutungen in synchroner wie diachroner Perspektive bemüht sich seit etwa 1900 eine eigene wissenschaftliche Disziplin, die SEMANTIK, die mittlerweile innerhalb von Linguistik, Philosophie, Psychologie und Literaturwissenschaft als solche anerkannt ist. Aufgrund ihrer Resultate sind wir gegenwärtig in der Lage, verschiedene Aspekte von Bedeutung durch theoriesprachliche Termini wie Extension, Intension, Denotatum, signifié, Signifìcatum, ? Referenz oder lexikalischer Gehalt zu präzisieren. WortG: Das Wort Bedeutung als .Zeichenbedeutung' zeigt in seiner Geschichte seit

etwa 1500 (ζ. B. bei Zwingli, 167) bis in die Gegenwart eine beachtliche Polysemie, die nicht dadurch zu verstehen ist, daß unterschiedliche Verwendungen historisch aufeinander folgten. Bedeutung ist bis zu Beginn unseres Jhs. gleichzeitig ,Vorstellung' oder ,allgemein mentale Repräsentation', ,Bezugsgegenstand' und ,Gegenstandsbezug'. Erst G. Frege versucht dann, Bedeutung ausschließlich für den Bezugsgegenstand zu definieren und so vom Inhalt der Sätze, dem SINN, abzugrenzen. E. Husserl kennt als Zeitgenosse Freges die Mehrdeutigkeiten des Wortes Bedeutung, meint jedoch gleichzeitig, daß Sinn mit Blick auf den Alltagssprachgebrauch genauso mehrdeutig sei (Vgl. Husserl, 52 f.). Die Fregesche Unterscheidung von Sinn und Bedeutung ist in der angelsächsischen Philosophie ζ. B. mit sense/reference wiedergegeben worden. Diese Übersetzung ist unangemessen, weil reference nicht den bei Frege angelegten, erkenntnistheoretisch relevanten Aspekt der Bedeutsamkeit' ausdrückt. Gleiches gilt für den rückübersetzten Terminus Referenz im Deutschen. Zudem meint Referenz mehr den Gegenstandsbezug als den Bezugsgegenstand. Die Bipolarität von ,Bedeutung' als Bezeichnetes und Bedeutsamkeit gibt engl, significance am besten wieder. Die Übersetzung mit meaning ist ungenau, da meaning unsystematisch ebenfalls zur Übersetzung von Sinn verwendet wird. Im Französischen entspricht signification dem Bezeichneten, und signifiance der Bedeutsamkeit. Ein Begriff, der beide Aspekte gleichermaßen enthält, existiert nicht. Die Verwendung des Wortes Sinn, dessen sprachliche Wurzeln im ahd. Verb sinnan (,reisen, gehen, streben') liegen, beginnt als Sinn von Zeichen mit den frühen Formen der / Hermeneutik (bei Chladenius oder G . Fr. Meier) um 1740, hat einen Schwerpunkt im 19. Jh. (mit W. v. Humboldt, Schleiermacher und Dilthey) und begleitet die Hermeneutik bis in die Gegenwart. Es gibt dort mehrheitlich (jedoch nicht systematisch) eine umfangslogische Differenz zwischen der , Bedeutung' als dem, was Worten und anderen separaten Zeichen, und dem ,Sinn' als dem, was einer Rede oder Texten zukommt.

Bedeutung Das Wort Semantik wird durch M. Breáis Schrift,Essai de semantique. Science de signification' (1897) popularisiert und steht seither in theorieabhängiger Konkurrenz zu Bedeutungstheorie, Pragmatik, Semiotik und Semasiologie. BegrG: Die Unterscheidung von Bezeichnendem und Bezeichnetem finden wir bereits in den Anfängen unserer intellektuellen Kultur, z. B. in Aristoteles' ,De Interpretatione' (1,5). Demnach werden mit gesprochenen Worten geistige Erfahrungen in Gestalt von Bildern bezeichnet, die im Gegensatz zum Klang der Worte für alle gleich sind. Für die Philosophen der Stoa kann die Bedeutung des gesprochenen Wortes drei Aspekte haben: Bezeichnetes (Semainómenon, d.i. das, was Sprecher einer Sprache verstehen), intendierte Sache (Prágma) oder Sagbares bzw. Gesagtes (Lékton) (Vgl. Hülser, 23 f.). Generell betrachtet die antike Philosophie Bedeutung als mentale Größe. Diese Grundlage wird bis zum Ende des 19. Jhs. nicht in Frage gestellt. Die Rolle des Grundbegriffs in erkenntnistheoretischen Fragen, wie ihn ,Bedeutung' gegenwärtig spielt, haben bis dahin statt dessen z. B. .Begriff oder ,Idee' inne. ForschG: Die Geschichte der radikalen Problematisierung des Bedeutungsbegriffs beginnt um das Jahr 1900 in drei unterschiedlichen theoretischen Lagern: (1) in der auf Freges Überlegungen aufbauenden Analytischen Philosophie (S Analytische Literaturwissenschaft), (2) im von de Saussures Linguistik ausgehenden f Strukturalismus und (3) in der von Morris und Peirce begründeten Semiotik. Zu (1): Frege kritisiert den mentalistischen oder psychologistischen Bedeutungsbegriff als Vermischung von Subjektivem mit Objektivem. Er behauptet hingegen, .Gedanken' als der ,Sinn' von Sätzen seien nichts Subjektives, Privates, sondern objektiv, da öffentlich zugänglich. Sie seien von Vorstellungen logisch zu unterscheiden. Als Bedeutung eines Satzes definiert Frege den Wahrheitswert, der ihm zugeordnet wird. Die Bedeutung von Gegenstandsausdrücken ist der Gegenstand, für den das Zeichen verwendet wird, der Sinn das, worin nach

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Frege „die Art des Gegebenseins" des bedeuteten Gegenstandes „enthalten ist" (Frege 1980,41). Durch diese kognitive Verankerung geht der Sinn über den lexikalischen Gehalt eines Ausdrucks hinaus. In der Rezeption der Fregeschen Kategorien durch den Logischen Empirismus wird für idealsprachliche Analysen die Explikation des Sinns in einer Theorie der .Intension', die der Bedeutung in einer Theorie der .Extension' geleistet (Carnap). Für Analysen der natürlichen Sprache hat sich in diesem Kontext — insbesondere für die Linguistik — nach Wittgensteins Satz (4.024) aus seinem .Tractatus' die Auffassung etabliert, der Sinn eines Satzes (hier wird unsystematisch gelegentlich auch von der Bedeutung gesprochen) seien die Bedingungen, die erfüllt sein müssen, damit er als wahre Darstellung der Welt zählt (Wittgenstein 1963, Hempel). Dieser von den Fragen der formalen Logik her motivierten Analyse der natürlichen Sprache fehlt es nach einer späteren Ansicht Wittgensteins und anderer Vertreter der .ordinary language philosophy' an der Fundierung in der Sprachpraxis. Sinn oder Bedeutung sind demnach nicht etwas, das Zeichen an sich haben, sondern etwas, das sich erst durch den Gebrauch sprachlicher Zeichen herstellt (Wittgenstein 1971, 41 ff.). Aus diesen Gebrauchstheorien der Bedeutung, die aus linguistischer Sicht nur einen Teil sogenannter Kontexttheorien ( /" Kontext) bilden, hat sich mit Austin und Grice die Sprechakttheorie (/" Sprechakt) innerhalb der s Pragmatik entwickelt. Pragmatik ist seither Teilbereich der Semantik (und nicht wie noch bei Carnap entgegengesetzt). Zu (2): In der Tradition de Saussures wie auch des Prager Zirkels (z. B. Jakobson, Mukarovsky) wird das sprachliche Zeichen nicht über die Beziehung von Namen auf Gegenstände definiert, sondern über die von Lautbildern - dem Bezeichnenden (,signifiant') — auf psychische Vorstellungen - das Bezeichnete (.signifié'). Die von Frege kritisierte Vermischung objektiver mit subjektiven Aspekten des Bedeutungsbegriffs wird hier unterlaufen durch die begriffliche Differenzierung zwischen Bedeutung und Wert eines Zeichens. Bedeutungen

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Bedeutung

sind demnach zwar subjektive Vorstellungen, die Sprache funktioniert jedoch über den objektiven Wert eines Zeichens, das es durch die Beziehung zu anderen Zeichen in der Sprache besitzt. Zu (3): In der behavioristisch fundierten Zeichentheorie nach Morris sind sprachliche Zeichen lediglich eine Untergruppe allgemeiner Zeichen (ζ. B. ein Klingelzeichen, das einem Hund die Fütterung signalisiert). Diese Perspektive macht verständlich, warum Morris Bedeutung (significatum) als Menge aller Erfüllungseigenschaften auffaßt, auf die ein Orientierungsreiz hinweist. Kommen einem Gegenstand diese Eigenschaften zu, so ist er Bezug (denotatum) des Zeichens. Verbunden sind Zeichen und Significatum durch den ,Interpretanten', d. i. die Disposition des Handelnden, dem durch das Zeichen gegebenen Handlungsimpuls zu folgen. Die behavioristische Semantik ist speziell für sprachliche Zeichen weiterentwickelt worden von Quine (bes. Kap. 2). Insbesondere für die Linguistik erweist sich Chomskys Kritik an Skinner als Wegweiser zur Überwindung behavioristischer Modelle zugunsten eines mentalistischen Strukturalismus. Dieser liefert in vieler Hinsicht die Basis des Bedeutungsbegriffs, wie er gegenwärtig in der Kognitionswissenschaft eine Rolle spielt: Die Bedeutung von Wörtern ist demnach eine mentale Repräsentation, die als Netzwerk unterschiedlicher Begriffe, die über gemeinsame Attribute verknüpft sind, simulierbar ist (Anderson). Alle drei Strömungen haben spätestens seit den 60er Jahren Ansätze hervorgebracht, die im weitesten Sinne ,Bedeutung in der Literatur' explizieren sollen. Zu (1): Bei Hirsch und Betti etwa finden wir eine abweichende Belegung der bereits aus der analytischen Tradition bekannten Dichotomie: Hirsch spricht von dem Sinn im Gegensatz zur Bedeutung eines Textes, um die " Mimesis2. (2) Diegese (frz. diégèse) hat in der Filmtheorie, insbesondere seit der .Grande Syntagmatique' von Ch. Metz, und in der Erzähltheorie seit G. Genette dieselbe Bedeutung wie der textlinguistische Terminus Textwelt (s Fiktion): „l'univers spatio-temporel désigné par le récit" (Genette 1972, 280). Das zugehörige Adjektiv diegetisch (frz. diégétique), von dem Genette mit zahlreichen Präfixen (homo-, hetero-, auto- usw.) sein einheitliches terminologisches Inventar u. a. für die Klassifikation des ? Erzählers ableitet, bedeutet dementsprechend .zur erzählten Welt gehörig bzw. auf sie bezogen'. [Terminologisches Feld:] SHOWING: In der älteren angloamerikanischen Erzähltheorie (insbesondere seit Friedman) übliche, auf Henry James zurückgehende metaphorische Bezeichnung für eine Erzählweise, die das Erzählte sozusagen zeigt und sichtbar werden läßt, so daß beim Lesen die s Illusion der Unmittelbarkeit zum erzählten Geschehen entstehen kann. .Showing' ist keine Beschreibungskategorie, sondern Inbegriff der heterogenen erzähltechnischen Mittel, die als geeignet erscheinen, die Distanz zwischen Erzählen und Erzähltem zu vermindern und jene Illusion der Präsenz und Unmittelbarkeit zu befördern: neben Detailfülle und allgemeiner .Anschaulichkeit' z. B. das Unbemerkbarwerden der Vermittlungsinstanz .Erzähler', ein Erzählen vorzugsweise im

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Präsens und aus der ? Perspektive einer der Figuren, Annäherung oder Gleichheit von Erzählzeit und erzählter Zeit (/" Erzähltempo), ein großer Anteil direkter Rede bis hin zur Dialogisierung in der Art eines Dramas, außerdem Erlebte Rede und Innerer Monolog (S Figurenrede). TELLING: Gegenbegriff zu ,Showing', mit dem es ein polar-konträres Begriffspaar bildet; noch ungenauer nur zu umschreiben bzw. umschrieben als das .normale' Erzählen ohne die illusionsfördernden Mittel des Showing. WortG: Griech. διήγησις [di-hégesis], lat. narrado ,Erzählung' bezeichnet in der antiken Rhetorik die erzählende Mitteilung des Sachverhalts am Anfang der Rede oder auch die Schilderung von Begebenheiten zu Übungszwecken (Lausberg §§289, 1112). Das dt. Lehnwort Diegese .weitläufige Erzählung', nur im großen ,Duden' (21993 2, 718) und dort als veraltet verzeichnet (ebenso diegetisch ,erzählend'), ist von der Lexikographie des 18. bis 20. Jhs. bis hin zum DWb2 sonst nicht erfaßt, gehörte aber zum gelehrt-philologischen Vokabular und ist in der Bibelwissenschaft noch heute bekannt, ζ. B. in der Bezeichnung Diegesenhypothese für den u. a. auf F. Schleiermacher zurückgehenden Versuch, die Übereinstimmungen zwischen den ersten drei Evangelien auf vorkanonische Erzählungen zurückzuführen (vgl. TRE 10, 578-580). Die frz. Form diégèse (mit dem zugehörigen Adjektiv diégétique) ist 1950 von A. Souriau mit der etymologisch erratischen Bedeutung „le monde posé par une oeuvre d'art" ausgestattet (Souriau 1990, 581) und von E. Souriau verbreitet worden (Souriau 1951); das Wort (engl, diegesis, dt. Diegese) gehört seit dem Ende der 60er Jahre zum internationalen Vokabular der Filmtheorie; von diesem frz. und ausdrücklich nicht vom griech. Wort leitet Genette seine 1972 eingeführten erzähltheoretischen Termini intra-, extra-, metadiegetisch usw. her (Genette 1983, 13). Zu griech. μίμησις [mimesis] Nachahmung': Mimesis2, S Imitatio. Etienne Souriau: La structure de l'univers filmique et le vocabulaire de la filmologie. In: Re-

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Diegesis

vue internationale de filmologie 7 - 8 (1951), S. 231-240. - E. S.: Vocabulaire d'esthétique. Hg. v. Anne Souriau. Paris 1990.

BegrG/SachG: Geradezu im Gegensatz zu Platon setzt Aristoteles ,Mimesis' als Oberbegriff an, der (neben der Musik) alle poetischen Texte umfaßt: Dithyrambos, Tragödie, Komödie und Epos (,Poetik', 1447 a 1 3 - 1 6 ) . Die Unterschiede zwischen ihnen ergeben sich aus dem jeweiligen ,Worin und Was und Wie' (έν οϊς τε και α και ώς [en hois te kai ha kai hos]; 1448 a 25), also aus Mitteln, Gegenstand und Art und Weise der Nachahmung. Nur beim Wie der Nachahm u n g kommt Diegesis ins Spiel: ,Diegesis zu sein' (διήγησιν είναι [diégesin einai]; 1459 b 26), unterscheidet das Epos von der Tragödie, und dementsprechend kann das poetische Nachahmen auf zweierlei Weise geschehen, entweder als .erzählerische' bzw. ,epische Nachahmung' (διηγηματική [diegematiké] bzw. έ π ο π ο ι ι κ ή μίμησις [epopoiiké mimesis]; 1459 b 33,36; 1461 b 26) oder als .dramatische' bzw.,tragische Nachahmung' (δραματική [dramatiké] bzw. τραγ ι κ ή μίμησις [tragiké mimesis]; 1448 b 35; 1461 b 26). Die aristotelische Konzeption (,[referentielle] Mimesis' als Oberbegriff, .Diegesis' als untergeordneter Begriff) hat diejenige Piatons (.Diegesis' als Oberbegriff, ,[performative] Mimesis' als untergeordneter Begriff) in der Geschichte der Poetik unwirksam werden lassen. Erst N . Friedman (1955) hat Piatons Begriffspaar wieder in die aktuelle theoretische Diskussion eingebracht. In erzähltheoretischer Reformulierung erscheinen .Diegesis' und .Mimesis', herausgelöst aus ihrem gattungstheoretischen Zusammenhang und angewandt allein auf narrative Texte, als Vorläufer der modernen Konzeptualisierungen .typischer' oder .reiner' Erzählweisen, zwischen denen als Extremen oder Polen alle anderen als ,Übergänge' angeordnet werden; die polaren Möglichkeiten lassen sich allesamt auf die graduelle Polarität ,nicht-illusionistisches vs. illusionistisches Erzählen' zurückführen, mit Unterschieden nur in Bestimmung und Benennung: „eigentliche Erzählung" und „szenische Erzählung" (Ludwig, 202 f.), „panoramic" und „scenic presentation" (Lubbock, 67), „tel-

ling" und „showing" (Friedman, 1162), „berichtende Erzählung" und „szenische Darstellung" (Stanzel, 22) usw. Die jüngste und (vorläufig) letzte Variante dieser erzähltheoretischen Typologien dürfte diejenige von G. Genette sein, der in Auseinandersetzung mit Friedman aufgrund einer Piaton- und Aristotelesinterpretation .Mimesis' ganz im aristotelischen Konzept .Diegesis' aufgehen läßt („Mimèsis, c'est diégésis"; Genette 1966, 156) und zwei,reine' Modi der .diégésis' (des Erzählens) unterscheidet, einen .objektiven' und einen .subjektiven', die er im Anschluß an E. Benveniste als récit und discours benennt (Genette 1966, 159). Im .Discours du récit' (1972) hat Genette eine terminologische Umorientierung vollzogen: innerhalb der beiden Erzählmodi „récit d'événements" (.Erzählung von Ereignissen') und „récit de paroles" (.Wiedergabe von Figurenrede') gibt es jeweils die Opposition von „mimésis" (Maximum an Information bei einem Minimum an Informator, d. h. Erzähler) und „diégésis" (das Umgekehrte) (Genette 1972, 187). Daneben findet sich aber auch weiterhin der Terminus diégèse (durch die Schreibung abgesetzt von diégésis) als Bezeichnung für den ,Ort des Signifikats' („lieu du signifié"; Genette 1983, 13). Dieser Begriff ,Diegese' ist seit Souriau (vgl. WortG) insbesondere in der Explikation von Metz und Chateau in der Filmtheorie international verbreitet und auch in die Musikwissenschaft eingeführt worden (van der Lek). ForschG: In der begriffsgeschichtlichen Forschung hat sich der ,Sieg' der aristotelischen Konzeption über diejenige Piatons zumindest in der Weise wiederholt, daß .Diegesis' keine separate Aufmerksamkeit gefunden hat und auch in den Untersuchungen zum Mimesisbegriff (Koller, Zimbrich, Kardaun) nicht vorkommt. Die klarste Analyse des Verhältnisses von Diegesis und Mimesis bei Piaton findet sich in einer narratologischen Untersuchung der ,Ilias' (de Jong, 2—5). — Die Typisierung der Erzählweisen ist noch nicht Gegenstand historischer Forschung geworden. Lit: Dominique Chateau: Diégèse et énonciation. In: Communications 38 (1983), S. 121-154. -

Digression N o r m a n Friedman: Point of view in fiction. In: P M L A 70 (1955), S. 1 1 6 0 - 1 1 8 4 . - André Gaudreault: Mimesis, diegesis et cinéma. In: Recherches Sémiotiques/Semiotic Inquiry 5.1 (1985), S. 3 2 - 4 5 . - Gérard Genette: Frontières de récit. In: Communications 8 (1966), S. 1 5 2 - 1 6 3 . G. G.: Discours du récit. In: G. G.: Figures III. Paris 1972, S. 6 5 - 2 8 2 . - G. G.: Nouveau discours du récit. Paris 1983 [die beiden letzten Titel zusammen dt.: Die Erzählung. München 1994]. - Irene J. F. de Jong: Narrators and focalizers. Amsterdam 1987. - Maria Kardaun: Der Mimesisbegriff in der griechischen Antike. Amsterdam u. a. 1993. - Hermann Koller: Die Mimesis in der Antike. Bern 1954. - Robbert van der Lek: Diegetic music in opera and film. Amsterdam, Atlanta 1991. - Percy Lubbock: The craft of fiction. London 1921. - Otto Ludwig: Formen der Erzählung. In: O. L.: Gesammelte Schriften. Hg. v. Adolf Stern. Bd. 6. Leipzig 1891, S. 2 0 2 - 2 0 6 . - Arne Melberg: Theories o f mimesis. Cambridge 1995. - Christian Metz: Problèmes de dénotation dans le film de fiction. In: C. M.: Essais sur la signification au cinéma. Paris 1968, S. 111 - 1 4 5 . - Robert Stam u. a. (Hg.): New vocabularies in film semiotics. London, New York 1992. - Franz K. Stanzel: Die typischen Erzählsituationen im Roman. Stuttgart, Wien 1955. Ulrike Zimbrich: Mimesis bei Platon. Frankfurt u. a. 1984.

Klaus Weimar

Differenz ? Grammatologie Digital

Kommunikationstheorie

Digression Rhetorische Figur der Abschweifung vom direkten Gang der Rede oder Erzählung. Expl: Die Digression gehört zur Amplificado und ist durch die Distanz vom jeweiligen Thema definiert. Die sachliche oder sprachliche Abschweifung kann auftreten als Episode oder Binnenerzählung, als selbständige Redeform (z. B. als ? Exempel) oder als Anrede an die Zuhörer. Die Digression hat ihren festen Platz in der f Narrado, kann aber auch in anderen Teilen der Rede zur Auflockerung, Illustration, Verzie-

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rung und Affekterregung gebraucht werden. Sie soll nicht zu lang sein und zu häufig vorkommen, wird aber freizügig gehandhabt. Sachlich verwandt, im Gebrauch manchmal auch identisch ist der EXKURS (Lausberg §§ 340-342). WortG: Der Ausdruck Digression geht zurück auf lat. digressio ,Weggehen, Abschweifung'. Die gleiche Vorstellung vom Verlassen des Weges liegt dem Ausdruck Exkurs von lat. excursio ,Ausfall, Abschweifung' und dem Synonym Parekbase (von griech. παρέκβασις [parékbasis] .Übertretung, Abschweifung') zugrunde. Das gelehrte Lehnwort Digression (vgl. Campe) findet sich 1796 in Jean Pauls .Biographischen Belustigungen' (4, 347 u. 355) und 1797 in seinem ,Jubelsenior' (4, 412 f.; hier auch Exkurs: 4, 500). Üblich ist im 18. Jh. die dt. Entsprechung Ausschweifung (auch Ausschweif) bzw. (nach Adelung obdt.) Abschweifung (auch Abschweif). Johann Heinrich Campe: Wörterbuch zur Erklärung und Verdeutschung der unserer Sprache aufgedrungenen fremden Ausdrücke. Braunschweig 1801. - Jean Paul: Werke. Hg. v. Norbert Miller. München 3 1970 ff.

BegrG: Beim rhetorischen Konzept der Digression gibt es kaum Wandlungen. Es kanalisiert das spontane Reden und Erzählen nach einem klassizistischen Stilideal. SachG: Entsprechend der Theorie wird die Digression meist zurückhaltend gebraucht, wenn man etwa vom manieristischen Erzählen Fischarts absieht. Der Aufklärer Gottsched verurteilt die „unnützen Umschweife" (.Redekunst' 1, 158) wie die „Ausschweifungen, die den Sinn des Lesers zerstreuen" (Gottsched, 437). Die Trennung von Rhetorik und Poetik im 18. Jh. (vgl. Ueding/Steinbrink, 107 ff.) führt zu einschneidenden Änderungen der Digression im literarischen Gebrauch, vor allem in der im Kanon nicht vorgesehenen Gattung des Romans. Sterne macht in bewußtem Verstoß gegen das klassische Literaturideal statt der Geschichte des Autors seine Subjektivität und den Vorgang des Erzählens zum Thema (.Tristram Shandy' 1,22; 6,4). In Deutschland praktiziert und thematisiert

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Dilettant

unter den Autoren der Sterne-Nachfolge neben Wieland besonders Jean Paul die Digression als Domäne des humoristischen auktorialen Erzählers in selbständigen „Extrablättern", kommentierenden Fußnoten und metaphorischen „Ausschweifungen". Davon ausgehend entwickelt F. Schlegel das Konzept der witzigen Arabeske und Parekbase als das eines subjektiv-künstlichen Spiels mit Chaos und Ordnung. Damit wird für das moderne Erzählen die frühere prinzipielle Trennung von Ereignisbericht und erzählerischer Abschweifung hinfallig. Johann Christoph Gottsched: Ausführliche Redekunst. Hg. v. P. M. Mitchell. Berlin, New York 1975. - Laurence Sterne: The life and opinions of Tristram Shandy, Gentleman. London 1760.

ForschG: Seit etwa 1960 findet die Digression Aufmerksamkeit als Merkmal des modernen Erzählens (vgl. Michelsen, v. Poser, Bosse, Zymner). Lit: Heinrich Bosse: Theorie und Praxis bei Jean Paul. Bonn 1970. - Paul Klopsch: Einführung in die Dichtungslehren des Mittelalters. Darmstadt 1980. — Peter Michelsen: Laurence Sterne und der deutsche Roman des 18. Jhs. Göttingen 1962. - Karl Konrad Polheim: Die Arabeske. Paderborn 1966. - Michael von Poser: Der abschweifende Erzähler. Homburg u. a. 1969. — Gert Ueding, Bernd Steinbrink: Grundriß der Rhetorik. Stuttgart 1986. - Rüdiger Zymner: Manierismus. Paderborn 1995.

Hans Esselborn

Dilatatio ? Amplificatio Dilemma ? Antithese

Dilettant Sich liebhaberisch - oder auch: ohne das Metier zu beherrschen — einer Kunst oder Wissenschaft widmende Person. Expl: Der sachliche Kern des Begriffs ist ein sozialer: der ,Amateur' im Gegensatz zum Professionellen. Eine Produktion ist dilettantisch (laienhaft inkompetent) und ihr Urheber pejorativ Dilettant zu nennen, so-

fern sie gültige Standards unterbieten. In diesem Sinne spricht man (literatur-)kritisch von Dilettantismus. WortG: Das ital. dilettante (pl. dilettanti, von lat. delectare ,[sich] erfreuen') bezeichnet den .Liebhaber einer Kunst, die er nur zum Vergnügen betreibt'. Seit den 1750er Jahren findet das Wort Eingang in die deutsche Bildungssprache, wobei für eine gewisse Übergangszeit noch seine ital. Form überwiegt, wenn es auch schon seit 1774 deutsch flektiert wird (DWb 2 6, 1072). Zunächst Synonym für ,Liebhaber', erhält es rasch die pejorative Variante: ,schülerhafter Pfuscher' im Gegensatz zum ,wahren Liebhaber', zum ,Kenner' oder .Künstler'. Damit geht die Tendenz zur Bedeutungsverengung einher: ausübender' im Gegensatz zum bloß rezipierenden Laien. Die Bildungen Dilettantism (Schiller 1795; Übernahme aus dem Engl, oder Frz.) und Dilettantismus (Goethe/Schiller 1798/99) sind von kritischen Intentionen geprägt. Nachdem bereits Schopenhauer daran erinnern zu müssen glaubte, daß der Dilettant sich „con amore" betätige (1851), ist die Bedeutung .Kunstliebhaber' allgemeinsprachlich inzwischen veraltet. Ohne weitere Spezifikation gebraucht, bezeichnet Dilettant den ,sich in einem Fach betätigenden Nichtfachmann', Dilettantismus ,Stümperei'. Arthur Schopenhauer: Parerga und Paralipomena. Berlin 1851. Bd. 2, § 249. - Jürgen Stenzel: „Hochadeliche dilettantische Richtersprüche". Zur frühesten Verwendung des Wortes ,Dilettant' in Deutschland. In: Schiller-Jb. 18 (1974), S. 234 - 244. - H. Rudolf Vaget: Der Dilettant. Eine Skizze der Wort- und Bedeutungsgeschichte. In: Schiller-Jb. 14 (1970), S. 131-158.

BegrG: Der — auch praktisch — seine Sprach- und Literatur-, Kunst- und Musikkenntnisse kultivierende amateur entspricht einer Tradition, welche im Leitbild des universalistischen virtuoso in der italienischen Renaissance ihre profilierteste Ausprägung erfahren hat. Mit seinem Eintritt ins Deutsche steht der Begriff zunächst in dieser Tradition: Der Dilettant zeichnet sich durch „lebhaftes Gefühl für eine Kunst" aus (Krünitz 1793, 425); seine Position bestimmt sich im Rahmen eines hierarchisch abgestuften Kontinuums der Teilnehmerschaft an Kunst

Dilettant und Literatur. Ästhetische Urteilsfähigkeit unterscheidet „Künstler und [!] Dilettanten" von „kaltblütigen Philosophen" (AdB 64/2 [1787], 425), wenn auch in ProduktionsHinsicht der meisterhafte Künstler über dem Dilettanten rangiert, so wie der R e n ner' in Hinsicht auf die Rezeption (Deutsche Encyclopädie 1796, 681). Dieses Kontinuum wird aber sodann aufgebrochen; der Begriff .Dilettant' markiert die Bruchstelle und wird prinzipiell abgewertet; im Kontext der Denunziation adliger Kunst- und Literaturliebhaberei erhält er einen verächtlichen Sinn. Eine systematische Kritik des Dilettanten leitet Karl Philipp Moritz ein. An seine Konzeption (.Lieber die bildende Nachahmung des Schönen', 1788), die auf radikale Trennung von produktiver und rezeptiver Tätigkeit zielt, schließt Schiller an, wenn er den auf genießende B e t r a c h t u n g ' fixierten Dilettanten strikt dem ,Kunstgenie' entgegensetzt (,Lieber die nothwendigen Grenzen beim Gebrauch schöner Formen', 1795). Die Abgrenzungsbemühungen kulminieren in Goethes und Schillers ,Schemata' zu einer Programmschrift des deutschen Klassizismus (1798/99): „Der Dilettant verhält sich zur Kunst wie der Pfuscher zum Handwerk" (WA I 47, 322). Die Rede vom Dilettanten setzt Normen, Regeln oder Routinen voraus. Wenn die Begriffsverwendung keinen Halt an institutionalisierten Unterscheidungen wie ,Professionelle/Laien' findet, verliert sie — wie in der nachklassizistischen Ära zu beobachten — sehr an Prägnanz. Paradigmatisch hierfür kann Rudolf Kassners Reflexion stehen, die den Begriff in wechselnde Bezüge auf vage Opposita — „wahre Gegenwart", „große Erfahrung", „das Echte" - diffundieren läßt (1910). Deutsche Encyclopädie. Hg. v. Heinrich Martin Gottfried Köster und J. E. Roos. Bd. 19. Frankfurt 1796. - Johann Wolfgang von Goethe, Friedrich Schiller: [Über den Dilettantismus], In: J. W. G.: Werke [Weimarer Ausgabe, WA], Bd. I 47. Weimar 1896, S. 2 9 9 - 3 2 6 . - Rudolf Kassner: Dilettantismus. In: R. K.: Sämtliche Werke. Bd. 3. Pfullingen 1976, S. 7 - 4 7 . - Oeconomische Encyklopädie. Hg. v. Johann Georg Krünitz. Bd. 25. Brünn 1793.

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SachG: In den alteuropäischen Gesellschaften realisiert der liebhaberisch an Künsten und Wissenschaften anteilnehmende Dilettant ein für den Oberschichtenhabitus wichtiges Bildungsideal. Adlige Beteiligung an höfischer Dichtung oder den ? Literarischen Gesellschaften des 17. Jhs. sind entsprechende Erscheinungsformen. Der Übergang zur funktional differenzierten modernen Gesellschaft schwächt diese Tradition — eine Tendenz, die im stetig wachsenden „Dilettantismus [d]es Herrschers" (Max Weber 1980, 831) gegenüber seinen Fachberatern ihr sprechendes Indiz findet. Die sozialen Funktionssysteme handhaben Inklusion (Professionelle) und Exklusion (Laien, Publikum) nach selbsterzeugten Kriterien. So wird im Wissenschaftssystem „Amateurforschung" distanziert (Stichweh, 6 4 - 6 7 ) ; und so soll das Dilettantismus-Konzept im unter ästhetischen Vorzeichen sich ausdifferenzierenden Literatursystem des 18. Jhs. der Abgrenzung von Produzenten und Rezipienten dienen. (Der Bildungsroman hat im Dilettantismus und seiner Überwindung als Problem individueller Lebensgeschichten ein wichtiges Sujet). Die dilettantische literarische Produktivität zeigt sich jedoch unbeeindruckt sowohl von der Abwehr durch den Weimarer Klassizismus als auch von der romantischen Kritik des Dilettanten als ,Philister'. Seit dem Ende des 18. Jhs. und insbesondere in der Biedermeierzeit tritt an die Stelle der adligen eine bildungsbürgerliche Dilettanten-Kultur. Zudem wird diese Kultur nun durchaus von am Markt operierenden freien Schriftstellern bedient; und daraus resultiert eine Trivialliteratur, die zwar professionellen Ursprungs, doch unter Qualitätsgesichtspunkten als dilettantisch zu bezeichnen ist. Im Fin de siècle deutet sich die literarische Décadence selber im Zeichen des Dilettantismus. Dabei rückt einerseits die Figur des Dilettanten in die N ä h e des Dandy und wird positiv gewertet. Andererseits dient sie in der Folge der Selbstkritik: Im Anschluß an Paul Bourget und Friedrich Nietzsche begreifen H u g o von Hofmannsthal oder die Brüder Mann Dilettantismus als Disposition zu skeptisch-relativistischem ,Älles-

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Dinggedicht

Verstehen' und setzen ihn dem ,Leben' oder der Entscheidung' entgegen — was freilich heißt, f ü r die kritisierte Vagheit eine andere einzutauschen. Eine vergleichbare Problematik tut sich im Kontext der Poetik Carl Einsteins auf: Dem Dilettantismus konventioneller Formen tritt „Form als stets unfertiges Experimentierfeld" (Kleinschmidt, 381), als Arbeit an literarischen Verfahren gegenüber. Das ist eine für die Literatur der ? Moderne typische Konstellation: „Wir sind ja auch alle Dilettanten. Schreiben kann man ja k a u m lernen. Man kann auf nichts, auf keine feste Basis zurückgreifen" (Elfriede Jelinek). D a her verbietet sich ein .automatisierter' Einsatz der Dilettantismus-Kategorie. Dies hat Konsequenzen f ü r die Literaturwissenschaft. Zwar formiert sie sich im 19. Jh. als moderne Disziplin, indem sie sich anhand philologischer Standards mit Kriterien f ü r Professionalität ausstattet (s Wissenschaftsgeschichte). Diese erlauben begründete Zurückweisung von pfuscherhaftem „Dilettantenwerk für Dilettanten" (Karl Lachmann an Jacob Grimm, 25. 5.1823); sie machen zudem den mitunter wertvollen „Einfall [d]es Dilettanten" (Max Weber 1968, 590) methodisch kontrollierbar. Doch insofern das Fach auch einen Bezug kritischer /" Wertung auf seinen Gegenstand entfaltet, sofern gar vom Literaturwissenschaftler verlangt wird, „Liebhaber" seines Gegenstandes zu sein (Staiger, 159), hat man sich der Frage nach dem Begriff des Dilettantismus immer wieder neu zu stellen. Elfriede Jelinek: [Interview], In: Frankfurter Rundschau, 14. 3. 1992. - Emil Staiger: Grundbegriffe der Poetik. München 31975. - Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Tübingen 5 1980. - M. W.: Wissenschaft als Beruf. In: M. W.: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. Tübingen 31968, S. 582-613. ForschG: Erkundungen des Themas fanden bis in die 1960er Jahre weitgehend als Goethe· oder Bildungsromanforschung statt (ζ. B. Meyer). Seither hat sich im Gefolge rezeptions- und sozialgeschichtlicher Fragestellungen das Interesse verlagert. Es betrifft die Sozialgeschichte des Publikums sowie die Geschichte von Professionalisierungsprozessen, als deren ,Schatten' der Dilettant leicht

nachzuzeichnende Konturen aufweist. Des weiteren wird Dilettantismus im Zusammenhang mit Trivialliteratur diskutiert. Die Forschung neigt dazu, den Vorgaben epochenspezifischer Semantiken zu folgen (insbesondere: Weimarer Klassik, Fin de siècle). Diese Gewohnheit wird durch ? Gender studies nachhaltig irritiert; hat m a n es hier doch einerseits mit dem Problem dilettantischer Produktionen von Frauen zu tun, andererseits aber mit der Funktion des Dilettantismus-Labels (um 1800 etwa gilt weibliche Autorschaft per se als dilettantisch; vgl. Bürger, 19—31). Lit: Christa Bürger: Leben Schreiben. Die Klassik, die Romantik und der Ort der Frauen. Stuttgart 1990. - Susanne Fliegner: Der Dichter und die Dilettanten. Stuttgart 1991. - Wolfgang Frühwald: Der Philister als Dilettant. In: Aurora 36 (1976), S. 7-26. - Erich Kleinschmidt: Die dilettantische Welt und die Grenze der Sprache. In: Schiller-Jb. 33 (1989), S. 370-383. - Richard M. Meyer: Wilhelm Meisters Lehrjahre und der Kampf gegen den Dilettantismus. In: Euphorion 2 (1895), S. 529-538. - Erhard Schüttpelz: Die Akademie der Dilettanten. In: Akademie. Hg. v. Stefan Dillemuth. Köln 1995, S. 40-57. - Ulrich Schulz-Buschhaus: Der Tod des „Dilettanten". In: Aufstieg und Krise der Vernunft. Hg. v. Michael Rössner und Birgit Wagner. Wien u. a. 1984, S. 181-195. - Friedrich Sengle: Biedermeierzeit. Bd. 1. Stuttgart 1971, S. 98-104. Rudolf Stichweh: Zur Entstehung des modernen Systems wissenschaftlicher Disziplinen. Frankfurt 1984. - Hans Rudolf Vaget: Dilettantismus und Meisterschaft. München 1971. - Ulrich Wergin: Symbolbildung als Konstitution von Erfahrung. Die Debatte über den nichtprofessionellen Schriftsteller in der Literatur der Goethe-Zeit und ihre poetologische Bedeutung. In: Polyperspektivik in der literarischen Moderne. Fs. Karl Robert Mandelkow. Hg. v. Jörg Schönert und Harro Segeberg. Frankfurt u.a. 1988, S. 194— 238. Georg

Dingallegorese

Stanitzek

Allegorese

Dinggedicht Ein Gedicht, das intensiv wahrgenommene Gegenstände der äußeren Wirklichkeit wiedergibt.

Dinggedicht Expl: In der frühen Moderne entstandener, objektbezogener Typus des Gedichts, das einen Gegenstand unter Reduktion des Ichbezugs der lyrischen Aussage und Verzicht auf explizite subjektive Deutung in seiner Dinglichkeit darstellt. Sujets sind leblose und lebendige Objekte, Kunstgegenstände oder auch Situationen und Vorgänge wie eine Karussellfahrt, ein Stierkampf oder eine Turmbesteigung. Im Gedicht wird das wahrgenommene Ding zum ästhetischen Gegenstand, zu dem, was Rilke als „KunstDing" bezeichnet (Rilke 5, 217). Das Dinggedicht ist, wenn es sich auch mimetischer oder ikonischer Darstellungstechniken bedient, nicht als eine rein objektive, selbstgenügsame Darstellung der gegenständlichen Welt im Sinn eines genauen Kopierens oder einer /" Widerspiegelung zu verstehen. Besondere Wahrnehmungsleistungen drücken sich in sprachlichen Intensivierungen aus, woraus sich der die Referentialität transzendierende poetische Charakter der Sprache des Dinggedichtes ergibt. Auch in der Begegnung mit den Dingen gemachte innere Erfahrungen gehen in das Gedicht ein. Das Dinggedicht steht in der Spannung zwischen Objekt- und Subjektbezug, zwischen Gegenstandstreue und imaginativer Sicht, zwischen realistischer und symbolischer Darstellung. Es kann sich mehr dem einen oder dem anderen Pol annähern. Der Objektbezug ist allerdings gattungskonstitutiv. WortG: Das Wort ist ein Kompositum, dessen Determinans den Gedichttypus inhaltlich definiert. Die Bezeichnung stammt von Kurt Oppert (1926). Andere Benennungen wie Kunstgedicht (Heselhaus) haben sich nicht durchgesetzt. Eine engl. Entsprechung des ursprünglich nur im dt. Sprachraum geläufigen Wortes — object-poem — wurde 1985 gefunden (Sandbank). BegrG: Der Begriff des Dinggedichtes ist von Anfang an in doppelter Hinsicht bestimmt. Zum einen ist das Sujet des Gedichts ein Ding, und zum anderen wird dem Gedicht selber Dinghaftigkeit als eine ästhetische Qualität zugeschrieben. So definiert Rilke das Gedicht als ein „KunstDing", eine „Insel, überall abgelöst vom Kontinent des Ungewissen" (Rilke 5, 217);

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und William Carlos Williams als „a new thing, unlike anything else in nature, a thing advanced and apart from it" (Williams, 241). Das so verstandene Ding, das ein ästhetisches Äquivalent eines Gegenstandes darstellt, steht dichtungsgeschichtlich in einem Zusammenhang mit Ezra Pounds Begriff des ,image' und mit T. S. Eliots ,objective correlative'. Oppert stellt mit dem Begriff des Dinggedichts der Stimmungslyrik der Goethezeit und der Romantik einen anderen, „auf unpersönliche, episch-objektive Beschreibung eines Seienden" ausgerichteten Gedichttypus gegenüber (Oppert, 747 f.). Den konstitutiven Objektbezug betont auch Sandbank. SachG: Als Schöpfer des Dinggedichts gilt vor allem Rainer Maria Rilke. Für die bei Rilke stattfindende Abwendung von der epigonal-romantischen Stimmungs- und Erlebnislyrik seiner Frühphase und die Hinwendung zu den Dingen der realen Welt in seiner mittleren Schaffensperiode gibt es allerdings schon ca. 60 Jahre früher in Frankreich eine Entsprechung. In einer Reaktion auf die romantische Stimmungslyrik im Stil von Lamartine und Musset schufen die Dichter des ,Parnasse' (Théodore de Banville, Théophile Gautier, Leconte de Lisle, José-Maria Heredia u. a.) objektorientierte, deskriptive Lyrik, ,poésie objective' (de Lisle), wobei sie — wie später Rilke — vielfach künstlerisch vorgeformte Gegenstände darstellten (z. B. Gautier,,Emaux et Camées', 1852, erweiterte Ausgaben bis 1884). Ein Objekt, das von den parnassiens' immer wieder behandelt wurde, ist die Vase (ζ. B. de Heredia, ,Le vase', in: ,Les Trophées'). Vorläufer des Dinggedichtes in der engl, und dt. Dichtung des 19. Jhs. sind John Keats, ,Ode on a Grecian Urn', Gerard Manley Hopkins, ,The Windhover'; Eduard Mörike, ,Auf eine Lampe' und C. F. Meyer, ,Der römische Brunnen'. Das Dinggedicht der Moderne steht in einem dichtungsgeschichtlichen Zusammenhang mit dem f Symbolismus, welcher seinerseits von den ,parnassiens' beeinflußt ist. Das Bild tendiert im Symbolismus dazu, sich zu verselbständigen und zum Ding zu werden (Wellek, 113). Die s Metapher wird

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Dirigierrolle

im symbolistischen Gedicht auf den uneigentlichen Teil reduziert, und der unmittelbare Ichbezug des lyrischen Sprechens wird eingeschränkt. Grundlage des Gedichts wird eine ,halbierte Metapher' (Weinberg, 34), d. h. eine Metapher, deren .eigentlicher' Bestandteil {proprium; /" Uneigentlich) weggelassen ist (Müller 1974, 170), oder eine ,absolute Metapher' (Friedrich, 55 f.), wie sie etwa in Arthur Rimbauds ,Le bateau ivre' vorliegt. Den entscheidenden Schritt vom Symbol zum poetischen Ding vollzieht Rilke in den ,Neuen Gedichten' (1907/08), die intensiv auf die Dinge der äußeren Welt ausgerichtet sind und — wenn sie auch innere Erfahrungen aussprechen — keine von den Dingen ablösbare symbolische Bedeutung zulassen (Beispiele: ,Der Panther', ,Römische Fontäne', ,Das Karussell'). Eine anglo-amerikanische Parallele zu Rilkes Dinglyrik findet sich in der Bewegung des Imagismus (imagism). Ezra Pound sagt: „the natural object is always the adacquate symbol" (Pound, 5), und W. C. Williams: „[for the poet there are] no ideas but in things" (Williams, 390). Nachdem sich das Dinggedicht auf dem Weg von der Spätromantik zur Moderne herausgebildet hatte, existiert es in vielfaltigen Abwandlungen als Gedichttypus weiter, etwa bei Francis Ponge in Frankreich (,Objets. Discours sur l'individualité de l'objet', 1966), in Großbritannien bei Andrew Young (,Collected Poems', 1936) und Ted Hughes (,The Hawk in the Rain', 1957,,Lupercali 1960) und in Einzelgedichten in der deutschsprachigen Lyrik (z. B. bei Gottfried Benn, Georg Britting, Peter Hüchel und Karl Krolow). ForschG: Die Forschung zum Dinggedicht beschränkte sich lange Zeit auf die dt. Lyrik, insbesondere auf Rilkes ,Neue Gedichte'. Während zunächst der Objektbezug, die Referentialität des Dinggedichts absolut gesetzt wurde (Oppert), hat m a n später auch im Dinggedicht eine symbolische Komponente gesehen und vom „symbolistischen Dinggedicht" (Henel), vom „Ding-Symbol" (Seifert) und vom Zusammenfall von Dinggedicht und Sinngedicht (Meyer) gesprochen. Neuerdings wird der

Objektbezug als Hauptmerkmal des Dinggedichts wieder hervorgehoben (Sandbank), aber auch der subjektiven Komponente wird ihr Recht eingeräumt (Müller 1995). Das Dinggedicht wird zunehmend als eine internationale Erscheinung erkannt (Sandbank) und in den Rahmen der europäischen Lyrikgeschichte gestellt (Müller 1974). Eine umfassende historisch-komparatistische Untersuchung fehlt noch. Lit: Hugo Friedrich: Die Struktur der modernen Lyrik. Hamburg 1962. - Heinrich Henel: Erlebnisdichtung und Symbolismus. In: DVjs 32 (1958), S. 79-98. - Pierre Martino: Parnasse et symbolisme: 1850-1900. Paris 1925. - Wolfgang G. Müller: Der Weg vom Symbolismus zum deutschen und anglo-amerikanischen Dinggedicht des beginnenden 20. Jhs. In: Neophilologus 58 (1974), S. 157-179. - W. G. M.: Das Problem der Subjektivität und die Dichtung der Dinge und Orte. In: Literaturwissenschaftliche Theorien, Modelle und Methoden. Hg. v. Ansgar Nünning. Trier 1995, S. 93-105. - Kurt Oppert: Das Dinggedicht. In: DVjs 4 (1926), S. 747-783. Ezra Pound: Literary essays. Hg. ν. T. S. Eliot. New York 1954. - Jürgen Peper: Das imaginistische „Ein-Bild-Gedicht". In: GRM NF 22 (1972), S. 400-418. - Rainer Maria Rilke: Sämtliche Werke. 6 Bde. Wiesbaden 1955-1966. Shimon Sandbank: The object-poem. In: Poetics Today 6 (1985), S. 461-473. - Walter Seifert: Das epische Werk Rainer Maria Rilkes. Bonn 1961. - Bernard Weinberg: The limits of symbolism. Chicago 1966. - René Wellek: Discriminations. New Haven, London 1970. - William Carlos Williams: The autobiography. New York 1949

Wolfgang G. Müller

Diplomatischer Abdruck Direkte Rede

Edition

Figurenrede

Dirigierrolle Sonderform eines mittelalterlichen Regiebuchs. Expl: Im Unterschied zu einem vollständigen Aufführungsmanuskript ein zum Gebrauch des Spielleiters bei Proben und Auf-

Diskurs führungen angefertigter Spielbuchauszug in Rollen- oder Heftform, der alle Bühnenanweisungen (mitunter noch minutiöser als im vollständigen Spieltext) enthält, von den Sprech- und Gesangstexten dagegen nur die jeweiligen Anfangsverse (Schlagverse) verzeichnet. Die handschriftlichen Einrichtungsmodalitäten wechseln (Rubrizierung, Schriftgrad, graphische Anordnung), sorgen aber stets für ein funktionsgerechtes Höchstmaß an Übersichtlichkeit. WortG/BegrG: Der Terminus, eine sprachliche Neubildung aus den Lehnwörtern dirigieren (aus lat. dirigere ,ein Ensemble leiten') und Rolle (im Sinne von Rotulus), verdankt seine Entstehung der wissenschaftlichen Diskussion nach Auffindung und Erstausgabe der .Frankfurter Dirigierrolle' (1815), einer Pergamentrolle von 4,36 m Länge mit Holzstäben zum Aufrollen an beiden Enden; er ist bei gleicher Funktionsbestimmung von der Forschung später auch auf (Papier-)Handschriften im gewöhnlichen Oktavformat oder im Format der hochrechteckigen schmalen Güterverzeichnisse (Heberegister) übertragen worden. SachG: Da der fragmentarisch erhaltene Rotulus des ,Osterspiels von Muri' (Mitte des 13. Jhs.) angesichts seiner atypischen Merkmale als mutmaßliches Soufflierbuch keine Dirigierrolle im üblichen Sinne repräsentiert, darf das der 1. Hälfte des 14. Jhs. entstammende Frankfurter Exemplar als ältester und zugleich dramen- wie theatergeschichtlich bedeutsamster Beleg gelten. Er erlaubt nicht nur eine relativ zuverlässige Rekonstruktion des Inszenierungshergangs, sondern auf Grund zahlreicher Konkordanzbeziehungen auch eine vorsichtige Wiederherstellung des ursprünglichen Textbestandes (erweitertes Passionsspiel mit einer lat. Osterfeier als Kern und einem Prophetenspiel als Vorspann). Erhalten sind neben der Frankfurter nur noch die (heute verschollene) ,Friedberger Dirigierrolle' eines Fronleichnamspiels (15. Jh.) sowie die zwischen 1506 und 1511 niedergeschriebene ,Alsfelder Dirigierrolle' zu einer Aufführung des im Volltext bewahrten ,Alsfelder Passionsspiels', die beide in die hessische Spieltradition gehören, und, räumlich abseits

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stehend, die ,Göttweiger Dirigierrolle' eines Osterspiels (15. Jh.) sowie das bislang einzige Zeugnis aus dem weltlichen Spielbereich, die unter den Bezeichnungen ,Sterzinger Szenar' oder ,Tiroler Neidhart-Szenar' bekanntgewordene Dirigierrolle (um 1500) zum ,Tiroler (Mittleren) Neidhartspiel'. ForschG: Die lange Zeit vorrangig auf die f r a n k f u r t e r Dirigierrolle' konzentrierte Forschung ist seit den späten 1970er Jahren vor allem durch Bergmann, Linke und ihre Schüler in ein neues Stadium getreten, das von der Komplettierung der editorischen Erschließungsarbeit bis zur systematischen Analyse der jeweiligen Zusammenhänge zwischen Text, Textträger und Gebrauchssituation reicht. Lit: Rolf Bergmann: Aufführungstext und Lesetext. Zur Funktion der Überlieferung des mittelalterlichen geistlichen deutschen Dramas. In: The theatre in the Middle Ages. Hg. v. Herman Braet u . a . Leuven 1985, S. 3 1 4 - 3 5 1 . - Hansjürgen Linke: Versuch über deutsche Handschriften mittelalterlicher Spiele. In: Deutsche Handschriften 1100-1400. Hg. v. Volker Honemann und Nigel F. Palmer. Tübingen 1988, S. 5 2 7 - 5 8 9 . - Bernd Neumann: Geistliches Schauspiel im Zeugnis der Zeit. Zur Aufführung mittelalterlicher religiöser Dramen im deutschen Sprachgebiet. Bd. 1. München 1987, S. 40 f. - Christoph Treutwein: Das Alsfelder Passionsspiel. Heidelberg 1987, S. 2 7 - 5 8 , 2 7 6 - 3 6 5 .

Helmut Lomnitzer

Discours / Plot

Diskurs Abfolge von Rede- oder Schrifteinheiten. Expl: Alle Definitionen von Diskurs stellen die Abfolge des Redens, der Rede oder der schriftlichen Äußerung in den Mittelpunkt. Wie man ,νοη der einen Sache zur anderen kommt', ist daher die am weitesten gefaßte Bestimmung von Diskurs. Die Art der Sukzession, die die .Ordnung der Dinge' in einem Diskurs charakterisieren soll, wird aber an ganz unterschiedlichen Konzepten ausgerichtet.

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Diskurs

(1) In der Linguistik meint Diskurs transphrastische, d. h. die Satzgrenze überschreitende Einheiten von Rede oder Schrift (heute weitgehend synonym mit Konversation oder Rede). Der gegenwärtige Sprachgebrauch inflationiert diese linguistische Verwendungsweise durch die Kombination von Diskurs mit Adjektivattributen, die sich auf beliebige Segmente von Welt beziehen (ζ. B. juristischer, feministischer, literarischer Diskurs', in diesem Sinne vergleichbar mit dem Wittgensteinschen Begriff des ? Sprachspiels). (2) Im Kontext philosophischer Geltungsreflexionen (Apel, Habermas) wird Diskurs gebraucht als Name einer der beiden „Formen der Kommunikation", in der - im Gegensatz zur anderen, dem „kommunikativen Handeln" — keine (handlungsbezogenen) Informationen ausgetauscht, sondern „problematisierte Geltungsansprüche zum Thema gemacht werden" (Habermas, 115) mit dem Ziel einer Wiederherstellung von Einverständnis durch vernunftgeleitetes, ,herrschaftsfreies' Reden. (3) In poststrukturalistischen Ansätzen (ζ. B. Foucault) bezeichnet Diskurs ein apersonales, transindividuelles .régime', das gesellschaftliche Wissenssysteme herstellt, in spezifischen ,Formationen' (z. B. Psychoanalyse, Medizin, Sprachwissenschaft) ordnet und aufrecht erhält. INTERDISKURSIVITÄT (/" Intertextualität) ist die Gesamtheit der „Elemente, Relationen, Verfahren, die gleichzeitig mehrere Spezialdiskurse charakterisieren" (Spezialdiskurs meint „jede historisch-spezifische ,diskursive Formation' im Sinne Foucaults") (Link/Link-Heer, 92). INTERDISKURS ist ein gesondert institutionalisierter Spezialdiskurs mit der Funktion einer Reintegration oder Totalisierung „des in den Spezialdiskursen sektoriell zerstreuten Wissens" (Link/Link-Heer, 93), z. B. Journalismus, Populärwissenschaft oder auch die moderne Literatur. Jürgen Habermas: Vorbereitende Bemerkungen zur Theorie der kommunikativen Kompetenz. In: J. H., Niklas Luhmann: Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie. Frankfurt 1971, S. 101-141.

WortG: Diskurs (bis ins 19. Jh. Diseurs oder Discours geschrieben) ist ein seit 1517 belegtes Lehnwort aus lat. discursus (von lat. currere ,laufen') ,Hin- und Herlaufen, Auseinandergehen' mit der uneigentlichen Bedeutung ,(redend) Sich-Ergehen' (DWb 2 6, 1139 f.) oder auch aus frz. discours (entretien de choses diverses', conversation', a c tion de courir ça et là', aber auch als ,écrit didactique traitant d'un sujet précis'); literaturwissenschaftlich gebräuchlich seit dem Beginn der Foucault-Rezeption gegen Ende der 1970er Jahre ( / Diskurstheorie). Trésor de la langue française. Bd. 7. Paris 1979, S. 265 f.

BegrG/SachG: Der Begriff ,Diskurs' (Discours, Diseurs) wird erst dann reflektiert, wenn Diskurs nicht mehr nur ganz allgemein ,Abfolge des Redens' meint, sondern sich über Differenzen spezifiziert. Drei Unterscheidungen lassen sich aus heutiger Perspektive als mit ,Diskurs' verbunden beobachten: die Unterscheidung zwischen ,mündlich' und .schriftlich', zwischen ,Länge' und ,Kürze' und zwischen .geordneter' und .ungeordneter' Abfolge. Je nach Verwendungsweise kann entweder die eine oder die andere Seite zum Definiens erklärt werden. Erstens wird Diskurs seit dem 16. Jh. im Sinne von .Abhandlung' benutzt (seit dem Ende des 17. Jhs. oft auch als Buchtitel: .Discours von ...'). Ein Diskurs in diesem Sinne bezieht sich auf ein Thema oder einen Themenkomplex und entwickelt dieses Thema nach als logisch akzeptierten, argumentativen Gesichtspunkten. Dieser Anspruch trifft zusammen mit der Entgegensetzung von intuitiver (d. h. den Gegenstand ,mit einem Blick' erfassender) und diskursiver (d. h. schrittweise' vom einen zum anderen fortschreitender) Erkenntnis, die zumindest seit Thomas von Aquin (,Summa theologiae' II. II 180, 6 ad 2) zum philosophischen Handwerkszeug gehört, durch Kant zum Allgemeingut geworden und dann als Moment des Begriffs ,Diskurs' mit Ersch/Gruber und der 8. Auflage des Brockhaus (1833) in die allgemeinen Enzyklopädien gewandert ist (bis hin zum Meyerschen Lexikon von 1972).

Diskurs Zweitens kann unter Diskurs seit dem 18. Jh. eine locker gefügte Redeform verstanden werden, die sowohl monologisch als auch dialogisch verlaufen kann. Diderot/d'Alembert etwa definieren in der .Encyclopédie' Diskurs ganz im Verständnis der rhetorischen Tradition als eine nach Stilprinzipien aufgebaute, auf eine G e l e genheit' bezogene Rede. Der Begriff deutet auf die Konversationsgeselligkeit der alteuropäischen Gesellschaft und meint eine Unterhaltung, die ,hier- und dorthin laufen' kann, also den sozial geforderten, mühelosen Themenwechsel vollzieht. Gibt es zu große Abweichungen oder wird die Form alternierender Konversation als ganze nicht mehr akzeptiert, kann dem Begriff auch eine pejorative Komponente zukommen ^abschweifend', ,geschwätzig'). Die deutschsprachigen allgemeinen Lexika des 17. bis frühen 19. Jhs. (auch Zedier oder Sulzer) weisen das Wort nicht aus, sondern sprechen von Rede, Abhandlung o. ä. Neuere Verwendungsweisen versuchen den Diskursbegriff kategorial zu nutzen. Entweder schließen sie ebenfalls an Kant an (Apel, Habermas) oder entwickeln Diskurs als einen Terminus technicus im Rahmen ,poststrukturalistischer' Überlegungen. Die moderne Linguistik (seit Harris) faßt (im Rahmen von Sprechakttheorie, Ethnomethodologie oder insbesondere Konversationsanalyse; Diskurstheorie) unter Diskurs meist Rede- bzw. Texteinheiten, die den U m f a n g eines Satzes überschreiten. Alle diese Verwendungsweisen machen die Existenz eines Diskurses abhängig von der Unterscheidung zwischen einer g e o r d neten' und einer a n g e o r d n e t e n ' Verknüpfung der Diskurselemente. Der Diskurs gilt dann entweder als eine Form ,vernunftgeleiteten' Redens über Geltungsansprüche (Apel, Habermas) oder aber als ein ,régime', durch dessen Formationen sich Sinneffekte erst ergeben. Das mit diesem Diskursbegriff verbundene Konzept des Ereignisses, der Diskontinuität und der Streuung der Aussagen ergibt aus dem Blickwinkel eines seinerseits kritisierten ,philosophischen Projekts der Moderne' (Habermas) den Eindruck des ,Ungeordneten'. Zugleich versuchen poststrukturalistische Beschreibungen, das di-

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gressive, Textformen überschreitende Moment von Diskurs entweder sprachtheoretisch (Derrida) oder sprachtheoretisch-psychoanalytisch (Lacan) zu nutzen. Auf diese Weise werden die beiden etymologisch nachweisbaren Verwendungsweisen von Diskurs (argumentativer Zusammenhang, ,hin- und herlaufen') pointiert bzw. erkenntnistheoretisch gegeneinander gewendet. Als ,Interdiskurs' (Link) wird analysiert, auf welche Weise die mit verschiedenen arbeitsteiligen und sozialen Positionen verbundenen Sprachspiele integriert werden können (etwa durch ,Kollektivsymbole'). Link geht es dabei um ,Produktionsgesetze der Sinngebung', also um die nun bewußt wirkenden Regeln, nach denen literarische Texte gebildet werden. Kollektivsymbole dienen hier als Formen, die es — unter Beibehaltung desselben Signifikanten — möglich machen, unterschiedliche Signifikate, z. B. in einer Konversation, aneinander anzuschließen. Zugleich wird das Bild des so Bezeichneten aber auch gesehen als entscheidend geprägt durch die gewählte Bezeichnung (gegen propositionale Logik). ForschG: Der Begriff ,Diskurs' wurde zwar häufig genutzt, außerhalb der philosophisch relevanten Dichotomie von diskursiv und intuitiv aber nicht zum Gegenstand von Forschung gemacht. Dies ändert sich erst mit Foucaults Versuch, die Kategorie Diskurs zum Ausgangsbegriff für eine neue Analyse der Humanwissenschaften zu machen. Die Versuche zur Klärung des bei Foucault schwer definierbaren Begriffs hatten Rückstrahlungen auf die Untersuchung des Gebrauchs von ,Diskurs' in anderen ,poststrukturalistischen' Theorien. Dort aber hat der Diskursbegriff nicht annähernd die Bedeutung, die ihm als Kategorie von Foucault zuerkannt wird. Die Forschung zu ,Diskurs' bleibt so weitgehend an die Explikation des Foucaultschen Werkes und an von diesem Werk inspirierte Fragestellungen gebunden. Lit: Jürgen Fohrmann, Harro Müller (Hg.): Diskurstheorien. Frankfurt 1988. — Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Frankfurt 1974. - M. F.: Die Ordnung des Diskurses. Frankfurt u. a. 1977. - Roger Fowler (Hg.): A dictionary

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Diskurstheorie(n)

of modern critical terms. London, New York 1987. - Jürgen Link: Elementare Literatur und generative Diskursanalyse. München 1983. — J. L., Ursula Link-Heer: Diskurs/Interdiskurs und Literaturanalyse. In: LiLi 77 (1990), S. 88—99. - Leonard Orr: A dictionary of critical theory. Westport 1991. - Rolf Günter Renner: Diskurstheorie. In: Literatur-Lexikon. Hg. v. Walther Killy. Bd. 13. München 1992, S. 1 8 0 - 1 8 3 .

Jürgen Fohrmann

Diskursanalyse

S

Diskurstheorie(n)

Diskurstheorie(n) Theorien, die in der Untersuchung von Äußerungszusammenhängen angewandt werden. Expl: Diskurstheorien versuchen, je nach zugrundegelegtem Begriff von /' Diskurs, zu beschreiben, wie Folgen von Äußerungen konstituiert werden. An eine so formale Auffassung lassen sich beliebige Anwendungen anschließen, so ζ. B. eine linguistische, eine philosophische, eine literaturwissenschaftliche Analyse. Abhängig vom Gebrauch des weiten Diskursbegriffs wird unter DISKURSANALYSE inzwischen jede Untersuchung regelbestimmter Sprachspiele verstanden (was manchmal auch die Untersuchung von /" Gattungen oder /" Schreibweisen einschließt). Diese Auffassung von ,Diskurs' verzichtet allerdings auf Begriffsreflexion und führt deshalb nicht zu einer allgemeinen Diskurstheorie, die erst zustande kommt, wenn der Diskursbegriff kategorial eingesetzt wird. Aus dem inflationären Gebrauch der Begriffe ,Diskurs' und ,Diskurstheorie' sind drei wichtige Verwendungskontexte von Diskurstheorie hervorzuheben: (1) in der Linguistik die Theorie satzübergreifender Untersuchungen (seit den 1950er Jahren), (2) in der transzendentalpragmatischen Reflexion die Analyse von Argumentationsfolgen, in denen Geltungsansprüche begründet werden (seit den 1970er Jahren),

(3) in der .poststrukturalistischen' Diskussion die Rekonstruktion von Bedingungszusammenhängen, die weder der .langue' noch der ,parole' angehören (seit den 1970er Jahren). WortG: Das Kompositum Diskurstheorie entsteht mit dieser kategorialen Nutzung des Diskursbegriffs. Der Ausdruck findet sich seit den 1950er Jahren in linguistischem Kontext (Harris), häufig in Verbindung mit Adjektivattributen (.Theorie des narrativen Diskurses' o. ä.), seit den 1970er Jahren im Zusammenhang philosophischer Geltungsreflexion und poststrukturalistischer Theorien (häufigste Verwendung) und hier insbesondere in Verbindung mit dem Werk Michel Foucaults und seiner Rezeption. Die Foucaultsche kategoriale Entfaltung erhält in der deutschen Diskussion den Namen Diskursanalyse, der später zur Bezeichnung für die Übertragung der Foucaultschen Untersuchungsmethode auf andere Gegenstände wird (seit Kittler/Turk 1977). Seit 1982 gibt es eine .Zeitschrift für angewandte Diskurstheorie', seit 1987 eine Schriftenreihe mit dem Titel ,Diskursanalysen'. BegrG/SachG: (1) In der Linguistik wurde unter Diskurstheorie zunächst die Untersuchung von Äußerungszusammenhängen verstanden, die über die Ebene des Satzes hinausgehen (Transphrastik). Aus strukturalistischer oder semiotischer Perspektive ließ sich Diskurstheorie als eine Theorie der Diskursivierung, d. h. der Transformation von einer Tiefen- zu einer Textoberflächenstruktur fassen (Greimas). Die sich gegen satzorientierte Sprachmodelle (generative Transformationsgrammatik) richtenden Diskursanalysen waren pragmatisch ausgerichtet (Sprechakttheorie oder Ethnomethodologie). Seit Anfang der 1980er Jahre wird Diskursanalyse entweder synonym mit Gesprächs- oder Konversationsanalyse gebraucht oder aber als Untersuchung von ,Kohärenz' verstanden. Damit geht die wissenschaftliche Beschäftigung wieder auf die beiden grundlegenden etymologischen Bedeutungen von Diskurs zurück. (2) Anders akzentuiert (nicht grundsätzlich different) ist der Diskursbegriff in

Diskurstheorie(n) transzendentalpragmatischen Diskurstheorien. Wenn „der Diskurs [...] der Begründung problematischer Geltungsansprüche von Meinungen" dient (Habermas 1971, 115), so beschreibt die Diskurstheorie die Bedingungen und Verfahren, nach denen und mit denen sich ein solcher Diskurs vollzieht. Der Diskursbegriff fungiert als eine transzendentalpragmatische Kategorie, die im Rahmen einer Theorie kommunikativer Kompetenz angibt, unter welchen grundsätzlichen Voraussetzungen Verständigung möglich ist (Apel, Habermas, Schnädelbach u. a.). Die Chance zu einer solchen Verständigung wird als formales Modell der Vernunft eingeführt (herrschaftsfreier Diskurs als regulative, auch kontrafaktisch aufrechtzuerhaltende Idee) und in eine geschichtstheoretische Perspektive gerückt (kommunikative Rationalität als Projekt der Moderne). Als argumentierende Rede über Geltungsansprüche und ihre transzendentalen Prämissen (Verständlichkeit, Wahrhaftigkeit, Wahrheit, Richtigkeit) wird der Diskurs zum Instrument der Konsensfindung (Konsensustheorie der Wahrheit) und in der als unhintergehbar gedachten Annahme prinzipiell möglicher Partizipation sowohl zum Mittel als auch zum Ziel ethischer Letztbegründung (Diskursethik). (3) Die an den /" Poststrukturalismus anschließende Diskurstheorie invertiert das transzendentalpragmatische Theoriedesign. Das auf Verständigung zielende Subjekt wird nicht als Ausgangsbedingung des Diskurses, sondern als Effekt des Signifikationsprozesses gesehen. Basis solcher Überlegungen ist eine grundlegend andere, nun differenzlogisch orientierte Auffassung von Sprache (etwa in Derridas Begriff der différance). Eine Diskurstheorie im engeren Sinne kommt aber nur dann zustande, wenn unter Diskurs nicht einfach nur die différentielle Verkettung der Signifikanten gefaßt wird (erste Bedingung). So ist etwa in Lacans Schriften ,Diskurs' keine Kategorie, die nicht auch durch die Synonyma Sprache oder Rede ersetzt werden könnte. Und so findet sich etwa bei Roland Barthes (vgl. auch schon Benveniste oder dann Genette) ein Gebrauch von Diskurs nur als pragma-

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linguistisch erweiterte .parole' (Tradition des rhetorischen Diskursbegriffs). Zweite Bedingung für eine Diskurstheorie ist, daß die zugrundegelegte Theorie der Sprache nicht jede Form von Einheitsbildung mit dem Hinweis zerstört, auch die Analyse diskursiver Regularien löse sich in der supplementären Reihe beliebiger Signifikationen auf. Es macht daher im Falle von Derrida keinen Sinn, von Diskurstheorie zu sprechen; denn zu einer Diskurstheorie gehört die Möglichkeit einer Analyse, die sich auf eine .Instanz' jenseits des grammatischen Regelsystems und des subjektiven Sprachgebrauchs muß beziehen können. In diesem Sinne verstehen sich die meisten diskursanalytischen Untersuchungen (Jürgen Links Theorie des Interdiskurses, die Tropologie Hayden Whites oder Dominick LaCapras u. a.) als Arbeiten, die die Differenz von ,langue' und ,parole' hinter sich lassen und im Diskurs eine neue, sowohl sozial als auch symbolisch relevante Untersuchungsebene finden. Referenzpunkt all dieser Überlegungen ist das Werk Michel Foucaults. Diskurs meint bei Foucault die G e s a m t heit der Regeln, die einer sprachlichen Praxis immanent sind'. Eine Diskursanalyse untersucht die Genealogie dieser Praxis, Diskurstheorie ist die kategoriale Reflexion auf die Methodik dieser Analyse. Die Untersuchung der ,Äußerungsmodalitäten' („wer spricht?"), der ,Formation der Begriffe und Strategien' usw. soll die Selektion, Kanalisierung, die Organisation und Kontrolle: das ,Regime des Diskurses' aufweisen, und das heißt zugleich: soll die diskontinuierlich auftauchenden Ereignisse in ihrer Streuung beschreiben. Foucault setzt sich entschieden von einer Geschichtsrekonstruktion ab, die den Menschen als Konstitutionsinstanz des historischen Prozesses denkt. Er ist nicht daran interessiert, die Äußerungen (énoncés) auf ein sinnverbürgendes, transzendentales Signifikat zu beziehen, sondern will die Bedingungen ihres Erscheinens, ihr Beziehungsfeld, jenen Macht-Raum ,zwischen den Äußerungen' analysieren, der - jenseits aller subjektiven Unterschiede - als Spielraum des Ähnlichen die Produktion von Sinn organisiert.

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Dispositio

Roland Barthes: L'écriture et la parole. In: R. B.: Le dégré zéro de l'écriture suivi de Nouveaux Essais critiques. Paris 1972, S. 5 8 - 6 1 . - R. B.: Elemente der Semiologie. Frankfurt 2 1981. - Emile Benveniste: Problèmes de linguistique générale. Paris 1966. - Jacques Derrida: Die Schrift und die Differenz. Frankfurt 1972. - Gérard Genette: Frontières du récit. In: G. G.: Figures II. Essais. Paris 1969, S. 4 9 - 6 9 . - Jacques Lacan: Ecrits. Paris 1966.

ForschG: Arbeiten, die sich nicht (nur) an der Diskussion über Diskurstheorie und an ihrer Weiterentwicklung beteiligen, sondern sie im Sinne Foucaults zur Methode und zum Gegenstand der Untersuchung machen, gibt es noch nicht. Lit: Karl-Otto Apel: Der transzendentalhermeneutische Begriff der Sprache. In: K.-O. Α.: Transformationen der Philosophie. Bd. 2. Frankfurt 1976, S. 330-346. - Konrad Ehlich (Hg.): Diskursanalyse in Europa. Frankfurt u. a. 1994. - Jürgen Fohrmann, Harro Müller (Hg.): Diskurstheorien und Literaturwissenschaft. Frankfurt 1988. - Michel Foucault: Archäologie des Wissens. Frankfurt 1973. - M. F.: Die Ordnung des Diskurses. München 1974. - Roger Fowler (Hg.): A dictionary of modern critical terms. London, New York 1987. - Algirdas Julien Greimas, Joseph Courtès: Sémiotiques. Paris 1979. Jürgen Habermas: Vorbereitende Bemerkungen zu einer Theorie der kommunikativen Kompetenz. In: J. H., Niklas Luhmann: Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie. Frankfurt 1971. - J. H.: Zwei Bemerkungen zum praktischen Diskurs. In: J. H.: Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus. Frankfurt 1976, S. 338-346. — J. H.: Der philosophische Diskurs der Moderne. Frankfurt 1985. - Zellig S. Harris: Discourse analysis [1952]. Repr. Den Haag 1963. - Siegfried Jäger: Kritische Diskursanalyse. Duisburg 1993. - Christa Karpenstein-Eßbach: Zum Unterschied von Diskursanalysen und Dekonstruktionen. In: Flaschenpost und Postkarte. Hg. v. Sigrid Weigel. Köln u . a . 1995, S. 1 2 7 138. - Friedrich A. Kittler, Horst Turk (Hg.): Urszenen. Literaturwissenschaft als Diskursanalyse und Diskurskritik. Frankfurt 1977. - F. A. K. u. a. (Hg.): Diskursanalysen. Opladen 1987 ff. - KultuRRevolution. Zeitschrift für angewandte Diskurstheorie. Bochum 1982 ff. - Dominick LaCapra: Geschichte und Kritik. Frankfurt 1987. - Jürgen Link: Elementare Literatur und generative Diskursanalyse. München 1983. - Rolf Günter Renner: Diskurstheorie. In: Literatur-Lexikon. Hg. v. Walther Killy. Bd. 13. München 1992, S. 180-183. - Herbert Schnädelbach: Re-

flexion und Diskurs. Frankfurt 1977. - Reinhard Schweicher: Art. Diskurs. In: Europäische Enzyklopädie zu Philosophie und Wissenschaften. Hg. von Hans Jörg Sandkühler u. a. Bd. 1. Hamburg 1990, S. 580-582. - Hayden White: Die Bedeutung der Form. Frankfurt 1990.

Jürgen Fohrmann

Dispositio Gliederung, Anordnung eines Textes; das zweite Lehrgebiet im System der Rhetorik. Expl: Im Lehrsystem der Rhetorik ist die Dispositio die zweite der insgesamt fünf Bearbeitungsphasen der Rede (y Inventio, Dispositio, ? Elocutio, Memoria, Pronuntiatio). Mit ihr beweist sich das Urteilsvermögen, aus allem Möglichen das Geeignetste zu sondern und in angemessener Gewichtung richtig zu ordnen. Von der Tätigkeit auf das Ergebnis und aus der Rednerschule insgesamt auf die Literatur übertragen, kann man darunter statt einer bestimmten Arbeitsphase auch die Ordnung als Qualität des Textes verstehen. Dabei geht es von der Anlage des Ganzen bis zum syntaktischen Detail. WortG: Das lat. Wort dispositio hat dieselbe Doppeldeutigkeit, die es auch als rhetorischer Terminus bewahrt: .Tätigkeit' und .Ergebnis', „actus disponendi vel res disposita" (.der Akt des Ordnens oder die geordnete Sache'), definiert der .Thesaurus Linguae Latinae' (5, 1434) die allgemeine Bedeutung. Als Fachbegriff erscheint es von den ältesten lateinischen Rhetoriken an, beim ,Auetor ad Herennium' (1,3) und bei Cicero (,De inventione' 1,7,9). Im Deutschen ist Dispositio als Fremdwort gleich in dem ersten zuständigen Lehrbuch belegt, in Opitz' ,Buch von der Deutschen Poeterey' (1624). Er spricht von der „Disposition oder abtheilung [auch: eintheilung] der dinge" (Opitz, 17). Neben dem Rhetorischen hat das Wort Dispositio eine philosophische und psychologische Bedeutungsbreite, die am ehesten die deutsche Übersetzung .Anlage' wiedergibt (wie man etwa von charakterlichen

Dispositio .Anlagen', d. h. .Voraussetzungen' spricht). Nimmt man die über die romanischen Sprachen vermittelte Variante Disposition, ist alles in einem Begriff vereint. Die dt. Fachsprache hat lange Zeit auch für den rhetorischen Terminus nur diese Form gewählt. Dispositio setzt sich im Deutschen seit Lausbergs Aufarbeitung der antiken Rhetorik durch. Martin Opitz: Buch von der Deutschen Poeterey. Hg. v. Richard Alewyn. Tübingen 2 1966.

BegrG: Die griech. Vorgängerbegriffe, von denen sich Dispositio herleitet, sind διάθεσις [diáthesis] und τάξις [táxis] (Platon, ,Phaidros' 236 a; Aristoteles, ,Rhetorik' 1403 b). Die lat. Terminologie (ζ. B. Quintilian 7,1,1) versucht gelegentlich, durch das Begriffsfeld ,divisio', ,partido', ,ordo' und ,dispositio' zu unterscheiden, ob es sich um die Einteilung mehrerer Einzelheiten zu einer Einheit, um die Untergliederung einzelner in ihre Teile, um die Reihenfolge oder um die Anlage eines größeren Ganzen handelt. Solche Differenzierungen aber bleiben sporadisch. Anfangs stehen verschiedene Bezeichnungen — außer den vier genannten noch con-lcollocatio und compositio (/" Komposition) — ohne klare Bedeutungsunterschiede nebeneinander, bis sich dann mit der Überlieferung der antiken Rhetorik zum Mittelalter (ζ. B. mit den ,Etymologiae' Isidors von Sevilla) nur Dispositio durchsetzt. Bei der Bildung einer deutschen rhetorischen und kunstwissenschaftlichen Fachsprache wird im 18. Jh. mehrfach versucht, statt des lateinischen entsprechende deutsche Begriffe wie Einrichtung' (Gottsched 1760, 588 f.) oder ,Anlage' (Sulzer 1, 148 f.) einzuführen. Doch keine der Ubersetzungen setzt sich terminologisch durch. Cicero: De oratore. Über den Redner. 2,307 f. Johann Christoph Gottsched: Handlexicon oder Kurtzgefaßtes Wörterbuch der schönen Wissenschaften und freyen Künste [Leipzig 1760]. Repr. Hildesheim, New York 1970.

SachG: Die Theorie der Dispositio baut auf der Polarität zweier Gliederungsprinzipien auf: der natürlichen und der künstlichen Ordnung (/" Ordo artificialis und naturalis). Die zweite ergebe sich aus der Sache selbst,

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die erste dagegen sei die auf eine bestimmte Wirkung hin kalkulierte Umstellung. In der Erzählung etwa ist das der Unterschied zwischen chronologischer Folge und rück- oder vorgreifender, mehrere Zeitebenen verschränkender Darstellung. Über die Angemessenheit verschiedener Gliederungsweisen entscheidet weniger der darzustellende Inhalt als die Absicht, die man verfolgt. Die Rhetorik klassifiziert hier nach ihrer Wirkungstrias docere, delectare, movere (.belehren, erfreuen, emotional erregen') und teilt entsprechend die Aufgaben der Dispositio zu: im ersten Fall Vollständigkeit, Schlüssigkeit und Übersichtlichkeit, im zweiten Ausgewogenheit und Abwechslung, Spannung im dritten. Die genauesten Vorschriften für die Dispositio sind — wie für das meiste in der Rhetorik — in bezug auf die Gerichtsrede ausgearbeitet worden (s Reder, vgl. Lausberg, § 262). Das Grundschema besteht aus vier Teilen: Anfang (EXORDIUM), Mitteilung des Sachverhalts (NARRATICI), Beweisführung (S Argumentado), Schluß (PERORATIO) (Lausberg, § 262). Das Exordium verfolgt ein doppeltes Ziel: Es soll zum Gegenstand der Rede hinführen und zugleich affektiv einnehmen; bündig in den drei Anforderungen formuliert, das Publikum aufmerksam und gelehrig zu machen (attentum et docilem parare) sowie - ein eigener Kunstgriff — sein Wohlwollen zu erlangen (CAPTATIO BENEVOLENTIAE). Von der zwischen Sachlichkeit und Affekt ausgewogenen Einleitung (PROOEMIUM) wird die rein affektive Einschmeichelung (Insinuatio) als Sonderfall des Redeanfangs unterschieden. Die Argumentado wird als wichtigster Teil unterschiedlich weiter gegliedert, am einfachsten zweigeteilt in die Darlegung der eigenen und die Widerlegung der gegnerischen Argumente (PROBATIO und REFUTATIO). Die Briefsteller lehren als eigene Abschnitte ferner die Anrede und Begrüßungsformel (SALUTATIO) sowie die an den Adressaten gerichtete Bitte oder Aufforderung (PETITIO). Analog zur Rhetorik lehrt die Poetik Gliederungsschemata für die verschiedenen literarischen Gattungen. Das beginnt mit Aristoteles, und reicht hier von dem allgemeinen Grundsatz, daß ein Ganzes ,An-

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fang, Mitte und Ende' haben müsse, bis zu den präzisen Vorschriften f ü r den Aufbau der Tragödie (,Poetik' 1450 b, 1452 b). In der Geschichte der Regelpoetik bleibt die Tragödie die am ausführlichsten und strengsten behandelte Gattung, so daß f ü r sie auch die genauesten, besonders auf die emotionale Erregung hin kalkulierten Gliederungsanweisungen gegeben sind. Für das Epos spielen hauptsächlich die verschiedenen prooemialen Formeln eine Rolle, mit denen die Rhetorik Aufmerksamkeit, Achtung und Wohlwollen des Publikums zu wecken lehrt. Zur erkenntnistheoretischen Frage wird die Dispositio in der G a t t u n g >" Essay. Es geht u m die Skepsis, ob eine schlüssige Ordnung überhaupt noch möglich, d. h. angemessen sei, wenn doch die Wirklichkeit sich tatsächlich disparat und unübersichtlich, auch im Kleinsten in nicht mehr zu bewältigender Vielfalt zeige. Der Essay bestimmt daher seine F o r m mit dem Begriff, in dem die Dispositio ihre eigene Ordnung aufhebt: dem Exkurs, der Abschweifung (V Digression). Das Ausscheren aus der Gliederung wird zum philosophischen Prinzip, digressives Denken als unsystematische, damit unvoreingenommene Aufmerksamkeit auf die Vielfalt der Perspektiven (Lämmert, 156— 170). Edmond Farai: Les arts poétiques du XII e et du XIII e siècle. Paris 1924. Bd. 1, S. 5 5 - 6 0 . - Romantheorie. Bd. 2. Hg. v. Eberhard Lämmert u. a. Köln 1975. (Darin das Kap. „Der verlorene Faden", S. 1 5 6 - 1 7 0 ) .

ForschG: Es gehört zum Grundbestand der rhetorischen Lehrtradition, die Dispositio als die entscheidende rednerische Leistung hervorzuheben. Cicero bezeichnet sie als „ureigene Aufgabe rednerischer Klugheit" (,De oratore' 2,308), Quintilian erklärt sie metaphorisch zum wichtigsten Teil der Rhetorik: Die Inventio sei nur das Zusammentragen des Baumaterials, die Dispositio aber das Aufstellen des Hauses. Was er dazu lehrt, ist konsequent von der beabsichtigten Wirkung, nicht von der Sache her gedacht: Anordnung als wirkungsästhetisches Kalkül (Quintilian 7, pr., 1 und 7,1,1-64). Im Wandel des Dispositio-Konzepts stellt sich die Geschichte der Rhetorik und

Poetik wohl am deutlichsten in ihren Wechsel- und Streitfallen dar. Es schwankt zwischen den Polen, was Rhetorik im besten Fall sein und worauf sie sich als Lehrtradition reduzieren kann: Erkenntnis- und Wirkungstheorie oder Schematismus von Rede und Literatur. So ist über die Dispositio einerseits eine Bildungs- und Verfallsgeschichte von Formalismen zu schreiben, andererseits überliefern sich mit diesem Begriff die genauesten Einsichten in den Erkenntniswert sprachlicher Gliederung. Die zeitgenössische Textlinguistik hat die Dispositio nach modernen sprachpsychologischen und semiotischen Theorien in verschiedenen Modellen der Textherstellung oder Textorganisation neu formuliert. Die philosophisch orientierte Literaturwissenschaft zielt — in jüngerer Zeit etwa durch M. Foucault angeregt — bei der Kompositionsanalyse auf die sprach- als erkenntnistheoretische Reflexion des Ordnungs-Begriffs. Lit: Manfred Beetz: Rhetorisches Textherstellen als Problemlösen. In: Rhetorik. Hg. v. Josef Kopperschmidt. Bd. 1. Darmstadt 1990. S. 1 5 5 - 1 9 3 . - Michel Foucault: Les mots et les choses. Paris 1966. - Lausberg, § § 4 4 3 - 4 5 2 . - Heinrich Lausberg: Elemente der literarischen Rhetorik. München 7 1982, § § 4 6 - 9 0 . - Josef Martin: Antike Rhetorik. München 1974, S. 2 1 1 - 2 4 3 . - J.Ritter, J. Pongratz: Disposition. In: HWbPh 2, Sp. 2 6 2 - 2 6 6 . - Gert Ueding, Bernd Steinbrink: 2 Grundriß der Rhetorik. Stuttgart 1986, S. 1 9 6 - 1 9 9 .

Stefan

Matuschek

Disputatio Streitgespräch mit formal geregeltem Ablauf. Expl: Die Disputatio im strikten Sinn ist eine seit dem 12. Jh. gepflegte universitäre Lehrmethode, durch die vor allem das Studium der scholastischen Philosophie und Theologie bestimmt wurde. Sie basiert auf der Aristotelischen Lehre von den Fehlschlüssen (,De sophisticis elenchis'). Indem sie sich der Methode des Syllogismus be-

Disputatio dient, ist sie der ? Argumentatio der klassischen Rhetorik verwandt und verpflichtet. Die ihr eigene technische Form der QUAESTIO, in der durch Fragestellung und Fragelösung die Entscheidung über die Wahrheitsgründe eines Widerspruchs gefunden wird, übernahm sie aus dem 8. Buch der ,Topik' des Aristoteles. Zu den konstituierenden Bestandteilen der quaestio gehören u. a. propositum bzw. PROPOSITO (Generalthema einer theoretischen Untersuchung) und determinatio (abschließende Entscheidung). Die mittelalterliche Disputatio wurde im Anschluß an Aristoteles in folgende vier Klassen eingeteilt: (1) disputatio demonstrativa (mit logischer Notwendigkeit schlußfolgernd), (2) disputatio dialéctica (mit Wahrscheinlichkeitsgründen argumentierend), (3) disputatio temptativa (den Gegner durch das von ihm Gebilligte auf die Probe stellend) und (4) disputatio sophistica (mit Scheingründen operierend). Außer der scholastischen Lehrmethode kann Disputatio auch ein literarisches Genus bezeichnen, das den antiken Dialog (vgl. Ciceros ,Tusculanae Disputationes') zum Modell hat oder auch nur als dialogisiertes Lehrbuch fungiert. WortG: Lat. disputatio (von disputare, ,hin und her überlegen') bedeutet durch Rede geäußerte ,Abwägung', .Zweifel', ,Befragung', seit dem 8. Jh. auch ,Dialog' („Dialogos graece, disputatio latine", Beda, ,De orthographia', CC 123A, 21, 341). BegrG: In der Antike und im frühen Mittelalter bezeichnet Disputatio die aus dem Unterricht sich ergebende vorwiegend mündliche Erörterung strittiger philosophischer bzw. theologischer Fragen. Gelegentlich wird sie mit der monastischen collatio (,geistliche Unterredung') verglichen. Isidor von Sevilla (gestorben 636) warnt vor der Anwendung philosophischer Spitzfindigkeiten bei Glaubensgesprächen („in disputatione fidelium", ,Sententiae\ PL 83, 689A). „Disputationis litem" nennt Richer (,Historiae' 3, cap. 57) ein 980 in Ravenna veranstaltetes öffentliches Streitgespräch. Im Laufe des 12. Jhs. wird die Disputatio zu einer stark formalisierten Unterrichtsmethode in der Philosophie und Theologie wie

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auch in der Rechtswissenschaft. Sie erhält eine charakteristisch dialogisch-dramatische Gestalt, die sie, wenn auch modifiziert und (vor allem im Humanismus, etwa bei Vives) angefochten, bis in die Neuzeit bewahrt. Im Singular kann Disputatio auch den literarischen Lehrdialog zwischen dem fragenden Schüler und dem antwortenden Lehrer bezeichnen, z. B. in AIcuins (730/5 — 804) ,Disputatio [...] Pippini cum Albino scholastico'. Zum erweiterten Bereich literarischer Funktionalisierung der Disputatio gehört das Streitgespräch (auch altercatio, conflictus o. ä.; vgl. Schmidt), das gewöhnlich zwei konträre Positionen alternierend darstellt und in ein abschließendes Urteil mündet. Paul Gerhard Schmidt: I Conflictus. In: Lo spazio letterario del medioevo. 1. Il medioevo Latino. Hg. v. Guglielmo Cavallo u. a. R o m 1993, S. 1 5 7 - 1 6 9 .

SachG: Bereits die Frühscholastik pflegte als freiere Form der Disputatio die Quaestio, die sich in der 2. Hälfte des 12. Jhs. aus ihrer ursprünglichen Bindung an die lectio (als Erklärung eines geschriebenen Textes durch den Magister) löste und zur Disputatio verselbständigte. Ihre verbindliche methodische Ausbildung wurde möglich durch die Rezeption des Aristotelischen .Organon', speziell des 8. Buches der ,Topik', das nach dem Zeugnis des Johannes von Salisbury (ca. 1115—1180) die konstituierenden „praecepta" für die Disputatio lieferte: „nam sine eo non disputatur arte, sed casu" (,Metalogicus' 3, cap. 10; ,denn ohne dieses Buch disputiert man nicht regelgerecht, sondern aufs Geratewohl'). Die Theologie, die durch Abaelards ,Sic et non'-Methode bereits daran gewöhnt worden war, über Widersprüche von Glaubensautoritäten durch häufiges Fragen und durch systematischen Zweifel eine Wahrheitsentscheidung zu treffen, hat die Disputatio mit ihrem für die Folgezeit gültigen Schema erst nach längerem Zögern gegen Ende des 12. Jhs. (Robert von Courçon, Praepositinus von Cremona) aufgenommen. Die häufigste Form der standardisierten und ausdrücklich als Universitätsakt geregelten Disputatio ist,

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Disputatio

neben der Disputatio in scholis (innerhalb des normalen Unterrichts, zwischen dem Magister und seinen Studenten), die öffentliche Disputatio ordinaria, an der alle Studenten teilnehmen konnten. Ihnen oblag die Rolle des ,opponens' (seit Ende des 12. Jh.), der die vom Magister im Zusammenhang der Quaestio vorgebrachten Argumente (später Thesen) angriff, bzw. des ,defendens' (seit ca. 1230), der seinerseits auf diesen Angriff antwortete und schließlich eine vorläufige Lösung vorschlug. Darauf folgte als zweiter Schritt die Determinatio durch den Magister, in der dieser die voraufgegangene Diskussion zusammenfaßte, seine eigene solutio vortrug und noch einmal die gegen seine These vorgebrachten Argumente zurückwies. Diese vor allem in der Theologie ausgebildete und praktizierte Form der Disputatio war (mit den notwendigen Modifikationen) Modell für die übrigen Fakultäten. Von der Disputatio ordinaria, die in der Regel wöchentlich (am Samstag) stattfand, unterscheidet sich die seit ca. 1230 an der theologischen Fakultät in Paris entstandene feierliche Disputatio de quolibet (später Disputatio quodlibetalis, d i s putatio über einen beliebigen Gegenstand'): An ihr konnten alle Universitätsangehörigen und sogar universitätsfremde Personen teilnehmen und die zu behandelnden Fragen stellen. In ihrer ersten Blütezeit fand sie zweimal pro Jahr (in Advent und Fastenzeit) statt, nach ca. 1320 gewöhnlich nur noch einmal. Als mehr oder weniger fiktive ,Reportagen' der ursprünglich reinen Lehrübungen entwickelte sich das literarische Genus der ,Quaestiones disputatae' bzw. ,Quaestiones quodlibetales'. Die ,Quaestiones' der ,Summa theologica' des Thomas von Aquin (1224/5—1274) bewahren in ihren einzelnen Schritten (Frage, Argumente pro et contra, Conclusio, Lehrurteil des Magisters und seine Antwort auf die Argumente contra) den mündlichen Vortragscharakter der Disputatio. Als Parodie des Disputationswesens erlangten die ,Scherzdisputationen' (,Quaestiones fabulosae'; vgl. Hess, 177-206) im 15. und 16. Jh. literarische Bedeutung. Die Disputatio ist ein beherrschendes Prinzip der intellektuellen Kultur des Mittelalters und ein wesentlicher

Bestandteil der pädagogischen Praxis bis in die frühe Neuzeit. Ihr letztes Ziel ist Wahrheitsermittlung, doch besteht ihre speziell pädagogische Funktion in der regelhaften Schulung des Intellekts. Noch die Studienordnung der Jesuiten vom Jahre 1599 schreibt zahlreiche Disputationes vor, deren disziplinierender Effekt unmittelbar dem Jesuitendrama zugute kam, so wie andererseits die reiche dialogische und dramatische Streitliteratur des Reformationsjahrhunderts (vgl. ,Eckius dedolatus') ohne die Tradition der Disputatio nicht zu denken ist. ForschG: Die Entwicklung der spezifisch scholastischen Disputatio stellt Grabmann dar. Die historischen und technischen Bedingungen des Disputationswesens, neuerdings durch terminologische Untersuchungen (Weijers) präzisiert, haben einen festen Platz in den Universitätsgeschichten (Kaufmann, Rüegg). Über Disputatio als exemplarischen Fall der mündlichen Wissenschaftskultur des Mittelalters handelt Miethke. Die literarische Funktionalisierung der Disputatio wurde zunächst speziell am Genus des Streitgedichts nachgewiesen (Walther), neuerdings untersuchte von Moos ihren Einfluß auf die mittelalterliche Dialog-Literatur. Die universale pädagogische wie literarische Verwendung im Humanismus und Barock ist von Barner und Hess (mit besonderer Betonung des satirischen Potentials) dargestellt. Unter wissenschaftsgeschichtlichem Aspekt behandelt Daxelmüller die zahllosen gedruckten akademischen Disputationen des 17. und 18. Jhs. Gerber untersucht die Entwicklungsgeschichte der Disputatio in bezug auf das Wesen theologischen Sprechens. Lit: Wilfried Barner: Barockrhetorik. Tübingen 1970. - Bernardo C. Bazàn u. a.: Les questions disputées et les questions quodlibétiques dans les facultés de théologie, de droit et de médecine. Turnhout 1985. — Christoph Daxelmüller: Disputationes curiosae. Zum „volkskundlichen" Polyhistorismus an den Universitäten des 17. und 18. Jhs. Würzburg 1979. - Jos N . J . Decorte: Quodlibet. In: LexMA 7, Sp. 377. - U w e Gerber: Disputatio als Sprache des Glaubens. Zürich 1970. - U. G.: Disputatio. In: T R E 9, S. 1 3 - 1 5 . - Palémon Glorieux: La littérature quodlibétique de 1260 à 1320. Paris 1925. - Martin Grab-

Distichon mann: D i e Geschichte der scholastischen Methode. 2 Bde. [1909, 1911], Repr. Darmstadt 1988. - Günter Hess: Deutsch-lateinische Narrenzunft. München 1971. - Ludwig Hödl, Jacques Verger: Disputatio. In: LexMA 3, Sp. 1116—1120. - Georg Kaufmann: Geschichte der deutschen Universitäten. 2 Bde. [1888, 1896] Repr. Graz 1958. — Jürgen Miethke: Die mittelalterlichen Universitäten und das gesprochene Wort. München 1990. - Peter v o n Moos: Literatur- und bildungsgeschichtliche Aspekte der Dialogform im lateinischen Mittelalter. In: Tradition und Wertung. Fs. Franz Brunhölzl. Hg. v o n Günter Bernt u . a . Sigmaringen 1989, S. 165— 209. - Hiram Pflaum: D i e religiöse Disputation in der europäischen Dichtung des Mittelalters. Genf, Florenz 1935. - Walter Rüegg (Hg.): Geschichte der Universität in Europa. Bd. 1. München 1993. - H a n s Walther: D a s Streitgedicht in der lateinischen Literatur des Mittelalters [1920]. Repr. Hildesheim, Zürich 1984. - Olga Weijers: Terminologie des universités au XIII e siècle. R o m 1987. - O. W.: Vocabulaire des collèges universitaires (XIII e —XVI e siècles). Turnhout 1993.

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Nach dem dritten Fuß ist eine Zäsur vorgeschrieben. LEONINISCHES DISTICHON: Diese Sonderform des Distichons zeichnet sich durch Binnenreim aus.

WortG: Der Ausdruck Distichon geht zurück auf griech. δίστιχος [distichos] ,aus zwei Versen bestehend'. Antike Zeugnisse belegen , Distichon' als einen Sammelbegriff für zweizeilige Gedichte (M. Lausberg). Diese Bedeutung wird von der lateinischsprachigen Gelehrtenliteratur weitergegeben (ζ. B. Martianus Capeila, ,De nuptiis Mercurii et Philologiae' 1,42) und besteht noch in der frühen dt. Wortverwendung. In seinem ,Buch von der Deutschen Poeterey' (1624) gibt Opitz unter Verwendung des Wortes als Beispiel für ein Distichon einen aus Hexameter und Pentameter bestehenden lat. Zweizeiler (Opitz, 35 f.). Erst im 18. Jh. setzt sich ,Distichon' (trotz ausweisbarer Gegenbelege; ζ. B. Sulzer 1, 474) als Fidel Rädle metrischer Begriff durch. Der Ausdruck Pentameter geht zurück auf das griech. πεντάμετρος [pentámetros], ,aus fünf Metren bestehend'. Schon früh Dissimulatio f Ironie wird Pentameter als metrisches Begriffswort verwendet (ζ. B. bei Isidor, ,Etymologiae' 1,39,6). Das Wort erklärt sich daraus, daß in der antiken Metrik der Pentameter verDistichon mutlich aus zweimal zweieinhalb Daktylen Besonders in der dt. Dichtung des 18. und (Minor, 311) oder, nach einer Andeutung 19. Jhs. eine aus einem Hexameter und ei- von Quintilian (9,4,98), aus zwei Daktylen, nem Pentameter gebildete metrische Einheit einem Spondeus und zwei Anapästen bestehend angesehen wurde. antiker Herkunft. Die Herkunft des Ausdrucks LeoniniExpl: Das Distichon verbindet einen f He- sches Distichon ist nicht eindeutig geklärt. xameter und einen Pentameter (s. u.) und Leoninisch geht entweder auf Papst Leo I. hat folgendes metrische Schema: zurück oder auf einen unbekannten Dichter namens Leo oder Leoninus, der im 12. Jh. — ν (v) — ν (v) — ν (v) — ν (v) — vv — X gelebt haben soll (Knörrich, 132). — V (v) - V (v) — I — vv — vv — Beispiel: „Im Hexameter steigt des Springquells flüssige Säule,/Im Pentameter drauf fallt sie melodisch herab." (Schiller, ,Das Distichon') PENTAMETER: Der Pentameter besteht aus sechs Daktylen, deren erste zwei durch Spondeen oder Trochäen ersetzt werden können. Der dritte und der letzte Daktylus sind jeweils um zwei Elemente verkürzt.

Martin Opitz: Buch von der Deutschen Poeterey. Hg. v. Richard Alewyn. Tübingen 2 1966. — Jakob Minor: Neuhochdeutsche Metrik. Straßburg 2 1902. - Otto Knörrich: Lexikon lyrischer Formen. Stuttgart 1992.

BegrG: Das Konzept des Distichons ist wesentlich davon abhängig, ob das Distichon als Gedichtmaß oder als Strophenmaß angesehen wird. Als Gedichtmaß bestimmt das Distichon das Ganze eines Textes als

Distribution

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aus einem Hexameter und einem Pentameter bestehend. Als Strophenmaß bestimmt das Distichon das beliebig oft wiederholbare Segment eines Textes als aus einem Hexameter und einem Pentameter bestehend. In diesem Sinn wird auch der Begriff des ,Elegischen Distichons' gebraucht. SachG: Frühe Zeugnisse belegen die Verwendung des Distichons im griech. Sprachraum als Strophenmaß von Inschriften und epigrammatischer Dichtung. Q. Ennius führt das Distichon in die lat. Dichtung ein. Es folgen u. a. Tibull, Properz, Catull und Martial. In der Dichtung der Humanisten und Neulateiner lebt das Distichon fort. Nach den ersten Versuchen durch Gottsched findet das deutschsprachige Distichon seit der Mitte des 18. Jhs. Verbreitung. Klopstock verfaßt Epigramme und ? Elegien (,Die zukünftige Geliebte', ,Elegie') in Distichen. In der dt. Epigrammdichtung (/" Epigramm) führt der Weg des Distichons im weiteren über Goethes und Schillers ,Xenien' und Goethes ,Venezianische Epigramme' zur antikisierenden Dichtung von Mörike und Platen. Die in Distichen verfaßte dt. Elegie findet sich bei Goethe (^Römische Elegien', ,Die Metamorphose der Pflanzen'), Schiller (,Nänie') und Hölderlin (,Brod und Wein'), auch bei Mörike, Geibel und Platen. ForschG: Das Distichon ist Gegenstand der Verslehre. Wegen seiner Bindung an das Epigramm und die Elegie findet sich Näheres über den Gebrauch des Distichons in der Lehre bzw. der geschichtlichen Erforschung dieser Gattungen (Beissner, Hess, Weissenberger). Ludwig Strauss stellt ästhetische Überlegungen über das Distichon an. Lit: Friedrich Beissner: Geschichte der deutschen Elegie. Berlin 2 1961. - Peter Hess: Epigramm. Stuttgart 1989. - Marion Lausberg: D a s Einzeldistichon. Studien zum antiken Epigramm. München 1982. - Ludwig Strauss: Zur Struktur des deutschen Distichons. In: Trivium 6 (1948), S. 5 2 - 8 3 . - Klaus Weissenberger: Formen der Elegie von Goethe bis Celan. Bern, München 1969.

Burkhard Moennighoff

Distinctio /" Antithese

Distribution Verteilung von Literatur. Expl: Unter Distribution versteht man die Gesamtheit der Vorkehrungen, die getroffen werden, damit Literatur (meist: Gedrucktes, /" Literatur [1]) ihre Adressaten bzw. Käufer erreicht. Die buchhändlerische Marketinglehre ordnet jede Maßnahme zur Vermittlung zwischen der Herstellung und dem Gebrauch von Literatur entweder der physischen oder der akquisitorischen Distribution zu (Schönstedt). Für die physische Distribution, die Verteilung der materiellen Druckwerke, sind die Auslieferungsabteilungen der /" Verlage und der Buchhandel zuständig. Bei der akquisitorischen Distribution geht es um das Anwerben von Vorbestellungen (s. u. ,Subskription') bzw. Bestellungen oder Käufen durch die Vertreter der Verlage, durch Werbemaßnahmen aller Art, durch gesellige Zirkel bzw. die Autoren selbst (s. u. ,Lesegesellschaft', .Lesung'), durch Schaffung neuer Vertriebsformen (Zusammenarbeit von Großverlagen mit Versandhäusern), durch Ausnutzung neuer technischer Möglichkeiten (Mail-Ordering, Tele-Ordering usw.); auch Theater, /* Film, Fernsehen und Literaturkritik können als Institutionen der akquisitorischen Distribution betrachtet werden. [Terminologisches Feld:] LESEGESELLSCHAFT: Im 18. Jh. geschaffenes neues Distributions- und Rezeptionssystem für das Bürgertum als die ökonomische Führungsschicht und Bildungselite. In Frankreich entstehen die ersten .Cabinets de lecture' schon Anfang, in England circulating libraries' und ,reading rooms' im 1. Viertel des 18. Jhs.; im Norden Deutschlands finden sich in der 2. Hälfte des 18. Jhs. die ersten Lesegesellschaften als .Umlaufgesellschaften', in denen Zeitschriften, Zeitungen und Bücher unter einer größeren Zahl fester Mitglieder in einer festen Reihenfolge und in einem bestimmten Zeitabstand von einem Leser zum anderen gebracht werden. Aus den Buchbeständen dieser frühen Gesellschaften bilden sich die ersten Lesebibliotheken und endlich, im letzten Viertel des 18. Jhs., die ,Lesekabinette',

Distribution in denen das Gelesene auch diskutiert werden kann. Die Zensurmaßnahmen zur Abwehr der Französischen Revolution setzen der weiteren Ausbreitung der Lesegesellschaften ein Ende, das Sinken der Bücherpreise infolge technischer Erfindungen (vgl. dazu /" Druck) läßt im 1. Viertel des 19. Jhs. die Lesegesellschaften überflüssig werden; sie leben vielfach als gesellige Vereine oder Bürgergesellschaften weiter. LESUNG: Daß Autoren ihre Texte vor geladenem oder zahlendem Publikum vortragen bzw. vorlesen, ist eine seit der Antike (ζ. B. von Vergil, Ovid, Apuleius) bekannte Variante der oralen Distribution. Seit dem Ende des 18. Jhs. hat die Lesung vorübergehend den Charakter einer Institution angenommen (regelmäßiges Stattfinden am gleichen Ort in einem relativ gleichbleibenden Kreis), zunächst noch in höfischer Umgebung (ζ. B. die Abendgesellschaft der Fürstin Anna Amalia in Weimar), dann in den bürgerlichen z1 Salons. In der 2. Hälfte des 19. Jhs. werden die lesenden Autoren abgelöst durch berufsmäßige Deklamatoren (/ Deklamation). Seit dem Ende des 19. Jhs. treten Autoren wieder in zunehmendem Maße als Vortragende ihrer eigenen Texte auf, in /" Literarischen Gesellschaften, in den Hörfunkprogrammen seit den 1920er Jahren, in Buchhandlungen, neuerdings auch in öffentlichen Bibliotheken. Heute ist die Lesung — zur Unterscheidung von der liturgischen Lesung (lectio) bzw. der parlamentarischen Lesung von Gesetzen (reading) auch Dichter- oder Autorenlesung genannt — ein wichtiges Instrument der Marketingstrategien von Verlag und Buchhandel, ganz abgesehen von ihrer ökonomischen Bedeutung für die Autoren. SUBSKRIPTION: Durch Unterschrift (lat. subscriptio) bestätigte, feste Bestellung eines Werkes vor seinem Erscheinen, seit dem 17. Jh. üblich, im 18. und 19. Jh. auch als PRÄNUMERATION (Subskription mit Vorauszahlung). Die Ausschreibung einer Subskription dient dazu, das finanzielle Risiko der Herstellung, besonders bei kostbaren oder umfangreichen Werken, niedrig zu halten, indem einerseits ein bestimmter Absatz schon im voraus gesichert ist und sich andererseits so die Höhe der Auflage zuverlässi-

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ger kalkulieren läßt. Anreiz zur Subskription bietet der gegenüber dem späteren Ladenpreis reduzierte Subskriptionspreis; ein wesentliches Element war bis ins 19. Jh. auch der Abdruck der Subskribentenliste im Titelbogen oder im Anhang. WortG: Distribution, als Lehnwort seit dem 16. Jh. belegt (DWb 2 6, 1171 f. mit Erstbeleg von 1548), gehört zum terminologischen Inventar zahlreicher Disziplinen (z. B. Rechtswissenschaft, Nationalökonomie, Mathematik, Logik, Biologie, Psychologie) und meint stets — wie schon lat. distributio — .Verteilung, Aufteilung' oder auch E i n teilung'. Als literaturwissenschaftlicher Terminus ist Distribution in den 1970er Jahren im Zusammenhang mit dem Interesse an der Sozialgeschichte der Literatur aufgekommen. BegrG: Die Gesamtheit der Maßnahmen zur Vermittlung zwischen Herstellung und Ge- oder Verbrauch von Literatur ist erst Mitte des 20. Jhs. unter einen einheitlichen Begriff gefaßt worden. Der moderne Distributionsbegriff, von der buchhändlerischen Marketinglehre im Sinne der militärischen Logistik (.Organisation und richtiger Einsatz des Nachschubs') benutzt, ist in den 1960er Jahren in die wissenschaftliche Diskussion um Buch und Literatur eingeführt worden und hat sich auch im literaturwissenschaftlichen Gebrauch nicht verändert. SachG: Weiteres zur Geschichte einzelner Distributionsformen findet sich in den Artikeln, auf die hier verwiesen worden ist. Eine Gesamtdarstellung ist nicht möglich. ForschG: Systematische Buchmarktforschung wird erst seit Ende der 1950er Jahre betrieben (publiziert u. a. im .Börsenblatt des deutschen Buchhandels') und hat zu zahlreichen empirisch-sozialwissenschaftlichen Untersuchungen geführt, die Aufschluß über Lese- und Kaufverhalten geben. Die Ansätze der älteren /* Literatursoziologie werden seit den 70er Jahren in unterschiedliche Richtungen weiterentwickelt von der /" Sozialgeschichte der Literatur, in deren Organ internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur' (IASL) zahlreiche Abhandlungen vor allem

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Dithyrambe

zu historischen Distributionsformen erschienen sind, von der /" Rezeptionsforschung u n d v o n der

Empirischen

Litera-

turwissenschaft. Eine zusammenfassende Darstellung aller Distributionsformen auch nur für einzelne Epochen fehlt indessen noch. Lit: Marie-Josèphe Beaud u. a. (Hg.): Lecture et lecteurs au xix e siècle. Paris 1985. - Eva D. Bekker, Manfred Dehn: Literarisches Leben. Eine Bibliographie. Hamburg 1968. - Otto Dann (Hg.): Lesegesellschaften und bürgerliche Emanzipation. München 1981. - O. D.: Lesegesellschaften im 18. Jh. Ein Forschungsbericht. In: IASL 14.2 (1989), S. 45-53. - Petra E.Dorsch, Konrad H. Teckentrup (Hg.): Buch und Lesen international. Berichte und Analysen zum Buchmarkt und zur Buchmarktforschung. Gütersloh 1981. François Furet: Livre et société dans la France du 18e siècle. 2 Bde. Paris 1965/70. - Robert Galitz: Literarische Basisöffentlichkeit als politische Kraft. Lesegesellschaften des 17.-19. Jhs. Frankfurt u. a. 1986. - Maria-Rita Girardi, Lothar Carl Neffe u. a.: Buch und Leser in Deutschland. Gütersloh 1965. - Herbert G. Goepfert, Mark Lehmstedt: Literaturvermittlung. Wiesbaden 1992. - Sylke Kaufmann: Henriette von Pogwisch und ihre Französische Lesegesellschaft. Marburg 1994. - Helmuth Kiesel, Paul Münch: Gesellschaft und Literatur im 18. Jh. München 1977. - John Omrod: Lesegesellschaften und das ,Sozialsystem Literatur'. In: Zur Sozialgeschichte der deutschen Literatur im 19. Jh. Hg. v. Monika Dimpfl und Georg Jäger. Tübingen 1989, S. 1 - 2 4 . - Ekkehard Rudolph: Über die Darbietung epischer Prosa im Hörfunk. In: Ästhetische und rhetorische Kommunikation. Fs. Irmgard Weithase. Hg. v. Wilhelm L. Höffe. Düsseldorf 1973, S. 11-23. - Gerhard Schmidtchen: Lesekultur in Deutschland. In: Börsenblatt 24 (1968), S. 1977 - 2154. - Eduard Schönstedt: Der Buchverlag. Stuttgart 1991. - Konrad H. Teckentrup, Heinz Steinberg (Hg.): Bibliographie Buch und Lesen. Gütersloh 1979. Peter Schmidt f

Dithyrambe Antike Form der Chorlyrik, später auch Gattung der europäischen Lyrik. Expl: Die neuzeitliche Dithyrambe, in Deutschland fast ausschließlich in der Literatur des 18. Jhs. anzutreffen, ist nicht klar

zu unterscheiden von verwandten Formen der Lyrik. Mit der ,hohen' s Ode teilt sie die stilistische Kühnheit, mit der ? Hymne die metrische Freiheit. Beides sowie die meist gewahrte thematische Bindung an Bacchus/Dionysos verbindet sie mit dem antiken Dithyrambos, einer nur in Fragmenten überlieferten Form der Chorlyrik; anders als der antike Dithyrambos ist jedoch seine gelehrte Wiederaufnahme, die neuzeitliche Dithyrambe, nicht zur öffentlichen Aufführung durch einen Chor in kultischem Zusammenhang bestimmt. WortG: Griech. διθύραμβος [dithyrambos], Bezeichnung für eine Gattung besonders freier und kühner Chorlyrik, ist im 16. Jh. über das Lat. als Dithyrambus ins Dt. übernommen worden (DWb 2 6, 1177 f. mit Erstbeleg von 1534), insbesondere im 18. Jh. als der Dithyrambe und seit der Mitte des 19. Jhs. fast ausschließlich als die Dithyrambe gebräuchlich, neben Dithyrambus im philologischen Sprachgebrauch. Das Adjektiv dithyrambisch dient seit der zweiten Hälfte des 18. Jhs. zur Bezeichnung einer überschwenglichen, rauschhaften Rede. BegrG: Der Begriff, wie er sich in der frühneuzeitlichen Poetik gebildet hat, ist orientiert an indirekten Zeugnissen, da von den antiken Dithyramben nur wenige Fragmente überliefert sind. Begriffsbestimmend ist einerseits die Einordnung des Dithyrambus als eine der Grundformen der Dichtung bei Piaton (,Staat', 394 c) und Aristoteles (,Poetik', 1447 a 14) geworden, andererseits die Kritik von Aristophanes (,Wolken', 916ff.; .Frösche', 1006ff), Piaton (,Gesetze', 700b-d) und Aristoteles (,Poetik', 1454 a 30, 1461 b 30-32) an Spätformen des Dithyrambus sowie Horaz' Schilderung der Dithyramben Pindars (Oden 4, 2). Die daraus abgeleitete Vorstellung vom Dithyrambus als einer in Stil, Syntax und Wortbildung extremen, metrisch völlig ungebundenen Lyrik hat sich seit dem 16. Jh. (Scaliger, 49 f.) unverändert bis zum Ende des 18. Jhs. fortgeerbt (vgl. z.B. Zedier 7, 1079 f.; Sulzer 1, 699-701), ebenso die Rückführung der sprachlichen Merkmale auf bacchischen (dionysischen) Rausch bzw. höchste dichterische Begeisterung. Erst die

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Dokumentarliteratur philologische Forschung, die seit dem Ende des 19. Jhs. auch auf neue Textfunde (Bakchylides, Timotheos) zurückgreifen kann, hat den vagen Begriff des antiken Dithyrambus wesentlich präziser gefaßt, allerdings so, daß er auf die neuzeitlichen Dithyramben nicht mehr anwendbar ist. SachG: Das älteste Zeugnis aus der Mitte des 7. Jhs. (Archilochos, fr. 77 D.) zeigt den Dithyrambus als Wechselgesang zwischen Vorsänger und Chor im Übergang vom vorliterarischen Kultlied (zu Ehren des Dionysos) zur dichterischen Auftragsarbeit für die großen Feste der Dionysien und Panathenäen im 6. Jh., an denen der Dithyrambus in Konkurrenz zur Tragödie steht und sich zum identitätsstiftenden Chorlied der Polis Athen ohne direkte Bindung an den Dionysoskult entwickelt, bevor er im 4. Jh. zum Spielfeld musikalischer Innovationen wird und, auch als Lesetext verfaßt, seine kultische und soziale Funktion einbüßt. Die Wiederbelebung der Gattung seit dem 16. Jh. klammert von vornherein die kultischen, szenischen, chorischen und musikalischen Momente aus und läßt den neuzeitlichen Dithyrambus zur höchsten, d. h. die meisten poetischen Lizenzen beanspruchenden Form der monologischen Lyrik werden. In Frankreich sind es vor allem die dithyrambischen Anklänge in den Pindarischen Oden Pierre de Ronsards (,Les quatre premiers livres des odes', 1550), die die Pflege der Gattung von Jean Antoine de Bai'f ^Dithyrambes et la pompe du Bouc d'Estienne Jodelle', 1553) bis Jacques Delille (^Dithyrambe sur l'immortalité de l'âme', 1802) begründen. Hauptvertreter des italienischen Dithyrambus ist, nach Vorgängern seit dem Anfang des 17. Jhs., Francesco Redi (,Bacco in Toscana. Ditirambo', 1685). In Deutschland setzt ein umfassender Erneuerungsversuch mit bacchantischen, aber auch enkomiastischen und heroischen Sujets bei J. G. Willamov ein (.Dithyramben', 1763). Über Herders Kritik an Willamov (.Fragmente über die Neuere deutsche Litteratur', 1767) vermittelt, wird die Gattung im Sturm und Drang (u. a. Goethe, .Wandrers Sturmlied', 1772/74, und ,Harzreise im Winter', 1777; Maler Müller, .Dithyrambe', 1775) und am Ende des 18. Jhs. mehrmals

wieder aufgegriffen (Voß, .Dithyrambe', 1794; Wackenroder, .Die Zeit. Dithyrambe', 1796; Schiller, .Dithyrambe', 1796), mit A. Kopisch als Nachzügler (u. a. ,An Bakchos', ,An Apollon und die Kamönen'). Unabhängig von dieser Tradition sind Nietzsches ,Dionysos-Dithyramben' (1888) und Y. Gölls drei Gedichtbände von 1918 (,Dithyramben', ,Der Torso. Stanzen und Dithyramben', .Der neue Orpheus. Eine Dithyrambe'). ForschG: Die Geschichte des antiken Dithyrambus ist vor allem durch die Arbeiten von Pickard-Cambridge, Leonhardt und Zimmermann gut erforscht; eine Darstellung zur deutschsprachigen Dithyrambe fehlt. Lit: Wolfram Groddeck: Friedrich Nietzsches .Dionysos-Dithyramben'. 2 Bde. Berlin, N e w York 1991. - Wolfgang Kayser: Friedrich von Schiller, Dithyrambe. In: Deutsche Lyrik. Hg. v. Benno von Wiese. Bd. 1. Düsseldorf 1964, S. 3 3 6 - 3 4 6 . - Jürgen Leonhardt: Phalloslied und Dithyrambos. Heidelberg 1991. - Hans Georg Müller: Odisches und Dithyrambisches in Klopstocks lyrischem Werk. Diss. Tübingen 1961 (masch.). - Arthur Pickard-Cambridge: Dithyramb, tragedy and comedy. Oxford 2 1966. - Rudolf Schreck: Johann Gottlieb Willamov 1 7 3 6 - 1 7 7 7 . Heidelberg 1913. - Martin L. West: Greek lyric poetry. Oxford 1993. - Bernhard Zimmermann: Dithyrambos. Geschichte einer Gattung. Göttingen 1992.

Dirk

Divination

Kemper

Verstehen

Docere ? Belehrung

Dokumentarliteratur Eine mit bereits vorgefundenen, authentischen Materialien operierende Literatur. Expl: Der Begriff meint - ebenso wie der verwandte Terminus Dokumentarismus — literarische Texte, die aus nichtliterarischen Vorlagen und Quellen komponiert sind und diese ausdrücklich als unbearbeitete Dokumente präsentieren. Der SEMI-DOKUMENTA-

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Dokumentarliteratur

konzediert dabei, daß das Rohmaterial mit fiktionalen Passagen durchsetzt wird. Allerdings ist auch Dokumentarliteratur immer vom arrangierenden Eingriff des Autors geprägt und insofern nie das, was sie letzten Endes vom Anspruch her sein möchte: unmittelbare, unverfälschte, unbearbeitete und somit authentische und .wahre' Wiedergabe von Realität. Der emphatische Authentizitäts- und Wahrheitsanspruch der Dokumentarliteratur berücksichtigt nicht, daß zum einen auch schriftliche Dokumente nicht einfach ,die Wirklichkeit' sind und daß zum anderen der Autor sich zwar weitgehend zurücknehmen kann, aber auf jeden Fall Auswahl und Anordnung der Dokumente vornimmt und daher mit dem Vorwurf möglicher Manipulation, zumindest aber mit dem Einwand uneingestanden vertretener Tendenz rechnen muß. ,Dokumentarliteratur' und ,Dokumentarismus' umschließen als Sammelbegriffe alle Gattungen und Genres: den DokumentarRoman wie die Reportage und die Protokoll-Literatur, das ? Dokumentär theater, das dokumentarische /" Fernsehspiel, den Dokumentarfilm, das 0(riginal)-Ton-Hörspiel, schließlich die dokumentarische Lyrik. RiSMUS

WortG: Das Wort Dokument geht zurück auf lat. documentum ,das zur Belehrung über bzw. zur Erhellung von Sachverhalten Geeignete' (zu lat. docere ,lehren, unterrichten, nachweisen'). Es wird im 16. Jh. in der mlat. Bedeutung beweisende Urkunde, amtliches Schriftstück' ins Deutsche entlehnt. Das zugehörige Verb dokumentieren ,durch Dokumente beweisen' ist seit 1700, das Adjektiv dokumentarisch ,durch Dokumente beweisbar' seit dem 19. Jh. belegt (EWbD, 235). Das Kompositum Dokumentarliteratur (vorher schon dokumentarische Literatur) ist erst seit den 70er Jahren des 20. Jhs. üblich. BegrG: In den 1920er Jahren provozierte die ästhetische Praxis von Reportage, Montage und neusachlicher Tatsachen- und Faktenpräferenz heftige Debatten über Reichweite und politische Implikate derartiger Gestaltungsprinzipien. Terminologisch

bewegten sich die Diskussionen in unterschiedlichen semantischen Feldern. Im Zusammenhang mit seinem Realismus-Begriff sprach Brecht davon, „daß weniger denn je eine einfache , Wiedergabe der Realität' etwas über die Realität aussagt" (Brecht, 161). Benjamin kontrastierte „Kunstwerk" mit „Dokument" (Benjamin, 107 f.). Lukács stellte im Zusammenhang mit dem zeitgenössischen proletarisch-revolutionären „Tatsachenroman" programmatisch die Alternative „Reportage oder Gestaltung" auf. Während dann der f Sozialistische Realismus und in seinem Gefolge die /" DDRLiteratur die Dokumentarliteratur und ihre Verfahrensweisen als ,ungestaltet' verwarfen, erfuhr die Dokumentarliteratur — und mit ihr auch der Terminus — in der westdeutschen Literatur während der 60er und 70er Jahre einen augenfälligen Aufschwung. Bertolt Brecht: Der Dreigroschenprozeß [1931]. In: B. B.: Gesammelte Werke in 20 Bänden. Bd. 18. Frankfurt 1967. - Walter Benjamin: Einbahnstraße. In: W. B.: Gesammelte Schriften. Bd. IV/1. Frankfurt 1991. - Georg Lukács: Reportage oder Gestaltung. In: D i e Linkskurve 4 (1932), Nr. 7, S. 2 3 - 3 0 und Nr. 8, S. 2 6 - 3 1 .

SachG: Das dokumentarische Verfahren ist älter als der Name und begegnet in Vorformen schon seit dem 18. Jh. (Goethes Verarbeitung authentischer Quellen im ,Werther' 1774, Büchners Verarbeitung von Originalzitaten in ,Dan tons Tod' 1835), ohne daß hier allerdings die Texte offen als dokumentarisch deklariert würden. Von einer das Genre konstituierenden Dokumentarliteratur ist bündig erst seit den 1920er Jahren zu sprechen, wobei der sowjetischen und der deutschen Literaturentwicklung eine exponierte Rolle zukommt. Die noch im Kontext der Avantgarde operierende frühe sowjetische Revolutionsliteratur bevorzugte zur Darstellung der neuen Wirklichkeiten nichtfiktionale Formen wie die Faktographie, die in der Prosa beispielsweise Sergej Tretjakow mit seinen ,Bio-Interviews' erprobte. Diese dem avantgardistischen Prinzip der Montage verpflichtete Kunstform wurde auch in Deutschland rezipiert. Zudem waren es die Neue Sachlichkeit mit ihrer „Präzisions-

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Dokumentartheater ästhetik" (Reger, 20) und die / Arbeiterliteratur, die das Terrain bereiteten für ? Reportagen (Egon Erwin Kisch), für Arbeiterkorrespondenzen und Reportageromane (Willi Bredel, Ernst Ottwalt, Theodor Plievier), für das Agitprop-Theater mit seinen dokumentarisch angelegten nichtaristotelischen Spielweisen sowie für das politische Theater (Erwin Piscator). Bis in die Gegenwart aktuell blieb das /* Dokumentartheater, entsprechende Entwicklungen in der Prosa zielten auf eine politisch engagierte Literatur, so in Hans Magnus Enzensbergers Montage über den Spanischen Bürgerkrieg (,Der kurze Sommer der Anarchie', 1972). Das dokumentarische Verfahren spielte eine zentrale Rolle bei den Schreibversuchen des Werkkreises ,Literatur der Arbeitswelt', bei den Reportagen von Günther Wallraff und bei den Bemühungen, den .kleinen Leuten' durch Interviews, Protokolle und Tonbandaufzeichnungen eine Stimme und zugleich Gehör zu verleihen (,Protokoll-Literatur', etwa Erika Runges ,Bottroper Protokolle', 1968). Während die Konjunktur der Dokumentarliteratur seit den späteren 70er Jahren einer ,Neuen Innerlichkeit' wich, scheint in allerjüngster Zeit eine „Wiederkehr des Dokumentarismus in der westdeutschen Literatur" (Uecker) zu beobachten zu sein, wie nicht zuletzt der Erfolg eines so umfänglichen, aus Aufzeichnungen von Laien kompilierten Werkes wie Walter Kempowskis .Echolot' (1993) zeigt. Die ungebrochene Macht des Authentischen als des vermeintlich Wahren im Kontext des Sensationellen belegt auf ganz anderem Feld, dem der Popular- und Trivialkultur des Fernsehens, die wachsende Attraktivität der,Reality Shows' mit ihren teils dokumentarisch verbürgten, teils nachgestellten Bildern. Walter Enkenbach [d. i. Erik Reger]: Die Erneuerung des Menschen durch den technischen Geist [1928]. In: Der Scheinwerfer. Hg. v. Erhard Schütz und Jochen Vogt. Essen 1986, S. 19-22.

ForschG: Erst die Impulse einer ,kritischen' Germanistik seit Ende der 1960er Jahre sowie die rapide anwachsende Zahl markanter Beispiele und prominenter Autoren von Dokumentarliteratur ließen diesen Gegenstandsbereich zum literaturwissenschaft-

lichen Thema avancieren. Neben typologischen Entwürfen zumal zum Dokumentartheater und der Aufarbeitung historischer Traditionen spielte dabei die Frage nach einer Ästhetik, nach Möglichkeiten und Grenzen von Dokumentarliteratur „als Produktivkraft" (Hübner) für eine Gesellschaftsveränderung, eine zentrale Rolle. So polemisierte Katrin Pallowski 1971 gegen die Fürsprecher der „dokumentarischen Mode", weil sie zumal in der Protokoll-Literatur eher eine Reproduktion unpolitischen Bewußtseins und die ungewollte Bloßstellung ohnmächtigen Sprechens denn ein emanzipatorisches Potential sah. Mit dem abnehmenden Interesse an einer explizit politischen Literatur ist auch die Beschäftigung mit Dokumentarliteratur in den Hintergrund gerückt. Lit: Heinz Ludwig Arnold, Stephan Reinhardt (Hg.): Dokumentarliteratur. München 1973. Brian Barton: Das Dokumentartheater. Stuttgart 1987. - Klaus L. Berghahn: Operative Ästhetik: Zur Theorie der dokumentarischen Literatur. In: Deutsche Literatur in der Bundesrepublik seit 1965. Hg. v. Paul M. Lützeler und Egon Schwarz. Königstein 1980, S. 270-281. - Cornelia Bolesch (Hg.): Dokumentarisches Fernsehen. München 1990. - Sven Hanuschek: „Ich nenne das Wahrheitsfindung". Heinar Kipphardts Dramen und ein Konzept des Dokumentartheaters als Historiographie. Bielefeld 1993. - Raoul Hübner: Dokumentarliteratur als Produktivkraft. In: Literatur als Praxis? Hg. v. R. H. und Erhard Schütz. Opladen 1976, S. 25-43. - Hyeong Shik Kim: Peter Weiss' ,Viet Nam Diskurs'. Frankfurt, Bern 1992. - Nikolaus Miller: Prolegomena zu einer Poetik der Dokumentarliteratur. München 1982. - Katrin Pallowski: Die dokumentarische Mode. In: Literaturwissenschaft und Sozialwissenschaften. Stuttgart 1971, S. 235-314. - Ingeborg Schmitz: Dokumentartheater bei Peter Weiss. Frankfurt, Bern 1981. - Matthias Uecker: Aus dem wirklichen Leben... Die Wiederkehr des Dokumentarismus in der westdeutschen Literatur. In: WB 39 (1993), S. 266-282. Walter

Fähnders

Dokumentartheater Dramatische Darstellung historischer Ereignisse und Personen mit demonstrativem Authentizitätsanspruch.

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Dokumentartheater

Expl: Theater, das sich durch erkennbare Referenz auf Faktisches empirischem Wahrheitsanspruch unterstellt. Bei Auswahl, Anordnung und Transformation des historischen Quellenmaterials in dramatische Spielabläufe geht es in der Regel um die wirkungsvolle Präsentation geschichtlicher Sachverhalte mit dem Ziel politischer Aufklärung über Ereignisse und Zusammenhänge, die dem öffentlichen Bewußtsein weitgehend entzogen waren. Diese werden im Unterschied zum Geschichtsdrama nicht zum Ausgangspunkt einer dramatischen Gestaltung, die die Verbindlichkeit des Tatsächlichen aufgrund einer spezifischen Geschichtsdeutung zugunsten des Typischen aufhebt, sondern zum Zielpunkt einer szenischen Referenz, die durch die Präsentation quellenmäßig verbürgten Stoffs zeigen will, wie es ,wirklich war'. Nicht erst das dokumentarische Theater, sondern ζ. B. schon Goethes ,Clavigo' und Büchners ,Dantons Tod' verwenden historisch verbürgtes Sprachmaterial zum Aufbau ihrer fiktionalen Welt. Das dokumentarische Theater steht jedoch nur auf den ersten Blick in dieser Tradition — genau genommen bricht es mit ihr, indem es dem literarischen Autonomieanspruch entsagt. Denn es geht ihm nicht um die bruchlose Integration, sondern um die ausgestellte Präsentation von empirischem Quellenmaterial. Dies macht es auf spezifische Weise kenntlich: durch technische Verfahren der belegenden Projektion, dramaturgische der demonstrierten Zitation, historische der quellenbezogenen Dokumentation, schauspielerische der gestischen Präsentation und literarische der verfremdenden Montage. Hierdurch wird signalisiert, daß das Dokumentartheater seine Geltung an das Kriterium der Tatsachenwahrheit bindet. Der Autor unterwirft sich einem historischen Wahrheitsanspruch, indem er seine Stücke „in der Haltung des Belegs" (Kipphardt 1987, 224) schreibt und so die Verpflichtung eingeht, die Richtigkeit des Dargestellten im Rekurs auf empirische Tatsächlichkeit und nicht im Hinblick auf poetische Angemessenheit zu rechtfertigen. Kipphardt (1964, 7): „Wenn die Wahrheit von einer

Wirkung bedroht schien, opferte ich eher die Wirkung." Heinar Kipphardt: In der Sache J. Robert Oppenheimer. Reinbek 1987. - H. K.: Wahrheit wichtiger als Wirkung. In: Die Welt, 11. 11. 1964.

WortG: Zurückgehend auf lat. documentum ,das zur Belehrung über bzw. zur Erhellung von Sachverhalten Geeignete' (zu lat. dùcere ,lehren, unterrichten, nachweisen'). Der Ausdruck wird im 16. Jh. in der mlat. Bedeutung beweisende Urkunde, amtliches Schriftstück' ins Deutsche entlehnt. Das zugehörige Verb dokumentieren ,durch Dokumente beweisen' ist seit 1700, das Adjektiv dokumentarisch ,durch Dokumente beweisbar' seit dem 19. Jh. belegt. Der Ausdruck Dokumentation tritt in der Bedeutung .Beweisführung mit Dokumenten, Dokumentensammlung' vereinzelt schon im 17. Jh. auf und wird im 20. Jh. in der Bedeutung .Sammlung von Literaturnachweisen' gebräuchlich (EWbD, 235). BegrG: Als programmatische Gattungsbezeichnung verwendet Piscator den Terminus dokumentarisches Drama für seine Revue .Trotz Alledem!' (1925), in der „zum erstenmal das politische Dokument textlich und szenisch die alleinige Grundlage bildet" (Piscator, 63). Bei Peter Weiss heißt es dann: „Das dokumentarische Theater ist ein Theater der Berichterstattung. Protokolle, Akten, Briefe, statistische Tabellen, Börsenmeldungen, Abschlußberichte von Bankunternehmen und Industriegesellschaften, Regierungserklärungen, Ansprachen, Interviews, Äußerungen bekannter Persönlichkeiten, Zeitungs- und Rundfunkreportagen, Fotos, Journalfilme und andere Zeugnisse der Gegenwart bilden die Grundlage der Aufführung. Das dokumentarische Theater enthält sich jeder Erfindung, es übernimmt authentisches Material und gibt dies, im Inhalt unverändert, in der Form bearbeitet, von der Bühne aus wieder" (Weiss, 91 f.). Neben dem Dokumentartheater im engeren Sinn, das sich der Form theatralisierter Collagen nähert, werden zunehmend auch solche Theaterstücke, die sich traditioneller Spielformen mit erfundenen Dialogen, Figuren und Handlungssequenzen bedienen

Dokumentartheater (ζ. Β. Hochhuth, ,Der Stellvertreter'), dazugezählt, wenn sie den Anspruch auf faktische Richtigkeit des Dargestellten erheben und von daher ihre Aussagekraft beziehen. Im weiteren Umfeld sind verwandte Begriffe wie .szenischer Bericht', ,Dokumentarspiel', ,szenische Dokumentation', Neologismen wie ,faction', ,Faktographie' verwendet worden, um literarische Formen zu bezeichnen, die sich im Spannungsfeld von authentischem Material und formaler Gestaltung (Weiss) den Obligationen behauptender Rede' (Gabriel) unterwerfen. Erwin Piscator: Schriften 1. Das politische Theater [1929], Repr. Berlin/DDR 1968. - Peter Weiss: Notizen zum dokumentarischen Theater. In: P. W.: Rapporte 2. Frankfurt 1971, S. 9 1 - 1 0 4 .

SachG: Eine breite Bewegung dokumentarisch ausgerichteter Literatur entfaltet sich in den 1920er Jahren zunächst in der UdSSR und in der Weimarer Republik, in den 30er Jahren dann in den USA. In Rußland wird von der Neuen Linken Kulturfront (Novyj LEF) eine auf Tatsachentreue basierende literarische Revolution gefordert und im Manifest ,Literatura fakta' zum Programm erhoben. Neben anderen literarischen Formen einer nicht-fiktionalen Literatur, die die breiten Massen erreichen soll, entwickeln die ,Blauen Blusen' (5000 Agitprop-Gruppen, die als ,lebende Zeitungen' das Land bereisen, um sozialistisches Bewußtsein zu bilden) Formen theatralischen Spiels, in dem Dokumente der sozialen und politischen Wirklichkeit szenisch präsentiert werden. Im deutschsprachigen Raum ist es zunächst Karl Kraus, der in seiner satirischen Tragödie ,Die letzten Tage der Menschheit' (Akt-Ausgabe 1918/19, Buchausgabe 1922) in mehr als 200 Szenen die unheilvolle Wirklichkeit des 1. Weltkrieges mit Hilfe einer ausgeklügelten Leitmotivtechnik als grandiose Sprachcollage inszeniert, um so den Kontrast zwischen Phrase und Realität kenntlich zu machen. „Die unwahrscheinlichsten Taten, die hier gemeldet werden, sind wirklich geschehen; ich habe gemalt, was sie nur taten. Die unwahrscheinlichsten Gespräche, die hier geführt werden, sind wörtlich gesprochen worden; die grellsten

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Erfindungen sind Zitate" (Kraus, 9). Neben Friedrich Wolf, Erich Mühsam u. a. ist es vor allem Erwin Piscator, der in den 20er Jahren soziale und geschichtliche Dokumente zum Zweck politischer Agitation mit hohem technischen Aufwand zu einem Kaleidoskop der zeitgenössischen Realität montiert. Im Zusammenhang mit dem New Deal entwickelt sich in den USA die Form des ,Living Newspaper', welche Zeitungsnachrichten zu handlungsrelevanten Szenarien arrangiert, um so für den Zuschauer abstrakte Informationen in konkrete Anschauung zu überführen — mit dem Ziel, ihn zu politisieren. In den 60er Jahren erlebt das Dokumentartheater als Reaktion auf die damals herrschende Skepsis gegen Fiktivtexte eine Renaissance in den USA, England, Rußland und der Bundesrepublik Deutschland. Stücke von Kipphardt (,In der Sache J. Robert Oppenheimer', 1964; ,Bruder Eichmann', 1983), Weiss (,Die Ermittlung', 1965; ,Gesang vom lusitanischen Popanz', 1967; ,Viet Nam Diskurs', 1968), Enzensberger (,Das Verhör von Habana', 1970), Hochhuth (,Der Stellvertreter', 1963; Soldaten', 1967), Dorst (,Toller', 1968), Schneider (,Prozeß in Nürnberg', 1968), Forte (, Martin Luther & Thomas Münzer oder die Einführung der Buchhaltung', 1970) markieren verschiedene Formen und unterschiedliche thematische Ausrichtungen eines Genres, das im Spannungsfeld zwischen Faktizität und Fiktionalität auf der Tatsächlichkeit des Dargestellten besteht. Die Unterschiede bewegen sich dabei zwischen der rhetorisch funktionalisierten Aufarbeitung zeitgeschichtlichen Materials für die Agitation in Form eines szenischen Arrangements (Weiss, ,Gesang vom lusitanischen Popanz'; ,Viet Nam Diskurs') und einer sich dem Geschichtsdrama nähernden klassizistischen Dramaturgie eines moralisierenden Pathos (Hochhuth, ,Der Stellvertreter'). Karl Kraus: Schriften. Hg. v. Christian Wagenknecht. Bd. 10. Frankfurt 1986.

ForschG: Bis in die 70er Jahre des 20. Jhs. wird das Dokumentartheater nur sporadisch einer wissenschaftlichen Analyse un-

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Dominanz

terzogen. In erster Linie geht es um Bestandsaufnahme: Literarhistorische Untersuchungen zur Avantgardebewegung sehen das Dokumentartheater im Zusammenhang mit der Tendenz, die Kluft von Kunst und Leben zu überwinden. Darstellungen des politischen Theaters thematisieren es als spezifische Agitationsform (Paech, Kändler), resümierende Untersuchungen präsentieren Ansammlungen von Einzelinterpretationen (Blumer), geben einen Überblick über Geschichte, Gegenstandsbereiche und Formen des Dokumentartheaters (Barton) und leuchten in methodisch reflektierter Weise das Spannungsfeld von Realität und Fiktion aus (Hilzinger). Differenziert wird nach: (1) darstellungsästhetischen Kriterien (Carl: (a) „szenisch arrangierte Prozeßakten", (b) „historisch-biographische Stücke", (c) „Chroniken", (d) „Schauspiele mit freier Benutzung dokumentarischer Quellen"); (2) wirkungsästhetischen Bestimmungen (Bohnen: „Agitation als ästhetische Integration"; Berghahn 1980: „operative Ästhetik") und (3) produktionsästhetischen Verfahren (intentionale Selektion, demonstrative Kombination, szenische Präsentation sprachlicher Quellen; Hage).

Sprachkunst 5 (1974), S. 57-75. - Rolf-Peter Carl: Dokumentarisches Theater. In: Die deutsche Literatur der Gegenwart. Hg. v. Manfred Durzak. Stuttgart 1971, S. 99-127. - Gottfried Gabriel: Fiktion und Wahrheit. Stuttgart-Bad Cannstatt 1975. - Volker Hage: Collagen in der deutschen Literatur. Frankfurt, Bern 1984. Klaus H. Hilzinger: Die Dramaturgie des dokumentarischen Theaters. Tübingen 1976. — Klaus Kandier: Drama und Klassenkampf. Berlin, Weimar 1970. - Nikolaus Miller: Prolegomena zu einer Poetik der Dokumentarliteratur. München 1982. - Joachim Paech: Das Theater der russischen Revolution. Kronberg 1974. — Günter Säße: Faktizität und Fiktionalität. Literaturtheoretische Überlegungen am Beispiel des Dokumentartheaters. In: WW 36 (1986), S. 15-26. G. S.: Das Spiel mit der Rampe. Zum Verhältnis von Bühnenwirklichkeit und Zuschauerwirklichkeit im Theater der Moderne. In: DVjs 61 (1987), S. 733-754. - Bernd W. Seiler: Exaktheit als ästhetische Kategorie. Zur Rezeption des historischen Dramas der Gegenwart. In: Poetica 5 (1972), S. 388-433.

Fiktionstheoretisch wird das Dokumentartheater aufgefächert in Werke, die (1) ihre Aussagekraft durch den referentiellen Hinweis auf Tatsächliches beziehen, die (2) allgemeine Einsichten am historischen Fall illustrieren, die (3) die Hinweisfunktion auf ein faktisches Geschehen transformieren in die Verweisfunktion auf etwas Allgemeines, das im Besonderen der referierten Geschehnisse zur Anschauung k o m m t (Hilzinger, Säße 1986).

Die funktionale und/oder werthafte Herrschaft einer Erscheinung über andere in einem objektsprachlichen oder kulturellen Kontext bzw. in einem metasprachlichen Erklärungszusammenhang.

Lit: Brian Barton: Das Dokumentartheater. Stuttgart 1987. - Klaus L. Berghahn: Dokumentarische Literatur. In: Neues Hb. der Literaturwissenschaft. Bd. 22. Hg. v. Jost Hermand. Wiesbaden 1979, S. 195-245. - K. L. B.: Operative Ästhetik. Zur Theorie der dokumentarischen Literatur. In: Deutsche Literatur in der Bundesrepublik seit 1965. Hg. v. Paul M. Lützeler und Egon Schwarz. Königstein 1980, S. 270-281. Arnold Blumer: Das dokumentarische Theater der 60er Jahre in der Bundesrepublik Deutschland. Meisenheim 1977. - Klaus Bohnen: Agitation als ästhetische Integration. Bemerkungen zur Theorie des modernen Dokumentartheaters. In:

Günter Säße

Dominanz

£xpl: In der Textwissenschaft bezeichnet Dominanz zunächst die Eigenschaft eines Elements oder einer Struktur, anderen Elementen oder Strukturen übergeordnet zu sein. Im Rahmen der PhrasenstrukturGrammatik ist eine Konstituente gegenüber einer anderen dominant, wenn die letztere als Teilkonstituente in die erstere eingeht. Dominanz-Relationen lassen sich daher auch als Konstituenten-Relationen definieren. In einem vertikal gerichteten Konstituenten-Diagramm dominiert der Knoten ,Satz' den Knoten ,Nominalphrase' und dieser wiederum die Konstituente ,Nomen' direkt, während der Satz die Konstituente ,Nomen' nur indirekt dominiert. Die vorherrschende Erscheinung heißt Dominante, die Beziehung zur dominierten Erscheinung Dominanzrelation.

Dominanz In der (strukturalistischen) Literaturwissenschaft Jakobsons bildet die Dominante die ,Leitkomponente' (focusing component): Sie steuert, beeinflußt und bildet die anderen Bestandteile des Werks oder einer Kunst um und gewährleistet so die strukturelle Einheit des Werks bzw. dieser Kunst auch gegen überlieferte Hierarchien. WortG: Wie Dominante geht auch der Ausdruck Dominanz als Substantivbildung vom Adjektiv dominant zurück auf das Partizip Präsens dominans des lat. Verbs dominari, ,(be)herrschen'. In der Biologie des 19. Jhs. bezeichnet dominant die Eigenschaft von Erbfaktoren, sich gegen schwächere ^rezessive') durchzusetzen. Von Christiansen 1908 in die Kunstphilosophie übertragen, wird der Ausdruck Dominante 1922 durch Ëjchenbaum in den russischen / Formalismus übernommen. Von hier trägt ihn Jakobson Ende der 20er Jahre in den tschechischen ? Strukturalismus und dann auch in die amerikanische Linguistik. Dort wird er seit den 60er Jahren in der Syntaxtheorie, später auch in Textlinguistik und / Pragmatik heimisch. Todorov und Striedter haben ihn zur selben Zeit in die französische bzw. deutsche Literaturwissenschaft vermittelt. Noam Chomsky: Aspekte der Syntax. Frankfurt 1969, hier S. 114. - Broder Christiansen: Philosophie der Kunst. Hanau 1908. — Boris Ejchenbaum: Melodika liriceskogo sticha [Melodik des russischen Verses]. Petersburg 1922, hier S. 9. John Lyons: Einführung in die moderne Linguistik. München 2 1972, hier S. 263, 270. - Jurij Striedter: K. H. Mâcha als Dichter der europäischen Romantik. In: Zs. für slavische Philologie 31(1963), S. 4 2 - 9 0 . - Tzvetan Todorov: Poetik [1968]. In: Einführung in den Strukturalismus. Hg. v. François Wahl. Frankfurt 1973, S. 1 0 5 179, hier 131.

BegrG: Die axiologische Kategorie der Dominanz ist der biologischen Erblehre Darwins entlehnt; die gleichlautende Benennung bestimmter tonaler Verhältnisse in der Musik spielte dabei keine Rolle. Im Horizont der formalistischen Textsyntagmatik definiert Tomasevskij (150) die Dominante als in einer Gattung herrschendes /" Verfahren (dominirujuscij priem) eher statisch und textimmanent, während Tynjanov (28) sie im Begriff vorherrschender konstruktiver

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Faktor' dynamisch und textüberschreitend faßt. Der Strukturalist Jakobson (751 f.) bestimmt die Dominante synchronisch als strukturale ,Leitkomponente', welche die Komponenten und Merkmale werthaft ordnet und im ,System der Werte' nach ihrer Relevanz für die Bildung der ,Struktur' unterscheidet. Schon bei Ëjchenbaum und vor allem in den Thesen Tynjanovs und Jakobsons erlangt die Dominante, hier mit Blick auf den Wechsel im ,System der Systeme' (wie in der Hirnpsychologie A. A. Uchtomskijs), diachrone Erklärungskraft. Zur kulturtheoretischen Kategorie wird die Dominanz im tschechischen Strukturalismus Mukarovskys, wenn die Spezifik eines kulturellen Aktes davon abhängig gemacht wird, welcher Wert in der Hierarchie kultureller Werte jeweils vorherrscht bzw. die bestehende Norm bricht. Für die Textlinguistik definieren de Beaugrande/Dressler (169, 174f., 181, 190f.) objektsprachliche pragmatische „Dominanzen" der „Kontrolle" und „Lenkung" der Kommunikationssituation, die soziale Dominanz von Kommunikationsteilnehmern sowie Textsorten, die sich als dominant deskriptiv, narrativ oder argumentativ erweisen. Die linguistische Pragmatik hat mit Blick auf die Syntax „Dominanzhierarchien" (Givón, Abraham) aufgestellt, die konkrete Kategorien nach fallender Faßbarkeit in grammatische Regeln stufen und so auf metasprachlicher Ebene nach der pragmatisch-syntaktischen Regelfähigkeit sprachlicher Erscheinungen hierarchisieren. Anders als der strukturalistisch-semiotische Begriff, anders auch als der engere linguistische Begriff komponentieller Dominanz, dem in der Dependenzgrammatik der Begriff der Determination entspricht, zielt Bachtins Begriff der künstlerischen Dominante' (chudozestvennaja dominanta) statt auf das Sprachmaterial auf die Sinnbildung (Bachtin, 84 f.; Holquist, 154; / Dialogizität). Wie der Dominanzbegriff der Formalisten und Strukturellsten steht er in einem noch ungeklärten Verhältnis zu A. A. Uchtomskijs hirnphysiologischem Begriff der Dominanz, d. h. der dominanten, aus einem Inventar möglicher Antworten gewählten aktuellen Reaktion auf einen Reiz.

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Dorfgeschichte

Werner Abraham: Pragmatik. Forschungsüberblick, Begriffsbildung. In: Kontroversen, alte und neue. Akten des VII. Internationalen Germanistenkongresses. Bd. 3. Tübingen 1986, S. 2 7 0 - 2 8 6 . - Michail Bach tin: Problemy poétiki Dostoevskogo. Moskau 1972 [dt.: Probleme der Poetik Dostoevskijs. Frankfurt 1985]. - Robert de Beaugrande, Wolfgang Dressler: Einführung in die Textlinguistik. Tübingen 1981. Talmy Givón: Syntax. Amsterdam u. a. 1984. Michael Holquist: Dialogism. Bakhtin and his world. London 1990. Jan Mukarovsky: Estetická funkce, norma i hodnota jako sociální fakty. Prag 1936 [dt. in: J. M.: Kapitel aus der Ästhetik. Frankfurt 1970, S. 7 - 1 1 2 ] , - Boris Tomasevskij: Teorija literatury. Leningrad 1925 [dt.: Theorie der Literatur. Wiesbaden 1985]. - Jurij Tynjanov: Problemy stichotvornogo jazyka [1924], Moskau 1965 [dt.: Das Problem der Verssprache. München 1977]. - J. T., Roman Jakobson: Problemy izucenija literatury i jazyka. In: Novyj Lef, Nr. 12, 1928, S. 36 f. [dt. in: Texte der russischen Formalisten. Bd. 2. München 1972, S. 3 8 8 - 3 9 1 ] , - Felix Vodicka: Die Struktur der literarischen Entwicklung. München 1976.

SachG: Die Sachgeschichte der Dominanz ist die Geschichte axiologischer Hierarchien in sprachlichen und kulturellen Erscheinungen. Jakobson nennt als Dominante im Wechselverhältnis der Künste für die Renaissance die bildende Kunst, für die Romantik die Musik und für den Realismus die Literatur. Die Dominanz wechselt im Bezug der Literatur zu ihren Nachbargebieten Journalismus, Wissenschaft, Religion und Folklore ebenso wie innerhalb der Literatur im Verhältnis der Gattungen zwischen Vers, Prosa und Drama sowie in der Hierarchie der sprachlichen Funktionen. Schließlich läßt sich im literarischen Feld der Wandel zwischen der vorherrschenden Einstellung auf Öffentlichkeit oder Privatheit unterscheiden, im Bereich der Poetik auf Norm oder Abweichung und im Gebiet der Ästhetik auf Imagination (Wortkunst) oder Fiktion (Perspektivkunst).

ker und Dubravka Ugresic. Bd. 2. Zagreb 1984, S. 3 9 - 4 8 [dt. Graz 1989]. - Hans J. Heringer: Formale Logik und Grammatik. Tübingen 1972. — Roman Jakobson: Die Dominante [1935]. In: R. J.: Poetik. Frankfurt M993, S. 2 1 2 - 2 1 9 . Theo Vennemann: Konstituenz und Dependenz in einigen neueren Grammatiktheorien. In: Sprachwissenschaft 1 (1977), S. 2 5 9 - 3 0 1 .

Rainer

Grübet

Doppelter Cursus ? Artusepik Doppelweg / Artusepik

Dorfgeschichte Kleinere Erzählung über das Leben im Dorf. Expl: Epische Prosagattung mittlerer Länge (im Unterschied zu ^ Kalendergeschichte und Bauernroman), deren erzählter Raum eine (reale) überschaubare, abgegrenzte Einheit in der Provinz (im Gegensatz zur Stadt) ist. Ihr Stoff umfaßt (1) das bäuerliche bzw. kleinbürgerliche Leben, (2) den zugehörigen Herrschaftssitz, (3) Vorgänge im industriell geprägten Fabrikdorf. Kennzeichnend sind die einfache, überschaubare Erzählstruktur und eine dem jeweiligen regionalen Soziolekt angenäherte Sprache.

ForschG: Ein umfassender Forschungsbericht steht noch aus. Die einschlägige Begriffsgeschichte vom russischen Formalismus zum frühen Strukturalismus und zur Filmtheorie Èjzensteijns umreißt HansenLöve.

WortG: In den frühesten Belegen wird das Wort Dorfgeschichte im Sinne von „sprechen über alltägliche, nicht besonders erregende Ereignisse im D o r f ' (Wezel, 89) verwendet, Johann H. Pestalozzi benennt damit die „Geschichte eines Dorfes" (225). Seit dem durchschlagenden Erfolg von Berthold Auerbachs .Schwarzwälder Dorfgeschichten' (1842 f.) wird Dorfgeschichte auch zu einem Terminus für eine „eigenthümlich neue Gattung" (Varnhagen, 386). Ihre Trivialisierung ab den 50er Jahren des 19. Jhs. bewirkte eine bis heute spürbare negative Deutung des Begriffs — bereits Friedrich Hebbel sprach vom „DorfgeschichtenSchwindel" (191).

Lit: Aage Hansen-Löve: Dominanta. In: Pojmovnik ruske avangarde. Hg.v. Aleksandar Fia-

Friedrich Hebbel: Sämtliche Werke. Hg. v. Richard M. Werner. Bd. 1/12. Berlin 1903. - Jo-

Dorfgeschichte hann Heinrich Pestalozzi: Sämtliche Werke. Hg. v. Artur Buchenau u . a . Bd. 3. Berlin 1928. Karl August Varnhagen von Ense: Dorfnovellen. In: Zeitung für die elegante Welt 1843, I. - Johann Karl Wezel: Lebensgeschichte Tobias Knauts. Bd. 1. Leipzig 1773.

BegrG: Da die Bezeichnung an einen als neu empfundenen Gegenstand geknüpft wurde, setzte sie sich als Gattungsbegriff gegenüber den ζ. T. synonym verwendeten, aber älteren Bezeichnungen Idylle, Genrebild (S Genre) oder Sittengemälde rasch durch. Aber man verband alsbald mit Dorfgeschichte nur mehr die Schilderung bäuerlichen Milieus, weil die Thematik des Fabrikdorfes nach 1848 aufgegeben wurde. Während Kritik und spätere Germanistik am Terminus bis heute festhielten (in der D D R subsumiert unter die Sammelbezeichnung Landleben-Literatur), variierten Autoren und Verleger die Gattungszuweisung und verwendeten außerdem Bezeichnungen wie Volkserzählung, Bauerngeschichte (ab 1850), Dorferzählung, Heimatroman und -geschichte bzw. schlichtweg Bild, Erzählung oder Geschichte aus einer bestimmten Region (Baur, 28 f.). SachG: Die Gattung ist ein in der Zeit um 1848 synchron in ganz Europa entstehendes Phänomen, an das sich die Herausbildung einer realistischen Literatur knüpft sowie — in einigen Ländern Ost- und Südeuropas — die Konstituierung eigenständiger Literaturen im Zuge nationaler Emanzipationsbewegungen. Die Sache der Bauern war in der Literatur eine Sache der Bürger: Durch soziale Krisen schärfte sich einerseits der Blick für die soziale Realität des ,Volkes', andererseits „erlebten die Gebildeten die Abstraktheit moderner Lebensverhältnisse als einen krankhaften Kulturzustand, so daß die Kunst, etwa von 1840 an, immer mehr auf das Programm festgelegt wurde, den Weg zu einer neuen Unmittelbarkeit des Lebens zu zeigen" (Hahl, 49). Die für das Entstehen der Dorfgeschichte im deutschen Sprachraum wichtigsten Gattungen (Idylle, Genrebild, pädagogische Dorfutopie, ^ Historischer Roman, ethnographische und soziale Studie) markieren einen Spielraum, der schon im Vormärz zur

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Ausprägung von Spielarten führte: (1) der utopisch-idyllischen Gegenwelt zur Stadt im Sinne eines Mikrokosmos-Modells, (2) der am Alltäglichen interessierten, ethnologisch detailreichen Dorfgeschichte (Berthold Auerbach, Josef Rank, Melchior Meyr, Peter Rosegger; Sonderform ist die Ghettogeschichte ζ. B. von Leopold Kompert), (3) der historischen (Karl Stöber) und (4) der sozialen Dorfgeschichte (Ernst Willkomm, Jeremias Gotthelf, Carl Arnold Schlönbach, Ernst Dronke, Otto Konrad Zitelmann, später Franz Michael Felder) sowie (5) der Dorfgeschichte geistlicher Volksschriftsteller (Jeremias Gotthelf, August Wildenhahn etc.; s. Müller-Salget). Die nach Berthold Auerbachs .Schwarzwälder Dorfgeschichten' einhellig begrüßte, erfolgreiche Gattung entstand als Tendenzdichtung vor allem der bürgerlichen Liberalen für ein gebildetes Publikum, die die anschauliche Binnenexotik der eigenen zeitgenössischen sozialen Unterschicht als Gegenwelt zur reflexionsreichen Salonpoesie der Jungdeutschen darstellte (die den Naturalismus vorwegnehmenden Elendsschilderungen der sozialen Dorfgeschichte wurden nach 1848 nicht mehr rezipiert). Die Geschichte der Gattung läßt sich anhand der Dominanz bestimmter Spielarten beschreiben. Nach 1848 wurde sie entpolitisiert: Einerseits wurde sie im Sinne der idyllisierenden Spielart trivialisiert (Karl May, Ludwig Ganghofer) zum späteren Heimatroman, andererseits ging sie in die Novellistik des poetischen f Realismus2 ein (Gottfried Keller, Wilhelm Raabe, Theodor Storm, Fritz Reuter, Marie von EbnerEschenbach, Ludwig Anzengruber), allerdings unter Ausschluß der sozialen Thematik des Fabrikdorfes, welche erst im / Naturalismus weitergeführt wurde. In der antistädtischen Heimatkunstbewegung (Heinrich Sohnrey, Lulu v. Strauß und Torney, Karl Heinrich Waggerl, Rudolf Greinz u.v.a.) wurde das vorindustrielle Dorfleben zivilisationskritisch als Gegenwelt ideologisiert, daher nahm die Dorfgeschichte bis zur völkisch-nationalen Literatur eine wichtige Rolle im Gattungssystem ein: Als gemeinsamer Nenner lassen sich die „Mythisierung der Heimat" — jeder Region ihre

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Drama

Dorfgeschichten' — und zunehmender Rassismus ausmachen (Namowicz). Im Nationalsozialismus hatte sie wichtige propagandistische Funktionen im Sinne der Verklärung des heroischen und biederen Blut-undBoden-Deutschtums im In- und Ausland. Die Autoren selbst (die Auslands- und Grenzdeutschen stellten ein wirkungsvolles Kontingent) fühlten sich einer Antimoderne verpflichtet, die auf grundlegende Krisen des Selbstverständnisses in der industrialisierten Welt mit einer konservativen Revolution antwortete. Von dieser Position setzten sich bereits in den 1920er Jahren Oskar Maria Graf und später Adam Scharrer ab. In der sozialistischen Landliteratur der frühen D D R ordnete sich die utopische Spielart der G a t t u n g ideologischen Zielen des Staates unter, während im Westen die Tradition der Heimatkunst weitergeführt wurde. In den 1970er Jahren begann sich eine neue regionale Prosa von der Antimoderne abzusetzen, besonders heftig in Österreich, wo sie als Anti-Heimatliteratur klassifiziert wurde (s Heimatliteratur). Neue Impulse für die G a t t u n g gingen zuletzt von zivilisationskritischen ökologischen Strömungen aus.

schichte. Stuttgart 1976 [mit Bibliographie]. Andrea Kunne: Heimat im Roman. Amsterdam 1991. — Reinhard Lauer (Hg.): Europäischer Realismus. Wiesbaden 1980. - Norbert Mecklenburg: Erzählte Provinz. Königstein 1982. Klaus Müller-Salget: Erzählungen für das Volk. Berlin 1984. - Tadeusz Namowicz: Literatur des „völkischen Lebensgrundes" und die deutsche Dorfgeschichte seit dem ausgehenden 19. Jh. In: Traditionen und Traditionssuche des deutschen Faschismus. Hg. v. Günter Härtung und Hubert Orlowski. Halle 1987, S. 166-176. - Hans-Georg Pott (Hg.): Literatur und Provinz. Paderborn 1986. - Karlheinz Rossbacher: Heimatkunstbewegung und Heimatroman. Stuttgart 1975. Karl Wagner: Heimat- und Provinzliteratur in den 30er Jahren. In: Österreichische Literatur der 30er Jahre. Hg. v. Klaus Amann u. a.. Wien 1985, S. 215-246. - Rudolf Zellweger: Les débuts du roman rustique, Suisse, Allemagne, France, 1836-1856. Paris 1941. - Klaus Zeyringer: Felders Stiefbruder oder Der verkleidete Erzähler. Robert Schneiders Dorf-Geschichte. In: Über „Schlafes Bruder". Hg. v. Rainer Moritz. Leipzig 1996, S. 55-79.

ForschG: Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der deutschen Gattungstradition orientierte sich seit der Heimatkunstbewegung bis in die Zeit nach dem 2. Weltkrieg an agrarkonservativen Denkmustern. Erst seit den 70er Jahren erweiterte die Forschung das Bezugsfeld einerseits um komparatistische Aspekte (lange nach Zellwegers Untersuchung), andererseits um gattungstheoretische, sozialhistorische und ideologiekritische Fragestellungen.

Poetischer Text, der neben einer Lektüre die Inszenierung auf dem Theater ermöglicht.

Lit: Die gute Dorfgeschichte. Hg. v. Horst Wandrey. Rudolstadt 1961. - Das große Hausbuch der Dorfgeschichten. Hg. v. Walter Hansen. München 1980. - Dorfgeschichten aus dem Vormärz. Hg. v. Hartmut Kircher. 2 Bde. Köln 1981. - Dorf-Geschichten. 2 Bde. Hg. v. Bernd Wagner. Rostock 1981. Uwe Baur: Dorfgeschichte. München 1978 [mit Bibliographie]. - Werner Hahl: Gesellschaftlicher Konservativismus und literarischer Realismus. In: Realismus und Gründerzeit. Hg. v. Max Bucher u.a. Bd. 1. Stuttgart 1976, S. 48-93, 269-274. - Jürgen Hein: Dorfge-

Uwe Baur

Drama

Expl: Drama bezeichnet eine Gattung von Texten, in denen zwei Textsorten miteinander kombiniert sind, und zwar sowohl fiktive direkte Rede (Haupttext) als auch Textpassagen (als Minimum: ein Symbol für den Sprecherwechsel), welche diese Rede(n) in nichtnarrativer Weise arrangieren, situieren, kommentieren (/* Nebentext). Ein D r a m a kann in Akte, Auftritte (y Szene) usw. gegliedert werden. Durch die Kombination zweier funktional aufeinander bezogener Textsorten grenzt sich das D r a m a von den beiden anderen Hauptgattungen s Erzählung und Lyrik ab. Die Bildung von Untergattungen erfolgt durch die Angabe zusätzlicher Merkmale (z. B. / Stoff, Verlauf der Handlung). Das Arrangement von direkter Rede ermöglicht es, jedes D r a m a als Vorlage für ein Theaterspiel zu verwenden, worauf Teile des Nebentextes explizit hinweisen können

Drama (Kleist: „Sie begeben sich alle in den Vordergrund der Bühne", 356). Heinrich v. Kleist: Sämtliche Werke und Briefe. Bd. 1. Hg. v. Ilse-Marie Barth u. a. Frankfurt 1991.

WortG: Das griech. Substantiv δράμα [dráma] ist Ableitung des Verbs δραν [drán] mit den Grundbedeutungen ,Hände betätigen' oder ,körperlich agieren', daneben auch allgemeiner ,tun', .verfahren'. Im künstlerischen Bereich entwickelt δραν die Nuance ,mimetisch darstellen' (auch als ? Pantomime). Die Ableitung δράμα behält alle Bedeutungen bei und findet sich erstmals belegt bei Aischylos (.Agamemnon', 533) im Sinne von ,(böse) Tat'. Piaton verwendet das Wort allgemeiner als .gewohntes Tun' (,Theaitetos', 169b) und in der noch heute üblichen Übertragung für .Schauspiel' im politischen Bereich (,Nomoi', 817b). Als eindeutig literarischer Terminus begegnet δράμα erstmals bei Herodot (6,21) und bezeichnet dort ein Bühnenstück, das die Zuschauer zu Tränen rührt. Aristoteles liefert eine Etymologie des Wortes und zitiert die Auffassung, das D r a m a stelle .sich Betätigende' dar (,Poetik' 3). Durch Diomedes (,Ars grammatica' III, in: Grammatici Latini 1, 490. 482) als Fremdwort ins Lateinische übernommen und hier bereits weitgehend von der adjektivischen Form dramaticum verdrängt (/" Dramatisch), findet sich Drama in den mittelalterlichen Enzyklopädien sowie in den Poetiken der Frühen Neuzeit nur vereinzelt (ζ. B. Scaliger 1,2.3). Im Deutschen erscheint Drama bei Opitz zur Bezeichnung der aus Italien übernommenen ? Oper (Opitz, 65) und noch bei Gottsched (1760, 563) in musikologischem Kontext. Das Wort erlangt erst im Verlauf des 18. Jhs. über die französische Gattungstheorie weitere Verbreitung und wird vielfach als Fremdwort im Schriftbild gekennzeichnet (d'Aubignac/Steinwehr, 371) sowie mit Erläuterungen zur griechischen Abstammung versehen (Batteux/Ramler, 216). Dabei wird die zunächst griech.-lat. Flexion (Zedier 7, 1403: „ D r a m a t a " ) nur zögernd durch die deutschen Formen ersetzt, so daß unflektierter Genitiv Singular (Sulzer: Art.

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„Aufführung des D r a m a " ) neben bereits vorhandenem Genitiv-s auftritt (Schmid, 441) und gelegentlich noch im 19. Jh. begegnet (DWb 2 6, 1313). Der Plural Dramen erscheint seit dem ausgehenden 18. Jh. (Eschenburg 1793, 636) und dringt als Sammelbezeichnung in Ästhetik und Literaturtheorie des 19. Jhs. ein (ζ. B. Hegel, 509). [Batteux/Ramler:] Einleitung in die Schönen Wissenschaften. Bd. 2. Leipzig 1756. - Johann Christoph Gottsched: Handlexicon oder kurzgefaßtes Wörterbuch der schönen Wissenschaften und freyen Künste. Leipzig 1760. - Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke Bd. 15. Frankfurt 1970. - Martin Opitz: Gesammelte Werke. Hg. v. George Schulz-Behrend. Bd. 4.1. Stuttgart 1989. - Κ. A. Schild: Die Bezeichnungen der deutschen Dramen von den Anfängen bis 1740. Glessen 1925.

BegrG: Eine Zusammenfassung von Tragödie und Komödie als gemeinsame poetische Darbietungsform findet sich erstmals bei Piaton, der die als μίμησις [mimesis] bezeichnete neue Kategorie durch das Merkmal der ausschließlichen Nachahmung von ,Wechselreden' gegenüber erzählenden Texten abgrenzt (,Politela', 392c-394d). Aristoteles übernimmt in der ,Poetik' dieses formale, an der Erzählerpräsenz orientierte Redekriterium (s Gattung) und unterscheidet nun zwei Großgattungen, nämlich epischen Bericht und das D r a m a mit den beiden Untergattungen Tragödie und Komödie. Es wird konkretisiert mit der zusätzlichen und auf die ursprüngliche Wortbedeutung anspielenden Bestimmung N a c h a h mung von Handelnden' (,Poetik' 3, 1449 b; vgl. Schwinge, 1 f.). Allerdings bleibt ,Drama' als Gattungsoberbegriff nicht stabil, so daß er später ζ. T. auch erzählende Texte umfaßt (/" Dramatisch). Im Rahmen der römischen, vornehmlich rhetorische Interessen berücksichtigenden Literaturtheorie wird das platonisch-aristotelische Einteilungsschema zurückgedrängt. Der neue Differenzierungstyp stellt Serien von Einzelgattungen nach stilistischen Kriterien (Versmaß; Gegenstand) nebeneinander und verzichtet somit auf die Klassifikation in Großgattungen (Quintilian 10,1,46-131, bes. 5 1 - 7 2 ; vgl. Steinmetz, 461 f.). In diesem Rahmen verliert der Terminus Drama

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Drama

seine gattungsbildende Funktion, die er weder im Mittelalter noch in den Renaissancepoetiken wiedererlangt. Er wird meist mit dem unpräzisen lat. fabula übersetzt, das zwar ,Stück' bedeuten kann (Horaz: ,Ars Poetica', 190), daneben jedoch auch erzählende Texte bezeichnet (Quintilian 2,4,2). Eine adjektivische Form dramaticum bleibt zwar erhalten (Diomedes, s. WortG), wird jedoch immer neben der dominierenden Reihung von Kleingattungen verwendet und verliert den Bezug zu fabula. Da Renaissance, Humanismus und Barock vor allem die spätantiken poetologischen Konzepte rezipieren, bleibt die Rolle des Terminus Drama zunächst weiterhin zweitrangig. Drama besetzt erst im 18. Jh., dessen poetologischer Neuansatz zu einer Klassifikation nach großen / Gattungen (wie ,Naturformen') zurückkehrt, wieder den Ort eines ? Textsorten abgrenzenden und einzelne ? Genres übergreifenden Begriffes. Er wird dabei zunächst — wie in der Antike — im Kontrast zum Epischen entwickelt und unter Bezugnahme auf Aristoteles als „mit Handlung verbundene Unterredung" (Herwig, 49) definiert, darüber hinaus jedoch „durch den Endzweck der Vorstellung" (Schmid, 447) von der Erzählung abgegrenzt. Mit dem Bezug der Gattung zum /" Theater entsteht eine enge Beziehung zwischen Text und .Schaubühne', die zu begrifflichen Uberlagerungen führt: So kann Gottsched seine Dramenkollektion ebenso als ,Deutsche Schaubühne' (1741 — 45) bezeichnen, wie Sulzer im Artikel ,Drama' seines Lexikons die Abhängigkeit vom Theater zur Definition benötigt: „die Schaubühne [...] stellt uns würklich handelnde Menschen vors Gesicht, und das Drama enthält ihre Reden" (Sulzer 1, 705). Gleichbedeutend mit Drama ist das Adjektiv dramatisch, soweit es ausschließlich klassifikatorisch genutzt wird (vgl. aber Dramatisch). Da der poetische Text im 18. Jh. vielfach als ? Gedicht bezeichnet wird, lauten die Gattungsnamen entsprechend Dramatisches Gedicht usw. (z. B. Basedow, 600); die Theaterdimension findet mit der alternativen Benennung theatralisch ihren Ausdruck („theatralische oder dramatische Dichtkunst"; Basedow, 610).

Das ältere und häufig gebrauchte SCHAUwiederum hat einen weiteren Bedeutungsbereich als Drama, insofern es alle möglichen öffentlichen Darbietungen im Theater bezeichnen kann (d'Aubignac/ Steinwehr, 15). Im meist genutzten engeren Sinn jedoch wird es synonym zu Drama gebraucht: „Drama oder Schauspiel" (Eschenburg 1783, 163) treten demnach gemeinsam mit den genannten adjektivischen Bezeichnungen als Gattungsbezeichnungen in Einteilungssystemen verschiedenen Umfangs auf (z. B. erzählend, dramatisch!theatralisch, lyrisch, didaktisch bei Lindner, 209 f.); sie umfassen als Unterkategorien neben Tragödie, Komödie und vielfach Oper auch die neuen Zwischenformen Rührendes Lustspiel und Bürgerliches Trauerspiel (Lindner, 210 f.). Weiterhin wird Drama als neue „Mittelgattung" (Eschenburg 1793, 217) aus dem Französischen übernommen und später mit Schauspiel übersetzt (z. B. Hegel, 521). Im Gegensatz zu seinem Gebrauch als klassifikatorischer Begriff in poetologischen Arbeiten erscheint Drama auf der Ebene der individuellen Werkbezeichnung kaum (bei Lessing hier vielfach Stück·. „Dieses Stück kam im Jahre 1745 zuerst aufs Theater"; 252), ebensowenig in Titeln, die meist die Namen der Unterkategorien führen. Gerade hier jedoch können dramatisches Gedicht („Nathan der Weise. Ein dramatisches Gedicht") und zunächst auch Schauspiel („Götz von Berlichingen mit der eisernen Hand. Ein Schauspiel") gezielt verwendet werden, um schwer klassifizierbare und damit literarisch innovative Texte zu bezeichnen, die zudem als wenig theatertauglich gelten (>" Lesedrama). Drama wird in dieser Funktion im Verlauf des 19. Jhs. eingesetzt (Brentano: „Die Gründung Prags. Ein historisch-romantisches Drama"; Grabbe: „Napoleon oder die hundert Tage. Ein Drama in fünf Aufzügen"), nachdem Schauspiel zunehmend als trivial empfundene Theaterwerke (Iffland; Kotzebue) betitelte. Zugleich verdrängt Drama bzw. dramatisch in ästhetischen und literaturwissenschaftlichen Arbeiten die alten Ausdrücke Schauspiel bzw. theatralisch und löst auch hier das frühere, Theater wie Drama umfasSPIEL

Drama sende Begriffsfeld auf, so daß Hebbel das „gemeine Theaterstück" gegen das „poetische D r a m a " (Hebbel, 279) absetzen kann. Die Übernahme von Dramen als Sammelbegriff in Werkausgaben seit dem ausgehenden 19. Jh. („Kleists ausgewählte Dramen", 1877) geht wohl auf diese Dominanz des Begriffswortes im literaturtheoretischen Wortschatz zurück. Die Schriftsteller des 20. Jhs. verwenden für ihre dramatischen Texte eine umfassende, durch keine gattungssystematischen Vorgaben festgelegte Reihe von Bezeichnungen, die aufgrund ihrer vielfach auch umgangssprachlichen Verwendung die Werke inhaltlich charakterisieren (Grass: „Ein deutsches Trauerspiel"; Kaiser: „Nachtstück"; Strauß: „Bagatellen"; Hochhuth: „Ein Totentanz"). Drama begegnet auf dieser Ebene weiterhin selten. Von grundsätzlicher Bedeutung ist die terminologische Kluft zwischen (1) Drama als Bestandteil des poetologisch-philologischen Begriffsmaterials mit seiner — historisch variierenden — klassifikatorischen Funktion ( ^ Dramentheorie) und (2) den Bezeichnungen des einzelnen poetischen Textes durch den Autor, die sich meist auf der Ebene von individualisierenden Unterkategorien bewegen ( / Dramaturgie ¡). Johann Bernhard Basedow: Lehrbuch prosaischer und poetischer Wohlredenheit. Kopenhagen 1756. - Johann Joachim Eschenburg: Beispielsammlung zur Theorie und Literatur der schönen Wissenschaften VII. Berlin, Stettin 1793. - Friedrich Hebbel: Sämtliche Werke. Hg. v. Richard M. Werner. Bd. II/4. Berlin 1905. - Hegel (s. WortG). - Justus Herwig: Grundriß der eleganten Litteratur. Würzburg 1774. - Gotthold Ephraim Lessing: Sämtliche Schriften. Hg. v. Karl Lachmann und Franz Muncker. Bd. 9. Stuttgart 1893. - Johann Gotthelf Lindner: Kurzer Inbegrif der Aesthetik, Redekunst und Dichtkunst II. Königsberg, Leipzig 1772.

SachG: Da der Begriff , D r a m a ' als literarischer Terminus primär gattungsdifferenzierende Funktionen erfüllt, interessiert er hier ausschließlich hinsichtlich seiner begriffsgeschichtlichen Dimension, während sich sachgeschichtliche Fragestellungen zweckmäßigerweise auf die jeweiligen Realisierungen in den Unterkategorien (S Tragödie,

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y" Komödie, ? Tragikomödie, ? Rührendes Lustspiel, ? Bürgerliches Trauerspiel u.v.a.) zu beziehen haben. ForschG: Seit dem 4. Jh. v. Chr. existiert eine wissenschaftliche, vornehmlich textkritisch und kommentierend ausgerichtete Forschung zum Drama, die mit verbindlichen Abschriften sowie kontinuierlicher philologischer Bearbeitung und permanenter Neuedition ausgewählter Texte die Überlieferung sowohl griechischer (Aischylos, Sophokles, Euripides, Aristophanes) als auch lateinischer (Plautus, Terenz, Seneca) Komödien und Tragödien bis zu ihrer Wiederentdeckung in der italienischen Renaissance trägt. Erst im Verlauf dieses Tradierungsprozesses gestaltet sich das Schriftbild des Dramentextes mit zwischengeschalteten Sprecherbezeichnungen und Bühnenanweisungen'. Neben der literarischen Überlieferung sind es vor allem Übersetzung (Pazzi) und Kommentierung (Robortello; Castelvetro) der aristotelischen Poetik seit dem 16. Jh., die erheblichen Einfluß auf das terminologische Repertoire der modernen Forschung ausüben. Die sich im Verlauf des 19. Jhs. etablierende wissenschaftliche Germanistik entwickelt ihre Positionen und Methoden der Drameninterpretation (vgl. Pütz) im Grunde als Fortsetzung der poetologischen Optionen des 18. und frühen 19. Jhs. Dabei orientiert sich die Analyse zunächst am Handlungsbegriff, der eine deutliche Personalisierung erfährt, und stellt die Auseinandersetzung des individuellen Charakters mit den ihm widerstrebenden Kräften in den Vordergrund (Werling). Dementsprechend wird die dramatische Form dann vorrangig als Reflex auf eine grundlegende, durch Konflikt oder Spannung gekennzeichnete thematische Konstellation angesehen. Eine derartige inhaltliche Bestimmung der Gattung D r a m a läßt sich von Hegels und Vischers ,Ästhetiken' über Freytags — die Fünfaktigkeit aus dem , K a m p f ableitende - ,Technik des Dramas' (1863), Petschs ,Wesen und Formen des Dramas' (1945) und Kaysers ,Das sprachliche Kunstwerk' (1948) bis hin zu Szondis ,Theorie des modernen Dramas' (1956) verfolgen, der die

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Drama

dialogische Form des Dramas in der „Wiedergabe des zwischenmenschlichen Bezuges" (Szondi, 17) begründet sieht. Sowohl wirkungsästhetische Ziele (Brecht) wie literarhistorische Gründe führen zur Ergänzung des bislang zugrundegelegten Modells der „in sich geschlossenen Handlung" (Aristoteles: ,Poetik' 6) durch ein entgegengesetztes, nämlich „nichtaristotelisches" (Brecht, 240; vgl. Resting, 9 f.) oder „episches" Handlungsmodell (Brecht, 1009 f.; Episches Theater), so daß der Forschung nunmehr das Klassifikationsschema zweier strukturell grundsätzlich konträrer, sich historisch jeweils unterschiedlich aktualisierender Dramentypen als Beschreibungsmuster zur Verfügung steht (Klotz: .Geschlossene und offene Form im Drama'). In der neueren Forschung wird der intentional ausgerichtete Handlungsbegriff unter dem Einfluß strukturalistischer (Bremond) und vor allem soziologischer Handlungstheorien (Parsons; Goffman) stärker formalisiert und nähert sich somit wieder dem aristotelischen Verständnis an (z. B. Werling; Schwanitz). Zugleich gewinnen ? Dialog und / Figurenrede als Formprinzipien des literarischen Textes Drama hinsichtlich ihrer unterschiedlichen Mitteilungsqualitäten über die innere Befindlichkeit der Charaktere an Aufmerksamkeit (vgl. Zimmer; bereits Zeißig). Linguistik, Ritualtheorie und die vornehmlich semiotisch ausgerichteten theaterwissenschaftlichen Forschungen haben seit den 70er und 80er Jahren den Schwerpunkt des Interesses vom Drama als literarischem Werk wegverlagert zu außerliterarischen Phänomenen wie dem ,Alltagsdialog' (Roumois-Hasler), dem .sozialen Drama' (Turner) und zu Fragen der szenischen Realisierung des dramatischen Textes, den akustischen und visuellen ? Zeichen (Esslin; Fischer-Lichte). Manfred Pfisters umfassende, kommunikationswissenschaftlich orientierte Gesamtdarstellung beschreibt das Drama entsprechend als ,plurimediale Darstellungsform', unter der anstelle des »literarischen Textsubstrates' vornehmlich die Bühnenrealisierung verstanden wird. Lit: Bernhard Asmuth: Einführung in die Dramenanalyse. Stuttgart 4 1994. - [d'Aubignac/

Steinwehr]: Franz Hedelin, Abtes von Aubignac, Gründlicher Unterricht von Ausübung der Theatralischen Dichtkunst, aus dem Französischen übersetzet durch Wolf Balthasar Adolph von Steinwehr. Hamburg 1737. - Irene Behrens: Die Lehre von der Einteilung der Dichtkunst, vornehmlich vom 16. bis 19. Jh. Halle 1940. - Bertolt Brecht: Gesammelte Werke. Bd. 7. Frankfurt 1967. - Wilhelm Cloetta: Beiträge zur Literaturgeschichte des Mittelalters und der Renaissance. 2 Bde. Halle 1890-1892. - Johann Joachim Eschenburg: Entwurf einer Theorie und Literatur der schönen Wissenschaften. Berlin, Stettin 1783. - Martin Esslin: Die Zeichen des Dramas. Reinbek 1989. - Erika Fischer-Lichte: Semiotik des Theaters. 3 Bde. Tübingen 2 1988. - Manfred Fuhrmann: Einführung in die antike Dichtungstheorie. Darmstadt 1973. - Reinhold Grimm (Hg.): Deutsche Dramentheorien. 2 Bde. Wiesbaden 3 1980, 1981. - Walter Hinck (Hg.): Hb. des deutschen Dramas. Düsseldorf 1980. — Marianne Kesting: Das epische Theater. Stuttgart 2 1962. - Rudolf Pfeiffer: Geschichte der Klassischen Philologie. München 2 1978. - R. P.: Die Klassische Philologie von Petrarca bis Mommsen. München 1982. - Manfred Pfister: Das Drama. München 6 1988. - Peter Pütz: Grundbegriffe der Interpretation von Dramen. In: Hinck, S. 11-25, 528. — Ursula Roumois-Hasler: Dramatischer Dialog und Alltagsdialog im wissenschaftlichen Vergleich. Bern, Frankfurt 1982. Christian Heinrich Schmid: Theorie der Poesie nach den neuesten Grundsätzen. Leipzig 1767. Heinz Schreckenberg: D R A M A . Vom Werden der griechischen Tragödie aus dem Tanz. Würzburg 1960 [vgl. Rezension von Harald Patzer, in: Gnomon 37 (1965), S. 118-131], - Dietrich Schwanitz: Die Wirklichkeit der Inszenierung und die Inszenierung der Wirklichkeit. Meisenheim 1977. — Ernst-Richard Schwinge: Aristoteles und die Gattungsdifferenz von Epos und Drama. In: Poetica 22 (1990), S. 1 - 2 0 . - Peter Steinmetz: Gattungen und Epochen der griechischen Literatur in der Sicht Quintilians. In: Hermes 92 (1964), S. 454-466. - Peter Szondi: Theorie des modernen Dramas (1880—1950). In: P.S.: Schriften I . F r a n k f u r t 1978, S. 9 - 1 4 8 . Victor Turner: Vom Ritual zum Theater. Frankfurt 1989. - Klaus Weimar: Enzyklopädie der Literaturwissenschaft. Tübingen, Basel 2 1993, S. 5 7 - 6 9 . — Susanne Werling: Handlung im Drama. Frankfurt, Bern 1989. - Gottfried Zeißig: Die Uberwindung der Rede im Drama. Dresden 1930. - Reinhold Zimmer: Dramatischer Dialog und außersprachlicher Kontext. Göttingen 1982.

Martin

Ottmers

Dramatisch

Dramatisch Bezeichnung für zur Gattung Drama zählende Werke oder allgemeiner für ein (Spannung hervorrufendes) Stilmerkmal mancher literarischer Texte. Expl: (1) Insofern die Bezeichnung dramatisch eine Gruppe von Texten dem Drama zuordnet, bestimmt sie diese formal und grenzt sie so von den anderen Gattungsbereichen / Lyrik und Epik ab. (2) Aus der Direktheit der Rede im Drama leitet sich eine zweite Bedeutung von dramatisch als ,unmittelbar, lebhaft und spannungserzeugend' ab, die auch erzählende oder andere (nicht dramenartige) Texte charakterisieren kann. Dieser Wortgebrauch steht in Analogie zur Verwendung von dramatisch (ebenso von Drama) zur Beschreibung außertextlichen Geschehens (,dramatische Entwicklung'; .Geiseldrama'). WortG: Das griech. Adjektiv δραματικός [dramatikós] leitet sich ab vom Verb δραν [drán], .Hände betätigen' (y Drama). Das Wort wird erstmals bei Aristoteles als literarischer Terminus zur Charakterisierung der homerischen Epik (,Poetik' 4) sowie handlungserzählender Dichtung überhaupt (23) eingesetzt. Auch in substantivierter Form gebraucht, kann δραματικόν sowohl als gattungstheoretischer Oberbegriff für Dramen wie zur Bezeichnung erzählender Texte verwendet werden (vgl. BegrG). Im Lat. übernimmt Diomedes dramaticon als griech. Fremdwort (,Ars grammatica' III, in: Grammatici Latini 1, 482) und vermittelt es so an die Renaissancepoetiken (Joachim Vadianus: ,De Poetica', Tit. 8). Seit dem 17. Jh. begegnet die deutsche Form dramatisch (DWb 2 6, 1314) neben Dramatisches, gelegentlich noch mit griech.lat. Worterklärung (ζ. B. 1688 bei Rotth: .Vollständige Deutsche Poesie' 3, 43. 45), und findet vor allem im 18. Jh. in Zusammensetzungen wie „dramatische Poesie" (Lessing, 53) häufige Verwendung. Gotthold Ephraim Lessing: Sämtliche Schriften. Hg. v. Karl Lachmann und Franz Muncker. Bd. 4. Stuttgart 1889.

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BegrG: Als dramatisch bezeichnet Aristoteles eine bestimmte Qualität erzählender Poesie, die durch die Integration von direkter Figurenrede in den reinen Erzählverlauf gekennzeichnet ist und die vor allem dem homerischen Epos — μιμήσεις δραματικός [miméseis dramatikás], ,dramatische Nachahmungen' - eignet (,Poetik' 3. 4. 23, bes. 1448 b 35). Darüber hinaus bezieht er dramatisch in einer allgemeineren Verwendung auf die kohärente und mit der Tragödie vergleichbare Handlungsstruktur erzählender Dichtung (ebd.). Im Rahmen des an Stilkriterien orientierten kaiserzeitlichen Poesieverständnisses verwendet Pseudo-Longinus (,De sublime' 9, 13) den Begriff zur Beschreibung der bewegten Erzählweise der ,Ilias' — in Abgrenzung zum ruhigen Altersstil der ,Odyssee'. Eine weiterführende Verwendung erfahrt das substantivierte Adjektiv in Lehrbüchern der neusophistischen Rhetorik, in denen es nun als Unterkategorie der Narratio (S Dispositio) eine fiktive Erzählung bezeichnet. Basierend auf dieser Verwendung findet sich die Bezeichnung δραματικόν [dramatikón] — ζ. T. auch δράμα [dráma] — für eine Reihe antiker Liebesromane (Müller, 115 f.). Daneben ist eine zweite begriffsgeschichtliche Linie zu nennen, bei der dramaticon anstelle von drama verwendet wird und in diesem Rahmen eine gattungsklassifizierende Dimension erhält. So liefert Diomedes (s. o.) in dem ,De poematibus' betitelten Kapitel seiner .Grammatik' eine Unterteilung in dramaticon, enarrativum und mixtum, die jedoch gegenüber einer stofforientierten Gliederung nach Kleingattungen in den Hintergrund tritt. Das d r a m a t i sche' umfaßt als Unterkategorien u. a. Tragödie und Komödie, scheint hier indes eher im Sinne einer (dialogischen) Beschaffenheit der Redeform verstanden worden zu sein, wie die weitere Verwendung des Begriffes u. a. bei Isidor von Sevilla (,Etymologiae' 8,7,11) nahelegt (vgl. Curtius, 449). Diese Ablösung des dramaticum von seinen Unterkategorien setzt sich fort, wenn tragoedia und comoedia im Mittelalter als Verserzählungen und dramaticum (auch drama) als Lehrschrift in Form einer Dispu-

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Dramatisch

tation (Johannes de Janua) verstanden werden (vgl. Klopsch, 116). Die Renaissancepoetiken richten sich meist nach dem diomedianischen Arrangement der Klassifikationen, so daß die an stilistisch-stofflichen Kriterien orientierte Einteilung der Dichtarten über die Gliederung in ,dramaticum' usw. dominiert. Erst das 18. Jh. gebraucht dramatisch wieder wie Drama als klassifizierende Bezeichnung eines der drei großen Gattungsbereiche (,Naturformen') samt seinen Unterkategorien (,Dichtarten'). Daneben existiert eine zweite, an Aristoteles orientierte Begriffstradition, derzufolge die Integration direkter Rede in erzählende Texte diese „dramatisch oder wirksam" (Gottsched, 479), auch „lebendig" (Le Bossu, 257) werden läßt und ihnen „mehr Feuer und Stärcke" (Batteux/ Ramler, 281) gibt. Dieser Gebrauch hat f ü r die Theorie des /" Romans insofern Bedeutung, als Blanckenburg zur Steigerung der Lebhaftigkeit eine Vermischung der Gattungen empfiehlt, die „den Roman so dramatisch [..] als möglich" (Blanckenburg, 515) geraten läßt. Aus dem gleichen G r u n d bevorzugt Jean Paul die „romantisch-dramatische F o r m " (235). Jedoch ist auch hier noch das Dramatische im Erzähltext an das Formmerkmal der Dialogizität gebunden (Extremform: .Dramatischer R o m a n ' bzw. Dialogroman·, vgl /" Dialog2). Erst mit Kritik und „Dissoziierung der normativ-systematischen Gattungspoetik" (Scherpe, 169) im Sinne einer Ersetzung der objektiven durch die „elementaren Ausdrucksformen des Dichterischen" (Scherpe, 269) löst sich dramatisch von der ausschließlichen Bezeichnung einer poetischen Darbietungsweise und gewinnt stärker typologische Qualität. So betont Goethe den ,eilenden' und ,nach dem Ende drängenden' Charakter des D r a m a s ( H A 7, 307) sowie seine ,vorwärtsschreitenden' Merkmale (HA 12, 250). Ähnlich beantwortet A. W. Schlegel die Frage ,Was ist dramatisch?' mit dem Hinweis auf die „lebendige Bewegung in dem Gedankengange" und die „Spannung auf den Ausgang" (Schlegel, 29) - so wie später auch Hegel „die stete Fortbewegung zur Endkatastrophe" (Hegel, 488) und die ,bewegte Lebendigkeit der

Handlung' als das ansieht, „was das D r a m a dramatisch macht" (Hegel, 509). Zur Auflösung stabiler Gattungseinteilungen führt die „Adjektivierung der Gattungsbegriffe" (Szondi, 54) schließlich bei Fr. Schlegel, wenn dieser in den .Fragmenten zur Litteratur und Poesie' dramatisch als eine dichterische Eigenschaft begreift, die erst in Kombination mit anderen Eigenschaften einzelne Dichtungsarten ausbilden kann (ähnlich Goethes ,Naturformen der Dichtung': H A 2, 187; Tiecks ,Durchdringung' der ,drei Hauptarten der Poesie': Tieck, 197). [Batteux/Ramler:] Einleitung in die Schönen Wissenschaften. Bd. 3. Leipzig 1757. - Friedrich von Blanckenburg: Versuch über den Roman [Leipzig, Liegnitz 1774]. Repr. Stuttgart 1965. - Renatus Le Bossu: Abhandlung vom Heldengedicht. Halle 1753. - Johann Wolfgang Goethe: Goethes Werke. Hamburger Ausgabe [HA]. München l3 1983. - Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke Bd. 15. Frankfurt 1970. - Carl Werner Müller: Chariton von Aphrodisias und die Theorie des Romans in der Antike. In: Antike und Abendland 22 (1976), S. 1 1 5 - 1 3 6 . - Jean Paul: Sämtliche Werke. Bd. 1,11. Weimar 1935. - August Wilhelm Schlegel: Kritische Schriften und Briefe. Hg. v. Edgar Lohner. Bd. 5. Stuttgart u. a. 1966. Ludwig Tieck: Kritische Schriften. Bd. 2 [1848], Repr. Berlin, New York 1974.

ForschG: Im Zusammenhang literaturwissenschaftlicher Forschung ist dramatisch überwiegend im Sinne von (1) als Bezeichnung einer Gattungszugehörigkeit eingesetzt worden. Daneben greift eine an i n n e rer Gattungsgesetzlichkeit' (Willems) interessierte Literaturwissenschaft die Bedeutung von dramatisch als Merkmalsbezeichnung (vgl. BegrG) auf und charakterisiert mit ihr vor allem spannungserzeugende Eigenschaften der Dramenhandlung als d r a matischen Stil' (Vischer, 1389 f.; vgl. Pütz), nämlich Konfliktgebundenheit, innere Stimmigkeit, Funktionalität der Einzelteile und Finalität des Gesamtzusammenhangs. Auch als Merkmal von Erzählhandlung kann dramatisch die genannten Züge bezeichnen (Staiger 1973, 96) und löst sich so von der Bindung an einen spezifischen Gattungsbereich. Nicht überzeugen konnte der Versuch einer anthropologisch akzentuierten /" Gattungstheorie, das Dramatische außerliterarisch als ,Daseinsmöglichkeit'

Dramaturgie ι (Staiger 1956), ,Weltauffassung' (Kayser), ,Grundhaltung' (Ruttkowski) oder ,Selbstverwirklichungsstreben' (Natew) zu bestimmen. Lit: Paul Klopsch: Einführung in die Dichtungslehren des lateinischen Mittelalters. Darmstadt 1980. - Athanas Natew: Das Dramatische und das Drama. Velber 1971. - Peter Pütz: Die Zeit im Drama. Göttingen 1970. - Wolfgang V. Ruttkowski: Die literarischen Gattungen. Bern 1968. - Klaus R. Scherpe: Gattungspoetik im 18. Jh. Stuttgart 1968. - Werner Schultheis: Dramatisierung von Vorgeschichte. Assen 1971, S. 6 - 1 2 . Ernst-Richard Schwinge: Griechische Poesie und die Lehre von der Gattungstrinität in der Moderne. In: Antike und Abendland 27 (1981), S. 130-162. - Emil Staiger: Grundbegriffe der Poetik. Zürich 1956. - E. S.: Meisterwerke deutscher Sprache. München 1973. — Peter Szondi: Friedrich Schlegels Theorie der Dichtarten. In: P. S.: Schriften. Bd. 2. Frankfurt 2 1991, S. 3 2 - 5 8 . — Friedrich Theodor Vischer: Aesthetik oder Wissenschaft vom Schönen. Bd. 3. Stuttgart 1857. - Gottfried Willems: Das Konzept der literarischen Gattung. Tübingen 1981.

Martin Ottmers

Dramatis personae

Nebentext

Dramaturgie t Lehre von der Technik und Kunst des Dramas unter besonderer Berücksichtigung der Möglichkeiten seiner theatralischen Aufführung. Expl: Als Grenzbegriff überschneidet sich .Dramaturgie' mit einer Reihe von Umfeldbegriffen, die seine Extension und Intension bestimmen. (1) Die theoretische Dramaturgie¡ gibt der praktischen /" Dramaturgie2 Regeln für die Umsetzung des /" Dramas als Werk der Literatur in ein theatralisches Kunstwerk vor {y" Inszenierung). (2) Als technische / Poetik ist die Dramaturgie/ verknüpft mit einem speziellen Teil der allgemeinen Poetik qua Gattungstheorie, der in der Dramentheorie behandelt wird.

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(3) Als Lehre von der Kunst des Dramas greift sie über in die allgemeine Ästhetik und die spezielle ? Wirkungsästhetik sowie / Rezeptionsästhetik, die die Funktionsund Wirkungsbedingungen im Werk als Objekt und im rezipierenden Subjekt untersuchen. (4) Durch ihre Reflexion auf die theatralische Aufführbarkeit, die die Transponierung des dramatischen Haupt- und ? Nebentextes voraussieht, überschreitet die Dramaturgie die Grenzen der Literaturtheorie in Richtung auf eine multimedial (audiovisuell und verbal) orientierte Theorie der Künste (/" Theaterwissenschaft, Theorie der /" Medien). WortG/BegrG: Das griech. δραματουργία [dramaturgia] — zum etymologischen Hintergrund /" Drama — meint schriftliche Verfertigung eines dramatischen Texts' und theatralische Aufführung' gleichzeitig — also bereits theoretische ebenso wie praktische Dramaturgie. Doch das in der Rezeptionsgeschichte dominierende Poetik-Fragment des Aristoteles beschäftigt sich fast ausschließlich mit den aus den Teilen des dramatischen Werks abgeleiteten Regeln für den Bau einer guten Tragödie und erblickt in der Aufführung durch Schauspieler eher einen störenden Faktor. Erst Lessings ,Hamburgische Dramaturgie' (1767 — 69) restituiert die volle Wortbedeutung und erhebt die Begrifflichkeit von Dramenpoetik und Theaterkunst in den Rang wissenschaftlicher Termini. In der modernen deutschen Theaterwissenschaft erfährt Dramaturgie eine neuerliche Verengung, nun in Richtung auf die praktische Dramaturgie2; die Berufsbezeichnung Dramaturg meint dementsprechend nicht den Dramenschriftsteller oder -poetiker, sondern den Berater des Regisseurs und der Theaterdirektion. Vor allem im frz. wie im russ. Sprachgebrauch behalten dramaturgie (vgl. z. B. Ghéon, Pavis ) und dramaturgija (z. B. Vol'kenstejn) ihre doppelte Wortbedeutung bis in die Gegenwart. Im Deutschen bezieht sich hingegen die im 19. Jh. (vgl. z. B. Mündt 1848, Bulthaupt 1883/84) noch verbreitete Verwendung von Dramaturgie im Sinne von ,Dramenpoetik' (z. B. Martino)

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Dramaturgie]

bzw. von ,theatraler Wirkungsstrategie' (ζ. B. Schulz, Heitmann) im 20. Jh. fast ausschließlich zurück auf vergangene Epochen bzw. einzelne Autoren der Literaturgeschichte (ζ. B. Dietrich/Stefanek, RuelickeWeiler). Auf der anderen Seite erweitert sich das Bezugsspektrum insbesondere von Dramaturgie2 über das Theater hinaus (ζ. B. Klünder) auf Hörspiel, Fernsehspiel und Film (ζ. B. Müller, Brosche). Walter Brosche: Vergleichende Dramaturgie von Schauspiel, Hörspiel und Film. Diss. Wien 1954. - Heinrich Bulthaupt: Dramaturgie der Classiker. 2 Bde. Oldenburg 1883/84. - Margret Dietrich, Paul Stefanek (Hg.): Deutsche Dramaturgie von Gryphius bis Brecht. München 1965. — Henri Ghéon: Dramaturgie d'hier et de demain. Lyon 1963. - Hans-Dieter Heitmann: Dramaturgie des Raumes. Sankt Augustin 1982. - Joachim Klünder: Theaterwissenschaft als Medienwissenschaft. Grundzüge einer theaterwissenschaftlichen Dramaturgie. Hamburg 1961. - Alberto Martino (Hg.): Die Dramaturgie der Aufklärung. Tübingen 1972. - Gottfried Müller: Dramaturgie des Theaters, des Hörspiels und des Films. Würzburg 1955. - Theodor Mündt: Dramaturgie, oder Theorie und Geschichte der dramatischen Kunst. 2. Bde. [Berlin 1848], Repr. Eschborn 1992. - Patrice Pavis: Dictionnaire du théâtre. Paris 1980. - Käthe Rülicke-Weiler: Die Dramaturgie. Berlin 1966. - Georg-Michael Schulz: Tugend, Gewalt und Tod. Das Trauerspiel der Aufklärung und die Dramaturgie des Pathetischen und des Erhabenen. Tübingen 1988. - V. M. Vol'kenstejn: Dramaturgija. Moskau 51969. SachG: Dramaturgie steht seit ihren Anfängen in der Antike unter der Doppelgesetzlichkeit von Theorie und Praxis: der werkgerichteten Dramenpoetik und der wirkungsgerichteten Dramenästhetik — die sich wiederum aufgliedert in die Aspekte einer Wirkung der Lektüre des D r a m a s und seiner Bühnenaufführung. Als Dramenpoetik hat sie sich stets mit den inneren und äußeren Formen des Dramas beschäftigt, die schon von Aristoteles bestimmt wurden (/" Peripetie, Protasis) und von den Theoretikern der humanistischen und klassizistischen Dramaturgie (insbesondere Castelvetro, Boileau) u. a. auf die s Drei-Einheiten-Lehre reduziert wurden. Als Dramenästhetik stellte sie lange die Reinigung (/* Katharsis) von den Affekten ^ Furcht und Mitleid zentral, doch

diese Wirkungsformel wurde im Laufe der Jahrhunderte variantenreich re-interpretiert: Horaz hebt den moralischen und genußhaften Nutzwert hervor (,prodesse'/,delectare'; s Unterhaltung), Boileau die moralische /" Belehrung, Chr. Weise und manche Nachfolger die moralische Erziehung der ? Schauspieler (vgl. Säße), Lessing die moralische Erbauung am Affekt des Mitleids. Noch Brechts ? Episches Theater, das mittels des V-Effekts (Verfahren der Verfremdungi) Mitleid zeitigende ^ Einfühlung verhindern will, steht in dieser besonders durch Schillers , Schaubühne als moralische Anstalt' vermittelten Traditionslinie. Initiiert durch Lessings ,Laokoon' und ,Hamburgische Dramaturgie', die die Medialität des Kunstwerks generell und der Ausdrucksmittel der Bühnenkunst speziell in die Wirkungsästhetik einbeziehen, löste sich die Dramaturgie dann immer mehr von der Fixierung auf die Schriftlichkeit des Dramas. Wagners Theorie des f Gesamtkunstwerks, im 20. Jh. von Kandinsky und den Theoretikern des Bauhauses aufgegriffen und weiterentwickelt, reflektiert auf die Vielheit der in der dramatischen Kunst zusammenkommenden Kunstarten und auf die gesetzliche Synchronisierung ihrer Wirkungen, die sich nicht mehr auf einen moralischen oder kognitiven Nenner bringen läßt. Im Vorfeld des Prager s Strukturalismus stellt O. Zichs .Ästhetik der dramatischen Kunst', worin Wagners Theorie mit Hilfe der modernen Wahrnehmungspsychologie systematisiert wird, einen Abschluß dieser theoretischen Linie dar. ForschG: Die Forschungsgeschichte steht im Zeichen des Streits um die f Autonomie oder die Dominanz des literarischen bzw. theatralischen Anteils der Dramaturgie (vgl. dazu auch Klotz). Nach jahrhundertelanger Unterordnung des Theaters unter das literarische D r a m a und Degradierung der Dramaturgie zu einem Zweig von Literaturtheorie und -geschichte (so noch bei G. Freytag) emanzipiert sich im 20. Jh. der theatrologische Anteil zur autonomen /* Theaterwissenschaft. Ihre methodologische Grundlage wurde die in der Prager Schule entwickelte ,Theatersemiotik', heute vertreten z. B. von A. Eschbach, E. Fischer-

Dramaturgie 2 Lichte, T. Kowzan, P. Pavis, A. Ubersfeld u. a. (y" Semiotik). In ihr konzentriert sich der literarische Anteil der Dramaturgie auf die Kategorie des verbalen Zeichens im Ensemble einer Vielheit nonverbaler Zeichen. Statt dramatischer ? Handlung und Komposition (,dramatischer Text') wird das Prinzip der f Montage theatralischer Segmente (,szenischer Text') in Interferenz mit dramatischen Segmenten gesucht (so bei B. Beckerman). Der Einfluß von Brechts Theorie des Epischen Theaters ist in der französischen Forschung (P. Pavis, J. Scherer, J.-P. Sarrazac) inzwischen größer als in Deutschland. Lit: Richard Alewyn (Hg.): Deutsche Dramaturgie vom Barock bis zur Klassik. Tübingen 1967. - Bernard Beckerman: Dynamics of drama. New York 1979. - Achim Eschbach: Pragmasemiotik und Theater. Tübingen 1979. - Erika FischerLichte: Semiotik des Theaters. 3 Bde. Tübingen 2 1988. - E. F.-L. u . a . (Hg.): Das Drama und seine Inszenierung. Tübingen 1985. - Gustav Freytag: Die Technik des Dramas. Leipzig 1863. - Klaus Hammer (Hg.): Dramaturgische Schriften des 18./des 19. Jhs. 3 Bde. Berlin/DDR 1969, 1987. - Volker Klotz: Dramaturgie des Publikums. München 1976. - Tadeusz Kowzan: Littérature et spectacle. Den Haag, Paris 2 1975. T. K.: Spectacle et signification. Québec 1992. Patrice Pavis: Semiotik der Theaterrezeption. Tübingen 1988. — Jean-Pierre Sarrazac: L'avenir du drame. Lausanne 1981. - Günter Säße: Die Theatralisierung des Körpers. In: Maske und Kothurn 33 (1987), S. 5 5 - 7 3 . - Jacques Scherer: La dramaturgie classique en France. Paris 1950. Dramaturgies: langages dramatiques. Mélanges pour Jacques Scherer. Paris 1986. - Anne Ubersfeld: L'école du spectateur. Paris 1981. - Jiri Veltrusky: Dramatic text as a component of theatre. In: Semiotics of art. Hg. v. Ladislav Matejka und Irwin R. Titunik. Cambridge/Mass. 1976, S. 9 4 117. - Benno v. Wiese (Hg.): Deutsche Dramaturgie des 19. Jhs. Tübingen 1969. - Otakar Zieh: Estetika dramatického uméní. Prag 2 1986.

Herta Schmid

Dramaturgie2 Büro und Tätigkeitsfeld des Dramaturgen. Expl: Abteilung im Bereich der darstellenden Künste und ihrer /" Medien (Fernsehen,

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Rundfunk, /" Theater, S Film, S Videoclip)', ihr steht der Dramaturg als literarischtheaterwissenschaftlicher und künstlerischer Berater und Mitarbeiter der Spielleitung (y Inszenierung) vor. Sein Tätigkeitsfeld auf der Basis des Wissens von den Gesetzlichkeiten des Dramas (/* Dramaturgie/, Dramentheorie) umfaßt die Beschaffung, Sichtung, Lektüre und Auswahl möglicher Spielvorlagen respektive Übersetzungen ( f Drama, /" Hörspiel, S Drehbuch, ? Libretto, s Oper, /" Fernsehspiel), die Ausarbeitung von Spielplan- und Besetzungsvorschlägen, die Einrichtung der Texte für die praktisch-szenische Realisation, die Auswahl von Hintergrundmaterial, kritische Begleitung der Proben, Redaktion der Programmhefte sowie Öffentlichkeitsarbeit. WortG: Zurückgehend auf das spätgriech. δραματουργία [dramaturgia] D r a m e n d i c h tung, -aufführung', wird der Terminus Dramaturgie bzw. die Personalisierung im Ausdruck δραματουργός [dramaturgos] ,Autor',,Aufführungsleiter von Dramen' im Deutschen erst durch Lessings ,Hamburgische Dramaturgie' (1767—1769) gebräuchlich. BegrG: Vor Lessing erhob schon Johann Elias Schlegel gelegentlich der Errichtung eines Theaters in Kopenhagen die Forderung nach dramaturgischer Mitarbeit. Lessing gab dann der Forderung endgültig den Namen und sanktionierte neben der Füllung des von ihm eingeführten Begriffs .Dramaturgie' als einer Theorie durch sein Beispiel auch die Bedeutung einer programmatisch-konzeptionellen Praxis. Zunächst mit dem Engagement von Theaterdichtern noch als ein Textbeschaffungsamt mißverstanden, setzt sich der Begriff im Sinne der Lessingschen Konzeption im 19. Jh. zunehmend durch. Er behauptet heute sogar dort seine Gültigkeit, wo sich im Bereich der Darstellenden Künste und ihrer neuen Medien die dem Begriff zugrundeliegende Sache, das D r a m a im spezifischen Sinne, verflüchtigt hat. SachG: Beschränkte sich - von Lessings singulärem Beispiel abgesehen - das 18. Jh. auf eine theoretische Forderung nach dra-

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Dramentheorie

maturgischer Mitarbeit, so begann das 19. Jh., die Funktion des Dramaturgen und die Institution der Dramaturgie im Zuge der Etablierung der wandernden Schauspielensembles in festen Häusern auch praktisch einzurichten und auszuformulieren. Für diese Entwicklung repräsentativ sind Joseph Schreyvogel in Wien und der nach Dresden berufene Ludwig Tieck, dessen dramaturgische Schriften von nachhaltiger Wirkung waren. Auch sein Nachfolger Karl F. Gutzkow bestätigte mit seiner Tätigkeit als Dramaturg die Unerläßlichkeit der neuen Disziplin. In Düsseldorf etablierte Karl Immermann, orientiert an Goethes theoretischen Vorstellungen (ζ. B. die Hamletaufführung im ,Wilhelm Meister'), Dramaturgie als unverzichtbare Notwendigkeit. Über Heinrich Laube und Franz von Dingelstedt führt die Entwicklung zu Otto Brahm und ins 20. Jh., in dem angewandte Dramaturgie und der Beruf des Dramaturgen neben der neuen Funktion des Regisseurs in den deutschen Theatern zur Selbstverständlichkeit werden. 1956 erfolgt die G r ü n d u n g der Dramaturgischen Gesellschaft mit Sitz in Berlin, in der die im Arbeitsbereich Dramaturgie2 Tätigen und Interessierten seither organisiert sind. Auch im Bereich der Oper verstärken sich mit Beginn des 20. Jhs. die Ansätze zu dramaturgischer Mitarbeit. Sie gehen Hand in H a n d mit einer Entwicklung zur Literaturoper und zur Ausbildung eines zeitgenössischen Musiktheaters. Die Bedeutung der Dramaturgie und die Stellung des Dramaturgen, im romanischen und angelsächsischen R a u m weithin unbekannt, erreichte in der Arbeit Bertolt Brechts und seiner Schule (Berliner Ensemble) sowie in der anfanglichen Arbeit an der Berliner Schaubühne einen vorläufigen Höhepunkt. Nach deren Muster spricht man heute im Falle besonders enger Zusammenarbeit von Dramaturgie und Regie bei Realisierung eines Projekts von Produktionsdramaturgie. Sie ist begleitet von einer Entwicklung zu einem konzept- und theoriebetonten Regietheater. Höhere Komplexität und mediale Vielfalt im Bereich der darstellenden Künste lassen für die Z u k u n f t eine Ausweitung der dramaturgischen Arbeitsbereiche erwarten.

ForschG: Dramaturgische Arbeit als ein vielseitiges, wenngleich nicht scharf umrissenes Praxisfeld erwies sich im Zuge einer zunächst positivistisch orientierten Theaterwissenschaft als ein beliebtes Objekt wissenschaftlicher Betrachtung. Im Zeichen lokaler und personaler Vorlieben wurde zumeist jenseits theoretischer Reflexion Theatergeschichte als Geschichte vom Wirken berühmter Dramaturgen und ihrer richtungweisenden Repertoiregestaltung geschrieben. Die endgültige Emanzipation der Theaterwissenschaft von der Literaturwissenschaft bei gleichzeitiger Umorientierung vom Positivismus und Historismus zur Analyse des autonomen theatralen Einzelereignisses („Gegenstand des Faches ist die Aufführung, nicht das D r a m a " ) wertet dagegen dramaturgische Arbeit heute auch angemessen als neue reflexive Qualität. Lit: Protokolle der Dramaturgentagungen. Hg. v. der Dramaturgischen Gesellschaft. Berlin 1953-1972. - Schriften der Dramaturgischen Gesellschaft. Bd. 1 ff. Berlin 1973 ff. - Beruf: Dramaturg. Hg. v. der Dramaturgischen Gesellschaft. Berlin 1982. Winfried Hansmann: Der Dramaturgenberuf. Dramaturgenamt und Dramaturgenpersönlichkeiten seit 1800. Diss. Köln 1955. - Heide Kressin: Die Entwicklung des Theaterprogrammheftes in Deutschland von 1894 bis 1941. Diss. Berlin 1968. - Günther Rühle: Spielplanperspektiven. Bern 1984. - Friedrich Schulze (Hg.): Theater im Gespräch. Ein Forum der Dramaturgie. Aus den Tagungen 1 9 5 3 - 1 9 6 0 der Deutschen Dramaturgischen Gesellschaft. München, Wien 1963. - Claudius Seidl: Der Dramaturgenberuf in der zeitgenössischen Theaterstruktur. Magisterarbeit München 1984 (masch.). - Dietrich Taube: Spielpläne deutscher Theater: Anspruch und Wirklichkeit. In: Theaterwesen und dramatische Literatur. Hg. v. Günter Holtus. Tübingen 1987, S. 4 2 5 - 4 3 5 . - Ernst Wendt: Moderne Dramaturgie. Frankfurt 1974.

Joseph

Kiermeier-Debre

Dramentheorie Teilgebiet der Literaturwissenschaft, das die Gesamtheit begrifflicher Systematisierungen in bezug auf Theaterstücke umfaßt.

Dramentheorie Expl: Im Ensemble derjenigen Disziplinen, die sich in der einen oder anderen Weise mit der Erforschung des Sachbereichs /* Drama, also besonders des / Theaters und der als ? dramatisch bezeichneten Texte befassen, kann die Dramentheorie als die allgemeinste angesehen werden: (1) Von der ? Theaterwissenschaft unterscheidet sie sich, indem sie ihr Interesse nicht auf die Systematik und Geschichte der szenischen Realisierungsmöglichkeiten (s Bühne, /" Maske etc.) und ihrer sozialen Institutionalisierungen (/" Inszenierung, / Dramaturgie2 etc.) richtet, sondern auf Grundsatzfragen des zu inszenierenden poetischen Werkes; insofern ist sie eine Teildisziplin der /* Literaturtheorie. (2) Von der produktionsästhetisch denkenden ? Dramaturgie ι unterscheidet sie sich durch ihre rein deskriptiv systematisierende Betrachter-Perspektive; der Dramentheoretiker kann dem Bühnenautor keine Ratschläge geben, sondern er analysiert post festum die Vielfalt der vorliegenden Schauspiele (etwa im Hinblick auf eine Typologie der Figurenrede und der Figurenkonstellation oder auf das Verhältnis von Haupttext und /" Nebentext). (3) Von der Gattungsgeschichte des Dramas bzw. der einzelnen dramatischen Genres (vom Mysterienspiel bis zum Kabarett) unterscheidet sich die Dramentheorie durch ihren nicht historiographisch erzählenden, sondern Prinzipien des dramatischen Spektrums erörternden Ansatz, der erst die begrifflichen Voraussetzungen zur Wahrnehmung geschichtlicher Entwicklungen schafft; insofern ist sie eine Teildisziplin der Gattungstheorie. WortG/BegrG: Das Kompositum Dramentheorie ist ein relativ junger literaturwissenschaftlicher Terminus. Vor dem 20. Jh. scheint er gar nicht belegbar zu sein (vgl. immerhin Vorstufen wie dt. Mündt 1848, frz. Benoist 1891), und auch dann entwikkelt er sich erst stufenweise: wie engl, von theory and technique of playwriting (Lawson 1936) bzw. theory of drama (Nicoli 1937) zu dramatic theory (Lawton 1949, Vowles 1956, Nicoli 1962, Knauf 1968), so dt. von Theorie und Technik des Dramas (Schlag

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1909, deutlich an Frey tags verbreitete „Technik des Dramas" von 1863 anschließend) über Theorie des Dramas (besonders verbreitet durch Szondi 1964) bis zu Dramentheorie — ungeachtet einzelner Frühbelege (wie Newels 1959 oder Münz 1963) eingebürgert erst im Zuge der ,Methodendiskussion' und der damit verbundenen ,Theoriewelle' ab Mitte der 60er Jahre (vgl. bes. die zweibändige Sammlung von Grimm 1971 sowie Kesteren/Schmid 1975). Entscheidenden Einfluß dürfte dabei die Analogiebildung zu meist nur wenig älteren Verbindungen wie Literaturtheorie, Gattungstheorie, Erzähltheorie, Romantheorie und besonders Tragödientheorie (speziell im Zusammenhang mit Aristoteles bereits geläufig) ausgeübt haben. Nunmehr aber wird der Terminus mehr und mehr rückprojiziert auch auf ,vortheoretische' Phasen des Nachdenkens über Theaterstücke, so daß anstandslos von Antiken Dramentheorien (Zimmermann 1992), von der Dramentheorie des 17. Jhs. (Floeck 1973), Lessings Dramentheorie (Rüskamp 1984), der Dramentheorie der Aufklärung (Schmidt-Neubauer 1982), Hegels Dramentheorie (Pillau 1981, Schulte 1992) und - mit eigenartigem metonymischen Euphemismus — gar von der Dramentheorie des Dritten Reichs (Ketelsen 1968) die Rede sein kann. Der neue Terminus verdrängt somit zunehmend — wenn auch nicht vollständig — ältere Bezeichnungen wie Dramenpoetik (vgl. noch Keller 1976), Dramenästhetik (vgl. noch Hebeisen 1961) oder Dramaturgie (vgl. noch Martino 1972 — in einer Reihe zur „Geschichte der dramatischen Theorien"! - gegenüber Schmidt-Neubauer). Er kommt damit dem Bedürfnis der modernen Literaturwissenschaft nach systematischer Erfassung ihrer Gegenstandsgebiete und strengerem Methodenbewußtsein entgegen, dem die Begrifflichkeit der historischen Poetik und Ästhetik allein nicht mehr gerecht werden kann. Antoine Benoist: Les théories dramatiques avant les discours de Corneille. Bordeaux 1891. - Wilfried Floeck (Hg.): Texte zur französischen Dramentheorie des 17. Jhs. Tübingen 1973. - Reinhold Grimm (Hg.): Deutsche Dramentheorien. 2 Bde. Frankfurt 1971, erw. Wiesbaden 3 1980. -

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Dramentheorie

Hans-Martin Hebeisen: Versuch einer ontologischen Analyse der Zeit und der Handlung unter besonderer Berücksichtigung der Ästhetik des Dramas. Winnenden 1961. - Werner Keller (Hg.): Beiträge zur Poetik des Dramas. Darmstadt 1976. - Aloysius van Kesteren, Herta Schmid (Hg.): Moderne Dramentheorie. Kronberg 1975 [mit Spezialbibliographie S. 3 1 8 - 3 3 8 ] . - Uwe-Karsten Ketelsen: Heroisches Theater. Untersuchungen zur Dramentheorie des Dritten Reichs. Bonn 1968. - D. M. Knauf (Hg.): Papers in dramatic theory and criticism. Iowa City 1968. - John Howard Lawson: Theory and technique of playwriting [1936]. Repr. New York 1960. Harold Walter Lawton: Handbook of French Renaissance dramatic theory. Manchester 1949. Alberto Martino (Hg.): Die Dramaturgie der Aufklärung. Tübingen 1972. - Rudolf Münz: Vom Wesen des Dramas. Umrisse einer Theaterund Dramentheorie. Halle 1963. - Theodor Mündt: Dramaturgie, oder Theorie und Geschichte der dramatischen Kunst. 2. Bde. [Berlin 1848], Repr. Eschborn 1992. - Margarete Newels: Die dramatischen Gattungen in den Poetiken des Siglo de Oro. Eine einleitende Studie zum Thema der Dramentheorie im Goldenen Zeitalter. Wiesbaden 1959. - Allardyce Nicoli: The theory of drama. New York 1937. - Α. Ν.: The theatre and dramatic theory. London 1962. Helmut Pillau: Hegels Dramentheorie im Verhältnis zur Schillerschen Dramatik. München 1981. — Wulf Rüskamp: Dramaturgie ohne Publikum: Lessings Dramentheorie [...]. Köln 1984. - Hermann Schlag: Das Drama. Wesen, Theorie und Technik des Dramas. Essen 1909, 2 1917. Herta Schmid: Strukturalistische Dramentheorie. Kronberg 1973. - Joachim Schmidt-Neubauer: Die Bedeutung des Glückseligkeitsbegriffes für die Dramentheorie und -praxis der Aufklärung und des Sturm und Drang. Bern 1982. - Michael Schulte: Die „Tragödie im Sittlichen". Zur Dramentheorie Hegels. München 1992. - Peter Szondi: Theorie des modernen Dramas. Frankfurt 1964. - Jiri Veltrusky: Drama as literature. Lisse 1977. - R. Β. Vowles: Drama theory. A bibliography. New York 1956. - Bernhard Zimmermann (Hg.): Antike Dramentheorien und ihre Rezeption. Stuttgart 1992.

SachG: Dramentheorie hat im Rahmen der ? Poetik eine mehr als zweitausendjährige Geschichte. Z u unterscheiden sind zwei historische Linien: (a) Die ,präskriptivistische' normative Dramenpoetik (vorrangig der o/-Begriffes im Gefolge der Neubewertung der / Allegorie2 verbunden. Sie macht den Blick frei für konventions- und traditionsgebundene Formen der Farbensymbolik, die die Mediävistik schon im 19. Jh. gebucht hatte (Wakkernagel). Die Wendung der Kunstgeschichte zur Ikonographie wirkte in die gleiche Richtung. Beidem schuf die in der Theologie (de Lubac, vgl. Ohly) vorbereitete Etablierung einer mediävistischen Bedeutungsforschung (Ohly) ein neues Fundament in theoretischer wie materieller

(künftig: Meier-Staubach/Suntrup) Hinsicht. Von der Theorie der abstrakten Malerei hat die wahrnehmungspsychologisch fundierte kunstwissenschaftliche Ästhetik neue Impulse erhalten (Itten). Lit: Eva Frodl-Kraft: Die Farbsprache der gotischen Malerei. In: Wiener Jb. für Kunstgeschichte 30/31 (1977/78), S. 89-178. - John Gage: Kulturgeschichte der Farbe. Ravensburg 1994. - Fritz Haeberlein: Grundzüge einer nachantiken Farbenikonographie. In: Römisches Jb. für Kunstgeschichte 3 (1939), S. 7 6 - 1 2 6 . - Alfred Hermann, Michelangelo Cagiano de Azevedo: Farbe. In: RAC 7, Sp. 358-447. - Johannes Itten: Kunst der Farbe. Ravensburg 1961. Otto Lauffer: Farbensymbolik im deutschen Volksbrauch. Hamburg 1948. - Thomas Lersch: Farbenlehre. In: R D K 7, Sp. 157-274. - Christel Meier: Die Bedeutung der Farben im Werk Hildegards von Bingen. In: FMSt 6 (1972), S. 245-355. - C. Meier-Staubach, Rudolf Suntrup: Zum Lexikon der Farbenbedeutungen im Mittelalter. In: FMSt 21 (1987), S. 390-478. Carl Mengis: Farbe. In: Handwb. des deutschen Aberglaubens. Bd. 2. Berlin, Leipzig 1930, Sp. 1189-1215. - Friedrich Ohly: Vom geistigen Sinn des Wortes im Mittelalter. In: ZfdA 89 (1958/59), S. 1 - 2 3 . - F. O.: Schriften zur mittelalterlichen Bedeutungsforschung. Darmstadt 1977. - Angelika Overath: Das andere Blau. Zur Poetik einer Farbe im modernen Gedicht. Stuttgart 1987. - Peter Schmidt: Goethes Farbensymbolik. Berlin 1965. - Albrecht Schöne: Goethes Farbentheologie. München 1987. - Sigmund Skard: The use of colour in literature. A survey of research. In: Proceedings of the American Philosophical Society 90.3 (1946), S. 163-249. Joachim Schultz (Hg.): Ein Rot, ein Grün, ein Grau vorbeigesendet. Farben in der deutschen Lyrik von der Romantik bis zur Gegenwart. München 1994. - Otto Stelzer: Die Vorgeschichte der abstrakten Kunst. München 1964. Rudolf Suntrup: Farbensymbolik. In: LexMA 4, Sp. 289-291. - Felix Thürlemann: Dürers Farbsyntax im Text und im Bild. In: Text und Bild, Bild und Text. Hg. von Wolfgang Harms. Stuttgart 1990, S. 6 6 - 7 8 . - Elizabeth Tucker: Farben, Farbensymbolik. In: EM 4, Sp. 840-853. - Wilhelm Wackernagel: Die Farben- und Blumensprache des Mittelalters. In: W. W.: Kleinere Schriften. Bd. 1. Leipzig 1872, S. 143-240.

Klaus Grubmüller

Farce ? Schwank\

Fassung

Fassung Vollendete oder nicht vollendete Ausführungen eines (Kunst-)Werks, die voneinander abweichen. Expl: (Text-)Fassungen sind unterschiedliche Ausführungen eines insgesamt als identisch wahrgenommenen Werks. Sie können auf den Autor, aber auch auf fremde Personen zurückgehen. Fassungen können sich voneinander durch Wortlaut, Form und Intention unterscheiden. Sie sind durch partielle ,Textidentität' aufeinander beziehbar und durch ,Textvarianz' voneinander unterschieden (Scheibe, 28). Autorfassungen sind vom Autor verantwortete, aufeinander folgende Gestaltungen, die in der Regel für einen bestimmten Zeitpunkt das für ihn gültige Werk darstellen. Unter den überlieferten Fassungen eines Werks haben der Erstdruck (.Fassung früher Hand') und der letzte vom Autor überwachte Druck (.Fassung letzter Hand') einen besonderen Stellenwert. In Extremfallen der Überarbeitung können sich Fassungen derart voneinander unterscheiden, daß man auch von verschiedenen Werken sprechen könnte. Allerdings sind objektivierbare Kriterien für eine solche Unterscheidung bislang nicht erarbeitet worden. Die jeweilige Entscheidung liegt in der Verantwortung des Editors oder des Interpreten. WortG: Abgeleitet von fassen (mhd. vazzeri), ,bereiten', ,rüsten', .einrichten' (DWb 3, 1340, 1342). Philologisch wird unter dem Begriff die dem Inhalt einer Schrift gegebene Darstellungsform verstanden. BegrG: Ein verbindlicher Begriff, der das Phänomen von identischen bzw. Varianten Ausführungen eines Werks beschreibt, fehlte lange. Erst seit dem 18. Jh. ist die Vorstellung vom authentischen Werk (s Authentizität) und damit auch die Bedeutung von Fassungen als Zeugnis ästhetischer und poetischer Leistung geläufig, während für das Mittelalter unter einem sich in unterschiedlichen Fassungen präsentierenden ,Werk' pauschal das sich „jeweils im Vollzug dem Publikum mitteilende Kunstprodukt" (Henkel, 1) zu verstehen ist.

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Goethe spricht mit Blick auf Wieland in seinem Aufsatz, Literarischer Sansculottismus' (1795) von den „stufenweisen Correcturen dieses unermüdet zum Bessern arbeitenden Schriftstellers" (WA I 40, 201); er lieferte damit den häufig zitierten Beleg für einen wie auch immer definierten Fassungsbegriff. Neben dem Begriff der Fassung existieren in synonymer oder konkurrierender Verwendung die Begriffe REDAKTION, T r a dition' und ,Rezension', die häufig auf die historische ,Gebrauchsform' von Texten Bezug nehmen (Strohschneider, 433). Johann Wolfgang Goethe: Werke [Weimarer Ausgabe, WA], Weimar 1887-1919. SachG: Aus der Antike haben sich keine auf einen Autor zurückgehenden Fassungen eines Werks erhalten, bei den überlieferten Fassungen handelt es sich um Fremdfassungen. Bei der Überlieferung mittelalterlicher Literatur ist im Einzelfall zu prüfen, ob die erhaltenen Fassungen auf einen Autor (ζ. B. Straßburger oder Vorauer Fassung des , Alexanderliedes'), auf variierende anonyme (mündliche) Traditionen (ζ. B. Nibelungenlied') oder auf eine eigenständige fremde Bearbeitung zurückgehen. Die neuere deutsche Literatur kennt sowohl die vom Autor gewollte Neufassung als auch die ohne seine Willensbekundung und Mitwirkung (/" Autorisation) erfolgte Neubearbeitung eines Werks. Zahlreiche Ursachen sind für das Entstehen von Fassungen zu nennen: erneute Heranziehung von Quellen, Anpassung an einen neuen Adressatenkreis (Bühnenfassungen, Zeitschriftenfassungen), ästhetische Erwägungen (Goethe: .Iphigenie', Mörike: ,Maler Nolten', Keller: ,Der grüne Heinrich', Gedichte von C. F. Meyer), Zensurrücksichten (Heine: ,Deutschland. Ein Wintermärchen'), politische Gründe (Brecht: ,Das Leben des Galilei'), Wünsche eines Verlegers (Remarque: ,1m Westen nichts Neues'), kommerzielle Erwägungen. ForschG: Mit der Einsicht, daß ein Werk der neueren Literatur fast immer in mehrfacher Gestalt überliefert ist, war die Notwendigkeit verbunden, den Begriff der Fassung terminologisch zu präzisieren (Martens, 5). Während die Textphilologie noch bis zu Karl Lachmanns Lessing-Ausgabe (1838 —

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Fastnachtspiel

1840) es als ihre Aufgabe ansah, .Fassung' ausschließlich als methodisches Konstrukt zu betrachten, mit dessen Hilfe aus der jeweiligen Überlieferung ein Originaltext wiederzugewinnen bzw. der ,beste' Text herzustellen sei, hat sich heute die Einsicht durchgesetzt, jede überlieferte Fassung eines Werks als prinzipiell eigenständiges und gleichrangiges Dokument einer autorisierten Werkausführung oder als Zeugen des historischen Gebrauchs eines Werks (textus receptus) zu betrachten. Die Frage allerdings, welchen U m f a n g die Textvarianz bzw. Textidentität haben müsse, um eine Fassung bzw. ein Werk zu konstituieren, blieb bei allen Definitionsversuchen kontrovers. Betrachtet man es als Konsens, daß das Werk aus der Summe seiner historisch fixierbaren Textfassungen bestehe (Scheibe, 21 f.), so wurde zu recht erwogen, diese formale Definition u m inhaltliche Kriterien zu erweitern, z. B. daß ein „Werk aus den Fassungen bestehe, die dieselben zentralen Motive kombinieren" (Zeller/Schilt, 83). In der Editionspraxis gibt es verschiedene Möglichkeiten, dem Phänomen der Fassung gerecht zu werden. Während in der Altphilologie der Umgang mit überlieferten Fassungen eines Werks als Rechtfertigung für die Konstitution eines kritischen Textes streng zweckbedingt ist, in der Mediävistik neben diesem Verfahren bei entsprechenden Überlieferungsbedingungen (Autorfassung nicht fixierbar) der Paralleldruck von Fassungen praktiziert wird, sind Fassungen in der neuphilologischen Edition, wo ein authentischer oder autorisierter Text eines Autors keine Rechtfertigung benötigt, eher Zeugnis für die Textgenese (Hurlebusch, 12). Spuren dieses unterschiedlichen Verständnisses finden sich etwa in der Weimarer Goethe-Ausgabe (1887-1919), die das Werk Goethes in der Fassung der Ausgabe letzter Hand als maßgeblich ansah, während Friedrich Beißner in der großen Stuttgarter Hölderlin-Ausgabe (1943—1985) jene Texte Hölderlins, die in keiner Ausgabe letzter Hand, sondern meistens nur in Nachlaßhandschriften vorliegen, textgenetisch zu deuten und als Abfolge von Fassungen darzustellen versucht hat.

Der editorische Konsens der Neugermanisten, daß alle autornahen Fassungen prinzipiell als gleichwertig zu betrachten sind, bedeutet, die Auswahl einer Fassung als Grundlage der Edition nach P r ü f u n g der jeweiligen Text- und Überlieferungsgeschichte in die Verantwortung des Editors zu geben. Für die Wahl einer Fassung früher Hand als Textgrundlage spricht die Tatsache, daß durch sie der „Abschluß des eigentlichen Entstehungsprozesses eines Werks" (Hagen, 119) repräsentiert ist und das Werk erstmals öffentlich bekannt wurde. Eine Fassung letzter H a n d als Textgrundlage dokumentiert dagegen eher den Abschluß eines kontinuierlichen Arbeitsprozesses. Im Einzelfall hat man sich f ü r den parallelen Abdruck von stark variierenden Fassungen entschieden. Lit: Waltraut Hagen: Frühe Hand - späte Hand? In: Scheibe u. a. 1991, S. 1 1 1 - 1 2 4 . - Nikolaus Henkel: Kurzfassungen höfischer Erzähltexte als editorische Herausforderung. In: Editio 6 (1992), S. 1 - 1 1 . - Gunter Martens: Was ist ein Text? Ansätze zur Bestimmung eines Leitbegriffs der Textphilologie. In: Poetica 21 (1989), S. 1 - 2 5 . - Siegfried Scheibe: Zum editorischen Problem des Textes. In: ZfdPh 101 (1982) [Sonderheft: Probleme neugermanistischer Edition], S. 1 2 - 2 9 . - S. Sch. u. a. (Hg.): Zu Werk und Text. Berlin 1991. - Peter Strohschneider: Höfische Romane in Kurzfassungen. In: ZfdA 120 (1991), S. 4 1 9 - 4 3 9 . - Hans Zeller, Jelka Schilt: Werk oder Fassung eines Werks? In: Scheibe u. a. 1991, S. 6 1 - 8 6 .

Bodo Ρlach ta

Fastnachtspiel Dominierender Typ des weltlichen Spiels im ausgehenden Mittelalter, der wesentlich bestimmt ist durch die Bindung an die Situation Fastnacht im städtischen Kontext. Expl: Im Unterschied zu den sehr wahrscheinlich älteren Typen des Neidhart(/" Neidhartiana) und des Jahreszeitenspiels (, Streit zwischen Mai und Herbst') ist das Fastnachtspiel eine weitaus umfangreicher bezeugte G a t t u n g des 15. und 16. Jhs. Die in Reimen abgefaßten Spiele werden von

Fastnachtspiel Laien zu Fastnacht aufgeführt und sind ein neu entstehendes Medium städtischer Festkultur. Aufgrund der Prägung durch diese Funktion unterscheidet sich das Fastnachtspiel grundlegend von uns vertrauten Erscheinungsformen des D r a m a s und ist deshalb mit deren Kategorien nur unzureichend beschreibbar. Schon unsere Kenntnis der Spieltexte, d. h. ihre Überlieferung in Handschriften und Drucken, beruht auf einem veränderten Rezeptionsinteresse. Auch in den aufgezeichneten Fassungen jedoch dokumentiert sich die Zweckbindung der Spiele darin, daß ihre Verfasser zunächst nicht genannt werden (/" Geistliches Spiel)·, dies ändert sich mit zunehmender Literarisierung. D a bei der Uberlieferung die Texte der Nürnberger Spieltradition bei weitem dominieren, schwebt eine Bestimmung der G a t t u n g in der Gefahr, nur sie zum Maßstab zu machen. Eine solche Beschreibung würde das Bild aber verzeichnen, denn der Befund ist vielgestaltiger. Die im Vergleich zu den überlieferten Spieltexten sehr viel zahlreicheren Belege für Aufführungen in städtischen Rechnungsbüchern, Ratsprotokollen und Chroniken lassen erkennen, daß mit einer Verbreitung des Fastnachtspiels im ganzen deutschen Sprachraum zu rechnen ist. Ausgeprägte Spieltraditionen sind — außer in Nürnberg — jedoch nur in Lübeck, im (böhmischen) Eger, in Tirol und im alemannischen Bereich nachweisbar, wobei deutliche lokale Unterschiede bezüglich Aufführungspraxis, Umfang, Charakter und Intention der Spiele bestehen. Das Spektrum reicht von kurzen Texten (ca. 200 Verse), die als närrisch witziger Beitrag zur Fastnachtsgeselligkeit angelegt sind, bis zu Großformen (1300 bis 4000 Verse) mit ernster Thematik und lehrhafter Ausrichtung. WortG: Das seit dem 13. Jh. bezeugte Wort Fastnacht ist in den mundartlich bedingt verschiedenen Formen vasnaht, vasenaht, vastnaht u. a. belegt, der erste Bestandteil wird kontrovers gedeutet: Während einerseits Ableitungen postuliert werden, die einen Zusammenhang mit Fastnachtsbräuchen oder Fruchtbarkeitskulten herzustellen suchen (ζ. B. f r n h d . f a s e l n , mnd. vaselen g e deihen, sich vermehren'), stützt sich die an-

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dere Auffassung auf mhd. vaste ,Fasten' und versteht vastnaht als .Vorabend der Fastenzeit'. Als ursprüngliche Bedeutung wird dies inzwischen in Frage gestellt (Seebold). Die jüngere Fastnachtspiel-Forschung geht von der zweiten Deutung aus, die erste hat bei dem heute als überholt geltenden Versuch, das Fastnachtspiel aus Brauchtumsformen abzuleiten, eine Rolle gespielt. Elmar Seebold: Fastnacht und fasten. In: Aspekte der Germanistik. Hg. v. Walter Tauber. Göppingen 1989, S. 493-505. BegrG: Der Begriff ,Fastnachtspiel' umfaßt im Spätmittelalter sehr verschiedenartige Formen von Unterhaltung: Er ist belegt für Fastnachtspiele und andere Arten fastnächtlichen Vergnügens, auch für sonstige Spiele und Belustigungen — z. B. das Vorführen von Tanzbären - außerhalb von Fastnacht. Für Fastnachtspiele selbst sind ebenso andere Bezeichnungen wie spil oder paurenspil gebräuchlich. Terminologisch gebraucht ist der Begriff schon in der Handschrift, mit der die Überlieferung der Nürnberger Spieltradition vermutlich beginnt (Cgm 714, nachträglicher Eintrag: Vasnacht Spil Schnepers [i. e. H a n s Rosenplüt]). Mit dem Ende der Gattung verschwindet nach 1600 zugleich die Bezeichnung. Sie taucht Mitte des 18. Jhs. bei Gottsched erneut auf. Die Verwendung bei Goethe und anderen Autoren, die im Rezeptionszusammenhang der Literaturfarce ,Fastnachtspiele' dichten, hat den Charakter „bewußter Kontrafaktur" (Catholy 1966, 79). SachG: Das historische Erscheinungsbild der G a t t u n g ist nach Spielorten und nach Spieltraditionen zu unterscheiden: (1) Die Lübecker Tradition ist von der Theaterkultur der Niederlande beeinflußt (s Mor alitât). Zwar ist nur ein Spieltext erhalten, daneben jedoch eine Liste mit Titeln von 73 Spielen, die von 1430 bis 1515 aufgeführt wurden; sie zeigt ein breitgefachertes Interesse, das von Stoffen antiker Epik (Alexander, Troja) über Karl den Großen und Artus bis zu Tugendlehren städtischen Gemeinschaftshandelns reicht, sowie eine Neigung zur Allegorisierung, die auf Exempelstruktur und lehrhafte Ausrichtung einer ganzen Reihe von Spielen schließen läßt.

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Fastiiachtspiel

Das bestätigt das einzige überlieferte Spiel, ,Henselin', in dem die Gesellschaft im Zustand von Unrechtmäßigkeit vorgeführt und rechtmäßiges Handeln durch einen weisen Narren vertreten wird. Träger der Spiele sind Angehörige des städtischen Patriziats, der Zirkelbruderschaft; gespielt wird auf einer erhöhten Bühne im Freien. (Die weiteren 6 aus dem niederdeutschen Raum überlieferten Fastnachtspiele sind von Thema, Form und Intention her verschiedenartig und orientieren sich ebenfalls an der niederländischen Tradition.) (2) Ein deutlich anderes Profil hat die ebenfalls in den ersten Jahrzehnten des 15. Jhs. einsetzende Spieltradition in Nürnberg. Die Gattung profitiert hier offensichtlich davon, daß angesehene Nürnberger Autoren wie Hans Rosenplüt und Hans Folz sie in ihr literarisches Repertoire aufnehmen, Rosenplüt dürfte dabei typbildend gewirkt haben. Auch die reiche Uberlieferung der aus dem 15. Jh. überlieferten Spieltexte (ca. 100) ist möglicherweise durch die besonderen Bedingungen der literarischen Situation in Nürnberg zu erklären. Träger der Spielkultur sind in Nürnberg Handwerksgesellen, die Mitwirkung von Söhnen patrizischer Familien ist nicht auszuschließen. Nachweislich seit 1474 unterstehen die Aufführungen der Kontrolle des Rats der Stadt. Die Spielpraxis hat zunächst eher improvisierenden Charakter; die von Haus zu Haus ziehende Gruppe spielt in der Wirtsstube, auch in Bürgerhäusern, ohne Bühne, mit einfachsten Requisiten. Formelhafte Wendungen in Pro- und Epilogen lassen erkennen, wie eng die in den Spielen fingierte Realität an die Fastnachtsgeselligkeit gebunden bleibt (Begrüßung der Anwesenden durch den Ausschreier, Bitte um Aufmerksamkeit, erneute Überleitung ins Fastnachtstreiben durch Aufforderung zum Tanz am Schluß u. a.). Die meist kurzen Spieltexte (ca. 200 Verse) sind in der Mehrzahl als eine Reihung von Auftritten einzelner Personen angelegt, strukturiert durch witzig pointierte Überbietung (,Reihenspiele'); komplexere Formen (.Handlungsspiele') gibt es daneben von Anfang an. Auch in thematischer Hinsicht sind diese Spiele von ihrem Kontext bestimmt: Wäh-

rend eine Reihe von Texten die Situation Fastnacht zum Gegenstand macht (Streit zwischen Fastnacht und Fastenzeit, Fastnachtsbräuche), knüpfen andere an literarische Traditionen des Spätmittelalters (Schwänke, Minnethematik) an. Bevorzugte Figur ist der Bauer in der Narrenrolle, typischer Repräsentant einer Welt im Zeichen fastnächtlicher Normverkehrung, deren Reizvorrangig in der Sinnreduktion auf die Ebene direkter Körperlichkeit besteht; das Vergnügen an Geschlechtlichkeit und Exkrementen aller Art beherrscht weitgehend die Szene. Daß solche Pervertierungen auch erkenntnisinitiierende Funktion haben können, zeigen die — allerdings wenigen — Spiele, die ernsten Themen gewidmet sind und/oder aktuelle gesellschaftliche Probleme (Notwendigkeit einer Reichsreform, die schädigenden Auswirkungen adeliger Fehde, antijüdische Apologetik u. a.) aufgreifen und dabei reichsstädtisches Interesse zur Geltung bringen. Dieses relativ einheitliche Erscheinungsbild der Gattung in Nürnberg differenziert sich im 16. Jh. Der traditionelle Typ wird fortgesetzt (Peter Probst), aber auch der Einfluß der englischen Komödianten macht sich bemerkbar (Jakob Ayrer). Wie prägend jedoch die Gattungstradition ist, zeigt sich bei Hans Sachs, der auch andere Typen des Dramas verfaßt, mit 85 Fastnachtspielen dem Typ aber einen bevorzugten Platz einräumt, ihn sorgfältig vom neuen Typ der ,comedi' (s Komödie) unterscheidet und an wichtigen Gattungsmerkmalen (Kürze der Texte, geringe Personenzahl, häufige Verwendung des Prinzips der Reihung u. a.) festhält. Unverkennbar allerdings ist bei ihm die literarische Emanzipation der Spiele vom direkten Situationsbezug. Das breite Spektrum literarischer Quellen wird aktueller und öffnet sich der Weltliteratur (Boccaccio, Paulis .Schimpf und Ernst', antike Fabeln u. a.). Der Steigerung des literarischen Anspruchs entspricht ein stärker routinierter Spielbetrieb: Die Truppe bleibt längerfristig zusammen, gespielt wird an einem festen Ort mit Bühne. (3) Während wir von einer Spieltradition in Eger nur durch Nachweise in städtischen Rechnungsbüchern zwischen 1442 und 1538

Fastnachtspiel Kenntnis haben, ist die Spielpflege in Tirol durch eine Textsammlung dokumentiert, die Vigil Raber - selbst als Spielführer und Spieler tätig - im frühen 16. Jh. aufgezeichnet hat und die geistliche Spiele sowie 25 Fastnachtspiele enthält. Obgleich ζ. T. Nürnberger Spiele als Vorlage nachgewiesen sind, steht die Eigenständigkeit der Tiroler Spieltradition aufgrund ihrer literarischen Qualität, ihres breiten Themenspektrums und ihres lokalen Bezugs außer Frage· (4) Die von Gestalt wie Funktion her sehr verschiedenartigen Spiele und Spielpraktiken im alemannischen Bereich (Schweiz, vor allem Basel, Bern und Luzern; Elsaß) lassen in einem Punkt eine gemeinsame Tendenz erkennen: Das gesellschaftskritische Potential der Gattung, das in den Nürnberger und Tiroler Spielen nur am Rande zur Geltung kommt, wird hier zu einem Impuls, der Funktionsveränderungen zur Folge hat. Schon in den ζ. T. noch in vorreformatorischer Zeit entstandenen Spielen von Pamphilus Gengenbach kann allgemeine lehrhafte Ausrichtung die konkrete Form einer Satire auf korrupte Geistlichkeit annehmen; mit Niklas Manuel schließlich tritt das Fastnachtspiel in den Dienst der Reformation. Träger dieses Typs von Spielen (ca. 1500 Verse und mehr) ist das bildungsbewußte Patriziat. Trotz solcher Funktionsveränderung bleibt die Gattung den Bedingungen mittelalterlicher Spieltradition verhaftet. Mit dem Einbruch des Berufstheaters findet sie keine nennenswerte Fortsetzung mehr. ForschG: Trotz der schon Mitte des 19. Jhs. einsetzenden editorischen Erschließung fand das Fastnachtspiel zunächst nur geringes Interesse, bedingt durch Moralvorstellungen, die einen Zugang zu dem fastnächtlichen Vergnügen an Geschlechtlichkeit und Unflat verwehrten. Auch die erste philologisch fundierte Monographie (Michels 1896) konnte diesen Bann nicht brechen. Als Teil fastnächtlichen Brauchtums wurde das Fastnachtspiel Gegenstand von Volkskunde und Kulturgeschichte, wobei die Frage nach dem Ursprung - zugespitzt in dem Versuch einer Herleitung aus germanisch-heidni-

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schem Kultismus (Stumpfl 1936) — lange Zeit die Diskussion beherrschte. Erst Anfang der 1960er Jahre gewann eine neue Sicht Kontur, die den Qualitäten galt, durch die sich die Spiele von Formen des Brauchtums unterscheiden, ihrer Literarizität (Catholy, Lenk). Im Vordergrund stand nun die Frage nach der spezifischen Historizität der Gattung. Versuche, die in der frühen Nürnberger Spieltradition dominierende Lust an Sexuellem und Fäkalien durch Zuhilfenahme psychoanalytischer Theoreme historisch zu deuten, beriefen sich auf psychisch-soziale Nöte der Nürnberger Handwerksgesellen und schrieben den Spielen Ventil-, Sublimations- und sogar Protestfunktion zu (Merkel, Krohn). Zum gegenteiligen Ergebnis führte der Ansatz, das literarische Geschehen als Zurschaustellung von Fehlverhalten und die Spiele selbst als Medium kirchlicher Moralpädagogik zu verstehen (Moser). Zwischen diesen beiden Thesen kam Untersuchungen, die unter breiterer Perspektive Anforderungen und Bedürfnisse städtischer Existenz im 15. und 16. Jh. zu rekonstruieren und mit den Spielen zu verbinden suchten, eine vermittelnde Funktion zu (Kartschoke/Reins, Bastian). Neue Impulse sind von einer historisch-anthropologischen Fastnachtsdiskussion zu erwarten, die — orientiert an Bachtins Theorie einer Karnevalskultur — das konstruktive Potential sozialen Ausdrucks und gesellschaftlicher Gestaltung betont, das der närrischen Freiheit zur Normverkehrung innewohnt (Schindler). Sie ließen sich verbinden mit der in der Fastnachtspiel-Forschung zu beobachtenden Tendenz, stärker als bisher städtische Festkultur als den Kontext, in dem die Spiele aufgeführt worden sind, zu berücksichtigen (E. Simon). Lit: Fastnachtspiele des 15. und 16. Jhs. Hg. v. Dieter Wuttke. Stuttgart 1973, 2 1978 [mit Bibliographie der Primärliteratur]. Zu ergänzen: Sterzinger Spiele. Hg. v. Werner M. Bauer. Wien 1982. Michail Bachtin: Rabelais and his world. Cambridge 1968 [dt. Frankfurt 1987], - Hagen Bastian: Mummenschanz. Frankfurt 1983. Werner M. Bauer: Engagement und Literarisierung. In: Tiroler Volksschauspiel. Hg. v. Egon Kühebacher. Bozen 1976, S. 3 5 - 5 9 . - Eckehard

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Fazetie

Catholy: Das Fastnachtspiel des Spätmittelalters. Tübingen 1961. - E. C.: Fastnachtspiel. Stuttgart 1966. — E. C.: Das Tiroler Fastnachtspiel und Nürnberg. In: Tiroler Volksschauspiel, S. 60—73. - Ingeborg Glier: Personifikationen im deutschen Fastnachtspiel des Spätmittelalters. In: DVjs 39 (1965), S. 542-587. - Erika Kartschoke, Christiane Reins: Nächstenliebe — Gattenliebe - Eigenliebe. In: Hans Sachs. Hg. v. Thomas Cramer und E. K. Bern 1978, S. 105—138. - Rüdiger Krohn: Der unanständige Bürger. Kronberg 1974. - Werner Lenk: Das Nürnberger Fastnachtspiel des 15. Jhs. Berlin 1966. - Johannes Merkel: Form und Funktion der Komik im Nürnberger Fastnachtsspiel. Freiburg 1971. - Victor Michels: Studien über die ältesten deutschen Fastnachtspiele. Straßburg 1896. - Dietz-Rüdiger Moser: Fastnacht und Fastnachtspiel. In: Hans Sachs und Nürnberg. Hg. v. Horst Brunner u. a. Nürnberg 1976, S. 182-218. - Johannes Müller: Schwert und Scheide. Bern u. a. 1988. - Hedda Ragotzky: Der Bauer in der Narrenrolle. In: Typus und Individualität im Mittelalter. Hg. v. Horst Wenzel. München 1983, S. 7 7 - 1 0 1 . - Norbert Schindler: Karneval, Kirche und verkehrte Welt. [Sowie] ,Heiratsmüdigkeit' und Ehezwang. In: N. Sch.: Widerspenstige Leute. Frankfurt 1992, S. 1 2 1 174 u. 175-214. - Eckehard Simon: Zu den Anfängen des weltlichen Schauspiels. In: Jb. der Oswald von Wolkenstein Gesellschaft 4 (1986/87), S. 139-150. - Gerd Simon: Die erste deutsche Fastnachtsspieltradition. Hamburg 1970. - Robert Stumpfl: Kultspiele der Germanen als Ursprung des mittelalterlichen Dramas. Berlin 1936. - Edith Wenzel: Synagoga und Ecclesia. In: IASL 12 (1987), S. 5 7 - 8 1 .

Hedda

Faszikel

Ragotzky

Codex

Fazetie Schwankhaft-anekdotische Kurzerzählung (ursprünglich) in lateinischer Sprache. Expl: Im engeren Sinn steht Fazetie für die historisch durch Poggio Bracciolini kanonisierte kurze lateinische Prosaerzählung mit witziger Pointe: dem facete (bzw. facetum) dictum, der .witzigen Äußerung', oder — ohne wörtliche Schlußrede — dem facete factum, der ,witzigen Tat'. Charakteristisch

ist die Vorliebe für biotisch-,alltägliche' Sujets, für Erotisches und Sexuelles bis hin zum Obszönen, für Sozialkritisches (insbesondere zu Klerus, Universitätsleben usw.) - im Prinzip der weite Gegenstandsbereich des f Satirischen und zum Teil der f Komödie. Ihrer Form und ihrer Funktion nach berührt sich die Fazetie des ,dictum'-Typs speziell mit ^ Aphorismus, ? Apophthegma, Bonmot, /" Witz, Zote, die des .factum'Typs auch mit Anekdote, ? Epigramm, / Märe, /" Novelle, S Schwankt usw. Im weiteren Sinn wird unter Fazetie — auch im Bezug auf muttersprachliche Texte — alles das verstanden, was sich als ,kurze, schwankhafte Erzählung' umschreiben läßt, mit all den Abgrenzungsproblemen, die gattungs- und funktionsgeschichtlich für den Schwank-Begriff kennzeichnend sind. WortG: Als geprägter Ausdruck, aber noch nicht als Gattungsbezeichnung ist facetia in der antiken Latinität seit Plautus fest verankert: ,Scherz, Witz, launiger Einfall'. Dabei schimmert mit italischer Akzentuierung (wichtig wieder in der Renaissance!) mitunter das ,Glänzende',,Funkelnde' (fax, ,Fakkel') durch. Auffallig ist von früh an die Beliebtheit der Pluralform: facetiae als Kollektivbezeichnung für ,Scherzreden, Spottreden, beißenden Witz'. Facetia erscheint häufig auch als Leistung des geistreichen Menschen (facetus) in betonter Nähe zu den Idealbestimmungen urbaner Gewandtheit. Auf eine Typenbezeichnung dieser Art spielt noch der Titel,Facetus' an, unter dem zwei mittellateinische Lehrgedichte über zivilisierte Umgangsformen zitiert werden. BegrG: Die antiken Zeugnisse, wie sie vor allem Cataudella zusammengetragen hat, lassen zwar auch in Rom noch keine klare literarische Begriffsbildung erkennen. Ein wichtiger Schritt hierzu liegt jedoch in der Verknüpfung mit Erzählungen und Sprüchen' geistreicher Menschen (z. B. Caesars). Für die Neuzeit ist facetia als Gattungsterminus fixiert seit dem Humanisten und Kuriensekretär Gian Francesco Poggio Bracciolini (1380—1459) und dessen Sammlung .Facetiae' oder auch ,Liber facetiarum' (gedruckt zuerst 1470). Daß er in der .praefatio' die Erzählungen „nostras confabulatio-

Fazetie nés" (,unser Geschichtenerzählen') nennt (Ciccuto, 108), leitet sich aus der idealtypischen Lokalisierung im .Bugiale' her: dem vatikanischen Lästerkabinett, in dem gestreßte Kurienfunktionäre D a m p f ablassen und sich rekreieren (Ciccuto, 406—408). Die frühesten Eindeutschungen aus dem 15./16. Jh. (Steinhöwel, Nielas von Wyle, Tünger, Brant u. a.) bevorzugen — mit zahlreichen Übergängen zu anderen Synonymen — Scherzred(e), Schimpfred(e) — neben dem Fremdwort facecien (etwa bei Tünger). Im Titel der Übersetzung von Bebels f a c e tiae' erscheint schließlich Geschwenck (1558). Später tritt, sofern das Fremdwort nicht beibehalten wird, überwiegend die weitgefaßte Bezeichnung Schwank an diese Stelle. Die Legitimierung des (manchen) als anstößig erscheinenden Genres bedient sich zahlreicher Argumente, die aus der antiken wie mittelalterlichen Komödien- und Satirentheorie bekannt sind: Herunterspielen auf eine ,mittlere' oder gar ,niedere' Ebene der Bedeutsamkeit und des Stils; Verankerung des fazetuösen Vergnügens in einem Grundbedürfnis nach psycho-physischer Entspannung; Behauptung eines notwendigen Freiraums. Die .Ausnahme' aus den gesellschaftlichen Konventionen geschieht nach dem Muster der altrömischen Saturnalien, des Karnevals, der Fasnacht, aber im lateinischen Medium. Dies sorgt sowohl für die Exklusivität wie f ü r den Selbstbeweis des humanistischen Sprachvermögens. Bei der programmatischen Übertragung des italisch-autochthonen und zugleich römisch-weltläufigen Fazetien-Begriffs in den deutschsprachigen Südwesten ist die Tendenz zur sorgsamen Moralisierung offenkundig. Der Konstanzer D o m h e r r Augustin Tünger kündigt in der Widmungsrede seiner ,Facetiae' (1486) für den Grafen Eberhard im Bart zwar auch Kurzweil, aber für jede Erzählung eigens „ain nachvolgende 1er" an (von Keller, 4). Heinrich Bebel ( 1 4 7 2 1518), der schwäbische Humanist bäuerlicher Herkunft und Tübinger UniversitätsPoeta, unternimmt es in den Rahmentexten zu den drei Bänden ,Facetiae' (1509—1512) erstmals, Poggios Fazetien-Begriff ehrgeizig ins äquivalent Bodenständige zu wenden.

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Der Prestige-Erfolg der ,Facetiae' läßt auch den Begriff der facetia im deutschsprachigen Bereich auf längere Zeit hinaus mit den Namen Poggio und Bebel verknüpft sein. In der Ausprägung als akademische, studentische Witzrede, wie sie Julius Wilhelm Zincgrefs ,Facetiae pennalium' (1618) repräsentieren, erhält der Begriff — neben dem .Lustigen' — auch schon Konnotationen des Serienhaften, ja der stupiditas. Im übrigen beginnt schon seit der 1. Hälfte des 16. Jhs., im Zeichen der großen Exempelund Schwanksammlungen (Gast, Muling, Pauli) und dann der schwankhaften muttersprachlichen Großformen, die Fazetie an Attraktivität zu verlieren. Schon Bebels schwäbischer Landsmann Nicodemus Frischlin (1547-1590) hat sich zwar an eigenen ,Facetiae' versucht (Erstdruck 1600), jedoch ohne im ,Begriff über seine Vorbilder Poggio und Bebel hinauszugehen. Diese Grundlinien der Begriffsgeschichte gelten im wesentlichen bis zur wissenschaftlichen Wiederentdeckung der Lateinfazetie im 19. Jh. SachG: Der humanistische Ehrgeiz, der in der Konzeption der lateinischen Fazetie steckt, und die Notwendigkeit des ausdrücklichen (moralischen, religiösen, sozialen) Legitimierens bringen es mit sich, daß die Hauptlinien der Sachgeschichte bereits in der Begriffsgeschichte erkennbar werden. Schon bei Poggio mischt sich , Selbsterlebtes' (Authentizitäts-Signale) mit Wanderanekdoten, historisch Überliefertes (Zeitangaben, Personen, Orte, Umstände) mit Anonymem und Typisiertem. Verbindungen führen einerseits zu antiken Sammlungen, andererseits etwa zu Boccaccio, zu den frz. ,Cent nouvelles nouvelles' oder der deutschen Märendichtung. Die epochale Leistung liegt vornehmlich in dreierlei: in der perspektivischen Bündelung der vielen (273) Erzählungen durch das modellhaft verstandene vatikanische Lästerkabinett (Bugiale), in der Behauptung einer unerhörten Freizügigkeit (Lizenz) des Präsentierens, mitunter auch der Autoritätenkritik, schließlich in der anspruchsvollen, s a u b e ren' Latinität mit ihren geschliffenen Pointen.

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Fazetie

Funktionsgeschichtlich betrachtet, können die frühen Eindeutschungsversuche einzelner Fazetien Poggios (vor allem Steinhöwel in seinem ,Esopus', um 1476, dann auch Brant u. a.) für die ursprünglichen Kontexte einstweilen keine autochthonen Äquivalente bieten. Aber sie signalisieren Anschluß an eine ,moderne' Gattung, Erweiterung der muttersprachlichen Erzähltabulatur, freilich auch moralisierende Zurücknahme der fazetuösen Schärfe. Für Tüngers .Facetiae' ist die ausdrückliche Lokalisierung vieler Erzählungen im Wirkungsraum des Autors (Bodensee, Oberschwaben) bezeichnend. Daß Heinrich Bebel schließlich, nur wenige Jahrzehnte später, mit seinen drei Bänden .Facetiae' zum ,deutschen Poggio' zu avancieren vermag, erklärt sich in erster Linie aus der gelungenen Synthese zweier Qualitäten: der .sauberen', biegsamen lateinischen Erzählprosa des ausgewiesenen Humanisten und der Verankerung in bodenständiger Schwank- und .Spruch'-Überlieferung (bezeichnend: 1508 erscheint Bebels Sammlung .Proverbia Germanica'). Bebel verarbeitet vielerlei .volkstümliche' Überlieferung, wie sie beispielsweise im / Predigtmärlein festgehalten ist. Noch charakteristischer ist die Tendenz des Bauernsohns von der Schwäbischen Alb, Sujets und Pointen aus der gelehrten, insbesondere universitären Welt einzubeziehen. Frischlin hat die Kombination von akademischer Motivik und bodenständig-schwäbischer Schlagfertigkeit fortgeführt, partienweise auch satirisch verschärft. Das Vordringen und Ausdifferenzieren der muttersprachlichen ,schwankhaften' Erzählformen hat der (lateinischen) Fazetie mehr und mehr den Status einer gelehrten Sondergattung aufgezwungen, deren HochZeit vergangen ist (an Zincgrefs Sammlung von 1618 gut erkennbar). In Strukturen von Geselligkeit mit Schwank und Witz begegnen während des 17. und im 18. Jh. immer wieder auch Fazetien, anonyme oder auch solche mit der Nennung eines Poggio oder Bebel. Das identifizierbare Genre ist weithin in der breiten muttersprachlichen Palette der Scherzrede und des Schwanks aufgegangen, von den Münchhausiaden des

18. Jhs. bis zu Brechts Keunergeschichten, die in ihren Pointen mitunter an Fazetien erinnern mögen. Heinrich Bebels Facetien. Drei Bücher. Hg. v. Gustav Bebermeyer. Leipzig 1931. - Heinrich Bebels Schwänke. Zum ersten Male in vollständiger Übertragung. Hg. v. Albert Wesselski. 2 Bde. München, Leipzig 1907. - Poggio Bracciolini: Facezie. Con un saggio di Eugenio Garin. Introduzione, traduzione e note di Marcello Ciccuto. Mailand 1983. - Ν. Frischlini [...] Facetiae selectores: quibus ob argumenti similitudinem accesserunt H. Bebelii, P. L. Facetiarum libri tres: Sales item, seu facetiae ex Poggii Fiorentini Oratorie libro selectae [...]. Straßburg 1600. - Steinhöwels Äsop. Hg. v. Hermann Osterley. Tübingen 1873. - Augustin Tüngers Facetiae. Hg. v. Adelbert von Keller. Stuttgart 1874. - Julius Wilhelm Zincgref: Facetiae Pennalium. Hg. v. Dieter Mertens und Theodor Verweyen. Tübingen 1978.

ForschG: Die weltliterarische Resonanz der ,Facetiae' Poggios und der Achtungserfolg Bebels (auch außerhalb des deutschsprachigen Bereichs) haben das Interesse an der Fazetie nie ganz verschwinden lassen. Seit der 2. Hälfte des 19. Jhs. ist es neben der Hinwendung zur nationalen Bildungsgeschichte, Biographik und Sprachgeschichte vor allem die Perspektive der Volkskunde, die sich auf die Fazetie richtet: Überlieferung volkstümlichen' Sprach- und Erzählguts in humanistischer Fassung. Quellenforschung zur europäischen Narrativik entdeckt die Fazetien - auch diejenigen Poggios - neu und zieht eine Fülle von Parallelen vor allem zu romanischen Sammlungen (vgl. Vollert sowie u. a. die Tünger-Ausgabe von Kellers und die Bebel-Übersetzung Wesselskis). Hinzu tritt, insbesondere bei Bebermeyer, die Aufmerksamkeit für die Bildungsgeschichte des deutschen Humanismus. Das neuere Bemühen um eine flexiblere Gattungstypologie der kleinen Erzählformen (Grubmüller, Haug/Wachinger u. a.) sowie um die übergreifenden Strukturen schwankhaften Erzählens im 16. Jh. (Stroszeck, Röcke, Wachinger) hat die komplizierten .Einbettungen' auch der Fazetie genauer erkennen lassen. Vorläufigen Charakter haben noch Überlegungen zur Funktionsgeschichte der Fazetien (Barner); mit Hilfe von Kategorien Bachtins ließen sich

Feministische Literaturwissenschaft die besonderen ,Lizenzen' der Fazetien im Funktionsübergang zu anderen Formen differenzierter erkennen. Defizite liegen vor allem in einer (nicht nur motivgeschichtlichen) komparatistischen Aufarbeitung (Poggio, ital., frz., dt. Autoren und Sammlungen). Lit: Wilfried Barner: Legitimierung des Anstößigen. Über Poggios und Bebels Fazetien. In: „Sinnlichkeit in Bild und Klang". Fs. Paul Hoffmann. Stuttgart 1987, S. 101-137. - W. B.: Überlegungen zur Funktionsgeschichte der Fazetien. In: HaugAVachinger, S. 287-310. - Gustav Bebermeyer: Tübinger Dichterhumanisten. Bebel/ Frischlin/Flayder. Tübingen 1927. - Quintino Cataudella: La facezia in Grecia e a Roma. Florenz 1971. - Facétie et littérature facétieuse à l'époque de la Renaissance. Actes du colloque de Goutelas 1977 (Sondernummer von: Réforme Humanisme Renaissance 4, No. 7, Mai 1978). Klaus Grubmüller u. a. (Hg.): Kleinere Erzählformen im Mittelalter. Paderborner Kolloquium 1987. Paderborn u.a. 1988. - Walter Haug, Burghart Wachinger (Hg.): Kleinere Erzählformen des 15. und 16. Jhs. Tübingen 1993. - Elfriede Moser-Rath: „Lustige Gesellschaft". Schwank und Witz des 17. und 18. Jhs. in kulturund sozialgeschichtlichem Kontext. Stuttgart 1984. - Werner Röcke: Die Freude am Bösen. Studien zu einer Poetik des deutschen Schwankromans im Spätmittelalter. München 1987. Erich Straßner: Schwank. Stuttgart 21978. Hauke Stroszeck: Pointe und poetische Dominante. Deutsche Kurzprosa im 16. Jh. Frankfurt 1970. - Konrad Vollert: Zur Geschichte der lateinischen Facetiensammlungen des 15. und 16. Jhs. Berlin 1912. - Burghart Wachinger: Convivium fabulosum. Erzählen bei Tisch im 15. u. 16. Jh. In: HaugAVachinger, S. 256-286. Wilfried

Barner

Feministische Literaturwissenschaft Inbegriff für literaturwissenschaftliche Arbeiten, deren Forschungsinteresse mit Leitideen der Frauenbewegung verknüpft ist. Expl: In terminologischer Verwendung ist zwischen einem engeren und einem weiteren Gebrauch von Feministischer Literaturwissenschaft zu unterscheiden. Im engeren Sinne steht der Terminus für die Erforschung von ? Frauenliteratur, insbesondere

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also von literarischen Texten von, für und über Frauen. Im weiteren Sinne wird der Terminus weder auf einen bestimmten Gegenstandsbereich noch auf bestimmte methodologische Zusammenhänge eingeschränkt, sondern kann alle literaturwissenschaftlichen Kontexte (männlicher wie weiblicher Provenienz) betreffen — sofern sich die Aufmerksamkeit hierbei auf Geschlechterverhältnisse auch im Sinne von ,gender' als sozialer Kategorie (und nicht bloß von ,sexus' als biologischem Substrat) richtet. Auf diese Weise versteht sich Feministische Literaturwissenschaft immer auch im Horizont eines Praxisbezuges: als historiographischer Beitrag zu den Zielen der weltweiten Frauenbewegung. WortG/BegrG: Die international weichenstellende Ableitung von Feminismus etc. aus lat. femina erfolgte im 19. Jh. und zunächst in frz. Sprache: féminisme tritt zuerst 1837 bei dem frühsozialistischen Emanzipationstheoretiker Ch. Fourier auf, das Adjektiv féministe 1872 bei A. Dumas fils (Belegsammlung bei Braunschvig 2, 409). Die deutsche Entsprechung Feminismus begegnet bereits im späten 19. Jh. und wird 1899 erstmals lexikographisch erfaßt (als die/der Feministe, Loof s. v.; 1905 als Feminismus, Meyer 6, 412; vgl. Pusch, 9 - 1 7 ) ; die Adjektivform feministisch hingegen setzt sich auf breiter Ebene erst mit der erneuerten Frauenbewegung ab den 1970er Jahren durch. Erst in diesem historischen Kontext sind dann auch Begriff und Bezeichnung Feministische Literaturwissenschaft (bzw. feminist literary criticism, critique féministe) e n t s t a n -

den. Die programmatische Zielsetzung ihrer Einführung (wichtig etwa Möhrmann 1979, Stephan/Weigel 1983) konnte freilich angesichts einer Vielzahl kontroverser Positionen nicht immer konzeptuelle Einheitlichkeit verbürgen (zur Kritik z. B. Hahn 1990). Zum einen wurde die Kategorie zunehmend semantisch unscharf verwendet — unklar insbesondere in Hinsicht auf den oben unterschiedenen engeren Gebrauch (alternativ dafür teilweise auch Frauenforschung) bzw. weiteren Gebrauch des Terminus (alternativ teilweise auch als Gender studies benannt). Zum anderen blieb der Begriff nach

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Feministische Literaturwissenschaft

außen wie nach innen umstritten und wurde nicht nur von der eigenen, sondern auch von der männlichen Gegenseite als Kampfbegriff eingesetzt — etwa um engagierte Literaturwissenschaftlerinnen zu diskreditieren bzw. in einen Randbereich abzuschieben. Marcel Braunschvig: Notre littérature étudiée dans les textes. 2 Bde. Paris 1953. - Friedrich Wilhelm Loof: Allgemeines Fremdwb. Langensalza 2 1899. - Meyers Großes Konversationslexikon. Leipzig 6 1905.

SachG/ForschG: Angeregt durch entsprechende Forschungsinteressen in den USA (z.B. Rogers 1966, Ellman 1968, Millet 1969) und Frankreich (ζ. B. Beauvoir 1949, Cixous 1974), zeichnen sich erste Ansätze zu einer Feministischen Literaturwissenschaft im deutschsprachigen Raum gegen Mitte der 1970er Jahre ab. 1976 veröffentlichten Zeitschriften wie alternative' und ,Die schwarze Botin' Übersetzungen der poststrukturalistischen Theoretikerinnen Hélène Cixous, Luce Irigaray und Julia Kristeva, die in Anknüpfung an Jacques Derridas Theorie der Geschlechterdifferenz neue, zum Teil kontroverse Weiblichkeitskonzepte vorstellten. Zur selben Zeit erschien Silvia Bovenschens vielbeachteter Aufsatz ,Uber die Frage: Gibt es eine „weibliche" Ästhetik?' In den 70er Jahren, die gesamthaft von einer weitverzweigten, zum Teil hochtheoretischen literaturwissenschaftlichen Essayistik (z. B. Lenk, Wysocki) geprägt sind, nehmen zwei eigene Richtungen literaturwissenschaftlicher Forschung ihren Ausgang: die ideologiekritische Re-Lektüre des .männlichen' Literaturkanons, wie sie 1949 von Simone de Beauvoir mit dem Buch ,Le deuxième Sexe' initiiert wurde; und die Frauenliteraturgeschichte, als deren g u t ter' gemeinhin Virginia Woolf gilt (,A Room of One's Own', 1929). Als Folge entstanden in den 80er Jahren großangelegte literaturgeschichtliche Arbeiten und Anthologien (z. B. Becker-Cantarino, BrinkerGabler, Gnüg/Möhrmann). Neben diversen Autorinnen-Lexika (z. B. Friedrichs) wurden außerdem Studien zur literarischen Sozialisation von Frauen veröffentlicht (z. B. Grenz, Häntzschel).

Der Versuch, eine weibliche Schreibtradition zu rekonstruieren, machte einen Mangel an tradierten literarischen Texten von Frauen deutlich, für den Lena Lindhoflf in ihrem Forschungsbericht (Lindhoff, 50) zwei Ursachen nennt: (1) die gesellschaftlichen Einschränkungen der weiblichen Existenz sowie (2) die Ausgrenzung jener weiblichen Produktion, die seit dem 18. Jh. in immer stärkerem Maße auftrat, „mittels männlicher Uberlieferungsnormen und -verfahren" (Weigel 1983, 83). Diese Erkenntnis führte im Verlauf der 80er Jahre nicht nur zur Kritik der bestehenden Literaturtheorie und Literarhistorie, sondern auch zu einem veränderten Blick auf einen veränderten Gegenstandsbereich. Ausgehend von neuen Fragen — wie derjenigen nach den Wertungskriterien, welche den literarhistorischen Kanon b e s t i m m t e n — richtete sich das Interesse in den 80er Jahren zunehmend auf bislang ausgegrenzte bzw. vernachlässigte Formen und Schreibweisen — auf solche also, die nicht oder nur begrenzt in den Rang literarischer Gattungen erhoben waren, in denen sich Frauen aber bevorzugt ausdrück(t)en: z. B. den Brief, das Tagebuch, die autobiographische Erzählung (Brinker-Gabler, Bürger, E. Meyer, Schuller, Weigel 1990a/b). Die Fülle an im Verlauf der 80er Jahre entstandenen Einzelstudien (vor allem zur Literatur des 18. bis 20. Jhs.) läßt eine Art Paradigmen Wechsel sichtbar werden: den „Wechsel von angloamerikanischen zu französischen und von soziohistorischen zu poststrukturalistischen Theoriemodellen" (Lindhoff, VIII). Seit Beginn der 90er Jahre zeichnet sich innerhalb der Feministischen Literaturtheorie ein erneuter Wandel ab, welcher sich dahingehend auswirkt, daß selbst unter feministischen poststrukturalistischen Theoretikerinnen Kritik an der poststrukturalistischen Weiblichkeitstheorie laut wird (vgl. Vinken). So schreibt z. B. die amerikanische Derrida-Übersetzerin Gayatri Spivak: „Erstens, Dekonstruktion ist erhellend als eine Kritik des Phallogozentrismus; zweitens, sie ist überzeugend als Argument gegen die Begründung eines hysterazentrischen Diskurses, mit dem ein phallozentrischer Diskurs gekontert werden soll;

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Fernsehspiel d r i t t e n s , als eine f e m i n i s t i s c h e ' P r a x i s selbst ist sie a u f d e r a n d e r e n Seite d e r sexuellen D i f f e r e n z g e f a n g e n " (Spivak, 204). L i n d h o f f spricht sich gegen einen a f f i r m a t i v e n Rekurs auf Lacan und Derida aus, mit der B e g r ü n d u n g , d a ß er keine E r n e u e r u n g des F e m i n i s i m u s z u r F o l g e h a b e , s o n d e r n dessen , p o s t f e m i n i s t i s c h e ' E l i m i n i e r u n g . Feministische T h e o r i e b i l d u n g , die a u f eine Verä n d e r u n g d e r Verhältnisse abziele, sei aber erst d a n n a u s z u r u f e n , w e n n sich n i c h t n u r die E r k l ä r u n g s m u s t e r , s o n d e r n a u c h die Verhältnisse g e ä n d e r t h a b e n ( L i n d h o f f , IX). D i e feste I n s t i t u t i o n a l i s i e r u n g einer — insbesondere neugermanistischen — Frauenf o r s c h u n g (vgl. aber z. B. B e n n e w i t z ) w u r d e im d e u t s c h e n S p r a c h r a u m i m Verlauf d e r 80er J a h r e vollzogen ( d o k u m e n t i e r t b e s o n d e r s d u r c h die E i n r i c h t u n g eigener Sektion e n a u f d e n W e l t k o n g r e s s e n d e r I V G 1985, 1990 u n d 1995). Lit: Simone de Beauvoir: Das andere Geschlecht [1949], Hamburg 1968. - Barbara Becker-Cantarino: Der lange Weg zur Mündigkeit. Frau und Literatur (1500-1800). Stuttgart 1987. - Ingrid Bennewitz (Hg.): Der frauwen buoch. Versuche zu einer feministischen Mediaevistik. Göppingen 1989. - Silvia Bovenschen: Über die Frage: Gibt es eine ,weibliche' Ästhetik? In: Ästhetik und Kommunikation 7 (1976), H. 25, S. 6 0 - 7 5 . S. B.: Die imaginierte Weiblichkeit. Frankfurt 1979. - Gisela Brinker-Gabler (Hg.): Deutsche Dichterinnen vom 16. Jh. bis zur Gegenwart. Frankfurt 1978. - G. B.-G. (Hg.): Deutsche Literatur von Frauen. München 1988. — Christa Bürger: Leben Schreiben. Stuttgart 1990. — Hélène Cixous: Weiblichkeit in der Schrift [1974], Berlin 1980. - Mary Ellman: Thinking about women. New York 1968. - Feministische Forschung und Frauenliteratur. In: Begegnung mit dem ,Fremden'. Akten des VIII. Internationalen Germanisten-Kongresses Tokyo 1990. Bd. 10. München 1991. - Frauensprache - Frauenliteratur? In: Kontroversen, alte und neue. Akten des VII. Internationalen Germanisten-Kongresses Göttingen 1985. Bd. 6. Tübingen 1986. - Elisabeth Friedrichs: Die deutschsprachigen Schriftstellerinnen des 18. und 19. Jhs. Stuttgart 1981. Hiltrud Gnüg, Renate Möhrmann (Hg.): Frauen Literatur Geschichte. Stuttgart 1985. - Dagmar Grenz: Mädchenliteratur von den moralisch-belehrenden Schriften im 18. Jh. bis zur Herausbildung der Backfischliteratur im 19. Jh. Stuttgart 1981. - Barbara Hahn: Feministische Literaturwissenschaft. In: Neue Literaturtheorien. Hg. v.

Klaus-Michael Bogdal. Opladen 1990, S. 2 1 8 234. - Günter Häntzschel (Hg.): Bildung und Kultur bürgerlicher Frauen. Tübingen 1986. Luce Irigaray: Speculum. Spiegel des anderen Geschlechts [1974], Frankfurt 1980. - Julia Kristeva: Produktivität der Frau. In: Alternative 108/109 (1976), S. 166-172. - Elisabeth Lenk: Die sich selbst verdoppelnde Frau. In: Ästhetik und Kommunikation 7 (1976), H. 25, S. 8 4 - 8 7 . - Lena Lindhoff: Einführung in die feministische Literaturtheorie. Stuttgart 1995. — Eva Meyer: Die Autobiographie in der Schrift. In: Genealogie und Traditionen. Hg. v. Verein Sozialwissenschaftliche Forschung und Bildung für Frauen. Materialienbd. 6. Frankfurt 1990, S. 6 7 - 8 0 . Kate Millet: Sexual politics. New York 1969. Renate Möhrmann: Feministische Ansätze in der Germanistik seit 1945. In: JbIG 11 (1979), H. 2, S. 6 3 - 8 4 . - Luise F. Pusch (Hg.): Feminismus. Frankfurt 1983. - Katharine M. Rogers: The troublesome helpmate. Seattle, London 1966. Marianne Schuller: Im Unterschied. Frankfurt 1990. - Gayatri Spivak: Verschiebung und der Diskurs der Frau. In: Vinken, S. 183—219. — Inge Stephan, Sigrid Weigel: Feministische Literaturwissenschaft. In: I. S./S. W.: Die verborgene Frau. Berlin 1983, S. 5 - 1 4 . - Barbara Vinken (Hg.): Dekonstruktiver Feminismus. Frankfurt 1992. — Sigrid Weigel: Der schielende Blick. In: Stephan/Weigel, S. 83-137. - S.W.: Die Verdoppelung des männlichen Blicks und der Ausschluß der Frauen aus der Literaturwissenschaft. In: Wie männlich ist die Wissenschaft? Hg. v. Karin Hausen und Helga Novotny. Frankfurt 3 1990[a], S. 4 3 - 6 1 . - S.W.: Topographien der Geschlechter. Hamburg 1990[b]. - Gisela v. Wysocki: Frauen-Bilder im Aufbruch. In: Kursbuch 47 (1977), S. 91-113. - Bonnie Zimmerman: What has never been. An overview of lesbian feminist criticism. In: Feminist Studies 7 (1981), S. 451-475. Katrin

Gut

Fernsehen ? Medien Fernsehserie s Serie Fernsehspiel Fiktionale Fernsehgattung und Programms p a r t e des F e r n s e h e n s . Expl: G a t t u n g d r a m a t i s c h e r F i k t i o n i n n e r h a l b des F e r n s e h p r o g r a m m s , die sich im

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Fernsehspiel

Verlauf ihrer Entwicklung ausdifferenziert hat nach ihrer technischen Produktionsform (elektronisch: Fernsehspiel; filmisch: Fernsehfilm), ihrem Umfang (Einzelfilm, Mehrteiler, /" Serie), ihren Genres (ζ. B. TV-Komödie, Krimi, Dokumentarspiel), ihrer Beschaffungsart (Eigenproduktion der Sendeanstalten, Auftrags-, Ko- und Kaufproduktion). Kennzeichen ist eine dem Fernsehen gemäße audiovisuelle Erzählund Darstellungsweise, die das Fernsehspiel in die Nähe des Kinospielfilms rückt (S Film). WortG: Die Bezeichnung Fernsehspiel wird erstmals 1930 in den ersten Programmdiskussionen der Zeitschrift ,Fernsehen' (analog zur bereits etablierten Bezeichnung / Hörspiel·, vergleichbar der späteren englischen Bezeichnung TV play, Television drama) verwendet. Die Bezeichnung etabliert sich während des Dritten Reiches und behauptet sich unangefochten in der Bundesrepublik (vgl. Hickethier 1989), während die D D R das Wort Fernsehdramatik bevorzugt (vgl. Münz-Koenen). Der Ausdruck Fernsehspiel wird wie viele in der Medienpraxis verwendete Bezeichnungen mehrdeutig gebraucht: als administrative Bezeichnung (der Redaktionen); als Kennzeichnung eines Programmsegments; und als Gattungsbezeichnung für die einzelne Sendung, die in den 80er und 90er Jahren jedoch zunehmend dem Wort und Begriff Fernsehfilm gewichen ist. BegrG: Im Zentrum des Begriffs steht die fiktionale Darstellung von Welt im Fernsehen, deren Medienspezifik anfangs im elektronischen ,Live-Spiel' gesehen wurde, das jedoch mit dem Einsatz des Films und der Magnetaufzeichnung ab 1957/58 nur noch ganz vereinzelt, ab Mitte der 70er Jahre überhaupt nicht mehr im Fernsehprogramm vertreten ist und damit nicht länger als Gattungskriterium gelten kann. (Eine spezifische elektronische Gestaltungsweise erprobten Regisseure wie Egon Monk in den 60er Jahren, ohne daß dies nachhaltige Folgen für die Begriffsentwicklung gehabt hätte.) Eine verstärkt didaktische Ausrichtung des Begriffs ,Fernsehspiel' blieb ebenso wie das Konzept eines journalistischen

Fernsehspiels' auf die 70er Jahre beschränkt. Spezifische Gestaltungen - etwa in der Mischung von dokumentarischen und fiktionalen Erzählweisen — entwickelten in den 80er Jahren u. a. Eberhard Fechner, Heinrich Breioer, Horst Königstein (vgl. Hickethier 1994); die Festlegung des Begriffs ,Fernsehspiel' auf Fiktionalität wurde damit vereinzelt entgrenzt. Knut Hickethier: Das Fernsehspiel oder Der Kunstanspruch der Erzählmaschine Fernsehen. In: Das Fernsehen und die Künste. Hg. v. Helmut Schanze und Bernhard Zimmermann. München 1994 , S. 303-348.

SachG: Als erstes deutsches Fernsehspiel gilt Adolf Webers ,Das Schaukelpferd', am 7.11.1936 gesendet. Es handelte sich um eine Liveproduktion des damaligen Fernsehsenders ,Paul Nipkow', der während der Zeit des Nationalsozialismus von 1935 bis 1943 ein Programm im Raum Berlin ausstrahlte. Mit Neubeginn des Fernsehens in der Bundesrepublik stand das Fernsehspiel mit Lustspiel-Produktionen und der fernsehspezifischen Inszenierung von Theaterstücken im Zentrum des Programms; besonders ab 1954 wurde das direkt für das Fernsehen geschriebene Spiel (,Originalfernsehspiel') verlangt. In den 60er Jahren entdeckten Fernsehspiel-Autoren wie Günter Herburger (,Fernfahrer', 1963, ,Die Söhne', 1968), Peter Hey (.Abends Kammermusik', 1965), Gabriele Wohmann (,Große Liebe', 1966), Wolfgang Menge (,Die Dubrow-Krise', 1969; .Fragestunde', 1969) und Dieter Meichsner (,Besuch aus der Zone', 1958; ,Alma Mater', 1969) ihr Engagement für die bundesdeutsche Realität. Regisseure wie Peter Lilienthal (,Stück für Stück', 1962), Egon Monk (,Wilhelmsburger Freitag', 1964), Peter Beauvais (,Der Unfall', 1968) gingen mit der Kamera gleichsam hinaus in die Wirklichkeit und setzten sich auch mit der nationalsozialistischen Vergangenheit auseinander (Egon Monk: ,Der Tag', 1965). Der Arbeitsalltag (Dieter Meichsner: ,Der große Tag der Berta Laube', 1969) und die Lage von sozialen Randgruppen (Ulrike Meinhof: ,Bambule', 1971) traten in den Blick. Selbstkritisch beschäftigte sich das Fernsehspiel auch mit dem Fernsehen als neuem gesell-

Fest schaftlichen Leitmedium (Wolfgang Menge: ,Das Millionenspiel', 1971). Mit dem 1974 zwischen den Fernsehanstalten und der Filmwirtschaft geschlossenen und seitdem immer wieder verlängerten Film-Fernseh-Abkommen etablierte sich die Koproduktion: Filme entstanden, die als Spielfilme im Kino und ebenso als Fernsehspiele im TV-Programm gezeigt wurden. Das Fernsehspiel entdeckte mit der mehrteiligen Form die Möglichkeit, große soziale und historische Tableaus zu entfalten (Peter Stripp: ,Rote Erde', 1983; Edgar Reitz: ,Heimat', 1984; ,Die zweite Heimat', 1993) und auf subtile Weise Mentalitäten darzustellen (Axel Corti: ,Wohin und zurück', 1982-1986; ,Eine blaßblaue Frauenschrift', 1986). Mit der Einführung der kommerziellen Programme Mitte der 80er Jahre schien der Niedergang des Fernsehspiels programmiert, doch haben auch einzelne Privatsender (z. B. RTL, Sat 1) mit einer umfangreichen eigenen Produktion von Fernsehfilmen (,TV—Movies') begonnen. ForschG: Die Erforschung des Fernsehspiels begann mit der Erkundung seiner Produktionsformen (Rhotert, Schmidt), bemühte sich um die Literatur-Adaptation im Fernsehspiel (Berg, Hickethier 1980), um die Sujets (Koebner, in: v. Rüden) und um Produktionen einzelner Redaktionen, wie z. B. das ,Kleine Fernsehspiel im ZDF' (Koebner/Netenjakob), schließlich auch um seine Programmgeschichte (Hickethier 1980, 1991). Die filmografische Erfassung ist ausgebaut (Deutsches Rundfunkarchiv; Netenjakob), eine Darstellung der Forschungsgeschichte bis 1986 liegt vor (Hickethier 1989). Lit: Helmut O. Berg: Fernsehspiele nach Erzählvorlage. Düsseldorf 1972. - Deutsches Rundfunkarchiv (Hg.): Fernsehspiele der A R D 1 9 5 2 - 1 9 7 2 . Frankfurt 1978. - D. R.: Die Fernsehspiele 1 9 7 3 - 1 9 7 7 . Frankfurt 1986. - D. R.: Lexikon der Fernsehspiele 1 9 7 8 - 8 7 . München 1991 [dann Jahresbände für 1988 ff.]. - John Ellis: Visible fictions: cinema, television, video. London, New York 1993. - William Hawes: American television drama. Alabama 1986. — Knut Hickethier: Das Fernsehspiel der Bundesrepublik Deutschland. Stuttgart 1980. - Κ. Η.: Fernsehspielforschung in der Bundesrepublik

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Deutschland und in der D D R 1 9 5 0 - 1 9 8 5 . Bern 1989. - Κ. H.: Das Fernsehspiel im Dritten Reich. In: Die Anfänge des deutschen Fernsehens. Hg. v. William Uricchio. Tübingen 1991, S. 74—142. — Thomas Koebner, Egon Netenjakob: Das experimentelle Fernsehspiel. Frankfurt 1988. - Ingeborg Münz-Koenen: Fernsehdramatik. Berlin ( D D R ) 1974. - Egon Netenjakob: TV-Film Lexikon. Frankfurt 1994. - Bernd Rhotert: Das Fernsehspiel. Diss. München 1961.- Peter v. Rüden (Hg.): Das Fernsehspiel. München 1975. - Susanne Schmidt: „Es muß ja nicht gleich Hollywood sein". Die Produktionsbedingungen des Fernsehspiels und die Wirkungen auf seine Ästhetik. Berlin 1994. - Pierre Sorlin: Esthétiques de l'audiovisuel. Paris 1992. - John Tulloch: Television drama. London, New York 1990.

Knut Hickethier

Fest Eine eingegrenzte, in der Regel in festen Zeitrhythmen wiederholte Inszenierung gesteigerter Lebensform, die die Wertwelt des Alltags dadurch überhöht und bestätigt, daß sie sie vorübergehend außer Kraft setzt. Expl: Das Fest ist ein kulturelles Universale; Kulturen ohne Feste sind nicht denkbar. In dieser kulturellen Inszenierungsform (/" Inszenierung) wird die Identität einer Gemeinschaft,rhythmisch' bestätigt, indem sie sich ihrer sakralen Raum- und Zeit-Ordnung, ihrer Ursprungsmythen, ihrer zentralen Werte und verbindlichen Erfahrungen versichert. Sozialität, gemeinsame Partizipation und Vollzug sind Merkmale des Festes; Einsamkeit, ästhetische Distanz und vom Körper abstrahierende Schrift wirken ihm entgegen. Der wichtigste Gegenbegriff ist ,Alltag'. Das Fest hebt den Alltag nicht auf, es transzendiert ihn vorübergehend und suspendiert seine Gesetze innerhalb gesetzter Grenzen. Es bringt eine Sinndimension der Kultur zur Erscheinung, die aus der Ökonomie der Alltagsroutine und -sorgen ausgegrenzt ist. Ohne diese Inszenierung von Alterität regrediert kultureller Sinn zur Eindimensionaltät, d. h. zur Veralltäglichung. Gegenüber dieser grundsätzlich bipolaren Grundstruktur der Kultur ist es un-

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Fest

erheblich, wie sich die Dialektik von Fest und Alltag spaltet: ob das Fest das zum Vergessen und zur Gestaltlosigkeit tendierende Leben von Mal zu Mal wieder in Ordnung bringt (Piaton, ,Nomoi' 563) oder ob es die rigiden Normen und Tabus des Alltags in einem lizensierten Exzess sprengt. Der Komplementarität von Alltag und Fest entsprechen zwei entgegengesetzte Zeitgestalten. Zum Alltag gehört die irreversible Zeit der Verantwortung, des Rechnens, der Sorge, der Knappheit; zum Fest gehört die zyklische Zeit der Vergegenwärtigung mythischer Muster, der Einbeziehung der Toten, der erfüllten Wiederkehr. Durch die Zeit des Festes wird die verrinnende Zeit der Arbeit sistiert und rhythmisch gegliedert. WortG: Lat. dies festi (etymologisch zu ferine, urspr. festiae, und fanum) sind Göttern geweihte Tage. Der Gegensatz zu festus ist profestus (entsprechend zu fanum — profanimi). Dies festi sind Tage der Arbeitsruhe, des Aussetzens der Rechtspflege und des Vollzugs kultischer Handlungen. Fasti werden die römischen Amts- und Festkalender genannt. Fasti dies sind dagegen Tage, an denen es fas (.erlaubt, angemessen') ist, bürgerlichen Geschäften nachzugehen; den Gegensatz dazu bilden die nefasti dies, die öffentlichen Feiertage. Das Lehnwort ist dt. seit dem 13. Jh. belegt (Lexer 3, 326). Der heutige Wortgebrauch impliziert nicht mehr Periodizität und Kollektivität, sondern bezeichnet auch alle möglichen privaten Anlässe gesteigerten Lebensgenusses. BegrG: Für archaische und vormoderne Gesellschaften gilt ein enger Bezug von Fest und Kultus. Er hat sich im Zeichen der Säkularisierung gelockert und schließlich ganz gelöst. Das öffentliche Fest gilt seit der Frühen Neuzeit weniger dem Zur-ErscheinungBringen des Heiligen als der Repräsentation der Macht. Die Individualisierung und Privatisierung des Festes steht im Zeichen bürgerlicher Kultur. Die Ferien, der Urlaub und die Freizeit halten vom ursprünglichen Bedeutungsgehalt des Begriffs nur noch die Arbeitsruhe fest. Sie werden als Ausstieg aus dem Reglement des Alltags verstanden; die Verpflichtung zu rituellem Eintritt in

eine andere Ordnung ist aus dem Begriff entschwunden. SachG: Im Medium der Feste organisieren Kulturen ihre Zeit im kosmischen und jahreszeitlichen Wandel. Die ältesten Feste, die wir kennen, sind auf den astronomischen und agrarischen Zyklus bezogen. Von herausragender Bedeutung sind Neujahrsfeste, in denen die Zeit selbst als sterbende erfahren und rituell erneuert wird. In den Buchreligionen kommt es zu einer ,Historisierung' der Feste: Im Christentum wird die nunmehr als ,pagan' entwertete mythische Grundstruktur mit einem liturgischen Kalender überschrieben, der das Jahr nach den wichtigsten Stationen der Heilsgeschichte skandiert. Die im jahreszeitlichen Verlauf sinnfälligen Wendepunkte werden dabei in Anspruch genommen für die alljährliche Vergegenwärtigung der göttlichen Heilstaten. Diese religiöse Historisierung der Feste wurde in der Frühen Neuzeit nochmals überschrieben mit dem politischen Kalender der Nationalgeschichte. Entscheidend für die kulturelle Bedeutung von Festen ist die Mit-Wirksamkeit des überschriebenen Textes, der das Neue unbewußt an das Archaische und Obsolete anknüpft. In Gesellschaften mit starker sozialer Stratifikation ist das Fest Teil einer Mußekultur und ein exklusives Oberschichtenprivileg. Die ästhetische Überhöhung des Augenblicks, die multimediale und multisensorische Inszenierung von Schönheit steht im Zentrum solcher Feste. Aug in Aug mit der Vergänglichkeit und Zukunftslosigkeit des Lebens sollte im alten Ägypten und in Rom der Genuß der Gegenwart aufs Höchste gesteigert werden. Solche Feste stehen im Zeichen der ,conspicuous consumption' (Thorstein Veblen) bzw. der u n p r o duktiven Verausgabung' (Maffesoli). In Ägypten gehörte zum Fest der blinde Harfner, im homerischen Griechenland der Sänger als fest angestellter Unterhaltungskünstler. In Rom ist der Ursprung der politischen Massenfeste zu suchen. Die Ausstellung der Macht mit der ihr zugehörigen Sinnbildung, etwa im Triumphzug des Herrschers, wurde von der Renaissance und Neuzeit übernom-

Fest men. Noch die politische Ikonographie des faschistischen Staats verweist auf römische Festbräuche. Im Mittelalter bilden sich Feste vor allem in drei Bereichen aus: kirchlich-religiöse Feste aus liturgischem Anlaß, höfische Feste, die der Selbstdarstellung einer feudaladligen Gesellschaft dienen, und die eher volksnah mit der Lachkultur verbundenen Gegen-Feste (/" Karneval), wo sich Heiliges und Profanes eng berühren (vgl. Bachtin). Das Festwesen der Renaissance ist stark vom Zeremoniell des Hofs und der Zurschaustellung der Macht bestimmt. Anlässe f ü r Feste wie Geburt, Hochzeit, Tod werden von der bürgerlichen Gesellschaft übernommen, die seit der Frühen Neuzeit ihre eigene Festkultur ausbildet. Feste bilden von der Französischen Revolution bis zur Massenchoreographie totalitärer Staaten die wichtigste Form inszenierter Öffentlichkeit. Komplementär dazu differenziert sich das privat-bürgerliche Fest weiter aus, für das es oftmals keines besonderen Anlasses mehr bedarf und dessen Grenzen zum Alltag verschwimmen. In Gedächtniskulturen ist das Fest der wichtigste Rahmen für mündliche Uberlieferungen, die für ihre Stabilisierung und Kontinuierung auf regelmäßig wiederholte Inszenierungen angewiesen sind. Dieser enge Zusammenhang von Dichtung und Fest blieb in Schriftkulturen erhalten: In Griechenland wurden für Feste Dichtungen geschaffen: s Tragödien, Preislieder, chorlyrische Festpoesie. Im Namen der Musen sind Fest und Kunst verbunden. Noch im Barock steht die ? Gelegenheitsdichtung in Ehren, deren Anlässe häufig Feste waren. Die innige Allianz von Fest und Kunst löst sich im 18. Jh. im Namen einer neuen Ästhetik auf. Zur bürgerlichen Kultur gehört die Privatisierung von Fest und Kunst. Die autonome Kunst wird zu einer ausdifferenzierten Sphäre, die unabhängig vom Kalender der Feste und den damit organisierten kollektiven ,Biorhythmen der Seele' Alteritäts-Erfahrungen anbietet. Rousseau, der diese Entwicklung hin zum individualisierten Kunstgenuß nicht billigte, verurteilte den Theaterbesuch als das ,falsche Fest'. Die moderne Festspielidee vermählt abermals Fest und Dichtung und weist in

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zwei Richtungen: Z u m einen will sie — von Goethes Versuchen bis zu Hofmannsthals und Reinhardts Einsatz in Salzburg — der Kunst im Auftrag der Städte eine öffentliche Dimension wiederverschaffen, zum anderen will sie — von Wagners Entwicklung der G a t t u n g bis zu den Thing-Weihespielen des NS-Staats — der Kunst ihre religiöse Dimension zurückgeben. Jean-Jacques Rousseau: Brief an Herrn D'Alembert. Über den Plan, ein Schauspielhaus in dieser Stadt [i.e. Genf] zu errichten [1758]. In: J. R.: Schriften. Bd. 1. Hg. v. Henning Ritter. München 1978, S. 3 3 3 - 4 7 4 . - Thorstein Vehlen: Theorie der feinen Leute [The theory of the leisure class, 1899], München 1981.

ForschG: Die moderne Ausdifferenzierung von Fest und Kunst ist immer wieder mit Ansätzen zu einer Entdifferenzierung beantwortet worden. So enthält Nietzsches Jugendschrift ,Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik' eine Festtheorie, in der die Kunst eng an den Kult gebunden wird. Aus kulturhistorischer Sicht hat der Kunstwissenschaftler Aby Warburg im Anschluß an J a k o b Burckhardt das Festwesen der Renaissance als ,Sitz im Leben' der Kunst untersucht. Von Freud stammen Analysen des Festes im Rahmen der Triebökonomie der Kultur, die von Georges Bataille und Roger Caillois in den Zwischenkriegsjahren weiterentwickelt wurden. Im Nachkriegsdeutschland entstand eine restaurative Festphilosophie. Seit den 1960er Jahren setzten sich dagegen immer mehr Bachtins Thesen vom subversiven Potential der Lachkultur durch. Als Beispiel einer postmodernen Festtheorie ist Maffesoli zu nennen, bei dem allerdings — symptomatisch für die Krise des Festes in der Gegenwart — die Differenz zwischen Fest und Alltag verschwindet. Lit: Richard Alewyn, Karl Sälzle: Das große Welttheater. Die Epoche der höfischen Feste. Reinbek 1959. - Detlef Altenburg u. a. (Hg.): Feste und Feiern im Mittelalter. Sigmaringen 1991. - Jan Assmann, Theo Sundermeier (Hg.): D a s Fest und das Heilige. Gütersloh 1991. - Michail Bachtin: Literatur und Karneval. München 1969. - Georges Bataille: Die psychologische Struktur des Faschismus; Die Souveränität. Hg. v. Elisabeth Lenk, München 1978. - Otto Fried-

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Feuilleton ι

rich Bollnow: Neue Geborgenheit. Stuttgart 3 1972. - Joachim Bumke: Höfische Kultur. 2 Bde. München 1986. - Peter Burke: Städtische Kultur in Italien zwischen Hochrenaissance und Barock. Berlin 1987. - Roger Caillois: Der Mensch und das Heilige [1939]. München 1988. - Festivals and carnivals. Cultures III, No. 1. Sigmund Freud: Massenpsychologie und IchAnalyse [1921], In: S. F.: Gesammelte Werke. Bd. 13. London 1940, S. 7 1 - 1 6 1 . - Winfried Gebhardt: Fest, Feier und Alltag. Frankfurt 1987. - Boris Grojs: Gesamtkunstwerk Stalin. München 1988. - Walter Haug, Rainer Warning (Hg.): Das Fest. München 1989. - Jacques Heers: Vom Mummenschanz zum Machttheater. Europäische Festkultur im Mittelalter [frz. 1983]. Frankfurt 1986. - Paul Hugger (Hg.): Stadt und Fest. Unterägeri, Stuttgart 1987. - Johann Huizinga: Herbst des Mittelalters [1924]. Stuttgart 6 1952. - Michel Maffesoli: Der Schatten des Dionysos. Zur Soziologie des Orgiasmus. Frankfurt 1986. - Friedrich Nietzsche: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. In: F. N.: Werke. Kritische Gesamtausgabe. Hg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Bd. 3/1. Berlin, New York 1972, S. 3 - 1 5 2 . - Mona Ozouf: La fête révolutionnaire 1 7 8 9 - 1 7 9 9 . Paris 1976. Josef Pieper: Zustimmung zur Welt. Eine Theorie des Festes. München 1963. - Uwe Schultz (Hg.): Das Fest. München 1988. - Hans-Joachim Simm (Hg.): Das Fest. München 1988. - Aby Warburg: Gesammelte Schriften. Hg. von der Bibliothek Warburg. Bde. 1 u. 2. [1932], Repr. Nendeln 1969.

Aleida Assmann

Feuilleton! Teil einer Zeitung, in dem kulturelle Themen der verschiedensten Art abgehandelt werden. Expl: Am häufigsten meint Feuilleton heute jenen Teil einer Tages- oder Wochenzeitung oder Monatszeitschrift, der oft auch als Kulturteil bezeichnet wird, und seltener eine journalistisch-literarische G a t t u n g ( / Feuilleton). Im Feuilleton) werden Theateraufführungen, Konzerte, Ausstellungen, Filme und Bücher besprochen (,Rezensionsfeuilleton'), einzelne künstlerische oder kulturpolitische Entscheidungen oder Trends, z. T. auch wissenschaftliche Funde oder Entwicklungen dargestellt oder kommentiert

und kulturelle Ereignisse (Engagements, Auszeichnungen etc.) gemeldet; außerdem finden sich Abbildungen von oder Karikaturen zu Theateraufführungen, Kunstwerken und aus Büchern, Interviews mit Personen des Kulturbetriebs, vereinzelt auch Reiseberichte und Gedichte, und bisweilen ist ein R o m a n in Fortsetzungen Bestandteil des Feuilletons. WortG/BegrG: Feuilleton ,Blättchen' von frz. feuillet,Blatt eines Druckbogens' (abgeleitet von frz. feuille, lat. folium ,Blatt') ist in der Pariser Presse des frühen 19. Jhs. die Bezeichnung für das untere Viertel oder Drittel des (Zeitungs-) Blatts, das durch einen waagerechten Strich abgetrennt ist und nicht-politische Artikel und Notizen aller Art enthält, oder bisweilen auch die Überschrift der — der Kultur gewidmeten - Beiblätter der eigentlichen Zeitungen. Seit 1813 in Deutschland nachgewiesen (Schulz-Basler 1, 211), ist die Bezeichnung heute vor allem in überregionalen Blättern in Gebrauch. Im Unterschied zu Frankreich, wo feuilleton auch ,Fortsetzungsroman' (in einer Zeitung) und neuerdings sogar eine in Fortsetzungen gesendete /" Serie/Sendereihe im Fernsehen bedeuten kann, ist Feuilleton im Deutschen in seiner Bedeutung stabil geblieben und fast ganz auf eine Sparte bzw. ein Ressort von periodischen Druckerzeugnissen (Zeitungen) beschränkt, hat sich jedenfalls trotz des gelegentlich benutzten Wortes Radiofeuilleton nicht ausgedehnt auf die Sparte Kultur in R u n d f u n k und Fernsehen bzw. auf bestimmte Typen von Sendungen. SachG: Alle historischen Darstellungen setzen die Anfange des deutschen Feuilletons in das 18. Jh. Genannt werden die Buchbesprechungen und gelehrten Nachrichten in der .Staats- und Gelehrten Zeitung' des ,Hamburgischen Unpartheyischen Korrespondenten' (1731 ff.), die Beiträge in dem von Lessing redigierten ,Das Neueste aus dem Reich des Witzes' (Beiblatt der ,Voßischen Zeitung', 1751 — 1755), Abhandlungen Justus Mosers in den ,Wöchentlichen Osnabrückischen Intelligenzblättern' ( 1766 — 1782) und sodann die Arbeiten Matthias Claudius' im ,Wandsbecker Bothen' (1771 ff.), wobei

Feuilleton] schon in dieser Frühzeit insgesamt eine Entwicklung von der /" Belehrung zur /" Unterhaltung festzustellen ist. Die ersten Zeitungen, deren Mischung und Ton von Beiträgen über kulturelle Gegenstände (vor allem Literatur, Musik, Theateraufführungen) schon fast gänzlich dem heutigen Begriff vom Inhalt eines Feuilletons entspricht, sind die von Garlieb Merkel herausgegebenen Blätter ,Der Freimüthige oder Ernst und Scherz' (Berlin 1804-1806) und L e i tung für Literatur und Kunst' (Riga 1811/ 12, das aus der Zeitung ,Der Zuschauer' zeitweise ausgegliederte Feuilleton). Als erste deutsche Zeitung hat der ,Nürnberger Correspondent' ab 1831 Einrichtung, Form und Namen des Feuilletons vom J o u r n a l des Débats' übernommen, in dem JulienLouis Geoffroy 1800 das schon so bezeichnete Feuilleton eingerichtet hatte. Im 19. Jh. eroberte sich das Feuilleton einen festen Platz in den Zeitungen, wobei es sich vor allem in Frankreich auch den f e u i l l e t o n R o m a n ' einverleibte, den unterhaltenden und auflagensteigernden Fortsetzungsroman (z. B. ,Le comte de Monte-Cristo' von D u m a s père, ,Les mystères de Londres' von Paul Féval, ,Le Juif Errant' von Eugène Sue, alle 1844). Das deutsche Feuilleton entfaltet sich in die Typen des kulturhistorischen, des literarisch-kritischen, des philosophischen und des musikalischen Feuilletons, in unendlich vielen Varianten, die von der N ä h e zum Bericht des kulturpolitischen Korrespondenten (Heinrich Heine) bis zum musikkritischen Dekret des Präzeptors (Eduard Hanslick), von der Berliner Lokalplauderei (Adolf Glaßbrenner) bis zur kauzig-dekadenten Skizze Peter Altenbergs und der höchsten Entwicklungsstufe der journalistischen Kulturhistorie bei Egon Friedell reichen. Seit es das Feuilleton gibt, läßt sich ein im schlechten Fall nur selbstgenießerischer, im positiven Fall selbstreflektierender Zug beobachten. Eine Untersuchung sowohl einzelner Feuilleton-Artikel wie auch der Sparte ,Feuilleton' im 20. Jh. dürfte allerdings zeigen, d a ß die selbstgefällige, kulturelle Gegenstände unkritisch hinnehmende und nach dem Ton des jeweiligen kulturel-

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len juste milieu abhandelnde Art des Feuilletons mehr und mehr von kulturkritischem Räsonnement und politischen Neigungen und Argumenten angereichert wurde; nicht umsonst verboten die Nationalsozialisten im Feuilleton (das bis heute häufig das kritischste, ,linkeste' Ressort der Zeitung ist) die Kunstkritik und dekretierten die Einführung der ,Kunstbetrachtung', d. h. systemkonformer Erbauung statt distanzierten Nachdenkens über kulturelle Gegenstände. In neuerer Zeit ist die alte Sparte bzw. Rubrik .Feuilleton' zerfallen, einmal, da die Feuilletonisten sich k a u m noch als Hüter einer Kultur der deutschen Sprache verstehen — das Projekt ,Sprachkritik' hat man fast ganz aufgegeben, wahrscheinlich unter dem Eindruck des großen Fehlschlags Karl Kraus und in Resignation vor der Übermacht der Prägung der Sprache durch Verwaltung, neue Medien und Kommerz zweitens haben gerade die neuen Medien bzw. ihre Produkte — Filme, R u n d f u n k und Fernsehsendungen, Tonträger aller Art - eine Erweiterung der klassischen G r u p p e besprechens- bzw. reflektierenswerter kultureller Gegenstände mit sich gebracht, so daß Filmkritik, Besprechung von Fernsehsendungen, Videofilmen und Schallplatten sowie Sachbuch- und Wissenschaftsseiten entweder das herkömmliche Feuilleton umfangreicher werden ließen oder in andere Sparten bzw. als andere Sparten aus dem Feuilleton ausgegliedert wurden; drittens werden viele Feuilleton-Themen in den überregionalen Zeitungen in WochenendBeilagen abgehandelt, während Reiseberichte meist ganz auf Tourismus-Seiten abgewandert sind und der Vorabdruck von Romanen in Fortsetzungen meist auch nicht (mehr) in die Entscheidungskompetenz des Feuilletons fallt, so daß das tägliche Feuilleton nur noch vergleichsweise kurzatmige Anlässe und Themen behandelt. Paradoxerweise kann man sagen, daß die Beiträge im Feuilleton insgesamt ernsthafter und verantwortlicher geworden sind, sich einer kompetenten Kunstkritik angenähert und damit zugleich etwas an Esprit, eben an ,Feuilletonistischem', verloren haben, daß aber zugleich jede Feuilleton-Re-

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FeuiIleton2

daktion und das Publikum mehr denn je Autoren suchen, die schreiben können', also ebenso das Komplexe pointiert und geistreich zu vereinfachen verstehen wie auch aus nichts einen intelligenten, lesbaren' Artikel zu machen verstehen. ForschG: Zu einzelnen Aspekten der Geschichte der Sparte (meist ungetrennt von der Gattung/Textsorte) Feuilleton gibt es zahlreiche Untersuchungen, aber nur selten ausreichende Darstellungen neueren D a tums; erforderlich wäre vor allem eine Fortschreibung von W. Haackes .Handbuch des Feuilletons' (1951 — 53) bis zur Gegenwart, das trotz seiner geschwätzigen Betulichkeit bis jetzt historisch-bibliographisch unersetzlich ist. Am dringlichsten wäre, was das 20. Jh. angeht, eine zeitungswissenschaftliche bzw. medientheoretische Untersuchung zum Auseinanderfallen und der ressortmäßigen Zerstreuung dessen, was im 19. und frühen 20. Jh. noch unter dem Dach jenes Striches versammelt war, der das Feuilleton von der politischen und lokalen Berichterstattung abteilte, und was im Zuge der wissenschaftlichen Ausdifferenzierung und der Zunahme sowohl von Medien wie auch von unter kulturellen Aspekten abzuhandelnden Gegenständen in ein jeweils eigenes professionalisiertes bzw. professionelles Ressort abwanderte. Ein literaturwissenschaftliches Desiderat wäre die Aufklärung der Zusammenhänge zwischen dem ,feuilletonistischen' Schreiben und der Gattung des Feuilletons mit jenem Typus der ,Kleinen Prosa', der Minimalprosa (S Kurzprosa) zwischen Erzählung, Plauderei, aphoristischem Philosophieren (s Aphorismus) und einem mehr oder weniger politisch gelenkten Beobachten zeitgenössischer (meist großstädtischer) Wirklichkeiten und gesellschaftlichen Veränderungen. Gänzlich fehlen Arbeiten zu Entscheidungsprozessen und zu den kulturell-politischen Konzepten der großen Zeitungen in den letzten fünfzig Jahren. Lit: Theodor W. Adorno: Rede über ein imaginäres Feuilleton. In: T. W. Α.: Noten zur Literatur III. Frankfurt 1965, S. 4 6 - 5 6 . - Hans Becker: Das Feuilleton der Berliner Tagespresse. Diss. Würzburg 1938. — Johannes Bergmann: Die

Feuilletonkorrespondenzen. Diss. Leipzig 1922. — Wolfgang Büttner: Politisierungsprozesse im Zeitungsfeuilleton des deutschen Vormärz und der bürgerlich-demokratischen Revolution. In: Grabbe-Jb. 8 (1989), S. 1 6 3 - 1 7 4 . - Wilmont Haacke: Hb. des Feuilletons. 3 Bde. Emsdetten 1 9 5 1 - 1 9 5 3 . - W. H.: D a s Feuilleton in Zeitung und Zeitschrift. In: Hb. der Publizistik. Hg. v. Emil Dovifat. Bd. 3/2. Berlin 1969, S. 2 1 8 - 2 3 6 . — Georg Jäger: Das Zeitungsfeuilleton als literaturwissenschaftliche Quelle. In: Bibliographische Probleme im Zeichen eines erweiterten Literaturbegriffs. Hg. v. Wolfgang Martens. Weinheim 1988, S. 5 3 - 7 1 . - Ruth Jakoby: Das Feuilleton des Journal des Débats von 1 8 1 4 - 1 8 3 0 . Tübingen 1988. - Tony Kellen: Aus der Geschichte des Feuilletons. Essen 1909. - Heinz Knobloch: Vom Wesen des Feuilletons. Halle 1962. - Ernst Meunier, Hans Jessen: Das deutsche Feuilleton. Berlin 1931. - Hans-Jörg Neuschäfer, Dorothee Fritz-El Ahmad u. a.: Der französische Feuilletonroman. Darmstadt 1986. Klaus-Dieter Oelze: Das Feuilleton der ,Kölnischen Zeitung' im Dritten Reich. Frankfurt, Bern 1990. - Ulrich Tadday: Die Anfänge des Musikfeuilletons. Stuttgart 1993. - Almut Todorow: ,Wollten die Eintagsfliegen in den Rang höherer Insekten aufsteigen?' Die Feuilletonkonzeption der Frankfurter Zeitung während der Weimarer Republik im redaktionellen Selbstverständnis. In: DVjs 62 (1988), S. 6 9 7 - 7 4 0 . - A. T.: Das Feuilleton der f r a n k f u r t e r Zeitung'. Zur Grundlegung einer rhetorischen Medienforschung. Tübingen 1996. — Lutz Vogel: „Ästhetische Prügeleien". Literarische Fehden in Berlin und in Weimar ( 1 8 0 0 1803). In: Debatten und Kontroversen. Hg. v. Hans-Dietrich Dahnke und Bernd Leistner. Bd. 2. Berlin, Weimar 1989, S. 3 5 8 - 4 1 5 . - Erich Widdecke: Geschichte der Haude- und Spenerschen Zeitung 1 7 3 4 - 1 8 7 4 . Berlin 1925.

Jörg Drews

Feuilleton Publizistisch-literarische Textsorte mit Anspruch auf unterhaltsame und stilistisch ausgefeilte Behandlung ernsthafter Themen. Expl: Das Feuilleton als kleine Prosaform neben Skizze, S Essay, s Aphorismus, Kurzgeschichte, Anekdote, s Satire und /" Glosse3 ist eine „hybride K u n s t f o r m " (Spiel, 134) mit vielfaltigen Varianten und Spielarten. D a seine Form jeweils durch den

Feuilleton2 Gegenstand, dessen Behandlung und die verfolgte Zielsetzung bestimmt wird, ist keine detaillierte Auflistung fester Gattungsmerkmale möglich. Ganz allgemein ist das Feuilleton zunächst durch seine Plazierung in der Zeitung ,unter dem Strich' gekennzeichnet (/ Feuilletonì). Formal-stilistisch ist es ein kurzes Prosastück, das sich durch Prägnanz, Witz, Anmut und Anschaulichkeit auszuzeichnen versucht. Solche Prosa-Miniaturen sind zudem einer besonderen Art des Sehens und Betrachtens — dem , Feuilletonismus' - verpflichtet. Charakteristisch dafür ist eine subjektive, persönliche Form in Darstellung, Sprache und Meinung (vgl. DovifatAVilke, 107). Dabei soll im Anekdotischen und scheinbar Belanglosen des Alltags auf interessante, den Leser ansprechende Weise Wesentliches und Allgemeingültiges sichtbar gemacht werden: „[Ein Mann] sah in einem Tautropfen den ganzen Kosmos abgespiegelt, und weil er nicht wußte, wie der Tautropfen hieß, so nannte er ihn Feuilleton." (Wilfried Bade; bei Dovifat 1941, 986). Mit dieser Charakterisierung ist vor allem die ? Unterhaltungs-Funkúon von Feuilletons angesprochen; neben diesem Typus steht das kritisch-politische Feuilleton, das mit publizistisch-literarischen Mitteln unmittelbare Wirkung auf das zeitungslesende Publikum ausüben will. Nicht durchgesetzt haben sich freilich Versuche, das Feuilleton in Teilgattungen zu untergliedern — z. B. in .Feuilleton im engeren Sinn' und .Kleines Feuilleton', d. h. Nachrichten zu Kunst, Wissenschaft und Literatur (Groth 1928), oder in den .Literarischen Artikel', das ,Operative Feuilleton' und das ,Genre Feuilleton' (Knobloch 1962). WortG:

Feuilleton,.

BegrG/SachG: Obwohl das Feuilleton nicht auf die Zeitung beschränkt ist, ist seine Entstehung eng mit der Geschichte der Zeitung verknüpft. Von Autoren des 18. und frühen 19. Jhs., die als Zeitungsredakteure tätig waren und/oder für die Zeitung schrieben, stammen die ersten feuilletonähnlichen Texte, so zum Beispiel von J. Moser (,Patriotische Phantasien'), M. Claudius

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(,Wandsbeker Bote') oder J. P. Hebel (,Der Rheinländische Hausfreund'). Teilweise können die Kalender-Beiträge Lichtenbergs (sowie Skizzen seiner ,Sudelbücher') hierher gerechnet werden; auch Lessing wird als Wegbereiter betrachtet. Einfluß mag weiterhin von Jean Paul ausgegangen sein, obwohl viele Feuilletonisten von ihm allenfalls gelernt haben, „wie man sich räuspert und wie man spuckt" (Meunier/Jesse, 182). In der 1. Hälfte des 19. Jhs. wirkten französische Feuilletonisten wie Jules Janin und Saint-Beuve als Vorbilder, deren geistreicher Plauderstil (,causerie') durch Börne und Heine (,Lutezia') nach Deutschland vermittelt wurde. Zu nennen sind weiter M. G. Saphir (nach Fr. Sengle waren seine Feuilletons ein ,Zeitsymptom' des Biedermeier), C. G. Jochmann, B. Auerbach oder am Rande auch A. Stifter (,Wien und die Wiener'). Als eigentliche Geburtsstunde des deutschsprachigen Feuilletons gilt das Jahr 1848, in dem als direkte Folge der revolutionären Ereignisse das politische Wiener Feuilleton' entsteht. Als unmittelbarer Vorläufer ist die vormärzliche ,Skizze' anzusehen. Seine Blütezeit erlebte das Feuilleton im Wien vor und nach der Jahrhundertwende. Es galt als non plus ultra des literarisch ambitionierten Journalismus; als arrivierter Literat durfte sich derjenige fühlen, dessen Feuilletons von Th. Herzl, dem Feuilleton-Chef der führenden ,Neuen Freien Presse', abgedruckt wurden. Feuilletonisten von Rang sind im 19. Jh. in Wien F. Kürnberger (,Siegelringe', ,Literarische Herzenssachen'), D. Spitzer (.Wiener Spaziergänge') und L. Speidel (,Bilder aus der Schillerzeit'), in Berlin A. Glasbrenner und Th. Fontane. Für die Zeit der Jahrhundertwende und die 1. Hälfte des 20. Jhs. seien exemplarisch genannt H. Bahr, H. v. Hofmannsthal, P. Altenberg, M. Harden, V. Auburtin, A. Polgar, F. Saiten, F. Blei, E. Friedeil und R. Musil. In diese Reihe gehört in gewisser Weise auch Karl Kraus, der — selbst Verfasser exzellenter Feuilletons - es nicht nur ablehnte, die Feuilleton-Redaktion der ,Neuen Freien Presse' zu übernehmen, sondern den Feuilletonismus besonders der Wiener Zei-

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Feuilleton?

tungen aufs heftigste bekämpfte. Besonders in ,Heine und die Folgen' (1910) sowie in bissigen Aphorismen geißelt er die Feuilletonisierung der journalistischen Berichterstattung (vgl. u. a. Kraus, 117-126, 217 f., 241 f.). Das Wiener Feuilleton strahlte nicht nur auf den deutschsprachigen Raum, speziell Berlin aus, sondern auch auf andere Länder der k.u.k. Monarchie (vgl. Szabó). Umgekehrt lebten und arbeiteten Wiener Feuilletonisten zumindest zeitweise in Berlin — z. B. Polgar und Blei, die damit wie Tucholsky oder Kästner für das Berliner Feuilleton stehen. Unter der nationalsozialistischen Diktatur verstummten zahlreiche Feuilletonisten, weil sie Berufsverbot erhielten oder ins Exil gingen. Die Tatsache, daß viele Feuilletonisten jüdischer Herkunft waren, veranlaßte die Publizistikwissenschaft im Dritten Reich zu einer Bestimmung des Feuilletons nach rassistischen Gesichtspunkten: „Das jüdische Feuilleton zerpflückt den Gegenstand seiner Aufmerksamkeit und zieht ihn in den Schmutz, während das deutsche Feuilleton zu erbauen versteht, zu erheben weiß" (Haacke 1941, 2069). Gefragt war nun das gleichgeschaltete oder unpolitische, ganz auf Plauderei abgestellte Feuilleton. Nach einem alten Wort von Hermann Löns galt jetzt als guter Feuilletonist, wer ,einen Korb mit Eiern, von denen eines dem andern gleicht, packend beschreiben kann'. In eingeschränktem Maße bot das Feuilleton aber auch die Möglichkeit, getarnt durch den unverfänglich-harmlosen Plauderton oppositionelle Meinungen zu äußern. Das kritisch-politische Feuilleton hat sich von seiner radikalen Ausrottung durch den Nationalsozialismus nicht wieder erholt, aber auch das eher unterhaltende Feuilleton verlor nach dem 2. Weltkrieg an Bedeutung. Zwar fand es durchaus noch seine Repräsentanten wie P. Bamm, E. Penzoldt, S.v. Radecki, N. Benckiser, K. Korn, H. Spiel oder Fr. Torberg. Es scheint aber, daß die ,Kleine Form' für Schreiber wie Leser an Anziehungskraft eingebüßt hat, auch wenn sich vor allem in überregionalen Zeitungen noch immer Beispiele finden. Wie andere publizistische Gattungen (ζ. Β. ,Se-

rie', .Reportage', ,Feature') hat auch das Feuilleton seinen Weg in den Hörfunk und das Fernsehen gefunden und dort eine medienspezifische Fortentwicklung erfahren. Karl Kraus: Schriften. Bd. 8. Frankfurt 1986.

ForschG: Das Feuilleton als kleine Form ist noch wenig erforscht (ein erster Gesamtüberblick jetzt bei Petersen 1992). So herrscht beispielsweise kein Konsens in der Frage, wer genau zu seinen Wegbereitern zählt; ebenfalls noch ungeklärt ist, ab wann das Feuilleton eine eigenständige Gattung darstellt. Die Gattungsgeschichte des Feuilletons ist im ganzen noch nicht geschrieben worden; lediglich dem Wiener Feuilleton hat man eine gewisse Aufmerksamkeit geschenkt. Davon zeugen der knappe Überblick von Lengauer (1977/78) und die Monographien zu Kürnberger (Wildhagen 1985), Spitzer (Nöllke 1994) und Altenberg (Köwer 1987). In diesen Arbeiten werden die Feuilletons vor allem als autonome literarische Texte behandelt; nur Daniel Spitzers Beiträge werden in ihrem Zeitungskontext untersucht. Lit: Hans Bender (Hg.): Klassiker des Feuilletons. Stuttgart 1965. - Emil Dovifat: Feuilleton. In: Hb. der Zeitungswissenschaft. Bd. 1. Hg. v. Walther Heide. Leipzig 1941, Sp. 9 7 6 - 1 0 1 0 . E. D., Jürgen Wilke: Zeitungslehre II. Berlin, New York 6 1976. - Otto Groth: Die Zeitung. Bd. 1. Mannheim, Leipzig 1928. - Wilmont Haacke: Das Wiener jüdische Feuilleton. In: Hb. der Zeitungswissenschaft. Bd. 2. Hg. v. Walther Heide. Leipzig 1942, Sp. 2 0 5 1 - 2 0 7 2 . - W. H.: Hb. des Feuilletons. 3 Bde. Emsdetten 1951. W. H.: Das Feuilleton in Zeitung und Zeitschrift. In: Hb. der Publizistik. Hg. v. Emil Dovifat. Bd. 3.2. Berlin 1969, S. 2 1 8 - 2 3 6 . - Hermann Haufler: Kunstformen des feuilletonistischen Stils. Diss. Tübingen 1928. - Ruth Jakoby: D a s Feuilleton des ,Journal des débats' von 1814 bis 1830. Tübingen 1988. - Heinz Knobloch: Vom Wesen des Feuilletons. Halle 1962. - Irene Köwer: Peter Altenberg als Autor der literarischen Kleinform. Frankfurt 1987. - Hubert Lengauer: Das Wiener Feuilleton im letzten Viertel des 19. Jhs. In: Lenau-Forum 9/10 (1977/78), S. 6 0 77. - Ernst Meunier, Hans Jessen: Das deutsche Feuilleton. Berlin 1931. - Matthias Nöllke: Daniel Spitzers ,Wiener Spaziergänge'. Frankfurt 1994. - Günther Petersen: Feuilleton und öffentliche Meinung. Wiesbaden 1992. - Karen

Figur·, L. Ryan-Hayes: Russian publicistic satire under Glasnost. The journalistic feuilleton. Lewiston 1993. - Hilde Spiel: Ferdinand Kürnberger. In: Zeitungsschreiber. Politiker, Dichter und Denker schreiben für den Tag. Hg. v. Nikolas Benckiser. Frankfurt 1966, S. 1 3 4 - 1 3 6 . - János Szabó: Satirische Feuilletons aus der untergehenden österreichisch-ungarischen Monarchie. In: ZfG 4 (1983), S. 1 7 9 - 1 8 3 . - Andreas Wildhagen: Das politische Feuilleton Ferdinand Kürnbergers. Frankfurt 1985.

Ulrich Püschel

Figuri ? Rhetorische Figur Figuf2 ? Typologie ι

Figur 3 Fiktive Gestalt in einem dramatischen, narrativen oder auch lyrischen Text (z. B. Rollengedicht, Ballade). Expl: Neben Handlung, R a u m und Zeit bildet die Figur mit ihrer sinnkonstituierenden und handlungsprogressiven Funktion einen elementaren Baustein der fiktiven Welt eines Textes. Die Konzeption der Figur ist dabei je nach G a t t u n g und Epoche verschieden. (1) Bei der Konstitution der fiktiven Welt im D r a m a oder R o m a n reagiert der Leser/ Zuschauer vorrangig auf die Figuren, die er sich zu lebendigen Personen komplettiert, obwohl die Informationen über sie — anders als im ,realen' Leben — abgeschlossen, endlich und nicht beliebig zu erweitern sind. (2) Die dramatische Figur ist für die Darstellung durch Schauspieler konzipiert; zwischen der Figurenkonzeption im Dramentext und der Konkretion durch den Schauspieler besteht ein Spannungsverhältnis (s Rolle). In der Theateraufführung erfolgt die Informationsvergabe bezüglich der Figur sowohl simultan als auch sukzessiv, bei der Figurenkonstitution im narrativen Text ausschließlich sukzessiv. (3) Figuren zeigen sich in der Synthese aller im Verlauf des Textes vergebenen Informationen als .statisch' oder ,dynamisch'.

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Ein geringer Merkmalsatz von Wesenszügen macht sie ,flach', d. h. eindimensional, eine Vielzahl von Eigenschaften und Verhaltensweisen ,rund' bzw. komplex. Die offen konzipierte Figur ( / Leerstelle) schafft wegen der Unvollständigkeit oder Widersprüchlichkeit der Informationen poetische Ambiguität; die geschlossene Figur ist dagegen im Kontext des literarischen Werkes vollständig präsentiert und damit eindeutig. (4) Alle Informationen über eine Figur lassen sich unter dem Terminus Figurencharakterisierung zusammenfassen. Die Informationsvergabe erfolgt dabei entweder ,auktorial' auf der Ebene der Erzählinstanz oder ,figurai' auf der Ebene der redenden und handelnden Personen (mit unterschiedlichen Auswirkungen auf die Zuverlässigkeit der Information). Besonders in Erzähltexten ist darüber hinaus die ,explizite' von der ,impliziten' Figurencharakterisierung zu unterscheiden. Fremdkommentar durch andere Figuren und Selbstcharakterisierung — auf der Bühne meist in Form eines Monologs oder des A-parte-Sprechens Bühnenrede) — zählen zu den explizit-figuralen Techniken. Implizit-figural ist die Informationsvergabe durch das Handeln und Sprechen der Personen (/" Figurenrede). Aussehen (Physiognomie, Statur, Kleidung; Gestik und Mimik), persönliche Requisiten und Dekor können implizit-figural oder explizitauktorial vermittelt sein. Die ,redenden Namen' (/" Onomastik) sind wichtige implizitauktoriale Hinweise, ebenso Korrespondenz- bzw. Kontrastrelationen zu anderen Figuren. WortG/BegrG: Der Ausdruck Figur, von mhd ,fig( i)ûre, geht über afrz .figure zurück auf l a t . f i g u r a ,Gestalt', abgeleitet - wie bezeichnenderweise auch Fiktion — von fingere ,bilden' (weiter davon abgeleitet auch Figurinen, wie Kostümbildner-Skizzen am Theater heißen). Die Anfange der dramaturgischen Wortverwendung sind unerforscht, doch kann sie spätestens in der Goethezeit als etabliert gelten: Adelung führt neben vielen anderen Bedeutungen bereits an „spielet eine vortreffliche Figur auf der Bühne des artigen Lebens" (Ade-

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Figur3

lung 2, 149; unter den Lesarten in Sulzer 2, 229—235 noch fehlend), und bei Goethe ist der allgemein-flktionale Wortgebrauch — neben der (im Sinne von ,stock figures') auf typisierte Commedia-Figuren beschränkten Lesart — schon laufend belegt (GWb 3, 711 f.). In aller Regel synonym verwendet wird im literarischen Kontext PERSON, von lat. persona — wahrscheinlich zunächst bezogen auf das Schalloch der antiken Schauspielermaske {per-sonare). Das Englische verwendet in gleich allgemeiner Funktion den Terminus character, während dt. ? Charakter spezieller auf die ausgeprägte Individualität einer Bühnenfigur verweist. Paul C. Elliott: The literary persona. Chicago, L o n d o n 1982.

SachG: Die Figurenkonzeption als spezifische Konkretisierung eines Menschenbildes bewegt sich seit der Antike zwischen Abstraktion und Individualisierung — besonders deutlich ablesbar im Bereich des Dramas. Ein hohes Maß an Abstraktion prägt die s Personifikation im mittelalterlichen Moralitätendrama und im barocken Jesuitendrama. Vollkommen auf den allegorischen Sinnzusammenhang abgestellt, ist sie die Verkörperung einer einzigen religiösen oder moralischen Idee (/" Allegorie2), z. B. des Hochmuts oder der Weisheit (durch die Bühnenfiguren Superbia bzw. Sapientia). Der in den folgenden Jahrhunderten dominierende Typus (vgl. /" Charakter) ist hingegen komplexer konzipiert und hat einen größeren Merkmalsatz von Eigenschaften, betont jedoch ebenfalls das Überindividuelle, Allgemein-Repräsentative — etwa eines eifersüchtigen Ehemanns, eines Geizhalses usw. Typenfiguren können dabei z. B. in soziologischer oder psychologischer Hinsicht lebensweltlichen Vorbildern entstammen; immanent literarischen Ursprungs sind demgegenüber die vorgeprägten Standardfiguren, genannt stock figures, in der Tradition des antiken Dramas und der /" Commedia dell'arte. Die entpersönlichte Figurendarstellung im expressionistischen und absurden Theater des 20. Jhs. zeigt später erneut eine Tendenz zur Abstraktion. Figuren werden teilweise bis auf Chiffren reduziert, denen

keine spezifischen Eigenschaften zugeschrieben werden können. Dem steht die seit dem 18. Jh. immer stärker individualisierende Figurenkonzeption — vor allem des Realismus und Naturalismus — gegenüber, die das Einmalige und Unverwechselbare einer komplexen Person hervorhebt. Die historischen Wurzeln dieser ,Form der Individualität' liegen (gemäß der berühmten gleichnamigen Untersuchung von Lugowski 1932) in der Frühen Neuzeit (/* Mythisches Analogen). ForschG: Bis ins 18. Jh. dominierte in der poetologischen Diskussion von Figurenkonzeptionen eine normativ-präskriptive Sehweise, die im wesentlichen durch den aristotelischen ei/ws-Begriff (,Poetik' und ,Nikomachische Ethik') und die horazische Vorstellung vom decorum (,Ars poetica'; s Aptum) geprägt wurde. Vor allem im Drama galten strenge gattungsspezifische Vorstellungen über die Figurenkonzeption. (/* Ständeklausel). Im 19. Jh. hat das Interesse an soziologischen Fragestellungen dazu geführt, die Figur als Produkt gesellschaftlicher Bedingungen (Herkunft, Milieu, Werdegang, Bildung usw.) darzustellen (/" Positivismus). Dies gilt produktionsästhetisch für das Drama und den Roman des Realismus und Naturalismus ebenso wie analytisch für die literatursoziologisch oder marxistisch orientierte Forschung (/" Determination). Insbesondere seit — und z. T. unter dem Einfluß — der Freudschen Psychoanalyse haben Autoren wie Literaturkritiker Figuren häufig auch mit Hilfe psychologischer Erklärungsmuster interpretiert. Strukturalistische und semiotische Deutungsansätze (z. B. Lotman, Pfister) sehen die Figur als ein Strukturelement im komplexen Gefüge des Gesamttextes und heben auf ihre funktionale Bedeutung im Kontext ab (z. B. Platz-Waury, Fricke/Zymner). Der kommunikationstheoretische Ansatz, wie er sich vor allem in der rezipientenorientierten Betrachtung dramatischer und narrativer Texte zeigt, befaßt sich mit der Wirkung der Figur beim individuellen oder kollektiven Zuschauer/Leser und hat sich besonders der für die Figurenkonstitution relevanten Zei-

Figurengedicht chencodes angenommen (ζ. B. Fieguth, Fischer-Lichte). L i t : Eric Bentley: The life of the drama. New York 1967. — Rolf Fieguth: Zur Rezeptionslenkung bei narrativen und dramatischen Werken. In: S T Z 4 7 (1973), S. 1 8 6 - 2 0 1 . - Erika FischerLichte: Semiotik des Theaters. Bd. 1. Tübingen 1983. - Ε. M. Forster: Aspects o f the novel and related writings. London 1974, bes. S. 3 0 - 5 7 . Harald Fricke, Rüdiger Zymner: Figurencharakterisierung. In: Einübung in die Literaturwissenschaft. Paderborn 2 1993, S. 1 5 1 - 1 5 6 , 1 8 5 - 1 9 1 . — Paul Goetsch: Bauformen des modernen englischen und amerikanischen Dramas. Darmstadt 1977, bes. S. 8 5 - 1 2 2 . - Herbert Grabes: Wie aus Sätzen Personen werden... In: Poetica 10 (1978), S. 4 0 5 - 4 2 8 . - Norbert Greiner: Figur. In: N. G. u. a. (Hg.): Einführung ins Drama. Bd. 2. München, Wien 1982, S. 1 0 - 6 7 . - Jurij M. Lotman: Die Struktur literarischer Texte. München 1972, bes. S. 3 4 0 - 3 4 7 . - Clemens Lugowski: Die Form der Individualität im Roman [Berlin 1932]. Frankfurt 1976. - Manfred Pfister: Das Drama. München 1977, bes. S. 2 2 0 - 2 6 4 . - Elke PlatzWaury: Drama und Theater. Tübingen 4 1994, bes. S. 6 8 - 9 1 . - Jürgen Seidel: Figur und Kontext. Köln, Wien 1985.

Elke

Figura etymologica

Platz-Waury

Wortspiel

Figurengedicht Gedicht mit semantisierter graphischer Gestaltung der Textoberfläche. Expl: Das Figurengedicht bildet die historisch älteste jener literarischen Gattungen, bei denen die visuelle Gestalt des Textes zu dessen Gesamtbedeutung beiträgt. Im Unterschied zu den jüngeren Formen wie der s Konkreten Poesie (bei der sich erst durch die graphische Anordnung des typographischen Materials ein ,poetischer Text' bzw. überhaupt ein ,Text' ergibt) und der VISUELLEN POESIE (bei der das typographische Material mit Bildelementen kombiniert, bisweilen ganz durch — in Analogie zu einem sprachlichen Text arrangierte — Bildelemente ersetzt wird) besteht das Figurengedicht bereits in seinem Wortlaut aus dem syntaktisch und semantisch wohlgeformten

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Text eines (in der Regel: ? lyrischen, jedenfalls aber: versifizierten) s Gedichts. Zusätzlich handelt es sich dabei jedoch um ein Gedicht, dessen Schrift- bzw. Druckbild die Umrißform eines Gegenstandes annimmt, den der sprachliche Text zum Thema hat. Als Sonderform des Figurengedichts kann die graphische Realisierung mit Hilfe eines INTEXTES gelten: hier wird in einem kalligraphierten bzw. gedruckten Text die Form eines Gegenstandes (z. B. Kreuz) mittels farbiger Hervorhebung (z. B. Rötelung, ,Rubrizierung') einzelner Buchstaben sichtbar gemacht. WortG/BegrG: Figurengedicht ist wohl, wie engl, pattern poem, als Lehnübersetzung von lat. carmen fìguratum (carmen ,Lied', ,Gedicht'; figura ,Form', ,Figur') aufzufassen, welches seinerseits dem griech. Terminus TECHNOPAIGNION entspricht (τέχνη [téchne] .Kunstgriff; παίγνιον [paígnion] ,Scherz', ,Spielzeug'). Die in der Poetik des Barock häufigste Bezeichnung für das Figurengedicht mit Umrißform ist Bilder-Reim (Birken, Kornfeld, Neumark, Schottelius); daneben finden sich Bildgebände, Bildervers und Bilder-Gedicht. Für die ,Intext'-Variante des Figurengedichts findet sich bisweilen die Bezeichnung carmen quadratum oder carmen cancellatum. Erste Versuche, die aus der Antike überlieferten Technopaignia klassifikatorisch zu erfassen, finden sich in der Renaissance. Dabei geht es zunächst nicht um die begriffliche Erfassung der Umrißgestalt selbst; vielmehr wird der Kunstcharakter des Figurengedichts über die metrischen Mittel bestimmt, die die wahrnehmbare Form ermöglichen. Maßgeblich für die deutsche Barockpoetik wurde die Darstellung in J. C. Scaligers ,Poetices libri Septem' (1561); dort dienen im Kapitel über die Composita per cohortes (,die mengenmäßig zusammengesetzten Versmaße'; Buch II, Kap. 25; Scaliger 1, 554—561) zwei Figurengedichte als Beispiel für Gedichte, bei denen es durch Zusammenfügung verschiedenartiger Versmaße zu einer bestimmten Form der Textoberfläche kommt (Nachtigallen-Ei, Schwanen-Ei). Die Wahl der zeilenmäßig zusammengefügten Versmaße folge dabei keinem

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Figurengedicht

bestimmten Gesetz: „Nulla vero certa lex est" (Scaliger 1, 554). Form und Inhalt des Figurengedichts sollen aber so aufeinander bezogen sein, daß die Anordnung der Verszeilen den behandelten Gegenstand in Erinnerung ruft (memorare). Sichtbare Gestalt und Inhalt des so verstandenen Figurengedichts stehen deshalb zueinander im Verhältnis der Redundanz ( Information) bzw. der kunstvoll überdeterminierenden / Äquivalenz.

In der deutschen Barockpoetik kommt es, über Scaliger hinausgehend, zur Klassifizierung „nach der eusserlichen Form und Figur" (Kornfeld) bzw. der Gestalt (Neumark). Gottsched bestimmt - unter stillschweigendem Bezug auf das Horazische ut pictura poesis - das Figurengedicht als Bilderreim bzw. als „malerisches Sinngedicht" und wertet es als „Tändeley" ab (Gottsched, 682). Da die visuell realisierte Form des Figurengedichts als äußere Form eines Denotatums und nicht als innere Form eines Gehalts aufzufassen ist, wird verständlich, weshalb das Figurengedicht im Rahmen einer Poetik der .inneren Form' bzw. der Forderung nach einer organischen Beziehung von s Form und Inhalt, wie sie besonders seit der Romantik bis in die 2. Hälfte des 20. Jhs. dominierte, in seinem Kunstcharakter nicht mehr angemessen zu rekonstruieren war. Sigmund von Birken: Guelfis oder NiderSächsischer Lorbeerhayn. Nürnberg 1669 [bes. S. 37]. - Theodor Kornfeld: Selbst-Lehrende Alt-Neue Poesie oder Verskunst der Edlen Teutschen Helden-Sprache. Bremen 1685 [bes. Vorwort]. - Georg Neumark: Poetische Tafeln. Jena 1667 [bes. 10. Tafel]. - Justus Georg Schottelius: Teutsche Vers- oder ReimKunst. Wolfenbüttel 1645.

SachG: Als früheste Beispiele des Figurengedichts mit Umrißform gelten sechs Gedichte der alexandrinischen Bukolik (Theokrit, Simias von Rhodos), deren Umrisse eine Axt, ein Ei, ein Flügelpaar, zwei Altäre und eine Panflöte darstellen; als früheste Beispiele der ,Intext'-Variante ein spätlateinischer panegyrischer Gedichtzyklus des P. Optatianus Porphyrius (ca. 325 n. Chr.). Erneuertes Interesse am Figurengedicht, besonders der ,Intext'-Variante, zeigt sich bei den Dichtern der Karolinger-

zeit (Alkuin, Hrabanus Maurus). Die Rezeption des antiken Figurengedichts in der ? Frühen Neuzeit und die neuerliche Produktivität der Gattung stehen in engem Zusammenhang mit der Beschäftigung der Humanisten des 15. Jhs. mit der EpigrammSammlung ,Anthologia Graeca' in der Fassung der Planudea (s Anthologie). Ein zweiter Anstoß dürfte der empfehlenden Erwähnung der Gattung bei Scaliger zu verdanken sein (s. o.). Im 17. Jh. wird das Figurengedicht zunehmend verwendet als ^ Gelegenheitsgedicht bei Hochzeiten, Geburtstagen, Ordinationen, Begräbnissen. Im 18. und frühen 19. Jh. kommt es zum Niedergang der Gattung, die nun, wie bei Gottsched, als „Tändeley" (Gottsched, 682), bei Addison (Spectator, 7.5.1711) als Beispiel von „false wit" abgetan wird und in der 2. Hälfte des 19. Jhs. allenfalls im Rahmen komischer Literatur bzw. der ? NonsensPoesie Verwendung findet — etwa in Lewis Carolis ,Alice in Wonderland' (,The Mouse's Tale') oder in Christian Morgensterns ,Galgenliedern' (,Die Trichter', mit dem Grenzfall von ,Fisches Nachtgesang'). Im Laufe des 19. Jhs. wird das Figurengedicht im engeren Sinne durch andere Spielarten von Wort-Bild-Gedichten (Mallarmé, Apollinaire) und später durch die /" Konkrete Poesie abgelöst, die diese neueren Formen weiterführt. ForschG: Während die ältere Forschung um die Jahrhundertwende (Wilamowitz-Moellendorf, Borinski) in erster Linie in philologisch-historischer Hinsicht am Figurengedicht interessiert war und den Nachdruck auf Traditionen legte, die dessen antike Ursprünge erhellen sollten, zielt die neuere literaturwissenschaftliche Forschung — häufig unter explizitem Bezug auf semiotische Modelle — eher auf die zeichentheoretische Klärung der gattungstypischen Kombination des sprachlichen und bildlichen Teils im Figurengedicht (Döhl, Kessler, Zymner). Curtius sieht in der „systematischen Künstelei" des Figurengedichts im 3. Jh. v. Chr. eine der „Hauptarten des formalen Manierismus" (Curtius, 286-294). Allgemein leiten die Wiederentdeckung des Manierismus als Thema literatur- und kunstwissenschaftlicher Forschung in den

Figurenkonstellation 40er und 50er Jahren (Curtius, Hocke) und die Beschäftigung mit der Poetik des Barock als einer „Poetik, die den Schmuckformen der Darstellung eine besondere Bedeutung gibt" (Böckmann, 342) eine neue Phase der Beschäftigung mit dem Figurengedicht ein (mit großen Ausstellungen und Dokumentationen wie der von Adler/Ernst 1987). Die G a t t u n g gilt nun als besonders markante Ausprägung des Sprachbewußtseins im 17. Jh. (Adler/Ernst, 73 f.; vgl. Pozzi, Ernst 1991). L i t : Jeremy Adler, Ulrich Ernst: Text als Figur. Weinheim 1987. - Artikel ,Technopaignia'. In: Paulys Real-Encyclopädie der Classischen Altertumswissenschaft. Bd. 5.1. Stuttgart 1934, Sp. 103 f. - Artikel,Carmina figurata'. In: R A C 2, Sp. 9 1 0 - 9 1 2 . - Paul Böckmann: Formgeschichte der deutschen Dichtung. Hamburg 2 1965. - Willard Bohn: The aesthetics of visual poetry 1 9 1 4 - 1 9 2 8 . Cambridge 1986. - Karl Borinski: Die Poetik der Renaissance und die Anfänge der literarischen Kritik in Deutschland [Berlin 1886], Repr. Hildesheim 1967. - Mary Ann Caws: The poetry of dada and surrealism. Princeton 1970. Elizabeth Cook: Seeing through words. N e w Haven 1986. - Reinhard Döhl: Konkrete Literatur. In: D i e Deutsche Literatur der Gegenwart. Hg. v. Manfred Durzak. Stuttgart 1971, S. 2 5 7 - 2 8 4 . - Ulrich Ernst: Carmen Figuratum. Köln 1991. - Dick Higgins: Pattern poetry. Albany 1987. - Gustav René Hocke: Manierismus in der Literatur. Hamburg 1959. Dieter Kessler: Untersuchungen zur konkreten Dichtung. Meisenheim/Glan 1976. - Wilhelm Kühlmann: Kunst als Spiel: D a s Technopaegnium in der Poetik des 17. Jhs. In: D a p h n i s 20 (1991), S. 5 0 5 - 2 9 . - Giovanni Pozzi: La parola dipinta. Mailand 1981. - Piotr Rypson: The labyrinth poem. In: Visible Language 10 (1986), S. 6 5 - 9 5 . - Ulrich v o n Wilamowitz-Moellendorf: Die griechischen Technopaegnia [1899], In: U.V.W.: Kleine Schriften. Berlin 1935, Bd. 5.1, S. 502—513. — Rüdiger Zymner: Manierismus. Paderborn 1995 [bes. S. 5 9 - 8 7 ] ,

Bernhard F. Scholz

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s Figure im literarisch-fiktionalen Text stets innerhalb eines Figurensystems. Insofern die Figuren zueinander in Beziehung treten, entsteht ein dynamischer Interaktionsprozeß. Daher hat die Figurenkonstellation eine wichtige handlungsgestaltende Funktion; Kontrast- und Korrespondenzrelationen strukturieren das Personal. Während die Figurenkonstellation im ganzen Text konstant bleibt, bezeichnet der Terminus Konfiguration die jeweilige Kombination des Personals in einer bestimmten Situation (S Szene) und ist durch Hinzufügen neuer bzw. Verschwinden vorhandener Figuren einem ständigen Wandel unterworfen. [Terminologisches Feld:] HELD: Zentralgestalt einer epischen oder dramatischen Handlung mit meist repräsentativer Funktion, die im Mittelpunkt des Leser-/Zuschauerinteresses steht. Obwohl die ,heroischen' Konnotationen (s Heldendichtung, S Heroisch-galanter Roman) im Zuge der modernen Literaturentwicklung weitgehend ausgehöhlt worden sind, lenkt in der Regel der fiktive ,Held' weiterhin durch positive Merkmalsätze die Sympathien auf sich ( / Rezeption)', es handelt sich also nach wie vor nicht um eine vollkommen wertneutrale Kategorie. In noch deutlicherem Maße als für die maskuline Wortform gilt das f ü r die HELDIN. PROTAGONIST: Hauptfigur einer epischen oder dramatischen Handlung, noch ohne jede wertende Zuschreibung positiver bzw. negativer Merkmalsätze oder über sich hinausweisender repräsentativer Aufgaben. Auch eine Schurkenfigur kann also unbestrittener Protagonist eines D r a m a s oder Romans sein (ja sogar Titelheld, wie Shakespeares Richard III.); als positive Gegenspieler fungieren in diesem Falle der — bei anderer Figurenkonstellation oft negativ gezeichnete — ANTAGONIST (oder auch die ANTAGONISTIN).

Figurenkonstellation Ensemble aller in einem D r a m a oder Erzähltext vorkommenden fiktiven Personen. Expl: Abgesehen von Ausnahmen wie dem ? Monodrama existiert die einzelne

CONFIDENT(E): Der oder die ,Vertraute' dient — besonders in der traditionsreichen Bühnen-Konstellation ,Herr/Diener' bzw. ,Herrin/Zofe' — vorrangig der Informationsvergabe gegenüber dem Publikum und häufig der rezeptionssteuernden Perspektivierung des Geschehens.

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Figurenkonstellation

Allgemein folgt die Figurenkonstellation meist — besonders in den tradierten Stereotypen der Commedia dell'arte oder der ? Typenkomödie — wenigen Grundschemata sozialer Beziehungen. Je nach Wichtigkeit lassen sich dabei die Figuren terminologisch in Hauptfiguren, Nebenfiguren und Randfiguren unterteilen. Die Funktionsfigur — etwa ein Bote im Drama (vgl. Botenbericht: f Bühnenrede) — unterscheidet sich von einer Neben- oder Randfigur durch das Fehlen persönlicher Eigenschaften. Konkomitante Figuren erscheinen nur zusammen auf der Bühne, alternative Figuren begegnen einander nie. WortG/BegrG: Der aus dem literarisch traditionsreichen Ausdruck lat. figura (S Figuri) und lat. constellatio (aus stella ,Stern') .Stellung der Gestirne zueinander' zusammengesetzte Terminus findet sich erst in der Forschung der letzten Jahrzehnte als abstrahierender Sammelbegriff (dt. durchgesetzt wohl erst von Pfister 1977, 225 u. ö.). Reicher ist hingegen die Überlieferung im terminologischen Feld. Die literarische Kategorie Held (aus ahd. helid, mhd. helt) definiert bereits Sulzer: „Die Hauptperson des Heldengedichts [...] Man braucht aber dasselbe Wort etwas uneigentlich auch von der Hauptperson im Drama [...] welcher in der Handlung die Hauptrolle hat, auf den das meiste ankommt und der alles belebt" (Sulzer 2,493). Adelung dagegen beschränkt diese Verwendung auf „in der edlen und höhern Schreibart üblich" (Adelung 2, 1094). Campe führt 1808 in diesem Sinne männliche und weibliche Form nebeneinander auf: „Der Held [...] die Heldinn [...] Die Hauptpersonen in Geschichten, Schauspielen etc., deren Thaten erzählt oder dargestellt werden, nennt man auch die Helden" (Campe 2, 609). Das Grimmsche Wörterbuch (DWb 10, 930—934) belegt beide Formen in literarischen Verwendungskontexten seit Wieland und Goethe, mit dem eher spekulativen Erklärungsangebot: „held, der den mittelpunkt einer begebenheit, einer handlung bildende mann, zunächst in der dichtersprache. es musz diese bedeutung auf jene litteraturepoche zurückgehen, in der die haupt-

person eines dramas oder epos ein held sein muszte". Protagonist ist — entgegen häufigem Mißverständnis und der irreführenden Angabe sogar bei Kluge-Seebold 221989, 566 — nicht als .Befürworter' auf lat. pro- zu beziehen, sondern abgeleitet aus griech. πρώτος [prótos] .erster' und αγωνιστής [agonistés] .Schauspieler', bedeutet also ganz neutral .erster Schauspieler, Inhaber der Hauptrolle' im Unterschied zu zweit- bzw. drittrangigen Deuteragonisten bzw. Tritagonisten. Ihm gegenüber steht jedoch als Antonym traditionell der Antagonist — gebildet mit dem griech. Präfix άντί [antí] .gegen'. In die neueren Gelehrtensprachen übernommen wurde das Begriffspaar zuerst engl. 1671 (von der Académie Française zugelassen 1835), dt. belegt bei Goethe u. a. seit 1781 (detaillierte Belege bei Schulz-Basler 2, 706f.). Frz. Confidentie) ,Vertraute^)' findet dt. nur gelegentlich in dramentheoretischen oder literarhistorischen Zusammenhängen Verwendung (lexikographisch erfaßt erst bei Wilpert s. v.). SachG: Die Sachgeschichte der Figurenkonstellationen ist die Entwicklung ihres Einsatzes innerhalb der einzelnen epischen und dramatischen Gattungen und kann nur in deren jeweiligem Zusammenhang dargestellt werden. ForschG: Aristoteles hat sich als erster im Hinblick auf das für Epos, Tragödie und Komödie angemessene Personal Gedanken gemacht (.Poetik', Kap. 3 - 5 ) . Aristotelische Grundgedanken wirken noch in Lessings .Hamburgischer Dramaturgie' nach (14., 74., 77., 92., 94. Stück). Im 20. Jh. haben sich vor allem strukturalistische Ansätze mit der Figurenkonstellation befaßt; das Personal wird dabei vorwiegend nach Funktionsbereichen klassifiziert. Propp identifiziert sieben Typen von handelnden Personen im Märchen: Held, Falscher Held, Gegenspieler (Schadenstifter), Schenker (Lieferant), Helfer, Gesuchte Person und ihr Vater, Auftraggeber. Souriau sieht sechs dramaturgische Grundfunktionen im Drama, denen er astrologische Bezeichnungen gibt — wobei eine Figur mehrere Funktionen übernehmen kann:

Figurenrede Löwe („die orientierte dramatische Kraft"), Sonne („der Repräsentant des erwünschten Gutes, des orientierenden Wertes"), Erde („der virtuelle Empfänger dieses Gutes, derjenige, für den der Löwe arbeitet"), Mars („der Opponent"), Waage („der Schiedsrichter, Verleiher des Gutes"), Mond („die Hilfe, Verdoppelung einer der vorigen Kräfte"). Von P r o p p und Souriau ausgehend, unterscheidet Greimas zwischen Akteuren als von Fall zu Fall variablen Personen und gattungsbezogenen /" Aktanten als funktionalen Einheiten. Seine sechs Aktanten ordnen sich in drei aktantielle Kategorien: 1) Subjekt und Objekt·, 2) Adressant und Adressat; 3) Adjuvant und Opponent. Der mathematisch-linguistische Ansatz (ζ. B. Marcus) hat sich vorwiegend mit der Erforschung der Konfigurationsstruktur beschäftigt; ausführlich systematisierende Überblicke zu den terminologischen Feldern Figurenkonstellation und Konfiguration finden sich — in Weiterführung von Klotz, 5 9 - 6 6 , 1 3 6 - 1 4 8 - bei Kafitz sowie Pfister, 220-240. Lit: Helga Esselborn-Krumbiegel: Der ,Held' im Roman. Darmstadt 1983. - Algirdas J. Greimas: Sémantique structurale. Paris 1966, bes. S. 172191 (dt. Braunschweig 1971, bes. S. 157-177). Dieter Kafitz: Figurenkonstellation als Mittel der Wirklichkeitserfassung. Kronberg 1978. - Volker Klotz: Geschlossene und offene Form im Drama. München 1969. - Hans-Werner Ludwig: Arbeitsbuch Romananalyse. Tübingen 1982, bes. S. 106-144. - Solomon Marcus: Mathematische Poetik. Frankfurt 1973, bes. S. 287-370. - Manfred Pfister: Das Drama. München 1977. - Elke Platz-Waury: Drama und Theater. Tübingen 4 1994, bes. S. 68-91. - Vladimir J. Propp: Morphologie des Märchens. Leningrad 1928 (dt. München 1972, bes. S. 79-83). - Jürgen Seidel: Figur und Kontext. Köln, Wien 1985. - Etienne Souriau: Les deux cent mille situations dramatiques. Paris 1950, bes. S. 83-112. Elke

Platz-Waury

Figurenrede Oberbegriff für verschiedene Möglichkeiten, sprachliche Äußerungen von Figuren, aber auch Nicht-Geäußertes wie Gedanken, in erzählenden Texten wiederzugeben

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Expl: Unter Figurenrede versteht man (sprachlogisch nicht ganz unproblematisch) die Wiedergabe dessen, was Figuren (/" Figur3) in einem narrativen Text sagen bzw. denken (oder fühlen), und zwar die Wiedergabe durch einen / Erzähler. Zu unterscheiden sind folgende Formen der Figurenrede, geordnet nach abnehmendem Anteil der Figur und zunehmendem Anteil des Erzählers an der Rede: Formen reiner Figurenrede ohne Erzähleranteil: ( 1 ) DIREKTE R E D E : (Beispiel: Er sagte: „Ich will nach Hause"). Markierung durch INQUIT-FORMEL (Redeeinleitung) sowie Anführungszeichen üblich, aber nicht obligatorisch. (2) /" Innerer Monolog: Keine Inquit-Formel (Mensch, was soll ich noch hier? ... nichts wie weg!). Formen der Vermischung von Figuren- und Erzähleranteil an der Rede: (3) INDIREKTE R E D E : Erzähleranteil: Grammatische Person (3. Pers.) und fakultativ Modus der Verben (Konjunktiv): Er sagte, er wolle nach Hause / daß er nach Hause wolle. Inquit-Formel bei Indirekter Rede im Konjunktiv nicht obligatorisch. (4) Erlebte Rede: Erzähleranteil: grammatische Person (meist 3. Pers.) und Tempus der Verben (meist Präteritum): Mensch, was sollte er noch hier? ... nichts wie weg! Keine Inquit-Formel. Redewiedergabe durch reine Erzählerrede ohne Anteil der Figur: (5) REDEBERICHT: Wiedergabe des Inhalts einer Äußerung durch Bericht, Zusammenfassung, Paraphrase usw. (Er äußerte die Absicht, nach Hause zu fahren.) Genette 1972, S. 189-203. S. 34-48.

Genette 1983,

WortG: Figurenrede ist eine jüngere Sammelbezeichnung für Einzelphänomene, deren sprachgeschichtliches und literarhistorisches Auftreten (wie auch deren terminologische Erfassung) teils mit der Überlieferung von Sprache selbst und von philosophischer, grammatischer oder rhetorischer Beschäftigung damit zusammenfallt (Direkte/Indirekte Rede, Inquit-Formel)·, teils handelt es sich um jüngere Ausdrücke (Er-

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Fiktion

lebte Rede, Innerer Monolog), die in der Literatur spezifisch moderne Phänomene bezeichnen. In W. Kaysers Theorie des sprachlichen Kunstwerks — die sich mit Figurenrede im genannten Sinn nicht beschäftigt — hat Redeform die ganz anders gelagerten Bedeutungen von ,Sprechhandlungstyp' (Beschreiben, Erörtern usw.) oder von literarisches Motiv' (ζ. B. ,das Verhör'). Der Ausdruck Redebericht ist spätestens seit E. Lämmerts Arbeit z u , Bauformen des Erzählens' (1955, 234—237) allgemein gebräuchlich. BegrG: Die Erscheinungsformen der Figurenrede werden auch als Redeformen, Redeweisen (Lämmert) oder Darbietungsarten (Petersen) zusammengefaßt. Adelung bezeichnet Indirekte Rede als relativische Art der Rede (vgl. abhängige Rede bei Behaghel) im Unterschied zur direkt unterrichtenden Rede. Der Redebericht wurde zuerst als Bericht über die Resultate einer Unterhaltung (Friedemann) umschrieben und dann als erzählte Rede erfaßt (Günther, vgl. später discours raconté bei Genette). Johann Christoph Adelung: Deutsche Sprachlehre. Berlin 1781, S. 523 f. - Otto Behaghel: Deutsche Syntax. Bd. 3. Heidelberg 1928, S. 694-705. - Jürgen H. Petersen: Erzählsysteme. Stuttgart 1993, S. 80 f.

ForschG: Als erste stellte K. Friedemann 1910 Möglichkeiten der Redewiedergabe zusammen und berücksichtigte dabei bereits die damals noch kaum theoretisierte Erlebte Rede („eigenartiges Mittelding zwischen direkter und indirekter Rede", Friedemann, 165). Friedemann brachte Redewiedergabe theoretisch in Zusammenhang mit dem Problem der Erzählereinmischung (/" Erzählerkommentar)·, die naturalistische Tendenz zur reinen Figurenrede führte sie historisch auf die poetologische Forderung nach ,objektivem' Erzählen zurück. Nachdem in einer heftigen Kontroverse über die Erlebte Rede (ca. 1912-1928) der Blick für die Figurenrede als Ganzes verloren gegangen war, kehrte W. Günther 1928 zu grundsätzlichen Problemen der ,Rededarstellung' zurück. Der Innere Monolog fand jedoch

erst bei Lämmert (1955) und Genette (1972) Eingang in Typologien der Redewiedergabe. Chatman machte 1978 den Vorschlag, Redeformen auf der Grundlage zweier kombinierbarer Basiskriterien zu differenzieren, nämlich direkte gegen indirekte Redeformen sowie Redeformen mit gegen solche ohne Redeeinleitung. Wichtige Impulse zur Erforschung von Figurenrede als .fremdem Wort' und der stilistischen Wechselbeziehung zwischen Figuren- und Erzählersprache gingen aus von der sowjetischen Semiotik (Bachtin, Volosinov, Uspenskij). Lit: Michail M. Bachtin: Die Ästhetik des Wortes. Frankfurt 1979, besonders S. 220 f., S. 244-249. - Seymour Chatman: Story and discourse [1978], London 2 1980, S. 198-209. Käte Friedemann: Die Rolle des Erzählers in der Epik. Leipzig 1910, S. 157-170. - Gérard Genette: Discours du récit. In: G. G.: Figures III. Paris 1972, S. 65-278. - G. G.: Nouveau discours du récit. Paris 1983 [beide Titel dt.: Die Erzählung. München 1994], — Werner Günther: Probleme der Rededarstellung. Marburg 1928. Eberhard Lämmert: Bauformen des Erzählens. Stuttgart 1955. - Andreas Mueller: Figurenrede. Grundzüge der Rededarstellung im Roman. Diss. Göttingen 1981. — Manfred von Roncador: Zwischen direkter und indirekter Rede. Tübingen 1988. - Boris A. Uspenskij: Poetik der Komposition. Frankfurt 1975, S. 4 2 - 5 6 . - Valentin N. Volosinov: Zur Geschichte der Formen der Äußerung in den Konstruktionen der Sprache. In: V. Ν. V.: Marxismus und Sprachphilosophie. Frankfurt 1975, S. 173-237.

Peter

Stocker

Fiktion Ein erfundener (,fingierter') einzelner Sachverhalt oder eine Zusammenfügung solcher Sachverhalte zu einer erfundenen Geschichte. Expl: Auszugehen ist von dem traditionellen Gegensatz von Fiktion und Wirklichkeit (bzw. Wahrheit), von (ästhetischem) S C H E I N und (außerästhetischem) ,Sein'. Die Explikation hat also zunächst negativ zu bestimmen, was Fiktion fehlt, um ,der Wirklichkeit' oder ,der Wahrheit' gerecht zu werden.

Fiktion Hierbei sind zwei Aspekte der Wirklichkeitserkenntnis zu unterscheiden: Dasein und Sosein. Es können Individuen oder Personen fingiert sein, die in der Literaturwissenschaft / Figurenj heißen, und es können Beschreibungen und Handlungszusammenhänge fingiert sein. Wesentlich für einen neutralen Fiktionsbegriff ist darüber hinaus die Unterscheidung des Modus der Präsentation fingierter Sachverhalte: ob sie erkennbar als Fiktionen oder ob sie affirmativ in täuschender oder lügnerischer Absicht präsentiert werden. Im Zusammenhang mit fiktionalen Texten ist von einem ,Tun als ob' ein ,Sprechen als ob' zu unterscheiden. Obwohl mit Blick auf Aufführungen dramatischer Literatur davon gesprochen werden kann, daß ein Schauspieler ,so tut als ob', indem er in eine bestimmte Rolle schlüpft, hat sich die Theorie der Fiktion im wesentlichen auf die ? epische Fiktion (im Unterschied zur /" dramatischen Fiktion) konzentriert. Bei Fehlidentifikationen von Figuren mit deren Darstellern (ζ. B. in Fernsehserien) handelt es sich um ein bemerkenswertes Phänomen der Illusion, das Gegenstand psychologischer und soziologischer Untersuchungen ist. Die Explikation des Fiktionsbegriffs mag mit Blick auf literarische Beispiele vorgenommen werden, sollte aber in der Sache unabhängig vom Literaturbegriff erfolgen — gibt es doch sowohl nicht-literarische Fiktionen als auch nicht-fiktionale Literatur. Es empfiehlt sich daher, einen neutralen Begriff der fiktionalen Rede zugrunde zu legen. Entsprechend der obigen Unterscheidung kann sich das Fingieren auf das Dasein, das Sosein und (oder) die Präsentation beziehen: (1) Dasein: Jemand kann so sprechen, als ob er über bestimmte Personen und Objekte redet, obwohl diese gar nicht existieren. (2) Sosein: Jemand kann so sprechen, als ob ein bestimmter Sachverhalt (zwischen als existierend anerkannten Objekten) besteht, obwohl dieses gar nicht der Fall ist. (3) Präsentation: Jemand kann so sprechen, als ob er einen Sachverhalt in bestimmter Weise präsentiert (ζ. B.: behauptet), obwohl er dieses gar nicht tut.

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Im Rahmen sprachphilosophischer Unterscheidungen läßt sich dies so reformulieren, daß fiktionale Rede die Ebenen (1) der Referenz bzw. Denotation (S Konnotation, / Bedeutung), (2) der z1 Proposition und (3) der Illokution (S Sprechakt) betreffen kann. Fiktionale Rede ist danach im Falle (1) weder wahr noch falsch, im Falle (2) falsch, im Falle (3) nicht-affirmativ. Sofern fiktionale Rede keine Ansprüche erhebt, Referenz (Denotation) zu haben, wahr bzw. affirmativ zu sein, ist ihr Sprecher von der Erfüllung entsprechender Kommunikations-Bedingungen freigestellt. Es versteht sich, daß eine solche Freistellung nicht für alle Literatur zwischen Historischem Roman und Märchen in gleicher Weise gilt. Die genannten Bestimmungen können aber gerade für eine differenzierte Beschreibung unterschiedlicher Grade von Fiktionalität herangezogen werden. WortG: Der Terminus geht zurück auf die lat. Substantivbildung fictio (wie /" Figur¡ vom Verb fingere ,machen, erdichten, vorgeben'). Bereits mit Bezug auf den Wahrheitsbegriff gebraucht Horaz den Ausdruck in seiner Forderung: „ficta voluptatis causa sint próxima veris" (.Erdichtetes m u ß um des Vergnügens willen nah an der Wahrheit bleiben'; ,Ars poetica' ν. 338 — vgl. ν. 119 f.). Die antike Rhetorik-Tradition bestimmt auch die ironische Nachahmung von Menschen als eine ,fictio personae' (Quintilian 9,2,29-37). In verwandtem Kontext spricht noch Scaliger von oratio ficta als ,uneigentlicher Rede' (Scaliger, 140). Im Sinne von ,erdichten' läßt sich das Verb fingieren im Dt. bereits seit Fischart 1572 belegen ( D W b 3, 1663). Das dt. Fremdwort Fictio ist als juristischer Terminus seit 1677, als philosophisches Lehnwort Fiction seit 1691 nachgewiesen (Detailbelege bei Schulz-Basler 1, 212 f.). In der deutschsprachigen Dichtungstheorie wird der Ausdruck im Laufe des 18. Jhs. zwar noch verwendet — ζ. B. bei Lessing 1759 als Fiction, bei Herder 1765 schon als Fiktion (a. a. O.); bei Goethe wechselt die Schreibung bis hin zu Ficktion (WA I 47, 330; s. G W b 3, 714) —, aber er wird zunehmend

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Fiktion

durch Erdichtung bzw. Dichtung ersetzt In der Argumentationstheorie der anti(vgl. ζ. B. Sulzer 2, 8 2 - 8 5 : Artikel .Erdich- ken Rhetorik werden z. B. bei Quintilian tung'). fictiones u. a. hypothetische Annahmen geZu einem zentralen Terminus der Litera- nannt, aus denen unter Voraussetzung ihrer turtheorie wird Fiktion erst wieder seit der Wahrheit Schlüsse gezogen werden können 2. Hälfte des 20. Jhs., und zwar unter dem (Quintilian 5,10,95-99; Belegverzeichnis Einfluß der angelsächsischen Tradition, in bei Zundel, 39 f.). Gemeint sind damit noch der sich die lat. Bezeichnung als engl .fiction nicht Hypothesen im heutigen Sinne; die (ähnlich wie frz. fiction) erhalten hat — je- Unterscheidung von ,bloßen Annahmen' doch allgemein als Bezeichnung für Pro- und ,fundierten Hypothesen' ist jüngeren saerzählungen (OED 5, 872: „prose novels Datums (Lotze; vgl. Lötzsch). Der fiktive and stories collectively"; dazu Keller, Charakter von Hypothesen findet sich hin47—49). Das engl. Adjektiv fictive hingegen gegen noch in Newtons berühmtem Satz wird international (wohl auch unter dem ausgesprochen: „hypotheses non fingo" Einfluß von frz. fictif) sowohl zur semanti- (vgl. HWbPh 3, 1263). Auch bei Nietzsche schen Charakterisierung einer bestimmten wird zwischen Fiktionen und Hypothesen Sprachverwendung oder Redeform (fictive nicht unterschieden, woraus sich seine Tenuse of language) als auch zur ontologischen denz zu einem Panfiktionalismus erklärt, Charakterisierung von Gegenständen (fic- der bis in seine postmodernen Ausläufer die tive objects) verwendet. In Fällen wie dem Rede vom ,Verschwinden der Wirklichkeit' ersten ist gleichermaßen fictional in Ge- beeinflußt hat. Von Nietzsche ausgehend, brauch (z. B. in Verbindungen wie fictional hat Vaihinger 1911 einen differenzierten discourse). Auf diese Weise läßt sich auch Fiktionalismus des ,Als Ob' ausgearbeitet. im Deutschen — nach seit dem 19. Jh. beDie ästhetische und literaturtheoretische legbarer Redeweise (EWbD 1, 433) — der Dimension von Fiktionen wird insbesonfiktionale Modus eines Textes von der dere in der rationalistischen ErkenntnisSeinsweise fiktiver Gegenstände unterscheitheorie (im Anschluß an Leibniz und Wolff) den. hervorgehoben. Baumgarten (.MetaphyJohann Wolfgang Goethe: Werke [Weimarer sica', §§557—590) bestimmt fictiones bzw. Ausgabe, WA], Weimar 1887-1919. - Ulrich Keller: Fiktionalität als literaturwissenschaftliche figmenta als sinnliche Perzeptionen der Einbildungskraft (,facultas imaginandi'), die zu Kategorie. G R M , Beiheft 2. Heidelberg 1980. einem neuen Ganzen umgebildet werden BegrG: Das Aufkommen der Fiktionsthe- (§§ 589 f.). Die Fähigkeit zu solcher Neumatik in der Antike wird von altphilologiund Umbildung ist zunächst das Vermögen scher Seite mit dem Verlust der oralen kuldes Erdichtens (,facultas fingendi'), das turellen Tradition in Verbindung gebracht aber durch den Zusatz „poetisch" bereits als (Rosier). Aus mediävistischer Sicht ist geltend gemacht worden, daß eine fiktionale Dichtungsvermögen im Sinne der dichteriLiteratur im eigentlichen Sinne, die nicht schen Einbildungskraft (/" Phantasie) bebloß eine allegorische Einkleidung vorgege- stimmt wird. Fiktionen sind demzufolge das bener Wahrheiten darstellt, erst im 12. Jh. Ergebnis einer Poiesis, eines ,Machens', das entstanden sei (Haug). Historisch themati- die Gefahr in sich berge, „Chimären" als siert wird das Fiktionsproblem immer wie- für wahr gehaltene Fiktionen hervorzubrinder mit Bezug auf den Piaton zugesproche- gen (§ 590). nen Vorwurf, daß ,die Dichter lügen'. GeDie ursprüngliche Doppeldeutigkeit der messen an einem Verständnis von Lüge, Wertung — im Sinne von Dichtung als .Poenach dem nur derjenige lügt, der etwas be- sie' und als .bloßer Erdichtung' — hält sich hauptet, von dem er weiß, daß es nicht bis in die Gegenwart durch. Die Problemgewahr ist, wurde dieser Vorwurf schon von schichte von .Fiktion' im ästhetischen Sinne Sidney (,Defence of Poetry', 52) mit dem wird in der deutschsprachigen Tradition Argument zurückgewiesen: Dichter lügen nicht unter dem Terminus Fiktion verhannicht, weil sie gar nicht behaupten. delt (s. WortG); hier rücken vielmehr Dich-

Fiktion tung, Poesie, Einbildungskraft, / Mimesis (bzw. Nachahmung) und /" Illusion ein. Alexander G. Baumgarten: Metaphysica [Halle 7 1779], Repr. Hildesheim 1969; § § 5 0 1 - 6 2 3 lat.dt. in: A. G. B.: Texte zur Grundlegung der Ästhetik. Hg. v. Hans Rudolf Schweizer. Hamburg 1983. — Walter Haug: Wandlungen des Fiktionalitätsbewußtseins vom hohen bis zum späten Mittelalter. In: Entzauberung der Welt. Hg. v. James F. Poag und Thomas C. Fox. Tübingen 1989, S. 1 - 1 7 . Frieder Lötzsch: ,Fiktion'. In: HWbPh 2, Sp. 9 5 1 - 9 5 3 . - Wolfgang Rosier: Die Entdeckung der Fiktionalität in der Antike. In: Poetica 12 (1980), S. 2 8 3 - 3 1 9 . - Philip Sidney: A defence of poetry [1595]. Hg. v. Jan A. van Dorsten. Oxford 2 1971. - Hans Vaihinger: Die Philosophie des Als Ob. Berlin 1911. - Eckart Zundel: Clavis Quintilianea. Darmstadt 1989.

ForschG: Die neuere Forschungsgeschichte ist im wesentlichen durch zwei Traditionen geprägt, eine philosophische und eine literaturtheoretische. Den Hintergrund der philosophischen Forschung bildet das Nachahmungsproblem, das bis heute die Diskussion bestimmt. Es geht u m die Frage, wie Dichtung trotz oder gerade wegen ihrer Aufhebung eines direkten Wirklichkeitsbezugs einen Wert und insbesondere einen Erkenntniswert haben kann. Aus gattungstheoretischer Sicht verknüpft sich dieses Problem mit der Frage, ob es überhaupt einen textsemantisch bestimmbaren Unterschied zwischen fiktionalen und nicht-fiktionalen Texten gibt. Eine solche Unterscheidung kann allerdings auch auf außertextliche, d. h. pragmatische Bestimmungen rekurrieren. Für die neuere Forschung hat insbesondere die analytische Sprachphilosophie wesentliche Beiträge geleistet. Geht man bei der Wortbildung fìktionale Literatur von einer Zusammenfügung von fiktional und Literatur aus, so haben sich diese Theorien weniger um den Aspekt des Literarischen als vielmehr um den semantischen (und pragmatischen) der Fiktionalität gekümmert. Diese Diskussion beginnt mit Freges ,Über Sinn und Bedeutung' (1892) und setzt sich über phänomenologische Konzeptionen bei Husserl und besonders Ingarden bis in die Gegenwart fort. Vorherrschend sind hier neben sprechakttheoretischen Ansätzen (z. B. Searle) vor allem semantische und textlin-

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guistische Versuche, die traditionsreiche Auffassung von der Dichtung als ,eigener Welt' bzw. als mögliche Welten (S Modelltheorie) in terminologischen Prägungen wie TEXTWELT oder narrative Welt zu explizieren (zu den unterschiedlichen Ansätzen vgl. Woods/Pavel und Rieser). — Den eigenständigen Erkenntniswert fiktionaler Literatur haben u. a. Beardsley, G o o d m a n 1973, Gabriel 1991 und Thürnau entschieden verteidigt. Die literaturtheoretische Forschung ist im deutschen Sprachraum lange Zeit durch andere Themen überlagert oder ersetzt gewesen (s. o.). Erst mit K. Hamburgers einflußreichem Buch ,Die Logik der Dichtung' und ihrer Erweiterung des begründungsoder beweistheoretischen Logikbegriffs (/* Analytische Literaturwissenschaft) um eine L0GIK3 im Sinne einer ,Sprachtheorie der Dichtung' rückte der Begriff der Fiktion in den Mittelpunkt. Besonders folgenreich war Hamburgers Kontroverse mit Ingarden über den Begriff des Quasi-Urteils. Die weitere Diskussion ist vor allem durch die Erwartung bestimmt gewesen, den Begriff der Fiktion — im Unterschied zum Begriff der Dichtung oder der Literatur — leichter bestimmen zu können. Insbesondere sprachanalytische Ansätze haben sich konzentriert auf eine Explikation des neutralen Begriffs der fiktionalen Rede (z. B. Gabriel 1975, Cebik, Klemm) oder gelegentlich auch der szenischen Fiktion (z. B. Fricke, Vogel), um von hier aus allererst eine Funktionsbestimmung der Fiktion vorzunehmen. Ein solches Vorgehen wird in Frage gestellt, wenn der Begriff der Fiktion erneut sehr weit gefaßt wird. So bestimmt Iser (1991, 25) die .Selektion' der Wirklichkeitselemente durch den Autor als ,Akte des Fingierens'. Nach diesem Verständnis wäre bereits das ,Machen' von wirklichen Erfahrungen als fiktional zu charakterisieren, weil dieses aufgrund seiner Partikularität nicht die ganze Wirklichkeit erfassen kann. Übereinstimmung besteht allerdings weitestgehend darin, daß auch Fakten nicht an sich gegeben sind, sondern vom erkennenden Subjekt durch Symbolsysteme (mit)konstituiert werden (Goodman 1984, White). Obwohl dabei die interne Unterscheidung

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Film

zwischen Fakten und Fiktionen regulativ in K r a f t bleibt, verbietet sich gerade mit Blick auf die vielfältigen Verbindungen beider in fiktionaler Literatur eine disjunkte Opposition (Thürnau). Iser schlägt daher vor, sie durch eine Triade unter Einschluß einer Dimension des IMAGINÄREN abzulösen (Iser 1991, 19). Bei der Frage nach den Funktionen der Fiktion rückt gegenüber einer am Erkenntnisbegriff orientierten Sicht verstärkt das anthropologische Moment der /" Wirkung in den Blick. Eine zur Wirkungsästhetik parallele Entwicklung zeichnet sich in der analytisch orientierten Tradition ab, wo — unter ausdrücklichem Einbezug nicht-literarischer Fiktionen — die psychologische Bedeutung der Einbildungskraft (^imagination', ,make-believe') und der durch sie ausgelösten Gefühle hervorgehoben wird (Walton, Currie). Mit Blick auf die Tradition könnte man davon sprechen, daß damit der Aristotelische Gedanke der ? Katharsis wieder stärker zur Geltung kommt. Neueste Arbeiten scheinen auf eine Vermittlung von Erkenntnis- und Katharsis-Funktion hinauszulaufen (Lamarque/Olsen).

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Gabriel

Film Audiovisuelles Medium. Expl: Das Phänomen Film umfaßt einen Material-, einen Produkt- und einen Kunstaspekt: (1) Lichtempfindliches Material unterschiedlicher Beschaffenheit und Länge zur Aufnahme und Wiedergabe einzelner (Photographie) sowie bewegter Bilder (Kinematographie). (2) Überlieferungsträger audiovisueller Botschaften. (3) Wohlstrukturiertes Werk fiktionalen oder nichtfiktionalen Charakters.

Lit: Johannes Anderegg: Fiktion und Kommunikation. Göttingen 1973. — Aleida Assmann: Die Legitimität der Fiktion. München 1980. - Monroe C. Beardsley: Aesthetics. New York 1958. L. B. Cebik: Fictional narrative and truth. Lanham, London 1984. - Gregory Currie: The nature of fiction. Cambridge 1990. - Harald Fricke: Semantics or pragmatics of fictionality? WortG: Das Wort ist englischer H e r k u n f t In: Rieser, S. 439-452. - Gottfried Gabriel: Fiktion und Wahrheit. Stuttgart-Bad Cannstatt (film, aus altengl. fylmen ,Häutchen') und 1975. — G. G.: Zwischen Logik und Literatur. mit spezifizierter Bedeutung im Bereich der Stuttgart 1991. - Gérard Genette: Fiktion und Photographie seit 1845, der KinematograDiktion. München 1972. - Nelson Goodman: phie seit 1905 belegt. Im Deutschen ist noch Sprachen der Kunst. Frankfurt 1973. - N. G.: bis zum 1. Weltkrieg der engl. Plural geläuWeisen der Welterzeugung. Frankfurt 1984. fig. Das Kompositum Filmstreifen begegnet Käte Hamburger: Die Logik der Dichtung. Stuttschon in einer Patentschrift von 1895. Im gart 21968. - Dieter Henrich, Wolfgang Iser Zeitschriftentitel ,Der Deutsche Film in (Hg.): Funktionen des Fiktiven. München 1983. — Roman Ingarden: Das literarische Kunstwerk. Wort und Bild' steht Film bereits für die Tübingen 31965. - Wolfgang Iser: Das Fiktive Technik, das Produkt und seine Zur-Schauund das Imaginäre. Frankfurt 1991. — Kaspar Stellung. In den Patentschriften der 1920er Kasics: Literatur und Fiktion. Heidelberg 1990. Jahre ist mehrfach von kinematographischen - Imma Klemm: Fiktionale Rede als Problem Filmen die Rede. Ein früher Beleg für Spielder sprachanalytischen Philosophie. Königstein film findet sich bei Häfker (42), für Schund1984. - Peter Lamarque, Stein H. Olsen: Truth, fiction, and literature. Oxford 1994. — Jürgen fllms im Titel der Kampfschrift von Hellwig. Landwehr: Text und Fiktion. München 1975. -

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BegrG: Der Begriff ,Film' konstituiert sich in einem Feld verwandter und zugeordneter Begriffe. Neben ,Augenblicksbild' und ,photographische Momentaufnahme' (auch ,Lichtbild') ist im Hinblick auf die sukzessive Abfolge auf dem Band vor allem der Begriff ,Serienaufnahme' bezeichnend, der schon im Zusammenhang mit frühen photographischen Versuchen (Murbridge, Marey, Anschütz) begegnet. 1896 wird der Film als .lebende Photographie' angepriesen (Der Komet, 20. 6. 1896). Der französische Ausdruck cinématographe (Name des von den Brüdern Lumière konstruierten Universalgeräts: Aufnahmekamera, Kopiergerät und Projektor in einem) sowie das davon abgeleitete cinéma wurden im Deutschen zu Kinema und Kino (anfangs noch der Kino, Berlinerisch: der Kientopp), so daß sich als Bezeichnung der Produkte neben Lichtspiel und dramatischer Film auch Kino-Drama einbürgerte. Die Bezeichnungen f ü r die verschiedenen Filmgenres lehnten sich zunächst noch an literarische Vorbilder an (ζ. B. Sittendrama, Sensationsdrama, Kriminal-Tragödie), ersetzten aber bald literarische Termini durch Film (Kolossalfilm, Filmspiel). Nach der Durchsetzung des Tonfilms konnten sich der wieder aktivierte Begriff ,Tonbild' (erstmals für Edisons Verbindung des Kinetoskops mit dem Phonographen, 1893) und die Bezeichnung Sprechfilm bzw. sprechender Film nicht durchsetzen. ,Tonfilm' wurde zum zentralen Begriff in einem sich herausbildenden Feld von Unterbegriffen (,Spielfilm', D o k u m e n t a r film', ,Kulturfilm' etc.). Fachwörter des Films. DEFA-Studio für Tonfilme. Dt.-frz.-engl.-russ. Berlin 1975. - Fritz Güttinger: Der Stummfilm im Zitat der Zeit. Frankfurt 1984, S. 2 3 - 2 7 . - Hermann Kügler: Kientopp und Knorke. In: Z f D 48 (1934), S. 738 f. - Paul Sparnberg: Zur Erklärung des Wortes Kientopp. In: Z f D 48 (1934), S. 737.

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SachG: Als ,Geburtsstunden des Films' werden die ersten öffentlichen Vorführungen am 1. 11. 1895 im Berliner Wintergarten (mit Max und Emil Skladanowskys ,Bioscop') und am 28. 12. 1895 im Pariser G r a n d Café am Boulevard des Capucines (mit Louis und Auguste Lumières C i n é m a tographe') angesehen. Nach der regelmäßigen Fabrikation von Projektionsapparaten hatte der Film noch zahlreiche Kinderkrankheiten zu überwinden; seit den Jahren 1906/07 war er als neues Medium nicht mehr wegzudenken. In der Folgezeit erhöhten drei Innovationsschübe seinen kommunikativen Wert: (1) Ton: Das Prinzip des Magnettonverfahrens wurde bereits 1888 von Oberlin Smith, der Lichtton 1897 von H. Th. Simon entdeckt. Den ersten brauchbaren Lichtton produzierten Vogt, Massolle und Engl ab 1921 (.Triergon'). In den USA konkurrierten Nadelton (,Vitaphone') und Lichtton (,Movietone') (vgl. Jossé). Die Filmindustrie sperrte sich jedoch lange gegen den Tonfilm, weil sie sich vor hohen Investitionen in neue Produktionsanlagen scheute, Kritiker befürchteten den Verlust an visuellen Werten. Der UFA-Beschluß vom April 1927, die Experimente mit dem .sprechenden Film' aufzugeben, erwies sich jedoch als Fehler. In Amerika präsentierte die Vitaphone Corporation ihr System im musikalischen ,background' zum Film ,Don Juan' (6. 8. 1926), am 6. 10. 1927 wurde der ursprünglich stumm konzipierte Film ,Sunny Boy (The Jazz Singer)' als ,part talkie' uraufgeführt. In Deutschland gehören die Uraufführungen des ersten abendfüllenden Tonfilms (Walter Ruttmanns ,Melodie der Welt', 12. 3. 1929) und des ersten durchgängigen Tonspielfilms (Rudolf Walther-Feins ,Dich habe ich geliebt', 30. 11. 1929) zu den denkwürdigen Ereignissen der Filmgeschichte. (2) Farbe: Versuche, einzelnen Elementen des Films durch stimmungsvolle Farbtöne eine dramaturgische Funktion zu geben, setzten früh ein. Neben der Kolorierung (tinting) wurde die Viragierung (toning) praktiziert; beide Verfahren ergaben / a r bige Films', die von den ,Farbenfilmen' (natural colors films) zu unterscheiden sind,

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Film

in denen die Schwarz-Weiß-Bilder zerlegt und dann entweder durch Filterprojektion (additiv) oder durch Anfarbung der Teilbilder und Aufeinanderpassen bzw. Mehrfarbendruck (subtraktiv) vereinigt werden. In den USA hatte sich Technicolor in den 30er Jahren patentrechtlich durchgesetzt und wurde in den 50er Jahren von Eastmancolor verdrängt. In Deutschland waren die beiden ersten abendfüllenden Spielfilme, Georg Jacobys ,Frauen sind doch bessere Diplomaten' (1941) und Veit Harlans ,Die goldene Stadt' (1942), Agfacolor-Filme. (3) Raumerlebnis: Als die Filmvorführung nicht mehr in den Händen des ambulanten Gewerbes lag und die Zahl der ständigen Kinos sprunghaft stieg, wurde der Kinoraum zum Erlebnisraum. Vielfaltig sind seitdem die Versuche, dem Zuschauer auch durch die Filmtechnik neue Raumerlebnisse zu vermitteln (Vitarama, Cinerama, Cinemascope, Vistavision, Todd-AO, IMAX). Im Spannungsfeld von Literatur und Film traten drei Aspekte in den Vordergrund: (1) Text-Bild-Beziehungen: Man kann Bildgeschichten und Bilderbogen als Vorläufer des Films ansehen: Bild und Text waren in einer Sukzession von Ereignissen aufeinander bezogen. Im Teilbereich der visuellen Sukzession von Ereignissen und ihrer narrativen Vermittlung führte der Weg von der Bild-Text-Verknüpfung der Bildgeschichte zum Film. Von Bänkelsang und Moritat waren mündliche Erläuterungen von Bilderfolgen bekannt. Anfangs übernommen, wurden sie 1906/1907 durch Zwischentitel abgelöst. Auch nach der Einführung des Tonfilms gilt die Regel: „Bei Einbettung des Bildes in den Text oder bei Gleichrangigkeit von Bild und Text dominiert die Textsemantik über die Bildsemantik und übernimmt eine bedeutungsstrukturierende Funktion" (Titzmann, 382). (2) Kunstanspruch: Als Phänomen der Großstadt- und Massenkultur erschütterte der Film die Monopolstellung von Literatur und Theater. Für die proletarischen und kleinbürgerlichen Schichten wurde das Kino zum ,Fluchtraum', indem die Spielfilme dem Wunsch nach Stoffen, Motiven und Projektionsfiguren entgegenkamen, die

bereits aus der Trivialliteratur bekannt waren. Neben den Kämpfern gegen ,Schund und Schmutz' und den seit 1907 aktiven ,Kinoreformern' opponierten der Verband der Bühnenschriftsteller (März 1912) und der Verband der Berliner Theaterleiter (Mai 1912) gegen den Film, mußten aber die ausgesprochenen Verbote zurücknehmen, nachdem namhafte Dichter (z. B. G. Hauptmann, H. von Hofmannsthal) und Schauspieler (ζ. Β. A. Bassermann, P. Wegener) sich auf das Filmgeschäft eingelassen hatten. Filme wie ,Der Andere' (1913) und ,Der Student von Prag' (1913) erfüllten den geforderten Kunstanspruch, doch unterwarf die zunehmende Kommerzialisierung auch Filme mit höherem Anspruch dem Diktat der Unterhaltungsindustrie. (3) Filmische Codes: Da der Film in vielen Lebens- und Arbeitsbereichen als Überlieferungsträger genutzt wird, gilt das Interesse vor allem seinen Inhalten, verschiedenen syntagmatisch gegliederten Codes. Aber nur die Codes der Kamerahandlungen und der Montage sind spezifisch filmische Codes. Solange die Kamera nur stationär operierte, erinnerte das Szenenbild an Bühnenbilder. Mit zunehmender Kamerabeweglichkeit (Schwenk, Fahrt, Zoom) konnten die aufgenommenen Objekte besser zur Geltung und die dramaturgischen Absichten stärker zum Ausdruck gebracht werden; die Entwicklung verschiedener Kameratypen (Hand- und Atelierkameras, Kameras für Zeitlupe, Zeitraffer und Trickaufnahmen) erlaubte gegenüber der .Handlung vor der Kamera' differenzierte .Kamerahandlungen' und Gestaltungen des point-ofview. Parallel dazu verlief die Verbesserung der Schnitt- und Montagetechnik sowie die Propagierung einer mit dem Prinzip der Mise en scène konkurrierenden MontageÄsthetik (Pudowkin, Èjzenstein). In jedem Film steuert die Verweildauer von Bildern/ Einstellungen meditative Effekte und Reizattacken und damit die Wahrnehmung von Botschaften', deren Rhetorik erkannt, aber auch durchschaut werden muß. Alfred Bauer: Deutscher Spielfilm-Almanach. 2 Bde. München 21976, 1981. - Günther Dahlke, Günter Karl (Hg.): Deutsche Spielfilme von den Anfängen bis 1933. Berlin 21993. - Werner Faul-

Film stich, Helmut Körte (Hg.): Fischer Filmgeschichte. 5 Bde. Frankfurt 1990 ff. - Gero Gandert (Hg.): Der Film der Weimarer Republik. Ein Hb. der zeitgenössischen Kritik. 15 Bde. Berlin 1993 ff. - Ulrich Gregor, Enno Patalas: Geschichte des Films. Gütersloh 1960 u. ö. — U. G.: Geschichte des Films ab 1960. München 1978. Wolfgang Jacobsen u. a. (Hg.): Geschichte des deutschen Films. Stuttgart 1993. - Gerhard Lamprecht: Deutsche Stummfilme 1903-1931. 9 Bde. Berlin 1969 f. - Hans G. Pflaum: Film in der Bundesrepublik Deutschland. München 1992. - Georges Sadoul: Histoire générale du cinéma. 6 Bde. Paris 1948-1954 (dt. Wien 1957, Frankfurt 1982). - Jerzy Toeplitz: Geschichte des Films. 5 Bde. Berlin 1972-1991. ForschG: Seit H e r b s t 1909 e n t w i c k e l t e sich in D e u t s c h l a n d eine r e g e l m ä ß i g e F i l m k r i t i k . D e r n a c h d e m 1. W e l t k r i e g a n s c h w e l l e n d e S t r o m filmpublizistischer A r b e i t e n ließ d e m breiten P u b l i k u m nicht bewußt werden, d a ß zu gleicher Zeit die F i l m w i s s e n s c h a f t in verschiedenen Fachgebieten F u ß faßte. Mit Standardwerken der Filmpublizistik haben v o r allem Béla Balász, Siegfried K r a c a u e r u n d L o t t e Eisner die n e u e r e Filmgeschichtsschreibung nachhaltig beeinflußt. Aber von einer F i l m f o r s c h u n g i m e n g e r e n Sinne k a n n erst die R e d e sein, n a c h d e m in d e n verschiedenen Filmarchiven systematisch Quellen z u s a m m e n g e t r a g e n u n d gesichert w u r d e n ( F é d é r a t i o n I n t e r n a t i o n a l e des Archives d u F i l m [ F I A F ] 1938; D e u t s c h e s Archiv f ü r F i l m k u n d e M a r b u r g 1947, seit 1949 D e u t sches I n s t i t u t f ü r F i l m k u n d e , W i e s b a d e n , seit 1984 m i t H a u p t s t e l l e in F r a n k f u r t a m M a i n ; D e u t s c h e K i n e m a t h e k , Berlin 1963, seit 1971 R e c h t s s t a t u s einer S t i f t u n g ) . M i t G e r d A l b r e c h t s A u f s a t z v o n 1964 setzte eine intensive B e s c h ä f t i g u n g m i t P r o b l e m e n d e r F i l m a n a l y s e ein; b e s o n d e r e s Interesse f a n d e n die L i t e r a t u r v e r f i l m u n g e n (S Verfilmung). Lit: Gerd Albrecht: Die Filmanalyse - Ziele und Methoden. In: Filmanalyse. Hg. v. F. Everschor. Bd. 2. Düsseldorf 1964, S. 233-270. - Gerd Albrecht: Nationalsozialistische Filmpolitik. Stuttgart 1969. — Emilie Altenloh: Zur Soziologie des Kino [1914], Repr. Hamburg 1977. - Rudolf Arnheim: Film als Kunst [1932]. München 1974 u. Frankfurt 1979. - Hans Beller (Hg.): Hb. der Filmmontage. München 1993. - Béla Balázs: Der sichtbare Mensch oder die Kultur des Films.

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Fin de siècle

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Klaus Kanzog

Fin de siècle Gesamteuropäische Epoche des Übergangs vom 19. zum 20. Jh., durch ein Zugleich von Endzeit- und Modernitätsbewußtsein gekennzeichnet. Expl: Entgegen der Wortbedeutung nicht auf die Endphase des 19. Jhs. festzulegender Begriff, sondern synonym mit ,Zeit um 1900' oder ,Zeit der Jahrhundertwende' zu verwenden. Bezeichnung für eine Übergangsphase, die mit der Abkehr vom Naturalismus um 1890 (in Frankreich bereits um 1880) beginnt und erst um 1910 mit dem Aufkommen des s Expressionismus endet. Als übergeordneter Epochenbegriff eine Vielzahl unterschiedlicher Phänomene und Tendenzen umfassend (Décadence und Jugendstil; Ásthetizismus; s Impressionismus; Symbolismus; Neuromantik·, ,Wiener', ζ. T. auch ,Berliner' und M ü n c h ner' Moderne), denen allen die Absage an den ? Naturalismus gemeinsam ist. Fin de siècle kann daher auch als ,gegennaturalistische Moderne um 1900' bestimmt werden; mit dem Bewußtsein der Auflösung eines ganzen Zeitalters verbindet sich das Bewußtsein des Neubeginns.

[Terminologisches Feld:] DÉCADENCE: Kernbegriff für das Krisenbewußtsein des Fin de siècle, für dessen Bestimmung von so zentraler Bedeutung, daß die Literatur des Fin de siècle auch als , Dekadenzliteratur' bezeichnet werden kann. Gegenüber dem Epochenbegriff ,Fin de siècle' der engere, inhaltlich genauer bestimmte Begriff, der (nach Koppen 46, 63—66) weniger auf Sprache und Form der literarischen Texte (Jugendstil, auch ? Symbolismus) als auf die in ihnen thematisierte Lebenshaltung bezogen werden sollte. JUGENDSTIL: Stilrichtung des Fin de siècle (der Name nach der Zeitschrift Jugend') von internationaler Geltung (frz. Art Nouveauengl. Modern Style, ndl. Stijl, österr. Secession), die die gegenständliche Wirklichkeit in radikaler Abkehr von naturalistischer Nachahmung einer ästhetisierenden Stilisierung unterwirft. Die in Werken der bildenden Kunst des Jugendstils zu beobachtende Tendenz zur ,Ornamentalisierung' wird umgesetzt in entsprechende literarische Verfahren. Als künstlerische Ausdrucksform des Dekadenzbewußtseins ist der Jugendstil in die Epoche des Fin de siècle eingebunden, sollte daher nicht selbst als Epochenbegriff verstanden werden. JUNGES

WIEN:

Bezeichnung

für

eine

Gruppe österreichischer Schriftsteller, die bei der Durchsetzung der gegennaturalistischen Moderne im deutschsprachigen Bereich die Führung übernehmen und damit Wien zum eigentlichen Zentrum der dt. Literatur des Fin de siècle machen. WortG: Zuerst 1886 (in Zolas Roman , L'Œuvre' und im 1. Jahrgang der Zeitschrift ,Le Décadent') belegt, wird Fin de siècle in kürzester Zeit zu einem modischen Schlagwort. Bereits 1894 kann H. Bahr die Verbreitung des Worts durch ganz Europa konstatieren (dt. zuerst 1890 im Umkreis des Jungen Wien durch ihn selbst und H. v. Hofmannsthal aufgegriffen; 1891 von F. Mauthner für Berlin als Übernahme aus Paris bezeugt; in England zuerst 1890 in O. Wildes ,Das Bildnis des Dorian Gray'). Der Erfolg des Schlagworts Fin de siècle setzt den Erfolg des Schlagworts Décadence

Fin de siècle Anfang der 1880er Jahre und dessen längere Vorgeschichte voraus. 1734 von Montesquieu als Bezeichnung für den Verfall des römischen Weltreichs verwendet, wird Décadence (von lat. decadere ,herabfallen') auf die Literatur erstmals 1834 von D. Nisard bezogen, der damit — orientiert am Maßstab der ,klassischen' Literatur — die spätlateinische, zugleich auch die zeitgenössische romantische Literatur in Frankreich abwertet. Eine positive Umdeutung des Worts wird 1857 durch Ch. Baudelaire eingeleitet, indem er gegen die ,esthétique classique' eine littérature de décadence' geradezu propagiert. Dies ist die Voraussetzung dafür, daß mit Beginn der 80er Jahre Schriftsteller in Paris sich selbst in provozierender Absicht als décadents bezeichnen. Detailbelege in: Bauer, 1 4 9 - 1 5 3 . - Fischer, 7 8 - 9 3 . - Koppen, 7 - 4 6 , 2 4 8 - 2 5 6 . - Ruprecht/ Bänsch, 2 9 8 - 3 0 0 (Mauthner).

BegrG: Von Beginn an verbindet sich beim Begriff ,Fin de siècle' (unter Einwirkung des Begriffs ,Décadence') die allgemeine Vorstellung vom Niedergang des ganzen Zeitalters (politisch, gesellschaftlich, kulturell, moralisch) mit der besonderen Vorstellung von physischer Schwäche, Nervenzerrüttung und Hysterie. Mit seiner Erläuterung des Begriffs ,Décadence' durch den Begriff ,Dilettantisme' akzentuiert P. Bourget (.Essais de psychologie contemporaine', 1883, 1885) die Gefahrdung des Décadent durch eine ,multiplicité du moi'. Offensiv als Parole verwendet, sind Fin de siècle wie Décadence als gegen den optimistischen Glauben an einen ständigen zivilisatorischen Fortschritt gerichtet zu verstehen. Eng verknüpft bleiben beide Begriffe auch in den essayistischen Zeitdiagnosen des Jungen Wien (H. Bahr: ,Die Moderne', 1890; ,Décadence', 1891; M. Herzfeld: ,Fin de siècle', 1892; Η. ν. Hofmannsthal: G a briele d'Annunzio', 1893). Diese geben ein gemeinsames Grundmuster von Bestimmungsmerkmalen zu erkennen: gesteigerte Sensitivität und Reflexivität des Ich, Nervosität, Willensschwäche, drohender Identitätsverlust durch Vervielfältigung des Ich (vgl. Bourget) — aus dieser Selbsterfahrung resultierend: Bevorzugung des Künstlichen

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gegenüber dem Natürlichen, Schönheitskult, Flucht in die phantastische Welt des Traums, Sucht nach dem .Mystischen' (d. h. Okkulten; /* Neuromantik). Die Verwendung von Modernelmodern für diesen Komplex zeittypischer Dispositionen zeigt: Das melancholische Fin de siècle-BewuBtsein der „Spätgeborenen" (Hofmannsthal) ist zugleich ein Avantgarde-Bewußtsein. Im Wilhelminischen Deutschland ist die Übernahme des (inhaltlich unverändert bleibenden) Begriffs ,Fin de siècle' von Anfang an gleichbedeutend mit einer kritischen Distanzierung (F. Mauthner 1891, s. o.; F. v. Ostini in Jg. 1898 der ,Jugend': „Anti-Fin de siècle"). In der Forciertheit solcher Absagen verrät sich allerdings eher eine verleugnete eigene Zugehörigkeit zum Fin de siècle. Die Ambivalenz dieser Haltung stellt Nietzsche bei seiner Erörterung des Begriffs .Décadence' - den auch er von Bourget übernimmt und für den er in Deutschland zum entscheidenden Vermittler wird — bewußt heraus (,Der Fall Wagner', 1888). Der Wille, die Décadence, die er im Einklang mit der frz. Tradition als „physiologische Degenereszenz", als „Hysterismus" begreift, durch ein ins Rauschhafte gesteigertes „Leben" zu überwinden, geht einher mit dem Wissen, daß die Moderne, der er selbst angehört, unaufhebbar durch die Erfahrung der Décadence geprägt ist. Dabei ist Décadence eng verbunden mit Schauspielertum (d. i. Auflösung des „Charakters" in Rollen, extremes Wirkungsbedürfnis). Wunberg 1981, 2 2 5 - 2 3 2 ; 2 3 4 - 2 3 8 (Bahr); 2 6 0 - 2 6 5 (Herzfeld); 3 4 0 - 3 4 3 (Hofmannsthal). — Friedrich Nietzsche: Werke. Kritische Gesamtausgabe. Hg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Berlin, New York 1967ÍT, Bd. VI/3, S. 1 - 4 7 , 2 6 2 - 2 6 5 ; Bd. V/2, S. 290 f. - Koppen, 46-68.

SachG: Die entscheidenden Impulse gehen auch hier von Frankreich aus. Der Décadent und Asthetizist Des Esseintes in J.-K. Huysmans' Roman ,A Rebours' (1884) wird zu der Leitfigur des europäischen Fin de siècle. In Orientierung an diesem Prototyp sind die Hauptfiguren in G. d'Annunzios ,11 Piacere' (1886) und O. Wildes ,The Picture of Dorian Gray'(1891) konzipiert,

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Fin de siècle

die überdies den Typus des ,Dandy' vertreten. Gesamteuropäische Zusammenhänge werden durch weitere Leitfiguren hergestellt: die Hauptfigur in Wildes Drama S a lomé' (frz. 1891, engl. 1894), die den Typus der ,femme fatale' repräsentiert (der ein Pendant in dem, zuerst von den Präraffaeliten gestalteten, Typus der ,femme fragile' hat); Niels Lyhne als früher Décadent in J. P. Jacobsens gleichnamigem Roman (1880; beispielhaft für den großen Einfluß der skandinavischen Literatur: H. Bang, A. Garborg u. a.). Im Bereich der deutschsprachigen Literatur werden die Anregungen des europäischen Fin de siècle zuerst durch Autoren des J u n g e n Wien' in eigene, die Problematik der ästhetizistischen Einstellung und die Krise der Ich-Identität thematisierende, Werke umgesetzt (z. B. Hofmannsthals ,Der Tor und der Tod', 1893; Schnitzlers ,Anatol', 1893; Beer-Hofmanns ,Der Tod Georgs', 1900). Im Vergleich zur ,Spätzeitmelancholie' der Donaumonarchie artikuliert sich das Unbehagen im Wilhelminischen Deutschland deutlich aggressiver — von der Selbstausgrenzung aus der bürgerlichen Gesellschaft bei den Vertretern der λ Boheme (P. Hille, P. Scheerbart u. a.; in Wien ist der Bohemien P. Altenberg eher eine Ausnahme) bis hin zu Extrempositionen wie terroristischem Anarchismus (S. Przybyszewski: ,Satans Kinder', 1897) oder blasphemischem Satanismus (O. Panizza: ,Das Liebeskonzil', 1894). Antibürgerlich ist auch der radikale Asthetizismus Georges (,Algabal', 1892), der in Orientierung an Baudelaire und Mallarmé die ästhetische Opposition der frz. Décadence gegen die bürgerliche Zivilisationsgesellschaft nach Deutschland überträgt. Nur scheinbar im Widerspruch zum Bewußtsein der Décadence steht der in der Literatur des Fin de siècle anzutreffende Lebenskult (oft zugleich Renaissancekult), in Deutschland wesentlich durch die Nietzsche-Rezeption bestimmt. Die Spannung zwischen dekadenter Lebensmüdigkeit und emphatischer Lebensbejahung, schon für die Romane von J. P. Jacobsen und H. Bang kennzeichnend, ist konstitutiv für

Werke des deutschen Fin de siècle von Hofmannsthal, Rilke, Keyserling, Heinrich Mann („hysterische Renaissance", in: ,Die Göttinnen', 1903; vgl. ,Pippo Spano', 1903/ 05) und Thomas Mann (der jedoch das Lebenspathos durch Ironie dämpft; vgl. ,Tonio Kröger', 1903). Paradigmatische Bedeutung für das Fin de siècle erlangt auch Nietzsches Verknüpfung von Décadence und Schauspielertum — von Th. Mann (am Beispiel des Gustav Aschenbach in ,Der Tod in Venedig', 1912) als ein Zugleich von „Morbidität" und „Willensspannung" bestimmt (Mann 8, 454). Bei dem für die Epoche kennzeichnenden Stilpluralismus kommt dem Jugendstil eine dominierende Bedeutung zu. In bewußter Abkehr von der Tradition der f Erlebnislyrik wird in Gedichten Erlebtes zu bloßem Material, das zu statischen, auf dekorative Wirkungen abzielenden Bildern arrangiert wird. Erzähltexte (Hofmannthals ,Das Märchen der 672. Nacht', 1895; Beer-Hofmanns ,Der Tod Georgs') bieten keinen Handlungszusammenhang, sondern ein Bildgeschehen, das zugleich ein seelisches Geschehen ist. Leitmotivische Wiederholungen und kontrapunktische Entsprechungen geben ihnen eine ornamentale Struktur. Handlungsarmut und Konzentration auf Seelisches führen beim Drama zur Lyrisierung (die lyrischen Dramen M. Maeterlincks und des frühen Hofmannsthal; dessen ,Elektra'; O. Wildes ,Salomé'). Die Figuren sind entindividualisiert, statt naturalistischer Wirklichkeitsillusion werden durch Aufführungsstil und Gestaltung der Bühne suggestive Bildwirkungen angestrebt. Die Werke des literarischen Jugendstils stellen so hochartifizielle Gegenwelten zur durch das Dekadenzbewußtsein pessimistisch abgewerteten Realität dar und erstreben damit geradezu eine Erlösungsfunktion. Thomas Mann: Gesammelte Werke. Frankfurt 2

1974.

ForschG: Die frühe, extrem polemische Auseinandersetzung von M. Nordau (1892/ 93) mit der (frz. und engl.) Dekadenzliteratur des Fin de siècle liefert Stichworte (,Entartung') und Argumente, die in der durch-

Florilegium weg negativen, einseitig an Maßstäben der Weimarer Klassik orientierten Bewertung der Dekadenzliteratur durch die germanistische Literaturgeschichtsschreibung und Forschung im 1. Drittel des 20. Jhs. (ζ. B. A. Bartels; K. J. Obenauer) wiederkehren und schließlich Bestandteil der aggressiven, auf Auslöschung abzielenden Dekadenzkritik der nationalsozialistischen Ideologen werden. Durchweg negativ (als spezifisch bürgerlich') eingeschätzt wird die Dekadenzliteratur auch durch marxistisch orientierte Literaturwissenschaftler (Lukács u. a.). Ein Anstoß für eine Überwindung der germanistischen Abwehrhaltung gegenüber der Décadence erfolgt durch die bereits 1930 erschienene, aber erst 1963 in deutscher Übersetzung vorliegende Untersuchung der .schwarzen Romantik' von M. Praz. In seiner 1978 vorgelegten zusammenfassenden Darstellung der Epoche plädiert J. M. Fischer (in kritischer Auseinandersetzung mit W. Rasch) für eine scharfe Trennung von Endzeitstimmung und Aufbruchswillen und grenzt dementsprechend das Fin de siècle auf die Zeit 1890—1900 ein (Fischer, 89 f.). Nicht zuletzt um von der Fixierung auf das Jahr 1900 loszukommen, wird in der Forschung seit den 1980er Jahren dem Begriff ,Décadence' deutlich der Vorzug vor der Epochenbezeichnung Fin de siècle gegeben, ohne daß dieser Begriff selbst jedoch als Epochenbegriff verwendet würde (Kafitz, Sorensen, Bauer; Rasch; ,Ästhetizismus', ,Décadence', Jugendstil', in: Borchmeyer/Zmegac). Lit: Wolfgang Asholt, Walter Fähnders (Hg.): Fin de siècle. Stuttgart 1993. - Adolf Bartels: Hb. zur Geschichte der deutschen Literatur. Leipzig 2 1909. — Roger Bauer u. a. (Hg.): Fin de siècle. Frankfurt 1977. — R. B.: Altes und Neues über die Décadence. In: Literaturwissenschaftliches Jb. 32 (1991), S. 149-173. - Dieter Borchmeyer, Viktor Zmegac (Hg.): Moderne Literatur in Grundbegriffen. Frankfurt 1987. - Jens Malte Fischer: Fin de siècle. München 1978. - Carola Hilmes: Die Femme fatale. Stuttgart 1990. Hans Hinterhäuser: Fin de Siècle. München 1977. - Dieter Kafitz (Hg.): Dekadenz in Deutschland. Frankfurt 1987. - Erwin Koppen: Dekadenter Wagnerismus. Berlin, New York 1973. — Helmut Kreuzer, Hans Hinterhäuser (Hg.): Jahrhundertende — Jahrhundertwende.

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Wiesbaden 1976. - Jacques Le Rider: Das Ende der Illusion. Wien 1990. — Max Nordau: Entartung. 2 Bde. Berlin 1892, 1893. - Karl Justus Obenauer: Die Problematik des ästhetischen Menschen in der deutschen Literatur. München 1933. - Mario Praz: Liebe, Tod und Teufel. Die schwarze Romantik. München 1963. - Wolfdietrich Rasch: Die literarische Décadence um 1900. München 1986. - Walther Rehm: Der Renaissancekult um 1900 und seine Überwindung. In: ZfdPh 54 (1929), S. 296-328. - Erich Ruprecht, Dieter Bänsch (Hg.): Literarische Manifeste der Jahrhundertwende 1890-1910. Stuttgart 1970. Carl E. Schorske: Wien. Geist und Gesellschaft im Fin de siècle. Frankfurt 2 1982. - Bengt Algot Sorensen: Der „Dilettantismus" des Fin de siècle und der junge Heinrich Mann. In: Orbis Litterarum 24 (1969), S. 251-270. - B. A. S.: Dekadenz und Jacobsen-Rezeption in der deutschen Literatur der Jahrhundertwende. In: Horizonte. Hg. v. Hannelore Mündt u. a. Tübingen 1990. — Joachim W. Storck: ,Jugendstil' - ein literaturgeschichtlicher Epochenbegriff? In: Im Dialog mit der Moderne. Fs. Jacob Steiner. Hg. v. Roland Jost und Hansgeorg Schmidt-Bergmann. Frankfurt 1986, S. 106-130. - Ariane Thomalla: Die ,femme fragile'. Düsseldorf 1972. - Gotthart Wunberg (Hg.): Die Wiener Moderne. Stuttgart 1981. - G. W.: Historismus, Lexemautonomie und Fin de siècle. In: Arcadia 30 (1995), S. 3 2 - 6 1 . - Viktor Zmegac (Hg.): Deutsche Literatur der Jahrhundertwende. Königstein 1981.

Jürgen Viering

Flores rhetorici

Rhetorische Figur S Tropus2

Florilegium Sammlung einzelner, ursprünglich nicht zusammengehöriger Textstücke aus den Werken eines oder mehrerer Autoren. Expl: Florilegium bezeichnet den vor allem im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit verbreiteten Typus der Exzerptsammlung, mit der nach ganz unterschiedlichen Auswahl- und Anordnungsprinzipien ein Themenbereich, eine Disziplin, ein Werk oder ein Werkkomplex erschlossen wird. Florilegien sind Instrumente der Wissensorganisation; sie richten sich auf die Bereitstellung

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Florilegium

signifikanter Textstellen zum Zwecke des Überblicks oder der Wiederverwendung. Von der Anthologie, deren antike Tradition sie fortsetzen und in deren neuzeitliche Form sie münden, sind sie im Kern durch deren Konzentration auf die Präsentation in sich geschlossener (kurzer) Einzeltexte unterschieden. WortG: Der Terminus ist im Mittelalter unbekannt. Er kommt erst im 16. Jh. als lat. Lehnübersetzung des griech. Anthologia .Blütenlese' auf (ζ. Β. ,Florilegium ex diversis opusculis', Mainz: J. Schöffer 1520, vgl. Short-Title Catalogue, 309) und ist von da an in undeutlicher Abgrenzung zu Anthologie oder auch zur deutschen Lehnübersetzung Blütenlese im Gebrauch. Als literaturwissenschaftlicher Terminus bürgert sich Florilegium im Laufe des 19. Jhs. ein, meist über die fachwissenschaftliche Titelgebung für einzelne Werke (,Florilegium Angelicum', ,Florilegium Gallicum' u. ä.).

Zuge der erneuten Profilierung des Anthologie· Begriffs im Laufe des 18. Jhs. und der ersten philologischen Bemühungen im 19. Jh. eine genauere Bestimmung des Florilegiums herausbildet. Raymond Klibansky, Frank Regen: Die Handschriften der philosophischen Werke des Apuleius. Göttingen 1993.

SachG: Die Florilegien-Literatur hat ihre Vorläufer in den Anthologien der Antike. Die Ausrichtung des christlichen Mittelalters auf beglaubigte und beglaubigende Autoritäten läßt diesen gegenüber aber von Anfang an den Muster- und Wiederverwendungsaspekt stärker hervortreten. Er prägt bereits die frühen vorkarolingischen Sammlungen (Eugippius, ,Excerpta ex operibus Sancti Augustini', 6. Jh.; Defensor von Ligugé, ,Liber scintillarum', 7. Jh.). Neben theologischen Autoritäten werden vor allem antike Autoren über Florilegien erschlossen und verbreitet (z. B. in den später so geShort-title catalogue of books printed in the Gernannten .Florilegium Frisingense', 11. Jh. man-speaking countries and German books [vgl. Babcock]; ,Florilegium Gallicum', printed in other countries from 1455-1600 now 12. Jh. [vgl. Burton]; .Florilegium Angeliin the British Museum. London 1962. cum', 12. Jh., weiter verarbeitet in dem Wilhelm von Conches zugeschriebenen ,MoraBegrG: Florilegien heißen im Mittelalter lium dogma philosophorum', 12. Jh.; dies sententiae, dicta, auctoritates, flores, exwiederum Grundlage der in deutscher Spracerpta (vgl. ζ. Β. die handschriftlichen Beche verfaßten sog. Tugendlehre des Werner zeichnungen für das , Florilegium Angelivon Elmendorf, ca. 1170). Beide Bereiche cum' bei Klibansky/Regen, 127 — 137); das verbinden sich in dem weit verbreiteten zeigt an, daß der Aspekt der Sammlungsko,Manipulus florum' des Thomas de Hiberhärenz keine Rolle spielt. Unter dem Begriff nia (Ende 13. Jh.), in dem Zitate aus antider .Flores' (und adjektivischer Ableitunken Autoren jeweils solchen aus der patrigen: ,Liber floridus' des Lambert von St. stischen Literatur folgen. Im späten MittelOmer [um 1100]) entwickelt sich daneben alter entstehen zum einen florilegienartige auch ein Typus wohlkomponierter ÜberGroßwerke (,Opus tripartitum moralium' sichtswerke (ζ. B. Ludolf de Luco [um des Konrad von Halberstadt, 14. Jh.), zahl1300],,Flores grammaticae'; .Flores temporeiche handbuchartige Exzerptsammlungen rum' [um 1300]; auch italienisch:,Fioretti di für Prediger (Rouse/Rouse 1979) und eine S. Francesco' [13. Jh.]; Tomaso Leoni [um Fülle noch kaum erschlossener ad-hoc1320], .Fiori di virtù; deutsch von Hans Sammlungen, vor allem für den Gebrauch Vintler,,Blumen der Tugend'). Werke dieser in der Schule, aber auch thematisch oder Art, die in der Titelgebung gelegentlich gattungshaft ausgerichtete Florilegien von auch analoge Begriffe wählen (,Pharetra offener funktionaler Bestimmung, wie z. B. [= ,Köcher'] doctorum et philosophorum', die Sprichwortsammlungen (.Florilegium gedruckt 1472; Albrecht von Eyb, g a r g a Treverense', .Florilegium von St. Omer', rita [= ,Perle'] poetica', 1459), münden wie , Florilegium Gottingense') oder auch histodie eigentlichen Florilegien im 17. Jh. in das rische Abrisse in Florilegien-Form (,Flores breite Sammelbecken undeutlich geschiedetemporum'); auch die Vermischung personner Überblicks werke, aus dem sich erst im

Flugblatt licher Notizen mit der Exzerptsammlung tritt zum Ende des Mittelalters auf (,Rapularius' des Heinrich Toke, 1454). Über die Tradierung dieser Werke ins 16. und 17. Jh. und ihr Verhältnis zu den planvoll angelegten reformatorischen und humanistischen Werken (ζ. B. dem ,Florilegium patristicum' Martin Bucers oder den , Adagia' des Erasmus von Rotterdam; /* Apophthegma) sind wir bisher nur in Ausnahmefallen unterrichtet (z. B. Weiterverbreitung des zwischen 1250 und 1366 entstandenen ,Polethicon' [zum Titel Henkel, 44 f.] in mehreren Druckauflagen des 15. und 16. Jhs. als .Flores poetarum'). Der Typus ist jedenfalls auch im 17. Jh. noch belegt (z. B. ,Florilegium magnum seu Polyantheae floribus novissimis sparsae opus [...]', Frankfurt 1628 [Graesse 2, 602]). Johann Georg Theodor Graesse: Trésor de livres rares et précieux. Dresden, Genf 1859—1869. — Nikolaus Henkel: Anmerkungen zum ,Polethicon' und seiner Überlieferung. In: MittellatJb 30 (1995), S. 3 9 - 4 6 . - Polythecon [!]. Hg. v. Arpád Peter Orbán. Turnhout 1990.

ForschG: Die Forschung war bisher vor allem um die überlieferungsgeschichtliche und editorische Erschließung der Sammlungen und um ihre philologische Aufschlüsselung (Identifizierung der Textstücke) bemüht. Forschungen zur Geschichte des Typus und seine traditionsgeschichtliche Bewertung stehen aus (Ausnahme: Rouse). Zureichende Grundlagen fehlen noch für die Florilegien-Literatur des 16. und 17. Jhs und ihr Verhältnis zu anderen Sammlungstypen. Lit: Robert Gary Babcock: Heriger of Lobbes and the Freising Florilegium. A study of the influence of classical Latin poetry in the Middle Ages. Frankfurt u. a. 1984. - Rosemary Burton: Classical authors in the ,Florilegium Gallicum'. Frankfurt u. a. 1983. — Philippe Delhaye: Florilèges médiévaux d'éthique. In: Dictionnaire de Spiritualité. Bd. 5. Paris 1964, Sp. 4 6 0 - 4 7 5 . Jacqueline Hamesse: Les Florilèges philosophiques du XIII e au XV e siècle. In: Les genres littéraires dans les sources théologiques et philosophiques médiévales. Louvain-la-Neuve 1982, S. 181 — 192. — Birger Münk Olsen: Les classiques latins dans les Florilèges médiévaux antérieurs au XIII e siècle. In: Revue d'Histoire des Textes 9 (1979), S. 4 7 - 1 2 1 . - B. M. O.: L'étude des au-

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teurs classiques latins aux XI e et XII e siècles. Bd. 2. Paris 1985, S. 8 3 7 - 8 7 7 (Florilèges). - Erwin Rauner u. a.: Florilegien. In: LexMA 4, Sp. 5 6 6 - 5 7 2 . - Henry M. Rocháis: Florilèges spirituels latins. In: Dictionnaire de Spiritualité. Bd. 5. Paris 1964, Sp. 4 3 5 - 4 6 0 . Richard H. Rouse: Florilegia and Latin classical authors in twelfth- and fifteenth-century Orleans. In: Viator 10 (1979), S. 1 3 1 - 1 6 0 . - R. H. R, Mary A. Rouse: ,The Florilegium Angelicum'. Its origin, content, and influence. In: Medieval learning and literature. Fs. R. W. Hunt. Oxford 1976, S. 6 6 - 1 1 4 . - R. H. R., M. A. R.: Preachers, florilegia and sermons. Studies on the ,Manipulus florum' of Thomas of Ireland. Toronto 1979. R. H. R, M. A. R.: Florilegia of patristic texts. In: Les genres littéraires (s. Hamesse), S. 1 6 5 - 1 8 0 .

Klaus Grubmüller

Flugblatt Publizistisches Medium. Expl: Ein in der frühen Neuzeit einseitig, später dann auch beidseitig bedrucktes größeres Blatt, das zu einem geringen Preis oder kostenlos vertrieben wurde; heute in der Regel durch Photokopie vervielfältigte Zettel, die zum Zweck kommerzieller Werbung oder politischer Propaganda verteilt werden. Die Subkategorie des BILDERBOGENS ist durch die Beigabe einer oft mehrfeldrigen Illustration spezifiziert und wird besonders auf die mit Lithographien versehenen Blätter des 19. Jhs. bezogen. Kalender, Landkarten, Handwerkerbriefe oder Mandate unterscheiden sich durch ihre unmittelbare Pragmatizität, doch gibt es zahlreiche Berührungspunkte, z. T. auch Uberschneidungen mit dem Flugblatt. Die periodische Erscheinungsweise bzw. die Mehrblättrigkeit bilden die wesentlichen Differenzen der Nachbarmedien Zeitung und Flugschrift. WortG: Die Komposita Flugblatt und Flugschrift werden als Lehnübersetzung (frz. feuille volante) bzw. Neubildung Christian Friedrich Daniel Schubart zugeschrieben, ohne daß seine Autorschaft wirklich gesichert ist (Feldmann, 108). Die Metapher

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Flugblatt

vom Fliegen bezeichnet schon im Mittelhochdeutschen die schnelle Verbreitung einer Nachricht und wird in der frühen Neuzeit auf das Tages- und Kleinschrifttum übertragen. So spricht der Abschied des Erfurter Kreistages 1567 von „fliegenden Zeitungen", die verschärften Zensurbestimmungen unterworfen werden sollen. Auch ein wörtliches Verständnis der Flugmetapher ist schon im 16. Jh. zu belegen: 1522 ließ Franz von Sickingen Zettel in das belagerte Trier schießen, auf denen er den Einwohnern Schonung für den Fall der Übergabe versprach. In größerem Maße spielte die Propaganda aus der Luft erstmals im Deutsch-französischen Krieg 1870/71 eine Rolle. BMZ 3, S. 343a. - Wilhelm Feldmann: Christian Schubarts Sprache. In: Zs. f. dt. Wortforschung 11 (1909), S. 97-149. - Friedrich Kapp: Geschichte des deutschen Buchhandels bis in das 17. Jh. Leipzig 1886, S.781.

BegrG: Die frühe Neuzeit besaß für das Flugblatt keinen einheitlichen und umfassenden Begriff. Die gebräuchlichen Bezeichnungen hoben lediglich bestimmte Aspekte des Mediums hervor. So konnte die Illustrierung der Blätter betont werden {gemei, Bildnus, Abcontrafactur), stellte man den Nachrichtenwert heraus (Neue Zeitung, Relation), wurden satirische und polemische Momente benannt (Pasquill, Schmähschrift, Schandbrief, Famospatent), oder man gab die Blätter als wertlos aus (Scharteke, Zettel). Die begriffliche Unschärfe setzt sich in der Moderne fort: Trotz des eindeutigen Kriteriums der Einblättrigkeit begegnet bis in neueste Zeit vereinzelt noch ein Sprachgebrauch, der den Terminus Flugblatt auch auf kleine Broschüren bezieht. Versuche, ,Flugblatt' und F l u g schrift' ausschließlich als Instrumente der Meinungsbeeinflussung zu definieren, erfassen zwar eine markante und wichtige Funktion der beiden Medien, verabsolutieren sie aber wohl aufgrund von Erfahrungen der jüngeren Geschichte (2. Weltkrieg, Studentenbewegung u. a.). Funktionen der Information, der Belehrung, der Erbauung oder der Unterhaltung, die Flugblatt und Flugschrift im Laufe ihrer Geschichte immer

auch erfüllt haben, bleiben bei einer solchen Eingrenzung unbeachtet. SachG: Schon in der 1. Hälfte des 15. Jhs. begegnen Flugblätter, die in xylographischer Technik gedruckt wurden und primär religiöse, vereinzelt aber auch politische Inhalte vermittelten. Die besonderen Chancen des jungen Mediums erkannten und nutzten Humanisten wie Sebastian Brant, Heinrich Bebel, Philipp Melanchthon oder David Chytraeus. Die Latinität vieler Blätter macht deutlich, daß auch eine gelehrte Öffentlichkeit von dem Medium angesprochen werden konnte. Neben den Humanisten bedienten sich auch die städtischen Handwerkerdichter des neuen Mediums (z. B. Hans Folz, Hans Sachs). Die zumeist illustrierten Einblattdrucke bezogen sich auf politische Geschehnisse (z. B. die Belagerung Wiens durch die Türken 1529), Naturereignisse (Kometen, Blutregen, Mißgeburten usw.) oder andere sensationelle Begebenheiten (Morde, Hinrichtungen usw.); sie setzten die Tradition der Lasterschelte fort, wenn sie Ehebruch, Wucher, Modetorheiten oder Völlerei an den Pranger der Satire stellten; sie warben für Schaustellungen, Auftritte von Akrobaten, Wanderärzte; sie erbauten ihr Publikum durch biblische und andere religiöse Darstellungen, dienten als Unterrichtsmedium und hatten nicht zuletzt auch Anteil am umfassenden Personal- und Kasualschrifttum der frühen Neuzeit. Bei der Durchsetzung reformatorischer Ideen spielte das Flugblatt gegenüber der Flugschrift zunächst eine untergeordnete Rolle. Erst seit der 2. Hälfte des 16. Jhs. setzte man seine Publikumswirksamkeit verstärkt im konfessionellen Streit ein (z. B. Johann Nas, Johann Fischart). Im 30jährigen Krieg wurde das Medium zu einem wesentlichen Faktor der schwedischen und sächsischen Propaganda. Im Verlauf des 17. Jhs. verlor das Flugblatt seine Funktion als Nachrichtenmedium zunehmend an die periodische Presse. Schon ab der Jahrhundertmitte zeichnet sich (z. B. in der Produktion des Nürnberger Verlegers Paul Fürst oder der Augsburger Briefmaler) die Entwicklung zu einem Medium erbaulicher Unterhaltung, frommer Andacht und didaktischer Unter-

Folklore Weisung ab, die sich im ? Bänkelsang einerseits und im Bilderbogen des 19. Jhs. anderseits fort- und durchsetzte. Daneben blieb die Funktion als Propagandainstrument erhalten. Dabei bedienten sich wegen der unaufwendigen Herstellung, schweren Kontrollierbarkeit durch die Zensur und der schnellen Verbreitung zunehmend auch oppositionelle politische Gruppierungen des Mediums (z. B. während der Französischen Revolution, der Märzrevolution 1848, der Münchener Räterepublik 1919 oder der Pariser Studentenunruhen 1968). Als offizielle Kriegspropaganda wurden Flugblätter in größerem U m f a n g 1870/71, in den beiden Weltkriegen und in den ersten Jahren des Kalten Krieges eingesetzt. ForschG: Die soziale und moralische Abwertung, die das Flugblatt seit dem 17. Jh. erfahren hat, und wohl auch die mangelnde Zuständigkeit eines akademischen Faches haben dem Medium lange Zeit wenig wissenschaftliche Beachtung zuteilwerden lassen. Lediglich prominente Autoren (Sebastian Brant, H a n s Sachs) wurden auch als Verfasser von Flugblättern gewürdigt. Hervorzuheben sind Vorstöße einzelner Volkskundler (Johann Scheible, Johannes Bolte, Theodor Hampe) und Buchwissenschaftler (Emil Weller, Karl Schottenloher), die schon im 19. und Anfang des 20. Jhs. das Medium bibliographisch und editorisch zu erschließen suchten. Seit den 1960er Jahren haben die Volkskunde und besonders auch die Germanistik verstärkte Anstrengungen unternommen, das verstreute und seltene Material zu sichten, zu edieren, zu kommentieren, historisch einzuordnen und auszuwerten. Mit dem wachsenden Interesse an Alltags- und Mentalitätsgeschichte beginnen auch andere Philologien (z. B. die Anglistik) und Fächer (z. B. Geschichtswissenschaft, Kunstgeschichte), den Wert des Klein- und Tagesschrifttums f ü r ihre Disziplinen zu entdecken. Lit: Deutsche illustrierte Flugblätter des 16. und 17. Jhs. Hg. v. Wolfgang Harms. 4 Bde. München, Tübingen 1980-1989. - Flugblätter der Reformation und des Bauernkrieges. Hg. v. Hermann Meuche. Katalog von Ingeburg Neumeister. 2 Bde. Leipzig 1976. - Flugblattpropaganda

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im 1. Weltkrieg. Hg. v. Klaus Kirchner. Bd. 1. Erlangen 1985. - Flugblattpropaganda im 2. Weltkrieg. Hg. v. Klaus Kirchner. 15 Bde. Erlangen 1972-1992. - Illustrierte Flugblätter des Barock. Hg. v. Wolfgang Harms u. a. Tübingen 1983. - John R. Paas: The German political broadsheet 1600-1700. 4 Bde. Wiesbaden 1985-1994. - Walter L. Strauss: The German single-leaf woodcut 1550-1600. 3 Bde. New York 1975. - Hermann Wäscher: Das deutsche illustrierte Flugblatt. 2 Bde. Dresden 1955 f. - Gertraud Zaepernick: Neuruppiner Bilderbogen der Firma Gustav Kühn. Leipzig 1972. Wolfgang Adam: Das Flugblatt als kulturund literaturgeschichtliche Quelle der Frühen Neuzeit. In: Euphorion 84 (1990), S. 187-206. Eva-Maria Bangerter-Schmid: Erbauliche illustrierte Flugblätter aus den Jahren 1570-1670. Frankfurt u.a. 1986. - Rolf Wilhelm Brednich: Die Liedpublizistik im Flugblatt des 15. bis 17. Jhs. 2 Bde. Baden-Baden 1974 f. - Wolfgang Brückner: Populäre Druckgraphik Europas. Deutschland. Vom 15. bis zum 20. Jh. München 1969. - W. B.: Massenbilderforschung 19681978. In: IASL 4 (1979), S. 130-178. - William A. Coupe: The German illustrated broadsheet in the 17th century. 2 Bde. Baden-Baden 1966, 1967. - Gisela Ecker: Einblattdrucke von den Anfängen bis 1555. 2 Bde. Göppingen 1981. - Wolfgang Harms: Der kundige Laie und das naturkundliche illustrierte Flugblatt der frühen Neuzeit. In: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 9 (1986), S. 227-246. - Klaus Herding, Rolf Reichardt: Die Bildpublizistik der Französischen Revolution. Frankfurt 1989. - Elke Hilscher: Die Bilderbogen im 19. Jh. München 1977. - Harry Oelke: Die Konfessionsbildung des 16. Jhs. im Spiegel illustrierter Flugblätter. Berlin, New York 1992. - Michael Schilling: Bildpublizistik der frühen Neuzeit. Tübingen 1990. - Bruno Weber: Wunderzeichen und Winkeldrucker 1543-1586. Einblattdrucke aus der Sammlung Wikiana in der Zentralbibliothek Zürich. Dietikon, Zürich 1972. Michael Schilling

Fokalisierung /" Perspektive

Folklore Gesamtheit mündlicher Volksüberlieferung. Expl: Umfang/Inhalt und Anwendung des Begriffs schwanken. Sachbezogen umfaßt er

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Folklore

(1) alle mündlich tradierten Wissensbestände, Fertigkeiten und Handlungen (wie Erzählung, Musik, Tanz, Handwerk, Bildnis, Brauch) oder — das ist eine unter literaturwissenschaftlichen Aspekten übliche und sinnvolle Einschränkung — nur (2) den sprachlichen Anteil der Uberlieferung (wie Märchen, Sage, Legende, Schwank, Lied, Sprichwort, Rätsel, Witz), neuerdings auch speziell (3) den hierzu gehörigen Vermittlungsprozeß: die künstlerische Kommunikation in kleinen Gruppen. Gleichbedeutend mit Folklore werden die Termini Volksüberlieferung, enger verstanden orale Tradition (s Oralität), oder — noch enger — vorzugsweise Volksdichtung und Volksliteratur verwendet. In manchen Ländern (z. B. Ungarn, USA) bezeichet Folklore (oder Folkloristik) aber auch ein akademisches Fach, das speziell die sprachlichen Traditionen im Gegensatz zur materiellen Überlieferung (die dann — z. B. in Osteuropa — von der Ethnographie untersucht wird) erforscht, während in den deutschsprachigen Ländern die Disziplin Volkskunde/Europäische Ethnologie beide Bereiche der sogenannten Alltagskultur abdeckt. Abzugrenzen ist der wissenschaftliche Terminus ferner vom umgangssprachlichen Begriff Folklore, der sich auf ästhetisch aufgeputzte, oft als Schauvorführung dargebotene Ausschnitte populärer Kultur (z. B. Trachten, Volkstanz) bezieht. WortG: Folklore ist eine Neuschöpfung des englischen Altertumsforschers W. J. Thoms, der 1846 — unter Bezug auf Jakob Grimms .Deutsche Mythologie' - die Ausdrücke popular antiquities und popular literature als ,the lore of the people' in dem Kunstwort Folk-Lore zusammengefaßt hat. Engl, lore meint ,Wissen, Erfahrung, Überlieferung', Folklore somit ,das Wissen des Volkes', wobei zu beachten ist, daß engl, folk (anders als Volk) keine nationale Färbung, sondern einen sozialen Akzent besitzt (,kleine Leute'). In England bürgerte sich das Wort rasch ein und verbreitete sich, zumal als 1878 in London die ,Folklore Society' gegründet wurde, bald weltweit: Im 20. Jh. wirkt ζ. B. in Helsinki der internationale

Erzählforscherbund der .Folklore Fellows'. In Deutschland zog man aber — wohl seiner nationalen Konnotationen wegen und weil das Wort Folklorist den Beigeschmack des Dilettantischen angenommen hatte (Weinhold) — die Fachbezeichnung Volkskunde vor. Die seit den 1950er Jahren verwendete Ableitung Folklorismus als Begriff für eine ,unechte' sekundäre Volkstradition ist ebenfalls mit negativer Wertung aufgeladen (Moser). Hans Moser: Volksbräuche im geschichtlichen Wandel. München 1985, S. 336-392. - William John Thoms. In: The Athenaeum, 22.8.1846. Karl Weinhold: Zur Einleitung. In: Zs. des Vereins für Volkskunde 1 (1891), S. 1 - 1 0 .

BegrG: Im 19. Jh. bildete ,Folklore' den Überbegriff für Gegenstände antiquarischer' Bemühungen. Merkmale, die solchen Objekten zugeschrieben wurden, sind (1) Mündlichkeit, (2) ,alte' Tradition und (3) Anonymität, ferner (4) Variantenreichtum und (5) Formelhaftigkeit. Aber alle Kriterien haben sich — auf Einzelobjekte bezogen — als relativ erwiesen: eine mündliche Überlieferung kann durch Niederschriften gestützt, eine Tradition erneuert, ein anonymer Text auf einen Verfasser zurückführbar sein; die Variabilität der Strukturen und die Verwendung von Formeln sind nicht immer und überall in gleich hohem Grade gegeben. Unter funktionalen Gesichtspunkten wurde .Folklore' 1929 von P. Bogatyrev und R. Jakobson als eine „besondere Form des Schaffens" definiert. Wesentlich ist hier nicht „das außerhalb der Folklore liegende Entstehen und Sein der Quellen, sondern die Funktion des Entlehnens, die Auswahl und die Transformation des entlehnten Stoffes"; Folklore wird durch die „Präventivzensur der Gemeinschaft" bestimmt, durch die ein Werk aufgenommen und sanktioniert sein muß. Noch einen Schritt weiter gehen um 1970 nordamerikanische Forscher, die Folklore dezidiert als einen kommunikativen Prozeß, als „künstlerische Kommunikation in kleinen Gruppen" (Ben-Amos) verstehen. Ins Betrachtungszentrum rückt die Performanz (,Akt der Präsentation'); spezifische Merk-

Folklore male liegen auf den Ebenen von Text (z. B. Formeln), Textur (z. B. rhythmisches Sprechen) und Kontext (z. B. Erzählort). Nach diesem Verständnis bestimmen Vergegenwärtigungsprozeß und -situation und nicht der Text selbst oder die Entstehungs- und Überlieferungsgeschichte eines Textes seine Kennzeichnung als Folklore. Dan Ben-Arnos: Zu einer Definition der Folklore im Kontext. In: Jb. für Volksliedforschung 26 (1981), S. 1 5 - 3 0 . - Petr G. Bogatyrev, Roman Jakobson: Die Folklore als eine besondere Form des Schaffens. In: D o n u m natalicium Schrijnen. Nijmegen, Utrecht 1929, S. 9 0 0 - 9 1 3 .

SachG: Sachliche Vorläufer dessen, was Ende des 18., Anfang des 19. Jhs. als ,Volkspoesie' oder .Folklore' zugleich „gefunden und erfunden" (Klüsen) wurde, sind allgemein in vorgeschichtlicher Zeit zu vermuten, doch bleiben für schriftlose Epochen naturgemäß alle konkreten Aussagen Spekulation. Spuren mündlicher Volksüberlieferung, etwa Märchen- und Sagenmotive, finden sich in fast allen Kulturen schon in deren ältesten literarischen Aufzeichnungen und begleiten die gesamte Geschichte der Literatur, ob diese nun einen mythisch-religiösen, unterhaltenden oder chronikalischen Charakter besitzt. Freilich kann man je nach Gattung unterschiedliche Schwerpunkte der Entwicklung erkennen. Gattungsübergreifend begegnet in der modernen industrialisierten Welt die ,Folklorisierung' auch der Folklore, d. h. eine Vermittlung und Vorführung von .Volkskultur aus zweiter Hand', hier speziell die Verwendung stofflicher und stilistischer Elemente der Volksliteratur in einem ihr ursprünglich fremden Zusammenhang (z. B. Werbung, Märchenfilme, Märchenparks). Als eine besondere .industrielle' Erscheinungsform der Folklore entstand in der 2. Hälfte des 20. Jhs. durch die Einführung von Kopierapparaten in Büros sogenannte Xeroxlore. Gemeint sind damit die weitverbreiteten Vervielfältigungen anonymer Zeichnungen und kurzer formelhafter Texte. Ernst Klüsen: Volkslied - Fund und Erfindung. Köln 1969.

ForschG: Die Erforschung der Folklore als 'Volksdichtung begann mit deren Entdek-

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kung bzw. „Erfindung" (wie u. a. Hermann Bausinger hinsichtlich der Konstruktion jenes „Mischprodukts aus dem objektiven Fundament der Volksüberlieferungen und genialisch-produktivem Interesse" zuspitzend formuliert hat; Bausinger 1980, 10) gegen Ende des 18. Jhs., zunächst mit umfänglichen — sporadisch kommentierten — Materialsammlungen, von denen Herders .Volkslieder' (1778/79; 2 1807 unter dem Titel ,Stimmen der Völker in Liedern') sowie die .Kinder- und Hausmärchen' (1812/15) und die .Deutschen Sagen' (1816/18) der Brüder Grimm die nachhaltigsten Impulse gegeben haben. Im 19. Jh. galt das Forschungsinteresse vorrangig den Erzählstoffen: ihrer mythologischen Herkunft, geographischen Heimat, geschichtlichen Entwicklung und ihren psychischen Antrieben. Im 20. Jh. richtete sich der Blick neben Formuntersuchungen zur Erstellung von (Märchen-)Typenkatalogen oder der Frage nach s Einfachen Formen (André Jolies) besonders auf den Erzählvorgang, die Erkundung der Funktion des Erzählens im jeweiligen sozialen Kontext und die sozialhistorischen Determinanten einzelner Volkserzählungen. Theoretische Leitlinien setzten die geographisch-historische Methode der sogenannten ,Finnischen Schule' (/" Märchen), die literaturgeschichtliche und die strukturalistische Textanalyse sowie sozialwissenschaftliche Zugänge wie die Performanz- und Interaktionsanalyse. Neuerdings konzentriert sich eine historisch orientierte Folklore-Forschung auf quellenkritische Fragen (Selektionsprämissen und Editionsprinzipien der Sammler), auf Vermittlungsprozesse (das Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit, Legende und Bild, Lesefahigkeit, Zwischenträger' wie z. B. Bänkelsänger) und auf je gegebene Bedeutungszusammenhänge (Realitätsbezug, Sozialkritik). Stärker gegenwartsorientierte Forscher widmen sich der Erschließung neuer Materialbereiche der Folklore (,moderne Sage', Gerücht, Klatsch) und speziell den Formen alltäglichen Erzählens (Arbeitserinnerungen, Militärdienstgeschichten, Urlaubsberichte). Die Berücksichtigung der lebensgeschichtlichen Perspektive eines Erzählers erweitert dabei

612

Form

das klassische Genre-Repertoire der Folklore um in strengem Sinne authentische Aussagen (mit Tonband aufgenommene Texte namentlich bekannter Personen), für die die Bezeichnung Ethnotexte (Tolksdorf) vorgeschlagen wurde. Die Erforschung der Gegenwarts-Folklore im weiten Sinne zielt auf etliche neu entstehende Sprachformen in urbanisierten Gesellschaften (z. B. /" Graffiti) und beachtet dabei sowohl die weiterwirkenden Elemente traditioneller Folklore als auch die folkloristischen Momente bei der Revitalisierung verschütteter Traditionen. L i t : Aleida Assmann: Schriftliche Folklore. In: Α. A. u. a. (Hg.): Schrift und Gedächtnis. München 1983, S. 175—193. — Hermann Bausinger: Formen der ,Volkspoesie'. Berlin 2 1980. - H. B.: Strukturen alltäglichen Erzählens. In: Fabula 1 (1958), S. 2 3 9 - 2 5 4 . Maja Boskovic-Stulli (Hg.): Folklore und mündliche Kommunikation. Zagreb 1981. - Jorge Dias: Die Quintessenz des Problems: Nomenklatur und Gegenstand der Folklore/Volkskunde. In: Fach und Begriff ,Volkskunde' in der Diskussion. Hg. v. Helge Gerndt. Darmstadt 1988, S. 1 5 8 - 1 7 8 . - IrmaRiitta Järvinen (Hg.): Contemporary folklore and culture change. Helsinki 1986. - André Jolies: Einfache Formen. Halle 1930. - Uli Kutter: Photokopierte Blätter - Entzauberter Alltag. In: Kultur und Alltag. Hg. v. Hans-Georg Soeffner. Göttingen 1988, S. 3 6 3 - 3 8 4 . - Rudolf Schenda: Folklore und Massenkultur. In: Schweizerisches Archiv für Volkskunde 87 (1991), S. 1 5 - 2 7 . Fritz Willy Schulze: Folklore. Zur Ableitung der Vorgeschichte einer Wissenschaftsbezeichnung. Halle 1949. - Eduard Strübin: .Folklore' und ,folkloristisch' im allgemeinen Sprachgebrauch. In: Schweizer Volkskunde 60 (1979), S. 6 8 - 7 3 . Stith Thompson: Motif-index o f folk-literature. 6 Bde. Bloomington 2 1966. - Ulrich Tolksdorf: Ethnotexte aus Ost- und Westpreußen. In: BIOS 1988, S. 1 0 5 - 1 1 1 .

Helge Gerndt

Form Inbegriff des gestaltenden Umgangs mit dem sprachlichen und/oder thematischen Material von Texten und Kunstwerken. Expl: Der in Opposition zu den Begriffen des .Inhalts', in manchen Kontexten auch

der .Materie' bzw. des .Materials' oder des .Elements' bzw. .Teils' geprägte Begriff der .Form' ist in seiner problematischen Vieldeutigkeit grundlegend für so heterogene Bereiche wie (Sprach-)Philosophie, Ästhetik, Linguistik, Literatur- und Kunstwissenschaft. Der Begriffsname kann sich je nach Kontext auf die in Entgegensetzung zum INHALT (vgl. u. a. /" Stoff, s Bedeutung) gewonnene äußere Erscheinung eines Objekts, auf seine in Abgrenzung von der Materie gesondert akzentuierte Begrenzung oder,Kontur', auf die innere f Struktur eines Kunstwerks, auf die (An-)Ordnung von Elementen oder Teilen, auf die akustisch oder visuell wahrnehmbare Seite der Sprache oder auf Kategorien der f Gestalt und Gestaltung von Kunstprodukten beziehen. In der Literaturwissenschaft umfaßt die Analyse der Form vor allem Fragen nach isolierbaren Elementen der Struktur von Texten (/" Versmaß, ? Rhythmus, s Reim, ? Strophenform, s Rhetorische Figuren, s Metaphern etc.), nach Gliederungsaspekten wie der Dispositio bzw. s Komposition von Stoff, Motivik bzw. Thematik (etwa in s Szenen, S Kapitel etc.) sowie, damit verbunden, nach der gattungstheoretischen Klassifikation (/" Gattung). WortG: Der Ausdruck basiert auf der Entlehnung des lat. Substantivs forma. Dieses ist seinerseits eine Übersetzung des griech. είδος [eidos], das in der Akzentuierung des Zurückfallens aller Abbilder hinter das (konzeptuelle) Urbild synonym mit ιδέα [idèa] ,Idee', in derjenigen des (künstlerischen) Gestaltens sowie sinnlichen Wahrnehmens synonym mit μορφή [morphé] ,Gestalt' gebraucht wird. Ins Deutsche findet das Wort Form erst Mitte des 13. Jhs. als mhd. forme Eingang, wobei die Verkürzung zu form bereits 1350 auftritt (Trübner 2. 417). Zu Beginn des 13. Jhs. findet sich bereits das mit forme größtenteils synonyme mhd. figure oder figiure, das aus lat. figura hervorgegangen war. Bei seinem ersten Auftreten dient das Wort form nur der Bezeichnung der menschlichen Gestalt; diese Bedeutung erhält sich bis ins 17. Jh., wobei form anfangs in Verbindung mit bilde gebraucht werden kann, das bis zum Auftre-

Form ten von figure und forme das Begriffsspektrum des lat. forma abdeckte. Ab der Mitte des 14. Jhs. bezieht sich Form auch auf Lebloses und bezeichnet dann die besondere Art, in der etwas als Resultat menschlicher Tätigkeit in Erscheinung tritt. Im Hinblick auf den Bereich geistiger, insbesondere künstlerischer Tätigkeit wird Form teilweise synonym mit Gestalt verwendet und bezeichnet dann die dem Stoff gemäße Erscheinungsweise. BegrG/ForschG: Als ein grundlegender Terminus der Philosophie, vor allem in seiner Verbindung mit Materie, bedeutet Form ,sichtbare Gestalt, Umriß' bzw. allgemeine Beschaffenheit, Wesensbestimmung' oder auch ,Art, Gattung'. In seiner Bedeutung als (proportionale) .Anordnung' von Elementen oder Teilen ist der Formbegriff seit den Pythagoreern bestimmend für die antike Kunst (vgl. allgemein HWbPh 2, 974-977). Grundlegend für die Begriffsgeschichte von Form ist das eidos bei Piaton, das im Rahmen der ,Ideenlehre' (oder auch: F o r menlehre') das über die empirische Wirklichkeit hinausgehende, wahre Wesen eines Gegenstandes bezeichnet und eine den natürlichen Dingen gegenüber eigene, übergeordnete Existenzweise besitzt. Aristoteles verwirft die platonische Konzeption transzendenter Ideen und bestimmt das eidos konkreter Dinge als ihre von der Materie untrennbare, individuierende Beschaffenheit. Für Kunstprodukte gilt dabei, daß ihre Herstellung auf ein Bild (Entwurf) angewiesen ist, das in der Seele des Herstellers seinen Ort hat. Für Aristoteles ist die Form als das , Sosein eines jeden Dinges und sein erstes Wesen' (.Metaphysik' 7,7, 1032 a-b) dem Ding immanent und vom Inhalt nicht zu trennen: Die im Prozeß des Herstellens intendierte Form findet ihre Realisierung in Gestalt des ausgeführten Werkes. Plotin stellt der Aristotelischen Einheit von Form und Inhalt den Begriff des ένδον είδος [éndon eidos], der .inneren Form' an die Seite: Der äußeren Form geht eine innere in der Seele des Hervorbringenden voraus. Damit fallt der Form-Begriff nun mit dem (platonischen) Begriff der .Idee' zusammen

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— nämlich dort, wo das Zurückbleiben des Hervorgebrachten gegenüber dem Urbild (der Idee) betont werden soll: .eidos' ist identisch mit .morphé', dem Gestalteten, insofern alle gestaltete Form nur Abbild der höchsten Form ist. Die mittelalterliche Ästhetik folgt einerseits dem antiken Verständnis von Schönheit als auf einer proportionalen Anordnung von Teilen basierend und verwendet figura und forma als Synonyme für diesen Begriff der ,Form'. Andererseits folgt sie Plotin in seiner dualistischen Form-Konzeption und betont, wie etwa Thomas von Aquin, über den Aspekt der Proportionalität hinaus denjenigen der ,claritas' (.Summa Theologiae' 2,2, q. 180, 2, ad 3). Beide Auffassungen prägen zunächst auch die Renaissance, wobei die Florentiner Akademie (insbesondere durch Marsilio Ficino und G. Pico della Mirandola) erneut den Primat der claritas gegenüber der proportio herausstellt. Im Hinblick auf das Verständnis von ,Form' als die dem Inhalt entgegengesetzte äußere Erscheinung der Dinge zeichnete sich das Mittelalter durch eine starke Opposition von sententiae Veritas und compositio verborum als den internen (Wahrheits-) und externen (Anordnungs-)Faktoren von Dichtung aus. Als externes Kriterium wurde ,Form' hier entweder sinnlich oder begrifflich (Metaphern, Tropen) gefaßt. Die Dichtung der Renaissance behält diese Trennung von res und verba bei. Der Einfluß der Verbindung des Aristotelischen Form-Begriffs mit der Ideenlehre Piatons durch Plotin reicht bis in das 18. Jh.: Von Shaftesbury wird die innere Form Plotins in Abgrenzung zur normativen Regelpoetik der Franzosen (Boileau, Bouhours, Batteux) mit der neueren Ästhetik in dem Sinne verbunden, daß die Form (,inward form') als eine von der Natur her schöpferisch wirkende, die äußere Form schaffende Kraft (,forming power') aufgefaßt und das Kunstwerk insgesamt als Organismus verstanden wird. Bei Kant wird der Form-Begriff an zentraler Stelle zur Explikation der Begriffe der .Schönheit' und des .Geschmacksurteils' gebraucht, wodurch eine grundsätzliche Autonomie des

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Form

Ästhetischen dem Bereich der Verstandeserkenntnis gegenüber begründet wird: „Schönheit ist die Form der Zweckmäßigkeit eines Gegenstandes, sofern sie, ohne Vorstellung eines Zwecks, an ihm wahrgenommen wird" (KdU, A 60). Mit der auf Sturm und Drang, Herder und die Dichter der Klassik und Romantik wirkenden Konzeption der jedem Stoff eigenen, in der Seele des Dichters als gestalterische Kraft wirksam werdenden Form wird das Kunstwerk zum Analogon des Naturprodukts. Diese Auffassung findet ihre Weiterentwicklung bei Herder und Goethe, insofern die innere Form hier selbst als etwas Organisches verstanden wird. Bei Herder wird das Kunstwerk als beseelt gedacht und dessen Seele mit der ,inneren Form' identifiziert. Diese innere Form muß, etwa bei Goethe, als die dem individuellen Gehalt des Werks adäquate Form gefühlt werden. Die Bedeutung der Goetheschen Konzeption der drei „Naturformen der Poesie" — Epos, Lyrik, Drama (1819: FA 3, 206-208) — ist für die Literaturtheorie des 19. und 20. Jhs. schwer zu überschätzen (vgl. Wilkinson). In der Kunsttheorie Schillers wird der Begriff der inneren Form mit den Grundbegriffen der Philosophie des Idealismus verbunden: Das Kunstwerk wird als Gestaltung reiner Ideale (Freiheit, Selbstbestimmung) verstanden; die Vereinigung von Form und Inhalt wird organisch gefaßt, wobei der Form der Vorrang gegenüber dem Inhalt zukommt. Für die späte Romantik und den philosophischen Idealismus ist die Form geistbestimmt. Hegel ist derjenige, der zuerst eine geschichtliche Betrachtung der Formen ästhetischer Produktion durchführt. Dabei werden die .Darstellungsformen' aber stets vom ideellen Gehalt her begriffen. Mit Herbart wird die Form dann vom Gehalt gelöst und streng von diesem getrennt. Damit ist die Ästhetik des 19. Jhs. in ihrer Ausrichtung auf das Verhältnis von Form und Inhalt sowie die damit verbundene Auseinandersetzung zwischen .Formalisten' und ,Gehaltsästhetikern' begründet. Für den Beginn des 20. Jhs. ist die Intensivierung der Debatte um das Verhältnis von Form und Inhalt durch radikale Vertre-

ter der ,reinen' Form (vgl. etwa Valérys Begriff der ,poésie pure') kennzeichnend: der Russische ? Formalismus (Sklovskij, Tynjanov, Èjchenbaum) betont die in der Formung des Materials und der Sprache bestehende Technik der Herstellung literarischer Texte. Weiterentwickelt wird diese Position im Prager /" Strukturalismus (Mukarovsky, Jakobson). Unter Verzicht auf die Berücksichtigung jeglicher textexternen Aspekte macht die Schule der S Werkimmanenten Interpretation (Viëtor, Kayser, Staiger u. a.) die Gestaltung des einzelnen Kunstwerks zum Gegenstand sprachlicher und stilistischer Exegese. Den Versuch, Literaturgeschichte als s Formgeschichte zu schreiben, hat P. Böckmann unternommen. Die neuere Forschung hat das Form-Problem — z. T. im Anschluß an R. Ingardens ? Phänomenologische Literaturwissenschaft oder auch an G. Müllers goetheanisch-morphologische Überlegungen, wonach „die Gattungen einen Umkreis formaler Möglichkeiten bezeichnen" (Müller 1928/29, 147) - in den Bereich der gattungstheoretischen Diskussion verschoben. Paradigmatisch hierfür ist Jolies' Systematik literarisch Einfacher Formen (wie Legende, Sage oder Märchen) aus morphologischer Perspektive. Von Lugowski historisch gewendet, führt sie zu einem Verständnis der frühneuzeitlichen Prosaerzählung und ihrer ,Form der literarischen Individualität' als ästhetischer Analogie zu mythischen Strukturen der Antike ( / Mythisches Analogon). Vorläufer für eine von inhaltlichen Elementen und sogar von bestimmten Kunstsparten isoliert durchgeführte Untersuchung formaler Faktoren sind A. Riegl, O. Walzel und H. Wölfflin, wobei für letzteren innere Formen „nur [...] Schemata" (Wölfflin, 49) der Gesetzmäßigkeit einer inneren Formgeschichte sind (vgl. / Wechselseitige Erhellung der Künste). Als Frage nach der (z. B. literarischen) Darstellungsform philosophischer Erkenntnis findet der Form-InhaltAspekt in der neueren Forschung auch innerhalb der Philosophie stärkere Beachtung (Spezialbibliographie dazu bei Gabriel/Schildknecht). Lit: Paul Böckmann: Formgeschichte der deutschen Dichtung. Bd. 1. Hamburg 21965. - P. B.

Formalismus (Hg.): Stil- und Formprobleme in der Literatur. Heidelberg 1959. - Gottfried Gabriel, Christiane Schildknecht (Hg.): Literarische Formen der Philosophie. Stuttgart 1990. - Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke. Frankfurter Ausgabe [FA], Bd. 3. Frankfurt 1994. - André Jolies: Einfache Formen [1930]. Tübingen 6 1982. - Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft. Berlin 1790. - Clemens Lugowski: Die Form der Individualität im Roman [1931], Frankfurt 2 1994. - Günther Müller: Bemerkungen zur Gattungspoetik. In: Philosophischer Anzeiger 3 (1928/1929), S. 129-147. - G. M.: Über die Seinsweise von Dichtung. In: DVjs 17 (1939). Heft 2, S. 137-152. - G. M.: Die Gestaltfrage in der Literaturwissenschaft und Goethes Morphologie. Halle 1944, bes. S. 5 5 - 6 6 . - Wladyslaw Tatarkiewicz: Form in the history of aesthetics. In: Dictionary of the history of ideas. Hg. v. Philip P. Wiener. Bd. 2. New York 1973, S. 2 1 6 - 2 2 5 . - Karl Viëtor: Die Geschichte der literarischen Gattungen. In: Κ. V.: Geist und Form. Bern 2 1952, S. 2 9 2 - 3 0 9 . - Oskar Walzel: Gehalt und Gestalt im Kunstwerk des Dichters. Berlin 1923, bes. S. 1 - 1 7 , 144-189. - Elizabeth M. Wilkinson: ,Form' and .content' in the aesthetics of German classicism. In: Böckmann 1959, S. 1 8 - 2 7 . Heinrich Wölfilin: Das Erklären von Kunstwerken. Leipzig 2 1940. Christiane

Schildknecht

Formalismus Den künstlerischen Aspekt betonende Richtungen der Literaturwissenschaft, insbesondere die .Russische Formale Schule'. Expl: Drei wesentliche, jedoch nie ganz unproblematische Verwendungsweisen von Formalismus sind hier zu behandeln: (1) Reizvoll mag der Ausdruck als positive Sammelbezeichnung aller Betrachtungsweisen erscheinen, die in Theoriebildung und dichtungsanalytischer Praxis den sprach- und formkünstlerischen, überhaupt den ästhetischen Aspekt an der Literatur (s Form) in den Vordergrund stellen, dagegen die Einbettung in biographische, soziologische, geistes-, kultur- und globalgeschichtliche Zusammenhänge nachordnen und nicht moralische, politische und weltanschauliche Wertungen zum Ausgangspunkt nehmen (hierzu Frank, 147). D a f ü r

615

käme freilich das Literaturverständnis einer sehr großen Zahl von Schulen und Individuen seit Aristoteles in Frage; im 20. Jh. etwa würde ,Formalismus' dann - ohne weitere Differenzierung ζ. B. nach dem Werkbegriff, der Sprachauffassung oder dem Wissenschaftsverständnis - mindestens teilweise umfassen: ? Phänomenologische Literaturwissenschaft; s Wechselseitige Erhellung, Z1 Formgeschichte, New Criticism; S Werkimmanente Interpretation; ? Linguistische Poetik, S Strukturalismus

und literaturwissenschaftliche / Semiotik. Einer dermaßen umfassenden Verwendung von Formalismus droht die terminologische Beliebigkeit. (2) Speziell bezeichnet Formalismus den .Russischen Formalismus'; andere Bezeichn u n g e n s i n d Formale Schule; Formale Methode; Russische Schule der linguistischen Poetik; a u c h Morphologische Methode ( s o

Ejchenbaum 1922; s. Erlich, 189). Der RUSwar eine vornehmlich 1915-1930 aktive nicht-marxistische Schule der russischen und frühsowjetischen Literaturwissenschaft, an konkrete Personen und Zeitläufte gebunden und stark von frühmoderner Linguistik und russischer Avantgarde inspiriert. Von dem zentralen Begriff der s Verfremdung2 her dem Literarischen an der Literatur (/" Poetizität) nachgehend, dekomponiert man unwiederholbare Einzelwerke in wiederholbare Paradigmen von spezifischen Verfahren der poetischen SISCHE FORMALISMUS

S p r a c h e , d e s s Stils, d e r / Gattung, d e s /* Sujets u n d d e r ? Komposition — vgl.

etwa das „Gesetz der Gleichförmigkeit von Stil- und Kompositionsverfahren" (Sklovskij 1926, 65) bzw. das Prinzip der „dynamischen Integration" (Tynjanov 1924b, 10). Die Affinität zur Avantgarde (auch bei den Analysen älterer Literatur und klassischer Einzelwerke) in Verbindung mit linguistischer, wahrnehmungsästhetischer und evolutionsgerichteter Perspektive ist Spezifikum des Russischen Formalismus unter allen anderen ,Formalismen'. Erst nachträglich wird der Russische Formalismus international bekannt und wissenschaftsgeschichtlich wirksam (besonders in Strukturalismus und Semiotik; vgl. ζ. Β. M. Bachtins Prinzip der /" Dialogizität und

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Formalismus

J. Kristevas daraus abgeleitetes Konzept der / Intertextualität). (3) In der Literatur- und Kunstkritik — besonders, aber nicht nur des Stalinismus begegnet Formalismus auch als polemische und pejorative Bezeichnung für „die Vorherrschaft der Form" (Brecht, 148), d. h. eine „für die Kunst und ihre ganzheitliche, ,lebendige' Natur verderbliche Tendenz" der „Abtrennung der Form vom Inhalt" in ,epigonalen' und .dekadenten' literarischen Richtungen sowie „vielen Erscheinungen der avantgardistischen Literatur" (KLE 8, 57f.). „Der Formalismus [...] betrachtet die Kunst als Sphäre des vom Leben abgehobenen ,reinen Bewußtseins' und kämpft gegen die weltanschaulich-erzieherische und erkenntnisvermittelnde Rolle der Kunst" (BSE 45, 314). Bertolt Brecht: Formalismus und neue Formen [1952], In: Β. B.: Sämtliche Werke. Bd. 23. Frankfurt 1993, S. 1 3 4 - 1 4 9 . - Boris Ejchenbaum: Die Theorie der formalen Methode [1927]. In: Β. E.: Aufsätze zur Theorie und Geschichte der Literatur. Frankfurt 1965, S. 7 - 5 2 . - Armin Paul Frank: Nachbemerkung. In: Elder Olson u. a.: Über Formalismus. Frankfurt 1966, S. 1 4 7 - 1 5 2 . - Viktor Sklovskij: Tret'ja fabrika. Moskau 1926. - Wolf-Dieter Stempel, Jurij Striedter: Zur formalistischen Theorie der Prosa und der literarischen Evolution. In: T R F 1, S. I X - L X X X I I I . - Jurij Tynjanov: Das Problem der Verssprache [1924b]. München 1977. - Viktor Zirmunskij: Formprobleme in der russischen Literaturwissenschaft. In: Zs. für slavische Philologie 1 (1925), S. 1 1 7 - 1 2 5 .

WortG/BegrG: ^ Form. Der Terminus Formalismus - dt. kaum vor 1800 (vgl. EWbD, 463), frz. 1842, russ. ab 1864 belegt - ist eine rezente Wortbildung der Gelehrtensprache. Formalismus wurden R. Zimmermanns herbartianische .Allgemeine Ästhetik als Formwissenschaft' (1865) sowie die Formauffassungen K. Fiedlers, A. Hildebrands und H. Wölfflins genannt, zu den .Formalisten' gelegentlich auch schon I. Kant und J. F. Herbart gezählt (vgl. HWbPh 2, 968). Formale Schule heißt nach 1900 vulgo die .Moskauer Linguistische Schule' von F. F. Fortunatov (LES, 317; vgl. Hjelmslev 1928, 59). Der Drang einiger dieser Richtungen zur Verwissenschaftlichung der Geisteswissenschaften, den sie mit sprachwis-

senschaftlichen Junggrammatikern' und literaturwissenschaftlichem f Positivismus teilen, ist auch auf den Russischen Formalismus übergegangen, der sie mit einer allgemeinen Lust an der Umwertung der Werte verband. Als Formalisten wurden die linguistik- und poetikbeflissenen Moskauer und Petersburger Nachwuchswissenschaftler nach 1915 somit aus mehr als einem Grund abgestempelt. .Formalismus' (3) wird in der Stalinzeit zum (ab 1936 parteiamtlichen) Kampfbegriff gegen alle unliebsamen Erscheinungen in Musik, Kunst, Literatur und ästhetischen Wissenschaften gemacht (vgl. Erlich, 161 f.; BSE, 315; KLE 8, 57 f.). Polemisch unterstellt auch B. v. Wiese 1963 W. Kayser die Gefahr des Formalismus (v. Wiese, 243). Zeitweilig haben einige New Critics, besonders Cleanth Brooks, ihre Methode im Sinne von (1) als formalistisch' bezeichnet (Frank, 148 f.); zur Kritik daran vgl. E. A. Thompson und vor allem R. Wellek: „Der Vorwurf des Formalismus, der für die russische Schule zutrifft, ist hier fehl am Platze. [...] Formalisten können sie nur in dem Sinn genannt werden, daß sie an der bewußten Durchgestaltung eines Kunstwerks festhalten, um es von einer einfachen Mitteilung zu unterscheiden" (Wellek, 511). Ein zentrales Konzept des Russischen Formalismus, die Verfremdung, sieht Hansen-Löve vorgeprägt in dem „aristotelischen ,Formalismus'" (24 ff.), in der „manieristischen Verfremdungs-Ästhetik" (30 ff.) sowie in den Ironie-Auffassungen der s Empfindsamkeit und der frühen Romantik (Novalis, F. Schlegel), bei Kierkegaard und beim jungen Marx (33 ff.). Die gleichfalls zentrale Unterscheidung von .praktischer' und .poetischer Sprache' wird — in Anknüpfung an W. v. Humboldts Auffassung von Sprache als ενέργεια [enérgeia] — durch A. Veselovskij und A. Potebnja vorformuliert, von dem symbolistischen Dichter und Theoretiker A. Belyj .mythopoetisch' umgedeutet und von da der antimetaphysischen linguistischen Verfremdungspoetik des Russischen Formalismus zugeführt (Hansen-Löve, 43 ff.). BSE = Bolsaja sovetskaja enciklopedija. T. 45. Moskau 1956. - LES = Lingvisticeskij enciklo-

Formalismus pediceskij slovar. Moskau 1990. - KLE = Kratkaja literaturnaja enciklopedija. 9 Bde. Moskau 1 9 6 2 - 1 9 7 8 . - Louis Hjelmslev: Principes de Grammaire générale. Kopenhagen 1928. Benno von Wiese: Geistesgeschichte oder Interpretation? In: Die Wissenschaft von deutscher Sprache und Dichtung. Fs. Maurer. Stuttgart 1963, S. 2 3 9 - 2 6 1 .

SachG: Der Russische Formalismus resultiert aus einem epochentypischen Bedürfnis nach befreiender Reduktion, wie es sich nach 1900 im Tolstojanertum oder im ,Primitivismus' der post- und anti-symbolistischen Avantgarden ausdrückt; daher auch der Verzicht auf feste Bindungen an Philosophie, trotz eklektischer Anleihen bei E. Husserl oder H. Bergson. Es bilden sich der .Moskauer Linguistische Zirkel' (1915 ff.; bis 1919 überwiegend linguistisch tätig; Mitbegründer R. Jakobson, P. Bogatyrev, N. Trubeckoj) und die Petersburger ,OPOJaZ' (1916 ff.; ,Gesellschaft zur Erforschung der poetischen Sprache', Mitbegründer V. Sklovskij; ursprünglich ebenfalls von Linguisten dominiert), von denen bald auch etabliertere Literaturprofessoren wie B. Ejchenbaum, V. Zirmunskij und J. Tynjanov angezogen werden. Das neue Petrograder Staatsinstitut für Kunstgeschichte beschäftigt seit 1920 Formalisten und publiziert ihre Arbeiten, denn sie sind zeitweilig Verbündete der Revolutionsregierung in der Auseinandersetzung mit der herkömmlichen Literaturwissenschaft. Die innere Entwicklung des Russischen Formalismus vollzieht sich als Aufbruch aus der ursprünglichen Symbiose von Linguistik und Literaturwissenschaft zu einer immer weiter gefaßten Literaturwissenschaft mit profilierten literarhistorischen Interessen. Bevorzugt analysiert werden zunächst Verfahrensweisen der ,poetischen Sprache'; Modell stehen dabei das futuristische Konzept der ,transmentalen Sprache' bzw. das ,akmeistische' Verständnis vom Zunft- und Handwerkscharakter der poetischen Sprachkunst. Hinzu treten bald Untersuchungen von Einzelgattungen und deren Evolution im ,System der Gattungen' sowie von spezifischen Verfahrensweisen und ihrer Entwicklung in Individual-Œuvres. Analog zu der von Rhythmus und Me-

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lodik als konstruktivem Faktor ausgehenden Analyse von Versdichtung wird auch in der Kunstprosa die Konstruktion von Personal und Sujet sowie die Wertungsperspektive des Erzählers systematisch aus dem Primat der Sprach- und Stilebene hergeleitet (Sklovskij 1919; Ejchenbaum 1919; Jakobson 1921), insbesondere auch aus dem Konzept des /" Skaz (Vinogradov 1926). Die stets konsequenter verfolgte wahrnehmungsästhetische Perspektive ^Verfremdung', .Einstellung' [ustanovka\ nach E. Husserl], f Abweichung, ,Deformation', Verschiebung', ,DifTerenzqualität', ^ o m i nante', ,Spürbarkeit', .Bloßlegung des Verfahrens') wird zu einer nach und nach verfeinerten Konzeption der literarischen Entwicklung ausgebaut (.Automatisierung/Desautomatisierung', .Innovation', ,Entwicklungsdynamik', .Abfolge der Systeme'; /" Literarische Reihe, ? Funktion, ? Evolution). Die literarhistorische Perspektive wird schließlich um eine literatursoziologische erweitert. Ein Dialog mit marxistischen Positionen kommt zögerlich in Gang, endet aber mit der faktischen Unterdrükkung des Russischen Formalismus um 1930. Den wissenschaftshistorische Epoche machenden Übergang zum funktionalistischen Strukturalismus erreichten zuvor noch die Thesen Tynjanovs und Jakobsons (1928), wonach „jedes System notwendig als Evolution vorliegt und andererseits die Evolution zwangsläufig Systemcharakter besitzt" ( T R F 2, 389). Wichtige inländische Anschlußerscheinung des Russischen Formalismus sind die Märchen-Morphologie V. Propps sowie das Dialogizitäts-Konzept L. Vygotskijs und M. Bachtins, welches die Kultursemiotik der Nachkriegszeit vorwegnimmt. Das internationale Nachleben des Russischen Formalismus ist intensiv in den 1930er und frühen 40er Jahren (polnische .Integrale Methode'; R. Ingardens Auseinandersetzungen mit dem Russischen Formalismus; tschechoslowakischer funktionalistischer Strukturalismus). Ab den 50er Jahren wirkt er zunächst in den USA, dann weltweit als willkommene Verstärkung der jeweiligen lokalen Bemühungen um den Kunstcharakter von Literatur. D a n k Emi-

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Formalismus

granten wie R. Jakobson, R. Wellek, M. Kridl und V. Erlich stärkt er in den USA ältere anti-traditionelle Trends wie den New Criticism und die .Chicago Aristotelians' (R. S. Crane, W. C. Booth, E. Olson) und erhält wenig später hier wie anderwärts Autorität als Vorgeschichte von Strukturalismus und Semiotik. Nach 1956 wird der Russische Formalismus in der Sowjetunion dank der strukturalistischen und kultursemiotischen ,Schule von Tartu (Dorpat) und Moskau' (J. Lotman, V. Ivanov), in der Tschechoslowakei und in Polen dank Neuauflagen des funktionalistischen Strukturalismus und dank neuem Wirken der Phänomenologen J. Patocka und R. Ingarden wieder wahrgenommen. In der D D R wurde — im Nachgang zur Kybernetik- und Linguistik-Aneignung der 60er Jahre — eine Avantgarde- und Formalismus-Rezeption erst seit den 1970ern möglich. Ab ca. 1960 wird der Russische Formalismus in ähnlicher Konstellation wie in den USA auch in Frankreich und Italien wirksam, als Vorgeschichte des Lévi-Strauss'schen Strukturalismus sowie parallel zum neuen Interesse an de Saussure'scher moderner Linguistik, Semiotik und modernisiertem Marxismus. In Westdeutschland fällt die Rezeption des Russischen Formalismus (nennenswert nicht vor 1960) gerade noch in die längere Phase eines ersten Paradigmenwechsels der Literaturwissenschaft nach dem 2. Weltkrieg, wie ihn als Außenseiter Max Bense, exemplarisch aber W. Kayser als Vertreter der Idee vom .sprachlichen Kunstwerk' verkörperte. Sie vereint sich dann jedoch mit den etwas späteren Rezeptionen von moderner Linguistik, Strukturalismus, Semiotik, Soziologie und Marxismen verschiedenster Couleur, die den Übergang zu einem zweiten Paradigmenwechsel nach 1968 einleiten, insbesondere im Kontext der /" Rezeptionsästhetik. Boris Ejchenbaum: Wie Gogol's ,Mantel' gemacht ist. [1919], In: TR F 1, S. 1 2 2 - 1 5 9 . - Roman Jakobson: Die neueste russische Poesie [1921], In: TR F 2, S. 1 8 - 1 3 5 . - Viktor Sklovskij: Der Zusammenhang zwischen den Verfahren der Sujetfügung und den allgemeinen Stilverfahren [1919]. In: TR F 1, S. 3 6 - 1 2 1 . - Jurij Tynja-

nov, Roman Jakobson: Probleme der Literaturund Sprachforschung [1928]. In: T R F 2, S. 3 8 6 - 3 9 1 . - Viktor V. Vinogradov: Das Problem des skaz in der Stilistik [1926], In: T R F 2, S. 1 6 8 - 2 0 7 .

ForschG: Wichtige Themen der Forschung zum Russischen Formalismus sind: das Verhältnis zu anderen Wissenschaften — zur Sprachwissenschaft von den Junggrammatikern bis de Saussure; zur Philosophie (Holenstein; Thompson); zur Psychologie in ihren verschiedenen wissenschaftshistorischen Entwicklungsphasen (alle letztlich noch unbefriedigend behandelt); — zu anderen Richtungen der Literaturwissenschaft (Thompson; Wellek); darunter zur marxistischen Literaturwissenschaft (Günther/Hielscher), zu dem zeitlich anschließenden Strukturalismus (Erlich; Striedter) und zur späteren Semiotik (Stempel; Eimermacher 1975); — zur zeitgenössischen literarischen und künstlerischen Avantgarde (Pomorska; Stempel; Hansen-Löve); — zur Lage des Russischen Formalismus in der sowjetischen Literaturpolitik (Erlich; vgl. Eimermacher 1972). — Neben die .klassische' Monographie von Erlich (1955, 2 1965) tritt 1978 Hansen-Löve, der die methodologischen Entwicklungsphasen des Russischen Formalismus als eine Art von ,mobilem Gesamtkunstwerk' des totalen Verfremdungsprinzips auf allen Ebenen, in allen Dimensionen rekonstruiert. Lit: Karl Eimermacher: Dokumente zur sowjetischen Literaturpolitik 1 9 1 7 - 1 9 3 2 . Stuttgart 1972. — K. E.: Zum Verhältnis von formalistischer, strukturalistischer und semiotischer Analyse. In: Methodische Praxis der Literaturwissenschaft. Hg. v. Dieter Kimpel und Beate Pinkerneil. Kronberg 1975. - Boris Ejchenbaum: Melodika sticha [Die Melodik des Verses]. Petrograd 1922. - Victor Erlich: Russischer Formalismus [1955]. München 1964. - Hans Günther, Karla Hielscher: Marxismus und Formalismus. München 1973. - Aage Hansen-Löve: Der russische Formalismus. Wien 1978. - Elmar Holenstein: Roman Jakobsons phänomenologischer Strukturalismus. Frankfurt 1975. - Krystyna Pomorska: Russian Formalist theory and its poetic ambiance. Den Haag 1968. — Rainer Rosenberg: Die Formalismus-Diskussion in der ostdeutschen Nachkriegsgermanistik. In: Zeitenwechsel. Hg. v. Wilfried Barner und Christoph König. Frankfurt

Formel2 (Erzählformel) 1996, S. 3 0 1 - 3 1 2 . - Viktor Sklovskij: Theorie der Prosa [1925], Frankfurt 1966. - Peter Steiner: Russian Formalism. A MetaPoetics. New York 1984. - Wolf-Dieter Stempel: Zur formalistischen Theorie der poetischen Sprache. In: T R F 2, S. I X - L I I I . - Jurij Striedter: Einleitung. In: Felix Vodicka: Die Struktur der literarischen Entwicklung. München 1976, S. V I I - C I I I . - Ε. A. Thompson: Russian Formalism and Anglo-American New Criticism. Den Haag, Paris 1971. Boris Tomasevskij: Theorie der Literatur. Poetik [1925], Wiesbaden 1989. - T R F = Texte der russischen Formalisten. 2 Bde. Hg. v. Jurij Striedter und Wolf-Dieter Stempel. München 1969, 1972. - Jurij Tynjanov [1924]: Das literarische Faktum. In: T R F 1, S. 3 9 2 - 4 3 1 . - René Wellek: Geschichte der Literaturkritik. Bd. 4. Berlin 1990.

Rolf Fieguth

Formell ? Formularbuch Formel 2 (Erzählformel) Kompositionselement traditioneller, sowohl oraler wie schriftlicher Dichtung Expl: Der vor allem auf die Balladen-, Epen-, Lied-, Märchen- und Spruchdichtung angewandte, sehr weit gefaßte Formelbegriff hat je nach Zusammenhang sowohl unterschiedlichen Umfang als auch unterschiedlich genau bestimmten Inhalt. (1) Feste, wiederkehrende Wortfolge mit bestimmter emotiver, konativer und phatischer Funktion, z. B. Beteuerungs-, Demuts-, Heische-, Eingangs-, Überleitungsund Schlußformel. (2) Wiederkehrendes Textelement mit referentieller Funktion, das als fixierte, gültige Wendung die Ebene der sprachlichen Realisation und als in sich sinnvolle Motivverkettung oder Prägung eines Gedankens oder Begriffs die Sinnebene betrifft. (3) Im Rahmen der Oral formulaic theory (S Oralitât) eine „Gruppe von Wörtern, die bei Vorliegen der gleichen metrischen Bedingungen regelmäßig verwendet wird, um einen gegebenen Vorstellungskern auszudrücken" (Parry); sie dient als Kompositionsmittel für den improvisierenden Sänger und als Rezeptionshilfe für den kundigen Hörer.

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Milman Parry: Studies in the epic technique of oral verse-making: I. Homer and Homeric style. In: Harvard Studies in Classical Philology 41 (1930), S. 7 3 - 1 4 7 .

WortG: Im 16. Jh. wird Formul bzw. Formel aus lat. formula (Diminutiv zu forma), einem Begriff der römischen Rechtssprache, der die offizielle, schriftliche Wiedergabe eines Tatbestandes in vorgeprägten Wendungen bezeichnet, in das Deutsche entlehnt (Kluge-Seebold, 227). Zuerst spezifisch rechtssprachlich, wird das Wort dann, allgemeiner auf Sprache bezogen, verstanden als vorgeschriebener oder festgesetzter Wortlaut'; seit dem 18. Jh. Fachterminus in der Mathematik, später auch in der Chemie, der Physik und der Philosophie. Seit Beginn des 19. Jhs. bezeichnen die Begriffe f o r mel', formelhaftes Element' und formelhafte Wendung' in der Literaturwissenschaft wiederkehrende Wortfolgen in Texten. BegrG: Der ältere literaturwissenschaftliche Formelbegriff läßt sich nur unscharf abgrenzen von Metapher, ? Motiv, ? Sentenz, s Topos und anderen rhetorischen Figuren. In Ermangelung der Möglichkeit elektronischer Aufzeichnung wird er bis in die 1930er Jahre ausschließlich auf schriftliche und sekundär verschriftlichte Texte der traditionellen Dichtkunst angewandt. Erst mit der von M. Parry 1928 begründeten Oral formulaic theory wird er auch auf mündliche Texte angewandt, enger gefaßt (s. o.) und vom inhaltlich bestimmten Thema getrennt. SachG: Formelhaftigkeit prägt die Sprache traditions- und gemeinschaftsgebundener, oft mündlicher Dichtkunst weit mehr als die individuelle schriftkünstlerische Äußerung. Große Formeldichte kennzeichnet weltweit die Sprache der Epik, vor allem der Heldenepik, von der Antike bis in die jüngste Zeit, aber auch die Sprache von Rechtsbüchern, Zaubersprüchen, Merkund Rätselversen, Märchen, Balladen und anderen Liedformen bis zum modernen Rapping. ForschG: Milman Parry entwickelte seine Theorie aufgrund der Untersuchung des

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Formgeschichte

Epithetons bei Homer, nachdem F. A. Wolf bereits 1795 die homerischen Epen als „von Sängern gedächtnismäßig verfaßt" bezeichnet und G. Hermann 1840 diese Theorie der Mündlichkeit durch eine Stilanalyse abgestützt hatte. Die Oral formulaic theory machte die Formel, unter Vernachlässigung anderer sprachlicher und außersprachlicher Produktions- und Rezeptionsbedingungen, zum Kennzeichen von oraler Dichtung und Oralität überhaupt und setzte diese in scharfen Gegensatz zu Literatur und Literalität. Neuere Arbeiten fassen formelhafte Ähnlichkeit im Rahmen eines generativen Ansatzes als allomorphische Realisation derselben tiefenstrukturellen Gestalt (Nagler) oder als Wendungen mit Gliedern, die durch syntaktisch-semantische Beziehungen mit Kookkurrenzrestriktionen verbunden sind (Kiparsky). Zurückgewiesen wird schließlich die Behauptung, Formelhaftigkeit bedeute Mündlichkeit, da sowohl ein hoher Standardisierungsgrad eines Formelschatzes (Goody) als auch ein hoher innerer Organisationsgrad formelhafter Dichtung, welcher die kreative gegenüber der reproduktiven Gedächtniskapazität betont (Latacz), eher Schriftlichkeit voraussetzen. Gottfried Hermann: De iteratis apud Homerum. Leipzig 1840. - Friedrich August Wolf: Prolegomena ad Homerum. Halle 1795. Lit: Ruth Finnegan: Oral poetry. Bloomington, Indianapolis 21992. - Theodor Frings, Max Braun: Brautwerbung. 1. Teil. Leipzig 1947. — Jack Goody: The domestication of the savage mind. Cambridge 1977. - Edward R. Haymes: Mündliches Epos in mittelhochdeutscher Zeit. Göppingen 1975. - E. R. H.: A bibliography of studies relating to Parry's and Lord's oral theory. Cambridge/Mass. 1973. - Bengt Holbeck: Formelhaftigkeit, Formeltheorie. In: EM 4, Sp. 1416-1440. — Homer. Hg. v. Joachim Latacz. Darmstadt 1979 [mit Beiträgen von J. L., Gottfried Hermann, Milman Parry, Albert B. Lord, Geoffrey S. Kirk, M. W. M. Pope, J. B. Hainsworth, Michael N. Nagler, Adam Parry, Michael Curschmann], — Paul Kiparsky: Oral poetry. In: Oral literature and the formula. Hg. v. Benjamin A. Stolz und Richard S. Shannon. Ann Arbor 1976, S. 73-125. — Joachim Latacz: Zur Einführung: Homer. In: DU 31.6 (1979), S. 5-23. -

Marianne von Lieres und Wilkau: Sprachformeln in der mittelhochdeutschen Lyrik bis zu Walther von der Vogelweide. München 1965. - Albert B. Lord: The singer of tales. Cambridge/Mass. 1960 [dt. 1965], - Michael Ν. Nagler: Spontaneity and tradition. Berkeley 1974. — Walter J. Ong: Orality and literacy. London u. a. 1982 [dt. 1987], — Oral-formulaic theory. Hg. v. John Miles Foley. New York, London 1990 [mit Beiträgen von Matija Murko, Albert B. Lord, Joseph J. Duggan, Walter J. Ong, Larry D. Benson, Michael N. Nagler, Alain Renoir], - Oral Poetry. Hg. v. Norbert Voorwinden und Max de Haan. Darmstadt 1979 [mit Beiträgen von Francis P. Magoun, Adrien Bonjour, Alain Renoir, Franz H. Bäuml, Hans Dieter Lutz]. — Friedrich Panzer: Märchen. In: Deutsche Volkskunde. Hg. v. John Meier. Berlin, Leipzig 1926, S. 219-262. The making of Homeric verse. The collected papers of Milman Parry. Hg. v. Adam Parry. Oxford 1971. - Paul Zumthor: Introduction à la poésie orale. Paris 1983. Christian

Schmid-Cadalbert

Formelhaftes Erzählen Erzählschema

Formgeschichte Methode der Literaturgeschichtsschreibung und der Analyse literarischer Texte. Expl: Die Formgeschichte untersucht den Wandel der Auffassungsformen bzw. Sehweisen von Wirklichkeit als Bedingungen von Sprache, Struktur und Gehalt einzelner Dichtungen oder der Dichtung ganzer Epochen. Sie ist zu unterscheiden von Formengeschichte (Geschichte von /" Gattungen oder /* Einfachen Formen) und widmet sich nicht der Beschreibung künstlerischer bzw. gattungsspezifischer Techniken. Sie ist Teil der /* Geistesgeschichte, vermeidet allerdings deren einseitige Ausrichtung auf Ideen oder Weltanschauungen in der Dichtung. Sie ist Stilgeschichte, da sie Form als individuell oder epochal typische Einheit von Gehalt und Gestalt in Dichtungen und als einen in Darstellung beschlossenen Sinnzusammenhang begreift. WortG: Die Prägung Formgeschichte (nach Formengeschichte bei Eduard Norden) ist

Formularbuch durch Martin Dibelius 1919 eingeführt worden als programmatische Bezeichnung für die Erforschung der Geschichte vor- bzw. ,unliterarischer' Gattungen. Martin Dibelius: Die Formgeschichte des Evangeliums. Tübingen 1919. — Eduard Norden: Agnostos Theos. Untersuchungen zur Formengeschichte religiöser Rede. Leipzig 1913.

BegrG: Komponenten des Konzepts,Formgeschichte' lassen sich bereits vor seiner Bildung nachweisen. Der zugrundegelegte Begriff Form entspricht demjenigen von Ernst Cassirers .Formenlehre des Geistes': Formen bilden den Gegenstand nicht ab, sondern konstituieren ihn für das Bewußtsein; Cassirer nennt sie auch „geistige Auffassungsweise", „Grundbegriffe", „Formprinzipien", „Kategorien", „innere Form"; sie sind das bedingende Gesetz des Aufbaus eines (künstlerischen) Gegenstands. Ein vorwissenschaftlicher Versuch, von Auffassungsformen und Geisteshaltungen einen Zugang zu typischen Gestaltungsweisen zu finden, ist Schillers Abhandlung ,Ueber naive und sentimentalische Dichtung' (1795/96). Sie führt zugleich eine polare Betrachtungsweise ein, die noch in Nietzsches Begriffspaar ,apollinisch' und ,dionysisch' wiederkehrt. Wölfflin durchbricht in ,Kunstgeschichtliche Grundbegriffe' das bipolare typologische Denken und setzt fünf Paare von Grundbegriffen für die Kunst des 16. und 17. Jhs. an. Mit der Unterscheidung zwischen Seh- bzw. Vorstellungsformen und den von diesen abhängigen Formen des Ausdrucks (der Darstellung) führt er Cassirers Denkansatz in die Kunstgeschichte und Analyse von Kunstwerken ein. Die Geschichte der Sehformen ist ihm Teil der allgemeinen Geistesgeschichte. In der Literaturwissenschaft fand Robert Petsch in den dichterischen Gattungen typische Geisteshaltungen und Grundeinstellungen gegenüber der Wirklichkeit. In Paul Böckmanns ,Formgeschichte der deutschen Dichtung' ist die typologische Darstellung von Formprinzipien zugunsten einer konsequent historischen aufgegeben. Ernst Cassirer: D a s Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit.

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Bd. 1. Berlin 1906. - E, C.: Philosophie der symbolischen Formen. 3 Bde. Berlin 1 9 2 3 - 2 9 . - Robert Petsch: Epische Grundformen. In: G R M 16 (1928), S. 3 7 9 - 3 9 9 . - R. P.: Wesen und Formen des Dramas. Halle 1945. - Heinrich Wölfflin: Kunstgeschichtliche Grundbegriffe. München 1915.

SachG: Paul Böckmann (1899-1987), Begründer und Repräsentant der Formgeschichte in der deutschen Literaturwissenschaft, hat in seiner unvollendet gebliebenen , Form geschieh te der deutschen Dichtung' den Stil der Literaturgeschichtsschreibung verändert. Ohne Vollständigkeit von Namen und Werktiteln anzustreben, werden die vom Mittelalter bis zum Sturm und Drang charakteristischen Auffassungsformen und Sprachhaltungen aufgezeigt: das Allegorische für das Mittelalter, das Satirische für das Spätmittelalter, das Parabolisch-Didaktische für das Barock, das Witzige für die Aufklärung, das SubjektivEmotionale für den Sturm und Drang. Schulbildend ist die Formgeschichte trotz vieler von Böckmann angeregten Arbeiten nicht geworden. Weiterwirkende Impulse wurden auch durch den Paradigmenwechsel in der Literaturwissenschaft seit 1968 nicht wirksam. ForschG: Eine eigentliche Forschung zur Formgeschichte gibt es nicht, obwohl deren Möglichkeiten nicht ausgeschöpft sind. Lit: Paul Böckmann: Formgeschichte der deutschen Dichtung. Bd. 1. München 1949. - P. B.: Formensprache. Studien zur Literarästhetik und Dichtungsinterpretation. Hamburg 1966. - Gerhard Kluge: Stilgeschichte als Geistesgeschichte. In: Neophilologus 59 (1975), S. 5 7 5 - 5 8 6 . Hans-Henrik Krummacher: Kolloquium zum 80. Geburtstag von Paul Böckmann. In: Schiller-Jb. 24 (1980), S. 4 5 2 - 4 5 7 .

Gerhard Kluge

Formularbuch Sammlung von Urkunden- und Briefmustern. Expl: Formularbücher enthalten Texte, die als Muster für Schriftsätze dienen, welche

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Formularbuch

rechtsverbindlichen Charakter bekommen, bestimmten kommunikativen Normen gehorchen oder besonderen stilistischen Ansprüchen genügen sollen. Der Begriff gilt im weiteren Sinne ohne zeitliche oder kulturelle Eingrenzung. Da aber den Formularbüchern die größte Bedeutung für die Entfaltung der Kanzleischriftlichkeit des europäischen Mittelalters zukommt und das wissenschaftliche Interesse beinahe ausschließlich diesem Zeitraum gilt, umfaßt der Begriff im engeren Sinne nur mittelalterliche Formularbücher. Sie können in unterschiedlichen Funktions- und Überlieferungszusammenhängen auftreten: (1) als obligatorisches oder fakultatives Richtmaß in einer Kanzlei zur Konstituierung einer gleichförmigen Urkunden- und Briefpraxis; (2) als Schulbuch zur Ausbildung von angehenden Schreibern; (3) als Beispielsammlung innerhalb einer / Ars dictandi oder Ars notariae, sei es als integraler Bestandteil oder in Überlieferungssymbiose. Die konkurrierende, vor allem im 19. Jh. dominierende Bezeichnung ist Formelbuch. Der Ausdruck Liturgisches Formular bezieht sich seit dem 9. Jh. auf zu sprechende oder zu singende Texte, die für den beispielhaften Ablauf eines Gottesdienstes zusammengefaßt wurden. WortG: Lat. formularius ,den Formeln zugehörig', abgeleitet von lat. formula .Formel', war die im Mittelalter übliche Bezeichnung für Mustersammlungen von Briefen und Urkunden. Der Ausdruck ging im 15. Jh. zunächst als formulari, später Formular bzw. Formularbuch in die deutsche Fachsprache der Schreiber und Kanzleibeamten ein. Formelbuch geht auf die römischrechtlich geprägte juristische Terminologie der frühen Neuzeit zurück. Formula war die feststehende, sich wiederholende Redewendung innerhalb eines juristischen Verfahrens und auch das Muster eines juristischen Schriftsatzes (FORMELI). In den frühen Editionen (17. Jh.) werden der juristischen Terminologie folgend die mittelalterlichen Formularbücher als formulae (ζ. Β. ,Formulae Lindenbrogianae' nach ihrem Herausgeber Lindenbrog) bezeichnet. Nachdem Formel

als Bezeichnung für Musterbrief oder -urkunde weitgehend von Formular verdrängt war, setzte die Diplomatik im 18. Jh. beide Ausdrücke zur Begriffsdifferenzierung ein. Aktuell gebräuchliche Mustersammlungen galten als Formular-, mittelalterliche dagegen als Formelbücher (Gruber, Hoffmann). In dieser Bedeutung hielt sich Formelbuch in der geschichtswissenschaftlichen Teminologie bis ins 20. Jh. Gregor Gruber: Lehrsystem einer allgemeinen Diplomatik vorzüglich für Österreich und Deutschland. 3 Bde. Wien 1783/84. - Gottfried D. Hoffmann: Vermischte Beobachtungen aus denen teutschen Staats-Geschichten und Rechten. III S. 179-204, IV S. 3 - 1 0 0 . Frankfurt, Leipzig 1762, 1764. - Caspar von Stieler: Der teutsche Advocat. Jena 1678. - Zedier 9, Sp. 1500-1515.

BegrG: Die heutige Begriffskonzeption von Formular ist nur bedingt auf das Mittelalter anwendbar. Die mittelalterliche Kanzlei war keinem festgefügten, bürokratischen Ablauf unterworfen und kannte dementsprechend auch keine offiziellen wortgetreu zu übertragenden Formulare. Meist aus der persönlichen Initiative einzelner Schreiber heraus entstanden, konnte ein Formularbuch vielfaltigen Zwecken dienen, ζ. B. als schematische Vorlage, unverbindliche Gedächtnisstütze, stilistische Mustersammlung oder als Schulbuch. Die begriffliche Unschärfe kommt in den zeitgenössischen uneinheitlichen Benennungen der Formularbücher zum Ausdruck, etwa einfach dictamina oder formularius bzw. summa curiae regis oder summa cancellariae. Die Abgrenzung zur reinen Brief- und Urkundensammlung ergibt sich aus dem Mustercharakter der Einzelstücke — spezifische Daten bleiben ausgespart — oder der systematischen Gliederung der Sammlung. SachG: Allgemein wird angenommen, daß bereits in der Antike Formularbücher angelegt wurden, von denen jedoch.nur spärliche Reste erhalten geblieben sind. Dagegen haben aus dem Frühmittelalter, fast ausschließlich aus den germanischen Machtbereichen, zahlreiche Formularbücher überdauert. Ostgotische Formularbücher: ,Variae' des Cassiodor aus der Zeit Theode-

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Fragment]

richs; ,Westgotische Formeln' (615-620) vorwiegend privatrechtlichen Inhalts; die ,60 Formulae Adevacensis', wohl Ende 6. Jh., die neben germanischrechtlichen zahlreiche Institutionen des Römischen Rechts enthalten; ,Marculfi formulae', Ende 7. Jh., die eine Reihe späterer Formularbücher beeinflußten. Im Hochmittelalter erschienen viele Formularbücher in Verbindung mit den neu aufgekommenen theoretischen Anleitungen zur Abfassung von Briefen und Urkunden, den Artes dictandi und Artes notariae; aber auch zahlreiche im Zusammenhang mit der Reichskanzlei oder der päpstlichen Kurie entstandene Sammlungen sind bekannt: aus der Kanzlei der ersten Staufer der ,Codex Udalrici'; aus der Kanzlei Friedrichs II. die sogenannte ,Briefsammlung des Petrus de Vinea'; aus der Kanzlei Rudolfs die ,Summa curiae Regis', die wesentlich das ,Baumgartenberger Formelbuch' beinflußte. Für die päpstliche Kanzlei wird die Verwendung von Formularen bereits seit dem 4. Jh. angenommen, doch entstand die früheste erhaltene Sammlung, der ,Liber provincialis', erst um 1230. Er wurde von dem ,Formularium audientie litterarum contradictarum' 1301 — 1303 abgelöst, das bis zu Beginn des 16. Jhs. in Gebrauch blieb. Stilistisch bedeutsame Sammlungen von Papstbriefen stammen von Thomas von Capua, Marinus von Eboli, Richard von Pofi und Berard von Neapel (13. Jh.). Im Spätmittelalter wird vor allem in der Kanzlei Karls IV. eine zunehmend einheitliche Verwendung von Formularvorlagen erkennbar. In Zusammenhang mit dieser Kanzlei entstand die bereits unter humanistischem Einfluß stehende ,Cancellarla Caroli IV' von Johannes von Neumarkt. Im 15. Jh. kamen auch deutschsprachige Lehrbücher zur Ausbildung von Schreibern auf, die ebenfalls einen umfangreichen Anhang von Brief- und Urkundenformularen enthalten, auf den im Titel eigens hingewiesen wird: ,Formulare und deutsch Rhetorica', Ulm ca. 1479. Diese Tradition reicht in den Bereichen institutionell geprägter Schriftlichkeit (Diplomatie, Recht, Verwaltung, Wirtschaft) bis in die Gegenwart, ohne daß sich die Forschung intensiv damit befaßt. Als rhetorische Musterbücher verloren die

Formularbücher seit der Frühen Neuzeit an Bedeutung und wurden in dieser Funktion u. a. von den f Briefstellern abgelöst. ForschG: Die historische Bedeutung der Formularbücher wurde schon früh erkannt. So lag die erste Edition der ,Marculfi Formulae' bereits 1613 vor. Da Formularbücher für die kritische Edition von Urkunden unentbehrliche Hilfsmittel darstellen, setzte die Forschung im 19. Jh. intensiv im Rahmen der .Monumenta Germaniae histórica' ein. Auf Entstehung und Bedeutung der deutschen Schreiberhandbücher und deren Verbindung mit frühhumanistischen Persönlichkeiten machte vor allem Joachimsohn aufmerksam. Lit: Harry Bresslau: Hb. der Urkundenlehre für Deutschland und Italien. 2 Bde. [Berlin 1912, 2 1931], Repr. Berlin 1968 f. - P. Csendes: Formel, -Sammlungen, -bûcher. In: LexMA 4, Sp. 646-654. - Peter Herde: Beiträge zum päpstlichen Kanzlei- und Urkundenwesen im 13. Jh. Kallmünz 21967. - Paul Joachimsohn: Aus der Vorgeschichte des .Formulare und deutsch Rhetorica'. In: ZfdA 37 (1893), S. 2 4 121. - Peter Johanek: Zur Geschichte der Reichskanzlei unter Friedrich Barbarossa. In: MIÖG 86 (1978), S. 27-45. - Walter Koch: Zur Sprache, Stil und Arbeitstechnik in den Diplomen Friedrich Barbarossas. In: MIÖG 88 (1980), S. 36-69. - Joh. Kretzschmar: Die Formularbücher aus der Canzlei Rudolfs v. Habsburg. Innsbruck 1889. — Ludwig Rockinger: Ueber Formelbücher vom 13. bis zum 16. Jh. als rechtsgeschichtliche Quellen. München 1855. - Leo Santifaller: Liber Diurnus. Studien und Forschungen. Hg. v. Harald Zimmermann. Stuttgart 1976. - Hans Martin Schaller: Zur Entstehung der sogenannten Briefsammlung des Petrus de Vinea. In: DA 12 (1956), S. 114-159. - H. M. S.: Die Kanzlei Kaiser Friedrichs II. In: Archiv für Diplomatik, Schriftgeschichte, Siegel- und Wappenkunde 3 (1957), S. 207-286; 4 (1958), S. 264-327.

Joachim Knape I Bernhard Roll

Fotoroman

Comic

Fragment} /" Aphorismus S Werk

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Fragment2

Fragment2 Bruchstück eines Textes. Expl: Bruchstück eines ursprünglich vollständigen Textes; allgemeiner ein Ausdruck f ü r unabgeschlossene Texte überhaupt, also auch solche, die es nie anders denn in unvollständiger Form gab. WortG/BegrG: Fragment ist Eindeutschung von lat. fragmen, fragmentum (von frangere ,zertrümmern, zerbrechen') und meint ursprünglich die nachträgliche Zerstörung einer gegebenen (textuellen) Einheit, in ausgeweiteter Wortbedeutung dann auch das Verfehlen solcher Einheit überhaupt oder den Verdacht darauf (Fragment!, ? Aphorismus, s Werk). In der Literaturwissenschaft allermeist unterminologisch gebraucht, hat das Wort keine profilierte Geschichte: Es dient zur Bezeichnung von Sachverhalten, die als überhistorisch selbstverständlich begriffen sind. Erst jüngst wird in der mediävistischen Forschung systematischer diskutiert, daß der Ausdruck geschichtlich variable Kategorien von Textualität impliziert. Dabei veranlaßt zumal die Einsicht, daß alle auf Ganzheit und Stabilität zielenden Textbegriffe mittelalterlicher Literatur gegenüber anachronistisch zu sein scheinen, sowie die Beobachtung des „overt character of medieval intertextuality" (Bruckner, 224) dazu, den Fragmentbegriff in einem terminologisch definierten Sinne auf nahezu jeden mittelalterlichen Text und darüber hinaus generell auf mündliche Dichtung anzuwenden. Damit bleibt indes ein Benennungsproblem für das, was im landläufigen Sinne Fragment hieß: Es wäre gegenüber der prinzipiellen Fragmentarizität des mittelalterlichen Textes diejenige der ihn archivierenden Schrift. Zu unterscheiden sind demnach zwei Begriffe: einer, der den stets offenen und beweglichen Einzeltext auf die Totalität der gesprochenen oder jedenfalls noch an die ,vocalité' (P. Zumthor) gebundenen Texte integrativ bezieht; ein zweiter, welcher eine gegebene Verschriftlichung von der möglichen Totalität der Verschriftlichung eines ,Textes' absetzt.

SachG: Fragmente sind in der Literaturgeschichte allgegenwärtig. Ihr Spektrum reicht von (ausweislich der Konzeption oder überlieferungsgeschichtlicher Daten) so gut wie vollständigen Texten, denen nur wenige Wörter, Sätze, Abschnitte fehlen, bis hin zu kleinsten Textresten, die nicht mehr einem einzelnen Werk, einem Œuvre, einer Gattung zugeordnet werden können. Das kann bis zum Totalverlust eines Textes oder Textcorpus gehen, auf dessen Existenz nur noch aus sekundärer Bezeugung geschlossen werden kann (Brunner). G r ü n d e für Fragmentarizität ergeben sich neben allen dem Verstehen unzugänglichen Zufällen (1) aus den Produktionsbedingungen, (2) aus den konzeptionellen Aporien und (3) aus den Rezeptionsbedingungen von Texten. Zu (1): Vorlagenverlust, Wechsel oder Verlust von Mäzen oder Auftraggeber, Verfall bzw. Änderung von Kommunikationszusammenhängen, Medienstrukturen oder Publikationsformen begegnen als ,äußere' Ursachen, welche vom Prozeß seiner Entstehung her einen Text fragmentarisieren können (Beispiele bei Bumke, 13 ff.). Daneben ist hier vor allem das Verstummen des Autors (,Schreibhemmungen', Tod) zu nennen. Zu (2): Z u m Abbruch eines Textes kann es aber auch kommen, weil sich etwa dessen Konzeption während des Produktionsprozesses als aporetisch, überkomplex oder uneinlösbar erweist. Erst im Nachweis solcher konzeptionellen G r ü n d e erschiene Fragmentarizität nicht als Zufallsprodukt, fügte sie sich hermeneutischen Rationalitätsstandards und einem die romantische Ästhetik beerbenden, nicht bloß technischen Fragmentbegriff. Zu (3): Rezeptionsgeschichtliche Fragmentarisierungen ergeben sich aus den Modi der Tradierung und Distribution von Texten, als Vergessen von Texten und Textteilen, Makulierung oder Verlust von Überlieferungsträgern, redigierende oder zensierende Eingriffe in den Text durch Tradenten (oder den Autor als dem ersten Tradenten seines Textes). ForschG: Allgemeine Kriterien, nach denen Fragmentarizität je gattungs- oder epochen-

hrauenliteratur spezifisch historisch k o n k r e t zu bestimmen wäre, existieren bislang o f f e n b a r nicht: Dies nicht allein wegen der Vielfältigkeit und jeweiligen Besonderheit des Überlieferten, sondern vor allem, weil j e d e r F r a g m e n t b e griff — nach der Beziehungsregel von Teil lind G a n z e m — S t a n d a r d s f ü r textuelle Vollständigkeit voraussetzt (die er f ü r den Einzelfall oft nur unterstellen, allenfalls sek u n d ä r b e g r ü n d e n kann). Diese S t a n d a r d s sind historisch variabel u n d beziehen sich sowohl auf die K o m p i e t i o n als a u c h auf die K o h ä r e n z von Texten. Beides ist im Falle narrativer G e n e r a schon im Mittelalter als Bedingung der Ν ¡cht-Frag menta rizität eines Textes artikulierbar (McGcrr), d o c h sind damit n o c h nicht auch die j e spezifischen Kriterien f ü r textuelle Kompietion und K o h ä r e n z expliziert. Anders gesagt: die F r a g e nach je historischer F r a g m e n t a rizität ist nur als F r a g e nach j e historischer Textualität f o r m u lierbar(Strohschneider). W ä h r e n d der u n terminologisch e Geb r a u c h des A u s d r u c k s Fragment einen Textbegriff impliziert, welcher Geschlossenheit des Textes sowie seine jeweilige Identifizierbarkeit u n d definite Abgrenzbarkeit gegenüber seinen Kon-Texten (Prätexte, Intertexte, Folgetexte etc.) konnotiert, versucht insbesondere Paul Z u m t h o r zu zeigen, d a ß .Text' einen prinzipiell anderen Status hat, solange er an Oralität (an Stimme u n d K ö r p e r des Sprechenden) g e b u n d e n ist. Dies ist grundlegend f ü r die Textualität von Texten des Mittelalters und öfters auch noch der (Frühen) Neuzeit: Z u m t h o r beschreibt sie als Elemente eines übergeordneten (grenzenlosen) Tradì ti o n sk on ti η u um s des Sprechens (Singens, Erzählens, Predigens usw.), welches ein immer wieder Neuund Weitersprechen ist. G e g e n ü b e r dieser Tradition verhält sich der aus der F o r schungsperspektive ¡denti tìzierba re Text als cinc von vielen und je p a r t i k u l a r e n Aktualisierungen, deren S t r u k t u r e n jeweils variabel (,mouvanee') und offen ( f r a g m e n t a r i s c h ) sind. I m Verhältnis zwischen dem Einzeltext u n d der Tradition aller Texte eines gegebenen literarischen Feldes läge d a n a c h die spezifische Alterität insbesondere mittelalterlicher Textualität. Z u m t h o r h a t die Aporien des unterminologischen A u s d r u c k s

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Fragment offengelegt, i n d e m er f ü r den Status solcher Texte die F o r m u l i e r u n g ,.textef r a g m e n t " f a n d ( Z u m t h o r 1978, 81). Lit: Karl Bertau: Über Literaturgeschichte. München 1983. — Matilda Tomaryn Bruckner: Intertextuality. In: The legacy of Chrétien de Troves. Bd. 1. Hg. v. Norris J. Lacy u. a. Amsterdam 1987, S. 223-265. - Horst Brunner: Dichter ohne Werk. In: Überlieferungsgeschichtliche Editionen und Studien zur dcutschcn Literatur des Mittelalters. Fs. Kurt Ruh. Hg. v. Konrad Kunze u.a. Tübingen 1989, S. 1-31. - Joachim Bumke: Mäzene im Mittelalter. München 1979. - Lucien Dällenbach, Christiaan L. Hart Nibbrig (Hg.): Fragment und Totalität. Frankfurt 1984. - Klaus Grubmüller: Gegebenheiten deutschsprachiger Text Überlieferung bis zum Ausgang des Mittelalters. In: Sprachgeschichte. Hg. v. Werner Besch u. a. Berlin, New York 1984. 1. Halbbd., S. 214-223. - Irene Hänsch: Mittelalterliche Fragmente und Fragmenttheoric der Moderne. In: Mitte la Iter-Rezept ¡o η TL Hg. v. Jürgen Kühne! u . a . Göppingen 1982, S. 4 5 - 6 1 . - Madeleine Jeay: Le texte médiéval. In: Texte 5/6 (1986/87), S. 279-300. Rosemarie P. McGerr: Medieval concepts of literary closure. In: Exemplaria 1 (1989), S. 149-179. - Jürgen Kühnel: Der .offene Text!. In: Akten des V. Internationalen Germanisten-Kongresses. Reihe A, Bd. 2.2. Hg. v. Leonard Forster und Hans-Gert Roloff. Bern, Frankfurt u.a. 1976. S. 311-321. - Hugo Kuhn: Versuch über das 15. Jh. in der deutschen Literatur. In: H. K.: Liebe und Gesellschaft. Hg. v. Wolfgang Walliezek. Stuttgart 1980, S. 135-155. - Viorica Nisçov: Das Fragment als Absicht und Durchführung, als Plurivalenz und Eindeuiigkeit. In: Romantik in Deutschland. Hg. v. Richard Brinkmann. Stuttgart 1978, S. 563-571. - Peter Strohschneider: Alternatives F.r7ählen. Habil München 1991 (masch.). — Max Wehrli: Im Schallen der Überlieferung. In: Beiträge 107 (1985), S. 82-91. - Paul Zumthor: Le texte-fragment. In: Langue française 40 (1978), S. 75-82. - P. Ζ.: Intertcxtualité et mouvance. In: Littérature 41 (1981), S. 8 - 16. P. Z.: The impossible closure of the oral texi. In: Yale French Studies 67 (1984), S. 25-42. - P. Z.: La lettre et la voix. Paris 1987. - P. Z.: Einführung in die mündliche Dichtung. Berlin 1990 [frz. 1983]. Peter

Strohschneider

Frauenliteratur Literatur v o n Frauen, besonders solche, die sich kritisch mit der E r f a h r u n g von F r a u e n auseinandersetzt.

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Frauenliteratur

Expl: Unter der emphatisch positiv oder negativ besetzten Bezeichung wird im weiteren Sinne die von Frauen verfaßte Literatur und im engeren Sinne jene Literatur von Frauen verstanden, die sich bewußt und kritisch mit der Erfahrung von Frauen auseinandersetzt. Insbesondere dient Frauenliteratur als Sammelbezeichnung für die Literatur von Frauen, die im Kontext der Neuen Frauenbewegung entstanden ist, wie sie sich nach 1968 konstituiert hat. Einen Konsens darüber, wie Frauenliteratur definiert werden kann, gibt es nicht. Die vielzitierte Formel „Literatur von, für und über Frauen" ist irreführend und unbrauchbar. Alle an diese Formel anschließenden Begriffsbestimmungen verwickeln sich in problematischen Festschreibungen und Ausgrenzungen — auch da, wo sie gerade diese durch Differenzierung zu vermeiden suchen. Die G r ü n d e für die besonderen Schwierigkeiten der Begriffsbestimmung liegen vor allem in der (Literaturgeschichte und -Wissenschaft gleichermaßen prägenden) Vorstellung davon, was ein /" Autor sei. Die behauptete geschlechtsneutrale Position des Autors ist dabei, wie die feministische Kritik gezeigt hat, eine Fiktion. Die Bildung eines Begriffes ,Männerliteratur' als Entgegensetzung zum Begriff , Frauenliteratur' ist schon deshalb nicht möglich, weil ein Autor qua Definition immer männlich ist. Die daraus resultierende „schwierige Autorschaft von Frauen" (Hahn) ist ζ. B. daran ablesbar, daß Frauen häufig unter männlichem Pseudonym veröffentlichten. Wo sie dies nicht taten, wurden sie häufig durch eine ganz spezifische Namengebung stigmatisiert (,Rahel', ,die Droste'), während für den männlichen Autor im Normalfall der Nachname zur Kennzeichnung genügt (,Goethe'). Diese schwierige Autorschaft stellt nicht nur eine subjektive Belastung für die einzelne Autorin und die weibliche Traditionsbildung insgesamt dar, sondern macht auch den Begriff , Frauenliteratur' zu einem merkwürdigen Paradox und Skandalon in einer männlich beherrschten Literatur- und Wissenschaftsgeschichte, das durch Definitionen nicht auflösbar ist. WortG/BegrG: Frauenliteratur setzt sich aus zwei Begriffen zusammen, die auf sehr un-

terschiedlichen, sich nach Meinung mancher Kritiker sogar ausschließenden Ebenen angesiedelt sind. Der Begriff /* Literatur wird dabei häufig gegen den Begriff ,Frauenliteratur' ausgespielt. Die diskriminierende Unterscheidung zwischen gichtiger' Literatur und ,bloßer Frauenliteratur' hat dazu geführt, daß gerade Autorinnen immer wieder gegen eine geschlechtsspezifische Definition von Literaturproduktion opponiert und sich dagegen gewehrt haben, unter der ausgrenzenden und ästhetisch abwertenden Kategorie , Frauenliteratur' subsumiert zu werden. Auch der Begriff ,Frauen' changiert in seinem Bedeutungsgehalt je nach Epoche und politischem oder wissenschaftlichem Standort. Ohne die Berücksichtigung gesellschaftlicher Strukturen und der jeweils herrschenden Diskurse über das „andere Geschlecht" (Beauvoir), den „weiblichen Lebenszusammenhang" (Prokop) und die „imaginierte Weiblichkeit" (Bovenschen) besteht die Gefahr, dem „Mythos F r a u " (Schaeffer-Hegel/Wartmann) zu erliegen und dessen vielfaltige und widersprüchliche „Projektionen und Inszenierungen im Patriarchat" unreflektiert in den Begriff ,Frauenliteratur' einzuschreiben. War mit Frauenliteratur im zeitgenössischen Diskurs zunächst einmal die Literatur von Frauen gemeint, die in den 1970er und 80er Jahren im Kontext der Neuen Frauenbewegung entstanden ist, so findet die Bezeichnung inzwischen Anwendung im Rahmen der gesamten Literaturgeschichte. Sie hat ältere Bezeichnungen wie dichtende Damen, Frauen der Feder oder Frauendichtung ersetzt und ist durch konkurrierende wie Literatur von Frauen, schreibende Frauen, Frauenautoren und weibliche Autoren in Bewegung geraten. Während G n ü g / M ö h r mann in ihrer ,Frauen Literatur Geschichte' (1985) den Begriff als „Orientierungsvokabel für alle von Frauen geschriebenen Texte" programmatisch beibehalten, Bekker-Cantarino ihrer Darstellung ,Der lange Weg zur Mündigkeit' (1987) den mehrdeutigen Untertitel ,Frau und Literatur' gibt und Brinker-Gabler für ihre zweibändige Literaturgeschichte die Bezeichnung .Deutsche Literatur von Frauen' (1988) wählt, verzichtet Weigel in ihrer literaturgeschichtlichen

Frauenliteratur Darstellung ,Die Stimme der Medusa' (1987) weitgehend auf den Begriff und favorisiert stattdessen die Formulierung „Schreibweisen von Frauen". Die „Gegenwartsliteratur von Frauen" wird verstanden als „diskursives Ereignis", das auf seine historischen Voraussetzungen und auf seine jeweiligen Funktionsweisen in der literarischen Öffentlichkeit hin zu untersuchen ist. SachG: Durch die ? Feministische Literaturwissenschaft ist die ältere weitverbreitete Vorstellung, daß Frauen für bestimmte Gattungen wie den Brief, die Lyrik, kürzere erzählende Prosa sowie für autobiographische Formen qua Geschlecht prädestiniert seien, in Frage gestellt und in ihren historischen und ideologischen Voraussetzungen kritisch hinterfragt worden. Tatsächlich haben Frauen zu allen Zeiten und in allen Gattungen geschrieben. Die dennoch zu beobachtende Konzentration von Autorinnen auf bestimmte Gattungen zu bestimmten Zeiten (ζ. B. Brief und Briefroman im 18. Jh., Erzählung und Unterhaltungsroman im 19. Jh., autobiographische ,Erfahrungstexte' nach 1968) erklärt sich aus den spezifischen Bedingungen, unter denen sie sich öffentliche R ä u m e erobern konnten. Neuere literaturgeschichtliche Darstellungen rekurrieren deshalb vor allem auf die „Orte, die für Frauen zu .Schreib-Räumen' werden konnten und weibliche Schreibversuche ermöglicht haben" (Gnüg/Möhrmann). Autorinnen tauchen in der deutschen Literaturgeschichte zuerst im Umkreis der Höfe und Klöster auf. Dabei spielt die sogenannte Frauenmystik, die sich im Kontext der religiösen Frauenbewegung im 12. und 13. Jh. entwickelte, eine besondere Rolle. Humanismus und Frühaufklärung mit ihren Bildungskonzepten, die auch Frauen betrafen, eröffneten neue öffentliche und halböffentliche Räume. Es entwickelte sich der Typus der .gelehrten Frau', der freilich nur eine kurze Zeit Gültigkeit als Ausnahmefigur besaß und bereits Mitte des 18. Jhs. vom neuen Typus der ,empfindsamen Frau' verdrängt wurde. Die Entstehung einer modernen, bürgerlich orientierten Literatur hatte für Frauen als Autorinnen wider-

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sprüchliche Konsequenzen: Auf der einen Seite wurden sie auf den Typus der empfindsamen Frau festgeschrieben, auf der anderen Seite ermutigte jedoch die f Empfindsamkeit als literarische Strömung Frauen zu eigener literarischer Produktion, die sich keineswegs immer in den empfindsamen Mustern erschöpfte. Im 18. Jh. sind Autorinnen nicht mehr vielbestaunte Ausnahmeerscheinungen, sondern nehmen zahlenmäßig so sehr zu, daß die Forschung noch heute mit ihrer lexikalischen Erfassung beschäftigt ist. Freilich konnten nur wenige Autorinnen (hierin ihren männlichen Kollegen vergleichbar) von ihren Einnahmen leben — und wenn, dann nur, wenn sie Zugeständnisse an den Publikumsgeschmack machten. Der Vorwurf des Dilettantismus und der Trivialität, der von der damaligen und heutigen Kritik den schreibenden Frauen gegenüber erhoben wurde, trifft ungeachtet der Herablassung, die darin zum Ausdruck kommen mag, einen wichtigen Kern: Tatsächlich fehlten den Frauen im allgemeinen die Bildungsvoraussetzungen, die psychische Konstitution und die materielle Ausstattung, die zur Durchsetzung auf dem sich ausbildenden literarischen Markt notwendig waren. Das gilt ζ. T. auch für die Frauen, die im Rahmen der romantischen Salonkultur zu Beginn des 19. Jhs. eine wichtige Rolle spielten. Auch wo sie den Männern an Bildung überlegen waren, scheuten sie sich, ihren Anspruch auf Autorschaft öffentlich zu vertreten. In den Salons und literarischen Zirkeln des späten 18. und frühen 19. Jhs. entstand eine ,Frauenkultur', in der nicht nur neue literarische Formen, sondern auch neue Formen der Beziehung zwischen den Geschlechtern entstanden. Dabei waren die von den Frauen geprägten Salons Kristallisationspunkte für moderne Tendenzen und zugleich Fluchtpunkte f ü r die nach Revolution und bürgerlicher Umwälzung desillusionierte Intelligenz. Die Entstehung einer eigenen Frauenbewegung im Umfeld der revolutionären Bewegungen der Vormärz-Zeit schuf dann auch in Deutschland den Rückhalt für die Herausbildung einer kämpferischen Emanzipationsliteratur und führte zu den Ent-

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Frauenliteratur

w ü r f e n d e r , N e u e n F r a u ' , die d u r c h den 1. W e l t k r i e g kurzzeitig z u r ü c k g e d r ä n g t w u r d e n , u m in d e r W e i m a r e r R e p u b l i k in u n t e r schiedlichen politischen u n d literarischen K o n t e x t e n radikalisiert u n d a u s d i f f e r e n z i e r t zu w e r d e n . F a s c h i s m u s u n d Exil stellten d a n n einen B r u c h dar, d e r sich f ü r die s c h r e i b e n d e n F r a u e n als n o c h f o l g e n r e i c h e r erweisen sollte als f ü r ihre m ä n n l i c h e n K o l legen. D i e Z e r s c h l a g u n g d e r F r a u e n k u l t u r , die sich in e i n e m ü b e r J a h r h u n d e r t e reic h e n d e n m ü h s a m e n , v o n B r ü c h e n u n d Diskontinuitäten geprägten Prozeß herausgebildet h a t t e , e r f o l g t e so g r ü n d l i c h , d a ß ein A n k n ü p f e n a n die e m a n z i p a t o r i s c h e n T r a d i t i o n e n d e r Vorkriegszeit f ü r s c h r e i b e n d e F r a u e n n a c h 1945 n u r m i t g r o ß e r Verzöger u n g m ö g l i c h w a r . E r s t d u r c h die S t u d e n t e n b e w e g u n g u n d die n e u e n t s t e h e n d e F r a u e n b e w e g u n g e n t w i c k e l t e sich in d e n 1970er J a h r e n j e n e L i t e r a t u r , die e m p h a t i s c h als Frauenliteratur bezeichnet w u r d e . Sie w a r so g r ü n d l i c h v o n ihren politischen u n d literarischen Traditionen abgeschnitten, d a ß diese erst in e i n e m m ü h e v o l l e n P r o z e ß zurückerobert werden mußten. Barbara Becker-Cantarino (Hg.): Die Frau von der Reformation zur Romantik. Bonn 1980. Christa Bürger: Leben schreiben. Die Klassik, die Romantik und der Ort der Frauen. Stuttgart 1990. - Ch. Β. (Hg.): Literatur und Leben. Stationen weiblichen Schreibens im 20. Jh. Stuttgart 1996. - Godele von der Decken: Emanzipation auf Abwegen. Frauenkultur und Frauenliteratur im Umkreis des Nationalsozialismus. Frankfurt 1988. - Peter Dinzelbacher, Dieter Bauer (Hg.): Frauenmystik im Mittelalter. Ostfildern 1985. Frauen im Exil. Internationales Jb. der Exilgesellschaft. Bd. 10. München 1993. - Ruth-Esther Geiger, Sigrid Weigel (Hg.): Sind das noch Damen? Vom gelehrten Frauenzimmer-Journal zum feministischen Journalismus. München 1981. Marlies Gerhardt: Stimmen und Rhythmen. Weibliche Ästhetik und Avantgarde. Darmstadt, Neuwied 1986. - Elisabeth Gössmann (Hg.): Das wohlgelahrte Frauenzimmer. München 1984. Deborah Hertz: Die jüdischen Salons im alten Berlin. Frankfurt 1991. - Dagmar von Hoff: Dramen des Weiblichen. Deutsche Dramatikerinnen um 1800. Opladen 1989. - Eva Kammler: Zwischen Professionalisierung und Dilettantismus. Romane und ihre Autorinnen um 1800. Opladen 1992. - Susanne Kord: Ein Blick hinter die Kulissen. Deutschsprachige Dramatikerinnen

im 18. und 19. Jh. Stuttgart 1992. - S. K : Sich einen Namen machen. Anonymität und weibliche Autorschaft 1700-1900. Stuttgart, Weimar 1996. - Renate Kroll, Silke Wehmer (Hg.): Bibliographie der deutschsprachigen Frauenliteratur. Pfaffenhofen 1995. - Irmela von der Lühe (Hg.): Entwürfe von Frauen in der Literatur des 20. Jhs. Berlin 1982. - Bea Lundt: Auf der Suche nach der Frau im Mittelalter. München 1991. - Helga Meise: Die Unschuld und ihre Schrift. Deutsche Frauenromane im 18. Jh. Berlin u . a . 1983. Helga Möbius: Die Frau im Barock. Stuttgart u . a . 1982. - Renate Möhrmann: Die andere Frau. Emanzipationsansätze deutscher Schriftstellerinnen im Vorfeld der 48er Revolution. Stuttgart 1977. - Ulrike Prokop: Die Illusion vom großen Paar. 2 Bde. Frankfurt 1991. Elsbeth Pulver, Sybille Dallach: Zwischenzeiten. Schriftstellerinnen der deutschsprachigen Schweiz. Zürich 1985. - Anita Runge, Liselotte Steinbrügge (Hg.): Die Frau im Dialog. Studien zur Theorie und Geschichte des Briefes. Stuttgart 1991. - Hannelore Sachs: Die Frau in der Renaissance. Wien, München 1971. - Heide Soltau: Trennungs-Spuren. Frauenliteratur der 20er Jahre. Frankfurt 1984. - Inge Stephan, Sigrid Weigel (Hg.): Die Marseillaise der Weiber. Frauen, die Französische Revolution und ihre Rezeption. Berlin, Hamburg 1989. - Anne Stürzer: Dramatikerinnen und Zeitstücke. Ein vergessenes Kapitel der Theatergeschichte von der Weimarer Republik bis zur Nachkriegszeit. Stuttgart 1993. - Petra Wilhelmy: Der Berliner Salon im 19. Jh. (1790-1914). Berlin, New York 1989. Heide Wunder, Christina Vanja (Hg.): Wandel der Geschlechterbeziehungen zu Beginn der Neuzeit. Frankfurt 1991. ForschG: D i e E r f o r s c h u n g d e r . F r a u e n l i t e r a t u r ' u n t e r s c h e i d e t sich in i h r e r Orientier u n g seit d e n 1970er J a h r e n g r u n d l e g e n d v o n älteren U n t e r s u c h u n g e n z u r , F r a u e n dichtung'. Die Suche nach verschollenen Autorinnen und verschütteten Traditionslinien h a t sich n i c h t n u r intensiviert, s o n d e r n es ist i m R a h m e n d e r W i e d e r e n t d e k kung und Neubewertung von Autorinnen u n d i h r e r W e r k e a u c h zu einer K o r r e k t u r des h e r r s c h e n d e n K a n o n s , z u r E r w e i t e r u n g des L i t e r a t u r b e g r i f f s u n d zu einer A u s e i n a n dersetzung mit den Voraussetzungen und M e t h o d e n d e r L i t e r a t u r w i s s e n s c h a f t gek o m m e n . N a c h eher tastenden Anfangen, die sich in T i t e l f o r m u l i e r u n g e n wie „ G e s t a l tet u n d g e s t a l t e n d " (1979), „ H e l d i n u n d A u t o r i n " (1980), „ D i e v e r b o r g e n e F r a u "

Freie Rhythmen

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(1983) niederschlugen, steuerte die Diskussion sehr schnell auf die Frage zu, ob und wenn ja, wie sich die literarische Produktion von Frauen von der von Männern unterscheide bzw. unterscheiden lasse. Durch die Rezeption angloamerikanischer Arbeiten (Showalter, Gilbert/Gubar), die Aufnahme der amerikanischen genderDiskussion (/" Gender studies) und der französischen Ansätze zur ,écriture féminine' (Irigaray, Cixous, Kristeva), die Auseinandersetzung mit Psychoanalyse und Poststrukturalismus (Lacan, Foucault, Derrida) und die interdisziplinäre Öffnung zur Geschichte, Philosophie und Kunstgeschichte hin erweiterte und komplizierte sich die Frage nach einer ,weiblichen Ästhetik'. Neben eher rekonstruierenden Arbeiten, die dem Projekt einer ,Frauen-Literatur-Geschichte' emphatisch oder auch kritisch modifizierend zuarbeiten, stehen dekonstruktivistisch verfahrende Arbeiten, die durch die Infragestellung autonomer Subjektkonzeptionen die festen Vorstellungen von Weiblichkeit' und ,Männlichkeit' unterlaufen.

Frankfurt 1991. - Renate Hof: Die Grammatik der Geschlechter. Frankfurt 1994. - Wolfgang Paulsen (Hg.): Die Frau als Heldin und Autorin. Bern, München 1979. - Querelles. Jb. f. Frauenforschung. 1996 ff. - Ina Schabert, Barbara Schaff (Hg.): Autorschaft, Genus und Genie in der Zeit um 1800. Berlin 1994. - Barbara Schaeffer-Hegel, Brigitte Wartmann (Hg.): Mythos Frau. Berlin 21984. - Ingeborg Weber: Weiblichkeit und weibliches Schreiben. Poststrukturalismus. Weibliche Ästhetik. Kulturelles Selbstverständnis. Darmstadt 1994. - Inge Stephan, Sigrid Weigel: Die verborgene Frau. Berlin 1983. - Birgit Wägenbauer: Die Pathologie der Liebe. Literarische Weiblichkeitsentwürfe um 1800. Berlin 1996. - Sigrid Weigel: Die Stimme der Medusa. Schreibweisen in der Gegenwartsliteratur von Frauen. Dülmen-Hiddingsel 1987.

Lit: Lexika: Gisela Brinker-Gabler (Hg.): Deutsche Dichterinnen vom 16. Jh. bis zur Gegenwart. Frankfurt 1980. - G. B.-G. u. a.: Lexikon deutschsprachiger Schriftstellerinnen 1800—1945. München 1986. - Elisabeth Friedrichs: Die deutschsprachigen Schriftstellerinnen des 18. und 19. Jhs. Stuttgart 1981. - Jean M. Woods, Maria Fürstenwald: Schriftstellerinnen, Künstlerinnen und gelehrte Frauen des deutschen Barock. Stuttgart 1984. Simone de Beauvoir: Das andere Geschlecht [1951], Reinbek 1976. - Barbara Becker-Cantarino: Der lange Weg zur Mündigkeit. Frau und Literatur (1500-1800). Stuttgart 1987. - Silvia Bovenschen: Die imaginierte Weiblichkeit. Frankfurt 1979. - Gisela Brinker-Gabler (Hg.): Deutsche Literatur von Frauen. 2 Bde. München 1988. - Marianne Burkhard (Hg.): Gestaltet und gestaltend. Frauen in der deutschen Literatur. Amsterdam 1980. - Hadumod Bußmann, Renate Hof (Hg.): Genus. Zur Geschlechterdifferenz in den Kulturwissenschaften. Stuttgart 1995. - Judith Butler: Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt 1991. - J. B.: Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts. Berlin 1995. - Hiltrud Gnüg, Renate Möhrmann (Hg.): Frauen Literatur Geschichte. Stuttgart 1985. - Barbara Hahn: Unter falschem Namen. Von der schwierigen Autorschaft der Frauen.

Expl: Freie Rhythmen sind reimlose Verse ohne einheitliche metrische Bindung und feste strophische Ordnung, die sich in freier Variation auf antike bzw. antikisierende Versmaße (vor allem s Oden-Maße) beziehen und einzelne Versfüße — oft von Vers zu Vers wechselnd — neu kombinieren. Gedichte in Freien Rhythmen sind durch hymnischen Stil gekennzeichnet. Die Orientierung an klassischen Versmaßen und der hohe Stil unterscheiden Freie Rhythmen von Freien Versen.

Inge Stephan

Freie Rhythmen Reimlose Verse unterschiedlicher Länge mit freier Hebungs- und Senkungszahl.

WortG: Das Syntagma Freie Rhythmen (fast ausschließlich in pluralischer Verwendung) ist analog zu frz. vers libre gebildet und wird in Deutschland seit der 2. Hälfte des 19. Jhs. verwendet, zunächst ohne Bedeutungsunterschied zu Freie Verse. Das Adjektiv freirhythmisch ist eine jüngere Bildung des 20. Jhs. BegrG: Die anfängliche Irritation über Klopstocks verstechnische Neuerung freirhythmischer Gedichte spiegelt sich in dem Bemühen seiner Zeitgenossen, die bislang unbekannten Formen im Rückgriff auf be-

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Freie Rhythmen

kannte Begriffe zu beschreiben. Klopstock selbst nannte seine Gedichte in Freien Rhythmen Dithyramben bzw. bezeichnete sie (in der Erläuterung zu seinem Gedicht .Genesung') als „Oden, welche in jeder Strophe das Silbenmaß verändern". Lessing betonte die vermeintliche Nähe zur Prosa und verwandte in seinem 51. ,Literaturbrief die Umschreibungen prosaisches Silbenmaß und Quasimetrum. Goethe bezeichnete seine ersten Gedichte in Freien Rhythmen als Oden, später wählte er die Bezeichnung Hymnen und Dithyramben; Hölderlin nannte seine freirhythmischen Gedichte Gesänge. Die Beliebtheit Freier Rhythmen in der Epoche des Sturm und Drang veranlaßte die spätere Klassifizierung als ,Genievers'. Daneben wurden Freie Rhythmen auch als eigenrhythmische Verse (Beißner) oder als freie, eigengesetzliche Rhythmen (Storz) bezeichnet. Friedrich Beißner: Vom Baugesetz der vaterländischen Gesänge. In: F. B.: Hölderlin. Reden und Aufsätze. Köln, Wien 21969, S. 14-161. - Friedrich Gottlieb Klopstock: Oden. Hg. von Franz Muncker und J. Pawel. Bd. 1. Stuttgart 1889. Gerhard Storz: Der Vers in der neueren deutschen Dichtung. Stuttgart 1970.

SachG: Freie Rhythmen wurden von Klopstock in die deutsche Verssprache eingeführt. Diese folgenreiche Neuerung steht in engem Zusammenhang mit seiner Odendichtung, die in Nachahmung antiker Vorbilder bereits weder Reim noch strenge Alternation kannte. Klopstocks seit 1754 entstandene hymnisch-enthusiastische Gedichte verzichten darüber hinaus auf eine vorgegebene metrische Ordnung und auf einheitliche strophische Gliederung, so daß die Gestalt einzelner Verse und Versgruppen nicht mehr vorhersagbar ist. Klopstock selbst verwies auf das Vorbild Pindars, daneben gaben auch die biblische Psalmendichtung und die Prosa des vermeintlichen Ossian Beispiele für die flexible Rhythmisierung der dichterischen Sprache. Die freirhythmischen Hymnen des jungen Goethe sind insgesamt gleichmäßiger als diejenigen Klopstocks gebaut; zwei- und dreihebige Verse überwiegen. Klopstocks Freie Rhythmen sind häufig nachträglich (d. h. bei Überarbeitung für die Oden-Ausgabe von

1771) in vierzeilige Versgruppen unterteilt, Hölderlins Gedichte in Freien Rhythmen (die sogenannten ,Späten Hymnen') haben in Anlehnung an Pindar überwiegend triadischen Bau. Im 19. und 20. Jh. finden sich Freie Rhythmen u. a. bei Nietzsche (,Dionysos-Dithyramben') und Rilke (,Duineser Elegien'); bei Novalis (,Hymnen an die Nacht'), Heine (,Nordseebilder') und Mörike (.Peregrina') ist der hymnische Ton schwächer ausgeprägt. Die zunehmende Annäherung Freier Rhythmen an einen prosanahen Ton kennzeichnet den fließenden Übergang zu Freien Versen, die in der Dichtung des 20. Jhs. überwiegen. ForschG: Seit ihrer Einführung in der Mitte des 18. Jhs. sind vor allem die formalen Neuerungen der Freien Rhythmen Gegenstand literaturwissenschaftlicher Forschung. Kontrovers war unter Klopstocks Zeitgenossen die Klassifizierung Freier Rhythmen als Lyrik (z. B. Herder) oder als Prosa (z. B. Lessing); diese Diskussion wurde bis ins 20. Jh. weitergeführt. Vor allem die ältere Forschung bemühte sich um eine historische Erklärung der Entstehung Freier Rhythmen und versuchte, ihre Herkunft aus bekannten Formen hauptsächlich antiker oder biblischer Poesie abzuleiten. Jünger ist der Versuch, die Genese Freier Rhythmen mit gesellschaftlichen Veränderungen in Verbindung zu bringen und in ihnen eine kritische Haltung gegenüber absolutistischer Ordnung gespiegelt zu sehen (Breuer). Einen weiteren Schwerpunkt der Beschäftigung mit Freien Rhythmen bilden detaillierte metrische und rhythmische Untersuchungen zum Werk einzelner Autoren. Die vereinzelten Versuche, für bestimmte Gedichte in Freien Rhythmen ein einheitliches Metrum zu rekonstruieren, übersehen gerade das Charakteristische dieser Versart (z. B. Borchardts Analyse von Hölderlins ,Hälfte des Lebens' als „Skizze zu einer Ode"). Angesichts der im Laufe des 20. Jhs. stark zunehmenden Zahl von reimlosen Gedichten, die sich weder an klassischen Maßen orientieren noch hymnisch gestimmt sind, wurde die Unterscheidung von Freien Rhythmen, Freien Versen und rhythmischer Prosa entwickelt (/" Prosagedicht).

Freie Verse Rudolf Borchardt: Ewiger Vorrat deutscher Poesie. München 1926. — Dieter Breuer: Deutsche Metrik und Versgeschichte. München 2 1991. Johann Gottfried Herder: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. In: J. G. H.: Sämmtliche Werke. Hg. von Bernhard Suphan. Bd. 1. Berlin 1877, S. 1 3 9 - 2 4 0 . Lit: Leif Ludwig Albertsen: Die freien Rhythmen. Aarhus 1971. - Louis Benoist-Hanappier: Die freien Rhythmen in der deutschen Lyrik. Halle 1905. - Ernst Busch: Stiltypen der deutschen freirhythmischen Hymne aus dem religiösen Erleben. Frankfurt 1934. - August Closs: Die freien Rhythmen in der deutschen Lyrik. Bern 1947. - Ernst Elster: Das Vorbild der freien Rhythmen Heinrich Heines. In: Euphorion 25 (1924), S. 6 3 - 8 6 . - Horst Enders: Stil und Rhythmus. Studien zum freien Rhythmus bei Goethe. Marburg 1962. - Adolf GoldbeckLoewe: Zur Geschichte der freien Verse in der Deutschen Dichtung. Kiel 1891. Karin M. Kohl: Rhetoric, the Bible, and the origins of free verse. Berlin, New York 1990. - Eduard Lachmann: Hölderlins Hymnen in freien Strophen. Frankfurt 1937. - Bert Nagel: Der freie Vers in der modernen Dichtung. Göppingen 1989. - Christian Wagenknecht: Deutsche Metrik. München 3 1993, S. 9 2 - 9 8 .

Sabine Doering

Freie Verse Versrede ohne metrische Regelung. Expl: (1) Verse entweder ganz ohne oder wenigstens ohne durchgehende fuß- und reimmetrische Bindung und Strophenmaß. Zwei andere Bedeutungen des Begriffs, die verwandte Phänomene bezeichnen, haben sich nicht durchsetzen können: (2) Freie Verse als .Madrigalverse', also als gereimte, meist trochäische oder jambische Verse von unterschiedlicher Länge und Hebungszahl (s Madrigal)·, (3) Freie Verse als /" Freie Rhythmen. WortG: Der dt. Ausdruck Freie Verse ist eine Übersetzung des frz. vers libres, wie er vor allem im letzten Drittel des 19. Jhs. von den Symbolisten (etwa Gustave Kahn in seinem Essay ,Sur le vers libre') verwendet wurde. Er hat Entsprechungen in allen

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wichtigen europäischen Literatursprachen (vgl. engl, free verse, span, versos libres, port, versos livres, ital. versi liberi). Im Deutschen ist der Ausdruck gegen Ende des 19. Jhs. aufgekommen, allerdings noch im Sinn von ,Freie Rhythmen' (vgl. GoldbeckLöwe); durchgesetzt hat er sich aber erst nach dem 2. Weltkrieg: Noch Kayser verwendet ihn in seiner ,Geschichte des deutschen Verses' im Sinne von ,Madrigalvers' (Kayser, 44). Adolf Goldbeck-Löwe: Geschichte der freien Verse in der deutschen Dichtung von Klopstock bis Goethe. Diss. Kiel 1891. - Wolfgang Kayser: Geschichte des deutschen Verses. München 1960.

BegrG: Weitgehend gleichbedeutend mit ,Freie Verse' sind vor allem bis zur Mitte des 20. Jhs. einige konkurrierende Ausdrücke zumeist von Autoren verwendet worden. So sprach Arno Holz in seinen poetologischen Schriften seit Revolution der Lyrik' (1898/99) von „natürlichen" oder „notwendigen Rhythmen"; Brecht von „reimloser Lyrik mit unregelmäßigen Rhythmen". Dementsprechend verwenden auch Metriker, wenn sie ,Freie Verse' meinen, gelegentlich Ausdrücke wie „unregelmäßige Rhythmen mit freier Takt- und Zeilenfüllung" (Schultz) oder „eigenrhythmische Lyrik" (Birkenhauer). In anglistischen Untersuchungen ist gelegentlich auch vom „Freivers" die Rede (Em). SachG: Der Begriff ,Freie Verse' wird ausschließlich zur Beschreibung moderner Gedichte seit dem späten 19. Jh. verwendet. Das erste Werk der deutschen Literatur in Freien Versen ist der ,Phantasus' von Arno Holz in der 2. Fassung (1898/99). Das Prinzip dieser durchweg ungereimten, nur dem natürlichen Wort- und Satzakzent der Prosa folgenden, insgesamt achsensymmetrisch angeordneten Verse hat ihr Autor auf die Formel „Rhythmik statt Metrik" gebracht. Typisch für solche Freien Verse ist die Annäherung an die Prosa insbesondere der gesprochenen Sprache. In ihnen kommt der Pause eine wichtige Funktion zu (vgl. auch Deinert): rhythmisch als Mittel einer eigenen, d. h. nicht oder nicht nur syntaktisch motivierten Gliederung der Rede; semantisch als Mittel der Hervorhebung sinntra-

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Frühe Neuzeit

gender Wörter und der Pointierung. Das erklärte Gestaltungsprinzip freier Versgestaltung schon bei Holz ist die Einheit von Form und Inhalt, die eine Absage an jede (metrisch) schematische Form einschließt. Freie Verse finden sich später vor allem im Umkreis der expressionistischen Lyrik, etwa bei Else Lasker-Schüler oder August Stramm. Neue Impulse hat die freie Versgestaltung dann bei Brecht erhalten, vor allem in seinen seit der 2. Hälfte der 20er Jahre und im Exil entstandenen Texten (wie den ,Svendborger Gedichten'): etwa durch den Wechsel von langen und kurzen Zeilen oder die nicht selten a-syntaktische Segmentierung der Rede und die akzentuierende Plazierung von adversativen Konjunktionen am Versanfang oder -ende. Brechts Gedichte in Freien Versen sind auch formal zum Vorbild für spätere gesellschaftskritische Lyrik geworden, zumal die Hans Magnus Enzensbergers, Wolf Biermanns, Reiner Kunzes oder Erich Frieds. Eigene Wege ist dagegen Paul Celan gegangen, besonders mit seiner extremen, staccato-artig wirkenden Verkürzung der Zeilen, durch die das von Holz bis Brecht befolgte Prinzip der Annäherung an die gesprochene Sprache zugunsten einer neuen poetischen Künstlichkeit des Rhythmus weitgehend aufgegeben wurde. ForschG: Die Freien Verse sind, als nicht mehr metrisch regulierte, von Metrikern lange Zeit (z. T. noch heute) mißachtet worden. Ihre historische Bedeutung ist zumeist in Arbeiten zur Geschichte der modernen Lyrik erkannt worden (Schultz, Lamping 1991 und 1993). Eine erste Typologie aus metrischer Sicht hat Wagenknecht versucht, indem er drei Arten der freien Versgestaltung unterschieden hat: einen Typus, der „frei an wechselnde Muster der herkömmlichen Versdichtung anknüpft", im Unterschied zu den Freien Rhythmen aber nicht an antike Odenmaße; einen zweiten Typus, der durch unregelmäßige Rhythmisierungen gekennzeichnet ist; und einen dritten Typus, der nicht mehr an herkömmliche metrische Muster a n k n ü p f t und, als „Prosaische Lyrik", folglich auch nicht mehr mit den Begriffen der Metrik zu beschreiben ist

(Wagenknecht, 101 f.). Im Anschluß an eine solche weiter differenzierbare Typologie ist die Überlegung angestellt worden, ob Freier Vers ein „Familienähnlichkeitsbegriff" im Sinne Wittgensteins sei (Lamping 1991). — Differenzierte Kriterien für die Bewertung von Freien Versen sind bislang noch k a u m entwickelt worden; wenig überzeugend bleibt eine pauschale, an einem konservativen Formbegriff orientierte Kritik des Freien Verses als eines Beispiels für „Verszerfall" (Frey/Lorenz). Lit: Klaus Birkenhauer: Die eigenrhythmische Lyrik Bertolt Brechts. Tübingen 1971. - Wilhelm Deinert: ,Ist das noch ein Vers?' Tractatus metrico-poeticus. Über den freien Vers und seine Abkömmlinge. In: Literaturwissenschaftliches Jb. 24 (1983), S. 317-334. - Lothar Em: Freivers und Metrik. Diss. Freiburg i.Br. 1968. Hans-Jost Frey, Otto Lorenz: Kritik des freien Verses. Heidelberg 1980. - Harald Fricke: Moderne Lyrik als Normabweichung. In: Lyrik Erlebnis und Kritik. Hg. v. Lothar Jordan u. a. Frankfurt 1988, S. 171-185. - Rolf Kloepfer: Vers libre - Freie Dichtung. In: LiLi 3 (1971), S. 81 -106. - Dieter Lamping: Zu den Anfängen von Brechts Lyrik in freien Versen. In: WW 40 (1990), S. 67-73. - D. L.: Moderne Lyrik. Göttingen 1991. - D. L.: Das lyrische Gedicht. Göttingen 21993, S. 180-196. - Hartwig Schultz: Vom Rhythmus der modernen Lyrik. München 1970. - Christian Wagenknecht: Deutsche Metrik. München 1981. Dieter

Lamping

Fruchtbringende Gesellschaft Barock S Literarische

Gesellschaft

Frühdruck ? Inkunabel

Frühe Neuzeit Mehrere Literaturepochen überspannender Begriff aus der Allgemeinen Geschichte, etwa vom 16. bis gegen Ende des 18. Jhs. Expl: Das Konzept ,Frühe Neuzeit' (Frühneuzeit) umfaßt Prozesse längerer Dauer

Frühe Neuzeit

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zwischen zwei Wendezeiten: dem Beginn der ,Neuzeit' am Ausgang des ,Spätmittelalters' (mit unterschiedlicher, kontroverser Datierung zwischen dem 14. Jh. und um 1500) und der Industriellen bzw. der Französischen Revolution im späten 18. Jh., also den Prozeß der Konstituierung und Etablierung der Moderne. Unter Aspekten der Bildungsgeschichte und der literarischen Kultur hat man auch von einem humanistischen Zeitalter ,νοη Petrarca bis Goethe' gesprochen (Cantimori). ,Frühe Neuzeit' umfaßt die konventionellen Epochenkonstrukte (Renaissance-) Humanismus2, /" Reformation, s Gegenreformation und ,Konfessionalismus', Barock und Aufklärung weiterhin. Sie werden von dem übergreifenden Konzept nicht entwertet oder aufgelöst, wohl aber durch die Identifizierung durchlaufender Entwicklungen enger miteinander verbunden. Dient ,Frühe Neuzeit' zur Binnengliederung von .Neuzeit', so lassen sich die älteren Epochenbegriffe ihrerseits zur internen Gliederung der Frühen Neuzeit verwenden. Annähernd synonym, jedoch seltener sind Bezeichnungen wie Alteuropa, Protoneuzeit und Frühmoderne.

und der Akzentuierung einzelner Teilepochen bzw. Jahrhunderte. (1) Der Begriff der Neuzeit ist das Ergebnis schon der frühhumanistischen Kritik an der sogenannten Scholastik und der Kultur der voraufgegangenen Jahrhunderte, unter deren dogmatischer Herrschaft der lebendige Geist der Antike ins Dunkel des Vergessens geraten sei, wie Petrarca klagte (Koenigsberger, 9). Die ,neue Zeit' der Renaissance und der studia humanitatis beansprucht, die Antike wieder in das ihr gebührende strahlende Licht zu setzen und mit der .Barbarei' des,mittleren Zeitalters' (medium aevum) ein Ende zu machen. Dieses bildungs- und traditionskritische Schema wird in Deutschland erst im späten 17. Jh. zu der universalgeschichtlichen Epochentrias (Mieck, 357), die die alte Periodisierung nach ,Weltaltern' oder einer Gottes Ratschluß gehorchenden Abfolge von Reichen' (translatio imperii - nach der maßgeblichen Quelle in der Deutung des Traumes Nebukadnezars im Buch Daniel des AT) vollends ablöst. Bahnbrechend („so beiläufig wie erfolgreich": Koselleck, 275) ist Christoph Cellarius in Halle (1683). Oestreich (325) verweist auf Lipsius (die umfassenden Belege bei Koselleck).

WortG: In der Allgemeinen Geschichte ist die Prägung etwa seit den späten 1950er Jahren geläufig; sie ist als Bezeichnung für eine Makroepoche auch der Literaturgeschichte jedoch erst seit den 70er und 80er Jahren fest etabliert. Da in diesem Fall die Ausdifferenzierung einer spezifisch literaturhistorischen Semantik noch nicht weit gediehen ist, kann literaturwissenschaftlich von Früher Neuzeit selten gesprochen werden, ohne auf angrenzende Sachgebiete Bezug zu nehmen.

(2) Verschiedene Interessenperspektiven der historischen Forschung führten zu Vorschlägen zur Epochenbezeichnung, von denen Gerhards Alteuropa der früheste ist (1956/1962). Angeregt von Braudel (Schule der ,Annales'; s Mentalitätsgeschichte) und dem Konstrukt einer ,Renaissance of the twelfth century' (ausgehend von Ch. H. Haskins, 1927), verlegt Gerhard die europäische ,Zeitwende' ins 12. Jh.: „Vor dem elften Jahrhundert sollte man nicht von einer Geschichte Europas sprechen" (Gerhard, 44). Der Name Alteuropa in der Bedeutung Gerhards hat sich kaum durchgesetzt. In theorie- und systemgeschichtlichem Zusammenhang wird er von Luhmann häufig verwendet, jedoch meist ohne terminologischen Anspruch; ,alteuropäisch' meint hier subjektphilosophische Problemformulierungen, die der Umstellung auf Systemtheorie vorausliegen, was den Begriff bis in die Gegenwart (auch polemisch oder ironisch) verwendbar macht. Ebenfalls aus

BegrG: Als Konzept der Allgemeinen Geschichte w i r k t , Frühe Neuzeit' kritisch-problematisierend nach drei Richtungen: (1) gegenüber der konventionellen Epochentrias, besonders dem Verhältnis zwischen ,Mittelalter' und ,Neuzeit', (2) indem es die epochentheoretische Aufmerksamkeit vor allem auf den Anfang, auf die Wende zur ,Neuzeit' konzentriert, (3) im Aufwerfen von Fragen nach weiterer Binnengliederung

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Frühe Neuzeit

sozialgeschichtlicher Sicht kommen Hassinger und Brunner zu ähnlichen Ergebnissen wie Gerhard. Aus der Perspektive der Struktur-, Ideenund Verfassungsgeschichte spricht Oestreich (1969) von ,Frühmoderne' und meint besonders die neuzeitliche Vorgeschichte des ,modernen Staates' vor der Wende um 1789/1800. Stärker der politischen und dynastischen Geschichte verpflichtet sind Konzepte der ,Early Modern History' bei Koenigsberger oder M. Hughes (1992: 1477-1806), während Zinn mit wirtschafts- und technikgeschichtlichen Begründungen die Wende zur Neuzeit im „chaotischen 14. Jh." ansetzt, der Zeit der Agrarkrisen, der großen Pest und der Feuerwaffeninnovation. Demnach liegen dem Zeitalter der Entdeckungen und der europäischen Welthegemonie Verelendung und Brutalisierung zugrunde. (3) Gemeinsam ist diesen Konstrukten die Verkleinerung der Differenz zwischen ,Mittelalter' und R e f o r m a t i o n ' bzw. .Renaissance', im Gegensatz zu den lange bestimmenden Interpretationen von J. Burckhardt (1860) und noch Dilthey (.Weltanschauung und Analyse des Menschen seit Renaissance und Reformation'). Auch wenn das 16. Jh. weiter als entscheidend gilt (z. B. Hassinger), gibt es nun sowohl alternative Schwerpunktsetzungen im 14. (Zinn) oder im 17. Jh. (Kamiah) wie auch Annahmen des Beginns und Endes der Periode lange zuvor und lange danach. Diejenigen Konzepte von .Früher Neuzeit', die bei der kulturellen Modernisierung ansetzen (Religion, Politik, Recht, Wissenschaften, Bildung), haben sich seit Troeltsch (1906) von der Identifikation mit dem Begriff der ,Neuen Zeit', wie er im 16. Jh selbst verstanden wurde, gelöst. Zur Philosophie vgl. Borkenau und Abel, der der These nahesteht, daß zwischen ,Mittelalter' und Renaissance-Humanismus ein pseudomorphes Verhältnis bestehe, das „für das letztliche Scheitern von Humanismus und Renaissance verantwortlich ist" (Abel, 9); epistemologisch Reiss in der Nachfolge Foucaults. Christoph Cellarius: Historia universalis, breviter ac perspicue expósita, in antiquam et medii aevi ac novam divisa [1683]. Jena 3 1 7 0 4 - 1 7 0 8 . - Wil-

helm Dilthey: Gesammelte Schriften. Bd. 2. Leipzig, Berlin 1914. - Ernst Troeltsch: Die Bedeutung des Protestantismus für die moderne Welt. München 1906.

SachG: Zu den literarischen Richtungen wird auf die Epochenartikel ? Humanismus2, S Reformation, S Gegenreformation, / Barock, ? Aufklärung verwiesen. ForschG: Die Begründung und materiale Ausstattung eines Konzepts .Frühe Neuzeit' von kulturellen Prozessen her ist eine periodologische Aufgabe, die die Literaturwissenschaft noch zu lösen hat. Dazu sind positive sachhaltige Bestimmungen notwendig; die bloße Kritik älterer Ansätze (wie etwa Skalweit) reicht nicht aus. Zu früheren Konzepten gehört der Vorschlag Cantimoris, von einer ,età umanistica' von Petrarca bis Goethe oder von Cola di Rienzo bis zu Saint-Just zu sprechen. Der rhetorisch-imitatorischen Oberschichtenkultur mit ihren relativ konstanten Kategorien und Mustern und ihrer festen Bindung an die Antike (Curtius, Schlaffer) kommt das Epochenkonzept ,Frühe Neuzeit' sehr entgegen. Die Frage nach der Wende zur Neuzeit läßt sich hier suspendieren zugunsten der Betrachtung einer langen Periode der Reorganisation und später des Auslaufens und Zerbrechens eines mehr als tausendjährigen literarisch-kulturellen Paradigmas vermutlich gegen 1800 (hier fehlt jede gründliche Forschung). Kemper (11 ff.) hat sich eingehender mit kategorialen Problemen einer literaturgeschichtlichen Konzipierung und internen Periodisierung der Frühen Neuzeit auseinandergesetzt. Gegen zahlreiche Einwände und Komplikationen (u. a. Blumenberg 1966, 1974; ein Überblick bei Zabel) soll ,Säkularisierung' (,Verweltlichung') als zentrale Prozeßkategorie, ,Grundvorgang' der Frühen Neuzeit gelten, jedoch ausdrücklich ohne ontologische Fixierung und ohne das Telos der Gesamtepoche zu sein. Die vorgeschlagene Binnengliederung (Reformationszeit, Konfessionalismus, Aufklärung) enthält den Renaissance-Humanismus nicht als konstitutiv f ü r die Epoche. Ebenso wird Barock als Epochenbezeichnung aufgegeben, während Barock-Mystik und Barock-Humanismus „zwei entgegenge-

Frühe Neuzeit setzte Strömungen" benennen, die das Konfessionelle Zeitalter begleiten (Kemper, 34). Diese komplexe ,Kräftekonstellation' setzt mit der lutherischen Reformation eine ebenso scharfe wie konventionelle Zäsur am Beginn und sucht vor allem die Binnenstruktur den Verhältnissen in Deutschland anzupassen. Das ist nicht nur von Vorteil, da auf diese Weise gemeineuropäische Traditionen wie der , Späthumanismus' deutlich zurücktreten. Ein anderer Nachteil dieses Konzepts ist es, daß es nicht tief genug ansetzt. Bis zum Erweis des Gegenteils ist es sinnvoller, Frühe Neuzeit als Teil (und take-off) des Prozesses funktionaler Systemdifferenzierung zu bestimmen (Luhmann 1980, 1981, 1989). Auch Webers These vom Rationalisierungsprozeß der Moderne (,Die protestantische Ethik' 1904/06; Schluchter), die Kemper nicht einbezieht, k a n n dem differenzierungsgeschichtlichen Rekonstruktionsentwurf integriert werden. Säkularisierung oder auch Sozialdisziplinierung (Oestreich 1969, 179ff; 1980, Einl.) sind deutlich einzelne Momente daran. Dies gilt ebenso für Lyotards Beobachtung, daß die Moderne zusammen mit der Subjektphilosophie eine grundsätzliche Problematisierung des Wirklichkeitsbegriffs bringe (Lyotard 1987/1991, 42). Benjamins dialektisch konzipierte Theorie einer unabgegoltenen Moderne (Garber) müßte in Kategorien der Differenzierungsgeschichte übersetzt werden. Mit dem Konzept des Zivilisationsprozesses (Elias 1939/1976) schließlich liegt eine weitere analytische Perspektive vor, die trotz höherer Selektivität (Schwerpunkt .weltliche Oberschichten' besonders in Frankreich, fehlende Thematisierung der Religion) das Konstrukt , Frühe Neuzeit' mit konstituieren könnte. Es gibt noch keine Forschungsgeschichte unter den Vorgaben eines auch material explizierten Konzepts von Früher Neuzeit, und zu den Eigenarten einer Literaturgeschichte der Frühen Neuzeit wird es gehören, d a ß von ,Literatur' als einem eigenständigen Sachbereich nicht gehandelt werden kann. Deshalb wird eine materiale Literaturgeschichte in Themen und Problemge-

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schichten wie die folgenden integriert sein müssen: (1) in den Prozeß einer in Schüben fortschreitenden Pluralisierung, dafür bezeichnend z. B. bei Erasmus die Trennung von (rationaler) philologischer Kritik und theologischer, am Glauben orientierter Bibelexegese sowie das Wort des Albericus Gentiiis (1588): „Silete, Theologi, in muñere alieno" (zitiert nach Oestreich 1969, 190), d. h. die Vervielfältigung von normativen Zentren, z. B. Kulturen, Nationen, Chronologien, Historien, Normen der Produktion und der Beurteilung, einsetzend mit der Reformation, bis zu Herders durch H u m a n i tät' noch begrenztem Relativismus. Dazu gehört die gegenläufige Tendenz zu neuzeitlicher Universalisierung und Vereinheitlichung, zu der auch gelegentliche Entdifferenzierungs-Schübe zu zählen sind; (2) in die Folgen der Umstellung von der Universaltopik auf ,Subjektphilosophie' (Schmidt-Biggemann); (3) in den Strukturwandel kultureller (unter anderem .literarischer') Produktion und Rezeption und der gesamten Konfiguration ihrer Bezugsgrößen: Imitatio vs. geniale Schöpfung, Autor, Werk, Medien, Publikum, Diskurse der Produktions- und Überlieferungskontrolle (Zensur, Kritik, Philologie, Literaturgeschichte; vgl. Jaumann); (4) in die Problemgeschichte der / Querelle, d. h. des die ganze Tradition bis zum Ausgang der Frühen Neuzeit durchziehenden Vorzugsstreits zwischen den ,alten' oder/und den ,neuen' Mustern. Lit: Günter Abel: Stoizismus und Frühe Neuzeit. Berlin u. a. 1978. - Walter Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels. Berlin 1928. - Hans Blumenberg: Säkularisierung und Selbstbehauptung. Frankfurt 1974. - Franz Borkenau: Der Übergang vom feudalen zum bürgerlichen Weltbild [Paris 1934], Repr. Darmstadt 1971. - Otto Brunner: Adeliges Landleben und europäischer Geist. Salzburg 1949. - O. B.: Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte. Göttingen 1968. - Delio Cantimori: La periodizzazione dell' età del Rinascimento nella storia d'Italia e in quella d'Europa. In: X. Congresso Internazionale di scienze storiche. Florenz 1955. Bd. 4, S. 307-334. - Curtius. - Norbert Elias: Über

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Friihmittelhochdeutsche Literatur

den Prozeß der Zivilisation. 2 Bde. [Basel 1939]. Frankfurt 21976. - Klaus Garber: Barock und Moderne im Werk Benjamins. In: Rowohlt Literaturmagazin 29 (1992), S. 2 8 - 4 6 . - Dietrich Gerhard: Zum Problem der Periodisierung der europäischen Geschichte [1956]. In: D. G.: Alte und neue Welt in vergleichender Geschichtsbetrachtung. Göttingen 1962, S. 4 0 - 5 6 . - Hans Ulrich Gumbrecht: Modern, Modernität, Moderne. In: Geschichtliche Grundbegriffe. Hg. v. Otto Brunner u . a . Bd. 4. Stuttgart 1978, S. 93-131. - Erich Hassinger: Die weltgeschichtliche Stellung des 16. Jhs. In: GWU 2 (1951), S. 705-718. - E.H.: Das Werden des neuzeitlichen Europa 1300—1600. Braunschweig 1959. - Michael Hughes: Early modern Germany. 1477-1806. Philadelphia 1992. - Herbert Jaumann: Critica. Untersuchungen zur Geschichte der Literaturkritik zwischen Quintilian und Thomasius. Leiden 1995. - Wilhelm Kamiah: .Zeitalter' überhaupt, ,Neuzeit' und ,Frühzeit'. In: Saeculum 8 (1957), S. 313-332. Hans-Georg Kemper: Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit. Bd. 1 : Epochen- und Gattungsprobleme, Reformationszeit. Tübingen 1987. — Helmut Georg Koenigsberger: Early modern Europe 1500-1789. London, New York 1987. - Reinhart Koselleck: ,Neuzeit'. Zur Semantik moderner Bewegungsbegriffe. In: Studien zum Beginn der modernen Welt. Hg. v. R. K. Stuttgart 1977, S. 264-299. - Niklas Luhmann: Gesellschaftsstruktur und Semantik. 3 Bde. Frankfurt 1980, 1981, 1989. — Jean-François Lyotard: Beantwortung der Frage: Was ist postmodern? [1986]. In: Postmoderne und Dekonstruktion. Hg. v. Peter Engelmann. Stuttgart 1991, S. 33-48. - Ilja Mieck: Periodisierung und Terminologie der Frühen Neuzeit. In: GWU 19 (1968), S. 357-373. Gerhard Oestreich: Geist und Gestalt des frühmodernen Staates. Berlin 1969. - G. O.: Strukturprobleme der frühen Neuzeit. Berlin 1980. — Gerhard Plumpe: Ästhetische Kommunikation der Moderne. 2 Bde. Opladen 1993. - Timothy Reiss: The discourse of modernism. Ithaca, London 1982. — Heinz Schlaffer: Poesie und Wissen. Frankfurt 1990. - Wolfgang Schluchter: Die Entwicklung des okzidentalen Rationalismus. Tübingen 1979. — Wilhelm Schmidt-Biggemann: Topica universalis. Hamburg 1983. - Stephan Skalweit: Der Beginn der Neuzeit. Darmstadt 1982. - Rudolf Vierhaus (Hg.): Frühe Neuzeit frühe Moderne? Göttingen 1992. - Max Weber: Die protestantische Ethik. Bd. 1. Hg. v. Johannes Winckelmann. München, Hamburg 1969. - Hermann Zabel: Säkularisation, Säkularisierung. In: Geschichtliche Grundbegriffe. Hg. v. Otto Brunner u. a. Bd. 5. Stuttgart 1984, S. 789-829. -

Karl Georg Zinn: Kanonen und Pest. Über die Ursprünge der Neuzeit im 14. u. 15. Jahrhundert. Opladen 1989. Herbert

Jaumann

Frühmittelhochdeutsche Literatur Die deutsche Literatur im Zeitraum von ca. 1060 bis ca. 1160 mit Ausläufern bis ca. 1180. Expl: Epoche der deutschen Literaturgeschichte, die durch relativ klare Grenzen bestimmt und erstmals dadurch charakterisiert ist, daß ihre Texte zumindest Ansätze einer inneren Entwicklung zeigen. Der Anfang ist einerseits markiert durch die relativ sichere und genaue Datierung einiger Texte in die Zeit um 1060 oder bald danach (Williram von Ebersberg, ,Ezzolied', ,Annolied'), andererseits durch den Umstand, daß deutschsprachige Literatur in der Zeit zwischen der Wende v o m 9. zum 10. Jh. und dem letzten Drittel des 11. Jhs. so gut wie nicht mehr überliefert und aller Wahrscheinlichkeit nach auch nicht neu entstanden ist. Weniger klar ist die Grenze der Epoche an ihrem Ende, weil sich Kontinuitäten und Entwicklungstendenzen beobachten lassen, die in die nächste Epoche hineinreichen. D e n n o c h sind die Kontraste zur neuen Literatur der Stauferzeit und des höfischen Hochmittelalters deutlich genug: auf dem Gebiet der Uberlieferungsgeschichte, der Literatursprache, der literarischen Formen und Gattungen, der Themen, Inhalte und der Ideologie sowie im Hinblick auf Autoren und Rezipienten. WortG/BegrG: ,Frühmittelhochdeutsch' ist aus der Sprachgeschichtsschreibung auf die literaturgeschichtliche Epoche übertragen (seit Erscheinen des einschlägigen Bandes der Literaturgeschichte von G. Ehrismann 1922 in der Fachsprache etabliert). Es handelt sich bereits in der Sprachgeschichtsschreibung um einen Verlegenheitsausdruck, der das Wesen der bezeichneten Sache nicht trifft. Scherer hatte noch ganz un-

Friihmittelhochdeutsche Literatur spezifisch von ,Geistlichen Poeten der deutschen Kaiserzeit' (1874/1875) und von der ,Geschichte der deutschen Dichtung im 11. und 12. Jh.' (1875) gesprochen. Im Anschluß an die Forschung zu den Reformbewegungen des benediktinischen Mönchtums vom 10. bis 12. Jh. wurden als Benennungen für die Epoche cluniazensisch, hirsauisch u. ä. üblich. Durch Hugo Kuhn wurde jedoch klar, daß die monastischen Reformen, insbesondere die Clunys, keinen maßgeblichen Einfluß auf die frühmhd. Literatur hatten. Doch suchte Kuhn mit neuer, sowohl sprach- als auch literarhistorisch-begrifflicher Füllung programmatisch die Beibehaltung des Terminus Frülmittelhochdeutsche Literatur zu rechtfertigen (Kuhn 1969, 148 u. 151). SachG: Geprägt wird das Profil der Epoche durch folgende Faktoren: (1) Ein großer Teil der Texte ist nur unikal tradiert, und gut die Hälfte der gesamten Überlieferung ist in wenigen, teils untereinander verwandten, programmatisch angelegten Sammelhandschriften aufgezeichnet. Die Wiener (W), Millstätter (M) und Vorauer (V) Handschrift (letztes Viertel 12. Jh. und Anfang 13. Jh.) zeigen in steigendem Maß ein rückblickend nivellierendes Bewußtsein der Sammler, das die Einheit der zu Ende gehenden Epoche gegenüber den neuen literarischen Strömungen hervortreten läßt, aber innere Vielfalt und Entwicklungstendenzen verwischt bzw. ausblendet. Daneben gibt es sowohl anders strukturierte Sammelhandschriften als auch Einzelüberlieferung, später auch rein deutsche Werk- und Autorceuvrehandschriften (,Kaiserchronik', ,Rolandslied', ,König Rother'). Zu Anfang des 13. Jhs. reißt die Überlieferung weitgehend ab, von wenigen Texten abgesehen. (2) Die Literatursprache der Epoche ist in der Syntax überwiegend durch parataktische Fügungen charakterisiert (frühes Gegenbeispiel in der Prosa: Williram; in Versen: ,Annolied'). Obwohl die Entwicklung im ganzen von der Para- zur Hypotaxe verläuft, ist im Einzelfall immer mit bewußter Gestaltung oder sprachlichem Unvermögen zu rechnen. Der sprachliche Ausdruck ist

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durch Formelhaftigkeit gekennzeichnet (y Formel2). Sie hat ihre Wurzeln teils in der volkssprachig-mündlichen Tradition poetischer wie alltags- oder fachsprachlicher Idiome, teils handelt es sich um eine neue Formelhaftigkeit, hinter der geistliche Denkformen und die lat. Kirchensprache stehen. Eine epochentypische Stilerscheinung stellen die lateinischen Einsprengsel in vielen f r ü h m h d . Texten dar. (3) Grundmodell des Verses ist eine stichische, entstehungsgeschichtlich umstrittene Einheit, die sich syntaktisch als zäsurierter Langvers mit Binnenreim, metrisch als Reimpaar aus zwei vierhebigen Kurzversen bezeichnen läßt. Strophische Formen wie in der lyrischen oder heldenepischen Dichtung des Hochmittelalters gibt es nicht — abgesehen von der wohl noch vorliterarisch-mündlichen Spruch- und Liebeslyrik des Herger-Spervogel-Komplexes und des ,donauländischen Minnesangs'. Im Bereich der lyrischen Mariendichtung bilden sich strophische Sonderformen, sei es im Anschluß an lat.-liturgische Vorbilder (Hymne, Sequenz), sei es auf der Grundlage mündlicher, volkssprachig-brauchtümlicher Formtradition (Leich). (4) Die Sammelhandschriften W, M , V präsentieren einen großen Teil der Versdichtung programmatisch unter dem Hauptaspekt heilsgeschichtlicher, auf die persönlich-private Frömmigkeitspraxis gerichteter Thematik. Hieran m u ß sich zunächst das Gattungsverständnis der anderwärts überlieferten Texte orientieren, die sich in dieses Programm meist ohne Schwierigkeiten einordnen lassen. Einzelne Gattungstypen (Bibelepisches, Liturgisches und Pragmatisches im Bereich privater Frömmigkeit, moralisch oder allegorisch Traktathaftes, Hymnen- und Sequenznachbildungen) bilden sich zwar nach Mustern vor allem der lat. Literatur heraus, lösen sich jedoch durch die Volkssprache von den Gebrauchszusammenhängen ihrer Vorbilder ab. Reflektiert sind dabei auch die typenformenden Merkmale einer poetologischen Schichtenspezifik. Erstens: Vor- und Unterliterarisches, das in einer verlorenen mündlichen Gedächtniskultur vorausgesetzt werden muß, hinterläßt Spuren in der sprachli-

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Friihmittelhochdeutsche Literatur

chen Stilisierung, formt gelegentlich auch die epische Szenengestaltung (.Geistliche Heldenlieder'). Zweitens: Klerikales ,lateinisch'-literarisches Bewußtsein, gegründet auf eine lateinische Bildungstradition, ist vielfaltig präsent. Drittens: Davon unterscheidet sich die Schicht eines neuen, adligen, religiös-politischen und laikalen Selbstund Lebensbewußtseins (ζ. Β. ,Memento mori', ,Ezzolied', ,Annolied'). Eine z. T. direkte Weiterentwicklung finden diese Texte in der reichshistorischen und Chanson de geste-Thematik epischer Großwerke von der Mitte des 12. Jhs. an (,Kaiserchronik', ,Rolandslied',,König Rother'), zu denen die neue G a t t u n g des Antikenromans hinzukommt (,Alexanderlied'). Gerade diese Werke leben über die Epoche hinaus, teils in jüngerer, sprachlich modernisierender Überlieferung, teils in Neuschöpfungen. Schließlich ist viertens die Anlage von Entelechien erkennbar, die in den hochmittelalterlichen Hauptgattungen ihre Erfüllung finden: Stofflich und ideologisch z. B. in der Reihe ,Εζζο-', ,Annolied', ,Kaiserchronik', die das Strukturmuster der ,Gerüstepik' erkennen lassen, das maßgeblich f ü r die höfische Epik wird. (5) Die f r ü h m h d . Literatur ist weitgehend anonym. Auf gut 90 Texte kommen 20 Autorennamen. Sechs Autoren wird mehr als ein Werk zugewiesen, nicht immer mit voller Gewißheit. All diese Autorennamen sind aber ohne oder fast ohne historische Referenz. Ausnahmen bilden Williram von Ebersberg und Otloh von St. Emmeram. Keines der Werke läßt sich zweifelsfrei oder auch nur wahrscheinlich einem laikalen Autor zuschreiben. In einigen Fällen sind den Namen die Benennungen Pfaffe oder Priester beigegeben (Pfaffe Konrad, Priester Arnolt). Ordensspezifische Benennungen (Mönch, Abt, Probst o. ä.) begegnen — außer bei Williram und Otloh — in Verbindung mit Autorennamen nicht, was aber monastische Autorschaft nicht ausschließt. Die Namensnennungen signalisieren kein literarisches Autorbewußtsein, sondern stehen meist im Zusammenhang mit frommer Demutsbezeugung oder dem Wunsch des Autors, f ü r sein Werk mit dem Fürbittgebet des Rezipienten belohnt zu werden.

(6) Die Herkunft der Handschriften verweist auf den Gebrauch der Texte in Klöstern der Seelsorgeorden (Augustiner Chorherren und -frauen, Prämonstratenser) oder auf reformierte benediktinische Klöster, die sich seelsorgerischen Aufgaben zugewandt hatten. Der Zisterzienserorden fällt f ü r die Überlieferung der frühmhd. Literatur noch gänzlich aus. Damit wird eine relativ fest umrissene primäre Rezipientengruppe erkennbar: die Frauen in den Doppelklöstern der reformierten Benediktiner und der Augustiner Chorherren. Die Seelsorge für diese literarisch nicht oder nur mäßig gebildeten Frauen war Aufgabe der Männer in den Doppelklöstern. Hier lag es nahe, eine neue religiöse Literatur in der Volkssprache zu schaffen. D a diese nur ausnahmsweise auf die spezifischen Anliegen und Lebensformen von Klosterfrauen bezogen ist (,St. Trudperter Hohes Lied'), konnte sie über deren Umkreis hinaus auf ein laikales Publikum außerhalb des Klosters wirken. (7) Für die Datierung bietet die Überlieferung k a u m paläographisch-kodikologische Anhaltspunkte. Die äußere Chronologie beruht auf wenigen textextern vorgegebenen oder erschlossenen Ansatzpunkten, auf der Rekonstruktion einer idealtypischen stilistischen, metrischen und reimtechnischen Entwicklung innerhalb der Epoche und auf der Beobachtung von Einwirkungen der Texte aufeinander. Die auf jeder Ebene beanspruchten Argumente können einander stützen, aber auch in Konkurrenz oder Widerspruch treten. Daher ist die äußere Chronologie der Epoche in vielen Einzelfallen unsicher. (8) Nach den frühen Texten des 11. Jhs. zeichnet sich ein neues Entwicklungsstadium erst von der Mitte des 12. Jhs. an ab. Die weit-, heils- und reichsgeschichtliche Thematik verbindet sich mit einem neuen, frühritterlichen Bewußtsein. Im Hintergrund steht mit Friedrich I. Barbarossa der Aufstieg der staufischen Dynastie. Etwa zeitgleich ist die von der frühmhd. Literatur ganz unabhängig und erst viel später überlieferte frühe Spruch- und Liebeslyrik, die zunächst rein mündlich existiert haben wird und noch weitgehend unberührt von romanischem Einfluß ist. Bei den epischen Wer-

Frühmittelhochdeutsche Literatur ken ist der Epocheneinschnitt durch eine erste Einflußwelle französischer Literatur markiert (,Alexanderlied', ,Graf Rudolf). Eine zweite Welle erfolgt in Lyrik und Epik parallel. ForschG: Die frühmhd. Literatur hat nie im Mittelpunkt des literarhistorischen Fachinteresses gestanden. Das 19. Jh. steuert zunächst nur heuristisch-positivistische Arbeiten bei, dann in Müllenhoffs und Scherers ,Denkmälern' eine sprach-, quellen- und sachkundlich kommentierte Sammeledition mit den Methoden der Lachmannschen Metrik und Textkritik. Diese wurde seit der 2. Auflage von Waags Sammeledition (1916) fast überall zugunsten modifiziert handschriftengetreuer Textabdrucke aufgegeben. Scherer war der erste, der literarhistorische Einzeluntersuchungen und eine Monographie der Epoche vorlegte (1874/75). Ehrismanns Literaturgeschichte faßte die bis dahin erarbeiteten Forschungsergebnisse zusammen. Die schon von H. Schneider (1931, 1943) problematisierte These einer Prägung der frühmhd. Literatur durch die cluniazensische Reform war noch Grundlage der literaturgeschichtlichen Darstellung de Boors (1949). Durch die Arbeiten Rupps (1958) und Meißburgers (1970), vor allem aber Hugo Kuhns (1950, 1953, 1958) wurde diese Konzeption überwunden. In den 60er Jahren stand die Diskussion um den Charakter des frühmhd. Verses im Mittelpunkt. Wesentlich zum Verständnis der Denkformen frühmhd. Dichtung trugen die Schriften F. Ohlys und seiner Schule zur mittelalterlichen Bedeutungsforschung bei. Einen neuartigen Versuch, der rezeptionsgeschichtlich bei der zeitgenössischen literarischen Interessenbildung der Epoche ansetzt, stellt die Literaturgeschichte von G. Vollmann-Profe (1986) dar. Daneben bewährt sich immer noch die Schilderung nach literarischen Sachbereichen bei D. Kartschoke (1990). Eine regionalhistorische Darstellung mit Einschluß der lat. Literatur bietet für Österreich F. P. Knapp (1994). Lit: Denkmäler deutscher Poesie und Prosa aus dem 8 . - 1 2 . Jh. Hg. v. Karl MüllenhofTund Wilhelm Scherer [Berlin 1864; 3. Ausgabe hg.v. Elias

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Steinmeyer. 2 Bde. Berlin 1892]. Repr. Berlin, Zürich 1964. - Denkmäler deutscher Prosa des 11. und 12. Jhs. Hg. v. Friedrich Wilhelm [1914], Repr. München 1960. - Die religiösen Dichtungen des 11. und 12. Jhs. Hg. v. Friedrich Maurer. 3 Bde. Tübingen 1964, 1965, 1970. - Kleinere deutsche Gedichte des 11. und 12. Jhs. Nach der Auswahl von Albert Waag neu hg. v. Werner Schröder. 2 Bde. Tübingen 1972. - Albert Waag (Hg.): Kleinere deutsche Gedichte des 11. und 12. Jhs. Halle 2 1916. Helmut de Boor: Frühmhd. Studien. Halle 1926. - H.d.B.: Frühmhd. Sprachstil. In: ZfdPh 51 (1926), S. 244-274, 52 (1927), S. 3 1 - 7 6 . H.d.B.: Die deutsche Literatur von Karl d. Gr. bis zum Beginn der höfischen Dichtung. München 1949, 9 1979 [hg. v. Herbert Kolb], - Gustav Ehrismann: Geschichte der deutschen Literatur bis zum Ausgang des Mittelalters. Bd. 2/1 [1922]. Repr. München 1954. - Francis G. Gentry: Bibliographie zur frühmhd. geistlichen Dichtung. Berlin 1992. - Ernst Hellgardt: Zur Poetik frühmittelhochdeutscher Dichtung. In: Geistliche Denkformen in der Literatur des Mittelalters. Hg. v. Klaus Grubmüller u. a. München 1984. Ε. H.: Seckauer Handschriften als Träger frühmhd. Texte. In: Die mittelalterliche Literatur in der Steiermark. Hg. v. Alfred Ebenbauer u. a. Bern, Frankfurt 1988, S. 103-130. - Ε. H.: Die deutschsprachigen Handschriften im 11. und 12. Jh. In: Deutsche Handschriften 1100-1400. Hg. v. Volker Honemann und Nigel F. Palmer. Tübingen 1988, S. 3 5 - 8 1 : - Dieter Kartschoke: Geschichte der deutschen Literatur im frühen Mittelalter. München 1990. - Fritz Peter Knapp: Die Literatur des Früh- und Hochmittelalters in den Bistümern Passau, Salzburg, Brixen und Trient von den Anfangen bis zum Jahre 1273. Graz 1994. - Urban Küsters: Der verschlossene Garten. Volkssprachliche Hohelied-Auslegung und monastische Lebensform im 12. Jh. Düsseldorf 1985. - Hugo Kuhn: Minne oder reht [1950], In: H. K : Dichtung und Welt im Mittelalter. Stuttgart 1959, S. 105-111. - H. K : Gestalten und Lebenskräfte der frühmhd. Dichtung [1953]. In: Dichtung und Welt im Mittelalter, S. 112-123. - H. K : Gattungsprobleme der mhd. Literatur [1956], In: Dichtung und Welt im Mittelalter, S. 4 1 - 6 1 . - H. K : Frühmhd. Literatur. In: H. K: Text und Theorie. Stuttgart 1969, S. 141 — 157. - Gerhard Meissburger: Grundlagen zum Verständnis der deutschen Mönchsdichtung im 11. und 12. Jh. München 1970. - Friedrich Ohly: Schriften zur mittelalterlichen Bedeutungsforschung. Darmstadt 1977. - Heinz Rupp: Deutsche religiöse Dichtungen des 11. und 12. Jhs. Freiburg/Br. 1958, Bern, München 2 1971. Wilhelm Scherer: Geistliche Poeten der deutschen

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Fürstenspiegel

Kaiserzeit. 2 Hefte. Straßburg 1874/1875. W. S.: Geschichte der deutschen Dichtung im 11. und 12. Jh. Straßburg 1875. - Hermann Schneider: Ezzos Gesang. In: ZfdA 68 (1931), S. 1 - 1 6 . — H. S.: Heldendichtung, Geistlichendichtung, Ritterdichtung. Heidelberg 2 1943. Gisela Vollmann-Profe: Wiederbeginn volkssprachiger Schriftlichkeit im hohen Mittelalter ( 1 0 5 0 / 6 0 1160/70). In: Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zum Beginn der Neuzeit. Hg. v. Joachim Heinzle. Bd. 1/2. Königstein 1986.

Ernst Hellgardt

Frühneuhochdeutsche Literatur Spätmittelalter

Fürstenspiegel Gattung, die über das rechte Verhalten des Herrschers belehrt. Expl: Der Fürstenspiegel ist als ein Funktionstypus zu verstehen, unter dem verschiedene Texttypen subsumiert werden können, sofern diese als in sich geschlossene Werke konzipiert sind und ihnen derselbe ,Sitz im Leben' zugewiesen werden kann: Sie richten sich (mitunter nur vorgeblich) an einen Herrscher und bieten einen für die Person und die Aufgaben des Herrschers relevanten Inhalt mit belehrender oder paränetischer (d. h. ermahnender) Intention. Hinsichtlich seiner primär paränetischen Ausrichtung entspricht der Fürstenspiegel anderen Formen der ^ S/wge/-Literatur, doch kann er auch als Panegyrikus (Lobrede) angelegt werden. Inhaltlich können sich Berührungspunkte mit dem staatstheoretischen Traktat, allgemeinen Obrigkeitsund Adelslehren, Reformschriften, historiographischen Werken sowie Lobgedichten und -reden und der Leichenpredigt ergeben. Strittig ist, inwieweit der Staatsroman, die fürstliche Erziehungslehre und das politische Testament als Fürstenspiegel aufzufassen sind. Das Spektrum der Texttypen, die als Fürstenspiegel fungieren können, ist relativ breit, es u m f a ß t neben dem Prosa- und Verstraktat auch das strophische Lied, den Kommentar, den Brief, den Dialog, die

/ Allegories, die Texte zur Meditation, den Erziehungsroman, die Sentenzen- oder Aphorismensammlung sowie Rede und Predigt; auch die bildlich-literäre Form des /" Emblems ist gelegentlich integriert worden (,emblematischer Fürstenspiegel'). WortG: Der Terminus Fürstenspiegel übernimmt in seinem zweiten Teil die Spiegelmetapher, die im Mittelalter für didaktisches Schrifttum verschiedener Art verwendet wurde, und entspricht den vom 12. bis zum 14. Jh. üblichen lat. Bezeichnungen Speculum regis, Speculum regum oder Speculum regale. Als Werktitel erscheint ,Der fursten spiegl' erstmals 1544 bei Wolfgang Seidel (Clm 18691); ähnliche Bezeichnungen finden sich auch in anderen Volkssprachen. BegrG: Die in der Fürstenspiegel-Literatur mit wechselnder Akzentuierung und Intention abgehandelte Themenvielfalt sowie die Verwendung unterschiedlichster literarischer Formen haben die Herausbildung eines dezidierten Gattungsbegriffs und -Verständnisses jenseits einer allgemeinen Funktionszuweisung verhindert. Bedingt durch das breite Formenspektrum der Fürstenspiegel-Literatur, finden sich neben der Spiegel-Metapher zahlreiche andere Titelbezeichnungen, die auf den Inhalt verweisen wie ,De officio et potestate principis' (,Vom Amt und von der Macht der Fürsten'; Jakob Omphalius, 1550), die Funktion des Werkes anzeigen wie ,De educatione princip u m ' (,Über die Erziehung der Fürsten'; Johann Sturm, 1551) oder die Form benennen wie das anonyme Werk .Gewechselte Briefe über die Erziehung eines Prinzen' (1767). SachG: Die ältesten Vertreter des Typus Fürstenspiegel sind schon um 2000 v. Chr. in Ägypten nachzuweisen (,Lehre für den König Merikarê'). Entsprechende Schriften gibt es recht früh auch in Indien und China sowie später in der islamischen Literatur. Die Rede des Isokrates an den König Nikokles gilt als ältester Fürstenspiegel der griechischen Antike; die Schrift ,De d e m e n t i a ' des Seneca ist der herausragende Repräsentant der G a t t u n g aus der römischen Literatur. Im lateinischen Mittelalter hat die Fürstenspiegel-Literatur ihre Vorläufer in den

Fürstenspiegel an Könige gerichteten geistlichen Mahnschreiben, die ein christliches Herrscherbild vermitteln sollen. Als erster voll ausgebildeter Fürstenspiegel gilt die ,Via regia' des Smaragd von St. Mihiel (um 810). Zentrale Themen im karolingischen Fürstenspiegel sind die Vorstellung vom Herrscher als Gottes Stellvertreter, die Entfaltung umfassender Tugendkataloge, die Belehrung über die Amtspflichten. Der Herrscher gilt als maßgebliches Vorbild (exemplum) f ü r sein Volk (rex wird von rede agere ,recht handeln' abgeleitet). Herrscherfiguren aus dem Alten Testament und frühen Christentum (Konstantin, Theodosius) wird exemplarischer Charakter zugesprochen. Die Fürstenspiegel des Hochmittelalters behandeln diese Themen weiter, sind aber durch die Entfaltung der höfischen Kultur, durch den Investiturstreit und die Rezeption antiker Staatslehre im 12. Jh. beeinflußt. So verbindet Johannes von Salisbury im ,Policraticus' (1159) die ethisch-moralische Fürstenbelehrung mit umfassenden staatstheoretischen und kosmologischen Ausführungen. Spätestens seit dem Fürstenspiegel ,De regimine principum' (1265) von Thomas von Aquin (1302 fortgesetzt durch Tolomäus von Lucca) wird aristotelisches Gedankengut übernommen. Gleiches gilt vom erfolgreichsten Fürstenspiegel-Autor des Mittelalters, Aegidius Romanus, der in ,De regimine principum' (1277/79) die aristotelische Ethik, Ökonomik und Politik sowie militärstrategische Ausführungen des Vegetius zu einem dreiteiligen Werk zusammenfaßt, das neben der Ständelehre, dem Natur- und Lehnsrecht auch schon so brisante Themen wie das Widerstandrecht und den Tyrannenmord oder das Problem der Volkssouveränität behandelt und Fragen der politischen Praxis (Rechtsprechung, Finanz· und Wirtschaftspolitik) nicht ausschließt. Das Werk wird ganz oder teilweise in mehrere Volkssprachen übersetzt (auch mhd. und mnd.) und noch 1607 gedruckt. In den Fürstenspiegeln des Spätmittelalters und des Humanismus tritt die staatstheoretische Komponente gegenüber Moralistik und pädagogischen Interessen zurück. Leitbild wird der gelehrte Herrscher (princeps litteratus), der erst durch seine Bildung

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seinen Aufgaben gewachsen sei. Wichtigster Vertreter dieses Typus ist Erasmus von Rotterdams Jnstitutio principis Christiani' (1516), während der gleichzeitig verfaßte ,Principe' Machiavellis den pragmatischrealistischen Gegentypus vertritt; er wird als angeblich zynische Anleitung zur Technik der Macht durch zahlreiche Gegenschriften (von Innocent Gentillet 1576 bis hin zu Friedrich dem Großen) berühmt und berüchtigt. Die deutschen Fürstenspiegel, im Mittelalter nur spärlich vertreten, gelangen im 16. Jh. zu reger Entfaltung. Humanistische Erziehungsideale verbinden sich mit reformatorischen Glaubensgrundsätzen, wie sie sich in der Obrigkeitslehre Luthers niedergeschlagen haben. Praktische Fragen der Staatsführung treten zunehmend in den Vordergrund, zumal die Reglementierung des öffentlichen Lebens durch eine funktionsfähige ,Policey' und die Absicherung des neuen Glaubens durch eine entsprechende Kirchen- und Bildungspolitik. Die Leitlinien werden weniger der ,heidnischen' Weisheit der Antike als vielmehr dem Alten Testament entnommen, das gelegentlich auch noch im 17. Jh. als alleinige Quelle herangezogen wird (so z. B. bei Polycarp Leyser, ,Regentenspiegel', 1605). Als bedeutendster Fürstenspiegel Deutschlands im 16. Jh. gilt ,De educandis erudiendisque principum liberis [...] deque república Christiana administranda' des Konrad Heresbach. Weit erfolgreicher war das,Regentenbuch' (zuerst 1556) des Georg Lauterbeck (mindestens 10 Drucke), der zahlreiche Sentenzen und Exempla aus den verschiedensten Quellen kompiliert und gefällige Erzählkunst mit fundierter Sachdiskussion zu verbinden weiß. Im 17. und 18. Jh. bleibt die alte Formenvielfalt und die Bandbreite hinsichtlich der unterschiedlichen inhaltlichen Akzentuierung erhalten. Neben Werken, die vornehmlich der Bibel verpflichtet sind (z. B. Tobias Herold, ,Regentenbuch, oder Erklärung deß 101. Ps.', 1620), finden sich Schriften, die stärker auf die politische Praxis ausgerichtet sind (L. V. v. Seckendorff, ,Teutscher FürstenStat', zuerst 1656), ihre Lehren aus der Geschichte ziehen (Samuel Sturm,

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Fugung

,Fürstliche Reichs und Hoffschule/Aus des Alexander Magnus Heldenthaten', 1662) oder sich Problemen der Erziehung widmen (G. W. Leibniz, ,Le projet d'éducation d'un prince', 1693). Neben lateinischen werden zunehmend auch deutsche Fürstenspiegel verfaßt; einschlägige Vertreter der Gattung wie das ,Horologium principum' ^Fürstliche Weckvhr') des Antonio de Guevara (zuerst span. 1529), der besonders erfolgreiche Diego de Saavedra Fajardo (,Idea de un principe político-cristiano', zuerst span., 1640) werden übersetzt und mehrfach aufgelegt. Als Autoren sind neben Regierungsbeamten (Ahasvérus Fritsch) auch Könige und Fürsten (Jakob I. von England, Maximilian I. von Bayern) hervorgetreten. C. M. Wieland verbindet im ,Goldenen Spiegel' (zuerst 1772) die Funktion des Fürstenspiegels mit der G a t t u n g des Staatsromans, während C. v. Mosers ,Der Herr und der Diener' (zuerst 1759) sich der Form der Aphorismen- und Maximensammlung nähert und andere (meist anonyme) Autoren ihren Fürstenspiegel als Briefwechsel (,Briefwechsel zwischen einem jungen Prinzen und seinem Hofmeister', 1772) oder Katechismus anlegen (,Catéchisme politique à l'usage d'une jeune princesse', 1797). Unter dem Einfluß der Aufklärung finden gegen Ende des 18. Jhs. neben der Idee der Volksbeglückung durch den (entsprechend erzogenen) Herrscher auch Ansätze einer Absolutismuskritik Eingang in die Gattung. Zwar werden auch nach der Französischen Revolution noch Fürstenspiegel geschrieben (J. J. Engel, ,Fürstenspiegel', 1798; E. M. Arndt, ,Entwurf der Erziehung und Unterweisung eines Fürsten', 1813), aber mit den sich ändernden politischen Verhältnissen hat die alte G a t t u n g ihren ,Sitz im Leben' verloren und ist nur noch in Schwundformen greifbar. ForschG: Die erst mit Beginn des 20. Jhs. einsetzende Erforschung der Fürstenspiegel-Literatur wird nach wie vor hauptsächlich von der Geisteswissenschaft betrieben. Vor allem mittelalterliche Werke wurden genauer analysiert (grundlegend immer noch Berges), während die Fürstenspiegel späterer Jahrhunderte erst allmählich Beachtung

finden. Nachdem die ältere Forschung neben editorischen Meriten sich auch Verdienste um die Interpretation der Fürstenspiegel als staatstheoretische Quellen und geistesgeschichtliche Zeugnisse erworben hat, versucht man nunmehr in zunehmendem Maße, dem Fürstenspiegel auch als G a t t u n g eigener Art gerecht zu werden. An diesen Bemühungen sind neben der Geschichtswissenschaft (Singer) auch die Politikwissenschaft (Mühleisen/Stammen) und die Literaturwissenschaft (Peil) beteiligt. U m dem Fürstenspiegel als interdisziplinärem Gegenstand gerecht werden zu können, müssen an seiner Erforschung noch weitere Disziplinen (z. B. Pädagogik, Philosophie und Kunstgeschichte) beteiligt werden; dabei wäre darauf zu achten, daß der Fürstenspiegel als Dokument einer gesamteuropäischen Hofkultur die Überschreitung nationalphilologischer Grenzen unabdingbar macht. Lit: Hans Hubert Anton: Fürstenspiegel und Herrscherethos in der Karolingerzeit. Bonn 1968. - Wilhelm Berges: Die Fürstenspiegel des hohen und späten Mittelalters. Stuttgart 1938 [Repr. 1952], — Gerd Brinkhus: Eine bayerische Fürstenspiegelkompilation des 15. Jhs. München 1978. - Otto Eberhardt: Via Regia. Der Fürstenspiegel Smaragds von St. Mihiel und seine literarische Gattung. München 1977. — Pierre Hadot: Fürstenspiegel. In: R A C 8, Sp. 5 5 5 - 6 3 2 . - Wilhelm Kleineke: Englische Fürstenspiegel vom Policraticus Johanns von Salisbury bis zum Basilikon Doron König Jakobs I. Göttingen 1937. Hans-Otto Mühleisen, Theo Stammen (Hg.): Politische Tugendlehre und Regierungskunst. Studien zum Fürstenspiegel der Frühen Neuzeit. Tübingen 1990. — Wilhelm Münch: Gedanken über Fürstenerziehung aus alter und neuer Zeit. München 1909. - Dietmar Peil: Emblematische Fürstenspiegel im 17. und 18. Jh. In: FMSt 20 (1986), S. 5 4 - 9 2 . - Bruno Singer: Der Fürstenspiegel in Deutschland im Zeitalter des Humanismus und der Reformation. Bibliographische Grundlagen und ausgewählte Interpretationen. München 1981. - B. S.: Fürstenspiegel. In: T R E 11, S. 7 0 7 - 7 1 1 .

Dietmar

Fugung ? Rhythmus

Peil

Funktion

Funktion Potentielle Wirkung eines Textes oder Textelements. Expl: Im Unterschied zum hermeneutischen oder psychologischen Begriff der /" Intention und zum empirischen Beobachtungsbegriff der /" Wirkung bezeichnet der Terminus Funktion in der Literaturwissenschaft einen ,DispositionsbegrifF (im Sinne von Ryle 1949). Ein Text bzw. ein Textelement erfüllt eine bestimmte Funktion (oder, mit einem älteren Synonym, eine spezifische LEISTUNG), wenn es die in empirischer Verallgemeinerung nachweisbare Disposition (oder älter: ,Eignung') besitzt, angebbare Textrelationen herzustellen und angebbare Leserwirkungen hervorzurufen. Dafür ist es unerheblich, ob dies auf einer unterstellten ,Wirkungsabsicht' des Autors beruht und ob in jedem Einzelfall die entsprechende Wirkung auch tatsächlich eintritt. Grundlegend für die literaturwissenschaftliche Anwendung ist dabei die Unterscheidung zwischen zwei Typen von Funktionen: E i n e INTERNE FUNKTION e r f ü l l t e i n T e x t -

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WortG: Der vom lat. Verb fungi abgeleitete Terminus functio bezeichnete im klassischen Latein vorrangig die .Erfüllung einer Amtsaufgabe' (z. B. bei Cicero: ,In Verrem' 3,15; ,Tusculanae Disputationes' 2,35); im spätscholastischen und neuzeitlichen GelehrtenLatein (s. Schramm) vorrangig die mathematische .Relation zwischen zwei oder mehr veränderlichen Größen' — terminologisch fixiert zunächst von Leibniz 1694 für die Geometrie, dann ab 1698 von Euler, Bernoulli u. a. auch für die Algebra (Belegsammlungen in HWbPh 2, 1138; sowie bei Boyer, Schramm und Youschkevich). Entscheidend für den allgemeineren philosophischen Wortgebrauch von Funktion — zentral in der Marburger Schule des .Neukantianismus' im 19. Jh. — wurde dann Kants Bestimmung von synthetisierenden .Verstandesfunktionen' im Sinne einer „Einheit der Handlung, verschiedene Vorstellungen unter einer gemeinschaftlichen zu ordnen" (KrV B93). Handlungsbezogen interpretiert wird der Terminus auch in Goethes berühmter — eher naturphilosophisch orientierter — Formel: „Die Function ist das Daseyn in Thätigkeit gedacht" (FA 13, * 1.561 und S. 615).

element genau dann, wenn nur dadurch innerhalb des betreffenden Textes eine signifiEine Abspaltung aus dieser philosophikante Beziehung der .Ähnlichkeit' (vgl. ζ. B. Z1 Äquivalenz, Rekurrenz [/'Äquivalenz- schen Bedeutungstradition dürfte die termiprinzip], s Reim, S Parallelismus, ? Ana- nologische Verwendung von Funktion in der pher) oder auch der Entgegensetzung' (vgl. Soziologie sein; ihre Grundbestimmung als .Beitrag eines Elements zu Aufbau und Erζ. B. Antithese, /" Opposition, s Kontrafaktur, ? Paradoxon) oder auch der g e - haltung eines sozialen Systems' geht auf ordneten Reihung' hergestellt wird (vgl. Emile Durkheim und Herbert Spencer im ζ. B. /" Gradado, oder auch Iteration und späten 19. Jh. zurück und entwickelte sich Superisation in / Konkreter Poesie; zur re- weiter bis zu dem von Talcott Parsons belationslogischen Präzisierung näher Fricke gründeten Konzept des modernen Strukturfunktionalismus (vgl. Dahrendorf 1974). 1981, 94-96). Die bahnbrechende Verknüpfung der E i n e EXTERNE FUNKTION e r f ü l l t e i n T e x t oder Textelement genau dann, wenn nur lange Zeit getrennt verlaufenen mathematidurch dessen Besonderheit eine signifikante schen und philosophischen BedeutungsgeBeziehung zu einem außerhalb dieses Textes schichte von Funktion erfolgte dann in liegenden Sachverhalt hergestellt wird (vgl. Gottlob Freges logisch-philosophischer Bez. B. Satire, S Schlüsselliteratur, s Pane- gründung der Mathematik. Besonders im gyrik, s Onomatopöie). Dieser externe Aufsatz .Funktion und Begriff' von 1891 Sachverhalt kann dabei durchaus auch ein explizierte er beide Termini in analoger anderer Text sein (vgl. z. B. / Intertextuali- Weise als .ungesättigte Ausdrücke', deren tät, ? Dialogizität, s Anspielung, S Paro- ,Leerstelle' durch ein Einsetzen eines .Arguments' (z. B. eines Eigennamens) gefüllt die). werden muß: „ein Begriff ist eine Funktion, Gilbert Ryle: The concept of mind. London 1949 deren Wert immer ein Wahrheitswert ist" (dt.: Der Begriff des Geistes. Stuttgart 1969).

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Funktion

(Frege, 28). Im Rahmen seiner produktiven Rezeption in einigen Bereichen der Literaturtheorie (y Analytische Literaturwissenschaft) gewann Frege damit auch Einfluß auf das Konzept der poetischen /" Leerstelle (vgl. dazu ? Appellstruktur sowie Fricke 1981, 59 f. u. 2 2 2 - 2 2 9 ) . R. C. Boyer: Proportion, equation, function. In: Scripta Mathematica 12 (1946), S. 5-13. - Ralf Dahrendorf: Struktur und Funktion. In: R. D.: Pfade aus Utopia. München 31974, S. 213-242. - Gottlob Frege: Funktion, Begriff, Bedeutung. Hg. v. Günther Patzig. Göttingen 1966. - Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke [Frankfurter Ausgabe, FA]. Bd. 13. Frankfurt 1994. — Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. Riga 21787. - Gottlob Friedrich Lipps: Die logischen Grundlagen des mathematischen Funktionsbegriffs. Zweibrücken 1888. - Talcott Parsons: Structure and process in modern society. Glencoe 1960. - Friedrich Schaub: Die Umwandlung des Substanzbegriffs zum Funktionsbegriff in der Marburger Schule. Kassel 1914. - Matthias Schramm: Steps towards the idea of function. In: History of Science 4 (1965), S. 70-103. - Adolf P. Youschkevich: The concept of function up to the middle of the 19th century. In: Archives for the History of Exact Sciences 16 (1976), S. 37-85. BegrG: Die Konzeptionsgeschichte des im engeren Sinne literaturwissenschaftlichen Terminus Funktion setzt beim Russischen Formalismus ein. Der dort intensiv rezipierte Novalis hatte freilich in seinen ungedruckten Fragmenten schon eine geradezu vorwegnehmende Bestimmung formuliert: „Jedes Glied eines Systems ist eine Function / 1 . des Systems. / 2. mehrerer Glieder. / 3. jedes andern Gliedes" (Novalis 3, 92). Auch in Paul Valérys poetologischer ,Théorie des fonctions indépendantes' von 1902 (vgl. Cazeault 1979) spielt der Zusammenhang von Funktion und System bereits jene Schlüsselrolle, die ihn in der weiteren Begriffsentwicklung bei den Formalisten sowie dann im linguistischen und literaturwissenschaftlichen /" Strukturalismus auszeichnet: „Die Korrelation eines jeden Elements des literarischen Werks als System zu anderen Elementen und folglich zum ganzen System nenne ich die konstruktive Funktion des betreffenden Elements" (Tynjanov in: Striedter, 4 3 7 - 4 3 9 ) . In diesem Zusammen-

hang entwickelt Tynjanov auch die terminologische Differenzierung in Synfunktion und Autofunktion, die in vielen Zügen bereits der oben explizierten Zweiteilung in Interne und Externe Funktionen entspricht: „Die Autofunktion, d. h. die Korrelation eines beliebigen Elements zur Reihe analoger Elemente in anderen Systemen und anderen Reihen, stellt die Bedingung der Synfunktion, der konstruktiven Funktion des betreffenden Elements dar" (Tynjanov, 441). Zu den wichtigsten Anwendungen einer solchen funktionalistischen Grundlegung auf die konkrete Literaturanalyse gehörte zweifellos die Klassifikation von 31 verschiedenen .Funktionen' in Vladimir Propps Morphologie des Märchens (s Skaz). Mit R o m a n Jakobson verbreitete sich das Konzept weiter — zunächst zur ,Prager Schule' des Strukturalismus, in deren linguistisch-literaturwissenschaftlichen Debatten vor allem Havránek und Mukarovsky den Gedanken der ? Dominanz einer aktuellen Funktion unter vielen virtuellen ausarbeiteten. Doch spielte der Funktionsbegriff eine ähnlich zentrale Rolle auch in anderen Zweigen der strukturalen Linguistik und Poetik; etwa in der Kopenhagener Schule (Hjelmslev, Uldall, Jespersen u. a.) mit ihrer radikal funktionalistischen ,Glossematik' (/" Permutation) oder der Genfer Schule (de Saussure, Bally, der Ex-Prager Karcevskij) mit ihrer weltweit wirksamen Standard-Definition: „Ein Element einer Äußerung wird als sprachlich betrachtet, weil es eine Funktion hat" (Martinet, 40). U n d noch in der sovjetischen Semiotik, besonders in der ,Schule von Tartu', wirkt sich (z. T. über Umwege) die Moskauer Grundkonzeption aus - nun freilich demonstrativ ergänzt um gesellschaftliche Funktionen von Literatur, die in Zusammenhängen der ? Literatursoziologie eine zunehmende Bedeutung gewonnen hatten (vgl. z. B. G o l d m a n n 1964): „Die Vereinigung von künstlerischer und magischer, juristischer, sittlicher, philosophischer und politischer Funktion macht ein nicht wegzudenkendes Charakteristik u m des sozialen Funktionierens eines künstlerischen Textes aus. [...] Freilich wird

Funktion in einer Reihe von Fällen nur eine einzige Funktion realisiert" (Lotman, 12 f.). Ebenfalls im Prager Zirkel dürfte zuerst die Konzeption einer eigenen ästhetischen Funktion' entstanden sein. Für den Gedanken einer „Konzentration der ästhetischen Funktion auf das Zeichen selbst" (Mukarovsky 1967, 47 f.) könnte freilich erneut eine poetologische Bemerkung von Novalis Pate gestanden haben: „die rein poetische Anekdote bezieht sich auf sich selbst, sie interessiert um ihrer selbst willen" (Novalis 2, 569). Der wichtigere Bezugspunkt ist jedoch zweifellos die Trias von Symbolischen Funktionen bei Ernst Cassirer („Ausdrucks-, Darstellungs- und Bedeutungs-Funktion"; Cassirer 1910 sowie Cassirer 1923, 3, 335 — 353) bzw., daran anschließend, von Sprachfunktionen im ,Organon-Modeir der Sprache bei Karl Bühler 1934: die deskriptive oder Darstellungsfunktion, die expressive oder Ausdrucksfunktion, die appellative oder Appellfunktion. Jakobson hat dann diese drei auf sechs kommunikative Funktionen erweitert und poetologisch ausgearbeitet zu seinem Zentralbegriff der ? Poetischen Funktion (dazu auch ? Aquivalenzprinzip). Karl Bühler: Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache [Jena 1934], Repr. Stuttgart 1965. - Ernst Cassirer: Substanzbegriff und Funktionsbegriff. Berlin 1910. - E. C.: Philosophie der symbolischen Formen. 3 Bde. Berlin 1 9 2 3 - 2 9 . - Louise Cazeault: La notion de fonction dans le système de 1900. In: Paul Valéry 3: approche du „Système". Hg. v. Huguette Laurenti. Paris 1979, S. 8 3 - 1 0 0 . - René Dirven, Vilém Fried (Hg.): Functionalism in linguistics. Amsterdam 1987. - Lucien Goldmann: Pour une sociologie du roman. Paris 1964. - Bohuslav Havránek: Die funktionale Schichtung der Literatursprache. In: Grundlagen der Sprachkultur. Hg. v. Erika Ising und Jürgen Scharnhorst. Berlin 1976, S. 1 5 0 - 1 6 1 . - Gerhard Heibig: Zum Funktionsbegriff in der modernen Linguistik. In: D a F 5 (1968), S. 2 7 4 - 2 8 7 . - Jurij M. Lotman: Die Analyse des poetischen Textes. Kronberg 1975. - André Martinet: Grundzüge der Allgemeinen Sprachwissenschaft. Stuttgart 3 1968. Jan Mukarovsky: Kapitel aus der Poetik [1948]. Frankfurt 1967. - Novalis: Schriften. Hg. v. Richard Samuel u. a. Bd. 2 u. 3. Darmstadt 2 1965 u. 1968. — Jurij Striedter (Hg.): Russischer Formalismus. München 1971.

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SachG: Eine eigentliche ,Sachgeschichte der Funktionen von Literatur' läßt sich naturgemäß in diesem Rahmen nicht darstellen; verwiesen sei lediglich auf die historische Verankerung spezifischer Funktionen wie der /" Katharsis als Funktionsbestimmung der Tragödie (vgl. auch Furcht und Mitleid) oder der horazischen Leitfunktionen des ,prodesse' (vgl. bes. f Belehrung sowie ? Erbauung) bzw. .delectare' (/" Unterhaltung, aber auch ? Rührung) sowie in der Moderne auf die polaren Positionen des ,L'art pour l'art' (y" Fin de siècle) und der /" Engagierten Literatur (vgl. auch Emanzipatorisch). ForschG: Umfassende wissenschaftsgeschichtliche Untersuchungen speziell zum literaturwissenschaftlichen Funktionsbegriff liegen offenbar bislang nicht vor (wären freilich ein Desiderat). Wichtige Stationen der konzeptuellen Entwicklung lassen sich vor allem in historischen Studien zur Geschichte des Formalismus und Strukturalismus verfolgen: k n a p p etwa in den Beiträgen über Tynjanov, Mukarovsky und Jakobson im Band ,Klassiker der Literaturtheorie'; ausführlicher in den zentralen Monographien von Erlich, Hansen-Löve, Broekman, Holenstein und Chvatik; zu speziellen Aspekten in Aufsätzen wie z.B. von Weise 1978 zum Prager Funktionalismus oder von Koch 1978 mit Hinweisen zur Entwicklung des .Selbstbezüglichkeits-Theorems' der Ästhetischen bzw. Poetischen Funktion (Koch, 287-289). Deutlich weiterführenden Charakter haben Arbeiten, die eine historische Aufarbeitung und zugleich eine präzisierende Rekonstruktion des literaturwissenschaftlichen Funktionsbegriffes in Angriff nehmen. Am ausführlichsten tut dies bislang Fietz 1976 mit dem Ziel eines .Funktionalen Strukturalismus'; sein stark autorbezogenes Funktionskonzept kehrt dabei mit der „Frage nach der intendierten Funktion des Textes" (Fietz, 27) vergleichsweise deutlich zu hermeneutischen Traditionen zurück. Demgegenüber verbindet Gumbrecht 1978 den Funktionsbegriff entschieden mit Ansätzen der Konstanzer s Rezeptionsästhetik·. „Unter Funktionen von Texten sollen

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Furcht und Mitleid

jene Auswirkungen auf das Verhalten und Handeln ihrer Hörer/Leser verstanden werden, die sich als Folgen der Textrezeption verstehen lassen" (Gumbrecht, 357). Das abweichungspoetische Funktionskonzept versucht mit einer Explikation der Termini Interne und Externe Funktion Aspekte sowohl des formalistischen wie des soziologischen Funktionsbegriffs nutzbar zu machen (Fricke 1981, 87-100). Sinnvoll erscheint eine Ergänzung dieser beiden Funktionstypen durch eine zusätzliche Kategorie der „pragmatischen WirkungsFunktion" (Zymner 1995, 353), die ein Text oder Textelement genau dann erfüllt, wenn nur durch dessen Besonderheit eine signifikante Beziehung zum Leser hergestellt wird — etwa durch seine nachweisbare Eignung, Leser zum Lachen, zum Schaudern oder auch zum bewundernden Staunen zu bringen. Lit: Jan M. Broekman: Strukturalismus - Moskau, Prag, Paris. Freiburg i. Br. 1971. - Kvetoslav Chvatik: Tschechoslowakischer Strukturalismus. München 1981. - Victor Erlich: Russischer Formalismus. München 1964. - Lothar Fietz: Funktionaler Strukturalismus. Grundlegung eines Modells zur Beschreibung von Text und Textfunktion. Tübingen 1976. — Harald Fricke: Norm und Abweichung. Eine Philosophie der Literatur. München 1981. - Hans Ulrich Gumbrecht: Poetizitätsdefinition zwischen Funktion und Struktur. In: Poetica 10 (1978), S. 3 4 2 - 3 6 1 . — Aage Hansen-Löve: Der russische Formalismus. Wien 1978. - Elmar Holenstein: Roman Jakobsons phänomenologischer Strukturalismus. Frankfurt 1975. - Klassiker der Literaturtheorie. Hg. v. Horst Turk. München 1979. - Walter A. Koch: Poetizität zwischen Metaphysik und Metasprache. In: Poetica 10 (1978), S. 2 8 5 - 3 4 1 . — Günter Weise: Zum Funktionsbegriff in der Prager Linguistenschule. In: Zs. für Phonetik [...] 31 (1978), S. 5 6 4 - 5 6 9 . - Rüdiger Zymner: Manierismus. Paderborn 1995.

Harald

Expl: Furcht und Mitleid sind (1) .Leidenschaften', die durch die Tragödie bei den Zuschauern (Lesern) ausgelöst werden, (2) Leidenschaften', die in der Tragödie zur Darstellung gelangen, um bei den Zuschauern einen Identifikations- oder Gegenidentifikationsprozeß in Gang zu bringen. Unter ,Furcht' verstand man die Furcht des Rezipienten, bei gleichem Handeln ein ähnlich tragisches Schicksal zu erleiden wie der Protagonist auf der Bühne; unter ,Mitleid' sollte die Anteilnahme am tragischen Schicksal dieser Person begriffen werden. Als Ziel galt in der Aristotelischen Tragödienlehre, daß eine Tragödie Furcht und Mitleid erwecken und die Zuschauer von derartigen Erregungszuständen reinigen (/" Katharsis) sollte. Für die europäische Tragödientheorie wurden Furcht und Mitleid im Zuge der , Poetik'-Übersetzungen des Aristoteles seit dem 16. Jh. zu zentralen poetologischen Kategorien, die freilich keine einheitliche Handhabung erfuhren. WortG: Die griech. Termini ελεος [éleos] und φόβος [phóbos] wurden in die Tragödientheorie durch Aristoteles eingeführt. Im Deutschen wurden sie bis in die jüngste Vergangenheit hinein durch Mitleid und Furcht wiedergegeben. Diese Übersetzung dominiert in der deutschen Tragödientheorie seit Lessing. Im Sprachgebrauch des 18. Jhs. überwiegt dabei die Übersetzung durch Furcht diejenige durch Schrecken, während in Frankreich crainte und terreur synonym verwendet wurden. Erst im Zuge altphilologischer Forschung im 19. und 20. Jh. kam es zu differenzierteren Übersetzungen. Heute hat sich Schadewaldts Jammer und Schaudern anstelle von Mitleid und Furcht durchgesetzt (Literatur bei Luserke 1991).

Fricke

Funktionalstil /" Stil Furcht und Mitleid Tragische Leidenschaften, die, als zentrale poetologische Kategorien aufgefaßt, die Wirkung der Tragödie bestimmen.

BegrG/SachG: Nach Aristoteles (,Poetik' 1449 b 2 4 - 2 7 ) besteht die spezifische Aufgabe der Tragödie darin, Furcht und Mitleid bzw. Jammer und Schaudern hervorzurufen. Darin erfüllt sich auch das ihr eigentümliche Vergnügen: Jammer mit dem ins Unglück geratenen Helden, Schauder vor den Folgen dieses Unglücks. Phóbos (Schaudern), éleos (Jammern) und kátharsis (Reinigung) werden von Aristoteles als wir-

Furcht und Mitleid kungsästhetische Triade der Tragödie miteinander verschränkt. Er betont neben der Bedeutung des Affekts der Betroffenheit auch die kognitive Übertragungsleistung, daß das Unglück, das einem anderen unverdient widerfahrt, einen selbst treffen kann (vgl. Fuhrmann, 93). Corneille prägte nachhaltig in seinem .Discours de la tragédie' (1660) die Umdeutung von Furcht und Mitleid im barocken Märtyrerdrama. Hier geht es nicht mehr um die psychologische Affektentladung durch die Tragödie, sondern um die sittliche Läuterung der Zuschauer durch die Darstellung des tragischen Geschehens. Das Mitleid gilt dem Vorbild- und tugendhaften christlichen Märtyrer; Schrecken und Abscheu empfindet man vor dem lasterhaften Tyrannen (s Ständeklausel). In der 2. Hälfte des 17. Jhs. trat, durch Corneille und Saint-Evremond in die Diskussion gebracht, neben Furcht und Mitleid noch die ,Bewunderung' als dritte ästhetische Kategorie der Tragödie hinzu. — Im 18. Jh. setzt im Zuge des bürgerlichen Emanzipationsprozesses eine breite dramentheoretische Diskussion ein, in der Furcht und Mitleid zeitweise eine zentrale Rolle spielen. Gottsched hält in seinem ,Versuch einer Critischen Dichtkunst' (1730) zwar noch an der moralisch-didaktischen Funktion der Tragödie fest, wobei Schrecken und Mitleiden elementare Bestandteile zur Förderung des lehrhaften Zwecks sind. Doch schon Lessing entwikkelt in seiner,Hamburgischen Dramaturgie' (1769) Furcht und Mitleid als tragende Bestimmungen der Wirkung von Tragödien. Aristoteles umdeutend, ordnet er die Furcht dem Mitleid unter. Er begreift Furcht als „das auf uns selbst bezogene Mitleid" (75. St., LM 10, 102) und integriert sie in die neue Gattung des bürgerlichen Trauerspiels als letztlich einzige tragische Leidenschaft. Mitleid wird im Sinne der /" Empfindsamkeit als Sozialtugend verstanden: „Der mitleidigste Mensch ist der beste Mensch" (Lessing im Brief vom November 1756 an Friedrich Nicolai; FA 11/1, 120). Lessing entwickelt eine regelrechte Mitleidsästhetik, die im Zusammenhang der empfindsamen Tendenz des 18. Jhs. gesehen werden muß. Das Ziel der Tragödie heißt: „Verwandlung

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der Leidenschaften in tugendhafte Fertigkeiten" (,Hamburgische Dramaturgie', 78. St., LM 10, 117). Dagegen setzt die Sturmund-Drang-Dramatik die existentielle Erschütterung; allein der Maßstab des (exemplarischen) Handelns entscheidet über den Wert von Dichtung (Lenz, Goethe). Im weiteren Verlauf ist die Bedeutung der Kategorien ,Furcht' und ,Mitleid' eng an die Entwicklung des ^ Bürgerlichen Trauerspiels gebunden. Im 19. Jh. spielen Furcht und Mitleid als tragische Leidenschaften keine Rolle mehr. Im Zuge einer Entemotionalisierung der Katharsis werden sie durch ästhetische Autonomiekonzepte des Idealischen, der Erhabenheit, der Versöhnung etc. (Klassik, Romantik) verdrängt. Im Theater der Moderne haben Furcht und Mitleid ihre Rolle als poetologische Wirkungskategorien verloren. Brechts Konzept eines ? Epischen Theaters kann als radikale Absage an den ursprünglichen Auftrag der Affekterschütterung durch das Theater verstanden werden. Gotthold Ephraim Lessing: Sämtliche Schriften. Hg. v. Karl Lachmann und Franz Muncker [LM]. Bd. 10. Stuttgart 1894. - G. E. L.: Werke und Briefe [Frankfurter Ausgabe, FA]. Bd. 11/1. Frankfurt 1987.

ForschG: Die Forschung konzentrierte sich auf die Freilegung der im frühneuzeitlichen Rezeptionsprozeß verschütteten medizinisch fundierten Bedeutungen des aristotelischen Begriffspaars (Schadewaldt, Fuhrmann) und auf die Rekonstruktion des Bedeutungswandels zwischen französischer und deutscher Klassik (Schings, Martino, Michelsen, Luserke). Lit: Peter-André Alt: Die Tragödie der Aufklärung. Tübingen, Basel 1994. - Manfred Fuhrmann: Dichtungstheorie der Antike. Eine Einführung. Darmstadt 2 1992. - Stephen Halliwell: Aristotle's poetics. A study of philosophical criticism. London 1986. - Max Kommerell: Lessing und Aristoteles. Untersuchung über die Theorie der Tragödie. Frankfurt 5 1984. - Matthias Luserke (Hg.): Die Aristotelische Katharsis. Dokumente ihrer Deutung im 19. u. 20. Jh. Hildesheim, Zürich 1991. - M. L.: Die Bändigung der wilden Seele. Literatur und Leidenschaft in der Aufklärung. Stuttgart, Weimar 1995. - Alberto

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Futurismus

Martino: Geschichte der dramatischen Theorien in Deutschland im 18. Jh. Bd. 1. Tübingen 1972. - Peter Michelsen: Die Erregung des Mitleids durch die Tragödie. In: DVjs 40 (1966), S. 548-566. - Wolfgang Schadewaldt: Furcht und Mitleid? Zur Deutung des Aristotelischen Tragödiensatzes [1955]. In: Luserke 1991, S. 246—288. — Hans-Jürgen Schings: Consolatio Tragoediae. Zur Theorie des barocken Trauerspiels. In: Deutsche Dramentheorien. Hg. v. Reinhold Grimm. Bd. 1. Frankfurt 1971, S. 1 - 4 4 .

- H.-J. S.: Der mitleidigste Mensch ist der beste Mensch. Poetik des Mitleids von Lessing bis Büchner. München 1980. Matthias

Furor poeticus ? Inspiration Futurismus ? Expressionismus

Luserke

G Gag

Bühnenkomik

Galante Literatur Amouröse Literatur in spielerischer Aufbereitung; im engeren literaturwissenschaftlichen Sinne Werke der deutschen Literatur zwischen Barock und Aufklärung. Expl: Die Bezeichnung galant wird in einem doppelten Sinn verwendet: (1) in oft ungenauer Weise für erotische Texte und Kulturformen, die aus bürgerlicher Sicht als .höfisch' oder,romanisch' gelten; vor allem im 19. Jh. schwingt ein kulturchauvinistischer Ton mit. Bereits im 17. Jh. wird der Ausdruck auch umgangssprachlich und teils mit pejorativem Sinn benutzt, mit dem Unterton von .schlüpfrig'; (2) für die Epoche der deutschen Literatur zwischen Barock und Aufklärung, d. h. eine von romanischen Vorbildern geprägte Literatur zwischen etwa 1675 und 1730, und die in ihr vermittelten Kulturmuster. Die ältere Forschung betrachtete diese Literatur als eine auslaufende Form des /" Barock, während die neuere sie als Verbindungsglied und Auftakt eher der ? Aufklärung zuschlägt. Die Abgrenzung zur Literatur der .politischen Klugheit' (etwa zu Christian Weise, teilweise auch zu Christian Thomasius) oder der pragmatisch reformierten .Gelehrsamkeit' (z. B. zu Christian Gryphius) fallt schwer. WortG: Das in Deutschland während der 2. Hälfte des 17. Jhs. aufkommende Wort galant geht teils auf span, gala ,Staatskleid', galán ,höfischer Mensch' zurück (die ihrerseits auf arab. Chil'a ,Ehrenkleid', aber auch auf afrz. gale ,Lustbarkeit' zurückgeführt werden), teils auf ital. und span, galante .modisch gekleidet', das über frz. galant ,munter, tüchtig' nach Deutschland ge-

kommen ist und in diesem Sinne die Bedeutung des Wortes bestimmt hat (Schulz-Basler 1, 231 f.; DWb 4, 1156-1159). Schon in den 90er Jahren des 17. Jhs. (etwa bei Benjamin Neukirch, entschieden bei Erdmann Neumeister oder später bei Johann Christoph Gottsched) schränkte sich der Wortgebrauch auf den erotischen Bereich ein. BegrG: Der Ausdruck markierte im ausgehenden 17. Jh. die Abhängigkeit der zeitgenössischen Literatur von romanischen, am höfischen Verhaltensideal orientierten Kulturtechniken und setzte sie gegen ältere, als altfränkisch' verspottete Traditionen ab. Mit der Hinneigung zum Rationalismus trat diese historische Bedeutung zugunsten einer eher typisierenden (oft moralisierend-kritischen) zurück. Im Kontext einer vor allem vorstellungs- und geistesgeschichtlichen Historiographie verstand man .galante Literatur' im 19. Jh. (Koberstein, Goedeke) als eine historische Verfallserscheinung des ausgehenden 17. Jhs. Mit dem Positivismus Ende des 19. Jhs. bekam der Terminus (etwa in Hinblick auf den Roman: Bobertag) seine stil- und literaturgeschichtliche Bedeutung zurück. In neuerer Zeit weitet sich unter sozialgeschichtlichem Vorzeichen der Umfang des Begriffs wieder und wird dadurch (erneut) unsicherer, weil Phänomene in den Blick geraten, die unter anderem Vorzeichen unbeachtet blieben (wie etwa die zur ,conduite' führenden Erziehungsprogramme, die Pragmatisierung des Wissens, die Umformulierung von Stilempfehlungen). SachG: In kulturgeschichtlicher Perspektive stellt sich die galante Literatur als eine unübersichtliche, aber relativ stabile Erscheinung dar. Bereits die Zeitgenossen (etwa Thomasius) beklagten die modische Beliebigkeit der Zuschreibung in Hinsicht auf

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Galante Literatur

Umfang und Merkmale der Bezeichnung. Bald nach 1700 machten sich rationalistische Einflüsse entschieden bemerkbar (z. B. bei Neukirch). In spezifischen Handlungsfeldern (etwa im Zeremonial- oder Repräsentationswesen) blieben galante Attitüden (z. B. in der Oper oder in der Kasualpoesie, aber auch im Bereich des guten Benehmens) bis in die 40er Jahre und darüber hinaus geläufig. Sie flössen ins ? Rokoko ein. Die galante Literatur trat je nach ihrem gesellschaftlichen Ort als erotisch-unterhaltende Dichtung in der ausdrücklich für ihre Publikation entstehenden Form der Gedicht-Anthologie (Neukirch 1695-1703; Scharff 1699; Hunold 1718-1720) oder in Unterhaltungsromanen (August Bohse, Christian Friedrich Hunold) auf, als ein die angemessene conduite anleitendes Belehrungsschrifttum auf dem Schultheater (Christian Weise), in der Universität (Christian Thomasius) oder im Lesesessel (Christoph Heinrich Amthor), als Anleitungsbuch für einen kommunikationsfreundlichen Schreibstil (Neumeister/Hunold; Neukirch), als Repräsentationsdichtung (Johann Besser; Johann Ulrich König) oder als (nota bene .ungelehrte') Kunstübung weiblicher Autoren (Lehms 1715). Trotz dieser Vielfalt wußten sich die Autoren einem einheitlichen Stilideal verpflichtet, das sich negativ gegen die auf Buchwissen gegründete Schulgelehrsamkeit abgrenzte. Positiv orientierten sie sich — unterschiedlich intensiv — an Vorbildern des ,Marinismus' (y Manierismus) bzw. der Pariser Salonkultur; so etwa Heinrich Mühlpforth, Hans Assmann Frh. v. Abschatz, Henrich Postel, Christian Wernicke, Christian Hölmann, z.T. auch Barthold Hinrich Brockes (besonders in Gelegenheitsgedichten, in dem Oratorium ,Der für die Sünde der Welt gemarterte und Sterbende Jesus' und in seiner Marino-Übersetzung .Bethlehemitischer Kinder-Mord'), wobei Autoren der 2. Schlesischen Dichterschule wie Christian Hofmann v. Hofmannswaldau (aber auch Lohenstein) fast stereotypisierte Vorbilder abgaben. Teils nahmen die Autoren aber auch das rhetorische Niveau des mittleren Stils als Richtmaß, wobei sie Opitz als deutsches Beispiel zitierten und sich durch

Boileau literaturkritisch abgesichert wußten; besonders schulnahe Schreiber (wie Weise, Chr. Gryphius), jüngere Schriftsteller (wie Barthold Feind, Hunold oder Johann Christian Günther) und weibliche Autoren (wie Margarethe Susanne Kuntsch oder Maria Aurora v. Königsmarck) neigten dieser Richtung zu. Die Abgrenzung zwischen beiden Tendenzen war selten grundsätzlicher Natur. Vor allem im frühen 18. Jh. gab es unter rationalistischem Einfluß eine Neigung, das Ideal der (gesellschaftlichen) Verbindlichkeit als Forderung nach (gedanklicher) Klarheit zu verstehen (Johann Burkhard Mencke). Der galante Stil war nicht prinzipiell neu, er ebnete Tendenzen seiner Vorbilder im Hochbarock und in der französischen Literatur ein. Das verweist auf den historischgesellschaftlichen Ort, an dem galante Literatur um 1700 in Deutschland dominierte: Es handelte sich nicht um einen genuin literarischen Stil, sondern um ein kulturelles Muster, in dessen Rahmen Literatur, Musik, Kunst und die (sich neu formierenden) Gesellschaftswissenschaften (wie etwa die Jurisprudenz) ihre teils dekorative, teils regulierende Funktion bekamen. Die Vorbilder wurden der Lebenswirklichkeit des höfischen Absolutismus angeglichen; der sich arrangierende niedere Adel, das aufsteigende Amts- und das zu Wohlstand kommende Handelsbürgertum suchten die Lebensweise des (höfischen) Adels zu imitieren, was allerdings mehr Absicht blieb, als daß es Realität wurde. Das Orientierungs- und Unterhaltungsbedürfnis dieser Schichten wurde durch solche Literatur und durch Autoren wie Thomasius befriedigt, der weitläufige, zumeist kasuistische Ratschläge für ein Verhalten des ,als ob' gab, das Erfolg auf dem glatten Parkett der Welt versprach; sie enthielten Empfehlungen für ein kalkulierendes, der Situation gemäßes Verhalten in einer Gesellschaft, deren Regeln man nicht selbst bestimmt. Solche Direktiven folgten Überlegungen, wie sie Baldesar Castiglione, vor allem aber Balthasar Gracián, aber auch das .Journal des Sçavans' oder der .Mercure galant' vorgetragen hatten. Die Universität

Gattung Halle, an der Thomasius lehrte, wurde zum Mekka der deutschen Galanten. ForschG: Die galante Literatur hat wenig Aufmerksamkeit auf sich gezogen; am ehesten interessierten noch Formen wie Brief, Lyrik und Roman. Im Rahmen einer .sittengeschichtlichen' Perspektive (Karl Lamprecht, Eduard Fuchs) begann die positivistische Forschung mit der Sicherung der Quellen (Karl Goedeke, Waldberg, H a n s Heinrich Borcherdt). Kultur- und sozialgeschichtliche Ansätze vor allem während der 1920er und frühen 30er Jahre (Egon Cohn, Arnold Hirsch, Helmut Anton) blieben zunächst folgenlos. Es dominierten stilgeschichtliche Fragen, die aber die galante Literatur doch als eine eigenständige Form zwischen Barock und Aufklärung auffaßten (Ulrich Wendland, Reinhard Nickisch, Herbert Singer, Joachim Schöberl). Seit den 70er Jahren entfaltet sich in sozialgeschichtlicher Sicht (Singer, Wiedemann, Voßkamp) ein breiteres kulturgeschichtliches Epochenbild mit vielgestaltigem Inhalt und unscharfen Rändern. Lit: Helmut Anton: Gesellschaftsideal und Gesellschaftsroman im ausgehenden 17. Jh. Breslau 1935. - Egon Cohn: Gesellschaftsideale und Gesellschaftsroman des 17. Jhs. Berlin 1921. Franz Heiduk: Die Dichter der galanten Lyrik. München 1971. — Arnold Hirsch: Bürgertum und Barock im deutschen Roman. Köln, Graz 2 1957. — John A. McCarthy: The gallant novel and the German Enlightenment, 1670-1750. In: Anticipations of the Enlightenment in England, France, and Germany. Hg. v. Allan C. Kors und Paul J. Korshin. Philadelphia 1987, S. 1 8 5 - 2 1 7 . — Reinhard Nickisch: Die Stilprinzipien in den deutschen Briefstellern des 17. und 18. Jhs. Göttingen 1969. — Joachim Schöberl: „Liljeivmilch und rosen'purpur". Die Metaphorik in der galanten Lyrik des Spätbarock. Frankfurt 1972. Herbert Singer: Der deutsche Roman zwischen Barock und Rokoko. Köln, Graz 1963. - H. S.: Der galante Roman. Stuttgart 2 1966. - Wilhelm Voßkamp: Adelsprojektionen im galanten Roman bei Christian Friedrich Hunold. In: Legitimationskrisen des deutschen Adels 1200—1900. Hg. v. Peter Uwe Hohendahl und Paul Michael Lützeler. Stuttgart 1979, S. 8 3 - 9 9 . - Max v. Waldberg: Die galante Lyrik. Straßburg 1885. Ulrich Wendland: Die Theoretiker und Theorien der sog. galanten Stilepoche und die deutsche Sprache. Leipzig 1930. - Conrad Wiedemann

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(Hg.): Der galante Stil. 1680-1730. Tübingen 1969. - Jean M. Woods: Aurora von Königsmarck. Epitome of a .Galante Poetin'. In: Daphnis 17 (1988), S. 4 5 7 - 4 6 5 .

Uwe-K. Ketelsen

Gasel ? Ghasel Gassenhauer ? Schlager

Gattung Theoretischer wie metatheoretischer Begriff für Textgruppenbildungen unterschiedlichen Allgemeinheitsgrades, die diachron und synchron in Opposition zueinander stehen. Expl: Metatheoretisch fungiert ,Gattung' als Oberbegriff zur Benennung der unterschiedlichen Typen von Textgruppenbildungen. Als theoretischer Begriff dient .Gattung' — neben jeweils eigenständigen Begriffen — auch zur Bezeichnung für folgende Textgruppen: (1) die Sammelbegriffe /* Epik, S Lyrik und /* Drama oder andere Klassenbildungen wie Gebrauchsliteratur, Fiktionale Literatur usw.; (2) die auf die Goetheschen ,Naturformen' zurückgehenden ,Qualitäten' des Lyrischen, Epischen und Dramatischen (nach Staiger 1946); (3) die f Schreibweisen als Repertoire transhistorischer Invarianten wie das Narrative, das Dramatische, das Satirische, das Komische usw.; (4) die als ge- und bewußte Normen die Produktion und Rezeption von Texten bestimmenden .historischen Textgruppen' wie Verssatire, Fabel, Ode, Tragödie usw. (/" Genre im Sinne von Fricke 1981); (5) Untergruppen von (4) als typologische und/oder historische Spezifizierungen wie Briefroman, Bürgerliches Trauerspiel, anakreontische Ode usw.; (6) feste, d. h. metrisch bestimmte Formen wie Sonett, Rondeau, Sestine usw.

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Gattung

WortG: Das Wort Gattung, im 15. Jh. als postverbale Bildung zu gatten (.zusammenkommen, vereinigen') entstanden, bedeutete zunächst ,(Waren-)Sorte' und diente bereits Luther zur Ubersetzung des griech. γένος [génos] (Mt 13, 47) im Sinn von ,Art'. In fachwissenschaftlicher Schattierung schon bei Maaler 1561 belegt („ein nüwe gattung im schreiben brauchen ,genere novo literarum uti'"; Maaler, 158a), setzten sich Gattung und Art in der Wissenschaftssprache seit Christian Wolff und Gottsched für lat. genus und species durch (vgl. jeweils DWb s. v.). Die als fachwissenschaftliche Termini aus der logischen Definitionslehre stammenden griech. und lat. Entsprechungen für Gattung (γένος [génos], genus) bzw. Art (είδος [eidos], species) fungieren seit den Anfängen der europäischen Dichtungsreflexion als Termini technici der Poetologie (vgl. auch Genera dicendi). Bis zum ausgehenden 18. Jh. werden mit diesen Termini und ihren Äquivalenten in den einzelnen Nationalsprachen vor allem Textgruppenbildungen (im Sinne von 4) wie Epos, Tragödie, Verssatire bezeichnet. Gelegentlich wird das Wort Gattung auch schon vor Ende des 18. Jhs. für abstraktere, die historischen Textgruppenbildungen übergreifende Einheiten verwendet. Als erster faßt Diomedes (4. Jh. n. Chr.) die Einzelgattungen aufgrund eines spezifischen Verständnisses des platonisch-aristotelischen REDEKRITERIUMS zu einer Trias (,genus activum vel imitativum; genus enarrativum vel enuntiativum; genus commune vel mixtum') zusammen, die freilich nicht der goethezeitlichen Dreizahl entspricht, sondern etwa Epos und Lyrik unter dem genus mixtum subsumiert. Auch von der italienischen Renaissance-Poetik bis zu Batteux findet sich gelegentlich die Verwendung der terminologischen Äquivalente von Gattung für aus dem Redekriterium abgeleitete Sammelbegriffe, ohne daß hieraus eine verbindliche Systematik und terminologische Differenzierung unterschiedlicher Typen von Gattungskonzepten erwüchse. Eine terminologische Differenzierung erfolgt mit der Goetheschen Unterscheidung der drei „Naturformen" Epos, Lyrik und

Drama von den einzelnen „Dichtarten" (FA 3, 206-208), doch setzt sich die Scheidung zunächst nicht durch. Vielmehr verschiebt sich in der gesamteuropäischen Romantik die Verwendung des Wortes Gattung bzw. seiner Entsprechungen von den historischen Genera zu den drei ,Naturformen', was mit der romantischen Aufhebung der Differenzierung einzelner Dichtarten innerhalb der Großgruppen zusammenhängt. In der wissenschaftlichen Forschung des 20. Jhs., speziell in der Germanistik, herrscht die Tendenz vor, unter Gattungen primär die Goethesche Trias oder undifferenziert gänzlich unterschiedliche Textgruppenbildungen zu verstehen. Wenn Unterschiede gemacht werden, wird das Wort Gattung sowohl für die Trias der ,Naturformen' (Seidler u. a.) — im Unterschied von der ,Art' (Ode, Elegie usw.) — wie auch für die historische Gattung im Unterschied zu den ,Naturformen' verwendet (Viëtor u. a.). Fricke schlägt vor, Gattung als „unspezifizierten Oberbegriff für ganz verschiedenartige literarische Gruppenbildungen" zu verwenden, während >" Genre „historisch begrenzten literarischen Institutionen" vorbehalten bleiben sollte (Fricke, 132—138). Josua Maaler: Die teutsch Spraach. Zürich 1561.

BegrG: Welche Extension man dem Begriff ,Gattung' zuordnet, hängt von ontologischen, epistemologischen, ästhetischen und methodologischen Voraussetzungen ab, die zueinander in vielfacher Wechselbeziehung stehen. In ontologischer Hinsicht beseitigen strikte ,Nominalisten' wie Benedetto Croce das Gattungsproblem, indem sie die Gattungen generell als Begriffsfiktionen auffassen, denen kein Korrelat in der Wirklichkeit zukommt. ,Realisten' gehen demgegenüber von einer objektiven Realität der Gattungen aus. Was als realiter existierend angesehen wird, kann dabei freilich wesentlich verschiedene Phänomene meinen, je nachdem zwischen welchen generischen Konzepten differenziert wird und welchen von diesen ein Korrelat in der Wirklichkeit zugeordnet wird. So sind etwa für Staiger die Sammelbegriffe pure Klassifikationen, dagegen die drei ,Qualitäten' Kategorien einer Funda-

Gattung mentalontologie, die als Ideen im platonischen Sinne verstanden werden. Demgegenüber gesteht etwa H . R. J a u ß den Gattungen nur als „Gruppen oder historische[n] Familien" (Jauß, 110) reale Existenz zu. Neben ,nominalistischen' und realistischen' werden traditionellerweise ,konzeptualistische' Positionen unterschieden, die Allgemeinbegriffe wie .Gattung' als Abstraktionen unseres Geistes auffassen, dabei aber entweder einen Universalienrealismus voraussetzen oder sich nur konstruktivistisch angemessen formulieren lassen. Ein konstruktivistisches Verständnis begreift Gattungen gleich welcher Abstraktionsebene weder als vorgegebene Entitäten noch als beliebige Klassenbildungen, sondern als Konstrukte, die aufgrund von beobachtbaren Gemeinsamkeiten zwischen Texten im Rahmen einer Theorie erstellt werden (Hempfer, 122-127). Epistemologisch stellt sich die Frage, ob Gattungen als transhistorische Invarianten oder nur als historische Variablen zu bestimmen sind. Eine sinnvolle Diskussion dieser Frage wird erst möglich, wenn unterschiedliche Typen von Gattungsbegriffen mit unterschiedlicher Extension ausdifferenziert werden. Faßt man Gattungen als historische Textgruppen, so können diese naheliegenderweise nur historisch bestimmt werden, was nicht bedeutet, daß nicht Textgruppenbildungen größeren Allgemeinheitsgrades zu definieren sind. So differenziert bereits das Aristotelische Redekriterium (in modifizierendem Anschluß an Piatons ,Staat', 394a5-b3) zwischen erzählenden und dramatischen Texten, was eine der Differenzierung von Epos und R o m a n oder Komödie und Tragödie offensichtlich vorgeordnete Unterscheidung ist. Genauso wie in der Geschichtswissenschaft Strukturen mit unterschiedlicher Dauer angenommen werden oder die Sprachwissenschaft neben Varietäten auch sprachliche ,Universalien' im Sinne struktureller Invarianten untersucht, liegt es nahe, in der Gattungsforschung davon auszugehen, daß es generische Strukturen unterschiedlicher Dauer gibt. Dies gilt nicht nur für die Annahme von transhistorischen Invarianten der Kommunikation (/* Schreibweisen) ei-

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nerseits und von historisch variablen Gattungen andererseits, sondern auch letztere sind Phänomene von historisch ganz unterschiedlicher Dauer. Auf der Ebene der historischen Gattungen stellt sich nämlich erneut die Frage, ob man bestimmen kann, was ,den' R o m a n von anderen erzählenden Gattungen unterscheidet, oder ob man nur den idealistischen Roman des 17. Jhs.', den realistischen Roman des 19. Jhs.' usw. ausdifferenzieren kann, wobei sich im letzteren Fall die Frage ergäbe, warum man beide Male von ,Roman' spricht. Der Streit um die nur historische und/ oder transhistorische Bestimmbarkeit von Gattungen ist zu überwinden, wenn man zwischen verschiedenen Abstraktionsebenen unterscheidet und das traditionelle Abstraktionsverfahren durch Klassenbildung verabschiedet. Die verschiedenen generischen ,Ebenen' lassen sich nicht als Klassenbegriffe nach dem traditionellen Inklusionsschema fassen (so noch Genette 1983), sondern setzen komplexere Begriffsbildungen voraus. Transhistorische Invarianten sind, wenn überhaupt, nur als relativ abstrakte Relationen zwischen Elementen, d. h. als Strukturen bestimmbar; historische Gattungen lassen sich am ehesten über den Wittgensteinschen Begriff der Familienähnlichkeit' beschreiben, der kein Klassen-, sondern ein Typusbegriff ist und nicht voraussetzt, daß alle ,Mitglieder' einer F a m i lie' durch eine bestimmte Menge gemeinsamer Merkmale charakterisiert sind, sondern daß die Ähnlichkeit zwischen den F a m i lienmitgliedern' auf jeweils unterschiedlichen Mengen sich unterschiedlich überlappender Merkmale basiert. In ästhetischer Hinsicht wird vor allem das Problem der Präskriptivität oder Deskriptivität der Gattungen diskutiert. Während Aristoteles seine Gattungskonzepte wesentlich deskriptiv aus der vorliegenden Praxis entwickelte, wurden sie in der Folge, wie das gesamte Regelsystem der rhetorisch-poetischen Tradition, als normativ verbindliche Festlegungen verstanden. In der Goethezeit und der gesamteuropäischen Romantik wurde zwar die Verbindlichkeit der überkommenen Gattungsnormen auf-

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Gattung

gehoben, gleichwohl wurden die neuentwikkelten, umfassenderen Gattungskonzepte ebenfalls normativ bestimmt. Dies läßt sich bereits der Goetheschen Formulierung entnehmen, wonach es „nur drey ächte Naturformen der Poesie" gäbe (FA 3, 206). Ein normatives Gattungsverständnis bestimmt auch die wissenschaftliche Theoriebildung bis in die Mitte des 20. Jhs., wogegen sich nominalistische Positionen von Croce bis Derrida wenden, die die Gattungsbegriffe gerade wegen deren vorausgesetzter Normativität ablehnen. Versteht man Gattungen nicht präskriptiv, sondern ermittelt deskriptiv, welche generischen Gemeinsamkeiten unterschiedlicher Allgemeinheit sich aufgrund historisch immer schon vorgängiger Textgruppenbildungen (re-)konstruieren lassen, dann entfallt nicht nur das Hauptargument nominalistischer Theorien gegen die Annahme von Gattungsbegriffen, sondern auch das Reden vom ,Tod' der Gattungen in der Moderne erweist sich als — selbst präskriptives — Mißverständnis, das die Mischung und Aufhebung vorgegebener Gattungen mit dem Ende von generischen Differenzen identifiziert, während doch gerade die Wahrnehmung von Mischung und Aufhebung ein Wissen um solche Differenzen voraussetzt. In methodischer Hinsicht sind unterschiedlichste Bestimmungen der Gattungen vorgenommen worden, die einerseits wiederum davon abhängen, welche Extension von .Gattung' man annahm bzw. voraussetzte, und andererseits davon, in welchem Theorierahmen die Bestimmung vorgenommen wurde. Die Skala reicht von den psychologistischen Konzeptionen der 1920er Jahre bis zu kommunikativ-semiotischen Ansätzen. Die ältere Forschung tendierte dazu, die spezifische kommunikative Funktion von Gattungen zu überspringen und diese nur als Niederschlag von anderem — Psychischem, Sozialem, Anthropologischem — zu bestimmen, ohne den je vorausgesetzten Zusammenhang begründen zu können. Neuere Ansätze konvergieren darin, den kommunikativ-semiotischen Charakter von Gattungen als solchen zu erfassen und sie im Rahmen einer pragmatisch erweiterten kommunikativen Kompetenz anzusiedeln, insofern nicht mittels Texten in abstracto, sondern mittels generisch immer

schon spezifizierter Texte kommuniziert wird. Umstritten ist nach wie vor, ob neben den historisch-variablen auch universale Komponenten generischer Strukturen zu unterscheiden sind, und wenn ja, wie diese in einem kohärenten Beschreibungsmodell zueinander in Beziehung gesetzt werden können. Umstritten ist auch, ob bei der Beschreibung der strukturelle oder der funktionale Aspekt vorzuordnen sei. ForschG: ^ Gattungstheorie tungsgeschichte.

und

/" Gat-

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Gattungsgeschichte der Gattungen und Literatur des Mittelalters. In: Grundriß der romanischen Literaturen des Mittelalters. Hg. v. H. R. J. und Erich Köhler. Bd. 1. Heidelberg 1973, S. 107-138. - Erich Köhler: Gattungssystem und Gesellschaftssystem. In: Romanistische Zs. für Literaturgeschichte 1 (1977), S. 7 - 2 2 . - Eberhard Lämmert, Dietrich Scheunemann (Hg.): Regelkram und Grenzgänge. Von poetischen Gattungen. München 1988. - Dieter Lamping, Dietrich Weber (Hg.): Gattungstheorie und Gattungsgeschichte. Wuppertal 1990. - Erwin Leibfried: Kritische Wissenschaft vom Text. Stuttgart 1970, bes. S. 240-258. - Diane Macdonell: Theories of discourse. Oxford 1987. Adrian Marino: Toward a definition of literary genres. In: Yearbook of Comparative Criticism 8 (1978), S. 4 1 - 5 6 . - Julius Petersen: Die Wissenschaft von der Dichtung. Berlin 2 1944, bes. S. 120-128. - John David Pizer: The historical perspective in German genre theory. Stuttgart 1985. - Wolfgang Raible: Was sind Gattungen? In: Poetica 12 (1980), S. 320-349. - Adena Rosmarin: The power of genre. Minneapolis 1985. Wolfgang V. Ruttkowski: Die literarischen Gattungen. Bern, München 1968. - Jean-Marie Schaeffer: Qu'est-ce qu'un genre littéraire? Paris 1989. - Klaus Scherpe: Gattungspoetik im 18. Jh. Stuttgart 1968. - Herbert Seidler: Die Dichtung. Stuttgart 2 1965, bes. S. 344-377. Friedrich Sengle: Die literarische Formenlehre. Stuttgart 2 1969. - Emil Staiger: Grundbegriffe der Poetik. Zürich 1946. - Jurij Striedter, WolfDieter Stempel (Hg.): Texte der russischen Formalisten. 2 Bde. München 1969/1972, bes. Bd. 1, S. L X I - L X V I I . - Werner Strube: Analytische Philosophie der Literaturwissenschaft. Paderborn 1993. - Peter Szondi: Historische Ästhetik und Gattungspoetik. In: P. S.: Theorie des modernen Dramas [1956]. Frankfurt 24 1994, S. 9 - 1 3 . - Textsorten und literarische Gattungen. Hg. v. Vorstand der Vereinigung der deutschen Hochschulgermanisten. Berlin 1983. Tzvetan Todorov: Introduction à la littérature fantastique. Paris 1970, bes. S. 7 - 2 7 . - Karl Viëtor: Probleme der literarischen Gattungsgeschichte. In: DVjs 9 (1931), S. 425-447. - Gottfried Willems: Das Konzept der literarischen Gattung. Tübingen 1981. - Christian Wagenknecht (Hg.): Zur Terminologie der Literaturwissenschaft. Stuttgart 1988, bes. S. 263-356. Manfred Zimmermann: Einführung in die literarischen Gattungen. Berlin 2 1989.

Klaus W. Hempfer

Gattungsgeschichte Darstellung der Entwicklung von Gattungen als bestimmendem Moment der Literaturgeschichte.

655

Expl: Gattungsgeschichte (oder genauer: Gattungsgeschichtsschreibung) meint die Darstellung der Geschichte institutionalisierter Textgruppen und -reihen (s Gattungen), die vom Lesepublikum als solche wiedererkannt werden können und ein eigenes Beharrungsvermögen aufweisen, aber zeitlich begrenzte Dauer und Funktion haben. Fünf Gesichtspunkte sind für die Gattungsgeschichte zentral: (1) Gattungen als Selektionen aus einem Reservoir literarischer Möglichkeiten, deren Geschichte durch die jeweiligen Dominanten (Text- und Lesererwartungskonstanten) weitgehend bestimmt wird als ein zur Zukunft hin dynamischer Prozeß permanent möglicher Reduktionen und Stabilisierungen. (2) Der dynamische Prozeß als literarisch-soziale Institutionengeschichte, „als Folge eines Auskristallisierens, Stabilisierens und institutionellen Festwerdens von dominanten Strukturen", wobei davon ausgegangen wird, „daß Institutionalisierung dazu dient, .Konsens erfolgreich zu überschätzen', so daß beim Leser oder Hörer entsprechende .Kontinuitätserwartungen' gegenüber Gattungen geweckt werden" (Voßkamp 1977, 30, mit Bezug auf Luhmann, 30 f.). (3) Der gattungsgeschichtliche Prozeß als maßgeblich bestimmt durch normbildende Werke (Prototypen wie Boccaccios Novellen, Defoes ,Robinson Crusoe' oder Goethes ,Wilhelm Meisters Lehrjahre') und durch wechselseitige Komplementarität der Erwartungen gegenüber bestimmten Texteigenschaften und der ,Antworten' von Autoren auf diese Erwartungen. Die Geschichte der Gattungen läßt sich deshalb als „Ablauf einer durch die Responsion von konstanten Erwartungen und einander beeinflussenden Werkantworten hervorgebrachten literarischen Reihe" bestimmen (Herzog, xxxvi). (4) Die Funktionen von Bedürfnissynthese, -erweiterung und -produktion. Gattungen liefern einerseits „Möglichkeiten (zeitlich begrenzter) Bedürfnisbefriedigung für bestimmte Leser (Schichten, Gruppen)", andererseits setzen sie neue Bedürfnisse frei (Voßkamp 1983, 40).

656

Gattungsgeschichte

(5) Eine funktionshistorisch bestimmte Gattungsgeschichte, die von der Doppelheit von Bedürfnissynthetisierung und Bedürfnisproduktion ausgeht, macht insbesondere auf das Diskontinuierliche von Gattungen aufmerksam (vgl. Fowler 1974, 90 f.). WortG:

Gattung.

BegrG: Die drei Grund- oder Hauptgattungen Epos, Lyrik, Drama, Goethes „drei echte Naturformen der Poesie" (WA I 7, 118—121), waren für die Gattungstheorie von der Goethezeit bis ins 20. Jh. (Staiger) von entscheidender Wichtigkeit, haben aber für die konkrete Gattungsgeschichtsschreibung keine Rolle gespielt. Das gilt auch für die Erweiterung dieses Dreierschemas durch eine vierte Großgattung, die didaktische Literatur (Sengle), wie für den Versuch, auf der Basis einzelner Grundtypen sprachlichen Gestaltens /" Einfache Formen zu unterscheiden (Jolies). In Absetzung davon und auch von B. Croces Abqualifizierung der Gattungen als Begriffsfiktionen hat sich seit den 1920er Jahren die Auffassung von Gattungen als ausdifferenzierten ,Dichtarten' durchgesetzt, die selbst einem historischen Wandel unterliegen, welcher mit evolutionstheoretischen Mitteln (Brunetière) nicht zu begreifen ist. Gattungen wurden zunächst bestimmt als „Umkreis formaler Möglichkeiten" (Müller 1929, 147) bzw. „Umkreis formaler Möglichkeiten innerhalb eines eigentümlich strukturierten Gehalts" (Viëtor, 435), der jedem dichterischen Schaffen vorgegeben ist. Erst eine Gattungsforschung, die die literarischen Konventionen auf die Kommunikation zwischen Autoren und Rezipienten begründet (zuerst Wellek/Warren), hat die neuere Gattungsgeschichtsschreibung maßgeblich befruchtet. Vertreter des russischen Formalismus und des tschechischen Strukturalismus haben Gattungen als literarische Reihen' bzw. evolutionierende Bezugssysteme' charakterisiert und damit einen strukturfunktionalen Ansatz ermöglicht. Unter dem Aspekt „der historischen Standortsgebundenheit" (Szondi, 20) werden Gattungen nicht mehr aus einem theoretischen System abgeleitet, sondern als „histo-

rische Familien" (Jauß, 110) bestimmt und dargestellt bzw. als „soziale Konventionen des Literaturgebrauchs und der Literaturtradition" (Kuhn, 150). Die Geschichte der literarischen Gattungen ist dann maßgeblich durch die Geschichte ihrer sozialen Funktion bestimmt. Rezeptionsgeschichtliche Ansätze versuchten, literarische Gattungen bei grundsätzlicher „Historisierung des Formbegriffs" als zeitlichen „Prozeß fortgesetzter Horizontstiftung und Horizontveränderung" zu bestimmen (Jauß, 127). Daran anschließende, sozialgeschichtlich orientierte Versuche einer Funktionsgeschichte literarischer Gattungen gehen von Gattungen als „literarisch-sozialen Institutionen" aus (Voßkamp). Die Doppelheit von Zweckbedingtheit und Eigengesetzlichkeit charakterisiert generell den Status sozialer Institutionen, so daß sich eine Reihe von Parallelen zur Geschichte von Institutionen und — im Blick auf die Dynamik der Gattungsbildung — zu Prozessen der Institutionalisierung und Entinstitutionalisierung ergeben. Diskursgeschichtliche Ansätze relativieren die Rolle literarischer Gattungen in der Geschichte, indem sie Gattungen lediglich unter Aspekten des ,Architextes' betrachten. Das Interesse gilt nicht mehr dem einzelnen Text, „sondern nur seiner textuellen Transzendenz [...], d . h . all dem, was ihn auf verborgene oder manifeste Weise mit anderen Texten verbindet" (Genette, 100). Gattungsgeschichte mündet so in die Geschichte der Transtextualität und f Intertextualität. Die Unterscheidung zwischen transhistorischen Invarianten und historischen Varianten in der Geschichte der Literatur (Hempfer) böte die noch wenig genutzte Möglichkeit, relativ konstante Schreibweisen (etwa satirische, utopische, komische oder dramatische) historisch zu beschreiben. Schreibweisen' in der Geschichte der Literatur sind eher als ein Problem der Stilgeschichte aufgefaßt worden. Ferdinand Brunetière: L'évolution des genres dans l'histoire de la littérature. Paris 1890. - Benedetto Croce: Ästhetik als Wissenschaft des Ausdrucks und allgemeine Linguistik. Leipzig 1905. - Gérard Genette: Introduction à l'archi-

Gattungsgeschichte texte. Paris 1979 [dt.: Einführung in den Architext. Stuttgart 1990]. - Johann Wolfgang Goethe: Werke [Weimarer Ausgabe, WA]. Weimar 1887-1919. - André Jolies: Einfache Formen. Halle 1930. - Friedrich Sengle: Literarische Formenlehre. Stuttgart 1967. - Emil Staiger: Grundbegriffe der Poetik. Zürich 1946. - René Wellek, Austin Warren: Theorie der Literatur [1949]. Berlin 1963. SachG: D i e ältere Gattungsgeschichtss c h r e i b u n g bestätigt die B e m e r k u n g , „ d a ß L i t e r a t u r g e s c h i c h t s s c h r e i b u n g bis zu e i n e m gewissen G r a d e o h n e v o r h e r g e g a n g e n e K l ä rung entscheidender Grundbegriffe praktisch m ö g l i c h ist" ( M ü l l e r 1929, 138). G a t t u n g ' ist k o n z i p i e r t als ein ( m e h r o d e r weniger n o r m a t i v e r ) O r d n u n g s b e g r i f f mit d e r F u n k t i o n , eine b e g r e n z t e A u s w a h l a u s d e r Fülle d e r literarischen Ü b e r l i e f e r u n g zu t r e f f e n ; die G a t t u n g s g e s c h i c h t e n ( v o n K o c h bis C r e i z e n a c h ) setzen d e m g e m ä ß a u f I n d i v i d u a l i t ä t u n d bieten in c h r o n o l o g i s c h geo r d n e t e r E r z ä h l u n g eine d i c h t e R e i h e individueller R e a l i s a t i o n e n d e r als e i n f a c h gegeb e n o d e r als u n v e r ä n d e r l i c h a n g e s e t z t e n Gattung. D i e n e u e r e theoriegeleitete g e r m a n i s t i sche G a t t u n g s g e s c h i c h t s s c h r e i b u n g b e g i n n t m i t einer R e i h e v o n M o n o g r a p h i e n z u r G e schichte einzelner lyrischer G a t t u n g e n (Viëtor, Müller, K a y s e r , Beißner), d e r sich n a c h d e m 2. W e l t k r i e g a u c h A r b e i t e n zu epischen u n d dramatischen G a t t u n g e n angeschlossen h a b e n . D i e t h e o r e t i s c h e D i s k u s s i o n d e r 70er J a h r e ist in m e h r e r e n e u e r e D a r s t e l l u n g e n e i n g e g a n g e n (z. B. Fischer-Lichte, L a m p i n g , L e h m a n n ) , w ä h r e n d die G e s c h i c h t e v o n Schreibweisen bisher n u r a u s n a h m s weise (Verweyen/Witting) geschrieben w o r d e n ist. Friedrich Beißner: Geschichte der deutschen Elegie. Berlin 1941. - Wilhelm Creizenach: Geschichte des neueren Dramas. 5 Bde. Halle 1893-1913. - Erika Fischer-Lichte: Geschichte des Dramas. Tübingen 1990. — Wolfgang Kayser: Geschichte der deutschen Ballade. Berlin 1936. Eduard Emil Koch: Geschichte des Kirchenliedes und Kirchengesanges. 2 Bde. Stuttgart 1847. Dieter Lamping: Das lyrische Gedicht. Göttingen 1989. - Jürgen Lehmann: Bekennen - Erzählen — Berichten. Studien zur Theorie und Geschichte der Autobiographie. Tübingen 1988. - Günther Müller: Geschichte des deutschen Liedes. Mün-

657

chen 1925. - Theodor Verweyen, Gunther Witting: Die Kontrafaktur. Konstanz 1987. - Karl Viëtor: Geschichte der deutschen Ode. München 1923. ForschG: D i e k o n z e p t u e l l e n V o r a u s s e t z u n gen d e r G a t t u n g s g e s c h i c h t e in d e r G a t t u n g s t h e o r i e sind f ü r d a s 19. J h . v o n Willems u n d f ü r d a s 20. J h . i n s b e s o n d e r e v o n H e m p f e r dargestellt u n d d i s k u t i e r t w o r d e n . Untersuchungen zur praktischen Gattungsg e s c h i c h t s s c h r e i b u n g liegen n o c h n i c h t vor. Lit: Alastair Fowler: The life and death of literary forms. In: New directions in literary history. Hg. v. Ralph Cohen. Baltimore 1974, S. 7 7 - 9 4 . - A. F.: Kinds of literature. Cambridge/Mass. 1982. — Harald Fricke: Norm und Abweichung. München 1981. - Michal Glowinski: Die literarische Gattung und die Probleme der historischen Poetik. In: Formalismus, Strukturalismus und Geschichte. Hg. v. Aleksandar Flakar und Viktor Zmegac. Kronberg 1974, S. 155-185. - Werner Hahl: Gattungspoetik. In: Literatur-Lexikon. Hg. v. Volker Meid. Bd. 13. Gütersloh, München 1992, S. 328-336. - Klaus W. Hempfer: Gattungstheorie. München 1973. - Reinhart Herzog: Die Bibelepik der lateinischen Spätantike. Bd. 1. München 1975. - Walter Hinck (Hg.): Textsortenlehre - Gattungsgeschichte. Heidelberg 1977. - Hans Robert Jauß: Theorie der Gattungen und Literatur des Mittelalters. In: Grundriß der romanischen Literaturen des Mittelalters. Bd. 1. Hg. v. H. R. J. und Erich Köhler. Heidelberg 1972, S. 107-138. - Gerhard R. Kaiser: Zur Dynamik literarischer Gattungen. In: Die Gattungen in der vergleichenden Literaturwissenschaft. Hg. v. Horst Rüdiger. Berlin 1974, S. 3 2 - 6 2 . - Erich Köhler: Gattungssystem und Gesellschaftssystem. In: Romanistische Zs. für Literaturgeschichte 1 (1977), S. 7 - 2 1 . - Hugo Kuhn: Gattung. In: Handlexikon zur Literaturwissenschaft. Hg. v. Diether Krywalski. München 1974, S. 150 f. - Dieter Lamping: Probleme der neueren Gattungstheorie. In: Gattungstheorie und Gattungsgeschichte. Hg. v. D. L. und Dietrich Weber. Wuppertal 1990. - Niklas Luhmann: Institutionalisierungs-Funktion und Mechanismus im sozialen System der Gesellschaft. In: Zur Theorie der Institutionen. Hg. v. Helmut Schelsky. Düsseldorf 1970, S. 2 7 - 4 1 . - Edgar Marsch: Gattungssystem und Gattungswandel. In: Probleme der Literaturgeschichtsschreibung. Hg. v. Wolfgang Haubrichs. Göttingen 1979, S. 104-123. - Günther Müller: Bemerkungen zur Gattungspoetik. In: Philosophischer Anzeiger 3 (1928/29), S. 129-147. - Fritz Nies: Für die

658

Gattungstheorie

stärkere Ausdifferenzierung eines pragmatisch konzipierten Gattungssystems. In: Zur Terminologie der Literaturwissenschaft. Hg. v. Christian Wagenknecht. Stuttgart 1989, S. 3 2 6 - 3 3 6 . Martin Raether: Probleme der literarischen Gattungen. In: Zs. für Romanische Philologie 89 (1973), S. 4 6 8 - 4 7 6 . - Wolfgang Raíble: Was sind Gattungen? In: Poetica 12 (1980), S. 3 2 0 - 3 4 9 . - Peter Szondi: Poetik und Geschichtsphilosophie II. Von der normativen zur spekulativen Gattungspoetik. Frankfurt 1974. - Textsorten und literarische Gattungen. Hg. v. Vorstand der Vereinigung der Deutschen Hochschulgermanisten. Berlin 1983. — Theodor Verweyen: Zur Problematik literaturwissenschaftlicher Gattungsbegriffe. In: Zur Terminologie der Literaturwissenschaft. Hg. v. Christian Wagenknecht. Stuttgart 1989, S. 2 6 3 - 2 7 3 . - Karl Viëtor: Probleme der literarischen Gattungsgeschichte. In: DVjs 9 (1931), S. 4 2 5 - 4 4 7 . - Wilhelm Voßkamp: Gattungen als literarisch-soziale Institutionen. In: Hinck, S. 2 7 - 4 2 . - W. V.: Literaturgeschichte als Funktionsgeschichte der Literatur. In: Literatur und Sprache im historischen Prozeß. Hg. v. Thomas Cramer. Bd. 1. Tübingen 1983, S. 3 2 - 5 4 . - W. V.: Gattungen. In: Literaturwissenschaft. Hg. v. Helmut Brackert und Jörn Stückrath. Reinbek 1992, S. 2 5 3 - 2 6 9 . - Gottfried Willems: Das Konzept der literarischen Gattung. Tübingen 1981.

Wilhelm Voßkamp

Gattungsstil /" Stil

Gattungstheorie Entweder die Theorie einer einzelnen Gattung oder die Theorie der Gattungstheorien. Expl: Der Begriff hat je nach Zusammenhang unterschiedlichen Umfang: (1) Die theoretische (systematische) Bestimmung und Beschreibung einer einzelnen /" Gattung im Unterschied zu ihrer historischen Darstellung (s Gattungsgeschichte)·, diese Begriffsverwendung ist eine kontextabhängige Abbreviatur von: „Theorie der Gattung ..." (z. B. f Romantheorie). (2) Die theoretische (systematische) Bestimmung und Beschreibung der generellen

Prinzipien und Probleme von Gattungstheorien. In diesem Sinn meint der Begriff nicht „die Theorie einer spezifischen G r u p pierung von Texten", sondern „das generelle Problem der Gruppierungsmöglichkeiten überhaupt" (Hempfer, 17). Diese Bedeutung wird im folgenden zugrundegelegt. WortG: Vgl. zunächst ^ Gattung. Die spezifische Benennung der Teildiszplin Gattungstheorie ist im Deutschen — im Unterschied zum engl, genre theory (vgl. etwa Wellek) oder zum frz. théorie des genres littéraires (vgl. etwa Vincent), selbst zum nl. theorie der literaire genres (vgl. Stutterheim) — erst in den letzten drei Jahrzehnten des 20. Jhs. nachweisbar. Noch Ende der 60er Jahre ist die alternative Bezeichnung Gattungspoetik (vgl. Scherpe) häufiger zu finden. Durchgesetzt hat sich Gattungstheorie — wohl als Übersetzung des frz. Ausdrucks — erst Anfang der 70er Jahre durch die einflußreichen Arbeiten von Jauß (1972) und Hempfer (1973). C. F. P. Stutterheim: De theorie der literaire genres. In: Fs. H. J. Pos. Amsterdam 1948, S. 1 2 8 - 1 4 1 . - C. Vincent: Théorie des genres littéraires. Paris 1903, 21 1951. - René Wellek: Genre theory, the Lyrik and .Erlebnis'. In: Fs. Richard Alewyn. Hg. v. Herbert Singer und Benno von Wiese. Köln, Graz 1967, S. 3 2 9 - 4 1 2 .

BegrG: Im Sinn des unter (2) explizierten terminologischen Konzepts weitgehend identisch mit der Wortgeschichte des Fachausdrucks, die durch Hempfers Monographie zur ,Gattungstheorie' (1973) festgeschrieben worden ist. Ältere Konzeptionen bedienen sich noch verschiedener anderer, allerdings nur zum Teil alternativer Bezeichnungen wie „Lehre von den Dichtungsgattungen" (Petersen 1925), „Gattungspoetik" (Müller 1928/29), „Lehre von der Einteilung der Dichtkunst" (Behrens 1940) oder „literarische Formenlehre" (Sengle 1967), neuere linguistisch orientierte dagegen zumeist der Bezeichnung „Textsortenlehre" (Hinck 1977). Irene Behrens: Die Lehre von der Einteilung der Dichtkunst vornehmlich vom 16. bis 19. Jh. Halle 1940. — Günther Müller: Bemerkungen zur Gattungspoetik. In: Philosophischer Anzeiger 3

Gattungstheorie (1928/29), S. 1 2 9 - 1 4 7 . - Julius Petersen: Zur Lehre von den Dichtungsgattungen. In: Fs. August Sauer. Stuttgart 1925, S. 7 2 - 1 1 5 . - Friedrich Sengle: Die literarische Formenlehre. Stuttgart 1967.

SachG: Der Begriff ,Gattungstheorie' im unter (2) explizierten Sinn signalisiert eine — vor allem durch /" Formalismus und / Strukturalismus initiierte — Verwissenschaftlichung der Forschung: Die Gattungstheorie tritt, ihrem eigenen Anspruch nach, an die Stelle der traditionellen normativen oder spekulativen Gattungspoetik (vgl. Szondi). Deren philosophischer oder anthropologischer Fundierung und deren zumeist essentialistischen Tendenzen, wie sie ζ. B. noch bei Jolies, Petsch oder Staiger zutage treten, setzt sie eine stärker empirische Orientierung an sprachlich nachweisbaren Textmerkmalen entgegen (und insofern auch einen strengeren Theorie-Begriff). Die gattungstheoretische Diskussion hat sich seit den 1970er Jahren außer in monographischen Darstellungen (wie der Hempfers 1973) und umfassenden literaturtheoretischen Entwürfen (wie dem Frickes 1981) vor allem in theoretisch ambitionierten und reflektierten Studien zur Theorie einzelner Gattungen vollzogen, so etwa zur Verssatire (Hempfer), zum geistlichen Spiel des Mittelalters (Warning) oder zur Parodie (VerweyenAVitting). Der Verschiedenartigkeit der Gattungen und damit der sich jeweils stellenden Probleme entsprechend ist die Diskussion nicht kontinuierlich geführt worden. Dabei haben sich im wesentlichen sechs große Aufgaben der Gattungstheorie herausgestellt: (1) Die Einteilung der Literatur in Gattungen. Dabei können zwei (alternative) Vorstellungen leitend sein: die von einem in sich geschlossenen, oft für invariabel angesehenen System und die von einer - historisch — offenen Reihe von Gattungen. Als Inbegriff eines geschlossenen Systems von Gattungen kann die traditionelle Theorie von den drei Hauptgattungen Lyrik, Epik und Dramatik gelten, die von ihren Vertretern gern auf Piaton und Aristoteles zurückgeführt wird (WellekAVarren, 247); daneben

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ist auch die Aufteilung der Dichtung in eine mimetische, durch epische und dramatische Fiktion gekennzeichnete G a t t u n g einerseits und eine vor allem lyrische, durch die Struktur der Aussage gekennzeichnete Gattung andererseits (vgl. Hamburger) zu finden. In neueren empirischen Untersuchungen zur Gattungsforschung sind solche System-Entwürfe zumeist (stillschweigend) aufgegeben worden (vgl. Knörrich). Bei dem einen wie bei dem anderen Ordnungsversuch stellt sich grundsätzlich die doppelte Frage nach der Trennbarkeit und der Verknüpfbarkeit der einzelnen Gattungen, die letztlich auf die Frage nach den Kriterien der Gattungsbestimmung, ihrer Abgrenzbarkeit und ihres sachlichen Zusammenhangs führt. (2) Die Bestimmung des ontologischen Status (der ,Seinsweise') der Gattungen. Die Frage ist kontrovers beantwortet worden. Im Sinne der nominalistischen Positionen, deren prominentester Vertreter Benedetto Croce ist, existieren Gattungen nicht; sie sind lediglich Sprachfiktionen, die von realiter existierenden Einzelwerken zu unterscheiden sind. Nach der realistischen Position, die in modifizierter Form noch von Wellek/Warren vertreten wird, kommt ihnen der Status apriorischer Existenz neben den konkreten Individuen zu. Als Überwindung dieser beiden jeweils problematischen Positionen ist die „konstruktivistische Synthese" Hempfers gemeint, wonach Gattungen „als aus der Interaktion von Erkenntnissubjekt und -objekt resultierende Konstrukte" (Hempfer, 221) zu begreifen und somit wesentlich Kommunikationsphänomene sind. (3) Die Bestimmung von Kriterien für die Beschreibung von Gattungen. Traditionell sind für die Definition von Gattungen (einzelne) Merkmale unterschiedlicher Art herangezogen worden, insbesondere Form, Inhalt oder Darstellungsart. Die traditionelle Frage nach den Elementen (oder Merkmalen), die für die Bestimmung einer Gattung angesetzt werden, ist in der neueren Gattungstheorie erweitert worden durch die Frage nach der gattungsbildenden Struktur, d. h. den Relationen der Elemente; beson-

660

Gattungstheorie

dere Bedeutung hat dabei die Suche nach ,Dominanten' im Sinne formalistischer und strukturalistischer Theorien erlangt. Bei den einzelnen Kriterien selbst ist generell zwischen „sprachlich-literarischen" und außersprachlichen, zumal psychologischen und soziologischen zu unterscheiden (Hempfer, 150). In der einen wie in der anderen Hinsicht wird, jenseits aller Schulstreitigkeiten, grundsätzlich sowohl von einer „Pluralität der Differenzierungskriterien" (Hempfer, 9) wie von der Möglichkeit der unterschiedlichsten Mischungsformen ausgegangen. (4) Die Unterscheidung gattungsbildender, ,generischer' Typen. Hempfer hat in die Gattungstheorie die Unterscheidung zwischen „generischen Invarianten" und der „Variabilität historischer Textgruppen" (Hempfer, 224) eingeführt, die er letztlich auf Goethes Unterscheidung zwischen „Dichtarten" und „Naturformen" zurückführt. Entsprechend hat er differenziert zwischen ? Schreibweisen als „ahistorischen Konstanten wie das Narrative, das Dramatische, das Satirische usw." und „Gattungen" als „historisch konkreten Realisationen dieser allgemeinen Schreibweisen wie z. B. Verssatire, Roman, Novelle, Epos usw." (Hempfer, 27). In diesem Sinn ist Schreibweise' ein systematischer,,Gattung' ein historischer Begriff. Demgegenüber hat Fricke zwischen der /" Textsorte als „rein systematischem literaturwissenschaftlichem Ordnungsbegriff" und dem / Genre als „einer historisch begrenzten literarischen Institution" (Fricke 1981, 132 f.) unterschieden. Ähnlich hat schon Hinck vorgeschlagen, zwischen „Gattungen als typologischen Grundbegriffen" und „Gattungen als literarhistorisch fixierbaren Dichtungsformen" zu unterscheiden, wobei er die einen als „überhistorische Konstanten" und die anderen als „literarische Konventionen oder Traditionen von begrenzter geschichtlicher Funktion und Dauer" charakterisiert hat (Hinck, IX). Solche Differenzierungen laufen auf die Unterscheidung zwischen einem systematischen und einem historischen Gattungsbegriff hinaus, wie er sich schon bei Todorov findet. Von ihnen wären dann ein Begriff von Schreibweise als einer gattungsübergreifenden Konstanten abzusetzen wie

etwa dem ,Satirischen', das sich in unterschiedlichen (systematischen oder historischen) Gattungen (wie der ,Verssatire' oder der ,Verssatire der Aufklärung') realisieren kann (vgl. Verweyen/Witting, 101 — 112). (5) Die Vermittlung von Gattungstheorie und Gattungsgeschichte. Die „Historisierung der Gattungspoetik" (Jauß, 121) ist vor allem in dreierlei Hinsicht diskutiert worden: 1. im Hinblick auf den Entwurf einzelner Gattungsgeschichten, in denen es wesentlich um das „Verhältnis von einzelnem Text zur gattungsbildenden Textreihe" (Jauß, 119) geht; 2. im Hinblick auf den sowohl diachronischen wie synchronischen Entwurf einer „historischen Systematik" von Gattungen (Jauß, 125); 3. im Hinblick auf die Frage nach den außerliterarischen Funktionen einzelner Gattungen. Dabei hat in sozialhistorischen Konzepten der Begriff der „literarisch-sozialen Institution" eine große Rolle gespielt, wonach Gattungen als „historische Problemstellungen bzw. -lösungen" (Voßkamp, in: Hinck, 32) verstanden werden. Für strukturalistische Konzepte stellt sich hier das Problem des Verhältnisses von Struktur und Funktion, wobei der Bezugspunkt funktionaler Analysen sowohl die „Innenordnungen strukturierter Systeme" wie auch „das Umwelt-Problem, auf das eine bestimmte Systembildung sinnvoll antwortet" (Warning, 19), sein kann. (6) Die Erörterung terminologischer Probleme. Die „Begriffsanarchie" in der Gattungsforschung ist oft beklagt worden. Zu ihrer Überwindung ist von Hempfer die Einführung „normierter Prädikatoren" (Hempfer, 221) vorgeschlagen worden: ein Konzept der Definition von Gattungsbegriffen, das gegebenenfalls auch auf formallogische Verfahren zurückgreift. Über die gebotene Definitionsmethode ist allerdings die Diskussion noch nicht abgeschlossen. Einerseits hat man für die Explikation als „rationale Rekonstruktion herkömmlicher gattungstheoretischer Konzeptionen", als Präzisierung eingeführter Begriffe „durch trennscharfe Kriterien mit genau festgelegter logischer Struktur" aus notwendigen und alternativen Merkmalen plädiert (Fricke 1983, 262 f.). Andererseits ist darauf hingewiesen worden, daß man in der Gat-

Gattungstheorie tungstheorie a u c h n o c h mit a n d e r e n Bes t i m m u n g s v e r f a h r e n arbeiten k ö n n e , (je n a c h BegrifTstyp) etwa mit Wesensdefinitionen, extensionalen D e f i n i t i o n e n o d e r G e b r a u c h s b e s c h r e i b u n g e n (Strube, 13—65). Auf j e d e n Fall bleibt n e b e n der R e k o n struktion eingeführter Gattungsbegriffe aber a u c h die sinnvolle K o n s t r u k t i o n v o n Begriffen f ü r bislang nicht e r f o r s c h t e Textg r u p p e n eine A u f g a b e der G a t t u n g s t h e o r i e . Harald Fricke: Sprachabweichungen und Gattungsnormen. In: Textsorten und literarische Gattungen. Berlin 1983, S. 262-280. - Käte Hamburger: Die Logik der Dichtung. Frankfurt u. a. 41980. - Otto Knörrich (Hg.): Formen der Literatur in Einzeldarstellungen. Stuttgart 21992. - Dieter Lamping: Probleme der neueren Gattungstheorie. In: Gattungstheorie und Gattungsgeschichte. Hg. v. D. L. und Dietrich Weber: Wuppertal 1990. - Wolfgang Raíble: Was sind Gattungen? In: Poetica 12 (1980), S. 320-349. Tzvetan Todorov: Einführung in die fantastische Literatur. München 1972. — Theodor Verweyen, Gunther Witting: Die Parodie in der neueren deutschen Literatur. Darmstadt 1979. - Rainer Warning: Struktur und Funktion. Die Ambivalenzen des geistlichen Spiels. München 1974. ForschG: Die G a t t u n g s t h e o r i e im u n t e r (2) explizierten Sinn ist — a u s naheliegenden G r ü n d e n - n o c h nicht z u m G e g e n s t a n d einer historischen F o r s c h u n g g e w o r d e n . Erf o r s c h t ist lediglich die historische E n t w i c k lung der - der neueren G a t t u n g s t h e o r i e vorangehenden — Gattungspoetiken. Der u n t e r s u c h t e Z e i t r a u m reicht dabei von der A n t i k e ( F u h r m a n n ) ü b e r d a s Mittelalter ( K l o p s c h ) bis ins 19. J h . Besondere Beacht u n g galt g r u n d l e g e n d e n P r o b l e m e n wie d e m der „Einteilung der D i c h t k u n s t " (Behrens), h e r a u s r a g e n d e n T h e o r e t i k e r n wie G o e t h e (Petsch, Schwinge) o d e r Schelling (Szondi), wichtigen E p o c h e n wie d e m 18. J h . (Scherpe) o d e r einzelnen p o e t o l o gisch aufschlußreichen G a t t u n g e n wie der Novelle (Strube). Poetologische P a r a d i g menwechsel lassen sich dabei — z u m i n d e s t f ü r die Neuzeit — einigermaßen klar u n t e r scheiden: zuerst der Wechsel v o n der n o r m a t i v e n , n o c h der aristotelischen T r a d i t i o n verpflichteten zu der deduktiv-systematischen, philosophisch-spekulativen Gatt u n g s p o e t i k im U m k r e i s des deutschen Idealismus u m 1800 (Szondi); d a n n inner-

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h a l b der philosophisch f u n d i e r t e n G a t t u n g s p o e t i k der nachidealistischen Zeit zum a l des 20. Jhs. der Verzicht auf „jede Art von S y s t e m a t i k " (Staiger, 8); schließlich u m 1970 der Wechsel zur empirisch-formalistischen G a t t u n g s t h e o r i e , der sich als einer v o n der essentialistischen .Wesensbeschreib u n g ' zur formalistisch-strukturalistischen , S t r u k t u r b e s t i m m u n g ' kennzeichnen läßt. Lit: Karl Borinski: Die Poetik der Renaissance und die Anfänge der literarischen Kritik in Deutschland. Berlin 1886. - Dominique Combe: Les genres littéraires. Paris 1992. - Harald Fricke: Norm und Abweichung. München 1981. - Mario Fubini: Entstehung und Geschichte der literarischen Gattungen [ital. 1956]. Tübingen 1971. - Manfred Fuhrmann: Einführung in die antike Dichtungstheorie. Darmstadt 1973. Klaus W. Hempfer: Gattungstheorie. München 1973. - Paul Hernadi: Concepts of genre in 20th century criticism. Yale 1967. - Walter Hinck (Hg.): Textsortenlehre - Gattungsgeschichte. Heidelberg 1977. - Georg Jäger: Das Gattungsproblem in der Ästhetik und Poetik von 1780 bis 1850. In: Zur Literatur der Restaurationsepoche 1815-1848. Hg. v. Jost Hermand und Manfred Windfuhr. Stuttgart 1970, S. 371-404. - Hans Robert Jauß: Theorie der Gattungen und Literatur des Mittelalters. In: Grundriß der romanischen Literaturen des Mittelalters. Bd. 1. Hg. v. H. R. J. und Erich Köhler. Heidelberg 1972, S. 107-138. - Paul Klopsch: Einführung in die Dichtungstheorie des lateinischen Mittelalters. Darmstadt 1980. - Robert Petsch: Goethe und die Naturformen der Dichtung. In: Dichtung und Forschung. Fs. Emil Ermatinger. Hg. v. Walter Muschg und Rudolf Hunziker. Frauenfeld, Leipzig 1923, S. 4 5 - 8 2 . - Horst Rüdiger (Hg.): Die Gattungen in der Vergleichenden Literaturwissenschaft. Berlin, New York 1974. - Wolfgang Ruttkowski: Bibliographie der Gattungspoetik. München 1973. - Klaus R. Scherpe: Gattungspoetik im 18. Jh. Stuttgart 1968. - Ernst-Richard Schwinge: Anmerkungen zu Goethes Gattungstheorie. In: DVjs 56 (1982), S. 123-134. Emil Staiger: Grundbegriffe der Poetik. München 1971. - Werner Strube: Analytische Philosophie der Literaturwissenschaft. Paderborn 1993. - Peter Szondi: Poetik und Geschichtsphilosophie II: Von der normativen zur spekulativen Gattungspoetik. Hg. v. Wolfgang Fietkau. Frankfurt 1974. - Gottfried Willems: Das Konzept der literarischen Gattung. Tübingen 1981. Dieter

Lamping

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Gebet

Gebet Text, der sich an ein höheres Wesen richtet. Expl: Das Gebet nicht als religiöser Akt, sondern als literarischer Text (vgl. auch Stundenbuch, ? Brevier) läßt sich als Sonderform der Apostrophe definieren, die sich durch ihre besondere Sprechsituation auszeichnet: Ein Mensch appelliert an ein übermenschliches — oder als übermenschlich vorgestelltes — Wesen. Vorherrschende Gebetsanliegen, die einander überschneiden können, sind Bitte, Preis, Dank und Klage. Typische Elemente des Gebets sind, neben der Formulierung des Gebetsanliegens, einleitende Anrede und abschließender Preis. Tendenziell lassen sich zwei Typen des literarischen (also des nicht rituell- oder informell-mündlichen, sondern schriftlich verfaßten) Gebets unterscheiden: der pragmatische und der poetische Typus. Die pragmatische Gebetsliteratur ist — trotz möglicher poetischer Stilisierung — für den kirchlichen oder privaten Glaubensvollzug bestimmt; eine besondere pragmatische Funktion erfüllt das .politische', d. h. loyalitätsstiftende Kirchengebet für den weltlichen Herrscher (Hanisch). Poetische Gebete hingegen sind solche, die, ungeachtet ihrer Verwendbarkeit für die Glaubenspraxis, primär als Dichtung konzipiert sind oder sekundär als solche rezipiert wurden. Das poetische Gebet steht lyrischem Sprechen am nächsten (Böckmann, Leuenberger), ist aber nicht an bestimmte Gattungen gebunden. Es begegnet selbständig als Rollenlyrik oder unselbständig als Teil epischer oder dramatischer Dichtungen. Eine Sonderform des Gebets ist die prologtypische Invocatio. Vgl. auch Geistliches Lied, Kirchenlied, Liturgische Texte, /" Hymne und S Sequenz. WortG: Das westgermanische Substantiv ist von bitten abgeleitet; beten, wohin heutiges Sprachgefühl das Wort zieht, ist umgekehrt erst eine sekundäre Bildung zu Gebet (ahd. \gi\bet, mhd. \ge]bet). Im profanen Sinne einer flehentlichen Bitte an einen weltlichen Herrn wurde das Wort noch im 18. Jh. gebraucht; die religiöse Bedeutung als Appell an Gott, Christus, Maria oder die Heiligen

ist seitdem in den Vordergrund getreten (DWb 4, 1739-1744). BegrG: Wie die deutsche Wortgeschichte nahelegt, ist erstes Anliegen eines Gebets die Bitte. Während nach kirchlicher Lehre die Anbetung (mhd. anbetunge) allein Gott zukommt, können Maria und die Heiligen vor allem mit der Bitte um Fürbitte (mhd. vürbete) angerufen werden. Gebet kann, in übertragener Bedeutung, auch auf Apostrophen an verehrte Menschen, wie ζ. B. an die als Göttin gepriesene Geliebte (Mörike, ,An die Geliebte') oder den vergotteten politischen Machthaber (Agnes Miegel, ,An den Führer'), bezogen werden. Als literaturwissenschaftlicher Terminus ist der Begriff, obwohl es den Sachverhalt des poetischen Gebets zweifellos gibt, kaum eingeführt. SachG: Das christliche Gebet fußt in Form und Inhalt auf biblischen Vorbildern, insbesondere auf den Psalmen des Alten Testaments und den Gebeten und Doxologien des Neuen Testaments. Auch die Sakralsprache der griechischen und lateinischen Antike hatte stilistisch und syntaktisch prägenden Einfluß auf die Gebetsliteratur des lateinischen und volkssprachlichen Mittelalters (Liver). Die Geschichte des Gebets in der deutschsprachigen Literatur ist noch ungeschrieben. Sie beginnt — wenn man die germanischen ? Zaubersprüche und Segen nicht hinzurechnet — mit der volkssprachlichen Aneignung lat. kirchlicher Gebrauchstexte, zunächst auf dem Wege glossierender Übersetzung von Grundgebeten (ζ. B. Vaterunser), Hymnen und liturgischen Formeln. Daneben sind seit dem frühen volkssprachlichen Mittelalter dichterische Gebete wie das — mit „De poeta" überschriebene — ,Wessobrunner Gebet' überliefert, auch die Bibelepen enthalten Gebete (z. B. Otfrid, ,Evangelienbuch' 3,1). Volkssprachliche Gebete mit entschieden poetischem Anspruch hat die höfische Leich- und / Sangspruchdichtung (sowie später der Meistersang) hervorgebracht; auch die höfischen Epen enthalten vom Erzähler oder von den Figuren gesprochene Gebete (Thelen, 650-676).

Gebet Die Tradition der Übersetzung und Bearbeitung lateinischer Gebete setzte sich im gesamten deutschen Mittelalter fort; trotz zunehmender Selbständigkeit blieb das volkssprachliche Gebet dem lat. Vorbild verpflichtet. Im späteren Mittelalter wandelte sich die Frömmigkeitspraxis: Das Gebet überschritt die Grenzen der offiziellen Liturgie und schuf der außerliturgischen und privaten Andacht auch der Laien Raum. Der wachsenden Nachfrage nach geistlicher Literatur kam die Erfindung des Buchdrucks entgegen: Das ,Seelengärtlein', eine deutsche Bearbeitung des lat. Gebetbuchs ,Hortulus animae', war wie sein Vorbild ein Bestseller bis weit ins 16. Jh. In der spätmittelalterlichen Gebetsliteratur n a h m die Passion Christi besonderes Gewicht ein (Haug/Wachinger). Luther wandte sich in seiner Vorrede zum ,Betbüchlein' gegen die Äußerlichkeit der spätmittelalterlichen Gebetspraxis, insbesondere gegen das Ablaßgebet (/" Reformation)·, in seinem Sinne suchten protestantische Theologen wie Johann Arndt das christliche Gebet zu reformieren (vgl. dazu Braw, Althaus). Im Barock wurden poetische Gebete in allen Gattungen formuliert: in gebethafter geistlicher Lyrik (Gryphius, ,Morgen-' und ,Abendseufzer') und in Figurenreden des Trauerspiels und des Schelmenromans (Grimmelshausen, ,Simplicissimus', Kap. 8). Das poetische Gebet des Barock bleibt der geschlossenen christlichen Weltanschauung des Mittelalters verbunden; erst im 18. Jh., als die Ära der Christianität ausklingt, ist ein ,fiktionales' Gebet ohne religiösen Anspruch denkbar. Ein Vergleich zwischen barockem Trauerspiel (ζ. B. Gryphius, K a tharina von Georgien', Abhandlung IV, v. 289 ff.: „Ach Heyland! laß mich nu nicht wancken") und Goethes ,Faust' (Gretchen: „Ach neige, du Schmerzensreiche") zeigt, wie das Gebet sich vom religiösen B e k e n n t nis' zur Inszenierung einer Figurenpsychologie verschoben hat. Im Gefolge des Pietismus haben Lyriker wie Klopstock (,Frühlingsfeier'), Hölty (,Lob der Gottheit'), Claudius (,Abendlied'), Hölderlin (,An die Parzen'), auch Goethe (,Wandrers Nachtlied': „Der du von dem Himmel bist"), empfindsame Gebetsly-

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rik, oft in hymnischem Ton, hervorgebracht. Dichter der Romantik wie Novalis (.Geistliche Lieder' 4, 10, 12, 13), Arnim und Brentano (,Des Knaben Wunderhorn': zahlreiche Kindergebete) und Eichendorff (,Nachtgebet', ,An Maria') setzen in teils selbständigen, teils in Erzählungen eingestreuten Texten den sprachlichen Gestus des Gebets ein. Lyriker der Restauration wie Mörike (,Gebet') und Droste-Hülshoff (Zyklus ,Das Geistliche Jahr') verfaßten poetische Gebete mit religiösem Impetus. Der Symbolist Rilke schlägt in den „Gebeten" seines ,Stundenbuchs' zwar einen sakralen Ton an, der aber nicht religiöses Bekenntnis ist, sondern poetologische Chiffre für den kreativen Äkt euphonischen Dichtens; George hat als Nachdichter Baudelaires „Gebete" verfaßt (,Fleurs du mal' 47 u. 58). Lyriker des 20. Jhs. reflektieren Erfahrungen existentieller Bedrohung mithilfe religiöser Motivik und Diktion, die sie parodistisch (Werfel, ,Veni Creator Spiritus'; Brecht, ,Hitler-Choräle'), metaphorisch (Celan, ,Psalm'; Lasker-Schüler, ,Gebet') oder bekenntnishaft (Ruth Schaumann, ,Ich steh' in Gottes H a n d ' ; Kurt Marti) einsetzen. In der durchgreifend säkularisierten Gesellschaft hat das Gebet, auch das poetische, an Bedeutung verloren. ForschG: Die deutsche Gebetsliteratur, sowohl die pragmatische als auch die poetische, ist für das Mittelalter (s. o., ferner Achten, Haimerl, Ochsenbein) besser erforscht als für die Moderne, deren Epochen (Romantik: Bender) und Autoren (Rilke: Fioretos) bisher nur vereinzelt behandelt worden sind. An einer übergreifenden Abhandlung über das Gebet als poetische Gattung der neueren deutschen Literatur scheint es noch ganz zu fehlen. Wünschenswert wären insbesondere literaturwissenschaftliche Analysen der in den poetischen Gebeten inszenierten Gottesbilder, da diese signifikant sein dürften f ü r die jeweiligen Autoren- und Epochenkonzepte. Lit: Gerard Achten: Das christliche Gebetbuch im Mittelalter. Berlin 2 1987. - Paul Althaus: Forschungen zur Evangelischen Gebetsliteratur. Gütersloh 1927. - Dorothea Bender: Das Gebet bei den Dichtern der Romantik. Diss. Marburg 1952

Gebrauchstexte

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(masch.). - Paul Böckmann: Formgeschichte der deutschen Dichtung. Bd. 1. Hamburg 1949. S. 3 2 9 - 3 3 4 (,Das Gebet als Form der Seelenaussprache'). - Christian Braw: Das Gebet bei Johann Arndt. In: Pietismus und Neuzeit 13 (1987), S. 9 - 2 4 . - Aris Fioretos: Prayer and ignorance in Rilke's ,Buch vom mönchischen Leben'. In: G R 65 (1990), S. 1 7 1 - 1 7 7 . - Franz Xaver Haimerl: Mittelalterliche Frömmigkeit im Spiegel der Gebetbuchliteratur Süddeutschlands. München 1952. - Manfred Hanisch: Zwischen Fürbitte und Obrigkeitsvergottung. Politische Gebete von 1500-1918. In: Jb. für Fränkische Landesforschung 48 (1988), S. 3 9 - 1 6 1 . - Walter Haug, Burghart Wachinger (Hg.): Die Passion Christi in Literatur und Kunst des Spätmittelalters. Tübingen 1993. - Robert Leuenberger: Die dichterische Dimension in der Gebetssprache. In: Wirkungen hermeneutischer Theologie. Hg. v. Hans Friedrich Geißer und Walter Mostert. Zürich 1983, S. 1 9 1 - 2 0 5 . - Ricarda Liver: Die Nachwirkung der antiken Sakralsprache im christlichen Gebet des lateinischen und italienischen Mittelalters. Bern 1979. — Peter Ochsenbein: ,Hortulus animae'. In: VL 4, Sp. 1 4 7 - 1 5 4 . Christian Thelen: Das Dichtergebet in der deutschen Literatur des Mittelalters. Berlin, New York 1989.

Andreas Kraß

Geblümter Stil /" Ornatus

Gebrauchstexte

immer zu. Am ehesten wird sich folgende Bestimmung halten lassen: Gebrauchstexte sind alle Texte, die in den „Funktiolekten" (Steger, 296 ff.) der beiden „finiten Sinnprovinzen" (Schütz, 230) ,Alltag' und Institutionen' produziert und rezipiert werden, wobei jeder Funktiolekt (dazu gehören z. B. auch die wissenschaftliche, dichterische, religiöse Sprache) seine eigenen Kommunikationsregeln dafür hat, welche Äußerungen als relevant und sinnvoll gelten können. Alfred Schütz: Collected papers I. Den Haag 1962. — Hugo Steger: Erscheinungsformen der deutschen Sprache. In: D S 16 (1988), S. 2 8 9 319.

WortG: Im Zusammenhang mit der Diskussion um die Ausweitung des Literaturkanons und die Reform des Deutschunterrichts wurde Gebrauchstext (e) Anfang der 1970er Jahre als zusammenfassende und wertneutrale Bezeichnung für alle (meist einfachen) Texte eingeführt, die „der Sache [dienen], von der sie handeln" (Belke, 320). Vorbild der Wortbildung unter den Komposita mit Gebrauch- als Bestimmungswort {Gebrauchsgraphik, -porzellan usw.) sind Gebrauchsprosa, -spräche (in der Linguistik der 60er Jahre für Texte einer stilistischen Mittellage zwischen Kunstprosa und Umgangssprache; vgl. Polenz, 37 f.) und Gebrauchsliteratur (1968 vorgeschlagen zur Vermeidung des pejorativen Ausdrucks Trivialliteratur, Höllerer, 51).

Sammelbegriff für Texte, die im Alltag .gebraucht' werden.

Peter von Polenz: Funktionsverben im heutigen Deutsch. Düsseldorf 1963.

Expl: Als Gebrauchstexte bezeichnet man: Werbetexte, Zeitungsnachrichten, politische Flugblätter, Gesetzestexte, Geschäftsbriefe, Rezepte, Verträge, Bewerbungsschreiben, Gebrauchsanweisungen, Reiseprospekte und vieles anderes mehr. Die Abgrenzung solcher sehr unterschiedlichen Texte von literarischen Texten (/" Literatur) hat sich als schwierig erwiesen: Daß sie gebraucht' werden bzw. einen leicht ersichtlichen Zweck haben, unterscheidet sie nicht von literarischen Texten oder doch nicht von allen, und daß sie im Unterschied zu literarischen Texten nicht fiktional (/" Fiktion) seien, trifft zumindest auf Werbetexte nicht

BegrG: Der Begriff ,Gebrauchsliteratur' ist erst Ende der 60er Jahre gebildet worden. Er ist bei weitem umfassender als ältere benachbarte Begriffe wie etwa /" Fachprosa und deckt sich nur zum Teil mit der Unterscheidung von poetischer und praktischer Sprache im russischen ? Formalismus. Ähnlich wie Sengles nicht so weiter Begriff ,Zweckformen' hatte er die Funktion, die Aufmerksamkeit auf s Textsorten zu lenken, die bis dahin als minderwertig gegolten hatten, und die Beschäftigung mit ihnen in Literaturwissenschaft und Deutschunterricht anzuregen bzw. zu legitimieren (Hessische Rahmenrichtlinien).

Gebrauchstexte Das Bestimmungswort Gebrauch schien ein selbstexplizierendes Definiens von Alltagstexten zu sein, das sowohl die Zweckbindung der Texte als auch ihre Referenz auf nicht-fiktive Wirklichkeit hervorhebt und sich mit beidem polemisch gegen einen ,elitären' LiteraturbegrifT richtet. Als Zwecke wurden die Veränderung von Handlungsdispositionen der Textrezipienten zur Erreichung von Handlungszielen angesehen (Reklame, politische Texte, Gebrauchsanweisungen) oder die Beeinflussung kognitiver Orientierungen (Zeitung). Obwohl schon W. Benjamin und B. Brecht den marxistischen Begriff des Gebrauchswerts auf literarische Texte angewendet hatten, wurde ,Gebrauch' eher eingeschränkt im Sinne eines Handlungszusammenhanges lebensweltlich relevanter Probleme verstanden (so noch Rolf, 128) und als Form der Praxis in Opposition gesetzt zu einer nur mentalen Verarbeitung wie Besinnung, Verinnerlichung, Empfindung (Bremer Kollektiv, 184). Andererseits wurden die Gebrauchstexte als „zum alsbaldigen Gebrauch bestimmte Erzeugnisse der Presse und der Werbeindustrie" (Singer, 54) wegen der Einmaligkeit und zeitlichen Begrenztheit ihrer Rezeption in Gegensatz gebracht zu traditionsbildenden Texten der Volksdichtung und der Literatur. Seit dem Ende der 70er Jahre hat der Begriff ,Gebrauchstexte' allgemein an Wichtigkeit und Interesse verloren. In der Linguistik wurde er mit dem wieder aufgenommenen Begriff,Alltagssprache' (Trier) vereinigt im Konzept ,Alltagstexte', das sich der (noch umstrittenen) Tendenz nach auch auf mündliche .Texte' (ζ. B. Beratungsgespräch in der ärztlichen Praxis, ? Alltagserzählung) erstreckt. In der Literaturwissenschaft hat der Begriff ,Gebrauchstext' seine polemische Komponente verloren, so daß der Terminus abwechselnd mit seinen (Teil-) Synonymen Sachtext, expositorischer, nichtfiktionaler und pragmatischer Text gebraucht werden kann. Bremer Kollektiv: Grundriß einer Didaktik des Deutschunterrichts in der Sekundarstufe I und II. Stuttgart 1974. - Friedrich Sengle: Die literarische Formenlehre. Stuttgart 2 1969. - Herbert Singer: Literatur, Wissenschaft, Bildung. In: An-

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sichten einer zukünftigen Germanistik. Hg. v. Jürgen Kolbe. München 1969, S. 4 5 - 5 9 . - Jost Trier: Alltagssprache. In: Die deutsche Sprache im 20. Jh. Göttingen 1966, S. 1 1 0 - 1 3 3 .

ForschG: Altphilologie und Mediävistik haben sich seit jeher auch mit nicht-literarischen Texten befaßt, die zu den Gebrauchsbzw. Alltagstexten gehören (beispielsweise /" Artesliteratur, S Chronik, Fachprosa), ebenso die Publizistikwissenschaft (u. a. Feuilleton, ? Glosse¡). Seit den 1970er Jahren hat auch die Literaturwissenschaft mit der Aufarbeitung einiger Typen von Gebrauchstexten begonnen (/" Flugblatt, s Populäre Lesestoffe), während die pragmatisch orientierte /" Textlinguistik Textsorten wie Rezept, Reklame (/* Werbetext), politische Rede und auch Fachtexte zur Vermittlung wissenschaftlicher bzw. technischer Erkenntnisse in den Alltag untersucht und beschrieben hat. Die linguistische Gesprächsanalyse hat Kohärenzphänomene und Strukturmuster einzelner gesprochensprachlicher Textsorten (z. B. Erzählung, Diskussion, Beratung) und der mündlichen Kommunikation in Institutionen (Schule, Gericht, Verwaltung, ärztliche Praxis usw.) beschrieben. Ein Ergebnis gesprächsanalytischer Untersuchungen ist, daß spontane mündliche Rede fast alle Verfahren anwenden und viele Merkmale aufweisen kann, die oft als typisch literarisch gelten: u. a. rhetorische Figuren, Alliteration und Assonanz, Parallelismen (vgl. Tannen), innerer Monolog, mimetische Satire, Fiktionen (vgl. Bange), Verfremdungen durch die Überblendung zweier Wirklichkeitsbereiche. Fragen der Abgrenzung zwischen literarischen und Alltagstexten stellen sich daher neu und sind noch nicht ausdiskutiert. Lit: Pierre Bange: Fiktion im Gespräch. In: Kommunikationstypologie. Hg. v. Werner Kallmeyer. Düsseldorf 1986, S. 1 1 7 - 1 7 1 . - Michael Becker-Mrotzek: Diskursforschung und Kommunikation in Institutionen. Heidelberg 1992. Horst Belke: Gebrauchstexte. In: Grundzüge der Literatur- und Sprachwissenschaft. Bd. 1. Hg. v. Heinz Ludwig Arnold und Volker Sinemus. München 1973, S. 3 2 0 - 3 4 1 . - Walter Höllerer: Über Ergebnisse der Arbeitskreise , Untersuchungen zur Trivialliteratur'. In: Studien zur Trivialliteratur. Hg. v. Heinz Otto Burger. Frankfurt 1968,

Gebrauchszusammenhang

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S. 3 4 - 5 6 . - Helmut Mörchen: Gebrauchstexte im Deutschunterricht. In: WW 25 (1975), S. 3 4 2 - 3 5 8 . - Wilhelm H. Pott: Autonomie und Heteronomie. Anmerkungen zur literaturwissenschaftlichen Problematik der Gebrauchstextdiskussion. In: Gebrauchsliteratur. Hg. v. Ludwig Fischer u. a. Stuttgart 1976, S. 1 9 - 3 7 . - Eckard Rolf: Die Funktionen von Gebrauchstextsorten. Berlin, New York 1993. - Johannes Schwitalla: Was sind .Gebrauchstexte'? In: D S 1 (1976), S. 2 0 - 4 0 . - J. S.: Sprach- und Redevielfalt in der Literatur und im Alltag. In: Jb. der Deutschdidaktik 1986. Hg. v. Gerhard Rupp und Edda Weigand. Tübingen 1987, S. 1 2 7 - 1 4 8 . - Deborah Tannen: Talking voices. Cambridge 1989.

Johannes Schwitalla

Gebrauchszusammenhang Modi der Vermittlung und Verwendung von Literatur sowie deren Relationen zueinander. Expl: Gebrauchszusammenhang soll die Situierung literarischer Werke in der komplexen historischen Wirklichkeit bezeichnen; in der literaturwissenschaftlichen Praxis ist er aufgrund der Begrenztheit der zur Verfügung stehenden Informationen immer nur partiell zu eruieren. Vornehmlich werden Gebrauchszusammenhänge in folgenden Dimensionen aufgewiesen: (1) in der Gebrauchssituation eines literarischen Werkes (Rezeptionszeit und -ort mit ihren historisch-gesellschaftlichen Bedingungen und personalen Beteiligten), (2) im Verwendungsbereich (ζ. B. religiöse Unterweisung und Erbauung, herrschaftliche Repräsentation, Unterhaltung, Rechts- und Geschäftsvorgänge, wissenschaftliche und praktische Abhandlungen), (3) in der Traditionsweise (Mündlichkeit und Schriftlichkeit, handschriftliche Uberlieferung, Druck), (4) in der Vermittlungs- bzw. Rezeptionsform (Vortrag, Aufführung, Lektüre, audiovisuelle Präsentation). Ziel der Ermittlung von Gebrauchszusammenhängen ist die Bestimmung der Funktion einzelner Texte im literarischen und kulturellen Kommunikationsprozeß sowie die Erstellung einer Literatursystematik, die sich nicht allein auf literaturimmanente Kategorien bezieht.

Auch die Rekonstruktion zeitgenössischer Verständnismöglichkeiten und eine angemessene Wertung von Literatur erfordern Kenntnis gebrauchsgebundener Relationen. Ein entsprechendes methodisches Konzept ist prinzipiell umfassender als sozialgeschichtliche Ansätze (/" Sozialgeschichte), weil es tendenziell auf alle historisch-pragmatischen Interdependenzen ausgerichtet ist, und steht in Antinomie zur Werkimmanenten Interpretation sowie zu einer postulierten Autonomie von Literatur. WortG: Das umgangssprachlich verbreitete Wort faßt im literaturwissenschaftlichen Bereich mehrere Synonyma, insbesondere Gebrauchssituation, -Sphäre und -umkreis zusammen, die Hugo Kuhn zur Anregung neuer Forschungsperspektiven zuerst terminologisch verwendet hat (Kuhn 1969, 1980). BegrG: Als rezeptionsästhetische Termini haben Gebrauchszusammenhang und verwandte Bezeichnungen (Gebrauchssituation, Gebrauchsform, Gebrauchsfunktion u. a.) bei Kuhn und seinen Schülern im Rahmen der Erforschung spätmittelalterlicher Literatur programmatischen Charakter und dienen der Abgrenzung zur Sozialgeschichte. Damit sollte der Anspruch formuliert sein, die Komplexität der historisch-pragmatischen Kommunikationsvorgänge bei der typologischen Erfassung von Literatur zur Geltung zu bringen. Der Begriff läßt sich in allen Perioden der Literaturgeschichte für die Untersuchung entsprechender Vermittlungsund Verwendungsweisen sinnvoll anwenden. SachG: Die Rekonstruktion des Gebrauchszusammenhangs ist für die Frühzeit der deutschsprachigen Literatur besonders schwierig, da nur wenige Daten über Entstehungs-, Vermittlungs- und Rezeptionsbedingungen aufzuspüren sind. Der handschriftliche Überlieferungsrahmen bietet oft den einzigen konkreten Ansatz für weitere Überlegungen; Begleittexte (Otfrids Widmungen) und andere Zeugnisse über den Gebrauch von Literatur bilden Ausnahmeerscheinungen. Seit Ende des l l . J h s . vermehren sich auswertbare Prologe und

Gebrauchszusammenhang Epiloge sowie Daten über Mäzene und Autoren. Für die höfische Kultur des 12./ 13. Jhs. sind genauere Vorstellungen vom Literaturbetrieb mit zahlreichen Indizien zum Gebrauchszusammenhang erarbeitet worden. Die Zunahme der Texte in den folgenden Jahrhunderten vergrößert zwar die Informationsgrundlage immens, macht aber durch die Vielfalt der Gebrauchsbereiche und die Überlieferungsüberschichtungen die Ermittlungen auf andere Weise schwierig. Der Buchdruck brachte die wirkungsmächtigste Veränderung der Verbreitung und damit des Gebrauchs von Literatur bis zur Einführung neuer Medien im 20. Jh. Gebrauchssituationen für Literatur bot vom 9. bis 11. Jh. vornehmlich die Kirche im Gottesdienst und in klösterlichen Lesezeiten; im 12. Jh. entstanden an den Höfen weltlicher und geistlicher Adeliger Zentren literarischer Kommunikation mit Festen, Rechts- und Verwaltungsakten als neuen Verwendungsrahmen; in den Städten wurde über analoge Anlässe des Patriziats hinaus ein breites Spektrum literarischer Aktivitäten von Zünften, Bruderschaften, religiösen Gruppen, Universitätsgesellschaften und städtischen Bediensteten entfaltet; dort hatte der Gebrauch von Literatur ζ. B. im Meistersang, in der Aufführung geistlicher und weltlicher Spiele und der Predigt der Bettelorden einen besonderen Ort. Bibliotheken gewannen als Vermittlungsstätten zunehmend Bedeutung. Die Vermehrung der Gebrauchssituationen seit dem 15./ 16. Jh. ist von den neuen Verbreitungsformen und einer umstrukturierten literarischen Öffentlichkeit wesentlich geprägt. ForschG: Der seit Ende der 1960er Jahre verstärkt einsetzenden sozialgeschichtlichen Literaturforschung stellt Kuhn, auf einen weitgefaßten Literaturbegriff bezogen, ein Konzept entgegen, das zur Untersuchung mannigfaltiger Interrelationen von Verfasser-Text-Publikum anregen sollte, ohne die Dominanz bestimmter Abhängigkeiten zu präjudizieren. In dem ,Versuch über das 15. Jh. in der deutschen Literatur' (1980) hat er die Programmatik weiter ausgeführt. Seine Intentionen berühren sich eng mit Kurt Ruhs etwa gleichzeitigem Entwurf ei-

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ner neuen überlieferungsgeschichtlichen Forschung, die das Verständnis eines Textes „in seiner Historizität, seiner Lebendigkeit und seinem Gebrauch" (Steer, 13) erschließen soll. Die konkrete Umsetzung des Kuhnschen Konzepts ist ζ. B. in Arbeiten zur Fabel (Grubmüller), zur frühen Druckprosa (Weinmayer), zu juristisch-theologischer Gebrauchsliteratur und zur Text-BildRelation (Ott) erprobt worden; eine weitere Konkretisierung steht noch aus. Lit: Joachim Bumke: Höfische Kultur. Literatur und Gesellschaft im hohen Mittelalter. 2 Bde. München 1986. - Michael Curschmann: Hören, Lesen, Sehen. Buch und Schriftlichkeit im Selbstverständnis der volkssprachlichen literarischen Kultur Deutschlands um 1200. In: PB Β 106 (1984), S. 2 1 8 - 2 5 7 . - Irene Erfen: Literaturbetrieb. In: Deutsche Literatur. Hg. v. Horst Albert Glaser. Bd. 2. Reinbek 1991, S. 3 2 - 4 5 . - Klaus Grubmüller: Elemente einer literarischen Gebrauchssituation. Zur Rezeption der aesopischen Fabel im 15. Jh. In: Würzburger Prosastudien II. Fs. Kurt Ruh. Hg. v. Peter Kesting. München 1975, S. 1 3 9 - 1 5 9 . - Hugo Kuhn: Versuch einer Literaturtypologie des deutschen 14. Jhs. In: H. K.: Liebe und Gesellschaft. Stuttgart 1980, S. 1 2 1 - 1 3 4 . - H. K.: Versuch über das 15. Jh. in der deutschen Literatur. In: H. K.: Liebe und Gesellschaft, S. 1 3 5 - 1 5 5 . - H. K.: Versuch einer Theorie der deutschen Literatur im Mittelalter. In: H. K.: Text und Theorie. Stuttgart 1969, S. 3 - 9 . - Norbert H . O t t : Rechtspraxis und Heilsgeschichte. München, Zürich 1983. - Ν. H. O.: Überlieferung, Ikonographie - Anspruchsniveau, Gebrauchssituation. Methodisches zum Problem der Beziehungen zwischen Stoffen, Texten und Illustrationen in Handschriften des Spätmittelalters. In: Literatur und Laienbildung im Spätmittelalter und in der Reformationszeit. Hg. v. Ludger Grenzmann und Karl Stackmann. Stuttgart 1984, S. 3 5 6 - 3 9 1 . - Jochen SchulteSasse: Autonomie als Wert. In: Literatur und Leser. Hg. v. Gunter Grimm. Stuttgart 1975, S. 1 0 1 - 1 1 8 . - Georg Steer: Gebrauchsfunktionale Text- und Überlieferungsanalyse. In: Überlieferungsgeschichtliche Prosaforschung. Hg. v. Kurt Ruh. Tübingen 1985, S. 5 - 3 6 . - Michael Titzmann: Skizze einer integrativen Literaturgeschichte und ihres Ortes in einer Systematik der Literaturwissenschaft. In: Modelle des literarischen Strukturwandels. Hg. ν. M. T. Tübingen 1991, S. 3 9 5 - 4 3 8 . - Barbara Weinmayer: Studien zur Gebrauchssituation früher deutscher Druckprosa. München 1982.

Ursula Schulze

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Gedächtnis

Gedankenlyrik

Memoria

Gedankenlyrik Variante des Lehrgedichts. Expl: Gedankenlyrik läßt sich nur ungenau abgrenzen von verwandten Gedichttypen und nur negativ bestimmen: Sie würde sich etwa von Erlebnislyrik bzw. Stimmungslyrik dadurch unterscheiden, daß sie überhaupt allgemeine Gedanken enthält (also weder auf eine individuelle Situation bezogen noch nur subjektiv ist), oder von didaktischen Gedichten dadurch, daß sie nur gewisse Arten von Gedanken (jedenfalls keine fachwissenschaftlichen) auf besondere Weise (nicht diskursiv bzw. direkt belehrend) vorträgt. Solche Vagheiten haben mit dazu beigetragen, daß sich der Begriff nicht mehr im aktuellen literaturwissenschaftlichen Gebrauch befindet. Gedichte, die man früher als Gedankenlyrik bezeichnet hat (ζ. B. Schillers ,Das Ideal und das Leben'), gelten heute als ,lyrisierte' ( / Lyrisch) Varianten der /" Lehrdichtung. WortG/BegrG: Seit Anfang des 19. Jhs. zeichnet sich in den Poetiken ein Bemühen ab, die herkömmliche Reihung lyrischer Formen' zu ersetzen durch einige wenige (meist drei) Gruppen, die nach einem einheitlichen Kriterium aus dem Begriff,Lyrik' abgeleitet sind und allenfalls nach paradigmatischen Gedichtformen benannt werden. So unterscheidet Hillebrand innerhalb der Lyrik als der „Poesie des Gemüths" (im Unterschied zur „Poesie des Gedankens", der didaktischen) „Lied, Ode und Elegie", wobei die Ode „sich aus dem bloß gemüthlichen Kreise in das Gebiet des Gedankens" erhebe (Hillebrand, 115, 139, 123), oder Lommatzsch spekulative, intuitive und reflektierende Lyrik (Lommatzsch 9, 275 f.). Carriere orientiert sich daran, als was das Subjekt sein „Empfindungsieben" ausspricht, und daraus ergibt sich die Dreiteilung in „Lyrik des Gefühls, der Anschauung und des Gedankens" bzw. „Gedankenlyrik" (Carriere 1854, 209, 194). Der Ausdruck Gedankenlyrik, den Carriere alsbald und wohl zu Recht als den seinen reklamiert hat

(Carriere 1859 2, 569), hat sich gegen weniger griffige Bezeichnungen aus analogen Dreiteilungen („Lyrik der Betrachtung": Vischer, 1367; „Lyrik der Reflexion": Gottschall, 273) durchgesetzt und bis in die 2. Hälfte des 20. Jhs. auch in der Literaturwissenschaft gehalten (z. B. Seidler, 428-432), obwohl es nicht gelungen bzw. versucht worden ist, den Begriff .Gedankenlyrik' an Textmerkmalen festzumachen. Die seit Carriere üblichen Beispiele (Schillers philosophische Lyrik als Kernbestand) und insbesondere die neueren Umbenennungs- und Erweiterungsvorschläge („thematische Lyrik": Falkenstein, 117; „gedankliches Gedicht": Asmuth) lassen erkennen, daß der Begriff nur die .lyrischeren' Varianten des didaktischen Gedichts umfaßt hat und dazu bestimmt war, sie vor der Verbannung alles Lehrhaften aus dem Heiligtum der Poesie zu retten. Seit jene Verbannung nicht mehr möglich (Sengle) und also diese Rettung nicht mehr nötig ist, hat sich das Interesse am hierarchisch nachrangigen Begriff .Gedankenlyrik' verloren; seit 1985 taucht er nicht mehr als Stichwort in den periodischen germanistischen Bibliographien auf. Moriz Carriere: Das Wesen und die Formen der Poesie. Leipzig 1854. - M. C.: Aesthetik. 2 Bde. Leipzig 1859. - Rudolf Gottschall: Poetik. Breslau 1858. - Joseph Hillebrand: Lehrbuch der Literar-Aesthetik. Mainz 1827. Bernhard Heinrich Carl Lommatzsch: Die Wissenschaft des Ideals. Berlin 1835. — Herbert Seidler: Die Dichtung. Stuttgart 2 1965. - Friedrich Theodor Vischer: Aesthetik oder Wissenschaft vom Schönen. 3. Theil, 2. Abschnitt, 5. Heft. Stuttgart 1857.

SachG: " Epos). In den Literaturgeschichten des 19. und frühen 20. Jhs. ist der Begriff noch nicht üblich; vom „historische(n) Epos" spricht zuerst wohl Rosenkranz (362). Karl Rosenkranz: Geschichte der deutschen Poesie im Mittelalter. Halle 1830.

BegrG: In unscharfer Verwendung wird der Begriff,Geschichtsepik' auch gebraucht für jegliche Art von epischer Darstellung historischer Sachverhalte, so für versifizierte Geschichtsschreibung mit ebenfalls oft nur geringem Wahrheitsgehalt, nichtsdestoweniger aber hohem Wahrheitsanspruch, etwa im Bereich der Welt- und Universalchroni-

Geschichtsepik ken (12. Jh.: ,Kaiserchronik'; 13. Jh.: Rudolf von Ems, ,Christherre-Chronik', Jansen Enikel; 14. Jh.: Heinrich von München; / Chronik), oder für Texte, die entweder aus Gründen der Glaubwürdigkeit des Erzählten sich eines durch das Vorwissen der Rezipienten verbürgten historischen Rahmens versichern (13. Jh.: Konrad Fleck: ,Flore und Blanscheflur'; Berthold von Holle:,Crâne'; Rudolf von E m s : , Willehalm von Orlens', ,Der guote Gêrhart') oder zur Darstellung von Einzelpersonen oder Personengruppen, vor allem im Panegyrikus, auf die Wiedergabe historischen Faktenmaterials rekurrieren (9. Jh.: ,Ludwigslied'; 10. Jh.: Hrotsvith von Gandersheim: ,Gesta Ottonis'; 12. Jh.: Gunther von Pairis: ,Ligurinus'; 13. Jh.: Heinrich von Freiberg: ,Die Ritterfahrt des Johann von Michelsberg'). Eine Diskussion zur Klärung der Reichweite des Begriffs ,Geschichtsepik' hat bisher nicht stattgefunden. SachG: Ausgangspunkt mittelalterlicher Geschichtsepik ist die Auffassung, Geschichte sei zeitlich befristet, terminiert durch die Erschaffung der Welt und durch die Wiederkehr Christi im Jüngsten Gericht. So bedeutet Geschichtserkenntnis vor allem, den zeitlichen und teleologischen Standort der Gegenwart innerhalb des vorgegebenen göttlichen Rahmens zu bestimmen und das eigene Leben darauf einzurichten, weil der G a n g der Geschichte über die Nähe zum bevorstehenden Weltendè Aufschluß gibt. Es sind daher ausschließlich theologische Denkmuster, die den Verlauf der Geschichte zu erfassen versuchen: entweder die auf Augustinus zurückgehende aetates-Lehre, wonach sich die Weltgeschichte in Analogie zur Weltschöpfung in sechs Weltaltern erfülle, deren letztes mit dem römischen Imperium angebrochen sei, oder die auf der Auslegung des alttestamentarischen Danieltraumes (Dan 7 f.) beruhende Abfolge von vier Weltreichen, von denen das imperium R o m a n u m , als dessen unmittelbare Weiterführung das mittelalterliche Kaiserreich angesehen wurde (translatio imperii), ebenfalls als Abschluß und Endstufe galt. Diesem sollten dann — wiederum nach biblischer Auffassung (Offb 13;

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20) — die Schreckensherrschaft des Antichrist und die Wiederkehr Christi mit der Errichtung des tausendjährigen Friedensreiches folgen. Beiden Modellen gemeinsam ist die Betrachtung der eigenen Gegenwart als absolute Endzeit und folglich die Vorstellung, die momentan vom deutschen König und römischen Kaiser ausgeübte Weltherrschaft werde bereits in naher Z u k u n f t in die Hände des Antichrist übergehen. Wegen der historischen Bedeutung des römisch-deutschen Reiches als des letzten von Menschen geschaffenen Herrschaftsverbandes befassen sich auch mehrere epische Texte mit ihm. Das geschieht etwa unter dem Gesichtspunkt von Machtlegitimation und -transfer, entweder direkt von den Römern zu den Deutschen (11. Jh.: ,Annolied') oder auf dem Umweg über Byzanz und dynastische ,Ansippung' an Karl den Großen als den Begründer des römischdeutschen Imperiums (12. Jh.: ,König Rother'). Von Interesse sind aber auch sein geglaubter historischer Auftrag, die christliche Religion schützen und verbreiten zu sollen (9. Jh.: Poeta Saxo: ,Annales de gestis Caroli Magni imperatoris', ,De vita et obitu eiusdem'; 12. Jh.: ,Rolandslied'; 13. Jh.: Strickers ,KarP), sowie seine ideale innere Organisation, da der Herrschaftsverband sich nur dann als handlungsfähig erweist, wenn Zentralgewalt und Landesfürsten harmonisch zusammenarbeiten (12. Jh.: .Herzog Ernst'). Einen Sonderfall bilden die Antikenromane, weil bei ihnen der Geschichtsbezug sujetbedingt ist. Allerdings ist auch hier zu differenzieren, denn Alexander als der Begründer des dritten der vier irdischen Weltreiche ist bereits im Alten Testament heilsgeschichtlich verankert (Dan 8,21 f.; 1 Makk 1,1—8) und wird, ungeachtet seiner unterschiedlichen Stilisierung als exemplum menschlicher superbia oder als königliche Vorbildfigur, in dieser Rolle literarisch tradiert (12. Jh.: Pfaffe Lambrecht; 13. Jh.: Rudolf von Ems; Ulrich von Etzenbach). Im Gegensatz dazu basiert der zweite große antike Stoffzyklus, der Trojaroman, gänzlich auf poetischer Fiktion. Aber der direkte Zusammenhang mit Aneas als dem U r a h n der späteren Gründer Roms und die Vor-

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Geschmack

Stellung, vor Troja sei das Rittertum .erfunden' worden, beglaubigen nicht nur die ,Wahrheit' des Stoffes, sondern ordnen ihn zudem in die früheste Phase (heils)geschichtlicher Periodisierung ein (12./13. Jh.: Herbort von Fritzlar; 13. Jh.: ,Göttweiger Trojanerkrieg'). Allerdings entsteht auch hier, mehr noch als bei Alexander, eine Tendenz zum Verzicht auf teleologische Deutungsmuster (13. Jh.: Konrad von Würzburg; 14. Jh.: H a n s Mair). Häufig dient das Modell dann nur noch dazu, um Einzelpersonen oder Dynastien durch die Schaffung (mehr oder weniger) konstruierter Genealogien aufzuwerten und in ihrem Machtanspruch zu legitimieren (13. Jh.: Ulrich von Etzenbach: ,Wilhelm von Wenden'; 13./ 14. Jh.: Johann von Würzburg). Entsprechungen inhaltlicher Art bestehen dabei im allgemeinen ebensowenig wie heilsgeschichtliche. ForschG: Eine Forschungsgeschichte im engeren Sinne gibt es nicht, da der Begriff nicht als klar konturierte Gattungsbezeichnung verwendet wurde. Lit: Helmut de Boor: Der Wandel des mittelalterlichen Geschichtsdenkens im Spiegel der deutschen Dichtung. In: ZfdPh 83 (1964). Sonderbd. S. 6 - 2 2 . - Alois Dempf: Sacrum imperium. Geschichts- und Staatsphilosophie des Mittelalters und der politischen Renaissance. Darmstadt 4 1973. - Amos Funkenstein: Heilsplan und natürliche Entwicklung. Formen der Gegenwartsbestimmung im Geschichtsdenken des Mittelalters. München 1965. - Christoph Gerhardt u. a. (Hg.): Geschichtsbewußtsein in der deutschen Literatur des Mittelalters. Tübingen 1985. - Walther Lammers (Hg.): Geschichtsdenken und Geschichtsbild im Mittelalter. Darmstadt 1961.

Hans-Joachim

Behr

Geschlossenes Drama Offenes Drama

Geschmack Das Vermögen zu ästhetischen Urteilen. Expl: Geschmack ist konzipiert als ein kultivierbares Sensorium, das an Reden (Tex-

ten) und Kunstgegenständen, aber auch an sozialem Verhalten Qualitäten wie Schönheit (S Schön), Vollkommenheit oder Angemessenheit (/" Aptum) wahrzunehmen und von ihrem jeweiligen Gegenteil (z. B. Häßlich) zu unterscheiden vermag. Theorien vor allem des 17. und 18. Jhs. (/" Poetik, Kunsttheorie, Moralistik, Ästhetik) postulieren diesen .sechsten Sinn' als Erklärungsgrund f ü r den unbestreitbaren Sachverhalt, daß Urteile über solche Qualitäten mit zumindest subjektiver Sicherheit und mit ähnlichem oder gleichem Anspruch auf Allgemeingültigkeit gefallt werden wie diejenigen über Wahr und Falsch, ohne doch einer rationalen Begründung fähig zu sein. WortG: Der uneigentliche Gebrauch des Wortes Geschmack (ahd. gismac, mhd. gesmac) kündigt sich Mitte des 17. Jhs. an („der Geschmack" soll „die reiffen und unreiffen Früchte" der Fruchtbringenden Gesellschaft prüfen: Harsdörffer, 39) und ist Ende des 17. Jhs. etabliert, wenn auch zunächst noch erklärungsbedürftig (Thomasius, 16 f.). Vorbild ist die Metaphorisierung von ital. und span, gusto sowie vor allem frz. goût (alle von lat. gustus Geschmackssinn') seit der Mitte des 16. Jhs. Georg Philipp Harsdörffer: Fortpflantzung der Hochlöblichen Fruchtbringenden Gesellschaft. Nürnberg 1651 (Repr. in: Die Fruchtbringende Gesellschaft. Hg. v. Martin Bircher. Bd. 1. München 1971). - Christian Thomasius: Discours Welcher Gestalt man denen Frantzosen in gemeinem Leben und Wandel nachahmen solle [1687]. In: C. T.: Deutsche Schriften. Hg. v. Peter von Düffel. Stuttgart 1970, S. 5 - 4 9 .

BegrG: Begriffe eines nicht-rationalen Erkenntnisvermögens finden sich seit der Antike in unterschiedlichen Kontexten; so kennt die römische Rhetorik einen sensus (,Sinn') f ü r die Qualitäten einer Rede (Cicero, ,Orator' 162, 183), die Etymologie sapor ,Geschmack(squalität)' als Etymon von sapientia ,Weisheit' (Isidor, ,Etymologiae' 10, 493), die mittelalterliche Poetik die Nähe des sinnlichen gustus zum Urteil über poetische Qualitäten (Mathieu de Vendôme, ,Ars versificatoria' 3, 46), die scholastische Theologie — in Anlehnung an den biblischen Sprachgebrauch (z. B. Ps. 33,9) — ei-

Geschmack nen gustus spiritualis oder mysticus als geistlichen Sinn zur Erkenntnis des Göttlichen. Der neuzeitliche Geschmacksbegriff unterscheidet sich von all dem dadurch, daß er einen .sechsten Sinn' umschreibt, in dessen alleiniger Zuständigkeit Urteile über eine bestimmte Klasse von Gegenständen (Kunstwerke, poetische Texte, Kleidung, Inneneinrichtung usw., ursprünglich auch soziales Verhalten) liegen, obwohl das Urteilen sonst als genuines Geschäft des Verstandes gilt. Die Genese dieses Begriffs, der sich durch die französische Poetik im letzten Drittel des 17. Jhs. und durch die Q u e relle des anciens et des modernes' in ganz Europa ausgebreitet hat, läßt sich schematisch rekonstruieren als fortschreitende Synthese seiner einzelnen Momente, wie sie in der Poetik, Kunsttheorie und Moralistik seit dem Anfang des 16. Jhs. in der Romania separat entwickelt worden sind. (1) Im Zuge der intensiven Rezeption der horazischen ,Ars poetica' führen die Poetiken des 16. Jhs. unterschiedliche Bezeichnungen für den Effekt ein, den ein Werk bei seinen Rezipienten hervorruft, sofern er die Funktion des ,delectare' (des ,Erfreuens', Unterhaltung) erfüllt: ital. diletto, frz. plaisir, span, gusto (etwa in dem Sinne, wie man sagt, man finde Geschmack an einer Sache). (2) In seiner 1534 erschienenen spanischen Übersetzung des ,Cortegiano' (1528) von Baidassare di Castiglione (einer Anweisung zu einem bei Hof erfolgreichen, weil Wohlgefallen erregenden Verhalten) ersetzt Juan Boscán das vielfältige ital. Vokabular sowohl für das Gefallen als auch für persönliche Eigenart einheitlich durch den doppeldeutigen Ausdruck gusto, und zwar so, daß sowohl der — dem Begriff der Poetik entsprechende — „'gusto' des Herrn zu einer Richtschnur des Handelns für den Diener" wird als auch der Hofmann selbst sich als „ein ,hombre de gusto'", als ein Mann von Geschmack, erweist (Frackowiak, 94 f.). (3) Baltasar Gracián (,E1 Discreto', 1646) konzipiert,gusto' als ein ausbildungsfahiges und -bedürftiges Unterscheidungsvermögen, das auf der höchsten Stufe seiner Kulti-

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vation dazu befähigt, in allen Situationen die „rechte Wahl zu treffen" („saber elegir", ,zu wählen wissen') und alle Dinge, auch Kunstwerke, „frei von subjektiver Täuschung nach ihrem wirklichen Wert zu beurteilen" (Stierle, 445). Dieser Begriff des ,gusto' und des ihn besitzenden ,discreto' wird von der französischen Moralistik (La Rochefoucauld, Méré, Bouhours u. a.) als der des ,bon goût' des ,honnête homme' übernommen und ausgebaut. (4) Die italienische Kunsttheorie entwikkelt seit der Mitte des 16. Jhs. den Begriff eines ,buon gusto' (Frackowiak, 69—78), der das ,iudicium' der antiken Rhetorik sowohl für den Künstler als auch für den Betrachter von Kunstwerken ersetzt in der Funktion, dem Urteil über die Angemessenheit (s Aptum) eines jeden künstlerischen Darstellungsmittels die nötige Sicherheit zu verleihen. Die französische Literaturtheorie im späten 17. Jh. bündelt diese Linien im Begriff eines zwar kenntnisreich ausgebildeten, aber doch spontan und reflexionslos wirkenden Urteilsvermögens (3), das unter dem Namen (2) le bon goût firmiert und über das sowohl Künstler bzw. Poeten als auch Kenner verfügen müssen (4). Dieser Begriff des bon goût, dessen Zuständigkeit sich nur auf Kunstwerke und Literatur und nicht mehr (wie in der Moralistik) auf soziales Verhalten erstreckt, ist vorausgesetzt von beiden Parteien im Streit um den Vorrang der antiken oder der modernen Literatur (/* Querelle des anciens et des modernes), und er begründet auf der Seite der allgemein als siegreich geltenden ,Modernen' (Perrault, Fontenelle u. a.) die Ernennung der französischen Literatur im ,siècle de Louis XIV' zur ,Klassik' (y Klassik¡), d. h. zur exemplarischen Erfüllung der universal gültigen Norm. Ein von den ,Anciens' (Boileau, La Bruyère u. a.) ungewollt provoziertes Ergebnis der Querelle ist die Historisierung und Individualisierung des Geschmacksbegriffs, die als heimliches Zentrum die fortgehende Diskussion im 18. Jh. bestimmt. Es ist das Problem, das Kant als „Antinomie des Geschmacks" (KdU § 56) gefaßt hat: Wegen seiner Subjektivität hat kein Geschmacks-

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Geschmack

urteil ein „Recht auf die notwendige Beistimmung anderer", aber der notorische Streit über Geschmacksurteile setzt als solcher die Möglichkeit einer Entscheidung nach objektiven Begriffen voraus. Die Theorien des Geschmacks in England (Shaftesbury, Addison, Hume, Gerard, Burke), Frankreich (Montesquieu, Batteux, Voltaire, Diderot) und Deutschland (Gottsched, Geliert, Baumgarten, Sulzer) lassen sich auffassen als unterschiedliche und unterschiedlich erfolglose Versuche, jene Antinomie zu umgehen bzw. aufzulösen. Dabei machen sich zwei Verengungen des Geschmacksbegriffs zunehmend bemerkbar (zuerst wohl in England), zum einen beim Objekt des Geschmacks (als das fast nur noch das Schöne in Kunst und Natur bestimmt wird, während das wiederentdeckte ? Erhabene nicht dem Urteil des Geschmacks untersteht; vgl. Zelle), zum anderen beim Subjekt des Geschmacks (als das mit wachsender Selbstverständlichkeit nur noch der Betrachter bzw. Leser genannt wird, während beim Künstler f Genie an die Stelle des Geschmacks tritt). Kant setzt diese beiden Verschiebungen als bereits abgeschlossen voraus, und indem für ihn „der bloße reine Vernunftbegriff von dem Übersinnlichen" als „das übersinnliche Substrat der Menschheit" die ohnehin nur auf der Rezeptionsseite bestehende Antinomie des Geschmacks auflöst, macht er den Geschmack zu einem „uns selbst seinen Quellen nach verborgenen" Vermögen, das „durch nichts weiter begreiflich gemacht werden" kann ( K d U § 57), d. h. zum rezeptionsseitigen Äquivalent des unableitbaren Genies auf der Produktionsseite. Damit ist der Geschmacksbegriff entbehrlich geworden und hat denn auch seit dem Anfang des 19. Jhs. als philosophisch-systematischer Begriff ausgedient. ForschG: Die These K. Borinskis (1894), der neuzeitliche Geschmacksbegriff stamme von Gracián, hat die begriffsgeschichtliche Forschung, auch wo sich Widerspruch erhoben hat (z. B. Croce, 1899), bis in die 1930er Jahre (Baeumler, Cassirer, Chambers u. a.) zwar angeregt, aber doch auf einen einzelnen Traditionsstrang festgelegt.

Seit den 50er Jahren (Schümmer, Köhler, Jansen) und insbesondere den 70er Jahren sind durch Aufarbeitung weiterer Quellen zahlreiche zusätzliche Varianten und Differenzierungen des Geschmacksbegriffs hervorgehoben worden, die mit der nötigen begrifflichen Präzision auseinander zu halten k a u m noch gelungen ist, und das Bild der Begriffsgeschichte hat sich dementsprechend bis zur Unübersichtlichkeit verkompliziert, sowohl hinsichtlich der einzelnen nationalen Entwicklungen (Frankreich: Knabe, Moriarty; England: Klein; Deutschland: Kapitza, Gabler, Solms, Pago) als auch hinsichtlich ihres Zusammenhangs (Frackowiak). Die distinktive Systematisierung des überreichen Materials bleibt ein Desiderat. Lit: Alfred Baeumler: Das Irrationalitätsproblem in der Ästhetik und Logik des 18. Jhs. bis zur Kritik der Urteilskraft [1923], Darmstadt 1967. - Anthony Blunt: Kunsttheorie in Italien (1450-1600). München 1984. - Karl Borinski: Baltasar Gracián und die Hofliteratur in Deutschland. Halle 1894. - Ernst Cassirer: Die Philosophie der Aufklärung. Tübingen 1932. — Frank P. Chambers: The history of taste [New York 1932], Repr. Westport 1976. - Benedetto Croce: Estetica come scienza dell'espressione e linguistica generale. Bari 1899. - Lue Ferry: Der Mensch als Ästhet. Die Erfindung des Geschmacks im Zeitalter der Demokratie. Stuttgart, Weimar 1992. - Ute Frackowiak: Der gute Geschmack. Studien zur Entwicklung des Geschmacksbegriffs. München 1994. - Christel Fricke: Kants Theorie des reinen Geschmacksurteils. Berlin, New York 1990. - Hans-Jürgen Gabler: Geschmack und Gesellschaft. Rhetorische und sozialgeschichtliche Aspekte der frühaufklärerischen Geschmackskategorie. Frankfurt, Bern 1982. - Hellmut Jansen: Die Grundbegriffe des Baltasar Gracián. Genf 1958. Hans Robert Jauß: Ästhetische Normen und geschichtliche Reflexionen in der ,Querelle des Anciens et des Modernes'. In: Charles Perrault: Parallèle des Anciens et des Modernes [...] (1688-1697). Hg. v. H. R. J. München 1964, S. 8-64. - Peter Kapitza: Ein bürgerlicher Krieg in der gelehrten Welt. Zur Geschichte der Querelle des Anciens et des Modernes in Deutschland. München 1981. - Hannelore Klein: There is no disputing about taste. Untersuchungen zum englischen Geschmacksbegriffim 18. Jh. Münster 1967. - Peter-Eckhard Knabe: Schlüsselbegrifie des kunsttheoretischen Denkens in Frankreich.

Gesellschaftslied Düsseldorf 1972, S. 2 3 9 - 2 7 9 . - Erich Köhler: Je ne sais quoi. Ein Kapitel aus der Begriffsgeschichte des Unbegreiflichen. In: Romanisches Jb. 6 (1953/54), S. 2 1 - 5 9 . - Michael Moriarty: Taste and ideology in seventeenth-century France. Cambridge 1988. - Heinz Paetzold: Ästhetik des deutschen Idealismus. Wiesbaden 1983. — Thomas Pago: Gottsched und die Rezeption der Querelle des Anciens et des Modernes in Deutschland. Frankfurt u. a. 1989. - Gerhart Schröder: Logos und List. Zur Entwicklung der Ästhetik in der frühen Neuzeit. Königstein 1985. - Franz Schümmer: Die Entwicklung des Geschmacksbegriffs in der Philosophie des 17. und 18. Jhs. In: Archiv für Begriffsgeschichte 1 (1955), S. 1 2 0 - 1 4 1 . - Friedhelm Solms: Disciplina aesthetica. Stuttgart 1990. — Heinrich von Stein: Die Entstehung der neueren Ästhetik [1886], Repr. Hildesheim 1964. - Karlheinz Stierte: Geschmack. In: HWbPh 3, Sp. 4 4 4 - 4 5 0 . - Eva-Maria Tschurenev: Kant und Burke. Ästhetik als Theorie des Gemeinsinns. Frankfurt u. a. 1992. - Theodor Verweyen (Hg.): Dichtungstheorien der deutschen Frühaufklärung. Tübingen 1995. - Carsten Zelle: Die doppelte Ästhetik der Moderne. Stuttgart, Weimar 1995.

Klaus Weimar / Friedhelm Solms

Gesellschaftslied Oberbegriff für unterschiedliche weltliche Lied typen des 15., vor allem aber des 16. und 17. Jhs. Expl: Unter Gesellschaftslied werden in der Regel die deutschen Texte weltlichen Inhalts zu mehrstimmigen Liedsätzen vorwiegend des 16. und 17. Jhs. verstanden. Dazu zählen insbesondere Liebeslieder, Frühlingslieder, Trinklieder, Jägerlieder, Soldatenlieder, Studentenlieder und Ehestandslieder. WortG: Eingeführt 1843 durch H. Hoffmann von Fallersleben mit seiner unter diesem Titelstichwort aus Drucken mehrstimmiger weltlicher Liedsätze des 16. und 17. Jhs. zusammengestellten Sammlung. Das Wort selbst ist mit der Bedeutung ,ein lied, in gesellschaft zu singen' schon zu Beginn des 19. Jhs. belegt (DWb 5, 4065). BegrG: Hoffmann von Fallersleben verstand unter ,Gesellschaftsliedern' „Kunst-

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lieder oder gelehrte Lieder", teilweise auch „Volkslieder" oder volksliedartige Lieder aus dem 16. und frühen 17. Jh.; mit dem Auftreten der „schlesischen Poeten" 1624 sei dieser Liedbereich verstummt (Hoffmann, VII). Die Epoche des Gesellschaftsliedes sei die Zeit, „als die kunstmäßige Übung des Gesanges in den geselligen und häuslichen Kreisen des Bürgerstandes Liebhaberei und Mode ward und das Singen so zur bürgerlichen Bildung gehörte wie ungefähr heutigen Tages das Ciavierspielen. Die damaligen Musiker waren thätig, dem neu erwachten Kunstleben reichliche und immer neue Nahrung zu geben. Sie sammelten die zur Zeit gangbaren Lieder. Die Melodien bearbeiteten sie mehrstimmig" (Hoffmann, Vllf.). Der Umgang mit den ursprünglichen Melodien und mit den Texten sei ziemlich frei gewesen. Quellen für Hoffmanns Begriffsbildung (und seine Anthologie) sind zahlreiche gedruckte Sammlungen mit mehrstimmigen Liedsätzen von Georg Forster (1539/65) bis Thomas Seile (1624). Hoffmanns Begriff wurde von anderen übernommen, etwa von Franz Wilhelm von Ditfurth (1872/75), der ihn auf Lieder des späten 17. und 18. Jhs. erweiterte; auch auf das Liedgut der Liederbücher des 15. Jhs. fand er häufig Anwendung (Sappler, 3 Anm. 1). Doch konnte sich der Begriff nicht allgemein durchsetzen (er fehlt etwa in Goedekes ,Grundriß'), auch in der Musikwissenschaft blieb er eher peripher ( M G G 1, 72; 9, 872). Flemming unterscheidet das Gesellschaftslied vom Kunst- und vom Volkslied, zugleich dehnt er den Geltungsbereich auf vielerlei Arten gesungener Texte bis zur Goethezeit aus. Das Gesellschaftslied repräsentiere „das Vorstellen und Fühlen einer breiten Mittelschicht, nicht etwa einer .höheren' Gesellschaft" (RL 2 1, 569). Entschieden Protest gegen den auch sonst häufig als unscharf und problematisch beurteilten Sammelbegriff erhob 1967 Christoph Petzsch. Er sieht darin „eine Verlegenheitslösung, verursacht u. a. durch Bequemlichkeit; umging und umgeht man mit ihr doch vielfach das notwendige Fragen nach der Funktion von Liedern des 15. bis 17. Jhs." (Petzsch, 342).

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Gespenstergeschichte

SachG: Mehrstimmige weltliche Liedsätze der Frühen Neuzeit sind mit einer großen Zahl deutscher Texte verbunden. Diese sind teilweise aus dem Bereich des einstimmigen Liedes übernommen, zum Teil, nicht selten von den Komponisten selbst, neu gedichtet. Formal, thematisch, auch vom Anspruch her handelt es sich um derart unterschiedliche Texttypen, daß die Zusammenfassung unter einem einzigen Oberbegriff nicht zweckmäßig und sinnvoll erscheint. Die Texte müssen unter musikalische Formbegriffe wie ,Tenorlied', ,Madrigal', Villanelle' usw. einerseits, andererseits unter thematische Begriffe wie ,Liebeslied', Trinklied', ,satirisch-didaktisches Lied' usw. subsumiert und in diesen Zusammenhängen untersucht werden. ForschG: Im Verlauf der Forschungsgeschichte hat sich gezeigt, daß dem Begriff ,Gesellschaftslied' die erforderliche Trennschärfe fehlt. Es sollte auf ihn verzichtet werden. Das darf allerdings nicht dazu führen, die literarhistorische Erforschung der mit mehrstimmigen Tonsätzen verbundenen frühneuzeitlichen deutschen Liedtexte — wie dies gegenwärtig weitgehend der Fall ist — nicht als Aufgabe germanistischer Liedforschung zu betrachten. Lit: Willi Flemming: Gesellschaftslied. In: RL 2 1, 569-573. - [Heinrich] Hoffmann von Fallersleben: Die deutschen Gesellschaftslieder des 16. und 17. Jhs. Aus gleichzeitigen Quellen gesammelt. 2 Teile. Leipzig 1843, 2 1860. - Christoph Petzsch: Einschränkendes zum Geltungsbereich von „Gesellschaftslied". In: Euphorion 61 (1967), S. 342-348. - Paul Sappler: Das Königsteiner Liederbuch. München 1970.

Horst Brunner

Gespenstergeschichte Geschichte, in der mindestens eine Figur der irrealen Welt die für den Text konstitutive Grenze zwischen realer und irrealer Welt überschreitet und in der der Wahrheitsgehalt dieser Grenzüberschreitung thematisiert wird. Unter den grenzüberschreitenden Figuren nehmen die Toten eine bevorzugte Stellung ein.

Expl: Ereignisse, die Alltagserfahrungen widersprechen und rational nicht ohne weiteres zu erklären sind, erscheinen stets besonders erzählenswert; sie sind Ausdruck einer „Geistesbeschäftigung" mit dem „Unheimlichen", das dem „Seelenleben von alters her" vertraut, doch „durch den Prozeß der Verdrängung entfremdet worden ist" (Freud, 254). Die Gespenstergeschichte zieht ihre Kräfte aus dem Volks- und Aberglauben und aus seelenkundlichen Erkenntnissen; sie beschäftigt das unfruchtbare Vorstellungsvermögen ebenso wie die schöpferische Phantasie. Die Qualität der literarischen Gespenstergeschichte beruht auf der Einstellung des Erzählers zu dem als Beispiel gewählten Fall, der suggestiven Vermittlung der Geschichte und der Konstruktion des impliziten Diskurses. Ronald C. Finucane: Appearances of the dead. London 1982. - Helmut Fischer: Gespenst. In: EM 5, Sp. 1187-1194. - Sigmund Freud: Das Unheimliche. In: S. F.: Gesammelte Werke. Bd. 12. London 1947, S. 227-268. - Aniela Jaffé: Geistererscheinungen und Vorzeichen. Stuttgart 1959, Ölten 2 1978. - C. Mengis: Gespenst. In: Handwb. des deutschen Aberglaubens. Bd. 3. Berlin, Leipzig 1930/31, Sp. 7 6 6 771. - Leander Petzoldt: Der Tote als Gast. Helsinki 1968.

WortG: Das Wort Gespenst (ahd. gispanst, mhd. gespenst), belegt in den ,Althochdeutschen Glossen' (2, 288, 51; suggestio = caspanst), ist anfangs eng mit der Vorstellung von Teufelseingebungen (Beredung, Verlokkung, Verführung) verbunden, so in den Beichten („Ich habe gisundot an huoris gispensten"). Es bezeichnet, parallel zum nd. Spuk, im Umfeld des Volksglaubens und des Dämonismus vor allem schreckende Gestalten und Erscheinungen. Das Kompositum Gespenstergeschichte ist bei Goethe und Jean Paul belegt (DWb 5, 4146; Campe 2, 345). DWb 5, Sp. 4141-4148. - John Hennig: Zu Goethes Gebrauch des Wortes Gespenst. In: DVjs 28 (1954), S. 487-496. - Klaus Kanzog: Der dichterische Begriff des Gespenstes. Diss. Berlin (Humboldt-Univ.) 1951 (masch.).

BegrG: Durch den alternierenden Gebrauch der Wörter Geist und Gespenst läßt sich die Grenze zwischen ,Gespenstergeschichte'

Gespenstergeschichte und ,Geistergeschichte' terminologisch nicht klar ziehen. Während Geistergeschichten meist das Spiegelbild jeweils herrschender Seelen- und Weisheitslehren sind, die durch die Aufklärung in Frage gestellt, aber nie ganz außer Kraft gesetzt wurden, ziehen die Gespenstergeschichten seit der Romantik ihre Motive (im Zuge neu gewonnener individualpsychologischer Erkenntnisse) mehr aus dem Unbewußten und der Neurose oder nach wie vor aus der folkloristischen Überlieferung. Die Rezeption der Werke Ε. T. A. Hoffmanns in Frankreich als ,Contes fantastiques' führte dort seit Mitte des 19. Jhs. zu ihrer Zuordnung zur / Phantastischen

Literatur,

w ä h r e n d sie in

der durch die ,gothic novels' traditionsbildenden englisch-amerikanischen Literatur den ,ghost stories' zugeschlagen wurden. Geister- und Gespenstererscheinungen in Dramen, vor allem des 17. Jhs., bilden nur narrative Substrukturen. Gespenstergeschichten sind vielfach auch in Romane integriert und dort Elemente einer übergeordneten Erzählstrategie; andererseits sind .Geister- und Schauerromane' oft nur aufgeblähte Gespenstergeschichten. In der Lyrik konnte sich seit dem 18. Jh. die Gespensterballade als Untergattung durchsetzen. SachG: Die erst seit der Aufklärung beliebten und seitdem konventionalisierten Gespenstergeschichten weisen gemeinsame strukturelle Merkmale auf und sind verschiedenen Diskurstypen zuzuordnen. Erzähler der Aufklärung, in der eine kontrovers geführte Debatte über den Gespensterglauben von ,Gespensterbüchern' flankiert wird, tragen ihre ,Fälle' jeweils in der Absicht vor, ihre Wahrscheinlichkeit zu widerlegen (Antiform), wobei es in erster Linie auf die doppelte Klimax ankommt: die Wirkung der Erscheinung und die Desillusionierung des Lesers. K. A. Musäus hat diese Erzählhaltung in seiner Anekdote ,Die Entführung' (in: ,Volksmärchen der Deutschen', 1782-1787, Bd. 5) relativiert, während Jean Paul sie, nach einer teils satirischen, teils ironisch-parodistischen Behandlung des Gespensterglaubens im , Bericht von der Erscheinung der weißen Frau' (1784/85) und in verschiedenen Romanein-

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lagen, überwand und zu einer Poetisierung von Halluzinationen gelangte (,Die wunderbare Gesellschaft in der Neujahrsnacht', 1800). Goethe wies in den .Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten' (1794/95) den beiden Gespenstergeschichten vom ,Klopfgeist' und von der ,Sängerin Antonelli', die er literarischen Quellen entnahm, in der Hierarchie des geselligen Erzählens den niedrigsten Platz zu, verunsicherte den Leser dann aber durch die in der Rahmenerzählung sich ereignende Gespenstergeschichte. Er wandte sich gegen das Gemeine, Absurde und Unmotivierte (,Zahme Xenien' IX 753), nicht aber gegen die Erfahrung, gewisse seelische Erscheinungen des eigenen Bewußtseins als wirklich zu empfinden und anzuerkennen. Er markierte damit im Ansatz ein phänomenologisches Erzählen, das in H.v. Kleists ,Das Bettelweib von Locarno' (1810) exemplarisch ausgeprägt ist. Von den psychologischen Theorien der Zeit (Mesmer, Pinel u. a.) und Zeitschriften wie Karl Philipp Moritz' M a gazin für Erfahrungsseelenkunde' und J. Chr. Reils ,Archiv für die Physiologie' führte der Weg zu den romantischen Gespenstergeschichten, die über die bloße Absicht, Spannung zu erzeugen, hinausreichen und nicht nur versuchen, sich die trivialisierte Psychologie ebenso wie die volkstümliche Überlieferung nutzbar zu machen (August Apel, Friedrich Laun, .Gespensterbuch', 1811-1817). E. T. A. Hoffmann kultiviert die von Goethe eingeleitete Konversation über Gespenstergeschichten im .Majorat' (1817) und im .Fragment aus dem Leben dreier Freunde' (1818) durch multiperspektivisches Erzählen, in der sogenannten Spukgeschichte' und im ,Unheimlichen Gast' (1819) durch die Einbettung in die Gespräche der Serapionsbrüder, und er macht den ,geneigten Leser' zum Partner. Dieses multiperspektivische Erzählen führt in Theodor Storms ,Der Schimmelreiter' (1888) zu einem poetologischen Modell: Schon bei Hoffmann liegt, gemäß dem propagierten ,serapiontischen Prinzip', der Reiz der Gespenstergeschichten in der Neutralisierung der psychologischen Theorien und in einer werkimmanenten Poetik. Kraft der Imagination kann der erzählte ,Fall'

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Gestalt

auch bei Storm in seinem Wahrheitsgehalt bezweifelt und zugleich als Faszinosum genossen werden. Dieser poetologische Diskurs bestimmt in der Folgezeit, wiederaktiviert durch die Neuromantik, in Konkurrenz zum psychologischen Diskurs die meisten Gespenstergeschichten bis in die Gegenwart, mit Marie Luise Kaschnitz' Erzählung ,Gespenster' (Gesammelte Werke. Bd. 4. Frankfurt 1983, 176-186) als markantem Beispiel. ForschG: Erst 90 Jahre nach dem Versuch von Diederich (1903), die Geschichte der Gespenstergeschichte monographisch darzustellen, gelang dies G.v. Wilpert (1994) für den deutschen Sprachraum. Im englischen Sprachgebiet wurde das Werk von Penzoldt (1952) maßgebend. Die Volkskunde verfolgte naturgemäß eigene Interessen. Abgesehen von den Interpretationen einzelner Gespenstergeschichten (mit eigener Interpretationsgeschichte) lag der Schwerpunkt der nach dem 2. Weltkrieg zögernd einsetzenden Forschung im terminologischen Bereich. Daneben erschienen Sammlungen und epochenspezifische Untersuchungen. Für das Mittelalter sind die Forschungen von Lecouteux von Interesse, die zeigen, daß die Motive je nach geistesgeschichtlichem Kontext eine andere Bedeutung haben. Lit: Charles Dédéyan: L'imagination fantastique dans le romantisme européen. Paris 1964. - Herbert Dieckmann: Das Abscheuliche und Schreckliche in der Kunsttheorie des 18. Jhs. In: Die nicht mehr schönen Künste. Hg. v. Hans Robert Jauß. München 1968, S. 271-317. - Benno Diederich: Von Gespenstergeschichten, ihrer Technik und ihrer Literatur. Leipzig 1903. - Winfried Freund: „Allnächtlich zur Zeit der Gespenster". Zur Rezeption der Gespensterballade bei Heinrich Heine. In: Heine-Jb. 20 (1981), S. 5 5 - 7 1 . Hansjörg Garte: Kunstform Schauerroman. Diss. Leipzig 1935. - Gerard Kozielek: Geister- und Gruselgeschichten in der neueren deutschen Literatur. In: Germanica Wratislaviensia 27 (1976), S. 2 3 - 6 4 . - Claude Lecouteux: Geschichte der Gespenster und Wiedergänger im Mittelalter. Köln 1987. - Peter Penzoldt: The supernatural in fiction. London 1952. - P. P: Die Struktur der Gespenstergeschichte. In: Phaicon 2. Hg. v. Reinhard Zondergeld. Frankfurt 1975, S. 11-32. Siegbert S. Prawer: The uncanny in literature.

London 1965. — Maurice Richardson: The psychoanalysis of ghost stories. In: The Twentieth Century 166 (1959), S. 419-431. - Otto Rommel: Rationalistische Dämonie. Die Geisterromane des ausgehenden 18. Jhs. In: DVjs 17 (1939), S. 183-220. - Clemens Ruthner: Unheimliche Wiederkehr. Interpretationen zu den gespenstischen Romanfiguren bei Ewers, Meyrink, Soyka, Spunda und Strobl. Meitingen 1993. - Lorenz Freiherr v. Stackelberg: Die deutsche Gespenstergeschichte in der Zeit der Spätaufklärung und der Romantik. 1787-1820. München 1983. - Frances Subiotto: The ghost in ,Effi Briest'. In: FMLS 21 (1985), S. 137-150. - Paul Sucher: Les sources du merveilleux chez Ε. T. Α. Hoffmann. Paris 1912. - Maria M. Tatar: The house of fiction. Towards a definition of the uncanny. In: Comparative Literature 33 (1981), S. 167-182. - Ann B.Tracy: The gothic novel 1790-1830. Plot summaries and index to motifs. Lexington 1981. - Dietrich Weber (Hg.): Gespenstergeschichten. Stuttgart 1989 [bes. Nachwort S. 484-512], - Gero von Wilpert: Die deutsche Gespenstergeschichte. Stuttgart 1994.

Klaus Kanzog

Gestalt Auf poetische Texte, Gattungen und Grundformen bezüglicher Inbegriff formaler Merkmale, insofern diese, ganzheitlich wahrgenommen, Gehalt ästhetisch vermitteln. Expl: Gestalt im Sinne der geistesgeschichtlichen Literaturtheorie der 1. Hälfte des 20. Jhs. meint Bedeutungsaufbau mit nicht primär semantischen Mitteln, nämlich durch Konfiguration formaler (lautlicher, rhythmischer, syntaktischer usw.) nebst formalisierender Konfiguration semantischer Merkmale. Diese Mittel sollen sinnliche Eindrücke und Vorstellungen erzeugen, Gefühle wecken und die ästhetisch-symbolische Wahrnehmung des Textes lenken. Ganzheitlich wahrgenommene Textgestalt konstituiert nach dieser Auffassung den GEHALT als ein ästhetisches Erlebnis. Analyse der Gestalt ist (nach O. Walzel) der gemäße Zugang zur Dichtung; die bloß semantische, begriffliche und logische Explikation des Gehalts dagegen verfehlt mit

Gestalt der Gestalt das durch sie vermittelte Gehaltserlebnis. Goethe folgend, bezeichnet man mit Gestalt auch die dem natürlichen Organismus analoge Erscheinung und Struktur von Kunstwerken. Gestalt und ? Form werden oft synonym verwendet. Wo sie einander entgegengestellt werden, kann Form die äußerliche, Gestalt die Inneres ausdrükkende Erscheinung oder aber den rein geistigen Typus bezeichnen; die Opposition kann umgekehrt werden, wobei auch von ,innerer Form' (im Sinne von schöpferischer Idee') gesprochen wird. WortG: Griech. ιδέα [idèa],äußere Erscheinung, Eigenschaft, Art', bei Piaton und Plotin:,geistiges Wesen' bzw.,Urbild des Seienden', und das verwandte είδος [eidos], bei Aristoteles auch: ,geistige Vorstellung von einer Sache', wurden seit der Frühen Neuzeit gleichermaßen mit Gestalt oder Form übersetzt. Seither haben beide Termini im philosophischen Diskurs eine Bedeutungsbreite von ,äußerer Erscheinung' bis geistiges Urbild'. Walzel (1923) wollte mit Gestalt die unsinnliche Bedeutung vermeiden; sie ist jedoch ζ. B. in Schillers ,Das Ideal und das Leben' (1785) ebenso wie in E. Jüngers ,Der Arbeiter' (1932) belegt. DWb 5, Sp. 4177-4190. - H. Meinhardt: Idee I. In: HWbPh 4, Sp. 55-65. - Walter J. Schröder: Form. In: RL2 1, 468-471. BegrG/SachG: Der ästhetische Begriff der ,schönen Gestalt' oder ,Form' wurde bestimmt als die nach Regeln der Schönheit erzeugte Einkleidung eines Gedankens oder Stoffs (G. F. Meier); als die (klassische) Erscheinungsweise des Kunstwerks, deren typisierende Darstellung einheitlich, einfach, erhaben wirkt: Zeugnis des Schöpfergeistes, der im Künstler waltet (Winckelmann nach Plotin); als,reine' Form, die die Sinnes- und Gemütsreize empirischer Gegenstände ausblendet, unseren Gefühls- und Verstandeskräften kein Ziel ihrer widerstreitenden Interessen bietet, sie vielmehr in zweckmäßig scheinendem Zusammenspiel vereint und „interesseloses Wohlgefallen" erzeugt (Kant, ,Kritik der Urteilskraft', §§2, 13 f., 17); als scheinhafte, doch vernunftgemäße Schöpfung unseres ästhetischen Spieltriebs

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(Schiller, ,Über die ästhetische Erziehung des Menschen', 1795, 15. u. 22. Brief). Für Goethe war Gestalt das Suchbild wahrer, ganzheitlicher Naturerkenntnis (im universalistischen, Kultur und Kunst einschließenden Sinn). Seinem Begriff einer selbstbestimmten, organisch gegliederten, dank polaren Eigenkräften entwicklungsfähigen Natur entspricht Gestalt im Sinn (1) objektiver Anschauung und (2) reflexiver Existenzerhellung: (1) Gestalt nannte Goethe die äußere Erscheinung natürlicher Gebilde, sofern sie aus einem inneren Bauplan sinnfällig erwächst, das Typische im Individuellen offenbart. (2) Bei Betrachtung natürlicher Gestalt offenbart sich dem Menschen als geistigem Pol der Natur die Freiheit und Gesetzlichkeit seiner eigenen Bestimmung. Die Kunst, eine geistig gesteigerte Natur, erzeugt ein System von Gestalten, die die polaren Kräfte menschlicher Existenz vielfältig darstellen (Goethe: ,Die Metamorphose der Pflanzen', 1799; .Metamorphose der Tiere', 1820; ,Zur Morphologie', 1817-1823). Die menschliche Gestalt — einziger sinnlicher Gegenstand, der innere Sittlichkeit zum Ausdruck bringen kann — ist das empirische Substrat, woraus die Phantasie ihr Schönheitsideal bildet (Kant). Doch nur im homerischen Zeitalter, als sich sittlicher Auftrag realiter in Taten der Helden statt in abstrakten Normen darstellte, ist die von der Kunst (Epik, Plastik) idealisierte Menschengestalt die höchste Form der Erkenntnis (Hegel). — Wiederaufgenommen wird der Begriff in der nach-positivistischen Ästhetik. Bei Gundolf heißt Gestalt die jederzeit den schöpferischen Ausnahmemenschen kennzeichnende Verschmelzung von Person und künstlerischem Werk, derart, daß das Werk den unmittelbaren Ausdruck heroisch-schicksalhafter Existenz bildet. .Ästhetische Grundgestalten', auch .ästhetische Erlebnistypen', .ästhetische Gefühls· und Phantasietypen' nannte Volkelt natur- und/oder kunstästhetische Phänomene (wie das Schöne, Typische, Erfreuende, Charakteristische, Tragische, Erhabene usw.). Sie beruhen auf verschiedenen Kategorien (Inhalt, Form, Gattung) und dienen verschiedenen Funktionen (Stil, Ob-

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Ghasel

jektivität), erfüllen aber jeweils ein menschliches Wertbedürfnis. Klarheit über die Grundgestalten soll die Analyse ihrer vielfaltigen Kombinationen ermöglichen. Walzel löste den Begriff ,Gestalt' aus dem Universalismus Goethes und reservierte ihn für die Geisteswissenschaften, um deren Objekt im Gegensatz zur Naturwissenschaft zu bestimmen: als ganz individuelle Schöpfung. Als er später tradierte Gestalttypen anerkannte, umging er historisches Begreifen durch Mythisierung (.romanische Formkunst'). Sein Gestaltbegriff richtete sich auch (unter Berufung auf Herbart) gegen die Gehaltsästhetik. Annäherung der Natur- und Geisteswissenschaften im 20. Jh. veranlaßte G. Müller, die Morphologie Goethes in eine .morphologische Poetik' umzusetzen. Seine Entdeckung variabler Strukturkomplexe (wie Erzählzeit/ erzählte Zeit) glaubte er mit Goethes naturphilosophischen Begriffen (Polarität, Leben, Umgestaltung) adäquat zu erfassen. Die Arbeiten Walzeis und Müllers waren für die Interpretation fruchtbar. Seine doktrinäre Ablehnung begrifflichen Denkens hinderte Walzel jedoch, den Gestaltbegriff zum operativ brauchbaren Strukturbegriff zu entwickeln. An die gleiche Grenze stieß, wegen lebensphilosophischer Überfrachtung, Müllers Gestaltbegriff, den die Fortsetzer der von Goethe angeregten beweglichen Formtypologie (E. Lämmert, F. K. Stanzel) nicht aufgriffen. ForschG: Während der Gestaltbegriff in der literaturtheoretischen und -geschichtlichen Situation seit dem Ende der 1960er Jahre keine Rolle mehr spielt, ist er zum Gegenstand wissenschaftsgeschichtlicher Darstellung vor allem der sogenannten Geistesgeschichte und einer Geschichte der GoetheRezeption (Kuhn) geworden. L i t : Ernst Cassirer: Freiheit und Form [Berlin 1916], Repr. Darmstadt 5 1991 (Kap. 11,7: Winkkelmann; Kap. IV,6: Goethe). - E. C.: Idee und Gestalt. Berlin 2 1924. - Friedemann Grenz: Gestalt bei Schiller. In: Literatur als Dialog. Fs. Karl Tober. Hg. v. Reingard Nethersole. Johannesburg 1979, S. 2 2 5 - 2 4 2 . - Friedrich Gundolf: Goethe. Berlin 1916 (Einleitung). - Dorothea Kuhn: Goethes Morphologie [1987], In: D. K : Typus und Metamorphose. Goethe-Studien. Hg.

v. Renate Grumach. Marbach 1988, S. 1 8 8 - 2 0 2 , 222. - D . K.: Grundzüge der Goetheschen Morphologie [1978], In: Kuhn 1988, S. 1 3 3 - 1 4 5 , 215 f. - Karl-Heinz Menzen: Entwürfe subjektiver Totalität. Dargestellt am psychologisch-ästhetischen Gestaltbegriff des frühen 19. Jhs. Frankfurt 1980. - Günther Müller: Die Gestaltfrage in der Literaturwissenschaft und Goethes Morphologie; Morphologische Poetik [1944]. In: G. M.: Morphologische Poetik. Hg. v. Elena Müller. Darmstadt 1968, S. 1 4 6 - 2 2 4 ; 2 2 5 - 2 4 6 . - R. Piepmeyer: Morphologie I: Die Bildung des Begriffs und seine Bedeutung in den Geisteswissenschaften. In: H W b P h 6, Sp. 2 0 0 - 2 0 5 . - Werner Strube: Gestalt I. In: H W b P h 3, Sp. 5 4 0 547. - Johannes Volkelt: System der Ästhetik. Bd. 2. München 1910. - Oskar Walzel: Leben, Erleben und Dichten. Leipzig 1912. - O. W.: Gehalt und Gestalt im Kunstwerk des Dichters. Berlin-Neubabelsberg 1923. — Johann Joachim Winckelmann: Geschichte der Kunst und des Alterthums. Hg. v. Heinrich Meyer und Johann Schulze. Bd. 2. Dresden 1811. Buch 4, Kap. 2, § 2 2 f.

Werner Hahl

Gestik /

Mimik2 Rechtssymbolik

Ghasel Aus der arabischen und persischen Lyrik kommende Gedichtform. Expl: Ghasel bezeichnet ein kurzes Gedicht, dessen entscheidende formale Kennzeichen die folgenden sind: (1) der Langvers (,bait') mit einer Zäsur in der Mitte, die den Vers in zwei Hälften (,misrâ") teilt; (2) der Monoreim (,qâfiya'), der im ersten Vers (,matla") am Ende jedes der beiden misrâ', von da ab nur noch am Ende des bait erscheint (in deutscher Versschreibung mit zwei Verszeilen pro bait erscheint dies also meist als Reimschema aa xa xa xa xa xa...); (3) die Selbstnennung (,takhallus') im Schlußvers. Eine besonders in der persischen Dichtung beliebte Erweiterung stellt der sog. RADIF ( r a d ì f ) dar: ein Wort oder eine ganze Wortfolge, die nach jedem Reimwort (etwa in der Art eines Erweiterten oder Reichen / Reims) unverändert wiederholt

Ghasel werden. Erscheint der Reim auch im ersten Langvers nur einmal (also am Ende erst des zweiten misrâ'), so gilt das betreffende Gedicht nicht als ghazal, sondern als qit'a (,Stück')· WortG/BegrG: Ghasel (dt. auch das Gasel oder die Gasele — stets auf der zweiten Silbe zu betonen) ist abgeleitet vom arab. Verb ghazila mit dem Infinitiv ghazal,Frauen ansprechen, ihr Lob singen'. Schon in frühislamischer Zeit nämlich gab es Dichter, die sich auf die Liebesdichtung spezialisierten; man bezeichnete sie mit dem Adjektiv ghazil ,minnesängerisch'. Als Gattungsname kam aber das Wort ghazal erst bei den Persern, wohl im 11. Jh., in Gebrauch. Rückert führt die Form wie den Namen in die deutsche Literatur ein. SachG/ForschG: Das Ghasel hat sich aus der arabischen QASÎDA oder KASSIDE entwikkelt, die ebenfalls durch qâfiya, bait und misrâ' bestimmt ist. Die traditionelle Qasîda umfaßte in der Regel drei — manchmal lose oder gar nicht, manchmal kunstvoll miteinander verschränkte - Teile, nämlich (1) die nostalgisch-erotische Eröffnung, (2) den Wüstenritt und (3) das Fürsten- oder Stammeslob. Daneben entwickelten sich früh (vielleicht als Ausgangs- oder Zerfallsprodukte der Qasîda) auch kleinere monothematische Gedichte, darunter das Liebesgedicht. In enger Anlehnung an die arabischen Vorlagen entsteht im 10. Jh. die persische Lyrik. Von den zwei Hauptrichtungen der arabischen Liebeslyrik — der auf Entsagung, Vergeistigung und Verklärung gestimmten und der sinnenfrohen bis libertinistischen — gewinnt langfristig vor allem die erste Einfluß auf die Haltung des persischen Ghasels. Dieses entwickelt sich jedoch erst allmählich in den folgenden Jahrhunderten bei Dichtern wie Sanä'i und 'Attâr, um bei Rûmi und Hafis seinen Höhepunkt zu erreichen. Entscheidend für die Entwicklung des Ghasels waren dabei zwei Dinge: zum einen der Rückgriff auf die Mehrthemigkeit der Qasîda, zum andern der Einfluß der Mystik. Schon vor Hafis wurde das Ghasel auch anderen Zwecken dienstbar gemacht, von religiöser und gnomischer Thematik bis

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zu Naturdichtung und Panegyrik. Durch diese reiche thematische Verwendung wurde das Ghasel zum eigentlichen Zentrum der lyrischen Dichtung, so daß beispielsweise der ,Diwan' des Hafis neben rund 500 Ghaselen nur einige wenige Lobqasîden enthält; der ,Diwan' des Rümi keine Lobqasîda, aber über 2000 Ghaselen und über 3000 RUBAI (rubai, persische Vierzeiler mit einer Waise im Reimschema aaxa, also dem Anfang von Ghasel oder Kasside entsprechend). Im Mittelpunkt der persischen — wie später auch der in Anlehnung an sie entstandenen osmanisch-türkischen und hidustanischen — Ghaselendichtung steht jedoch die Verherrlichung des ,Freundes' (düst, yâr): einer Chiffre, die - je nach Autor und Kontext — den hübschen Schenkenknaben, einen wirklichen oder gedachten Freund, den Ordensscheich, den Fürsten oder letztlich Gott selber meinen kann. Die ,Liebe' wird so zur Religion (schon bei den Vorgängern, aber besonders bei Hafis auf die anmutig-geistvollste Weise); ihr Priester ist der Dichter, ihr Prophet der ,Prior der Magier', d. h. Zarathustra. Die Rezeption des Ghasels in der deutschen Literatur beginnt mit Goethe und erreicht ihren Höhepunkt bei Rückert; eine eigentliche Einverleibung der Form findet aber nicht statt. Goethe lernt Hafis dank der vollständigen Übertragung des ,Diwans' durch Joseph von Hammer-Purgstall kennen (1813/14). Sie begeistert ihn derart für den Schiraser Dichter, daß er beginnt, Gedichte ,An Hafis' (FA 3, 3 2 5 - 2 7 ) zu schreiben, worin er ihn wiederholt als „heiliger Hafis" anredet (324 bzw. 13) und einmal sogar als seinen Zwilling bezeichnet: „Lust und Pein / Sey uns den Zwillingen gemein!" (323) Gleichzeitig wehrt Goethe sich jedoch gegen eine sklavische Nachahmung der Form (,Nachbildung', 324). Es gibt denn im ,West-östlichen Divan' auch kaum ein regelrechtes, geschweige denn ein formvollendetes Ghasel (entweder stimmt die Verteilung der Reime nicht, oder der Rhythmus hapert); die Einflüsse des Ghasels bei Goethe liegen mehr in der Bildersprache, in Witz und Ironie sowie in der Relativierung der konfessionellen Schranken.

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Gleichnis

Umso strenger hat (als hauptberuflicher Orientalistik-Professor) Friedrich Rückert die Form des Ghasels ernst genommen — zunächst in seinen Nachahmungen (ζ. B. Dschalâluddîn Rûmis) und Übertragungen (u. a. von 85 Hafis-Ghaselen), später auch in eigenen Gedichten (von den ,Östlichen Rosen' 1822 über die ,Freimund'-Ghaselen bis hin zu vielen der lebenslang unveröffentlichten ,Kindertotenlieder'). Auch in den Verwandlungen des Abu Seid von Serug' (1826), seiner feuerwerkartigen Verdeutschung der MAKAMEN des Hariri (einer unterhaltsamen arabischen Form vermischter, pikaresker Erzähldichtung in kunstvoller Reimprosa), hat Rückert zahlreiche Gedichte mit Monoreim formgetreu und virtuos übertragen; Ghaselen sind es jedoch vom Inhalt her nicht. Neben Rückert schuf auch F. v. Bodenstedt formstrenge Ghasel-Übertragungen, während J. v. Hammer-Purgstall den ,Diwan' des Hafis in antikisierenden Metren ohne Reim und V. v. Rosenzweig-Schwannau in gereimten Strophen wiedergab. Auch A. v. Platen benutzte für seine fast 50 HafisÜbertragungen Strophenform (schuf aber, ζ. T. unter persönlichem Einfluß Rückerts, zahlreiche eigene Ghaselen bzw. ghaselenartige Stücke). Als dichterische Form wurde das Ghasel nach Rückert und Platen nur noch sporadisch genutzt, so von G. Keller und Η. v. Hofmannsthal; heimisch ist es in der deutschen Dichtung nie geworden. Auch die literaturwissenschaftliche Erforschung ging in der Regel mit Neuübersetzungen H a n d in Hand; Übertragungen in strenger Ghaselform aus jüngster Zeit stammen von Bürgel (Hafis, Rümi, M. Iqbal), Keil (Hafis) und Schimmel (Rümi u. a.). Von einer eigenen, davon unabhängigen Forschungsgeschichte kann — ungeachtet einiger Spezialuntersuchungen wie denjenigen von Balke, Bobzin, Bürgel oder Fehn - bislang nicht die Rede sein. L i t : Der D i w a n v o n Mohammed Schemsed-din Hafis. Übers, v. Joseph v. Hammer-Purgstall. Stuttgart, Tübingen 1812 f. - Der Diwan des großen lyrischen Dichters Hafis. Pers./Dt. Hg. von Vinzenz Ritter von Rosenzweig-Schwannau. Wien 1 8 5 6 - 6 4 . - Hafis: Gedichte aus dem Diwan. Hg. v. Johann Christoph Bürgel. Stuttgart

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1977. - Gedichte aus dem Diwan. Hg. v. RolfDieter Keil. Düsseldorf 1957. - Muhammad Iqbal: Steppe im Staubkorn. Hg. v. Johann Christoph Bürgel. Freiburg (Schweiz) 1982. - Friedrich Rückert: Grammatik, Poetik und Rhetorik der Perser [1827/28], Hg. v. W[ilhelm] Pertsch [1874], Repr. Osnabrück 1966. - Rumi: Aus dem Diwan. Hg. v. Annemarie Schimmel. Stuttgart 1993. - Rumi: Licht und Reigen. Hg. v. Johann Christoph Bürgel. Bern 1974. - Rumi: Traumbild des Herzens. Hg. v. Johann Christoph Bürgel. Zürich 1992. Diethelm Balke: Westöstliche Gedichtformen. Diss. Bonn 1952. - Alessandro Bausani, Régis Blachère: Ghazal. In: Encyclopaedia of Islam. Hg. v. Clifford Edmund Bosworth. Leiden 1960 ff. - Hartmut Bobzin: Zur Geschichte der Hafis-Übertragungen Rückerts. In: Friedrich Rückerts Bedeutung für die deutsche Geisteswelt. Hg. v. Harald Bachmann. Coburg 1988, S. 5 2 - 7 4 . - Johann Christoph Bürgel: „Kommt Freunde, Schönheitsmarkt ist." Bemerkungen zu Rückerts Hafis-Übertragungen. In: Friedrich Rückert. Hg. v. Wolfdietrich Fischer und Rainer Gömmel. Neustadt an der Aisch 1990, S. 131 — 146. — Ann C. Fehn: Repetition as structure in the German Lied: the ghazal. In: Comparative Literature 41 (1989), S. 3 3 - 5 2 . - Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke. Frankfurter Ausgabe [FA], Bd. 3. Frankfurt 1994. - Hulya Ünlü: D a s Ghasel des islamischen Orients in der deutschen Dichtung. Frankfurt, Bern 1991.

Johann Christoph Bürgel

Gleichnis Rhetorisch oder auch erzählerisch erweiterter Vergleich. Expl: Eine differenzierende Präzisierung des Begriffs .Gleichnis' bedient sich zweckmäßigerweise der Unterscheidung von .hypothetischer' und ,epischer' Fiktionalität. Bei hypothetischer Fiktionalität weisen explizite („Stellen wir uns vor" — oft mit Konjunktiv oder Präsens als Erzähltempus) oder implizite Signale im Text darauf hin, d a ß es sich um eine kontrafaktische Annahme (z. B. ein Gedankenexperiment oder ein Szenario) handelt, während episch-fiktionale Texte die Handlung als vollkommen vergangen und wirklich vorgefallen präsentieren (in der Regel im Indikativ Präteritum). Ein

Gleichnis Gleichnis ist demnach ein ( l a ) selbständiger oder ( l b ) integrierter Text, der die (2a) explizit formulierte oder (2b) aufgrund von konventionellen Signalen sinngemäß unterlegbare (2c) Basisstruktur des Vergleiches (,X ist so f wie Y') überschreitet, und zwar (3a) durch amplifizierende Beschreibungen zu mindestens einem der Glieder der Basisstruktur oder aber (3b) durch hypothetischfiktionale Handlungsschilderungen, die sich an mindestens eines der Glieder der Basisstruktur knüpfen. Die Kriterien (2a) und (2b) tragen dem Variantenreichtum in der Einrichtung von Vergleichsbeziehungen Rechnung; das Kriterium (3b) grenzt das Gleichnis insbesondere von allen episch-fiktionalen Gattungen (und hier vor allem von der /" Parabel) ab, die sich wie das Gleichnis häufig expliziter Vergleichsformulierungen bedienen. WortG: Das Wort leitet sich her von ahd. galîhnissa bzw. galîhnissi und ist im Mhd. u. a. in der Form gelîchnisse belegt. Bis zum 18. Jh. wird das nhd. Wort Gleichnus(ß), Gleichnüs(ß), Gleichnis(ß) häufig als Femininum benutzt, seit der Mitte des 18. Jhs. setzt sich das Neutrum Gleichnis durch. Das Wort wird schon im Ahd. mit den Bedeutungen ,Bild', .Ebenbild', ,Sinnbild', .Beispiel' verwendet; in der Bedeutung .vergleichende' oder gar .uneigentliche Rede' findet es sich häufiger erst ab dem 13. Jh., besonders als Übersetzung von Vokabeln aus der lat. und griech. Rhetorik, etwa f ü r allegoria, enigma, collatio, comparatio, metaphora. Folgenreich ist die schon im Ahd. belegte Übersetzung der Ausdrücke griech. παραβολή [parabolé] bzw. lat. parabola, similitude oder auch proverbium zur Bezeichnung der biblischen Gleichnisreden. D W b 7, Sp. 8 1 8 4 - 8 2 0 4 . - Adolf Jülicher: Parables. In: Encyclopaedia Biblica. Bd. 3. London 1902, Sp. 3 5 6 3 - 3 5 6 7 . - Art. .Maschal'. In: Jüdisches Lexikon. Bd. 3. Königstein 1982, Sp. 1411-1415. - Kluge-Seebold, S. 269.

BegrG: Die Begriffsgeschichte seit Aristoteles' ,Rhetorik' (2,20) ist vor allem die Geschichte der dem Gleichnis zugeschriebenen Funktionen. In der rhetorischen Tradition gilt das Gleichnis bis in die Gegenwart unter wechselnden Namen wie griech. παρα-

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βολή, lat. parabola, similitude, comparatio insbesondere als rhetorische Technik des Erklärens, des Beweisens (Quintilian 5,10, 73; Cicero, .Topica' 10,44) und der Veranschaulichung (Quintilian 8,3,72; Neumark, 100; Harsdörflfer 3. 57 f.). Breitinger unterscheidet 1740 weiter zwischen erleuchtenden, auszierenden, nachdrücklichen und lehrreichen Gleichnissen (Breitinger, Abschnitte 1—5); Schopenhauer betont besonders die Funktion der Erkenntnisfindung (Schopenhauer, 584). Michels Unterscheidung mehrerer Funktionen (Behauptungen statuieren und stützen; ein Tun/eine Handlung empfehlen oder rechtfertigen; tröstende Funktion; Thematisierung eines Schlußverfahrens; Aufbrechen eines fixierten Vorverständisses u. a.m.) präzisiert und erweitert die rhetorische Begriffsverwendung aus kommunikationsanalytischer Sicht. Johann Jacob Breitinger: Critische Abhandlung von der Natur, den Absichten und dem Gebrauche der Gleichnisse [Zürich 1740], Repr. Stuttgart 1967. - Georg Philipp HarsdörfFer: Poetischer Trichter. Teile I—III [Nürnberg 1650, 1648, 1653]. Repr. Darmstadt 1969. - Georg Neumark: Poetische Tafeln [Jena 1667]. Repr. Frankfurt 1971. - Arthur Schopenhauer: Uber Schriftstellerei und Stil [1851], In: A. S.: Sämtliche Werke. Hg. v. Arthur Hübscher. Bd. 6. Leipzig 1937, S. 5 3 2 - 5 8 7 .

SachG: Die Sache selbst gibt es anscheinend zu allen Zeiten und in allen Kulturen. Wichtige Linien in der Geschichte des Gleichnisses führen bis zur antiken lat. und griech. Literatur (insbesondere zu Homer) zurück, außerdem zu alt- und neutestamentlichen Gleichnisreden, zur rabbinischen Gleichnisliteratur sowie zu anderen orientalischen Quellen (z. B. ,Pantschatantra' und ,Hitopadesa'). Das Gleichnis ist ein weitverbreiteter Bestandteil mittelalterlicher Epik sowohl in lat. Sprache wie auch in allen Volkssprachen. Es ist eine beliebte Technik religiöser, insbesondere mystischer Texte; die Tradition der Verwendung des Gleichnisses zur religiösen Erbauung und Belehrung setzt sich bis in die Gegenwart fort. Einen Höhepunkt literarischer Gleichnisverwendung stellen die Gleichnisse Jean Pauls dar, dies nicht nur wegen ihrer Menge

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Gleichnis

und Formenvielfalt, sondern auch, weil im Werk Jean Pauls das komische Gleichnis in bis dahin k a u m bekannter Weise hervortritt. Maßvoller, oft an morgenländischen Vorbildern orientiert, begegnen Gleichnisse bei Goethe, Schiller, Rückert, Platen u. a. Das ernste Gleichnis als Pendant zum komischen Gleichnis hat seinen wichtigsten Vertreter in Nietzsche. Häufig mit zurückgenommenem Pathos (wie bei Brecht), begegnet die ernste Variante des Gleichnisses im 20. Jh. ebenso wie die komische (Robert Gernhardt). Im 20. Jh. ist zudem eine Wiederbelebung des Gleichnisses aus rabbinischen Quellen (Bin Gorion, Martin Buber, Günter Kunert) zu beobachten. ForschG: Auf die Behandlung des Gleichnisses in der rhetorischen Tradition wie in der theologischen Exegese zurückgreifend, setzt die moderne Gleichnisforschung mit Jülicher (1886) ein; seine Untersuchungen, die sich gegen die Tradition der ? Allegorese neutestamentlicher Gleichnisse richten, situieren das Gleichnis zwischen Vergleich und Parabel und fassen diese Formen in strikter Abgrenzung von Metapher und Allegorie als Formen eigentlicher' Rede zusammen (/" Uneigentlich)·, insbesondere seine mißverständliche Unterscheidung von „Bildhälfte", „Sachhälfte" und verbindendem „Vergleichspunkt" in der Gleichnisrede wird in der Forschung bis heute immer wieder aufgegriffen. Jülichers Untersuchungen sind später durch formgeschichtliche (Bultmann), existenzial-hermeneutische (Fuchs, Jüngel, Linnemann, Koch-Häbel), historische (,Sitz im Leben': Jeremias), literaturwissenschaftlich, insbesondere metapherntheoretisch orientierte (Dodd, Ricoeur, Klauck, Weder, Harnisch), semiotische (Wittig, Almeida), textlinguistische (Güttgemanns) und handlungstheoretische (Arens) Ansätze ergänzt worden. Die Gleichnisforschung pflegt einherzugehen mit der Erforschung von Parabel und parabolischen Formen. Teilweise parallel zu Jülicher oder in unmittelbarem Anschluß an ihn bildet sich auch eine form- und kulturgeschichtlich arbeitende judaistische Gleichnisforschung heraus (Fiebig, Flusser, ThorionVardi, Dschulnigg, McArthur), der es u. a.

um die Einbettung insbesondere jesuanischer Gleichnisreden in eine jüdische Tradition des Gleichnisses geht. Die literaturwissenschaftliche Gleichnisforschung interessiert sich (außer an den homerischen Gleichnissen und rhetorischstilistischen Aspekten) ebenfalls hauptsächlich für die Abgrenzung des Gleichnisses von Parabel, Fabel, Allegorie und Beispiel; sie ist darin weitgehend abhängig von der theologischen Gleichnisforschung in der Version Linnemanns und Jüngels und nimmt die im engeren Sinne philologische Gleichnisforschung (Gerber, Fränkel u. a.) k a u m zur Kenntnis. Die Abhängigkeit wird erst in jüngeren Arbeiten (Michel, Zymner) aufgegeben, in denen pragmatische und linguistisch-sprachphilosophische Aspekte des Gleichnisses in den Vordergrund treten. Lit: Yvan Aleida: L'opérativité sémantique des récits-paraboles. Louvain 1978. — Edmund Arens: Kommunikative Handlungen. Die paradigmatische Bedeutung der Gleichnisse Jesu für eine Handlungstheorie. Düsseldorf 1982. - Rudolf Bultmann: Die Geschichte der synoptischen Tradition. Göttingen 2 1931. - Reinhard Dithmar (Hg.): Texte zur Theorie der Fabeln, Parabeln und Gleichnisse. München 1982. - R. D. (Hg.): Fabeln, Parabeln und Gleichnisse. München 1988. - Charles Harold Dodd: The parables of the kingdom. London 3 1936. - Peter Dschulnigg: Rabbinische Gleichnisse und das Neue Testament. Frankfurt, Bern 1988. - Paul Fiebig: Die Gleichnisreden Jesu im Lichte der rabbinischen Gleichnisse des neutestamentlichen Zeitalters. Tübingen 1912. - David Flusser: Die rabbinischen Gleichnisse und der Gleichniserzähler Jesus. Bern 1981. - Hermann Fränkel: Die Homerischen Gleichnisse [1921]. Göttingen 2 1977. Ernst Fuchs: Hermeneutik. Bad Cannstatt 2 1958. — Gustav Gerber: Die Sprache als Kunst. 2 Bde. Berlin 1885. - Erhardt Güttgemanns: Bemerkungen zur linguistischen Analyse von Matthäus 1 3 , 2 4 - 3 0 . 3 6 - 4 3 . In: Textsorten. Hg. v. Elisabeth Gülich und Wolfgang Raíble. Wiesbaden 2 1975, S. 8 1 - 9 7 . - Wolfgang Harnisch (Hg.): Die neutestamentliche Gleichnisforschung im Horizont von Hermeneutik und Literaturwissenschaft. Darmstadt 1982. - W. H.: Die Gleichniserzählungen Jesu. Göttingen 1985. - Joachim Jeremias: Die Gleichnisse Jesu. Göttingen 7 1965. — Adolf Jülicher: Die Gleichnisreden Jesu [1886]. Darmstadt 1969. - Eberhard Jüngel: Paulus und Jesus. Tübingen 1962, S. 8 7 - 1 3 9 . - Hans-Josef Klauck: Allegorie und Allegorese in synoptischen

Glosse, Gleichnistexten. Münster 1978. - Fritz Peter Knapp: Similitudo. Stuttgart 1975. - Bärbel Koch-Häbel: Unverfügbares Sprechen. Zur Intention und Geschichte des Gleichnisses. Münster 1993. — Eta Linnemann: Gleichnisse Jesu. Göttingen 6 1975. - Harvey Κ. McArthur, Robert M. Johnston: They also taught in parables. Rabbinic parables from the first centuries of the christian era. Michigan 1990. - Paul Michel: Alieniloquium. Frankfurt, Bern 1987. - Paul Ricoeur: Biblical hermeneutics. In: Semeia 4 (1975), S. 2 7 - 1 4 8 . - Talia Thorion-Vardi: Das Kontrastgleichnis in der rabbinischen Literatur. Frankfurt, Bern 1986. - Susan Wittig: Meaning and modes of signification. In: Semiology and parables. Hg. v. Daniel Patte. Pittsburgh 1976, S. 3 1 9 - 3 4 7 . - Rüdiger Zymner: Uneigentlichkeit. Studien zu Semantik und Geschichte der Parabel. Paderborn 1991.

Rüdiger

Zymner

Glossei Instrument der Texterschließung, bezogen auf das Einzelwort oder einen umfänglicheren Textzusammenhang. Expl: (1) Erklärung/Übersetzung eines Einzelworts (Lemma) eines Texts durch ein Synonym. Die Glosse kann zwischen den Zeilen stehen (Interlinearglosse; f Interlinearversion), innerhalb der Zeile (Kontextglosse) oder am Rand (Marginalglosse); sie kann geschrieben oder geritzt sein (Griffelglosse). (2) Vom unmittelbaren Textbezug gelöst, werden Glossen gesammelt in ein- oder zweisprachigen Glossaren; die Anordnung der Wortgleichungen kann alphabetisch oder der Abfolge in einem bestimmten Text entsprechend oder nach Sachgesichtspunkten erfolgen; daneben existieren Spezialglossare (u. a. Pflanzen, Tiere, Körperteile, Rechtstermini). Die spätmittelalterlichen Vokabulare lagern den Wortgleichungen weiteres Wissensmaterial an (Sachinformationen, Grammatik, Etymologie, Merkverse etc.). (3) Als Glosse bezeichnet wird auch die fortlaufend gereihte Erklärung eines Textes, meist knapper als der /" Kommentar, u. a. zur gesamten Bibel oder zu Teilen daraus

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(Psalter, Evangelien), zu Rechtstexten (,Corpus iuris', ,Sachsenspiegel'), seltener zu deutschen Dichtungen (,Reynke de Vos'). ,Glossa ordinaria' bezeichnet sowohl eine Bibelerläuterung des 12. Jhs. wie auch mehrere kanonistische Kommentarwerke. Zur geistlichen Lyrik des Spätmittelalters gehören lateinische und deutsche Glossenlieder u. a. zum Ave Maria und Vaterunser. WortG: Gr. γλώσσα [glòssa] ,Zunge, Sprache', auch fachsprachlich Bezeichnung für ein veraltetes, provinzielles Wort; nur diese Bedeutung hat Iat. glossa übernommen: .erklärungsbedürftiges Wort' (auch mitsamt der Erklärung). Erst spätantik bezeichnet glos(s)a das Interpretament selbst, was durch den Einfluß Isidors von Sevilla (,Etymologiae' 1,30) f ü r die Folgezeit verbindlich wird (Thesaurus VI,2 2108); daneben auch ,Erläuterung, Kommentar'. Als Lehnwort im Dt. seit Gottfried von Straßburg, .Tristan', v. 4689 (um 1210) durchgängig belegt, seit etwa 1500 wird Glosse auch abschätzig mit der Konnotation geistiger Unselbständigkeit gebraucht ( D W b 8, 212). BegrG: Von Aristoteles (.Poetik' 21) wird γλώσσα als das ungewöhnlichere Wort dem Nomen gegenübergestellt; es ist auch Terminus für den dichterischen Wortschatz in der antiken Homerexegese. Im Zuge des spätantiken Begriffswandels vom erklärungsbedürftigen Wort zur Erklärung selbst scheint die frühere Bedeutung ganz zu verschwinden. Mittellateinisch glos(s)a, mhd. glose bezeichnet selten das Einzelinterpretament (1), sondern meist Glosse im Sinne von (3). SachG: Die Praxis der Glossierung erstreckt sich ohne erkennbare Brüche von der Antike bis in die Neuzeit; sie gilt fast durchweg autoritativen lat. Texten (Bibel, Kirchenväter, Klassiker, Schultexte), bezeugt die intensive Erarbeitung eines genauen Textverständnisses und hängt oft m i t ' d e m Schulbetrieb zusammen. Glossierungssprache ist (im lateinischen Mittelalter) in der Regel das Lateinische; die Volkssprache wird vielfach nur da verwandt, wo ein entsprechendes lateinisches Interpretament fehlt oder wo die Vermittlung eines lat. Textes an ein volkssprachliches Publikum intendiert ist.

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Glosse2

ForschG: Im Mittelpunkt des Forschungsinteresses stehen die althochdeutschen und altsächsischen Glossierungen lateinischer Texte, deren sprachhistorischen Wert Jacob Grimm früh erkannte (4, 403; 8, 68). Nach der monumentalen Edition von Steinmeyer/ Sievers wird die Arbeit fortgeführt im Rahmen des ,Althochdeutschen Wörterbuchs' sowie der .Studien zum Althochdeutschen' (hg. v. der Akademie der Wissenschaften in Göttingen). Eine funktionale Betrachtung des Zusammenwirkens der überwiegenden lateinischen Glossierung mit der deutschen sowie mit den übrigen texterschließenden Elementen (Kommentar, Wortfolgeregelung) ist erst ansatzweise geleistet (Schwarz, Henkel). Die literarhistorische Einordnung der ahd. Glossen in ein entwicklungsgeschichtliches Modell der Verschriftung der Volksprache (Glosse -» Interlinearversion Text) scheint revisionsbedürftig. Neuere Ansätze zur funktions- und bildungsgeschichtlichen Einordnung der lateinischen Glossierungspraxis bieten — außerhalb des Fachs Germanistik — die Arbeiten von Lapidge und Wieland. Lit: Corpus glossariorum latinorum. Begr. v. Gustav Loewe, hg. v. Georg Goetz. 7 Bde. Leipzig 1888-1901. - Glossarla latina. Hg. ν. Wallace M. Lindsay u. a. 5 Bde. Paris 1926-1931. Die althochdeutschen Glossen. Hg. v. Elias Steinmeyer und Eduard Sievers. 5 Bde. Berlin 1879-1922. - Ergänzungen, Richtigstellungen, Nachträge [...] zu Steinmeyers Edition: Die althochdeutschen Glossen. Hg. v. Gerhard Köbler. Gießen 1993. - Taylor Starck, John C. Wells: Althochdeutsches Glossenwörterbuch. Heidelberg 1971-1990. Rolf Bergmann: Verzeichnis der althochdeutschen und altsächsischen Glossenhandschriften. Berlin, New York 1973. - Heinrich Götz: Zur Bedeutungsanalyse und Darstellung althochdeutscher Glossen. SB Leipzig 118,1. Berlin 1977, S. 53-208. - H. G.: Übersetzungsweisen in althochdeutschen Texten und Glossen im Spiegel eines lateinisch-althochdeutschen Glossars. In: Sprachwissenschaft 19 (1994), S. 123-164. - Jacob Grimm: Kleinere Schriften. Bd. 4. Berlin 1869; Bd. 8. Gütersloh 1890. - Nikolaus Henkel: Deutsche Übersetzungen lateinischer Schultexte. München, Zürich 1988. - N. H.: Die althochdeutschen Interlinearversionen. In: Wolfram-Studien 14 (1996), S. 46-72. - Michael Lapidge: The study of Latin texts in late Anglo-Saxon

England. The evidence of Latin glosses. In: Latin and the vernacular languages in early medieval Britain. Hg. v. Nicholas Brooks. Leicester 1982, S. 99-104. - Ernst Rohmer: Die literarische Glosse. Erlangen 1988. - Willy Sanders: Sprachglossen. In: Verborum amor. Fs. Stefan Sonderegger. Hg. v. Harald Burger u. a. Berlin, New York 1992, S. 47-70. - Alexander Schwarz: Glossen als Texte. In: PBB 99 (1977), S. 25- 36. - Rudolf Weigand: Glossen, kanonistische. In: TRE 13, S. 457-459. - Gemot R. Wieland: The glossed manuscript: classbook or library book? In: Anglo-Saxon England 14 (1985), S. 153-173. Nikolaus

Henkel

GIosse2 Gedicht, in dem ein vorgegebenes Thema zitiert oder paraphrasiert wird. Expl: Aus der spanischen Literatur übernommene literarische Form, die meist in vier Dezimenstrophen ein gereimtes vierzeiliges Thema oder ,Motto' durch Amplifikation so bearbeitet, daß je eine Zeile des Themas im Schlußvers jeder Strophe als Zitat erscheint. Der Normaltyp besteht aus vierhebigen (achtsilbigen) trochäischen Versen mit vier (in der spanischen Tradition ausschließlich weiblichen) Reimen pro Strophe in unterschiedlichen Stellungen mit syntaktischem oder semantischem Einschnitt nach der vierten (Espinela-Strophe) oder fünften Verszeile. Lizenzweise treten an die Stelle der Zehnzeiler andere Strophenformen; auch die Zeilenzahl des Themas und damit die Strophenzahl sowie die Zahl der pro Strophe zitierten Themazeilen und ihre Stellung sind variierbar (,freie Glossen'). Die Glossierung kann von der bloßen Variation oder Paraphrase über die Interpretation bis zur gezielten Umdeutung und zur Parodie gehen. Das M O T T O Ι ist gewöhnlich von einem anderen Autor entlehnt, wodurch in Thematik, Tonfall, Syntax, Metrum und Reim für den Glossierenden die Möglichkeit eigener Schöpfung beträchtlich eingeschränkt, zugleich aber ein vielfaltiges intertextuelles Spiel provoziert wird. Als amplifizierende Rezeptionsform hat die Glosse gemeinhin

Glosse2 einen intellektualistischen, dabei oft auch spielerisch-virtuosen Charakter, der sich rhetorisch in zahlreichen Antithesen und Wiederholungsfiguren niederschlägt. WortG: Gelehrt-lat. glossa, glosa (nach griech. γλώσσα [glòssa], ,Sprache', Äußerung') ,dunkles, erläuterungsbedürftiges Wort', dann auch ,Erläuterung eines dunklen Ausdrucks' (Isidor, ,Etymologiae', /" Glossei), .Kommentar' (auch juristisch), gelangt so in die Volkssprachen (mhd. glose), erweitert seine Bedeutung im Spanischen und Portugiesischen auf ein k o m mentieren mit ästhetischer Funktion' und wird dort in der vergleichsweise vagen Lemma-Definition zum literarischen Gattungsbegriff. Auch als musikalische Form (,freie Variation') ist span, glosa früh belegt. Die für den heutigen Gattungsbegriff charakteristische Bedeutungsverengung zeichnet sich im Spanischen erst seit ca. 1575 ab; in dieser Bedeutung wird das Wort im 17. Jh. (in der Form Glosen bei Zesen, ,Deutscher Helikon' 2,1, XLVII, 3 1649) mit der Sache ins Deutsche entlehnt. BegrG: Als Gattungsbezeichnung dominiert seit dem nachweisbaren Erscheinen dieser Gedichtform im Spanischen und Portugiesischen das Begriffswort glosa (Erstbelege im ,Cancionero de Stúñiga', 1445). Die gelegentliche Bezeichnung eines Glossengedichts als tençao (Tenzone) im ,Cancioneiro de Resende' ist ein Hinweis darauf, daß das poetische Glossieren im höfischen Milieu auch als Dichterwettstreit ausgetragen oder aufgefaßt wird. Zesens Eindeutschung Spruchlied hat sich nicht durchgesetzt. SachG: Die Herkunft der Gattung aus der Auseinandersetzung mit arabischen Formtraditionen, besonders dem mozarabischen Zadschal (Zéjel), aber auch mit glossierendparaphrasierender jüdischer und christlicher religiöser Dichtung ist möglich, arabische Monogenese nicht beweisbar. Im übrigen sind die vermuteten frühen Berührungen mit fremden Gattungen für die erst spät vorliegende Glosse von vergleichsweise geringer Relevanz. Literarisch fruchtbar ist die Glosse im Spanischen und Portugiesischen etwa von 1470 bis 1700. In der ersten

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Phase werden in petrarkistisch-höfischer ( Petrarkismus) oder populärer Form ausschließlich Liebesfragen glossiert. Im 16. Jh. entwickelt sich die Gattung auch zur philosophisch-religiösen Lehrdichtung; zugleich erscheinen in den Romanzenglossen historisch-nationale Themen, wobei sich generell die Kurzform durchsetzt. Auch werden Glossen zunehmend in andere literarische Gattungen integriert, so in den Schäferroman und — z. T. dialogisiert — ins Theater, vornehmlich zur intellektuellen Erörterung emotionaler Probleme in barocker Sprachform. Bedeutende Glossendichter des Siglo de oro sind neben Lope de Vega unter anderem Vicente Espinel und Góngora; ein Reflex der damaligen Glossenmode findet sich im ,Don Quijote' II, Kap. 18. Seit dem 18. Jh. tritt die Gattung im spanisch-portugiesischen Bereich ganz zurück. In der deutschen Literatur begegnet die Glosse als Entlehnungsform, vor allem im Gefolge der lebhaften Spanienrezeption der Romantiker, teils in Übersetzungen, teils in Neudichtungen. Die deutschen Glossen folgen durch strenges Alternieren auch hinsichtlich der Silbenzahl, nicht aber in der Beschränkung auf weibliche Reime, meist dem spanischen Normaltyp; Eichendorff verwendet allerdings für seine ,Sängerleben'-Glossen 3 und 4 ausnahmsweise Achtzeiler. Sogar die Einbettung in Theaterstücke wird nachgeahmt, so von Tieck im Prolog zu ,Kaiser Oktavianus'. Manches bekannte Motto — etwa Goethes „Eines schickt sich nicht für alle" oder Tiecks „Liebe denkt in süßen Tönen" und „Mondbeglänzte Zaubernacht" — wird gleich mehrfach glossiert (das zweite u. a. von Tieck selbst, den Brüdern Schlegel und Graf Loeben), wobei sich im Fall der betont romantisch-antirationalen Themen nicht selten ein stilistisch reizvoller Gegensatz zwischen der Tendenz der Vorlage und ihrer begriffsorientierten Paraphrasierung ergibt. Bei längeren Glossenketten stellt sich gewöhnlich auch die parodierende Glosse ein, zu den drei genannten Texten etwa bei Uhland (,Die Nachtschwärmer', ,Der Rezensent' und ,Der Romantiker und der Rezensent'), der im letzten Beispiel den oben erwähnten Gegensatz thematisiert und durch

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Glosse 3

die Dialogform verschärft. Wie Frank in seiner historischen Statistik zeigt, verliert die deutsche Glosse nach 1830 schnell an Bedeutung (Frank, 707). Platens Glosse ,An Goethe' folgt noch dem strengen Schema, während etwa Liliencrons ,Glosse' über ein Platen-Thema der Formtradition schon sichtlich fernsteht.

Madrid 1941, S. 9-67. - Jakob Minor: Neuhochdeutsche Metrik. Straßburg 1902, S. 496500. - Karl Voßler: Südliche Romania. Leipzig 2 1950, S. 243-280.

ForschG: Seit ihrer ersten Präsentation in Juan Díaz Rengifos ,Arte poética española' (1592) gilt die Glosse in Metriken und anderen theoretischen Schriften, so auch in Lessings ,Hamburgischer Dramaturgie' (63. Stück), unbestritten als spanische Form. In seinem Gattungsüberblick führt Janner (1943, 2 2 1 - 2 3 2 ) unter Berufung auf Voßler die große Verbreitung der Glosse in Spanien völkerpsychologisch auf die .agudeza' (.Scharfsinn', ? Argutia) als wesentliche Komponente des spanischen Nationalcharakters zurück. Dieser spekulativen Setzung ist mit Le Gentil (301-303), Baehr (245) und de Boor entgegenzuhalten, daß es Glossendichtung im 15. Jh. nachweislich auch in Frankreich und im deutschen Sprachraum gibt, die dann unter Renaissance-Einfluß aufgegeben wird, während sie in Spanien aufgrund seines kulturellen Traditionalismus, der natürlich seinerseits einer historischen Erklärung bedarf, noch zwei Jahrhunderte weiterbesteht und erst in dieser Zeit die Gattungsnorm herausbildet, die dann von anderen Literaturen als ,typisch spanisch' übernommen wird.

Glosse3

Lit: La glosa en el Siglo de oro. Una antologia. Hg. v. Hans Janner. Madrid 1946. — Glossen der Deutschen. Hg. ν. Fr. Voigts. Leipzig 1822. Rudolf Baehr: Spanische Verslehre auf historischer Grundlage. Tübingen 1962, S. 239-247. Helmut de Boor: Ein spätmittelalterliches Glossengedicht über das ,Salve Regina'. In: Märchen, Mythos, Dichtung. Fs. Friedrich von der Leyen. München 1963, S. 335-342. - Horst Joachim Frank: Hb. der deutschen Strophenformen. München, Wien 1980, S. 705-707. - Emilio García Gómez: Sobre el origen de la forma poética llamada glosa. In: Al-Andalus 6 (1941), S. 401-410. - Hans Janner: La glosa española. In: Revista de Filología Española 27 (1943), S. 181-232. - Pierre Le Gentil: La poésie lyrique espagnole et portugaise à la fin du Moyen Age. Bd. 2. Rennes 1952, S. 291-304. - Ramón Menéndez Pidal: Poesía árabe y poesía europea.

Werner

Helmich

Kurzer journalistischer Meinungstext. Expl: Die Glosse ist unter den meinungsbetonten oder kommentierenden Zeitungstexten die kürzeste Form. Sie findet sich in allen redaktionellen Sparten und kennt keine thematische Beschränkung. Die Glosse setzt bei ihren Lesern die Kenntnis des glossierten Gegenstands schon voraus und bezieht sich deshalb grundsätzlich auf andere Texte (zum Beispiel ,Meldungen' oder B e richte'), die sie ausdeutet oder erklärt. Die Glosse steht also immer in einem Spannungsverhältnis zu einem Ausgangstext (Rohmer, 220). Dabei bildet einen Extremfall die ,Zitatglosse', in der unter Überschriften wie „Aufgespießt" oder „Das fiel uns a u f einfach der Ausgangstext oder Teile von ihm abgedruckt werden. Wie viele Formen von Zeitungstexten läßt sich auch die Glosse nicht mit einer einfachen Auflistung von Gattungsmerkmalen bestimmen. Unter Journalisten wie Publizistik-Forschern herrscht keineswegs Konsens darüber, wie die Textsorte genau einzugrenzen ist und wie die prototypische Glosse auszusehen hat. Es ist deshalb davon auszugehen, daß es verschiedene Spielarten der Glosse gibt. (1) Als satirischer Kurzkommentar und spöttische Randbemerkung zielt sie vor allem auf Angriff und Verletzung. Sie soll dabei schlagkräftig, aber doch von leichter Eleganz sein; sie bildet gewissermaßen die feuilletonistische Variante der polemischen, geistreichen Meinungsäußerung. (2) Vielfach zielt die Glosse aber auf bloße s Unterhaltung, will erfreuen oder belustigen und gibt sich zu diesem Zweck humoristisch. (3) Verfolgt sie dagegen erkennbar das Ziel, zum Nachdenken anzuregen oder Mei-

Glosse3 nung zu beeinflussen, läßt sie sich nicht immer klar vom ? Kommentar¡ unterscheiden. Besonderheiten, nach denen auch solche Texte als Glossen zählen, sind: Wortspiele, ungewöhnlicher Sprachgebrauch vom übertrieben Gekünstelten bis hin zu Umgangssprache und Dialekt, das Aperçu, die Schlußpointe, die (manchmal auch ironisch) zugespitzte Darstellung und Argumentation. Diese Merkmale kommen in unterschiedlicher Kombination miteinander vor. Generell findet sich in Glossen die Tendenz, im scheinbar Nebensächlichen das eigentlich Zentrale darzustellen (darin sind sie dem f Feuilleton verwandt). Eine weit verbreitete Bauform der Glosse weist drei Teile auf: Die ,Sachmitteilung' schlägt für den Leser die Brücke zum Ausgangstext, indem in ihr das notwendige Wissen über den Gegenstand vermittelt wird; in der ,Diskussion' erfolgt die Auseinandersetzung mit dem Gegenstand; mit der Pointe wird in überraschender Volte und Zuspitzung eine neue Sichtweise ins Spiel gebracht. Wird dabei eine Zeitungssparte mit einer Glosse eröffnet, spricht man von Spitzmarke, Spitze oder Mütze; wird mit einer Glosse Platz ausgefüllt, der beim Umbruch übrigbleibt, ist von Entrefilet die Rede. WortG: Glosse geht zurück auf mlat. glossa ,Erklärung, Interpretation, Kommentar', gebräuchlich vor allem für die ,Interlinearglosse' der Grammatiker in Form reiner Wortlisten sowie die juristische und theologische Glosse als Textform scholastischer Gelehrsamkeit (/• Glosse/). Seit dem 15. Jh. wird das Wort auch pejorativ verwendet: unter Glosse wird ein Text verstanden, in dem der Ausgangstext nicht ausgedeutet, sondern durch Erfindungen und Zusätze verfälscht wird (DWb 8, 210-214; z. B. Wickram, 138; engl, schon 1390-1400 bei Chaucer: ,The Prologe of the Wyves Tale of Bathe', v. 26). Weiterhin wird im 15. und 16. Jh. die Glosse unter diesem Namen zum Zwecke der gelehrten Satire verwendet (vgl. Hess 1971). Außer als Bezeichnung für eine spezielle Gedichtform (y Glosse2) ist Glosse seit dem frühen 18. Jh. auch in der Bedeutung .mündliche, kritische, spöttische, an-

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zügliche Bemerkungen' belegt (DWb 8, 210—214). Die Bedeutungskomponenten ,Textform' und .spöttische Bemerkung' haben in Verbindung miteinander zur Bezeichnung des journalistischen Meinungstextes im Sinn von Glosse3 geführt. Georg Wickram: Sämtliche Werke. Bd. 3. Berlin 1968.

BegrG/SachG: Trotz Ansätzen in der 2. Hälfte des 18. Jhs. bekommt das politische Räsonnement erst in der Mitte des 19. Jhs. seinen unbestrittenen Platz in der deutschen Zeitung. Während beispielsweise die Literaturkritik seit dem frühen 18. Jh. ihre zeitungsspezifischen Formen entwikkeln konnte, setzte eine kontinuierlichere Entwicklung der Meinungstexte erst mit der endgültigen Abschaffung der Zensur nach der Märzrevolution von 1848 ein. Wie diese Entwicklung im Detail aussieht, ist noch nicht untersucht; dementsprechend läßt sich nur höchst ungenau sagen, daß der spezielle Typ des journalistischen Meinungstextes im Sinne von Glosses in der 2. Hälfte des 19. Jhs. entstand, vermutlich aber erst gegen Jahrhundertende. Sicher ist dagegen, daß sich die Bezeichnung Glosse für diese Textform erst sehr viel später durchgesetzt hat. Im 19. Jh. wurden die Ausdrücke Glosse und glossieren von Journalisten und Publizisten in der Bedeutung ,kritisch-polemische Randnotiz oder Anmerkungen' und ,kritisch-polemisch kommentieren' gebraucht, ohne daß damit bestimmte Textformen gemeint waren. So nannte beispielsweise Karl Marx manche seiner Zeitungsartikel zu politischen Fragen Glosse; speziell die „Kritischen Randglossen zu dem Artikel ,Der König von Preußen und die Sozialreform. Von einem Preußen'" (1844) erstrecken sich über 18 Seiten, entsprechen also keineswegs der knappen Textform Glosse3 (vgl. Camen, 27 f.) Auch bei dem ,Glossierungs-Verbot', das das deutsche Reichs-Preßgesetz vom 7. Mai 1874 aussprach, ging es nicht um bestimmte Textformen, sondern um die Bestimmung, daß bei der Veröffentlichung amtlicher Erlasse und Verfügungen keinerlei Zusätze und Bemerkungen abgedruckt werden durften.

Gnomik

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Karl Kraus wiederum, der eine Reihe seiner ,Fackel'-Texte mit „Glosse" überschrieben hat, schreibt keine Zeitungsglossen im journalistischen Sinn (wohl aber viele ,Zitatglossen' gemäß der o.a. Explikation), sondern er zeigt mit diesem Titel vor allem an, daß er sich des ,Glossierens' als eines Kunstgriffs bedient (vgl. Rohmer, 197 f.). In zeitungswissenschaftlichen Handbüchern erscheint Glosse als Fachterminus für die Textform erst in den 40er Jahren des 20. Jhs. (Rohmer, 32). Möglicherweise hat diese Bezeichnung durch die „Glossenkonferenz", die 1937 von den Nationalsozialisten eingerichtet wurde (vgl. Hagemann 1948), Eingang in den journalistischen Sprachgebrauch gefunden. ForschG: Die Glosse wird von Zeitungswissenschaftlern und Journalisten als „schwerste journalistische Stilform" (Dovifat/ Wilke, 179) und als ,Hohe Schule des Journalismus' betrachtet. Für ihre große Wertschätzung spricht, daß in den 80er Jahren des 20. Jhs. in der Bundesrepublik Deutschland fast die Hälfte der Tageszeitungen regelmäßig Glossen veröffentlichte, etwa ein Drittel sogar täglich (Camen, 123). Trotz der Monographien von Camen 1984 — der speziell die zeitgenössischen Formen der Glosse untersucht - und Rohmer 1988 der besonders das Verfahren des Glossierens und seine unterschiedlichen Nutzungsweisen seit dem Mittelalter herausarbeitet — ist die Entstehung und Geschichte der Zeitungs-Glosse noch immer zu wenig erforscht. Lit: Rainer Camen: Die Glosse in der deutschen Tagespresse. Bochum 1984. - Emil Dovifat, Jürgen Wilke: Zeitungslehre I. Berlin, New York 6 1976. - Walter Hagemann: Publizistik im Dritten Reich. Hamburg 1948. - Günter Hess: Deutsch-lateinische Narrenzunft. München 1971. - Ferdinand Himpele: Die Glosse in der deutschen Presse. In: Zeitungswissenschaft 13 (1938), S. 509-518. - Ernst Rohmer: Die literarische Glosse. Erlangen 1988. — Franz Simmler: Die Glosse als publizistische Gattung. In: Sprachliche Aufmerksamkeit. Glossen und Marginalien zur Sprache der Gegenwart. Hg. v. Wolf Peter Klein und Ingwer Paul. Heidelberg 1993, S. 178-182. Ulrich

Püschel

Gnomik Literaturform sentenzartigen, auf lebenspraktische Orientierung zielenden Redens. Expl: Ausgehend von den Gattungsmerkmalen der antiken Gnome (/" Sentenz), bestimmen den Begriff zwei Verwendungsweisen: (1) Gesamtheit der Gattungen und Einzelwerke (,gnomische Literatur'), die auf Grundtatsachen bezogenes Orientierungsund Erfahrungswissen in die Form knapp, allgemeingültig und verbindlich formulierter Rede fassen. Aus antiker Dichtung entwickelt, meint der Begriff zunächst das ganze durch die Gnome charakterisierte Text- und Typenfeld (Gnomen-Dichtung, Gnomologien u. a. m.), dann aber alle Literatur gnomischer und gnomennaher Art. Diese Unschärfe schließt eine exakte Angabe des Begriffsumfangs aus: Neben präskriptiven Sentenzen sind deskriptive Erfahrungssätze einbegriffen, neben Einzelsentenzen auch Sentenzensammlungen sowie Lehr- und Wahrheitsdichtung sentenzartigen Stils. Als prägendes Merkmal setzt sich oftmals auch die Versform der Texte durch. (2) Formprinzip (das ,Gnomische'), das die behauptende Setzung eines selbständig gültigen Gedankens zum Muster erhebt. Als Denkform liegt dem ein urteilendes, auf Einzelresultate konzentriertes Erfassen der Realität zugrunde; als Sprachgebärde herrscht der Gestus apodiktischen und pointierten Redens vor. Gnomik meint so nicht einen Gattungstyp, sondern am ehesten eine Einfache Form, deren Domäne im praxisgebundenen Spruch liegt (/" Apophthegma, ? Sprichwort, ? Sentenz)·, ihre im Einzelgedanken zentrierte Basisstruktur hebt sie von komplexeren (z. B. narrativen) Typen der Formbildung ab. Die Bezeichnung Gnomik konkurriert mit adjektivischen Varianten (gnomische Dichtung u. ä.). Oft gilt sie nur für die antike Literatur, während das germanischdeutsche Pendant Spruchdichtung heißt. Vermieden werden sollte die unspezifische Verwendung für poetisch geformte Weisheits- und Wissensliteratur jeglicher Art.

Gnomik WortG: Die Bezeichnung geht zurück auf griech. γνώμη [gnòme] .Merkmal', ,Kennzeichen', dann ,Erkenntnis', .Meinung', ,Sinn' (Levet, 32-40). Schon im 5. Jh. v. Chr. ist γνώμη in Poetik und Rhetorik das Fachwort für Aussprüche ethischen Inhalts. Jedoch bezeichnet das Wort — wohl erst nachklassisch — auch Sinn- und Weisheitssprüche. Die heutige Kollektivbezeichnung Gnomik (gnomisch) basiert auf den humanistischen Gnomologien des 16. und 17. Jhs. Sammelausgaben wie die kanonbildenden ,Poetae graeci gnomici' (1553) Adrian Turnèbes haben den Begriffsschwerpunkt dabei früh auf die Lehr- und Weisheitsdichtung überhaupt verschoben (Bielohlawek). Fest etabliert ist der Terminus nur für die altgriech., altnordische und altengl. Spruchdichtung (Williams, 5 f.). Karl Bielohlawek: Hypotheke und Gnome. Leipzig 1940, S. 7 1 - 8 0 . - Jean-Piere Levet: ΡΗΤΩΡ et Γ Ν Ω Μ Η . Présentation sémantique et recherches isocratiques. In: La Licorne 3 (1979), S. 1 1 - 4 0 .

BegrG: Bei Aristoteles ist die Gnome ein allgemeiner, präskriptiv auf das Handeln der Menschen bezogener Ausspruch (,Rhetorik' 2,21). Während das Interesse des Rhetorikers nur der in Kunstrede und Dichtung eingearbeiteten Sentenz gilt, erweitert sich der Begriff im Umfeld der antiken Spruchdichtung und Prosa (ζ. B. .Gnomen des Phokylides') auf den kontextuell selbständigen Sinnspruch. Der Kollektivbegriff ,gnomische Literatur' setzt diese Erweiterung voraus; sie erklärt seine Bindung an die Sammlungstradition sentenzartiger Kleinstformen: Antik-mittelalterliche, humanistische und barocke Gnomensammlungen und Gnomologien fassen von dorther unter die γνώμαι und Gnomica stets auch Apophthegmen, Sinnsprüche und Verwandtes. Die moderne Diskussion wird durch Herders Versuch eingeleitet, den gnomischen Spruch als poetische Erkenntnisform zu verstehen (,Uber Spruch und Bild', 1792). Herders bahnbrechendem Ansatz verdankt sich in neuerer Zeit das Konzept der ,gnomischen Apperzeption' (Petsch), das nicht nur einen eigenen Modus empirisch-punktueller Wahrheitserkenntnis (von

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Rad, 419) meint, sondern ein Elementarprinzip spruchliterarischer Formbildung, eine „Sinn-Bildekraft" (Rahn, 49), deren Gesetzmäßigkeiten das „genre gnomique" (Rodegem, 127 f.) prägen. Helmut Rahn: Morphologie der antiken Literatur. Darmstadt 1969.

SachG: Die Anfange abendländischer Gnomik-Tradition liegen in den Spruchbüchern des Alten Testaments (Preuß, 10—30). In der griechischen Literatur werden Gnomen in Epos und Drama zitiert; sie begründen eine eigene ,Gnomen-Dichtung' (Theognis von Megara u. a.), finden sich bald auch als Stilmittel der philosophischen Prosa (,Worte der Sieben Weisen') und in Sammlungen zusammengefaßt (ζ. Β. ,Schulbuch der knidischen Ärzte'). In größere Kontexte eingebettet dienen sie dem Aufbau einer maßstabsetzenden Autorität und als Baustein größerer Texte wie Haustafeln und Mahnreden (Berger, 1055 f.). Auch in den altnordischen Götter- und Heldenliedern bildet sich früh ein „germanischer Gnomenstil" (Heusler, 64 — 76), der nicht selten — so in den ,Hávamál' (,Sprüche des Hohen') der ,Scemundar Edda' (10. —13. Jh.) — längere Spruchreihen prägt. Die kontinentale Uberlieferung kennt volkssprachliche Gnomik nur als knappe Merk- und Spruchdichtung, z. B. in der mit dem Namen Notker Labeos verbundenen St. Galler Sentenztradition des 11. Jhs. Auf vorliterarische Gnomik dieses Typs gründet im 12. Jh. die mhd. Sangspruchdichtung (Herger, Spervogel), die ihre ganze Gattungsgeschichte hindurch gnomische Themen wie Alter oder Gast-Sein behandelt. Anfang des 13. Jhs. entwickelt auch Freidank aus anonymer Gnomik die Kunstform des konzisen Reimpaarspruchs. Und noch in der überaus lebendigen Spruchtradition des Spätmittelalters neigt Gnomik deutscher Sprache zu sentenzartiger Kürze, neben der Großformen kaum Profil gewinnen (Euling, Dicke). Die spätmittelalterliche Gnomik vererbt sich breit an die Spruch- und Sprichwortliteratur des 16. Jhs. (von Heinrich Bebel bis zu Friedrich Petri). Erst die nach eigenem Anspruch enzyklopädische Dicta- und

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Goethezeit

Apophthegmenliteratur der Barockzeit sammelt dagegen wieder antike Gnomik (Verweyen, 73 — 75). Herders Bemühen, solche „Weltweisheit" als Sprachkunst eigenen Rechts neu zu etablieren, zeigt in der Folge an, d a ß die gnomische Wahrheit dem aufgeklärten Bewußtsein fragwürdig geworden ist. Ungeachtet ihrer minderen Verbindlichkeit hat Gnomik seither neue literarische Qualität gewonnen — so in den ,Gnomen' Goethes (,Sprichwörtlich', 1815; ,Buch der Sprüche', 1827), im ,Laienbrevier' Leopold Schefers (2 Bde., 1834/35) oder in Friedrich Rückerts ,Weisheit des Brahmanen' (6 Bde., 1836-1839). Die literarische Reihe umfaßt manchen Einzeltext (ζ. B. Johannes G a u denz von Salis-Seewis, ,Gnome'); sie reicht vorerst bis zur nationalpädagogischen .Ordensliteratur' Stefan Georges (,Stern des Bundes', 1914) und zur gesellschaftlichen Instanzenrede im Kurzgedicht des späten Brecht. Karl Euling: Das Priamel bis Hans Rosenpliit. Breslau 1905. - Klaus Grubmüller: Freidank. In: Kleinstformen der Literatur. Hg. v. Walter Haug und Burghart Wachinger. Tübingen 1994, S. 38-55. - Andreas Heusler: Die altgermanische Dichtung. Wildpark, Potsdam [o. J.]. ForschG: Gnomik-Forschung beruht auf vergleichenden Studien zur internationalen Weisheitsliteratur. Methodisch ist sie quellen- und traditionsgeschichtlichen Ansätzen verpflichtet (Horna/von Fritz, Küchler). Namentlich die Theologie (von Rad, Preuß, Berger) hat verfeinerte Analyseverfahren für Formen, Funktionen und sozialgeschichtliche Zusammenhänge erarbeitet: Gnomik gilt hier als Gebrauchsliteratur, die, vielfaltig gestaltbar und funktionalisierbar, in verschiedene Kontexte eingeht. Gerade ihre Sammlungstradition zeigt ein breites Formen- und Themenrepertoire, interkulturelle Bezüge, ideengeschichtliche Verläufe, doch auch die Verbindung der meist populären Texte zur Alltagswelt ihrer Umgebungen (Schaefer, 178-230). In dieser — noch wenig beachteten — Perspektive erweist sich die Gnomik als wichtiges Bindeglied zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit, literarischer Gestalt und Alltagsrede.

Lit: Klaus Berger: Hellenistische Gattungen im Neuen Testament. In: Aufstieg und Niedergang der römischen Welt II. Principat. Bd. 25/2. Hg. v. Wolfgang Haase. Berlin, New York 1984, S. 1049-1074. - H. Munro Chadwick, N. Kershaw Chadwick: The growth of literature. 3 Bde. Cambridge 1932-1940. - Gerd Dicke: Mich wundert, das ich so frölich pin. In: Kleinstformen der Literatur. Hg. v. Walter Haug und Burghart Wachinger. Tübingen 1994, S. 56-90. - Konstantin Horna, Kurt von Fritz: Gnome, Gnomendichtung, Gnomologien. In: Real-Encyklopädie der klassischen Altertumswissenschaft. Suppl.Bd. 6. Stuttgart 1935, Sp. 74-90. - Klaus Kanzog: Spruch. In: RL 2 4, 151-160. - Max Küchler: Frühjüdische Weisheitstraditionen. Fribourg, Göttingen 1979. - Hugo Moser: Die hochmittelalterliche deutsche ,Spruchdichtung' als übernationale und nationale Erscheinung. In: Mittelhochdeutsche Spruchdichtung. Hg. v. H. M. Darmstadt 1972, S. 405-440. - Robert Petsch: Rez. Franz Freiherr von Lipperheide: Spruchwörterbuch. In: ASNSL NF 16 (1906), S. 384387. — Horst Dietrich Preuß: Einführung in die alttestamentliche Weisheitsliteratur. Stuttgart u. a. 1987. - Gerhard von Rad: Theologie des Alten Testaments. Bd. 1. München 1957. - François M. Rodegem: La parole proverbiale. In: Richesse du proverbe. Hg. v. François Suard und Claude Buridant. Bd. 2. Lille 1984, S. 121-135. — Ursula Schaefer: Vokalität. Tübingen 1992. Theodor Verweyen: Apophthegma und Scherzrede. Bad Homburg u. a. 1970. - Blanche Colton Williams: Gnomic poetry in Anglo-Saxon. New York 1914. Manfred

Eikelmann

Goethezeit Epoche der deutschen Literaturgeschichte, etwa von 1770 bis 1830. Expl: .Goethezeit' faßt, ungewöhnlich für einen Epochenbegriff, drei allerdings auch ungewöhnlich kurze ? Epochen zu einer Einheit zusammen Sturm und Drang, f Klassik2 und /" Romantik). Das gemeinsame Merkmal, das sie miteinander verbindet und von den angrenzenden Epochen (y Aufklärung bzw. /" Empfindsamkeit einerseits, /" Restauration bzw. / Vormärz andererseits) unterscheidet, scheint zunächst nur der namengebende Autor zu

Goethezeit

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sein, und zwar auf doppelte Weise: „Wie das früh das Jahr 1832 als das Ende einer EpoWirken unseres größten Dichters gerade che ansetzt (Heinsius, 462; Vilmar, xvm), mit diesen 60 Jahren deutscher Geistesge- welche man fast allgemein um 1770 beginschichte (1770—1830) äußerlich zusammen- nen läßt (Wachler 2, 291; Stöber, 173; Kofallt, so steht seine Gestalt auch innerlich berstein, 250) und zwar nicht immer gleich, beherrschend in ihrem Mittelpunkte" aber doch meist in drei Abschnitte unterteilt ( K o r f f l , 1). (z. B. Pischon, xi: „Die sogenannte SturmIn der strengen Fassung allerdings, die und Drangperiode von 1770 bis 1793", H. A. Korff 1923 dem Begriff gegeben hat, „Goethe-Schillersche Zeit und Zeit der neuist die Reihe der drei Epochen konzipiert als ern Romantik. Von 1794 bis 1813", „Neuedie Einheit der Geschichte eines und dessel- ste Zeit"). Auch wo diese Epoche einen ausben ,Geistes', der sich in dialektischer Be- zeichnenden Titel erhält (z. B. Heinsius, wegung durch Negationen (oder zumindest 462: „Das Zeitalter klassischer Literatur. Gegensätze) hindurch zu immer umfassen- Von Klopstock bis auf Goethe's Tod, oder bis 1832"; Schaefer 2, 216: „Die deutsche deren Synthesen entwickelt. Von diesem Programm nicht nur klassifi- Poesie auf der Höhe der Classicität"), ist sie zierender Ordnung, sondern auch systema- nicht als eine Einheit mit angebbaren Eitischer Verkettung historischer Abfolgen ist genheiten und Unterscheidungsmerkmalen nur der Name Goethezeit geblieben, der konzipiert. auch außerhalb der Literaturwissenschaft Nach der Mitte des 19. Jhs. verschwinden als bequem zusammenfassende Benennung auch solche zusammenfassenden Titel mehr der Jahrzehnte vor und nach 1800 verwen- und mehr, und es setzt sich — mit unterdet wird, ohne daß damit — trotz erkennba- schiedlicher Datierung - die Reihung rer wortgeschichtlicher Motivierung — ein dreier Epochen durch, die meist als ,Sturm Bekenntnis zu Goethe als Mittel- oder Hö- und Drang', .Goethe und Schiller' (oder hepunkt verbunden wäre. ähnlich) und ,Romantik' benannt werden, wobei die beiden letzten überwiegend als KUNSTPERIODE: Epoche, „die mit dem Erscheinen Goethes anfangt" (Heine 10, Opposition dargestellt werden. Über den 239) und „bey seinem Sarge aufhören wird" Versuch H. Hettners, wenigstens zwei der (Heine 12, 47). Der Begriff, von Heine noch drei Kurzepochen zusammenzuschließen, vor Goethes Tod gebildet (1828), hat somit geht W. Dilthey hinaus mit der Skizze einer etwa denselben Umfang wie ,Goethezeit', „Bewegung" in der Philosophie („von den orientiert sich aber nicht zuerst an einer großen Schöpfungen unserer Dichter gebilPerson, sondern (mit derselben Metapho- det"), „in einem geschlossenen und kontirik) daran, daß „die Idee der Kunst zugleich nuierlichen Gange ablaufend, von Lessing der Mittelpunkt jener ganzen Literaturpe- bis zu dem Tode Schleiermachers und Heriode" und „der eigentliche Mittelpunkt in gels ein Ganzes", „ein einmütiger ZusamGoethe selbst, dem großen Repräsentanten menhang großer Ideen" (Dilthey, 13, 27). dieser Periode" sei (Heine 10, 239). Erst H. Nohl hat, anknüpfend an DilKunstperiode wird seit den 1970er Jahren they, einen ähnlich kohärenten Begriff wie vereinzelt als weniger belasteter' Ersatz für Heine ausgearbeitet (Nohl 1912), der den Goethezeit gebraucht (Stephan 1979). ganzen Zeitraum von 1770 bis 1830 als eine Heinrich Heine: Historisch-kritische Gesamtauseinheitliche Entwicklung (in Literatur, Phigabe der Werke. Hg. v. Manfred Windfuhr. Hamlosophie, Pädagogik und Politik) erfaßt, burg 1973ff. und zwar als Abwendung von jahrhundertelanger kultureller Fremdbestimmung und WortG: Eine Verwendung des Wortes Goeals Entdeckung und Pflege des Eigenen, des thezeit vor Korff ist bisher nicht bekannt. Deutschen: als DEUTSCHE BEWEGUNG. DieBegrG: Heines Begriff ,Kunstperiode' ser Begriff, attraktiv wohl nicht zuletzt westimmt in seiner zeitlichen Begrenzung gen seiner nationalen Implikationen, ist überein mit der Praxis der zeitgenössischen durch Nohls Göttinger Vorlesungen (publiLiteraturgeschichtsschreibung, die schon ziert: Nohl 1970) verbreitet worden, späte-

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Goethezeit

stens durch P. Kluckhohns Anthologie (1934) und F. Meineckes Historismus-Buch (1936) zum Allgemeingut geworden und erst in den 50er Jahren außer Gebrauch gekommen. Den Begriff ,Goethezeit', bei gleicher zeitlicher Extension nur auf Literatur und Philosophie bezogen, hat Korff als einen ideengeschichtlichen entfaltet, indem er die historische Bewegung des Geistes beschrieben hat als die dialektische Dynamik insbesondere der Ideen .Humanität', ,Religion' und ,Kunst', die in den Texten zum Ausdruck kommen. Direkte Übernahmen der geschichtsphilosophischen Implikationen sind trotz des großen Erfolgs von Korffs Hauptwerk (acht Auflagen bis 1966) nicht zu verzeichnen. Die normative Fixierung des Begriffs (und großer Teile der traditionellen Germanistik) auf Goethe ist seit den 60er Jahren in den Diskussionen um den Klassik-Begriff kritisiert bzw. demontiert worden (vgl. die Sammelbände von Grimm/ Hermand, Conrady, Simm, Voßkamp), und Sengle hat den Begriff überhaupt als ,unhistorisch' verworfen (Sengle, 1020 f.). Trotzdem hat sich in den 80er Jahren ein praktischer Konsens herausgebildet, der den Begriff ,Goethezeit' dem Effekt nach (wenn auch nicht unbedingt mit derselben Begründung) im Sinne von M. Titzmanns Vorschlag transformiert und wieder in Gebrauch nimmt: Goethezeit als nun einmal eingeführter Terminus bezeichnet den Zeitraum etwa von 1770 bis 1830, innerhalb dessen sich „abgrenzbare ,Tendenzen'/ 'Richtungen'" (Sturm und Drang, Klassik, Jakobinismus, Romantik usw.) unterscheiden lassen (Titzmann, 115). Die Füllung des Begriffs erfolgt allerdings immer noch vorwiegend ideengeschichtlich (anthropologische Konzepte oder ästhetische wie / Autonomie als Merkmal der Epoche), unter allgemeinem Verzicht jedoch auf die Konstruktion eines ,geistigen Zusammenhangs' im Sinne Korffs. Gemeinsam ist den zusehends wieder häufiger werdenden Verwendungen von Goethezeit nur die Zeitangabe ,etwa 1770 bis 1830', die überdies nicht selten recht weitherzig gehandhabt wird (Extrem-, aber nicht Einzelfall: Jesse).

Der Vorschlag der G r u p p e um P. Weber, , Kunstperiode' an die Stelle von ,Goethezeit' zu setzen, ist in der 1. Hälfte der 80er Jahre vor allem in der D D R lebhaft diskutiert worden, hat sich aber nicht durchsetzen können; aus dem Kapiteltitel „klassisch-romantische Kunstperiode" in der Metzler-Literaturgeschichte (Beutin/Ehlert, vgl. Stephan 1979) ist in späteren Auflagen „Kunstepoche" (von 1789 bis 1830) geworden. Sonst sind die Literaturgeschichten von den theoretischen Diskussionen k a u m berührt (vgl. Stephan 1989) und favorisieren in letzter Zeit die Gliederung des fraglichen Zeitraums durch Daten der politischen Geschichte (ζ. B. 1789, 1815, 1830), wenn sie nicht zur g e w ä h r t e n ' Dreiteilung zurückkehren. Wilhelm Dilthey: Die dichterische und philosophische Bewegung in Deutschland 1 7 7 0 - 1 8 0 0 [1867], In: W. D.: Gesammelte Schriften. Bd. 5. Leipzig, Berlin 1924, S. 1 2 - 2 7 . - Theodor Heinsius: Geschichte der Deutschen Literatur. Berlin 5 1835. - Hermann Hettner: Die romantische Schule in ihrem inneren Zusammenhange mit Göthe und Schiller. Braunschweig 1850. - Wilhelm Jesse: Alt Braunschweigische Kultur zur Goethezeit, 1750-1850. Braunschweig 1949. Paul Kluckhohn: Die Idee des Volkes im Schrifttum der deutschen Bewegung von Moser und Herder bis Grimm. Berlin 1934. - August Koberstein: Grundriß zur Geschichte der deutschen National-Litteratur. Leipzig 1827. - Friedrich Meinecke: Die Entstehung des Historismus. München, Berlin 1936. — Herman Nohl: Die Deutsche Bewegung und die idealistischen Systeme. In: Logos 2 (1911/12), S. 3 5 0 - 3 5 9 . H. N.: Die Deutsche Bewegung. Hg. v. Otto Friedrich Bollnow und Frithjof Rodi. Göttingen 1970. - Friedrich August Pischon: Leitfaden zur Geschichte der deutschen Literatur. Berlin 6 1841. - Johann Wilhelm Schaefer: Hb. der Geschichte der deutschen Literatur. 2 Bde. Bremen 1842, 1844. - Friedrich Sengle: Biedermeierzeit. Bd. 3. Stuttgart 1980. - Ehrenfried Stöber: Kurze Geschichte und Charakteristik der schönen Literatur der Deutschen. Paris, Straßburg 1826. - August Friedrich Christian Vilmar: Vorlesungen über die Geschichte der deutschen National-Literatur. Marburg, Leipzig 1845. — Ludwig Wachler: Vorlesungen über die Geschichte der teutschen Nationallitteratur. 2 Bde. Frankfurt 1818/ 19.

SachG: ? Sturm und Drang, ? Klassik.2, ? Jakobinismus, ? Romantik.

Gradatio ForschG: Irgend aufschlußreiche Artikel zum Stichwort Goethezeit gibt es weder in literaturwissenschaftlichen Lexika noch in Allgemeinenzyklopädien; das Wort selbst fehlt trotz seines häufigen Vorkommens noch in der 20. Auflage des ,Duden' (1991). Auch die Bemühungen um eine konzeptuelle Zusammenfassung der deutschen Literatur um 1800 sind noch nicht untersucht. L i t : Karl Otto Conrady (Hg.): Deutsche Literatur zur Zeit der Klassik. Stuttgart 1977. - Reinhold Grimm, Jost Hermand (Hg.): D i e KlassikLegende. Frankfurt 1971. - Hermann August Korff: Geist der Goethezeit. 4 Bde. Leipzig 1 9 2 3 - 1 9 5 3 . - Helmut Peitsch: Rückblick v o n außen auf eine Diskussion: ,Kunstperiode'. In: W B 31 (1985), S. 6 8 4 - 6 9 3 . - Hans-Joachim Simm (Hg.): Literarische Klassik. Frankfurt 1988. - Inge Stephan: Aufklärung und klassischromantische Kunstperiode. In: Wolfgang Beutin, Klaus Ehlert u. a.: Deutsche Literaturgeschichte. Stuttgart 1979, S. 1 0 8 - 1 5 8 . - I. S.: Klassik und Jakobinismus. In: Französische Revolution und deutsche Klassik. Hg. v. Erhard Lange. Weimar 1989, S. 8 1 - 9 4 . - Michael Titzmann: Probleme des Epochenbegriffs in der Literaturgeschichtsschreibung. In: Klassik und Moderne. Hg. v. Karl Richter und Jörg Schönert. Stuttgart 1983, S. 9 8 - 1 3 1 . - Wilhelm Voßkamp (Hg.): Klassik im Vergleich. Stuttgart, Weimar 1993. - Peter Weber u. a. (Hg.): Kunstperiode. Berlin 1982.

Klaus Weimar

Göttinger Hain Grabschrift

Empfindsamkeit

Epitaph

Gradatio Rhetorische Figur der Wiederholung mit Abstufung des Relevanzgrades der mindestens drei Wiederholungsglieder. Expl: Bei der Gradatio werden innerhalb eines Satzes oder einer Satzfolge Benennungen kategorial gleichartiger oder vergleichbarer Sachverhalte syntaktisch zu einer Kette von Gliedern koordiniert und in quantitativ bzw. qualitativ abgestufter Weise differenziert. Dazu dienen Verfahren der grammatischen Komparation, der

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Wortkomposition und -derivation, des syntaktischen Ausbaus, der prosodischen oder graphisch-stilistischen Gestaltung und der semantisch-kognitiven Gewichtung in der Wortwahl. [Terminologisches Feld:] Es ist zwischen aufsteigender und absteigender Graduierung und dementsprechend zwischen zwei Arten zu unterscheiden: KLIMAX: Formal oder inhaltlich bedingte Steigerung der Wiederholungsglieder. ANTIKLIMAX: Abstufung mit fallender Tendenz, wobei das Abfallen auch als Steigerung der Unwichtigkeit gewertet werden kann; insofern ist die Antiklimax nur ein Sonderfall der Klimax. WortG: Lat. gradatio stufenweise Steigerung' verbreitet sich im Dt. unter dem Einfluß des Frz. in der 2. Hälfte des 18. Jhs., z. T. mit dem Suffix -ion statt -io, gelegentlich auch in der Schreibung Gradazion (vgl. DWb 8, 1683 f.). Klimax basiert auf griech. κλϊμαξ [klimax] .Leiter', .Treppe'; im Dt. ist bis Anfang des 19. Jhs. noch die lat. Form Climax üblich; das grammatische Geschlecht wechselt (ζ. B. bei Meyfart neutrum, bei Campe masculinum, seit dem 19. Jh. femininum). BegrG: Als Termini der Rhetorik werden Gradatio (n) und Klimax synonym gebraucht, abgesehen davon, daß es für den Gegenbegriff Antiklimax (seit dem 18. Jh. gebräuchlich) keine entsprechende Bezeichnung für die Gradatio gibt. Inhaltlich handelt es sich seit der Antike um eine Wiederholungsfigur nach dem Muster einer fortlaufenden Anadiplose (y Gemination) in der Figuration einer Steigerung (ζ. B. Luther, ,Bibel', Rom 5, 3—5: „wir rühmen uns auch der Trübsale, dieweil wir wissen, daß Trübsal Geduld bringt; Geduld aber bringt Erfahrung; Erfahrung aber bringt Hoffnung; Hoffnung aber läßt nicht zu Schanden werden"). In gleicher oder ähnlicher Bedeutung von Gradatio und Klimax stehen in der antiken Rhetorik Bezeichnungen wie /* Amplifieatio (.Vergrößerung', ; Steigerung'), ascensus (.Aufstieg'), conexiolconexum (.Verknüpfung'), catena (.Kette'), έπιπλοκή [epiploké] (,Anknüpfung'). Seit dem 19. Jh.

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Graffiti

werden Gradaiio(n) und Klimax auch in der Weise verstanden, daß keine wörtliche Wiederholung, sondern lediglich eine Steigerung notwendig ist (Büchner, ,Dantons Tod': „Sie gehen alle von mir — es ist alles wüst und leer — ich bin allein").

Graffiti

ForschG: Während sich in der überlieferten Rhetorik die Diskussionen zur Gradatio im wesentlichen um ihre definitorische Abgrenzung als spezielle Wiederholungsfigur innerhalb der Großklasse der Wortfiguren bewegen, steht die neuere und neueste Auseinandersetzung unter zeichentheoretischen Aspekten. Entsprechend den semiotischen Dimensionen wird die Gradatio vorrangig als ,semantische Figur' eingestuft, womit jedoch eine problematische Abstraktion vor allem von der syntaktischen Komponente vorgenommen wird. Eine hinreichende Charakteristik der Gradatio erfordert offensichtlich die Anwendung eines differenzierteren Ansatzes etwa in der Art des „generativen Figuren-Modells" nach H. F. Plett (1990, 132 f.). Eine Beschränkung auf den semantischen Aspekt innerhalb des semiotischen Rahmens ist schon deshalb unzureichend, weil Graduierungen auch im Sinne zunehmender Silbenzahl als „Silbengradation" (Kloepfer, 173) oder im Sinne zunehmender syntaktischer Ausfüllung und Schwere als Steigerung im Formalen möglich sind.

Expl: Eher kurze Texte, die aus unterschiedlichen (z. B. persönlichen oder politischen) Motiven, meist anonym und spontan, an Innen- oder Außenwänden von Gebäuden, an Fahrzeugen, Geräten, Möbeln, Naturgegenständen usw. mit verschiedenen Schreibtechniken (z. B. Ritzen, Schneiden, Malen, Sprühen, Brennen) angebracht werden, um in unkonventioneller Weise und im allgemeinen ungerichtet auf Probleme, Einstellungen, Ansichten, Interessen oder Forderungen von Einzelpersonen oder Gruppen öffentlich aufmerksam zu machen. Der Umfang dieser Texte, die häufig noch durch Bilder, Symbole oder graphische Elemente ergänzt werden, reicht von der Präsentation einzelner Zeichen (z. B. @) und Namen (wie PINK FLOYD) bis hin zu Handlungsaufforderungen (wie WIDERSTAND!) und komplexen Äußerungen (z. B. Zitate, Sprüche), die aber schon aus äußeren Gründen (Schreibsituation und -fläche) selten eine gewisse Länge überschreiten. Neben monologischen Texten von einer Hand finden sich auch Textfolgen oder Texte mit Glossierungen von mehreren Händen, z. T. mit ausgeprägtem dialogischen Charakter (z. B. Toiletteninschriften). Die Unkonventionalität dieser Texte kann durch folgende Merkmale begründet sein: (1) durch die Nutzung von Schreibflächen, die sonst nicht für schriftliche Mitteilungen vorgesehen oder zugelassen sind; (2) durch die Nutzung von ungewöhnlichen Schreibtechniken und typographischen Besonderheiten; (3) durch die Nutzung einer normabweichenden sprachlichen und textlichen Gestaltung (z. B. Durchbrechung von orthographischen und grammatischen Regeln, Verletzung lexikalischer und pragmatischer Restriktionen, Sprach- und Stilmischung; ? Abweichung)·, (4) durch öffentliche Behandlung von privaten, tabuisierten oder provokativen Themen oder (5) durch Nichtbeachtung von rechtlich verankerten Verboten (z. B. Beleidigungen, Aufrufe zur

Lit: Michael von Albrecht: Römische Poesie. Heidelberg 1977. - Joachim Heinrich Campe: Wb. zur Erklärung und Verdeutschung der unserer Sprache aufgedrungenen fremden Ausdrücke. Braunschweig 1813. - Gustav Gerber: Die Sprache als Kunst. 2 Bde. Berlin 21885. - Rudolf von Gottschall: Poetik. Breslau 61893. - Rolf Kloepfer: Poetik und Linguistik. München 1975. - Josef Kopperschmidt: Allgemeine Rhetorik. Stuttgart u. a. 21976. - Josef Martin: Antike Rhetorik. München 1974. - Johann Matthäus Meyfart: Teutsche Rhetorica oder Redekunst [1634]. Hg. v. Erich Trunz. Tübingen 1988. — Heinrich F. Plett: Textwissenschaft und Textanalyse. Heidelberg 21979. - H. F. P.: Die Rhetorik der Figuren. In: Rhetorik. 2 Bde. Hg. v. Josef Kopperschmidt. Bd. 1. Darmstadt 1990, S. 129-154. Wilhelm Wackernagel: Poetik, Rhetorik und Stilistik. Halle 1873. Georg

Michel

An Gebäuden und anderen Gegenständen handschriftlich angebrachte, unkonventionelle Kleintexte mit vorwiegend expressiver Funktion.

Graffiti Gewalt). Von den Graffiti-Texten im engeren Sinne sind daher abzusetzen: (1) offizielle Inschriften, die meist nach bestimmten Mustern gestaltet sind (ζ. B. Besitzkennzeichnungen in Büchern, Grab- und WeiheInschriften, Segenswünsche an Häusern), (2) Werbetexte mit primär geschäftlichen oder persönlichen Intentionen (ζ. B. Werbeund Kontaktanzeigen), (3) private oder persönliche Botschaften, die an Einzelpersonen gerichtet sind (ζ. B. die sog. Schülerbriefchen, Notizen, Kassiber) und (4) Texte mit ausgesprochen literarischer oder argumentativer Funktion (z. B. ? Nonse/ispoesie, Wandzeitungen). Die zunehmende Kommerzialisierung, Literarisierung und auch die private Aneignung der Graffiti-Texte lassen aber heute diese Unterschiede zunehmend verschwinden.

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WortG/BegrG: graffito (plur. graffiti) bzw. graffiato, substantiviertes Partizip zu ital. graffiare ,ritzen', ist seit dem 16. Jh. als Ausdruck für eine in Fels oder in eine übertünchte Wand eingeritzte Zeichnung nachweisbar. Im Zusammenhang mit einer bestimmten Maltechnik (der Kratz- oder Schabemalerei) wurde meist die intensivierende morphologische Variante sgraffito gebraucht. Nur in dieser Form ist der Ausdruck in den deutschen Fremdwörterbüchern des 19. Jhs. (I. C. A. Heyse, J. Kehrein, O. Sarrazin) belegt. Die spezialisierende Übertragung der Pluralform graffiti für aufgesprühte Wandsprüche verzeichnen erst Kluge-Seebold 1989 und das DudenFremdwörterbuch 1994, doch schon die frühe Erforschung der in Pompeji gefundenen, spontan notierten Wandinschriften (Garrucci 1856) machte den Ausdruck einer größeren Öffentlichkeit bekannt. Eine Sammlung von Toiletteninschriften (Reisner 1967) verhalf dem Ausdruck in den USA zu großer Popularität; die Anwendung auf weitere Inschriftentypen war dann auch Folge des rasch anwachsenden ethnologischen, soziologischen oder kunsthistorischen Interesses an diesen Texten seit den 70er Jahren.

SachG: Schon bald nach der Entwicklung der Schrift in Griechenland ist der Typ Erinnerungsgraffiti belegt (Inschriften griechischer Söldner am Tempel von Abu Simbel bereits 590 v. Chr.). Soziale Treffpunkte boten sich dafür besonders an. Prominente Beispiele sind die Graffiti von der Agora in Athen, die Pompeianischen Wandinschriften, die mittelalterlichen Runeninschriften von der Brygge in Bergen/Norwegen, die Pilgerinschriften an Kirchen z. B. in Rom, Kiew oder Trier, die Inschriften im Tower von London oder im Kerker der Inquisition in Palermo, ferner die studentischen Wandinschriften in den universitären Karzern des 18./19. Jhs., schließlich die GefangenenGraffiti in den Gefangnissen der Gestapo während des letzten Krieges. Zu allen Zeiten sind Graffiti an Natur- und Kunstgegenständen (z. B. Felsen, Bäumen, Säulen, Grabsteinen) zu finden. Hier wirkte sich u. a. das Aufkommen der adligen und bürgerlichen Bildungsreisen seit dem 17./18. Jh. aus. Den „klassischen" Vorbildern (Lord Byrons Inschrift am Apollotempel von Kap Sunion, Goethes Inschrift am Straßburger Münster) entsprechen heute Unmengen von Touristengraffiti, die selbst an abgelegenen oder nur schwer zugänglichen Stellen angebracht werden. Bevorzugte Graffiti-Reviere sind Toiletten, Waschräume, Hörsäle und Schulbänke; die häufigsten Graffiti-Produzenten sind neben den Touristen Außenseiter, Angehörige von .geschlossenen' Anstalten (Soldaten, Gefängnisinsassen, Patienten), Besucher von Gaststätten und vor allem Jugendliche. Typische Graffiti-Subkulturen entstanden daher auch mit den westlichen Protestbewegungen der 1960er und 70er Jahre; sie prägen noch heute das Bild der großen Städte und finden ihren Ausdruck besonders an öffentlichen Gebäuden, an Verkehrswegen und in Verkehrsmitteln (z. B. U-Bahn-Graffiti). Dabei verbanden sich auch zunehmend künstlerische mit politischen Interessen, wie der Fall des sog. Sprayers von Zürich (Harald Naegeli) oder die Graffiti-Landschaften an der Westseite der Berliner Mauer exemplarisch zeigen.

Manlio Cortelazzo, Paolo Zelli: Dizionario etimologico della lingua italiana. Bd. 2. Bologna 1990, S. 513 f.

ForschG: Bereits im 16. Jh. untersuchte Antonio Bosio die Inschriften der römischen

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Grammatologie

Katakomben; seine Untersuchungen wurden im 19. Jh. durch Battista de Rossi (1863-1877) fortgeführt. Seit 1871 wurden die Pompeianischen Wandinschriften durch C. Zangemeister systematisch ediert. Die deutsche Sondersprachenforschung am Ende des 19. Jhs. (F. Kluge u. a.) machte den Blick frei für die philologische Beschäftigung mit Kerker- und Karzerinschriften. Nach dem 2. Weltkrieg waren es vor allem volkskundliche und soziologische Interessen an den Subkulturen der Protest- und Alternativszenen, darüber hinaus kunsthistorische und medienwissenschaftliche Interessen, die die Sammlung und Analyse von Graffiti förderten. Anspruchsvollere textlinguistische oder sprachpragmatische Untersuchungen zu den ,street-discourses' sind bisher noch selten. Die Verwendung von Graffiti-Texten in moderner Literatur (z. B. im Großstadtroman) machte sie auch zum Gegenstand literaturwissenschaftlicher Studien. Lit: American School of Classical Studies at Athens: Graffiti in the Athenian agora. Princeton 1974. - Hans Günther Bickert, Norbert Nail: Marburger Karzerbuch. Marburg 21995. — Regina Blume: Motive und Funktionen von Schulgrafïïti. In: Neben-Kommunikationen. Hg. v. Jürgen Baurmann u.a. Braunschweig 1981, S. 169-198. - R. B.: Graffiti. In: Discourse and literature. Hg. v. Teun van Dijk. Amsterdam 1985, S. 137-148. - Udo Bracht: Bilder von der Schulbank. Kritzeleien aus deutschen Schulen. München 1978. - Torsten Capelle: Rettet dem Dativ. Hörsaalbänke zweckentfremdet. Münster 3 1982. — Craig Castleman: Getting up. Subway graffiti in New York. Cambridge/Mass., London 1982. - Alan Dundes: „Here I sit" - A study of American latrinalia. In: Krober Anthropological Society Papers 34 (1966), S. 91-95. - Hans Gambert (Hg.): Was an deutschen Wänden steht. München 71983. - Raphael Garrucci: Graffiti de Pompeii. Paris 21856. — Werner Helmich: Maueraphoristik. In: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte 5 (1981), S. 281-294. - Ulrich Horndasch: Abortkunst. Erotische Graffiti aus öffentlichen Toiletten. München 1981. — Manfred Huiskes: Die Wandinschriften des Kölner Gestapo-Gefängnisses im EL-DE-Haus 1943— 1945. Köln, Wien 1983. - Jean René Klein: Le vocabulaire des moeurs de la „vie parisienne" sous le Second Empire. Löwen 1976. - Werner Krenkel: Pompeianische Inschriften. Heidelberg

1963. - Peter Kreuzer: Das Graffiti-Lexikon. München 1986. - Aslak Liestöl: Runeninschriften von der Bryggen in Bergen. In: Zs. für Archäologie des Mittelalters 1 (1973), S. 129-139. - Cesare Lombroso: Kerkerpalimpseste [1899]. Repr. Osnabrück 1983. - Michael Müller (Hg.): Der Sprayer von Zürich. Hamburg 1984. - Siegfried Müller (Hg.): Graffiti. Bielefeld 1985. Violet Pritchard: English medieval graffiti. Cambridge 1967. — Robert Reisner: Graffiti. Selected scrawls from bathroom walls. New York 1967. — R. R.: Graffiti. Two thousand years of wall writing. Chicago 1971. — Reinhard Roche: Demosprüche und Wandgesprühtes. Versuch einer linguistischen Beschreibung und didaktischen Auswertung. In: Mu 93 (1983), S. 181-196. - Helmut Schmitz, Detlef Michel: Spray-Athen. Graffiti in Berlin. Berlin 1982. — Johannes Stahl: „An der Wand". Graffiti zwischen Anarchie und Galerie. Köln 1989. — Terence L. Stocker u. a.: Social analysis of graffiti. In: Journal of American Folklore 85 (1972), S. 356-366. - Gunther Waibl: Die Wand als Massenmedium. In: Maske und Kothurn 25 (1979), S. 181-201. - Wolfgang W. Zöller: Bankkritzeleien — Befunde, Anmerkungen, Anregungen. In: Die deutsche Schule 69 (1977), S. 168-175. Dieter

Cherubim

Grammatik /" Textlinguistik

Grammatologie Wissenschaft von der Schrift (im dekonstruktivistischen Sinne). Expl: Im Anschluß an Jacques Derrida bezeichnet Grammatologie die Wissenschaft von der Schrift (Derrida 1974, 13) — wobei der Schriftbegriff allerdings eine entscheidende Umdeutung bzw. Ausweitung erfährt: Ausgangspunkt ist der generelle Vorwurf an die traditionelle Philosophie, einer M e taphysik der Präsenz' verhaftet zu sein, die sich insbesondere als LOGOZENTRISMUS (Rückführung alles Gesprochenen und Gedachten auf einen präsenten, steuernden .Logos') und PHONOZENTRISMUS (Privilegierung der gesprochenen Sprache gegenüber der Schrift) äußert. Ein Mittel zur ansatzweisen Überwindung der Metaphysik sieht

Grammatologie Derrida in der /* Dekonstruktion binär-hierarchischer Oppositionen, mit denen die abendländische Philosophie seit ihren Anfängen operiert habe. Die Dekonstruktion des Begriffspaars ,Sprache/Schrift' und die Radikalisierung des strukturalistischen Prinzips differentieller Bedeutungszuweisung (/" Strukturalismus) führen Derrida zur Etablierung eines generalisierten Schriftbegriffs, der zwar ebenso wie der ,gängige' Schriftbegriff das Merkmal der Sekundarität — Signifikant eines Signifikanten zu sein — aufweist, diese Sekundarität jedoch generell für jedes sprachliche Zeichen behauptet (1974, 17). Schrift bzw. DIFFERENZ in diesem allgemeinen Sinn — Derrida spricht gleichbedeutend von UrSchrift, gramma oder différance (mit dem Nebensinn von ,Aufschub') — bezeichnet eine Struktur oder eine Bewegung, die sich nicht mehr von dem Gegensatzpaar .Anwesenheit/Abwesenheit von Sinn' her denken läßt und lediglich als ,Spur' in einem endlosen Verweisungsprozeß greifbar ist (1986, 67). Derridas Terminus der Grammatologie ist — und zwar aus programmatischen' Gründen — nicht eindeutig definiert. Vor dem Hintergrund der beschriebenen Generalisierung des Schriftbegriffs lassen sich aber einige allgemeine Kennzeichen benennen: (1) Die Grammatologie ist keine Wissenschaft im traditionellen Sinn. Es gehört vielmehr zu ihren Aufgaben, „alles, was den Begriff und die Normen der Wissenschaftlichkeit mit der Ontotheologie, mit dem Logozentrismus und dem Phonozentrismus verbindet", zu dekonstruieren (1986, 80 f.). (2) Die Grammatologie ist keine Wissenschaft neben anderen und auch keine Teiltheorie beispielsweise der Linguistik. In Derridas Perspektive wird etwa die Semiologie — durch die Generalisierung des ,gramma' zu ihrem allgemeinsten Begriff — selbst zur Grammatologie (1986, 67). (3) Die Grammatologie stellt aber auch keine theoretische Grundlagenwissenschaft dar, als deren Praxis z. B. die Dekonstruktion anzusetzen wäre. Eine solche Auffassung widerspräche der Denkweise Derridas, die gerade durch die Vermeidung jeglicher Hierarchisierung in der Begriffsbildung ge-

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kennzeichnet ist. Die für Derrida,zentralen' Konzepte ,Grammatologie' und ,Dekonstruktion' lassen sich nicht trennscharf unterscheiden; vielmehr stehen diese (und andere) Begriffe in Familienähnlichkeit zueinander und sind mehr oder weniger austauschbar — eine Sichtweise, die auch durch Derridas eigene Beschreibungen solcher Begriffe als ,offene Kette',,Bündel' oder ,Netz' nahegelegt wird (1986, 85 und 93). WortG: Der Ausdruck Grammatologie — Neologismus zu griech. γράμμα [grámma] .Buchstabe', ,Schriftzeichen' — wurde von Ignace J. Gelb 1952 zur Bezeichnung einer „new science of writing" vorgeschlagen, als deren Aufgabe er die systematische Erforschung allgemeiner Prinzipien des Gebrauchs und der Entwicklung von Schrift ansah (Gelb, V). Während der Ausdruck Grammatologie bei Gelb selbst keine große Rolle spielt (der Untertitel ,The foundations of grammatology' fehlt in der 2. Auflage), verwendet Derrida den ausdrücklich von Gelb übernommenen Ausdruck als umfassende Bezeichnung seines philosophischen Projektes (Derrida 1974, 13). Ignace J. Gelb: A study of writing. Chicago 1952, 2 1963. BegrG/ForschG: Eine historische und systematische Erforschung der Schrift im herkömmlichen Sinn hat es sowohl vor als auch nach Derridas Grammatologie gegeben ( / Epigraphik, s Paläographie). Derrida nimmt zwar Bezug auf diese Forschungen, jedoch nur um sein eigenes Vorhaben deutlich von diesen .klassischen' Unternehmungen abzugrenzen. Aufgenommen werden Derridas Thesen auf dem Gebiet der Literaturwissenschaft vor allem von den ,Yale-Critics' Harold Bloom, Paul de Man, Geoffrey H. Hartman und J. Hillis Miller (dazu Horstmann). Deren Ausbildung einer literaturwissenschaftlichen Methode namens Dekonstruktion steht allerdings im Widerspruch zu Derridas eigenem, philosophischem Vorhaben, dem bereits die Idee der Methode fremd ist (Rorty, 105). Zudem beziehen sich diese Autoren, von sporadischen Ausnahmen abgesehen (Ulmer), nicht unter dem Etikett der Grammatologie auf Derridas Philoso-

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Graphemik, Graphematik

phie, sondern unter dem des Dekonstruktivismus. Bei weiteren Autoren des literaturwissenschaftlichen S Poststrukturalismus lassen sich vielfach Weiterentwicklungen bzw. Applikationen des grammatologischen Programms — wenn auch oft ohne expliziten Bezug auf Derrida — ausmachen, so etwa schon in Roland Barthes' Unterscheidung zwischen „schreibbaren" und „lesbaren" Texten (Barthes, 8) oder in Friedrich A. Kittlers Studien zur Materialität historischer „Aufschreibesysteme". In der medientheoretischen Debatte um s Oralität und Literalität (Ong) läßt sich ein Einfluß der Grammatologie im Sinne eines Korrektivs für die hier oft vorherrschende ethnozentrische Schriftmetaphysik nachweisen (Assmann, 10). Ansätze zur philosophiegeschichtlichen Einordnung und kritischen Diskussion finden sich beispielsweise bei Searle (1977) und Frank (1983, 316-366).

Graphemik, Graphematik (1) Teildisziplin der Linguistik, die sich mit den elementaren Einheiten der geschriebenen Sprache und deren Verknüpfung zu größeren schriftlichen Einheiten beschäftigt. (2) Schriftliches System einer Einzelsprache.

Expl: Graphemische Theorien und Deskriptionen beziehen sich nur mittelbar auf konkrete Einzeltexte in geschriebener Form; deren Untersuchung bleibt der ,Graphetik' vorbehalten. In der Graphemik geht es allein darum, die wesentlichen strukturellen Zusammenhänge zu erhellen, die dem Gebrauch geschriebener Sprachformen zugrundeliegen. Im Zentrum der Graphemik steht der Begriff GRAPHEM. Er meint die kleinste distinktive (bedeutungsunterscheidende) Einheit des Systems der geschriebenen Sprache, Lit: Aleida und Jan Assmann: Schrift — Kogni- in Analogie zum ,Phonem' als elementarer tion — Evolution. In: Schriftlichkeit. Hg. v. Eric Einheit des Lautsystems. Die Analyse der sequentiellen Verknüpfung dieser Einheiten A.Havelock. Weinheim 1990, S. 1 - 3 5 . - Ro(Graphotaktik) ist ebenfalls Aufgabe der land Barthes: S/Z. Frankfurt 1976. - Geoffrey Bennington, Jacques Derrida: Jacques Derrida. Graphemik. Frankfurt 1994. - Florian Coulmas: Über Bei alphabetischen VerschriftungssysteSchrift. Frankfurt 1981. - Jonathan Culler: On men bilden die Buchstaben die zentrale Redeconstruction. New York 1982. - Jacques Derferenzklasse des Graphembegriffs. Unterrida: L'écriture et la différance. Paris 1967 [dt. schiedliche Sichtweisen ergeben sich vor Frankfurt 1972], — J. D.: De la grammatologie. allem daraus, ob man die schriftliche Form Paris 1967 [dt. Frankfurt 1974], - J. D. u. a.: Poder Sprache nur als Abbild der lautlichen sitionen. Hg. v. Peter Engelmann. Graz, Wien 1986. — Manfred Frank: Was ist Neostrukturalis- betrachtet oder ob man bereit ist, sie als ein mus? Frankfurt 1983. - Ulrich Horstmann: eigenständiges Repräsentationssystem anParakritik und Dekonstruktion. Würzburg 1983. zuerkennen. — Friedrich A. Kittler: Aufschreibesysteme 1800/ Dementsprechend unterscheidet man 1900. München 21987. - Klaus Laermann: ,phonemdependente' von ,phonemindepenSchrift als Gegenstand der Kritik. In: Merkur 44 denten' (,autonomen') graphematischen (1990), S. 120-134. - Christopher Norris: DerKonzeptionen. Im ersten Fall werden die rida. Cambridge/Mass. 1987. - Walter Ong: OraGrapheme auf Grund ihres Bezugs zu elelität und Literalität. Opladen 1987. - Richard mentaren phonologischen Einheiten festgeRorty: Philosophy as a kind of writing. An essay legt, so daß z. B. bei Wörtern wie kein, on Derrida. In: NLH 10 (1978), S. 141-160. Lack, Lachs, Sakko oder Khaki die EinheiR. R.: Eine Kultur ohne Zentrum. Stuttgart 1993. — John R. Searle: Reiterating the differen- ten , , , und als Vaces. A reply to Derrida. In: Glyph 1 (1977), rianten ein und desselben Graphems gelten, S. 198—208. — Gregory Ulmer: Applied gramweil sie jeweils das (lautsprachliche) Phomatology. Baltimore 1985. nem /kl wiedergeben. Bei einer autonomen, Axel Spree rein schriftorientierten Graphemkonzeption gilt hingegen allein als (Einzel-)Graphem; , , und werden dann als (graphotaktisch zu analysierende) Graphem Graphemik Graphemverbindungen angesehen, da ,

Grobianismus und in anderen Kontexten auch allein distinktiv wirken (vgl. etwa (zechen) vs. (zeihen) oder (Bache) vs. (Backe». Zudem muß in diesem Fall zwischen Graphemen wie (k> und (K> unterschieden werden, da die Differenz zwischen Minuskel und Majuskel ebenfalls distinktiv ist (vgl. etwa (kosten) vs. (Kosten». Manche Autoren haben den autonomen Graphembegriff auch auf graphisch bedeutungsdifferenzierende Einheiten unterhalb der Buchstabenebene angewandt (vgl. etwa (heben) vs. (neben) mit der vertikalen Oberlänge im ersten Segment); de facto handelt es sich dabei jedoch um bloße graphematische Merkmale als Teile von Graphemen. Nicht selten hat man auch graphische Zeichen ohne direkte Buchstabencharakteristik (wie die Satzzeichen, /" Interpunktion) als Grapheme etabliert, und außerdem sind bei der Analyse des Geschriebenen offenkundig auch größere Einheiten wie Zeile, Absatz usw. graphematisch relevant, ohne daß sie sich einfach unter die .Grapheme' subsumieren ließen. WortG: Die Ausdrücke Graphem und Graphematik gehen zurück auf griech. γράφειν [gráphein] .schreiben'. Der Terminus Graphem wurde von Jan Baudouin de Courtenay 1901 im Anschluß an den Terminus Phonem geprägt (der später als Zentralbegriff einer strukturellen Lautlehre, der Phonologie, galt). Eine entsprechende analogische Übertragung bei der Benennung der Wissenschaft vom Geschriebenen war jedoch blockiert, da der Ausdruck Graphologie mittlerweile als Bezeichnung für die (pseudowissenschaftliche) Handschriftendeutung diente. Da die Phonologie im amerikanischen Sprachgebrauch als phonemics bezeichnet wurde, adaptierte man diese Bildungsform für die neue Wissenschaft vom Geschriebenen (graphemics, Graphemik). ForschG: Bis in die jüngste Zeit hinein dominierte jene opinio communis der älteren Sprachwissenschaft, derzufolge schriftliche Manifestationen der Sprache im wesentlichen ein Abbild der lautlichen sind. Erst in jüngster Zeit beginnt sich eine selbständige Graphematik zu etablieren, die die graphematischen Einheiten zunächst im alleinigen

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Rekurs auf das Graphische zu bestimmen sucht und erst dann deren Bezug zu phonologischen Einheiten herstellt (Eisenberg, Günther u. a.). Lit: Peter Eisenberg: Linguistische Fundierung orthographischer Regeln. In: homo scribens. Hg. v. Jürgen Baurmann u. a. Tübingen 1993, S. 6 7 - 9 3 . - Elisabeth Feldbusch: Geschriebene Sprache. Berlin, New York 1985. - Peter Gallmann: Graphische Elemente der geschriebenen Sprache. Tübingen 1985. - Hartmut Günther: Schriftliche Sprache. Tübingen 1988. — Manfred Kohrt: Problemgeschichte des Graphembegriffs und des frühen Phonembegriffs. Tübingen 1985.

Manfred Kohrt

Grobianismus Didaktisches Verfahren des 16. Jhs., das auf satirische Weise richtige Umgangsformen beschreibt und falsche verhöhnt. Expl: Grobianismus ist eine Form der Negativdidaxe, bei der eine explizite Wirkungsintention und strikte Rezeptionsvorgabe mit Personifikation eines ausführlich und anschaulich in gegenbildlicher Komik beschriebenen Fehlverhaltens verbunden werden. Er orientiert sich konsequent an den Verhaltenskodizes normativer Texte wie Tisch- oder Hofzuchten. Dabei bleibt im Falschen das Richtige immer auf überdeutliche Weise präsent. Ziel ist die Aneignung kultureller Techniken zur Beherrschung der eigenen Natur gemäß den Anforderungen des Zusammenlebens in der neuen, d. h. stadtbürgerlichen Gesellschaft mit ihren spezifischen Formen privater Geselligkeit, aber auch ihrem disziplinierten und asketischen Arbeitsethos. Abzugrenzen ist der Grobianismus von anderen komischen Darstellungsformen wie f grotesken, ? obszönen, und karnevalesken (/" Karneval) Redeweisen, die gleichwohl grobianische Elemente aufnehmen und funktionalisieren können. Die pauschale Verwendung von Grobianismus für obszöne, groteske u. ä. Motive in der frühneuzeitlichen Literatur ungeachtet ihrer jeweiligen Funktion (z. B. RL 2 1, 607 f.; dage-

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Grobianismus

gen Könneker) führt ebenso zu Mißverständnissen wie seine Projektion auf die vorgebliche Mentalität der Epoche (RL 2 1, 605: „Vergröberung aller Lebensformen", „Niedergang der mittelalterlichen Kultur") und sollte daher vermieden werden. WortG: Der Ausdruck Grobianismus geht zunächst auf das frnhd. Wort Grobian(us) (seit dem 15 Jh. ) zurück, das eine latinisierende Scherzbildung analog zu Heiligennamen auf lat. -anus zum mhd. Adjektiv grob (,dick', ,uneben', ,rauh', ,ungebildet', u n angemessen') ist. Der älteste Beleg ([St.] Grobianus als Synonym für rusticus) stammt von 1482, in die Literatur geht der Begriff mit Sebastian Brants (1494) und Thomas Murners (1512) satirischem Spott auf die ,Grobianer' ein. Während die Wörter Grobian und grobianisch ihre Konjunktur zugleich mit der Gattung im 16. und 17. Jh. haben, wird das wohl von Christian Weise geprägte Begriffswort Grobianismus am Ende des 19. Jhs. zu einem literaturwissenschaftlichen Terminus (DWb 9, 387-418). BegrG: Der literaturgeschichtliche Ort des Grobianismus liegt zunächst innerhalb der didaktischen Literatur, knüpft er doch thematisch an die mittelalterlichen Tisch- und Hofzuchten an (vgl. auch die Anspielungen in den Titelformulierungen). Die Veränderungen des 16. Jhs. betreffen zum einen die allmähliche Ausgrenzung der ,Pudenda' aus dem Korpus der didaktischen Literatur und ihre Beschränkung auf eine eigene Textsorte; zum anderen wird das lehrhafte Verfahren geändert, indem der Grobianismus sich — mit Rückgriff auf die Tradition der adligen Dörpersatire — der Form der gegenbildlichen Komik bedient. Hierin berührt er sich mit den verbreiteten ironischen Enkomien, den scherzhaften Lobgesängen auf Narrheit oder Wein, auf Völlerei oder Faulheit, bei denen jedoch die eindeutige Negativierung der vorgeblichen Laster fehlt. Ähnliche Tendenzen der ,Karnevalisierung' (Bachtin) des ernsthaft-didaktischen Gestus lassen sich in verschiedenen erzählenden, aber auch lyrischen und dramatischen Texten feststellen, die das Darstellungsmuster des Grobianismus zustim-

mend oder spielerisch funktionalisiert verwenden. SachG: Die Figur des ,Grobianus', wie Friedrich Dedekind und Kaspar Scheidt ihn schufen, hat Vorbilder: Schon in der 1. Auflage seines Bestsellers ,Das NarrenschifF (Basel 1494) hatte Sebastian Brant im 72. Kapitel den „nuwen heyligen [...] Grobian" als Schutzpatron derjenigen benannt, deren Tischmanieren angeblich unzureichend seien; später fügt er noch ein Kapitel (110a) mit einer Klage über „grobheyt" und „disches vnzücht" ein. Thomas Murner im 21. Kap. seiner ,Schelmenzunft' (1512) transformiert diese Klage dann in die Rede eines Grobianers, der zu säuischem Benehmen bei Tisch einlädt. Weitere Texte in dieser Tradition sind die anonyme , Grobianus Tischzucht bin ich genant, den Brüdern im Seworden wolbekant' (Worms 1538) und Hans Sachs' ,Die verkert dischzucht Grobianij' (1563). Der Prototyp der Gattung findet sich in der lat. Satire des Marburger Theologen Dedekind: ,Grobianus. De morum simplicitate' (Frankfurt 1549), die nicht nur 1552 erweitert und bis ins 18. Jh. immer wieder nachgedruckt, sondern auch 1551 von Kaspar Scheidt ins Deutsche übersetzt und so zum Bucherfolg wurde (bis 1657 mindestens 15 Auflagen): ,Grobianus / Von groben Sitten / vnd vnhoflichen geberden [...]'. Die Wirkungsintention wird schon auf dem Titelblatt eindeutig angegeben, das empfiehlt, von allen angeführten Regeln das Gegenteil zu tun, und so kann dann auch der f e i ster Grobianus' seinen Lesern in satirischer Ausführlichkeit verkehrte Lehren geben, die den bekannten Tischzuchten gegenbildlich folgen: Das betrifft die äußere Erscheinung ebenso wie die Kleidung und Körperpflege, Eß- und Trinkmanieren wie Konversationsregeln, das Verhalten als Gast und Gastgeber sowie als Kavalier. Durch viele scheinvernünftige Begründungen für das grobianische Verhalten und durch eine Fülle von scheinbar bestätigenden Zitaten aus Literatur und Geschichte wird die Komik gesteigert; immer bleibt aber die Gefahr eines befreienden Lachens gebannt durch die allgegenwärtige Mahnung zum rechten Verhal-

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Grotesk ten. Weitere Bearbeitungen des Dedekindschen ,Grobianus' erfolgen dann durch Wendelin Hellbach (1567), Peter Kienhekkel (1697) und Wenzel Scherffer (1640); Übersetzungen ins Niederdeutsche, Ungarische und Englische folgen. Neben diesen im engeren Sinne grobianischen Texten finden sich grobianische Elemente auch in narrativen Texten, wo sie allerdings je nach Kontext relativiert werden. Zu nennen sind hier vor allem Schwänke und Schwankromane (etwa ,Dyl UlenspiegeF) sowie komische Romane (etwa Wittenwilers ,Ring' oder Fischarts ,Geschichtklitterung'), in denen der didaktische Gestus seine Eindeutigkeit verliert. Historisch fügt sich die grobianische Dichtung zum einen in die Tendenz des 16. Jhs. ein, für ein sozial breiteres, also bürgerliches (Lese-)Publikum Texte mit alltagspraktischen Verhaltensregeln auf den neuen Buchmarkt zu bringen; zum anderen dürfte sie wie die übrige didaktische Literatur der frühen Neuzeit Teil eines neuerlichen Schubs im „Prozeß der Zivilisation" (Elias) sein, der erhöhte Anforderungen an die Reglementierung und Verfeinerung der Verhaltensformen im alltäglichen Verkehr mit sich brachte, was vor allem die Dressur des Körpers und seiner Funktionen und die Modellierung des zwischenmenschlichen Verkehrs betraf (vgl. Corell).

Vorschlag durch, mit einem engeren Grobianismus-Begriff zu arbeiten und grobianische Formen in nicht-didaktischer Literatur auf ihre spezifische komische Funktion bei Entwurf oder Dekonstruktion von Weltbildern zu befragen (Könneker, Röcke, Bachorski).

ForschG: Nach den editorischen Bemühungen des späten 19. Jhs. legte zuerst Hauffen (1889) in seiner Scheidt-Studie eine Untersuchung des Grobianismus in der deutschen Literatur vor. Zaehle (1933) ordnete ihn in die Tradition der Verhaltenslehren vom Mittelalter bis ins 18. Jh. (Knigge) ein; Corell (1982) bezieht ihn auf den Prozeß der Zivilisation (Elias). Die Ausweitung des Begriffs .Grobianismus' zu einer generellen Kennzeichnung der Mentalität des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit führte dazu, alle Formen komischer Literatur in ihrer „Unanständigkeit" und „niedrigen Roheit" unter dieser Bezeichnung zu subsumieren, also Schwankromane und Schwänke, Fastnachtspiele und Satiren etc. (vgl. nur RL 2 1, 607 f.). In der neueren Forschung setzt sich dagegen der

Expl: (1) Als allgemeine künstlerische Verfahrensweise strebt das Groteske nach möglichst phantasievoller Kombination von Heterogenitäten: zwischen dem Ornamentalen und dem Monströsen, zwischen Grauen und Verspieltheit, zwischen Derbkomischem und Dämonischem. Mittel dazu ist ein Wechselspiel sich störender, gegenseitig aufhebender Perspektiven, Modi und Diskurse, das sich in der Rezeption wiederholt als bis zum Wahrnehmungsschrecken gehende Irritation, als Schaukelbewegung zwischen Illusions- und Desillusionsbildung: durch karikierende Übersteigerung, ja aggressive Deformation der Realität bis ins bedrohlich Fratzenhafte — bevorzugt als artistisch verschiedenartige Naturformen (pflanzliche, tierische, menschliche) zusammensetzendes Phantasie-Ornament.

Lit: Hans-Jürgen Bachorski: Irrsinn und Kolportage. München 1996. - Barbara Corell: Grobianus and civilisation. Diss. University of Wisconsin 1982. - Norbert Elias: Über den Prozeß der Zivilisation [1936], 2 Bde. Frankfurt 1976. Grobianus. Von groben Sitten und unhöflichen Gebärden. Dt. Fassung von Kaspar Scheidt. Hg. v. Barbara Könneker. Darmstadt 1979. — Adolf Hauffen: Caspar Scheidt, der Lehrer Fischart's. Studien zur Geschichte der grobianischen Literatur in Deutschland. Straßburg 1889. - Barbara Könneker: Zu den ,Grobianischen Heiligen' in Dedekind-Scheidts Grobianus. In: Eulenspiegel Jb. 27 (1987), S. 51-67. - Werner Röcke: Die Freude am Bösen. München 1987. - Thomas Perry Thornton (Hg.): Grobianische Tischzuchten. Berlin 1957. - Barbara Zaehle: Knigges Umgang mit Menschen und seine Vorläufer. Heidelberg 1933, S. 13-28. Hans-Jürgen

Bachorski

Grotesk Prinzip ästhetischer Gestaltung in Literatur und bildender Kunst.

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Grotesk

(2) Als spezifisch literarische Schreibweise bildet das Groteske eine eigene Technik der intensivierten / Verfremdung2, deren Spektrum — in der Tradition der alten Strukturformel .Verkehrte Welt' — vom bloß Skurrilen über das Obszöne und Makabre bis zum Bedrohlichen reicht: vom närrischen Topos bis zur apokalyptischen Vision. Im Umfang variiert dabei der Einsatz grotesker Verfahren erheblich: Sie können sich auf punktuelles oder episodisches Auftreten beschränken, verdichten sich aber zu bestimmten Zeiten auch bis zur global dominierenden Textstruktur, zur historisch konkretisierten Gattung der s Groteske. Das Groteske berührt sich somit in manchen Punkten u. a. mit dem s Absurden (das aber statt der Objektebene die Sinnebene betrifft und somit eine Welthaltung, kein formales Muster ausgebildet hat), mit dem / Phantastischen (das aber stets zwei gleichwertige Lesarten des Dargestellten nebeneinander zuläßt), mit dem Surrealen (das aber einer speziellen historischen Ontologie verpflichtet ist; s Realismusi, s Surrealismus2) oder auch mit der /" Karikatur (die aber in der binären Opposition Ideal/ Verzerrung verharrt und keine Verwirrung durch das Heterogene anstrebt). WortG: Der seit 1495 belegte volkssprachliche Ausdruck ital. grottesche (grottesco, la grottesca), Ableitung von grotta (,Grotten'), für ,(im Stil der) Grottenmalerei' verbreitet sich gesamteuropäisch um 1530 als frz. crotesque /grotesque wie als span, grutesco, in den Niederlanden (u. a. als Grottisen) wie in Deutschland (bei Fischart, 439, auch als gruben-grottisch verdeutscht), zuletzt in England, da grotesque dort zunächst (seit 1529) bedeutungsgleich mit antic verwendet wird und diese Bezeichnung erst ab 1650 verdrängt (Belegsammlungen: DWb 9, 591-594; Knaak, 9 - 3 8 ) . Mit der europäischen Verbreitung Hand in Hand geht eine Ausweitung des Wortgebrauchs von der antike Vorbilder imitierenden Malerei (Vasari 1550: „Le Grotesche sono una specie di pittura licenciosa e ridicola"; Ersch/Gruber 1, 195) auf Tapetenornamente, Schmuck, Schnitzwerk und Goldarbeiten sowie Buchillustrationen; zunehmend findet eine Über-

tragung auf entferntere Bereiche statt — auf den Schreibstil (Rabelais, Montaigne, Ronsard, Vauquelin), den Tanz (z. B. Sulzer 1, 506), auf die Farce, die Komödie und komisch-bizarre Charakterdarstellungen, auf komisches Epos und Roman (allgemein dazu Knaak; Burckhardt, 125). Jakob Burckhardt: Die Kultur der Renaissance in Italien [I860], Darmstadt 1962. - Johann Fischart: Geschichtklitterung [1590]. Hg. v. Ute Nyssen. Düsseldorf 1963. - Paul Knaak: Über den Gebrauch des Wortes „grotesque". Diss. Greifswald 1913.

BegrG: Schon seit der Spätantike, also ,avant la lettre', sind ,groteske' Werke der Malerei begleitet von einer Polemik gegen die von ihnen ausgehende Störung der Naturnachahmung und Wahrscheinlichkeit (Vitruv: ,De architectura' 7,5). Nach der begriffsgebenden Wiederentdeckung der spätantiken Grotten-Wanddekorationen im späten 15. Jh. (dazu Dacos) kommt es zu einer Ästhetisierung der Kombination von Ornament und Monstrum. Das Groteske wird zeitweilig geradezu ein Synonym für „das häufig mit ihm gleichgesetzte" ARABESKE (HWbPh 3, 900 f.): „Le mot grottesques exprime à-peu-près le même genre dans l'art que celui arabesque" (Encyclopédie méthodique 1, 400). In der weiteren, insbesondere der literarischen Begriffsgeschichte wird die Arabeske freilich meist durch Anmut und Grazie, Bewegung und Leichtigkeit des Ornamentgebrauchs von der Groteske abgesetzt (dazu Busch, Oesterle, Polheim). Im 18. Jh. zeichnet sich eine Ausdifferenzierung in das Niedrig-Komische einerseits und das Erhaben-Fürchterliche andererseits ab (dazu Barasch, Krudewig, Zülch). Deutlich abwertend charakterisiert Wieland „sogenannte Grotesken, wo der Maler, unbekümmert um Wahrheit und Aehnlichkeit, sich [...] einer wilden Einbildungskraft überläßt, und durch das Übernatürliche und Widersinnische seiner Hirngeburten bloß Gelächter, Ekel und Erstaunen über die Kühnheit seiner ungeheuren Schöpfungen erwecken will" (Wieland 3, 343). Eine ausdrückliche „Vertheidigung des GroteskeKomischen" unternimmt demgegenüber Justus Moser 1761 und nochmals 1777 (Mö-

Grotesk ser, 9-37); noch deutlicher im Sinne der empirischen Anthropologie der Spätaufklärung konstatiert Flögel 1788 am Groteskkomischen ein dem Menschen inhärentes Bedürfnis nach rohen Formen des Vergnügens zur Kompensation monotoner Alltagserfahrung. Auf der einen Seite werden solche entdämonisierenden Tendenzen zur Domestizierung des Grotesken im Komischen eher noch verstärkt im Rahmen systematisierender Ästhetik wie bei Hegel („Reichtum an [...] seltsamen Verknüpfungen heterogener Elemente": Hegel 2, 83) oder Vischer („das Komische in der Form des Wunderbaren": Vischer, 552). Auf der anderen Seite setzt ab der Romantik eine Tendenz zur poetologischen Verallgemeinerung des Grotesken ein: „Groteske ist Universalpoesie" (Schlegel 8, 116) postuliert Fr. Schlegel; E. T. A. Hoffmann erklärt im Vorwort der ,Fantasiestücke in Callot's Manier' (1814) des Zeichners groteske Deformation von Gestalten des gewöhnlichen Lebens zum poetischen Prinzip. Victor Hugo entwickelt in seiner .Préface de Cromwell' (1827) programmatisch die ästhetische und geschichtliche Universalisierung des Grotesken: Gegen die klassizistische Monotonie des Schönen setzt er auf das der Vielfalt des Lebens entsprechende, dem Häßlichen und Erhabenen nahestehende Groteske. Baudelaire forciert in ,De l'essence du rire' (1852) die Verselbständigung des Grotesken und hebt es als .comique absolu', als autonome Schöpfung ab vom ,comique significatif, dem mimetisch Komischen, das dem Nachahmungsprinzip verhaftet bleibe. Einen vorläufig letzten begriffsgeschichtlichen Schritt in Richtung auf eine universalistische Grotesken-Konzeption tut im 20. Jh. Bachtin mit seiner Theorie einer ,Karnevalisierung' der Literatur am Beispiel des Grotesken bei Rabelais. Michail Bachtin: Rabelais und seine Welt [1965]. Frankfurt 1987. - Frances Κ. Barasch: The grotesque. A study in meanings. Den Haag 1971. — Werner Busch: Die notwendige Arabeske. Berlin 1985. - Nicole Dacos: La découverte de la Domus Aurea et la formation des grotesques à la Renaissance. Leiden, London 1969. - Encyclopédie méthodique: Beaux-arts. Lüttich, Paris 1788. - Cari Friedrich Flögel: Geschichte des Groteskekomischen. Liegnitz, Leipzig 1788. -

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Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Ästhetik. Hg. v. Friedrich Bassenge. Berlin, Weimar 2 1965. Beate Krudewig: Das Groteske in der Ästhetik seit Kant. Bonn 1934. - Justus Moser: Harlekin [21777]. Hg. v. Henning Boetius. Bad Homburg 1968. - Günter Oesterle: ,Vorbegriff zu einer Theorie der Ornamente'. Kontroverse Formprobleme zwischen Aufklärung, Klassizismus und Romantik am Beispiel der Arabeske. In: Ideal und Wirklichkeit der bildenden Kunst im späten 18. Jh. Hg. v. Herbert Beck u.a. Berlin 1984, S. 119-139. - Karl Konrad Polheim: Die Arabeske. München 1966. — Friedrich Theodor Vischer: Ästhetik oder Wissenschaft vom Schönen. Bd. 2. München 2 1922. - Christoph Martin Wieland: Werke. Hg. v. Fritz Martini u. a. München 1964 ff. - Walter Karl Zülch: Der Wortsinn der Groteske. In: Die Entstehung des Ohrmuschelstils. Hg. v. W. K. Z. Heidelberg 1932, S. 6 - 2 1 .

SachG: Nicht allein im Bereich der allgemeinen kunst- und architekturgeschichtlichen Entwicklung hat man die Anwendung grotesker Gestaltungstechniken post festum in den unterschiedlichsten Bereichen und Epochen festgestellt (Überblicke u. a. bei Piel, Rosen, Warncke). Auch in der Literaturgeschichte haben sich Phänomene des Grotesken beinahe ubiquitär aufspüren lassen: in antiken Komödien von Aristophanes und Plautus, in mittelalterlichen Körperdarstellungen und Narrenfiguren, im Grobianismus von Rabelais und Fischart, bei Shakespeare wie bei Cervantes, bei Molière wie bei Sterne, in der Aufklärungssatire wie im romantischen Schauerroman, bei Jean Paul und Nestroy, Poe und Gogol', Kafka und Morgenstern, Dürrenmatt und Canetti, im Expressionismus wie in der Postmoderne, im Kabarett wie im Stummfilm. Eine umgrenzte literarische Sachgeschichte im engeren Sinne ist deshalb nur im Rahmen des Artikels /" Groteske darstellbar. Friedrich Piel: Die Ornament-Grotteske in der italienischen Renaissance. Leiden, London 1969. - Elisheva Rosen: Sur le grotesque. Saint-Denis 1991. - Carsten Peter Warncke: Die ornamentale Groteske in Deutschland 1500-1650. 2 Bde. Berlin 1979.

ForschG: Eine systematische literarhistorische Erforschung des Grotesken begann in England 1865 mit Wright (der in Ansätzen nicht nur eine Anthropologie, sondern

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Groteske

schon eine historische Soziologie des Grotesken entwickelt), in Deutschland 1894 mit Schneegans (mit gattungsgeschichtlicher und wirkungsästhetischer Akzentuierung). Zum Angelpunkt der modernen Forschung (übersichtlich zusammengestellt bei Best; komparatistisch referiert und diskutiert bei Thomson) wurde Kaysers Monographie von 1957; seine Strukturanalyse mit Tiefenpsychologie verbindenden Thesen über das Groteske als „entfremdete Welt" (Kayser, 198), als „die Gestaltung des 'Es' " (199), als „das mit dem Lächeln gemischte Grauen" (38) und somit als „Versuch, das Dämonische in der Welt zu bannen und zu beschwören" (202), wurden weiterführender Kritik unterzogen u. a. bei Spitzer (mit historischem Akzent) und Pietzcker (mit psychologischem Akzent), Heidsieck (mit gattungstheoretischem Akzent) und Burwick (1987 und besonders grundsätzlich 1990). Einen begründet kritischen Rückblick auf die von der Forschungsgeschichte niemals ausgeräumte begriffliche Ambiguität des Grotesken wirft Harpham — der dem Grotesken dennoch einen passenden Ort zuzuweisen vermag: am Rand des Bewußtseins, wo die Angemessenheit unserer Methoden, die Welt zu organisieren, in Frage gestellt wird.

Groteske Kürzerer Text, der in irritierender Manier Heterogenitäten kombiniert und zwischen Komik und Grauen oszillierende Effekte gestaltet.

Expl: Als Gattungsbegriff bezeichnet Groteske einen kalkuliert auf Irritation angelegten fiktionalen Text von begrenztem Umfang (in dramatischer oder auch epischer, gelegentlich in lyrischer Form), der Heterogenes, ja Inkompatibles aus der Realität so kombiniert, daß Unnatürliches, Überraschendes, Unwahrscheinliches bzw. (ontologisch) Unmögliches resultiert, ohne daß dabei die textinterne /" Kohärenz in Frage stünde. Die Kombination kann unvermittelt und sprunghaft oder sukzessive aufgebaut werden; immer aber muß ihr Effekt den Text global und nicht bloß partiell prägen. Häufig ist die Verbindung folgender Bereiche: Menschliches-Tierisches, Menschliches-Pflanzliches, Organisches-Mechanisches, Teil-Ganzes, Großes-Kleines, Wachen-Traum, Sein-Schein, Leben-Tod. Charakteristische Merkmale der Groteske auf der Produktionsebene sind Typisierung und Hyperbolie (/" Emphase)·, dem entspricht auf der Rezeptionsebene ein Spektrum von Reaktionsweisen, das von der Ohnmachtsempfindung über das Schwanken zwischen Lit: Otto F. Best (Hg.): Das Groteske in der Dichtung. Darmstadt 1980. — Frederick Bur- Grauen und Lachen bis zur anarchischen wick: The haunted eye. Perception and the gro- Befreiung von den Normen herrschender tesque in English and German romanticism. Hei- Vorstellungen reicht (,die Welt steht k ö p f ; delberg 1987. — F. Β.: The grotesque. In: Aes- ,die Welt ist aus den Fugen'). thetic illusion. Hg. v. F. B. und Walter Pape. BerDie Groteske unterscheidet sich von verlin, New York 1990, S. 122-137. - Rudolf wandten Formen (dazu Heidsieck, 37—111; Fritsch: Absurd oder grotesk? Frankfurt u. a. Thomson, 19—30) wie Absurdes Theater 1990. - Geoffrey Gait Harpham: On the grotes- (auf Dramen beschränkt; produziert Widerque. Princeton 1982. - Arnold Heidsieck: Das Groteske und das Absurde im modernen Drama. sprüche auf der Sinnebene; postuliert SinnStuttgart 1969. - Wolfgang Kayser: Das Gro- losigkeit der Existenz), /" Tragikomödie (inteske. Oldenburg 1957. — Carl Pietzcker: Das tendiert Identifikation; im Gegensatz zu Einakter- Serien komponierten Groteske: In: DVjs 45 (1971), S. 197-211. - meist als Heinrich Schneegans: Geschichte der grotesken Grotesken auf abendfüllende Dramen beSatire. Straßburg 1894. — Leo Spitzer: Bespre- schränkt), /" Posse (leicht eingängiges chung von: Kayser. In: GGA 210 (1958), Volkstheater; Tradition der HanswurS. 95-110. - Philip Thomson: The grotesque. stiade), /" Humoreske (auf Erzählprosa beLondon 1972. — Thomas Wright: A history of caricature and grotesque in literature and art. schränkt; versöhnlich-gemütlich, heiter-humorvoll), s Schwank2 (auf Dramen beLondon 1865. schränkt; sexualisierte Erotik, sozial beRolf Haaser / Günter Oesterle dingte Situationskomik); /" Parodie, /" Sa-

Groteske tire, s Karikatur (konkreter Anlaß, polemischer Aktualitätsbezug). Arnold Heidsieck: Das Groteske und das Absurde im modernen Drama. Stuttgart 1969. Philip J. Thomson: The grotesque in German poetry 1880-1933. Melbourne 1975.

WortG: /* Grotesk. BegrG: Zur Kennzeichnung einer literarischen ? Gattung taucht in der deutschsprachigen Literatur der Ausdruck Groteske (häufig im Plural) gegen Ende des 19. Jhs. auf, zunächst als Bezeichnung eigener Texte durch Autoren und Autorinnen. Zuvor spricht man von ,grotesken Zügen' bzw. von ,dem Grotesken' und meint damit (oft pejorativ) das Derbkomische, Bizarre und Monströse. Eingang in die deutsche Literaturgeschichte fand die Bezeichnung wohl durch Arthur Schnitzlers Theaterstück ,Der grüne Kakadu' (1898), das im Untertitel „Groteske in einem Akt" heißt — weniger breitenwirksam hatte schon Paul Scheerbart seinen kurzen Prosatext ,Meerglück' (1897/98) im Untertitel „Eine Groteske" genannt (beim oft erwähnten Frank Wedekind findet sich die Bezeichnung nicht). Die Groteske wird bald — nicht nur unter Expressionisten — als Titel oder Untertitel populär; frühe Belege sind u. a. Lasker-Schülers Gedicht ,Groteske' (1905), Hermann Bahrs drei Einakter ,Grotesken' (1907), Egon Friedells und Alfred Polgars ,Goethe' (1908), eine fürs Kabarett verfaßte „Groteske in zwei Bildern", und Carl Einsteins Formulierung „infinitesimale Groteske" (Einstein, 19), die in Zusammenhang mit seinem Roman ,Bebuquin oder Die Dilettanten des Wunders' (1907/1912) steht. Der Gattungsbegriff ist von Anfang an inkonsistent und wird auf Texte unterschiedlichster Machart und Tendenz angewendet. Der frühen Diagnose: „Eine klare Definition dieses Begriffes gibt es nicht" (Lorenz, 2) korrespondiert eine diffuse Bedeutung, was u. a. zu Formulierungen wie der vom „surrealistischen Grotesk-Absurden" (RL 2 4, 303) führt. Nach 1945 taucht der Begriff verstärkt wieder auf in dramentheoretischen Arbeiten Dürrenmatts, der indes nicht in erster Linie die Gattung Groteske im engeren Sinn thematisiert, sondern

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allgemeiner „eine äußerste Stilisierung" der ungestalt-rätselhaften, bedrohlichen Gegenwart, woraus dann u. a. die Kraft resultiere, „die Welt in eine Komödie zu verwandeln" (Dürrenmatt, 136 bzw. 133). Als Textsortenbezeichnung wurde der Begriff auf Werke Wedekinds (Böckmann) oder Brechts angewendet, wobei insbesondere M. Kestings Begriff „konstruierte Groteske" von Bedeutung ist, der das „bewußte Theater" meint, das „das ,Theater auf dem Theater' in immer weiteren Schachtelungen" hervorbringt (Kesting, 196). Von den Spezifizierungen des Begriffs hat sich insbesondere „Sprachgroteske" (Spitzer, Kurth) durchgesetzt; daneben gibt es Bildungen wie „lyrische Groteske" (Heselhaus) oder „expressionistische Militärgroteske" (Vietta). Paul Böckmann: Die komödiantischen Grotesken Frank Wedekinds. In: Das deutsche Lustspiel. Hg. v. Hans Steffen. Bd. 2. Göttingen 1969, S. 79—102. — Friedrich Dürrenmatt: TheaterSchriften und Reden. Zürich 1966. - Carl Einstein: Werke. Bd. 4. Hg. v. Hermann Haarmann und Klaus Siebenhaar. Berlin 1992. - Clemens Heselhaus: Lyrische Grotesken. In: C. H.: Deutsche Lyrik der Moderne von Nietzsche bis Yvan Göll. Düsseldorf 1961, S. 286-320. - Marianne Kesting: Die Groteske vom Verlust der Identität: Bertolt Brechts ,Mann ist Mann'. In: Das deutsche Lustspiel. Hg. v. Hans Steffen. Bd. 2. Göttingen 1969, S. 180-199. - Else Lasker-Schüler: Der siebente Tag. Gedichte. Berlin-Charlottenburg 1905. - Paul Scheerbart: Meerglück. Eine Groteske. In: Wiener Rundschau 2 (1897/98), S. 573 f. - Silvio Vietta: Erster Weltkrieg und expressionistische Militärgroteske. In: Ares und Dionysos. Das Furchtbare und das Lächerliche in der europäischen Literatur. Hg. v. Peter Brockmeier u. a. Heidelberg 1981, S. 186-202.

SachG: Die „Wiederentdeckung des Grotesken um die Jahrhundertwende" (Sandig, 131) in Form der Konstitution einer neuen literarischen Gattung mit unscharfen Rändern ist Teil der Wiederbelebung der ,schwarzen Romantik' (>" Phantastisch) und Reaktion auf eine zunehmend als fremd, inhuman und rational nicht durchschaubar empfundene Welt. Die in der Begriffsgeschichte des Grotesken eintretende Vermischung ästhetischer mit anthropologischen, psychologischen und ontologischen Aspekten kulminiert in der Ausbildung einer eige-

Groteske

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nen Genre-Tradition der Groteske. Ihrer Kürze wegen werden Grotesken mit Vorliebe gesammelt veröffentlicht — gewissermaßen eine Erinnerung an die begriffsgeschichtlichen Ursprünge im potentiell unabschließbaren Ornamentalen. Bände wie Mynonas (Salomo Friedlaenders) ,Rosa, die schöne Schutzmannsfrau. Grotesken' (1913), Gustav Meyrinks ,Des deutschen Spießers Wunderhorn' (1913) oder die Anthologie ,Das Buch der Grotesken' von Felix Lorenz (1914) machen die Form vorübergehend so populär, daß festgestellt wurde: die Groteske „ist nicht mehr ein seltener Grenzfall, sondern eine Lieblingsform der Zeit, zu der alle verneinenden Kräfte ebenso hindrängen, wie alle bejahenden etwa zur Hymne" (Soergel, 859 f.). Neben der direkt oder indirekt auf die neue Gattung einwirkenden Tradition der romantisch-phantastischen Literatur — zu nennen sind hier ,Fantasiestücke in Callot's Manier' (1814/15) und ,Nachtstücke' (1817) von E. T. A. Hoffmann, Nikolaj Gogols Sammlung .Arabesken' (1835) sowie die Erzählung ,Die Nase' (1836), Edgar Allan Poes ,Tales of the grotesque and arabesque' (1840) bis hin zu den ,Dämmerungsstücken' von Oskar Panizza (1890) — , die vor allem die Prosa-Groteske beeinflußt hat, wirkt für die Dramen-Groteske in erster Linie Alfred Jarrys ,Ubu Roi' (1896) inspirierend. Yvan Gölls Konzeption eines Maske und Groteske kombinierenden ,Überdramas' (Göll, 66) ist ohne Jarry ebenso wenig denkbar

Deformation oder Dekomposition des Bekannten und Konventionellen bringen im 20. Jh. eine große Bandbreite an Formen der Groteske hervor, die den früher gewöhnlich als gegensätzliche Haupttendenzen grotesker Gestaltung geltenden Kategorien der .Pragmatisierung' und der ,Ontologisierung' (dazu Jansen, 62) nicht mehr eindeutig zuzuweisen sind. Zu eng beieinander erscheinen die .pragmatisierte', d. h. satirisch-sozialkritische bzw. appellativ-engagierte Groteske, die auf Veränderung des Bestehenden zielt (z. B. Wedekind, Brecht), und die ,ontologisierende', d. h. phantastische Welten schaffende bzw. abstrakt-existentialistische Groteske (z. B. Jarry, Scheerbart, Mynona; >" Surrealismusi), die angesichts einer als dämonisch und fremd erfahrenen Welt Rat- und Hilflosigkeit zum Ausdruck bringt.

wie d a s

ter (Beckett, Hildesheimer u. a.) oder der Literatur des /" Existentialismus (Sartre, Nossack u. a.): Wo das Groteske des Realen — wie z. B. bei Dürrenmatt (,Der Besuch der alten Dame', .Die Physiker', ,Meteor') — schon als Voraussetzung fungiert, scheint eine eigene Gattung ,Groteske' ihre Funktion zu verlieren.

italienische

teatro

del

grottesco

(1916-1925), dem u.a. Luigi Pirandello verbunden war. Neben Formen der Gebrauchsliteratur in /" Feuilleton ι, Varieté und Tingeltangel war es jedoch in besonderem Maße das s Kabarett in München (,Die elf Scharfrichter', 1901), Wien (.Fledermaus', 1907), Berlin (,Neopathetisches Cabaret', 1910; ,Gnu', 1911) und Zürich (,Cabaret Voltaire', 1916), das die Entwicklung der meist ebenso zivilisationskritischen wie antibürgerlichen Groteske beförderte durch seine Kombination unterschiedlichster Formen und Mittel: Dramenparodie, Salonkunst und Panoptikum, Groteskbzw. Schleiertanz, Musik und derb-komische, frivole Elemente.

Als prototypische Verfasser von Grotesken gelten für das Drama Frank Wedekind, Carl Sternheim oder auch der frühe Bertolt Brecht; für die Erzählprosa Paul Scheerbart, Oskar Panizza, Gustav Meyrink, Hanns Heinz Ewers, Mynona, Hans Reimann, Hermann Harry Schmitz, Karl Hans Strobl und mit einigen Kurztexten auch Franz Kafka; für die Lyrik Christian Morgenstern, Jakob van Hoddis, Alfred Lichtenstein oder Hans Arp. Nach 1945 wird die Tradition nur mehr sporadisch weitergeführt (etwa bei Ionesco und seinen Epigonen) bzw. abgelöst von konkurrierenden E n t w i c k l u n g e n wie d e m ? Absurden

Thea-

Yvan Göll: Dichtungen. Hg. v. Ciaire Göll. Darmstadt 1960. - Wolfgang Jansen: Das Groteske in der deutschen Literatur der Spätaufklärung. Bonn 1980.

ForschG: Eine Geschichte der Forschung, die die Groteske als eine übliche Gattungsgrenzen übersteigende Textsorte untersucht, gibt es noch nicht. Es liegen allein Studien

Gründerzeit vor, die den Untersuchungsgegenstand einschränken und entweder die Groteske innerhalb einer bestimmten ,Naturform' untersuchen (für die Lyrik ζ. B. Heselhaus) oder sich auf groteske Züge im Werk einzelner Autoren und Autorinnen festlegen (Kassel, Palm, Schulte, Pathe, Silhouette). Gelegentlich wird bestritten, daß Groteske im Bereich der Dramentheorie ein sinnvoller Terminus sei, da mit ihm lediglich die Dominanz von Stilelementen zur Gattung erhoben werde (Völker, 10, 45; Sandig, 27—30); oder es wird der Status von Groteske als Gattungsbegriff überhaupt bezweifelt, da sie keine eigenen Formgesetze ausgebildet habe (Müller, 148). Besonders fehlen eine Untersuchung des Verhältnisses der Groteske zur Kategorie der Simultaneität von Gegensätzen und zum Topos der Verkehrten Welt' sowie eine Klärung des Zusammenhangs mit dem System der ? Rhetorik (etwa mit Tropen wie Hyperbel, Hyperoche, Adynaton und kühner Metapher; interessante Ansätze dazu bei Kurth). Lit: Anthologien: Café Klößchen. 38 Grotesken. Hg. v. Joachim Schreck. Berlin 31985. - Das Buch der Grotesken. Hg. von Felix Lorenz. München 41914. — L'esprit fumiste et les rires fin de siècle. Anthologie. Hg. v. Daniel Grojnowski und Bernard Sarrazin. Paris 1990. - Russische Satiren und Grotesken. Hg. ν. Jochen-Ulrich Peters. München 1987. - Hermann Harry Schmitz: Die Bluse und andere Grotesken. Hg. v. Bruno Kehrein und Michael Matzigkeit. Zürich 1988. Tango Mortale. Groteske Gedichte von Wedekind bis Brecht. Hg. v. Joachim Schreck. Berlin 1988. John R. Clark: The modern satiric grotesque and its traditions. Lexington 1991. - Jens Malte Fischer: Groteske. In: Moderne Literatur in Grundbegriffen. Hg. v. Dieter Borchmeyer und Viktor Zmegac. Frankfurt 21994, S. 185-188. András Horn: Das Komische im Spiegel der Literatur. Würzburg 1988. — Norbert Kassel: Das Groteske bei Franz Kafka. München 1969. Ernst-Norbert Kurth: Metaphernübersetzung. Dargestellt an grotesken Metaphern im Frühwerk Charles Dickens' in der Wiedergabe deutscher Übersetzungen. Frankfurt, Bern u. a. 1995. - Michael Müller: Die Groteske. In: Formen der Literatur: in Einzeldarstellungen. Hg. v. Otto Knörrich. Stuttgart 1981, S. 143-150. - Christine Palm: Greule Golch und Geigerich. Die Nabelschnur zur Sprachwirklichkeit in der grotes-

751

ken Lyrik von Christian Morgenstern. Uppsala 1983. - Hermann R. W. Pathe: Das Groteske in den Dramen Ernst Barlachs. Frankfurt 1990. — Holger Sandig: Deutsche Dramaturgie des Grotesken um die Jahrhundertwende. München 1980. - Vera Schulte: Das Gesicht einer gesichtslosen Welt. Zu Paradoxie und Groteske in Friedrich Dürrenmatts dramatischem Werk. Frankfurt 1987. - Marielle Silhouette: Le grotesque dans le théâtre de Bertolt Brecht (1912-1926). Bern, Frankfurt u. a. 1996. - Albert Soergel: Dichtung und Dichter der Zeit: Im Banne des Expressionismus. Leipzig 1925. - Leo Spitzer: Die groteske Gestaltungs- und Sprachkunst Christian Morgensterns. In: Hans Sperber, L. S.: Motiv und Wort. Leipzig 1918, S. 53-123. - Dimitri Tschizewskij: Satire oder Groteske. In: Das Komische. Hg. v. Wolfgang Preisendanz und Rainer Warning. München 1976, S. 269-278. - Klaus Völker: Das Phänomen des Grotesken im neueren deutschen Drama. In: Sinn oder Unsinn? Das Groteske im modernen Drama. Hg. v. Reinhold Grimm u. a. Basel 1962, S. 9 - 4 5 .

Reto Sorg

Gründerzeit Periodisierungsbegriff für die hegemoniale Repräsentationsliteratur im deutschen Kaiserreich zwischen etwa 1870 und 1885/90. Expl: Ein wissenschaftlich vertretbarer Gebrauch des Begriffes setzt voraus, daß Vermittlungskategorien für den Zusammenhang von Literatur und Herrschaftskultur unmittelbar vor und nach der Reichsgründung benannt werden. Dabei ist als zentraler Faktor der affirmative Idealismus anzusehen, der nach 1871 die geistige Einheit des Reiches begründen sollte. Theoretisch und methodisch kann hier an Konzepte und Methoden der ? Mentalitätsgeschichte, der /" Diskursanalyse und der Kollektivsymbolforschung angeknüpft werden. Dies gilt ebenso für den angrenzenden Periodisierungsbegriff WILHELMINISMUS. WortG: Gründer, Gründerschwindel, Gründerfieber sind zu Beginn der 1870er Jahre in Deutschland Schlagworte (z. B. bei Glagau und Perrot) zur Kennzeichnung von Spekulationspolitik, Korruption und betrügen-

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Gründerzeit

sehen Machenschaften während der ökonomischen Hochkonjunkturperiode nach 1871 und der Wirtschaftskrise von 1873. Gründerzeit u n d Gründerjahre

avancierten zu Be-

griffen für diese Phase der Wirtschaftsentwicklung im Kaiserreich. Otto Glagau: Der Börsen- und Gründungsschwindel in Berlin. In: Gartenlaube 1874 [als Buch Leipzig 1876]. — Franz Fürchtegott Perrot: Der große Schwindel und der große Krach. Rostock 1875.

BegrG: Als Bezeichnung für einen gemeinsamen Zeitstil im Schaffen der Maler Böcklin, Feuerbach, Lenbach, Leibi, Marées und Thoma, der u. a. geprägt sein soll durch Monumentalisierung, idealisierende Wirkungsabsicht, einen Stil der Pose und der Inszenierung, wird der Begriff .Gründerzeit' zuerst in der Kunstgeschichte aufgenommen (Hamann 1914). An diese Konzeptualisierung hat sich 1965 Jost Hermand angeschlossen und versucht,,Gründerzeit' als einen kultur- und literaturhistorischen Epochenbegriff für die Kultur der 1870er und 80er Jahre einzuführen. Diese Epochenbezeichnung steht damit in Konkurrenz zu etablierten literaturgeschichtlichen Periodisierungsbegriffen und Grenzziehungen wie etwa bürgerlicher Realismus' (für den Zeitraum seit 1848) oder ,Literatur in der Ära Bismarcks' (für den Zeitraum seit 1871) und überschneidet sich teilweise mit dem Periodisierungskonzept ,Literatur des Wilhelminischen Zeitalters' (für den Zeitraum seit 1885/90). Zudem steht der Begriff quer zu den Versuchen, die Anfangsphase einer Literatur der ? Moderne bereits für die Zeit um 1870 anzunehmen und ihr eine traditionalistisch orientierte ,Gegenmoderne' entgegenzusetzen. SachG: Auf die vor allem im Bewußtsein des nationalliberalen Bürgertums heroischen' Jahre zwischen 1866 und 1870/71 war nach der Reichsgründung eine außerordentlich konfliktreiche Phase der politischen sowie sozialen Integration und Herrschaftskonsolidierung gefolgt. Die Zeitgenossen, insbesondere die bürgerlichen Mittelschichten und das Kleinbürgertum, erlebten die ökonomischen und sozial-strukturellen Veränderungen, Verwerfungen und

Brüche als krisenhaft und reagierten darauf mit Krisenideologien wie Anti-Semitismus, Anti-Sozialismus, einem aggressiven Nationalismus, Pan-Germanismus und Sozialdarwinismus. Die Literatur nach 1871 ist mit der geistig-kulturellen Infrastruktur der Epoche, mit ihren Mentalitäten, Verhaltensdispositionen und kulturellen Deutungsmustern auf vielfältige Weise verflochten, sie bearbeitet (oft unbewußt bleibende) soziale Erfahrungen in symbolischer Form und dient (gleichfalls oft unbewußt) der sozialen Sinnverständigung und Identitätsstiftung. Dies gilt vor allem für die vielfaltigen Formen, in denen Literatur an der Produktion historischer Mythen und politisch wirksamer Symboliken beteiligt war. Dazu zählen vornehmlich die massenhaft verbreitete historische und patriotische Lyrik sowie Versepik (beispielhaft: E. Geibel, F. Dahn, H. Lingg, V. v. Scheffel, A. v. Schack), der historische Roman (beispielhaft: F. Dahn, G. Ebers, G. Freytag), das Geschichtsepos (beispielhaft: W. Jordan, H. Lingg, R. Hamerling), das historische Drama (beispielhaft: E. Geibel, E. v. Wildenbruch) und das patriotische Festspiel. In Ikonologie, Symbolik und narrativen bzw. dramatischen Schemata arbeitet die Literatur der Gründerzeit an einer „Mythologie der Deutschen" (Wülfing), zu der die historische Legitimation des Reiches aus mittelalterlicher oder germanischer Tradition (beispielhaft: die zahlreichen Literarisierungen des Barbarossa-Mythos, des Nibelungen/Siegfriedund Hermann-Komplexes) ebenso gehört wie eine borussianische Glorifizierung des Kaisertums und des Reichs, die Mythisierung des Nationalstaats als Ausdruck der „sittlichen Weltordnung" (M. Carriere) und die Behauptung einer Superiorität des ,Deutschen' in der Welt. Grundierendes Element ist jener ästhetische f Historismus des mittleren 19. Jhs., der Gegenwartskritik als Kulturkritik denkt, allenthalben Mediokrität durch soziale Nivellierung und Egalisierung zu sehen vermeint und Bildungsverlust, ,Geist'-Verlassenheit und Dominanz des , Materiellen' beklagt. Dieses kulturkritische Syndrom, das in den 1890er Jahren in eine kulturkonservative, antimoderne Protestbewegung (Lagarde, Langbehn) um-

Gründerzeit schlägt, wird von Historikern als obsessive Reaktion auf die sich ankündigende egalitäre Massengesellschaft und als Krisensymptom im Prozeß der Modernisierung interpretiert (u. a. Doerry, Nipperdey, Stern, Wehler). Kompensatorisches Gegenstück sind der Aristokratismus und Heroenkult der Epoche. Im historischen Roman und Historiendrama rücken „Helden und Heldenverehrung" (Thomas Carlyle, 1853), die Vorliebe für die Darstellung ,großer' Gewaltnaturen und historischer Persönlichkeiten und die Gestaltung tragisch untergehender ,Helden' ins Zentrum. Entsprechende Heroisierungstendenzen gelten auch für die literarische Biographik (beispielhaft: H. Grimm, C. Justi) oder die literarische Mythisierung des ,Staatskünstlers' Bismarck und anderer großer ,Willensmenschen' (vgl. Parr und Wülfing), nicht zuletzt auch für die Selbstinszenierungen und Selbstmythisierungen, wie sie ζ. B. für Wagner und Nietzsche konstatiert worden sind. Aristokratismus und Heroenkult können unterschiedlich fundiert werden: im Sozialdarwinismus als einem brisanten Weltanschauungskonglomerat, das Darwins biologisches Konzept der .natürlichen Zuchtwahl' sozial uminterpretiert zur .Macht des Stärkeren', sowie im Idealismus als kultureller Legitimationsideologie. Der Idealismus wurde als „offiziöse Reichsanschauung" (Bucher u. a.) popularphilosophisch wie ästhetisch unablässig propagiert und beherrschte die zentralen Sozialisationsinstitutionen in Staat und Kirche. Programmatisch wird hier der Kunst die Aufgabe zugeschrieben, die ,Idee' als ,Kern' und ,Seele' der Wirklichkeit zu offenbaren' und das dem Menschen eingeborene .Idealisierungsstreben' zu befriedigen (M. Carriere). Für die Literatur ergibt sich daraus die Forderung nach Verklärung und Versöhnung gestörter Ordnung im schönen Schein der Kunst. Die in der Literatur der Gründerzeit erkennbare Tendenz zum Harmonismus und zur Idyllisierung haben in dieser Kunstanschauung eine ihrer Wurzeln. Das Konzept der .Verklärung' verbindet im übrigen die gründerzeitliche Ästhetik mit

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Theorie und Praxis des bürgerlichen ? Realismus2· Moriz Carriere: Das neue deutsche Reich und die sittliche Weltordnung. In: M. C.: Das Weltalter des Geistes im Aufgange. Leipzig 21874.

ForschG: Nach dem Vorschlag Jost Hermands hat sich der Periodisierungsbegriff .Gründerzeit' durchgesetzt zur Kennzeichnung jener Literatur zwischen etwa 1870 und 1885/90, die sich nicht einfach unter den Epochenbegriff des bürgerlichen Realismus' subsumieren ließ, wie dies z. B. Fritz Martini 1962 in seiner umfassenden Epochendarstellung für die Zeit von 1848 bis 1898 versucht hatte. Damit rückten zum einen die Geschichte der nicht-kanonisch gewordenen Literatur der 2. Hälfte des 19. Jhs. und die Frage nach deren sozialen Erfahrungsmustern und kommunikativen Funktionen verstärkt in den Blick (für die gründerzeitliche Lyrik exemplarisch Zimmer, Mahal, Werner). Zum anderen bedeutete die Einführung des Gründerzeit-Begriffes eine programmatische Erweiterung literaturgeschichtlicher Fragestellungen um sozialhistorische und bewußtseinsgeschichtliche Dimensionen (grundlegend: Bucher u. a.). Zudem haben neuere diskursanalytische Untersuchungen und Studien zur historischen Mythenforschung im Kaiserreich zeigen können, welche Bedeutung der Literatur als einer spezifischen Praxisform bei der Ausbildung von Nationalstereotypien, kollektiven Identitätsmustern und Sinnstiftungsideologien zukommt (Link, Parr, Wülfing). Künftige Forschung kann an diese Arbeiten anknüpfen. Sie sollte zudem die facettenreiche historische Forschung zur Mentalitätsgeschichte im Kaiserreich insgesamt einbeziehen (exemplarisch: Denkmalskult, Geschichtskultur, Feiern, Festumzüge; zur Mentalität des .Wilhelminischen' beispielhaft die Studie von Doerry). Wie weit künftig an einer eigenständigen literarischen Periode Gründerzeit gegenüber einem umfassenderen Periodisierungskonzept für die Literatur des Gesamtzeitraums von 1870/71 bis 1918 als einer ersten Phase der Literatur der Moderne festgehalten werden kann, bleibt abzuwarten (vgl. Köster, Kreuzer, Werner 1985).

754

Gruppenstil

Lit: Aspekte der Gründerzeit. Berlin 1974. Max Bucher u. a. (Hg.): Realismus und Gründerzeit. 2 Bde. Stuttgart 1975/76. - Martin Doerry: Übergangsmenschen. 2 Bde. Weinheim, München 1986. — Richard Hamann: Die deutsche Malerei im 19. Jh. Leipzig, Berlin 1914. - R. H., Jost Hermand: Gründerzeit. Berlin 1965. - Hans Jürgen Hansen (Hg.): Das pompöse Zeitalter. Oldenburg, Hamburg 1970. - Wolfgang Hardtwig: Geschichtskultur und Wissenschaft. München 1990. — Jost Hermand: Zur Literatur der Gründerzeit. In: DVjs 41 (1967), S. 202-232. - J. H.: Grandeur, High Life und Innerer Adel. In: J. H.: Stile, Ismen, Etiketten. Wiesbaden 1978, S. 17-33. - J. H.: Hauke Haien. Kritik oder Ideal des gründerzeitlichen Übermenschen. In: WW 15 (1965), S. 40-50. - Klaus Günther Just: Von der Gründerzeit bis zur Gegenwart. Bern, München 1973. — Udo Köster: Die Moderne, die Modernisierung und die Marginalisierung der Literatur. In: Polyperspektivik in der literarischen Moderne. Hg. v. Jörg Schönert und Harro Segeberg. Frankfurt, Bern 1988, S. 353-380. - Helmut Kreuzer: Zur Periodisierung der ,modernen' deutschen Literatur. In: Basis 2 (1971), S. 7-32. - Jürgen Link, Wulf Wülfing (Hg.): Nationale Mythen und Symbole in der 2. Hälfte des 19. Jhs. Stuttgart 1991. - Günther Mahal (Hg): Lyrik der Gründerzeit. Tübingen 1973. - Fritz Martini: Deutsche Literatur im bürgerlichen Realismus. 1848-1898. Stuttgart 1962. - Thomas Nipperdey: Deutsche Geschichte 1866-1918. 2 Bde. München 1990, 1992. - Rolf Parr: „Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust". Strukturen und Funktionen der Mythisierung Bismarcks. Mün-

chen 1992. — Franz Rhöse: Konflikt und Versöhnung. Stuttgart 1978. - Hans Rosenberg: Große Depression und Bismarckzeit. Berlin 1967. — Hannelore Schlaffer, Heinz Schlaffer: Studien zum ästhetischen Historismus. Frankfurt 1975. Peter Sprengel: Die inszenierte Nation. Tübingen 1991. — Fritz Stern: Kulturpessimismus als politische Gefahr. Bern u. a. 1963. — Michael Stürmer: Das ruhelose Reich. Berlin 1983. - Hans Ulrich Wehler: Das deutsche Kaiserreich 1871 — 1918. Göttingen 1973 u. ö. - H. U. W.: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Bd. 3. München 1995. — Renate Werner: „Wir von Gottes Gnaden, gegen die durch Pöbels Gunst". Ästhetik und Literaturpolitik im .Münchner Dichterkreis'. In: Link/ Wülfing, S. 172-198. - R. W.: Das Wilhelminische Zeitalter als literarhistorische Epoche. In: Jutta Kolkenbrock-Netz u. a. (Hg.): Wege der Literaturwissenschaft. Bonn 1985, S. 211-231. Wulf Wülfing u. a.: Historische Mythologie der Deutschen. 1798-1918. München 1991. - Hartmut Zelinsky: Richard Wagner — Ein deutsches Thema. Frankfurt 1976. — Hasko Zimmer: Auf dem Altar des Vaterlandes. Frankfurt 1971. Renate Werner

Gruppe 47

Nachkriegsliteratur

Gruppe 61

Autorengruppe

Gruppenstil / Stil

REALLEXIKON DER DEUTSCHEN LITERATURWISSENSCHAFT Band II

REALLEXIKON DER DEUTSCHEN LITERATURWISSENSCHAFT Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte gemeinsam mit Georg Braungart, Klaus Grubmüller, Jan-Dirk Müller, Friedrich Vollhardt und Klaus Weimar herausgegeben von Harald Fricke

Band II H-O

W DE G Walter de Gruyter · Berlin · New York

Die Originalausgabe dieses Bandes erschien 2000. Mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft (Finanzierung der Redaktorstelle)

Redaktion: Moritz Baßler Armin Schulz

© Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

ISBN 978-3-11-019355-8 Bibliografische

Information

der Deutschen

Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© Copyright 2007 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandgestaltung: Christopher Schneider, Berlin Satz: Arthur Collignon GmbH, Berlin Druck: Gerike GmbH, Berlin Buchbinderische Verarbeitung: Druckhaus Thomas Müntzer, Bad Langensalza

Inhalt des zweiten Bandes Über das neue Reallexikon Hinweise zur Benutzung Abgekürzt zitierte Literatur Sonstige Abkürzungen Verzeichnis der Artikel in Band II Artikel H - O

VII IX XI XVI XVIII 1

Über das neue Reallexikon - Das ,Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte' heißt in seiner dritten, von Grund auf neu erarbeiteten Auflage , Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft' (RLW). — Mit dieser Namensänderung wird zunächst nur eine Anpassung an die geänderten Verhältnisse vollzogen: das Fach, das sich beim Erscheinen der ersten Auflage ab 1926 noch ,Deutsche Literaturgeschichte' genannt hat, heißt heute im allgemeinen ,Deutsche Literaturwissenschaft'. Darüber hinaus resultiert die Namensänderung aus einer Anwendung des eigenen lexikographischen Programms: es ist untunlich, eine Wissenschaft mit demselben Wort zu bezeichnen wie ihren Gegenstandsbereich. — Dementsprechend strebt das RLW nicht eine alphabetisch geordnete Darstellung des Wissenschaftsgegenstandes ,deutsche Literaturgeschichte' an, sondern eine lexikalische Darstellung des Sprachgebrauchs der Wissenschaft, d. h. des Faches ,Deutsche Literaturwissenschaft'. Denn Realien steht hier, wie schon bei den Begründern Paul Merker und Wolfgang Stammler, nicht für ,Sachen', sondern für ,Sachbegriffe' — im Kontrast zu .Eigennamen' als Personalien (für die ζ. B. Stammler selbst das ,Verfasserlexikon' auf den Weg gebracht hat). - Leitfrage eines Lexikon-Benutzers ist: „Was versteht man unter ...?" - demgemäß wird man im RLW also nicht darüber informiert werden, was ζ. B. ,das Wesen der Klassik' sei, sondern seit wann und wie und in welchem Sinne Klassik unter Literaturwissenschaftlern im Gebrauch ist. - Das RLW als Begriffswörterbuch erstrebt zwar auch eine möglichst vollständige und systematische Bestandsaufnahme des literaturwissenschaftlichen Sprachgebrauchs, hat aber sein eigentliches Ziel darin, ihn zu präzisieren. Es ergreift deshalb Partei nur für die Genauigkeit des wissenschaftlichen Sprachgebrauchs und nicht für eine bestimmte Richtung des Faches. — Im Interesse von Klärung und Präzisierung des wissenschaftlichen Sprachgebrauchs will sich das RLW zunächst darin von anderen Lexika unseres Faches abheben, daß es so deutlich wie jeweils möglich zwischen Wort-, Begriffs-, Sach- und Forschungsinformation unterscheidet. Der Artikel „Drama" ζ. B. enthält in gekennzeichneten Abschnitten Informationen darüber, woher das Wort Drama kommt, was seine Bedeutungen waren und sind (WortGeschichte), wie sich der Begriff,Drama' konzeptuell verändert hat und ggf. alternativ benannt worden ist (BegriffsGeschichte), wie die heute mit Drama bezeichnete Sache - insbesondere im deutschen Sprachgebiet — von

Vili

Uber das neue Reallexikon

den Anfängen bis in die Gegenwart ausgesehen hat (SachGeschichte), schließlich wie bzw. inwieweit die — insbesondere deutschsprachige — Literaturwissenschaft diese Sache bislang erforscht hat und wie man sich am zuverlässigsten darüber informieren kann (ForschungsGeschichte mit knapper Literaturliste). — Im Interesse von Klärung und Präzisierung des wissenschaftlichen Sprachgebrauchs will das RLW dabei die Wort- und Begriffsinformation, also den terminologischen Aspekt, eindeutig in den Vordergrund stellen und die in vielen anderen Nachschlagewerken ausführlich angebotene Sachdarstellung eher knapp (somit auch den Gesamtumfang aller Artikel überschaubar) halten. So bietet der Artikel „Drama" keine kurzgefaßte ,Geschichte des deutschen Dramas', sondern nur so viel davon, wie nötig ist zur Ergänzung der Wortund Begriffsinformation sowie zur Begründung eines historisch adäquaten Präzisierungsvorschlags. — Im Interesse von Klärung und Präzisierung des wissenschaftlichen Sprachgebrauchs enthält das RLW in jedem Artikel eine Explikation: einen historisch gestützten Gebrauchsvorschlag dafür, mit welchen begrifflichen Merkmalen und mit welchem Begriffsumfang der betreffende Terminus in der gegenwärtigen Literaturwissenschaft sinnvollerweise zu verwenden ist und wie er sich ggf. zu seinem TERMINOLOGISCHEN FELD verhält. Da unser Fach zu einem nicht unbeträchtlichen Teil seine Termini aus der Umgangssprache bezieht, unternimmt es diese Explikation (und nicht etwa schon die zur Groborientierung vorangestellte ,Kopfzeile'), die Grenze zwischen dem umgangssprachlichen und einem geklärten fachsprachlichen Gebrauch ein- und desselben Wortes zu ziehen. — Ebenso wie viele Explikationen müssen dabei auch wort- und begriffsgeschichtliche Untersuchungen nicht selten ohne nennenswerte Vorarbeiten auskommen; dieser Umstand verdeutlicht schon, daß hier kein fraglos bestehender Konsens festgestellt oder gar festgeschrieben werden kann, sondern daß im RLW Ergebnisse terminologischer Forschung zu weiterer Nutzung und Diskussion bereitgestellt werden. Der Bezug auf einen solchen Thesaurus wissenschaftsgeschichtlich reflektierter Gebrauchsvorschläge wird es jedem einzelnen Forscher erleichtern, bei Bedarf seine eigenen terminologischen Entscheidungen zu treffen und sie ohne großen Aufwand, nämlich durch knappe Benennung der Übereinstimmungen und Differenzen zur RLW-Explikation, deutlich zu machen. — Um diese Verbindung von Kontinuität und Zukunftsoffenheit in jedem einzelnen Artikel zu erreichen, bedurfte es einer ungewöhnlich engen Kooperation von Artikel-Verfassern und Herausgebern. Für ihre Bereitschaft, sich dem viel Zeit und Toleranz abverlangenden Prozeß oft mehrstufiger Überarbeitungen und nicht selten auch schmerzhafter Kürzungen geduldig und kooperativ zu unterziehen, sollte den Verfassern aller Artikel der Dank der Fachwelt sicher sein; der Dank der Herausgeber sei ihnen auch an dieser Stelle ausgesprochen.

Hinweise zur Benutzung — Das RLW ist für sämtliche darin explizierten Termini konsequent alphabetisiert (in der jeweils gebräuchlichsten Wortform - À = Ae usw., Jambus statt Iambus usw., Kode unter Code usw.). Erfolgt nicht schon am alphabetischen Ort eine ausführliche Darstellung zu einem Lemma, so wird durch den Pfeil auf denjenigen anderen Artikel verwiesen, in dessen Rahmen dieses VerweisStichwort erläutert wird. — Ein Verweis-Stichwort verhält sich dabei zu seinem Artikel-Stichwort nicht in jedem Fall als Unterbegriff zur übergeordneten Kategorie (wie ANAPÄST ZU Versfuß), sondern oft auch als gleichrangiger Parallelfall (EPIPHER im Artikel Anapher), als Gegenstück eines Begriffspaars (FORM/INHALT gemeinsam im Artikel Form), als historische Spezialform (GÖTTINGER HAIN im Artikel Empfindsamkeit), als möglicher Konkurrenzbegriff (ERZIEHUNGSROMAN im Artikel Bildungsroman) oder einfach als partielles historisches Synonym von eigenem lexikographischen Gewicht (MUNDARTDICHTUNG im Artikel Dialektliteratur). — Auch auf sachlich angrenzende bzw. ergänzende Artikel wird aus dem Text mit einem Pfeil verwiesen. Wo sich dieser Verweis auf das Unterstichwort eines Artikels bezieht, wird dieses kursiv vor dem Pfeil aufgeführt, der auf das zugehörige Artikelstichwort lenkt (Hyperbel, s Emphase). — Ein förmliches Verweis-Stichwort entfällt, wo bereits die allgemeine Sprachkompetenz problemlos zum zweiten Teilausdruck eines Terminus als der richtigen Fundstelle leiten sollte: Binnenreim wird man unter Reim nachschlagen, Externe Funktion unter Funktion usw. — Wo ein terminologischer Ausdruck schon innerhalb der deutschen Literaturwissenschaft systematisch mehrdeutig gebraucht wird, werden seine Lesarten durch Indizes unterschieden (Schwank! als gründerzeitliche Komödienform, Schwank2 als frühneuzeitliche Erzählform) und gesondert dargestellt (je ein eigener Artikel für Glosse! als Erläuterungs- und Erschließungsinstrument vor allem mittelalterlicher Texte, Glosse2 als Gedichtgattung, Glosse3 als publizistische Kleinform). Dabei stehen reine Verweise immer voran (ALLEGORIE! ist nur Unterstichwort zu Metaphernkomplex); im folgenden rangiert dann die allgemeinere jeweils vor der historisch begrenzteren Bedeutung (erst Allegorie2 als zeitübergreifende Schreibweise, dann Allegorie3 als vor allem mittelalterliche Gattung). — Metasprachlich thematisierte Wörter erscheinen kursiv, thematisierte ,Begriffe' und alle anderen ,Bedeutungen' in einfachen Anführungsstrichen.

χ

Hinweise zur Benutzung

- Zugeordnete Verweis-Stichwörter innerhalb eines Artikels werden an der Stelle ihrer jeweils wichtigsten Erläuterung durch KAPITÄLCHEN hervorgehoben. Geschieht das in der Form eines förmlichen ,Gebrauchsvorschlages', so findet sich dies als ,Terminologisches Feld' am Schluß des Abschnittes Explikation. — Um den ungleichen altsprachlichen Vorkenntnissen der Benutzer Rechnung zu tragen, werden griechische Wörter und Zitate im Original mit anschließender Transkription in [...] wiedergegeben (Wörter aus anderen Schriften nur transkribiert); wo griechische oder lateinische Zitate nicht unmittelbar darauf in ,Häkchen' übersetzt sind, werden sie im Kontext unmißverständlich paraphrasiert. — Zur Entlastung des — gewollt knapp und damit überschaubar gehaltenen — bibliographischen Apparates werden häufig herangezogene Quellentexte, Nachschlagewerke und Zeitschriften in fachüblicher Weise abgekürzt zitiert; die Auflösung der Siglen wie auch aller sonstigen Abkürzungen findet man im Gesamtverzeichnis zu Beginn eines jeden Bandes. - Auch bei den übrigen bibliographischen Angaben rangiert im Bedarfsfall problemlose Identifizierbarkeit vor bibliothekarischer Vollständigkeit: Überlange Aufsatz- oder Kapiteltitel werden gegebenenfalls durch markierte Auslassungen [...] gekürzt; Untertitel werden durchweg nur angegeben, wo dies zur Verdeutlichung des Lemma-Bezuges unerläßlich ist. - Werktitel im laufenden Text stehen in einfachen Anführungszeichen (,Kabale und Liebe'). Werke antiker und mittelalterlicher Autoren werden im Regelfall mit eingeführtem Kurztitel und nach der Konvention zitiert (Aristoteles, ,Poetik' 1454 b). — Im Anschluß an die einzelnen Artikel-Rubriken werden in alphabetischer Ordnung jene Titel nachgewiesen, die nur in der jeweiligen Rubrik zitiert oder vorrangig dort von Belang sind. Kurznachweise im Text, die sich nicht gleich hier aufgelöst finden, verweisen auf die Rubrik Literatur, die für das Gesamtstichwort wichtige Titel verzeichnet.

Abgekürzt zitierte Literatur AdB Adelung BMZ

Campe CC Cgm Clm Cpg CSEL Curtius DEI DWb DWb 2 EJ EM Ersch/Gruber EWbD Findebuch Frnhd.Wb. Georges Gottsched

Allgemeine deutsche Bibliothek. Hg. v. Friedrich Nicolai. 118 Bde. Berlin, Stettin 1766-1796. Johann Christoph Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart. 4 Bde. Wien 31808 [5 Theile Leipzig '1774-1786; 4 Bde. Leipzig 21794], Mittelhochdeutsches Wörterbuch. Mit Benutzung des Nachlasses von Georg Friedrich Benecke ausgearbeitet von Wilhelm Müller und Friedrich Zarncke. 3 Bde. Leipzig 1854-1861. Repr. Hildesheim 1963. Joachim Heinrich Campe: Wörterbuch der Deutschen Sprache. 5 Bde. Braunschweig 1807-1811. Repr. Hildesheim 1969-1970. Mit einer Einführung und Bibliographie v. Helmut Henne. Corpus Christianorum Series Latina. Turnhout 1954 ff. Codex germanicus monacensis (Bayerische Staatsbibliothek München). Codex latinus monacensis (Bayerische Staatsbibliothek München). Codex palatinus germanicus (Universitätsbibliothek Heidelberg). Corpus scriptorum ecclesiasticorum latinorum. Wien u. a. 1866 ff. Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. Bern 1948 u.ö. Dizionario Enciclopedico Italiano. 12 Bde. Rom 1955—1961. Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. 33 Bde. Leipzig 1854-1954. Repr. München 1984. Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. Neubearbeitung. Leipzig 1983 ff. Encyclopaedia Judaica. Das Judentum in Geschichte und Gegenwart. 10 Bde. A - L . Berlin 1928-1934. Enzyklopädie des Märchens. Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung. Hg. v. Kurt Ranke zusammen mit Hermann Bausinger u. a. Berlin, New York 1977 ff. Johann Samuel Ersch, Johann Gottfried Gruber (Hg.): Allgemeine Encyclopädie der Wissenschaften und Künste. 167 Bde. Leipzig 1818-1889. Etymologisches Wörterbuch des Deutschen. Hg. v. Wolfgang Pfeifer u. a. Berlin (Ost) 1989. 2 Bde. 21993. Kurt Gärtner u. a.: Findebuch zum mittelhochdeutschen Wortschatz. Mit einem rückläufigen Index. Stuttgart 1992. Frühneuhochdeutsches Wörterbuch. Hg. v. Robert R. Anderson, Ulrich Goebel und Oskar Reichmann. Berlin, New York 1989 ff. Karl-Ernst Georges: Ausführliches Lateinisch-Deutsches Handwörterbuch. 2 Bde. [Leipzig 81913] Repr. Basel 1951 u.ö. Johann Christoph Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst. Leipzig 41751. Repr. Darmstadt 1962.

XII GWb

Hain

Hebenstreit

Heyne HRG HWbPh HWbRh Kayser Kl. Pauly Kluge-Mitzka Kluge-Seebold

Lausberg Lexer LexMA LThK LThK 3 MF

MG

MGG MGG2

Mlat.Wb.

Abgekürzt zitierte Literatur Goethe-Wörterbuch. Hg. v. der Akademie der Wissenschaften der DDR, der Akademie der Wissenschaften in Göttingen und der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Stuttgart u. a. 1978 ff. Ludwig Hain: Repertorium bibliographicum, in quo libri omnes ab arte typographica inventa usque ad annum MD: typis expressi [...] enumerantur vel [...] recensentur. 4 Bde. Stuttgart u.a. 1826 - 1838. Repr. Mailand 1966. Wilhelm Hebenstreit: Wissenschaftlich-literarische Encyklopädie der Aesthetik. Ein etymologisch-kritisches Wörterbuch der ästhetischen Kunstsprache. Wien 21848. Moriz Heyne: Deutsches Wörterbuch. 3 Bde. Leipzig 1890—1895. Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte. Hg. v. Adalbert Erler und Ekkehard Kaufmann. 5 Bde. Berlin 1971-1998. Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hg. v. Joachim Ritter und Karlfried Gründer. Basel, Darmstadt 1971 ff. Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hg. v. Gert Ueding. Tübingen 1992 ff. Wolfgang Kayser: Das sprachliche Kunstwerk. Eine Einführung in die Literaturwissenschaft. Bern, München 1948 u.ö. Der kleine Pauly. Lexikon der Antike. Hg. v. Konrat Ziegler und Walther Sontheimer. 5 Bde. Stuttgart 1964-1975. Friedrich Kluge: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Bearbeitet von Walther Mitzka. Berlin 201967. Friedrich Kluge: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Unter Mithilfe von Max Bürgisser und Bernd Gregor völlig neu bearbeitet von Elmar Seebold. Berlin, New York 22 1989; 23 1995. Heinrich Lausberg: Handbuch der literarischen Rhetorik. Eine Grundlegung der Literaturwissenschaft. 2 Bde. München 1960. Matthias Lexer: Mittelhochdeutsches Handwörterbuch. 3 Bde. Leipzig 1872-1878. Repr. Stuttgart 1992. Lexikon des Mittelalters. 10 Bde. München, Zürich 1980-1999. Lexikon für Theologie und Kirche. Hg. v. Josef Höfer und Karl Rahner. 10 Bde. Freiburg 2 1957-1965. Lexikon für Theologie und Kirche. Hg. v. Walter Kasper. Freiburg 1993 ff. Des Minnesangs Frühling. Unter Benutzung der Ausgaben von Karl Lachmann und Moriz Haupt, Friedrich Vogt und Carl von Kraus bearbeitet von Hugo Moser und Helmut Tervooren. Stuttgart 37 1982. Monumenta Germaniae Histórica. Hannover, Leipzig 1826 ff. SS — Scriptores. SS rer. Germ. — Scriptores rerum Germanicarum in usum scolarum separatim editi. Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik. Hg. v. Friedrich Blume. 17 Bde. Kassel, Basel 1949-1986. Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik. Begründet von Friedrich Blume. 2., neubearbeitete Ausgabe hg. v. Ludwig Finscher. 20 Bde. Kassel u. a. 1994 ff. Mittellateinisches Wörterbuch bis zum ausgehenden 13. Jh. Hg. v. der Bayerischen Akademie der Wissenschaften und der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. München 1967 ff.

Abgekürzt zitierte Literatur OED Paul-Betz Paul-Henne PL Quintilian

RAC

RDK RGG RL 1 RL 2

Robert

Sanders

Scaliger

Schweikle Schulz-Basler Splett Stammler Sulzer Thesaurus TRE Trübner VL

XIII

The Oxford English Dictionary. Hg. v. J. A. Simpson und E. S. C. Weiner. 20 Bde. Oxford 21989. Hermann Paul: Deutsches Wörterbuch. Bearbeitet von Werner Betz. Tübingen 71976. Hermann Paul: Deutsches Wörterbuch. Vollständig neu bearbeitete Auflage von Helmut Henne und Georg Objartel. Tübingen 9 1992. Patrologiae cursus completus. Series Latina. Hg. v. J. P. Migne. 221 Bde. Paris 1844-1865. Marcus Fabius Quintilianus: Institutionis oratoriae libri XII. Ausbildung des Redners. Hg. und übers, v. Helmut Rahn. 2 Bde. Darmstadt 1972, 1975. Reallexikon für Antike und Christentum. Sachwörterbuch zur Auseinandersetzung des Christentums mit der antiken Welt. Hg. v. Theodor Klauser, Ernst Dassmann u. a. Stuttgart 1950 ff. Reallexikon zur Deutschen Kunstgeschichte. Hg. v. Otto Schmitt u. a. Bde. 1 - 5 Stuttgart 1937-1967. Bd. 6ff. München 1973 ff. Die Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft. Hg. v. Kurt Galling. 6 Bde. Tübingen 3 1957-1965. Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte. Hg. v. Paul Merker und Wolfgang Stammler. 4 Bde. Berlin 1925-1931. Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte. Bd. 1—3 hg. v. Werner Kohlschmidt und Wolfgang Mohr. Berlin 2 1958-1977. Bd. 4 hg. v. Klaus Kanzog und Achim Masser. Berlin 21984. Le grand Robert de la langue française. Dictionnaire alphabétique et analogue de la langue française. Hg. v. Alain Rey. 9 Bde. Paris 2 1985. Daniel Sanders: Deutscher Sprachschatz geordnet nach Begriffen zur leichten Auffindung und Auswahl des passenden Ausdrucks. Ein stilistisches Hülfsbuch für jeden Deutsch Schreibenden. 2 Bde. Hamburg 1873. Repr. Tübingen 1985. Julius Caesar Scaliger: Poetices libri septem = Sieben Bücher über die Dichtkunst. Unter Mitwirkung von Manfred Fuhrmann hg. und übers, v. Luc Deitz und Gregor Vogt-Spira. Stuttgart-Bad Cannstatt 1994 ff. Metzler Literaturlexikon. Stichwörter zur Weltliteratur. Hg. v. Günther und Irmgard Schweikle. Stuttgart 1984; 21990. Deutsches Fremdwörterbuch. Begonnen v. Hans Schulz, fortgeführt von Otto Basler. 7 Bde. Straßburg u. a. 1913-1988. Jochen Splett: Althochdeutsches Wörterbuch. Berlin u. a. 1993. Wolfgang Stammler (Hg.): Deutsche Philologie im Aufriß. 3 Bde. Berlin 1952-1959, 2 1957-1969. Johann Georg Sulzer: Allgemeine Theorie der schönen Künste. 4 Bde. Leipzig 2 1792-1794. Repr. Hildesheim 1967-1970. Thesaurus linguae latinae. Ed. auctoritate et Consilio Academiarum quinqué Germanicarum [...] et al. Leipzig 1900 ff. Theologische Realenzyklopädie. Hg. v. Gerhard Krause und Gerhard Müller. Berlin, New York 1974 ff. Trübners Deutsches Wörterbuch. Hg. v. Alfred Götze, Walther Mitzka u. a. 8 Bde. Berlin 1939-1957. Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. Hg. v. Kurt Ruh u. a. Berlin, New York 21978 ff.

XIV Weigand Wilpert Zedier

Abgekürzt zitierte Literatur Friedrich L. K. Weigand: Deutsches Wörterbuch. 3 Bde. Gießen 5 1909. Gero von Wilpert: Sachwörterbuch der Literatur. Stuttgart 71989. Johann Heinrich Zedier (Hg.): Großes vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschaften und Künste. 64 Bde. Halle, Leipzig 1732-1750. Repr. Graz 1961-1964.

Periodika AAA ABÄG AfdA AfK AGB Annales ESC ASNSL BIOS BNF Börsenblatt DA DaF DS DU DVjs EG FMLS FMSt GGA GR GRM GWU HistJb IASL JbFDH JbIG JbLH JEGP KZfSS LiLi LingBer LitJb LWU MfdU MIÖG MittellatJb MLN MLR

Arbeiten aus Anglistik und Amerikanistik Amsterdamer Beiträge zur älteren Germanistik Anzeiger für deutsches Altertum und deutsche Literatur Archiv für Kulturgeschichte Archiv für Geschichte des Buchwesens Annales. Economies, Sociétés, Civilisations Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen Zeitschrift für Biographieforschung und Oral History Beiträge zur Namenforschung Börsenblatt für den deutschen Buchhandel Deutsches Archiv für Geschichte des Mittelalters; ab 8/1951: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters Deutsch als Fremdsprache Deutsche Sprache. Zeitschrift für Theorie, Praxis, Dokumentation Der Deutschunterricht. Beiträge zu seiner Praxis und wissenschaftlichen Grundlegung (Stuttgart 1948-1982, Velber 1983 ff.) Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte Etudes Germaniques Forum for Modern Language Studies Frühmittelalterliche Studien Göttingische Gelehrte Anzeigen Germanic Review Germanisch-romanische Monatsschrift Geschichte in Wissenschaft und Unterricht Historisches Jahrbuch der Görresgesellschaft Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts Jahrbuch für Internationale Germanistik Jahrbuch für Liturgik und Hymnologie The Journal of English and Germanic Philology Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie LiLi. Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik Linguistische Berichte Literaturwissenschaftliches Jahrbuch der Görres-Gesellschaft Literatur in Wissenschaft und Unterricht Monatshefte für den deutschen Unterricht Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung Mittellateinisches Jahrbuch Modern Language Notes Modern Language Review

Periodika Mu NLH PBB PMLA PTL Rev. Int. Phil. RQ Schiller-Jb. STZ SuF SuLWU TeKo ThR WB WW ZÄAK ZADSV ZfD ZfdA ZfdPh ZfdU ZfG ZrPh ZThK

Muttersprache New Literary History Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur Publications of the Modern Language Association of America A journal for descriptive poetics and theory of literature Revue internationale de philosophie Renaissance Quarterly Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft Sprache im technischen Zeitalter Sinn und Form Sprache und Literatur in Wissenschaft und Unterricht Text und Kontext Theologische Rundschau Weimarer Beiträge Wirkendes Wort Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft Zeitschrift des Allgemeinen Deutschen Sprachvereins Zeitschrift für Deutschkunde Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur Zeitschrift für deutsche Philologie Zeitschrift für den deutschen Unterricht Zeitschrift für Germanistik Zeitschrift für romanische Philologie Zeitschrift für Theologie und Kirche

XV

Sonstige Abkürzungen Die Bücher der Bibel werden abgekürzt nach LThK 3 . =

t ae. afrz. ahd. am. aprov. arab. art. Art. asächs. AT Bd./Bde./ Bdn. begr. BegrG bes. Bl. c. cap. d. Gr. Diss. dt. ebd. engl. erw. Expl f. [Zahl] [Zahl] f. Fase.

ff. frnhd. ForschG Fr. frz. Fs. gest. ggfgriech.

ist gleich gestorben altenglisch altfranzösisch althochdeutsch amerikanisch altprovençalisch arabisch articulus Artikel altsächsisch Altes Testament Band/Bände/ Bänden begründet Begriffsgeschichte besonders Blatt carmen capitulum der Große Dissertation deutsch ebenda englisch erweiterte Fassung Explikation folium folgende Fasciculus (mehrere) folgende frühneuhochdeutsch Forschungsgeschichte Fragment französisch Festschrift für gestorben gegebenenfalls (alt)griechisch

H. Habil. Hb./-hb. Hg. hg. v. Hs. ital. IVG Jb./-jb. Jg·

Jh./Jhs. Kap. lat. lib. Lit masch. mhd. mlat. mnd. mnl. Ms. nd. NF nl. NT obdt. o.J. o.O. Pers. port. pr. praef. ad prov. q·

[Zahlf Reg. Repr. russ.

Heft Habilitationsschrift Handbuch / -handbuch Herausgeber/ Herausgeberinnen herausgegeben von Handschrift italienisch Internationale Vereinigung für germanische Sprachund Literaturwissenschaft Jahrbuch/-jahrbuch Jahrgang Jahrhundert/Jahrhunderts Kapitel lateinisch liber Literatur(Verzeichnis) maschinenschriftlich mittelhochdeutsch mittellateinisch mittelniederdeutsch mittelniederländisch Manuskript niederdeutsch Neue Folge niederländisch Neues Testament oberdeutsch ohne Jahresangabe ohne Ortsangabe Person portugiesisch prooemium praefatio ad provençalisch quaestio recto Register Reprint, fotomechanischer Nachdruck russisch

Sonstige Abkürzungen s. SachG sc. SJ span. St. s. v. tit. tschech. u. a. u. ä. u. a.m.

siehe Sachgeschichte scilicet Societas Jesu (Jesuitenorden) spanisch Stück sub voce (unter dem Stichwort) titulus tschechisch und andere/und anderswo und ähnlich(es) und andere(s) mehr

übers, v. u.ö. usw. V.

[Zahl]v v.a. vgl. vs. Wb./-wb. WortG z. B. zit. n. Zs. z.T.

XVII übersetzt von und öfter und so weiter Vers verso vor allem vergleiche versus (im Gegensatz zu) Wörterbuch/-Wörterbuch Wortgeschichte zum Beispiel zitiert nach Zeitschrift zum Teil

Verzeichnis der Artikel in Band II Die Herausgeber haben sich jeweils mit sämtlichen Artikeln dieses Bandes befaßt und sie untereinander wie mit den Verfasserinnen und Verfassern diskutiert. Die Herausgeber-Kürzel hinter den Lemmata der folgenden Liste (B = Georg Braungart, F = Harald Fricke, G = Klaus Grubmüller, M = Jan-Dirk Müller, V = Friedrich Vollhardt, W = Klaus Weimar; ohne Kürzel = Herausgeber-Artikel) geben an, welcher Herausgeber jeweils die Korrespondenz geführt und die Schlußredaktion verantwortlich überwacht hat: Häßlich (V) Haiku (F) Handlung (B) Handschrift (G) Happening (V) Hausbuch (M) Hausväterliteratur (M) Hebung (G) Heimatliteratur (B) Heldendichtung (G) Hermeneutik! Hermeneutik2 (V) Hermeneutischer Zirkel Hermetik (B) Hermetismus (V) Heroide (V) Heroisch-galanter Roman (B) Hexameter (F) Hexenliteratur (M) Hieroglyphik (F) Historie (M) Historischer Roman (V) Historisches Drama (B) Historismus (V) Hodoeporicon (M) Höfisch-historischer. Roman (B) Höfische Klassik (G) Höfische Verhaltenslehre (B) Höfischer Roman (G) Hörer (M) Hörspiel (F) Hofkritik (M) Hofzucht (M) Homilie (G)

Homologie (M) Honorar (M) Humanismus! (M) Humanismus2 (M) Humor (M) Humoreske (B) Hymne (M) Hymnus (M) Hypertext (B) Ideal (V) Identifikation (F) Ideologie (V) Ideologiekritik (V) Idylle (B) Illusion (V) Illustration (B) Imitätio (B) Imprese (F) Impressionismus (Β) Improvisation (M) Information Inkunabel (G) Innere Emigration (V) Innerer Monolog (B) Inspiration (B) Institution (V) Inszenierung (F) Integumentum (G) Intention (V) Interkulturalität (F) Interlinearversion (G) Intermezzo (M) Interpretation (F)

Verzeichnis der Artikel in Band Π Interpunktion (G) Intertextualität (M) Interview (V) Inventio (B) Invocatio (B) Ironie (F) Isometrie (G) Isotopie (G) Jakobinismus (V) Jesuitendrama (B) Jiddische Literatur (G) Journalismus (F) Junktion (G) Kabarett (F) Kadenz (G) Kalender (B) Kalendergeschichte (B) Kalligraphie! (M) Kalligraphie2 (B) Kanon (V) Kantate (B) Kanzone(G) Kapitel (M) Karikatur (B) Karneval (M) Kasus (G) Katachrese (M) Kataphorik (F) Katechese (G) Katharsis (V) Kenning (G) Kinder- und Jugendliteratur (B) Kinderverse (B) Kirchenlied (M) Kitsch (V) Klassik, (V) Klassik2 (V) Klassiker (V) Klassizismus (M) Knittelvers (G) Kohärenz (G) Kolon (G) Kolophon (G) Kolportage (F) Komik, komisch (M) Komische Person (B) Komisches Epos (F) Kommentari (V) Kommentar2 (G) Kommunikation (V)

Kommunikationstheorie (V) Komödie (B) Komparatistik (F) Kompilation (M) Komplimentierbuch (B) Komposition (M) Konkordanz (G) Konkrete Poesie (B) Konnotation (F) Kontext (V) Kontrafaktur (F) Kreuzzugslyrik (M) Kriminalroman (V) Kritische Theorie (V) Kryptogramm (F) Künstlichkeit (F) Kulturtheorie (V) Kulturwissenschaft (M) Kunst (F) Kunstlied (F) Kunstmärchen (G) Kurzgeschichte (F) Kurzprosa (F) Laienspiel (F) Laienspielbewegung (G) Lakonismus (F) Langvers (G) Lautgedicht (B) Lecture (M) Leerstelle (F) Legende (G) Lehrdichtung (V) Leich (G) Leitmotiv (F) Lesart, Variante (G) Lesedrama (B) Lesen (B) Leser (B) Lexikon (B) Libretto (F) Lied2 (G) Lied3 (F) Limerick (F) Lindenschmidt-Strophe (F) Linguistische Poetik Literarische Anthropologie (V) Literarische Gesellschaft (G) Literarische Reihe (F) Literarisches Leben (F) Literat (V) Literatur

XIX

XX

Verzeichnis der Artikel in Band II

Literaturarchiv (M) Literaturdidaktik (M) Literaturgeschichte (M) Literaturgeschichtsschreibung (V) Literaturkritik (V) Literaturpreis (F) Literaturpsychologie (F) Literatursoziologie (M) Literatursprache (G) Literatursystem (F) Literaturtheorie (B) Literaturwissenschaft Liturgie Liturgische Texte (M) Losbuch (G) Lügendichtung (F) Lyrik Lyriktheorie (F) Lyrisch (F) Lyrisches Ich

Mirakel (M) Mittellateinische Literatur (M) Mnemonik (B) Moderne (B) Mögliche Welten (F) Monodrama (B) Monolog (B) Montage (V) Moralistik (M) Moralität (M) Motiv (B) Motivgeschichte (B) Motivierung (F) Motto 2 (M) Musical (F) Mysterienspiel Mystik (G) Mythisches Analogon (F) Mythologie (Έ) Mythos (B)

Madrigal (B) Märchen (G) Maere (M) Mäzen (G) Magazin (B) Magischer Realismus (V) Makkaronische Dichtung (M) Manier, Manierismus (M) Manifest (V) Mariendichtung (G) Marxistische Literaturwissenschaft (V) Maske (B) Mediävistik Medien (B) Meistergesang (G) Melodie (G) Melodrama (F) Memoria (B) Mentalitätsgeschichte (M) Merkvers (G) Metapher (F) Metaphernkomplex (M) Metaplasmen (F) Methode (V) Methodologie (V) Metonymie (F) Metrik (G) Mimesis2 (V) Mimik2 (V) Minnerede (G) Minnesang (G)

Nachkriegsliteratur (V) Nachlaß (B) Nachspiel (F) Naiv (B) Narrensatire (M) Nationalsozialistische Literatur (V) Naturalismus (B) Naturgeschichte (M) Naturlyrik (B) Nebentext (F) Neidhartiana (M) Neologismus (G) Neue Sachlichkeit (V) Neue Subjektivität (B) Neulateinische Literatur (M) Neuromantik (F) New Criticism (Β) New Historicism (M) Niederdeutsche Literatur (G) Nonsens (F) Norm (V) Nouveau roman (V) Novelle (M) Obszön (F) Ode, Odenstrophe (F) Öffentlichkeit (M) Offenes Drama (Β) Onomastik (G) Onomatopöie Oper (F)

Verzeichnis der Artikel in Band II Operette (F) Oral poetry (M) Oralität (M) Oratorium (F) Ordo artificialis/naturalis (Β)

XXI

Originalität Ornatus (Β) Orthographie (G) Osterspiel

Korrekturhinweis zu Band I: Der Artikel .Autorisation' wurde verfaßt von Gunter Martens und bearbeitet durch die Herausgeber des Reallexikons.

H Habitus

Kulturtheorie

Häßlich Wertbegriff für Erscheinungen, die aufgrund ihrer Gestalt oder ihrer Bedeutung ablehnende Gefühle, Widerwillen, Ekel hervorrufen. Expl: ,Häßlich' kann, wie andere ethische und ästhetische Wertbegriffe auch (/" erhaben, s komisch, s schön, s tragisch usw.), auf objektive Erscheinungen bezogen sein: auf tote Landschaften, monströse Tiere, verkrüppelte, dahinsiechende oder verkommene Menschen, bestialische Opferriten, mißlungene oder abstoßende Kunstwerke. Das Häßliche kann dabei zugleich auf subjektiven Reaktionen beruhen: auf physischen Ekelgefühlen, auf der Verletzung des ästhetisch gebildeten Geschmacks, auf emotionaler Abwehr, moralischem Abscheu, religiösem Schrecken und Angst. Die ästhetischen, emotionalen, moralischen und religiösen Empfindungen des Häßlichen sind stark von den jeweils herrschenden gesellschaftlichen Wertordnungen geprägt. WortG: Häßlich geht auf mhd. hazlich ,hassenswert', .feindselig' zurück. Häßlich wurde anfangs überwiegend auf Lebewesen und auf Verhaltensweisen, Sitten, Handlungen von Menschen angewendet, die der eigenen Lebensweise und den eigenen Sitten gegenüber als unangenehm, widerwärtig oder feindselig empfunden wurden (z. B. ,Laurin', v. 716: „Her Witege und her Dietrich Die wären im gar hazlich"; vgl. Trübner 3, 342 f.). In der Bedeutung von .maßlos', .unharmonisch', .ungeformt' (griech. άμορφος [ámorphos], lat. deformis) wird der Begriff des Häßlichen schon seit der Antike nicht bloß als moralische und phy-

siologische, sondern auch als kunstkritische und ästhetische Kategorie verwendet, die etwa seit dem 16. Jh. den moralischen Gebrauch von häßlich zurückzudrängen beginnt (HWbPh 3, 1003-1005; Paul-Betz, 293). Als häßlich wird jetzt das von den anerkannten Mustern des Geschmacks Abweichende in der Kunst und im sozialen Leben bezeichnet, also all das, was in der sinnlichen Wahrnehmung, im moralischen und religiösen Empfinden als widerlich, barbarisch, gemein, bestialisch, teuflisch erlebt wird (DWb 10, 556 f; Paul-Henne, 390). BegrG: Von der Antike bis in die Neuzeit hinein wird das Häßliche ontologisch als Einbruch des Chaotischen in das Wohlgeordnete, des stofflich Materiellen in das Formvollendete, des sinnlich Endlichen und Ungesetzlichen in das geistig Ewige und Göttliche erklärt. So entsteht für Piaton Häßliches, wenn das Göttliche durch das Nichtseiende zersetzt wird (.Symposion' 211b); für Plotin ist die ungeformte, chaotische Materie das Häßliche schlechthin (,Enneaden' 1,6,2). Aristoteles läßt hingegen das Häßliche in der Sphäre der Kunst gelten, sofern es in der Form des Lächerlichen nicht Schmerz hervorruft (,Poetik', 1449 a 36). Die Komödie, Parodie, Karikatur, die karnevalistische Lachkultur überhaupt (Bachtin; /" Karneval) wurden zur Domäne des Häßlichen. Im Mittelalter reicht das Häßliche bis in die Problemdimension der Rechtfertigung Gottes angesichts des Bösen in der Schöpfung. Was dem von der Erbsünde geschlagenen Menschen als häßlich erscheint, ist für ihn so nur aufgrund seiner unvollkommenen Einsicht in die göttliche Ordnung der Schöpfung (Augustinus, ,De Genesi contra Manichaeos', 16,25). In der Darstellung der Leiden der Märtyrer nimmt das Häßliche in der Form von Grausamkeit, Bestialität, Folter einen großen Raum ein.

2

Häßlich

In der Neuzeit verlagert sich die Erörterung des Häßlichen zunehmend in die Kunsttheorie und / Ästhetik. Das Häßliche wird aufgefaßt als Mangel und als Negation des Schönen, doch hat es schon Dürer unter der Forderung der Wahrhaftigkeit künstlerischer Darstellung anerkannt. Im 18. Jh. wird das Häßliche nicht mehr nur als künstlerischer Mangel verurteilt und allenfalls als Mittel der Darstellung der Abnormitäten und Abscheulichkeiten (Sulzer) des Menschen geduldet, sondern spielt nach dem Vorbild der ,Poetik' des Aristoteles in der Darstellung des Komischen eine wichtige Rolle, wenn auch Lessing (,Laokoon l , cap. 23-25) und Herder (.Plastik' 2, cap. 3) es wiederum von der Sphäre der Kunst ausgeschlossen wissen wollten. F. Schlegel forderte schließlich als erster eine .Theorie des Häßlichen', wobei er sich auf die Darstellungen des Häßlichen in der romantischen, d. h. christlichen Kunst berief (,Über das Studium der griechischen Poesie', 1795/97, 311 f.). Diese Theorie sollte aber nur einen Leitfaden für die Aufdeckung künstlerischer und ästhetischer Vergehen, einen .ästhetischen Kriminalkodex' abgeben. Auch die spekulative Ästhetik (Schelling, Solger, Hegel, Rosenkranz) ging, ebenso wie die Formästhetik (Robert Zimmermann), in der Bestimmung des Begriffs von einem normativen SchönheitsbegrifT aus, von dem her seine Negation, das Häßliche, als das Formlose, Unvollkommene, Zersetzende bestimmt wurde. Die Auflösung des klassizistischen Kunstideals seit Mitte des 19. Jhs. schafft die Voraussetzung, das Häßliche nicht mehr nur per negationem, sondern als eigenständiges Ausdrucks- und Darstellungsphänomen im Kontext des Wertewandels in modernen Gesellschaften zu sehen. Kritische Friedrich Schlegel-Ausgabe. Hg. v. Ernst Behler. Bd. 1. Paderborn, München 1979. - Sulzer 2, S. 457—459. — Robert Zimmermann: Ästhetik als Formwissenschaft. Wien 1865, § 161 f. SachG: Zwar können die subjektiv gleichen Erfahrungen des Häßlichen sich auf unterschiedliche Eigenschaften von Erscheinungen beziehen, wie auch ein und die gleichen Erscheinungen in verschiedenen Rezipienten oder Gesellschaften unterschiedliche

emotional wertende Stellungnahmen hervorrufen können. Das Häßliche ist dadurch noch keineswegs eine individuell, gesellschaftlich, kulturell und geschichtlich relative Eigenschaft, da den sozial und kulturell variablen Wertungsweisen allgemeine anthropologische Anlagen wie der Selbsterhaltungstrieb und das emotionale Leben zugrundeliegen. Trotz der anthropologischen Grundgegebenheiten erweist sich das Häßliche in seinen Inhalten und Ausdrucksformen jedoch als stark abhängig von gesellschaftlichen, (kultur)geschichtlichen und genderbedingten Ausprägungen. In der Kunst der f Moderne gewinnt das Häßliche mit all seinen Erscheinungsformen einen wachsenden Einfluß auf die Literatur, Malerei, Plastik, später auch auf Film und Fotografie, sowohl hinsichtlich der Thematik als auch der Darstellungsmittel und der Darstellungsweise. Durch antiklassische und avantgardistische Kunstströmungen (Romantik, Naturalismus, Futurismus, Expressionismus, Surrealismus, Pop Art usw.) sind im Gegensatz zu konservativen ästhetischen und künstlerischen Normen das Häßliche, Provokante, Schockierende, f Groteske vielfach zu künstlerischen Werten aufgestiegen. Man spricht von den „nicht mehr schönen Künsten" (Jauß) und einer „doppelte^] Ästhetik" (Zelle). Darüber hinaus wird das Häßliche auch wieder als soziokulturelle Kategorie verwendet (,the ugly American', ,der häßliche Deutsche' usw.). Doch hat das Häßliche in der Kunst seit der 2 Artistik der frühneuzeitlichen Kunst und Literatur, in diesem Sinne auch epochenübergreifend verwendet. Expl: Manier heißt die artistische Verfahren demonstrativ ausstellende Gestaltung eines Werks der Bildenden Kunst oder der Literatur, auch — allerdings schwerer beschreibbar — der Musik und der angewandten Künste. Manierismus]·. Davon abgeleitet bezeichnet ,Manierismus' als kunsthistorischer Begriff eine Tendenz europäischer Kunst im 16. Jh. (z. B. Pontormo, Parmigianino, El Greco; vgl. Frey), wobei es manieristische Momente schon in der Hoch-Renaissance

gibt (Baumgart) und auch die Künstler des Barock (z. B. Rubens) die ästhetischen Spielräume des Manierismus des 16. Jhs. nützen. Deshalb läßt sich Manierismus kunstgeschichtlich nur schwer als eigenständige Epoche von Renaissance und Barock abgrenzen. Das gilt ebenso für die Literatur, in der manieristische Verfahren später als in der Kunstgeschichte einsetzen und sich bis in die Zeit um etwa 1700 halten, so daß sich die begrifflichen Konzepte ,Manierismus' und /" Barock überlagern, ja miteinander konkurrieren (Barner 1975; Bahner). Die poetischen Verfahren des Manierismus! sind aus der Perspektive des 18. und 19. Jhs. als SCHWULST diskreditiert worden. Manierismus2: Daneben wird Manierismus' in Kunst- wie Literaturgeschichte als epochenübergreifender Stilbegriff verwendet. Das manieristische Kunstwerk erscheint besonders formbewußt gestaltet und reflektiert. Es verweist auf seine ästhetischen Verfahren und sucht die originell wirkende Abweichung (y Originalität) von ästhetischen Traditionen und Standards (Zymner 1995a). Den Manierismus der Bildenden Kunst charakterisieren u. a. Tendenzen zur Verselbständigung und freien Kombination heterogener bildnerischer Elemente, Verzicht auf übersichtliche Bildorganisation etwa durch eine perspektivische Darstellung, Verzerrung der Proportionen (Drehung und Überlängung der Figuren, die sogenannte Figura serpentinata, Verkleinerung des Kopfes gegenüber dem Körper), starke Farbkontraste, Betonung der Bewegung. Den literarischen Manierismus kennzeichnen inhaltlich ein Interesse am Hermetischen (/* Hermetismus), Traumhaften, Dunklen, Bizarren und /" Grotesken, formal eine Vorliebe für einen rhetorischen Asianismus (/" Attizismus; H. J. Lange): Häufung von dunklen Metaphern, rhetorischen Figuren und Tropen, tiefsinnig erscheinenden /" Anspielungen, geistreichen und überraschenden Wendungen (/" Arguita) und ? Concetti, Wortspielen und Lautmalerei. Die manieristische Erzählweise verzichtet auf übersichtliche Erzählverläufe; die Erzählung verästelt sich in /" Digressionen und labyrinthischer Komplexität. Diese Merkmale, an Werken des

Manier, Manierismus] 2 Manierismus! abgelesen, dienen der Bestimmung eines zu verschiedenen Epochen auftretenden antiklassischen Stils (/" Klassizismus), des Manierismus2. WortG: Das Wort Manier bildet mit Manierismus, manieriert!Manieriertheit, manieristisch, manierieren ein Wortfeld, das auf lat. manus ,Hand' und gallo-romanisch manuarius .handlich',,geschickt' (dazu Plural manuaria auch: .Benehmen') zurückgeht (Kluge-Seebold, 459; vgl. Treves, Boehm, Lachnit, Lindemann, Zymner 1995a). Im afrz. manière, mhd. maniere, ,Art und Weise' (etwas anzufassen), ,Sich-Geben', ,Betragen' (Gottfried von Straßburg, p r i stan', v. 4572: „vil rehte in ir maniere") und in ital. maniera (seit dem 15. Jh., ähnlich in anderen europäischen Sprachen) kommt zum semantischen Merkmal der körperlichen Tätigkeit bzw. der Handlung und des Verhaltens das Merkmal der besonderen, charakteristischen' Ausprägung hinzu. Die hier angelegte Bedeutung von Manier als in der Gesellschaft wirksames und dort auch bewertetes Betragen (DWb 12, 1552 f.) verstärkt sich in frühneuzeitlichen Verhaltenslehren, zuerst festgeschrieben bei Castiglione 1528 im ,Libro del Cortegiano' (für Deutschland: Weise). Im Plural Manieren ist sie bis heute erhalten geblieben. Darüber hinaus bezeichnet maniera seit der ital. Frührenaissance den besonderen Stil eines Kunstwerks. Unterschieden wurden einerseits allgemeine Charakteristika, z. B. eine maniera tedesca (Gotik), eine maniera bicantinica, eine maniera greca, zum anderen die Prägung durch die Individualität des Künstlers, so traditionsstiftend bei Giorgio Vasari (,Le vite dei più eccelenti pittori', 1550), bei dem maniera die handwerkliche Arbeitsweise mit persönlicher und stilistischer Eigenart zusammenschließt (Treves, Link-Heer 1986, Smyth). In der Kunstgeschichte und -theorie des 16. (Dolce) und besonders des 17. Jhs. (Bellori) wird jedoch ,Manier' im Sinne einer forcierten, im Kunstwerk zur Schau gestellten ästhetischen Originalität oder einer Nachahmung der Besonderheit eines anderen Künstlers zunehmend negativ konnotiert, weil das Prinzip der Naturnachahmung mißachtet werde.

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Manierismus ist von Manier im letztgenannten Sinne abgeleitet. Das Wort tritt in der frz. Form maniérisme erstmals 1662 auf, 1795/96 in der ital. Form manierismo (Lanzi, 140), hier gleich in negativer Bedeutung (,gesucht', .unwahr', .unnatürlich') für die italienische Kunst nach Raffael (Zymner 1994, 1995a, mit weiteren Literaturhinweisen; Lindemann). In dieser epochenbezogenen Stilkritik zeichnet sich schon die Verwendung von Manierismus als kunsthistorischem Epochenbegriff ab, wie er dann in der 2. Hälfte des 19. Jhs. durch J. Burckhardt (,Der Cicerone', 1855) und insbesondere durch H. Wölfflin (.Die klassische Kunst', 1899) ins Dt. eingeführt und ab etwa 1920 besonders durch M. Dvorák, H. Voss und W. Friedländer fest etabliert wurde. Durch die Abgrenzung gegenüber der Kunst der Renaissance wurde der frühneuzeitliche Manierismus! als Phänomen des Zerfalls der Renaissance und der Auflösung ihrer Kunstprinzipien begriffen und in ihm entweder kritisch ein Zeichen des Niedergangs oder aber des Anbruchs der Moderne und der sich nun mehr und mehr durchsetzenden ? Autonomie der Kunst gesehen (Shearman, Hofmann, Lachnit). Beide Konriotationen gehen in die Bedeutung von Manierismus2 als epochenübergreifendes Stilphänomen ein. Die Semantik von Manierismus in der Kunsttheorie des 20. Jhs. macht verständlich, warum das Wort auch in die Psychologie einwandern konnte, wo es bestimmte Formen des Realitätsverlustes bezeichnet (Lindemann). Luigi A. Lanzi, Storia pittorica della Italia [1795/ 96], 3 Bde. Florenz 1968.

BegrG: Durch die Begriffe , Manier' und ,Manierismus' wird erst spät erfaßt, was als Gestaltungs- und Schreibweise längst eine ästhetische Möglichkeit war. Mit Vasari wird ,Manier' als Inbegriff der besonderen künstlerischen Gestalt in die Kunstdiskussion eingeführt, wobei darunter sowohl individuelle Besonderheit und ? Originalität verstanden werden kann als auch die Prägung durch ein bestimmtes überindividuelles Muster. Im Dt. wendet erst die Kunstkritik des 18. Jhs. den Begriff auf die eigentümliche Gestaltungsweise eines

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Manier, Manierismus 1 2

Künstlers an. Negativ konnotiert (,manieriert') ist ein artistischer Gestaltungswille, der das Prinzip der Naturnachahmung verletzt (Sulzer), nur sich selbst in jedem Kunstwerk wiederholt (Goethe) oder durch keine ,Idee' reguliert wird (Kant; vgl. DWb 12, 1552 f.; Boehm, 724; Zymner 1995a, 15). Gegen die negative Semantik radikaler Subjektivität versucht Goethe, Manier als Vorstufe zum /" Stil zu bestimmen, ohne die Begriffsgeschichte dadurch nachhaltig prägen zu können (,Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Stil', 1789; vgl. Niewöhner, Scheuer). Für Hegel ist die „bloße Manier" nur partikulär und subjektiv. Davon zu unterscheiden ist die „echtere Manier", weil sich der Künstler hier „in allgemeiner Weise an die Natur der Sache hält" und so auf dem Weg zum Stil ist (Hegel, 376). Trotzdem bleibt die negative Semantik von Manier und manieriert vorherrschend. Sie geht in eine dichotomische, klassizistisch geprägte Stiltypologie ein (natürlich vs. künstlich, regulär vs. irregulär, echt vs. unecht, wesentlich vs. dekorativ, klassisch vs. romantisch, objektiv vs. subjektiv usw.); diese Dichotomie läßt sich von der Kunst des 16./17. bzw. des 18. Jhs. ablösen und lädt zur überhistorischen, systematischen Anwendung des Begriffs ein. Während der Begriff in der Kunstgeschichte überwiegend ein Epochenbegriff ist, verwendet die Literaturwissenschaft ihn daneben epochenübergreifend, wirkungsvoll vertreten durch E. R. Curtius (1948). Bei ihm bezeichnet ,Manierismus' „alle literarischen Tendenzen [...], die der Klassik entgegengesetzt sind" (Curtius, 277). Seit Curtius wird Manierismus zwar vor allem auf die Literatur des Barock angewandt; die Attribute manieriert und manieristisch dienen aber auch epochenunabhängig zur Charakterisierung von literarischen Schreibweisen des skizzierten Typs. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke. Bd. 13. Frankfurt 1970.

SachG: Gegenüber der Epochenbezeichnung Manierismusi ist das literaturgeschichtliche Feld manieristischer Tendenzen oder Elemente (Manierismus2) schwer abzugrenzen. Curtius hat in der antiken * Rhe-

torik den Keim für literarischen Manierismus gesehen. In der dritten Phase rhetorischer Textproduktion, der f Elocutio, kann es zu einer hypertrophen ästhetischen Ausgestaltung durch einen sich verselbständigenden /" Ornatus kommen. Jedoch beschränkt sich der Manierismus 2 „nicht auf die Figuren und Tropen der elocutio, sondern erstreckt sich auch auf die inventio und die dispositio" (Zymner 1995a, 54). Dieser als Asianismus (gegenüber dem /" Attizismus) bezeichnete Stil ist in der Antike selbst schon kritisiert worden. Er verstärkt sich in der spätantiken Poesie und Rhetorik; diese wirken zwar — wie auch die klassischen Muster — im lateinischen Mittelalter nach, doch verliert mit dem Fortfall der rhetorischen Dichotomie für die mittelalterliche Literatur .Manierismus' als Beschreibungskategorie ihren Sinn; sie kann allenfalls per analogiam aus anderen Epochen auf verwandte Stilphänomene in der mittelalterlichen Literatur, zumal in der Volkssprache, übertragen werden (etwa auf Wolfram von Eschenbach). Erst mit der Wiederentdeckung der klassischen Rhetorik (s Klassik]) im Humanismus2 wird die manieristische Alternative im Sinne von Manierismus2 bedeutsam. ,Manieristische' Züge enthalten etwa die zwar vom Humanismus beeinflußten, doch sich der klassizistischen Schreibnorm entziehenden, volkssprachige literarische Muster adaptierenden Romane von Rabelais und Fischart. Die manieristische Tradition der spätantiken Rhetorik dagegen kommt erst in der Literatur des Späthumanismus und des Barock zum Durchbruch (Spahr, bes. 552 ff.), nachweisbar in ganz Europa, jedoch stark historisch und regional differenziert (z.B. Marinismus, Gongorismus, Petrarkismus). Der Manierismus wird zum europäischen Epochenstil. Für den europäischen Barockmanierismus wurden besonders B. Gracián und E. Tesauro wichtig durch den Entwurf einer Pragmatik arguter Selbstdarstellung des gewandten Höflings (Argutia). Im Deutschen Reich gilt vor allem der Hof Kaiser Rudolfs II. (1576—1612) in Prag als Zentrum des Manierismus mit seinen Wunderkammern, Sammlungen von Kuriositäten und Kunst-

Manier, Manierismus,^ werken (Arcimboldo; vgl. ,Prag um 1600'). Literarisch setzt sich hier ein manieristischer Stil erst um die Mitte des 17. Jhs. durch, so in der Zweiten Schlesischen Dichterschule (Hofmannswaldau, Lohenstein) oder bei den Nürnberger Pegnitz-Schäfern (Klaj, Birken, Harsdörffer). Einzelne Gattungen wie das /" Figurengedicht (Adler/ Ernst, Ernst, Homayr), die Lyrik überhaupt (Marino, Góngora, Birken, Kuhlmann, Hofmannswaldau; vgl. Henniger) oder das spätbarocke Drama mit seiner exzessiven Bildlichkeit und seinen zugespitzten Rededuellen (Stichomythie, Stichisch) tendieren besonders zu ,manieristischen' Schreibweisen. Mit der Schwulstkritik der rationalistischen Poetik des 18. Jhs. und den Verschiebungen der Semantik von f Geschmack hin zu einer primär ästhetischen Kategorie wurde der Manierismus! verabschiedet (Schwind). Damit verliert der Manierismus seine epochenspezifische Prägung. Manieristische Verfahren in einem weiteren Sinne hat man in volkssprachiger Erzählliteratur des 16. Jhs. (Rabelais, Fischart) und dann seit dem späten 18. Jh. bei Autoren entdeckt, die in Opposition zur Weimarer Klassik2 stehen, wie z. B. Jean Paul (Zymner 1995a; Braungart). Vollends begünstigen Kunst- und Gestaltungsbewußtsein, forcierte Originalität und ästhetische Reflexivität der Moderne in einem stiltypologischen Sinne manieristische Gestaltungsprinzipien. So wurden manieristische Tendenzen im s Symbolismus, s Expressionismus, bei Dada, in der * Isotopie-Ebenen rekonstruieren; sie sind mitunter dem Prinzip der Assoziation verpflichtet (/" Konnotation). Während die Allegorie! eng an den Metaphernbegriff gebunden ist, ist bei der Verwendung der Termini Bildreihe, Bildkoordination und Bildfeld von einem weiter gefaßten Metaphernbegriff auszugehen, der neben der Einzelwortmetapher und der metaphora continua auch andere Formen bildlichen Sprechens wie Vergleich und Gleichnis miteinschließt. Als Bildreihen sind die über einen Text (oder ein Gesamtœuvre) verteilten Abfolgen von Bildern zu verstehen, die demselben Bildfeld entstammen, d. h. jeweils denselben Bildspender für denselben Bildempfanger nutzen. Dagegen können als Bildkoordinationen darüber hinaus auch solche Bildfolgen bezeichnet werden, die nur in der Identität des Bildspenders oder des Bildempfängers übereinstimmen. Das Bildfeld verbindet ein bildspendendes und ein bildempfangendes Feld und ist aufzufassen als die Summe aller möglichen metaphorischen Äußerungen (im Sinne eines erweiterten Metaphernbegriffs) im Umkreis einer Zentralmetapher oder metaphorischen Leitvorstellung; es setzt sich aus verschiedenen Bildelementen (Einzelmetaphern), Teilbildern und Bildvarianten zusammen. Teilbilder können miteinander kombiniert, Bildvarianten gegeneinander ausgetauscht werden; die Grenzen zwischen Teilbild und Bildvariante sind fließend. Das Bildfeld ist ein systemähnliches, aber (durch paradigmatische und syntagmatische Beziehungen) schwach durchstrukturiertes und prinzipiell offenes Gebilde. Da es als Summe aller möglichen Teilbilder und ihrer Varianten auf die Sprache als System zu beziehen ist, kann es in einem in sich kohärenten Text niemals vollständig realisiert wer-

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den. Indem es als Assoziationshintergrund aufgerufen wird, können Metaphern konnotativ präsent sein. WortG/BegrG: Für die Komposita Bildreihe und Bildkoordination läßt sich keine Wortgeschichte nachzeichnen; die beiden Termini sind als Fachbegriffe erst 1966 (Hardt) explizit eingeführt und 1970 (Ruberg) genauer differenziert worden, ohne daß die Forschung sich auf eine breitere Diskussion eingelassen hätte. Der Terminus Bildfeld wurde zuerst 1933 (Fricke) als Synonym für ,Sachgebiet' (im Sinne eines bildspendenden Feldes) und im Gegensatz zum ,Bedeutungsfeld' verwendet. Als metapherntheoretischer Fachbegriff ist .Bildfeld' erst 1958 (Weinrich) in Anlehnung an verschiedene linguistische Feldbegriffe, vor allem an die Wortfeldtheorie, eingeführt worden. Wie das Einzelwort in seiner Bedeutung durch die Feldnachbarn bestimmt ist, wird auch die Einzelmetapher durch ihre Nachbarn im Bildfeld beeinflußt. Doch ist das Bildfeld nicht als Kopplung zweier Wortfelder im Sinne Triers zu verstehen, da es sich hinsichtlich der Relationen zwischen seinen Elementen vom Wortfeld deutlich unterscheidet. Neben dem Wortfeld müssen bei der Diskussion der Bildfeldtheorie auch das Bedeutungsfeld im Sinne lexikalischer Solidaritäten, das Assoziationsfeld und der in der strukturalistischen Semantik entwickelte Begriff der Isotopie-Ebene berücksichtigt werden; erst im Rahmen dieser Diskussion haben sich auch neuere terminologische Benennungen wie Metaphernkomplex und compound metaphor herausgebildet. Das Verhältnis von .Bildfeld' und ,Kollektivsymbol' bedarf noch einer genaueren Klärung. SachGAForschG: Metaphernkomplexe finden sich in unüberschaubar vielen Texten seit der Antike. Als Forschungsproblem ist der Metaphernkomplex jedoch erst mit Weinrichs Elaborierung der Bildfeldtheorie anerkannt worden. Der methodische Ansatz dafür wurde aus der Linguistik gewonnen, zumal aus der in diesem Zusammenhang entscheidenden ,Interaktionstheorie' (y Uneigentlich) von Metapher und /" Kon-

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Metaplasmen

text (Richards, Black; vergleichende Diskussion bei Hülzer, 141-178; Zymner, 11 — 16); doch fanden Weinrichs Thesen in der linguistischen Metaphernforschung, die vor allem auf die Einzelwortmetapher ausgerichtet war, zunächst keine Beachtung. Erst die Metapherntheorie der strukturellen Semantik griff die Bildfeldtheorie wieder auf; in jüngster Zeit hat sich die Kognitive Linguistik (Liebert) diesem Thema zugewandt. In der Literaturwissenschaft wurden Weinrichs Thesen schnell übernommen, aber kaum diskutiert. Eine intensivere kritische Auseinandersetzung mit dem Ziel, die Theorie zu modifizieren, ist erst Anfang der 1980er Jahre (Peil, Wessel) zu konstatieren. Als analytisches Instrumentarium hat die Bildfeldtheorie sich in der neueren literaturwissenschaftlichen Metaphernanalyse (Wessel) und in der (die Toposforschung modifizierenden) historischen Metaphorologie (Schlobach, Peil) bewährt, da sie eine plausible Strukturierung und Eingrenzung des Analysematerials ermöglicht. Der s Poststrukturalismus hat ein geschärftes Bewußt-

sein dafür entwickelt, daß Metaphernkomplexe nicht nur Textkohärenz erzeugen, sondern auch miteinander konkurrieren und damit Textkohärenz untergraben können. Als Beispiel können etwa Schillers Briefe ,Über die ästhetische Erziehung des Menschen' (1795) dienen, mit der konkurrierenden Verwendung von Metaphern des Kampfes/der Herrschaft gegenüber Metaphern des Ausgleichs/der Harmonie zwischen Natur und Vernunft. Lit: /" Allegorese, S Allegorie2, ? Allegorie S Gleichnis, S Katachrese, s Metapher. — Frank Becker u. a.: Moderne Kollektivsymbolik. In: IASL 22 (1997), S. 70-154. - Max Black: Metaphor. In: M. B.: Models and metaphors. Ithaca 1962, S. 25-47. - Alexander Demandt: Metaphern für Geschichte. München 1978. — Axel Drews u. a.: Moderne Kollektivsymbolik. In: IASL, Sonderh. 1 (1985), S. 256-375. - Gerhard Fricke: Die Bildlichkeit in der Dichtung des Andreas Gryphius. Berlin 1933. — Manfred Hardt: Das Bild in der Dichtung. Studien zu Funktionsweisen von Bildern und Bildreihen in der Literatur. München 1966. - Heike Hülzer: Die Metapher. Münster 1987. — Werner Kallmeyer u. a.: Metaphorik. In: W. K. u. a.: Lektürekolleg zur Textlinguistik. Bd. 1. Königstein 31980, S. 161 —

176. - Gerhard Kurz: Metapher, Allegorie, Symbol. Göttingen 1982. — Lausberg. — Heinrich Lausberg: Elemente der literarischen Rhetorik. Ismaning 101990. — Wolf-Andreas Liebert: Metaphernbereiche der deutschen Alltagssprache. Frankfurt u. a. 1992. - W.-A. L.: Bildfelder in synchroner Perspektive. In: Lexikologie. Hg. v. Peter Lutzeier. Berlin [im Druck], - Paul Michel: Alieniloquium. Elemente einer Grammatik der Bildrede. Bern u. a. 1987. - Dietmar Peil: Untersuchungen zur Staats- und Herrschaftsmetaphorik in literarischen Zeugnissen von der Antike bis zur Gegenwart. München 1983. - D. P.: Überlegungen zur Bildfeldtheorie. In: PBB 112 (1990), S. 209-241. - D. P.: Bildfelder in historischer Perspektive. In: Lexikologie. Hg. v. Peter Lutzeier. Berlin [im Druck]. - Heinrich F. Plett: Einführung in die rhetorische Textanalyse. Hamburg 8 1991. — Ivor Armstrong Richards: The philosophy of rhetoric. New York 1936. - Uwe Ruberg: Bildkoordinationen im ,Erec' Hartmanns von Aue. In: Gedenkschrift für William Foerste. Hg. v. Dietrich Hofmann. Köln u. a. 1970, S. 477—501. - Jochen Schlobach: Zyklentheorie und Epochenmetaphorik. München 1980. - Jost Trier: Aufsätze und Vorträge zur Wortfeldtheorie. Den Haag u. a. 1973. — Harald Weinrich: Münze und Wort. Untersuchungen an einem Bildfeld [1958], In: H. W.: Sprache in Texten. Stuttgart 1976, S. 317-327. - Franziska Wessel: Probleme der Metaphorik und die Minnemetaphorik in Gottfrieds von Straßburg .Tristan und Isolde'. München 1984. - Rüdiger Zymner: Ein fremdes Wort. Zur Theorie der Metapher. In: Poetica 25 (1993), S. 3 - 3 3 . Dietmar

Peil

Deformation

des

Metaplasmen Literarisch zulässige Wortmaterials.

Expl: Die ,metaplastischen', also durch traditionelle ? Poetische Lizenz als legiti-

miert geltenden Abwandlungen des regulären phonologischen Materials einzelner Wörter geschehen zugunsten des Metrums oder auch des Redeschmucks (/" Orna-

tus). Durch ihren funktionalen Gebrauch (>" Funktion) unterscheiden sich die Metaplasmen als poetische / Abweichungen von

den in der Rhetorik so genannten,Barbarismen' oder SOLÖZISMEN, den schlicht fehler-

Metaplasmen haften Verstößen gegen die normgerechte phonologische Zusammensetzung eines Wortes. [Terminologisches Feld:] Mindestens 10 Formen der metaplastischen Abwandlung des phonologischen Wortmaterials sind zu unterscheiden. APHÄRESE: Auslassung von phonologischem Wortmaterial am Wortanfang (z.B.: herunter > 'runter). APOKOPE: Auslassung eines auslautenden Vokals bei nachfolgendem wortanlautenden Konsonanten oder ganzer Phonemfolgen am Wortende (z. B. Eichendorff, 342: „Du schöne Braut! Ich führ' dich heim!"). ELISION: Auslassung eines wortauslautenden Vokals bei nachfolgendem vokalanlautendem Wort (ζ. B. Eichendorff, 347: „Ich möcht' als Spielmann reisen"). ENKLISE: Zusammenziehung eines unbetonten Wortes mit einem vorangehenden betonten Wort (z.B. im Mhd.: bist du > bistu). EP(-)ENTHESE: Hinzufügung von phonologischem Material im Wortinnern (ζ. B. Ringelnatz, 316: „Ibich habibebi dibich ...liebib"). PARAGOGE: Hinzufügung von phonologischem Material am Wortende (z. B. Rühm, 299: „dem zwánzigsténsten júli"). PROKLISE: Zusammenziehung eines unbetonten mit einem nachfolgenden betonten Wort (z. B. im Mhd.: daz ist > dast). PROSTHESE: Hinzufügung von phonologischem Material am Wortanfang (z. B. Rühm, 307: „pupúblikúmserfólg"). SYNALÖPHE: Zusammenziehung zweier benachbarter aus- und anlautender Vokale (z. B. im Mhd.: dô ich > doch). SYNKOPE:

Verkürzung

von

phonologi-

schem Material im Wortinnern (z. B. Eichendorff, 83: „Spannt aus die grünen Tepp'che weich"). Joseph Freiherr von Eichendorff: Werke und Schriften. Hg. v. Gerhard Baumann u. Siegfried Grosse. Bd. 1. Stuttgart 1957. - Joachim Ringelnatz: Das Gesamtwerk in 7 Bänden. Hg. v. Walter Pape. Bd. 1. Berlin 1984. - Gerhard Rühm: Gesammelte Gedichte und visuelle Texte. Reinbek 1970.

WortG: Der Ausdruck Metaplasmus geht zurück auf das griech. μεταπλασμός [meta-

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plasmós] .Umbildung'. Schon in den rhetorischen Lehrbüchern der Antike taucht er als rein fachsprachlich gebrauchter Ausdruck auf (z.B. Quintilian: 1, 8,14), wie er es bis in die Gegenwart bleibt. Der Ausdruck Aphärese geht zurück auf griech. άφαίρεσις [aphaíresis] ,Wegnahme', Apokope auf griech. άποκοπή [apokopé] .Aufhebung', Elision auf lat. elidere ,ausstoßen', Enklise auf griech. εγκλισις [énklisis] .Neigung', Epenthese auf griech. έπένθεσις [epén thesis] .Einfügung', Paragoge auf griech. παραγωγή [paragogé] .Anhang', Proklise auf griech. πρόκλισις [próklisis] ,Vorwärtsbeugung', Prosthese auf griech. πρόσθεσις [prosthesis] ,Vermehrung', Synalöphe auf griech. συναλοιφή [synaloiphé] .Verschmelzung', Synkope auf griech. συνκοπή [synkopé] .Zusammenschlagung'. BegrG: Die spezifizierten Techniken der Wortveränderung bilden den Kernbereich möglicher Metaplasmen; ein einheitliches Konzept der Metaplasmen ist in den theoretischen Überlegungen aber nicht entwickelt worden. Zudem schwanken die Bezeichnungen für die Begriffe zwischen alternativ gebrauchten griech. und lat. Termini. Anders als in den metrischen zählt man in den rhetorischen Lehrbüchern zu den Metaplasmen auch die WortveränderungsMöglichkeiten (a) durch Substitution (s Permutation2, auch: immutatio, antithesis) von phonologischem Material durch ein anderes; und (b) durch /" Permutation2 (auch: transmutatio, metathesis) des phonologischen Materials eines Wortes (Dubois, Lausberg, Plett). Rhetorische sowie metrische Lehrbücher zählen unter Berücksichtigung von Erscheinungen der antiken Sprachen auch die Systole (von griech. συστολή [systolé], .Verkürzung einer langen Silbe'), die Ektase (von griech. εκτασις [éktasis], .Dehnung einer kurzen Silbe'), die Synizese (von griech. συνίζησις [synízesis]; auch Synärese oder Episynalöphe, .Verschmelzung zweier aufeinanderfolgender Vokale in einem Wort, die durch die Silbengrenze voneinander getrennt sind, zu einem einsilbigen Diphthong oder einem Monophthong') und die Diärese (von griech. διαίρεσις [diairesis], ,Zerle-

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Metaplasmen

gung einer einsilbigen Phonemfolge in einem Wort in zwei Silben') zu den Metaplasmen. Als lat. Äquivalent für Metaplasmus tritt transformatio auf. Für die Bezeichnung Prosthese wird alternativ auch Prothese, für Aphärese auch Enkope, für Synalöphe auch Synkrise gebraucht. SachG: Eine wichtige Rolle spielen Metaplasmen in Verstexten aller Art, in denen sie um der Einhaltung eines bestimmten Metrums oder der Euphonie willen eingesetzt werden. Schon die antiken Poetik- und Rhetorik-Lehrbücher (ζ. B. Aristoteles: .Poetik' 1458 a 34—b 15) illustrieren die Metaplasmen mit Beispielen aus Verstexten, besonders mit solchen aus der lateinischen Versepik. Die rhetorische und metrische Theorie und Praxis der Antike haben u. a. hinsichtlich der metaplastischen Wortabwandlungen traditionsbildend gewirkt. Metaplasmen finden sich in der mittelalterlichen Versliteratur, hier vor allem aus metrischen Gründen. Im 15. und 16. Jh. bedienen sich die Texte des /" Meistergesangs und selbst die Knittelvers-Dichtungen der Zeit gehäuft einer ganzen Reihe metaplastischer Wortabwandlungen zur Konstitution von Vers und Reim. Opitz versucht in seinem ,Buch von der Deutschen Poeterey' (1624) u. a. den poetischen Gebrauch metaplastischer Wortabwandlungen zu regulieren. Er erklärt die Elision bei Eigennamen und einsilbigen Wörtern für unstatthaft, warnt vor dem Gebrauch der Synkope und verbietet die Apokope sowie die Paragoge. Ungeachtet von Opitzens Reformversuch finden sich metrisch motivierte Metaplasmen bis in die Versdichtungen der Gegenwart. Metaplasmen sind dabei häufig auch stilistisch motiviert und dienen etwa zur Konstitution eines bestimmten Stilzuges (vgl. z.B. die kräftige Volkssprache in Goethes ,Götz von Berlichingen' oder die dialektale Sprachfarbung in Nestroys Dramen), zur Erzeugung gewollter Malapropismen (S Bühnenkomik) oder als Spielformen in humoristischer bzw. experimenteller Dichtung (vgl. die Beispiele von Ringelnatz oder Rühm). Martin Opitz: Buch von der Deutschen Poeterey. Hg. v. Richard Alewyn. Tübingen 2 1966, S. 33— 36.

ForschG: Die — in diesem Bereich bis heute an Differenziertheit nicht übertroffenen — antiken Lehrbücher der Rhetorik (z. B. Quintilian 1, 5, 11-12) nennen die Metaplasmen in Abgrenzung von den Barbarismen im Rahmen der Überlegungen zur Sprachrichtigkeit (latinitas) beim Gebrauch von Wörtern (vgl. Consentius und Victorinus, bei Niedermann). Quintilian führt in diesem Zusammenhang vier systematisierende Kategorien an (Quintilian 2, 5, 6): die Erweiterung (adiectio), die Auslassung (detractio), die Permutation (immutatio) und die Substitution (transmutatio). Ein wichtiger Vermittler der rhetorischen Lehre ist Isidor von Sevilla (.Origines etymologiae' 1, 35, 1 — 7). In der .Grammatica Germanicae linguae' (1578) von Johannes Clajus werden die Metaplasmen als orthographische Figuren systematisiert und mit deutschsprachigen Beispielen illustriert. Gottsched handelt die Metaplasmen in seiner ,Deutschen Sprachkunst' als grammatische Figuren ab. Einzelne Lehrbücher der Metrik nennen (Paul/Glier) oder systematisieren (Minor) die Metaplasmen im Zusammenhang mit Überlegungen zur sprachlichen Konstitution eines metrisch normgerechten Versfußes. Neuere Rhetorik-Lehrbücher (z. B. Dubois) ordnen die Metaplasmen im Horizont der streng deskriptiv verfahrenden strukturalistischen Sprachtheorie. Plett systematisiert die Metaplasmen als Figuren der phonologischen Deviation (/" Abweichung)', verallgemeinernd wird in diesem Zusammenhang auf die aristotelische Tradition zurückgegriffen, die Metaplasmen in ein umfassendes poetologisches Konzept einzuordnen (z.B. Fricke, 24—29). Lit: Johannes Clajus: Die deutsche Grammatik. Hg. v. Friedrich Weidling. Straßburg 1894. Friedrich Crusius: Römische Metrik. München 7 1963. — Jacques Dubois u. a.: Allgemeine Rhetorik. München 1974. — Harald Fricke: Norm und Abweichung. Eine Philosophie der Literatur. München 1981. — Johann Christoph Gottsched: Die deutsche Sprachkunst. In: J. C. G.: Ausgewählte Werke. Hg. v. P. M. Mitchell. Berlin, New York 1978. Bd. 8, S. 598-605. - Jakob Minor: Neuhochdeutsche Metrik. Straßburg 2 1902. Max Niedermann (Hg.): Consentii Ars de barbarismis et metaplasmis. Victorini Fragmentum de soloecismo et barbarismo. Neuchâtel 1937. -

Methode Otto Paul, Ingeborg Glier: Deutsche Metrik. München 71970. - Heinrich F. Plett: Textwissenschaft und Textanalyse. Heidelberg 1975.

Burkhard Moennighoff

Metasprache

Terminologie

Methode Das planvolle Vorgehen zur Erreichung eines Ziels oder zur Lösung einer Aufgabe im Bereich des Denkens oder Handelns, insbesondere in den Wissenschaften. Expl: Der Begriff ist kein genuin germanistischer, sondern ein wissenschaftstheoretischer Terminus, der in den meisten literaturwissenschaftlichen Nachschlagewerken fehlt (z. B. in RL 1 u. RL 2 ). In der Literaturwissenschaft kann ,Methode' mit den starken erkenntnis- und/oder wissenschaftstheoretischen Vorgaben der Herkunftsdisziplin (1, 2), in einem .weichen', literaturwissenschaftlichen Standards entsprechenden Sinne (3) oder auch in Anlehnung an die Alltagssprache verwendet werden (4): (1) Orientierung an wissenschaftstheoretischen Kriterien: Um von Methode sprechen zu können, muß die Einbettung in einen systematischen Theoriezusammenhang gesichert, müssen Vorschriften zur Abfolge festgelegter Schritte formulierbar und die Ergebnisse wie die Schritte, die zu ihnen führen, wiederholbar sein. In diesem Sinne kann Methode (a) ein im Vorfeld einer Problemlösung gewähltes und bewußt eingesetztes Verfahren oder (b) ein unreflektiertes, aber post festum als regelgeleitet beschreibbares Verfahren bezeichnen. (2) Orientierung an philosophischer, insbesondere erkenntnistheoretischer Tradition des Begriffs: Methoden als „immanente Ordnungsdetermination" der Erkenntnis (Flach, 22); nur wenn eine eigenständige Erkenntnis erbracht wird, kann von der Methode einer Disziplin gesprochen werden. Für die Literaturwissenschaft sollte gelten:

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(3) Erforderlich sind explizite oder post festum explizierbare, im Rahmen einer Literaturtheorie zu formulierende Ziele und verfahrenstechnische Annahmen, auf welchem Weg die Ziele am geeignetsten einzulösen sind, sowie eingeführte Begriffe, mit denen die Ergebnisse im wissenschaftlichen Text dokumentiert werden. Die häufigste Verwendungsweise orientiert sich allerdings am Alltagsverständnis: (4) Jedes regelgeleitete Vorgehen zur Erreichung eines Ziels ist,methodisch'. Die Reflexion literaturwissenschaftlicher Methoden, ihrer Ziele und ihres Status erfolgt in der ? Methodologie der Literaturwissenschaft. Der wissenschaftliche Nutzen von Methoden wird vor allem darin gesehen, Ergebnisse nachvollziehbar bzw. prüfbar zu machen (was in der literaturwissenschaftlichen Praxis nicht oft erreicht wird) und Forschungskontinuität zu ermöglichen, sowie in der ökonomischen Leistung, durch Lösungsschemata die aufwendige Detailanalyse jeder neuen Untersuchungssituation zu erübrigen. Als problematisch gilt dagegen primär ihre Tendenz, den Objektbereich zu schematisieren und neue, unkonventionelle Problemlösungen zu verhindern. Hierin liegt der Hauptgrund für eine latente Methodenfeindlichkeit in der Literaturwissenschaft: Die normativ wirkende Auffassung, einem literarischen Text nur durch intensives Eingehen auf seine besonderen Eigenschaften gerecht werden zu können, und die Annahme, die Individualität des Forschers sei hierfür ein wichtiger Faktor, gelten vielen als unvereinbar mit der Schematisierungstendenz von Methoden generell, allenfalls mit Ausnahme von Methode (4). (3) ist bereits ein Versuch, solch radikaler Skepsis mit einer Anpassung des Begriffs an die Besonderheit des Gegenstands piteratur' zu begegnen. Zu unterscheiden sind Methoden (a) der Textsicherung und ^ Textkritik (.philologische Methode'), (b) der /" Textanalyse und /" Interpretation, (c) der >" Literaturgeschichtsschreibung. Die wissenschaftstheoretische Klassifikation nach argumentativen Grundoperationen (induktive, deduktive, dialektische, axiomatische, analytische etc. Methode) läßt sich zur hinreichenden Ab-

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Methode

grenzung literaturwissenschaftlicher Methoden im Sinne von (2)-(4) nur bedingt einsetzen, da Mischformen unter ihnen dominieren. Problematisch ist aber auch die übliche Einteilung und Bezeichnung der unter (b) und (c) versammelten Methoden nach den jeweiligen Rahmentheorien oder, oft unspezifischen, -konzeptionen, in denen sie formuliert werden: nach den Nachbardisziplinen, an denen sie sich orientieren (z.B. psychologische' (y Literaturpsychologie) oder,soziologische Methode' (/" Literatursoziologie)), nach philosophischen Bezugstheorien (ζ. B. am /" Positivismus oder der Hermeneutik2 ausgerichtete positivistische' oder ,hermeneutische' Methode) oder literaturwissenschaftlichen Schulen (z.B. ,werkimmanente' oder .rezeptionsästhetische Methode'; s Werkimmanente Interpretation, S Rezeptionsästhetik). Die Gleichbenennung von Rahmentheorie und Methode führt zu Ungenauigkeiten, ist allerdings ohne terminologischen Traditionsbruch nicht zu umgehen. WortG: Griech. μέθοδος [méthodos], ,der Weg auf ein Ziel hin'; lat. methodus, .bestimmtes, regelgeleitetes Vorgehen'. Das Wort ist in zwei Bedeutungsvarianten belegt, die über verschiedene Traditionen ins Deutsche Eingang gefunden haben: (i) ,der beim Verfolgen eines Gedankens eingeschlagene Weg', seit 1580 belegt, griech.-lat. Tradition; (ii) ,Forschungsverfahren', .Untersuchungsweise', seit 1687 belegt, wohl in Anlehnung an frz. méthode. Eine eigenständige literaturwissenschaftliche Wortgeschichte für Methode gibt es nicht; eine solche ließe sich allenfalls für Komposita wie Methodendiskussion und Methodenpluralismus skizzieren (s. BegrG und Sachó). Schulz-Basler 2, S. 106 f. BegrG: Mit der Etablierung der Deutschen Philologie im Kanon der Wissenschaften wird unter .Methode' das Verfahren verstanden, das die Wissenschaftlichkeit der Disziplin garantiert. Dabei wird — und dies bleibt ein Kennzeichen literaturwissenschaftlicher Methode — Vorhandenes adaptiert: Zunächst werden mit der .philologischen Methode' Verfahrensweisen der Klassischen Philologie übernommen (Lach-

mann, W. und J. Grimm), bei Scherer und H. Paul dann — auch in Abgrenzung von mythisierenden Tendenzen der Anfangszeiten der Germanistik — .positivistische' Methoden der Soziologie und Historiographie, etwa die Rekonstruktion empirischer, vor allem biographischer Fakten und die damit verbundene genetische oder kausale Erklärung literarischer Phänomene. In Abgrenzung von den Naturwissenschaften faßt dagegen Dilthey .Methode' als das Verfahren auf, das die Germanistik als Geisteswissenschaft ausweist. Als ein solches, dem Gegenstand und den Zielen literaturwissenschaftlichen Arbeitens angemessenes Verfahren gilt seitdem, wenn auch nicht unangefochten, das - in bestimmtem Sinne ,hermeneutische' (y Hermeneutik¡, s Geistesgeschichte). Einflußreich für Selbstverständnis und Methodenskepsis der Disziplin wird Gadamers Entgegensetzung von .Wahrheit', die er an historisches Verstehen bindet und den Geisteswissenschaften zuordnet, und .Methode', die den naturwissenschaftlichen Erkenntniszielen angemessen sei. In den .Methodenlehren' des 19. Jhs. bis hin zum Standardwerk literaturwissenschaftlicher Positionsbestimmung der 1950er Jahre (Stammler 2 ) wird unter .Methode' das .Handwerkszeug' wissenschaftlichen Umgangs mit Literatur verstanden, wobei in der Regel die Ziele genauer bestimmt werden als die Wege zu ihnen, d. h. die Anwendungsspielräume der Methoden recht weit sind. Gelten in diesen Werken zunächst die philologische Methode der Textsicherung und die historisch-hermeneutische Methode der Textauslegung und Literaturgeschichtsschreibung als gleichberechtigt, so verlagern sich in den Methodendarstellungen der 2. Hälfte des 20. Jhs. die Gewichte: Die philologische Methode wird dem Bereich der ,Präliminarien' zugeordnet, während die Textinterpretation ins Zentrum des Gegenstandsbereichs von ,Methode' gerät (z. B. Strelka). Die in den 1970er Jahren einsetzende sogenannte Methodendiskussion verschärft die Polarität, die die Begriffsverwendung seit Etablierung der Disziplin bestimmt hat: Wissenschaft betreiben, d. h. auch Methodizität beanspruchen zu wollen und zugleich

Methode mit Hinweis auf die Besonderheit des Gegenstandes die Angemessenheit von Methoden im Sinne von (1) zu problematisieren. Mit dem Ziel, die Literaturwissenschaft zu präzisieren, rekurrieren verschiedene Gruppen von Forschern auf den wissenschaftstheoretischen Methodenbegriff (1) (/* Analytische Literaturwissenschaft) und bestreiten die Methodizität literaturwissenschaftlicher Praxis (ζ. B. s Empirische Literaturwissenschaft). Innerhalb der .weicheren' disziplininternen Standards wird .Methode' (3) und oft auch (4) in dieser Zeit auf ein breites Spektrum an Umgangsweisen mit literarischen Texten angewendet, dokumentiert in sogenannten ,Methodenüberblicken' (s. Lit.). In den 1980er und 90er Jahren setzt sich diese polare Begriffsverwendung, ζ. T. durch wissenschaftsskeptische Tendenzen unterstützt, weiter fort. Begriffskritisch kann ,Methode' (1)—(3) als für Vorgehens- und Argumentationsweisen in der Literaturwissenschaft zu enge Bezeichnung angesehen werden: Diese Kritik — allerdings auch terminologische Verlegenheit - kann sich darin ausdrücken, daß der Begriff durch unspezifische Ausdrücke wie Verfahren oder Vorgehen ersetzt wird oder in Ausdrücken wie Position, Richtung (diese Ausdrücke oft auch für .Theorie'), Zielsetzung u. a.,mitgemeint' ist (ζ. B. Wellbery). In theoretischen und Methoden reflektierenden Texten, ζ. B. in seit den späten 1980er Jahren wieder verstärkt verfaßten bzw. neuaufgelegten .Einführungen in die Literaturwissenschaft', dominieren jedoch weiterhin die Verwendungsweisen (2)-(4).

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Mit dem von Scherer exemplarisch formulierten Ziel der Verwissenschaftlichung von Literaturgeschichtsschreibung und Einzelwerkanalyse wird in der 2. Hälfte des 19. Jhs. die biographische Methode etabliert, die im Rahmen positivistischer Literaturtheorie legitimiert ist (/" Positivismus). Die Einheit von Leben und Werk vorausgesetzt, gilt der Textsinn als erschließbar über das Beschreiben und Erklären biographischer Kontextdaten. Für das im Rahmen philosophischer s Hermeneutik2-Theorien (Schleiermacher, Dilthey) begründete hermeneutische Verfahren, das seit 1900, zunächst vor allem in seiner geistesgeschichtlichen Variante, dominiert, sind diese erklärenden Autor- und Kontextbezüge defizitär. Es zielt auf ein ganzheitliches Verstehen literarischer Werke ausgehend vom /" Erlebnis ab, unter Rückbindung an die Lebenszusammenhänge von Autor/Werk und Interpret. Literarische Texte werden historisch als Manifestationen von .Zeitgeist' (Dilthey) oder als Träger von Ideen mit tendenziell überzeitlichem Charakter (Unger) interpretiert. Von letzterer Position weicht die seit den 1930er Jahren vermehrt praktizierte existentielle Methode in erster Linie darin ab, daß sie die relevanten Kontexte auf Grundprobleme menschlicher Existenz einschränkt (Lunding).

Vertreter der ungefähr zeitgleichen, auf Goethe zurückgehenden morphologischen Methode arbeiten stärker textorientiert, wenn sie literarische Werke auf die ihnen zugrundeliegenden Gestaltgesetze hin untersuchen. Kontextselegierend wirkt dabei SachG: Wegen ihrer engen Verbindung mit die Annahme, daß Texte als organische Geliteraturtheoretischen Konzeptionen ver- bilde natürlichen Objekten analog zu beläuft die Sachgeschichte von Methode (3) trachten seien (Müller, Oppel). Nicht zuletzt als Reaktion auf die Funkparallel mit der Geschichte literaturwissenschaftlicher Theorien. Dabei lassen sich Me- tionalisierung der genannten kontextualisiethoden wegen ihres engen Gegenstandsbe- renden Methoden durch die nationalsozializugs grob über ihre jeweilige Fokussierung stische Wissenschaft wird in den 40er Jaheiner der drei Instanzen des Umgangs mit ren, und besonders nach 1945 in der westliLiteratur — Autor, Text, Leser — und die chen Literaturwissenschaft, eine textzenverschiedenen Kontexttypen klassifizieren, trierte Methode etabliert: die im Rahmen die als interpretationsrelevant gelten. Ihre der /" Phänomenologischen LiteraturwissenAblösung und ihr zeitliches Nebeneinander schaft begründete ,werkimmanente Mekönnen so unter anderem als Folge unter- thode' (/* Werkimmanente Interpretation). schiedlicher literaturwissenschaftlicher Pro- In ihrer Konzentration auf den Text und blemstellungen erklärt werden. das weitgehende Ausblenden historischer

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Methode

und sozialer Kontexte kann sie sich mit Verfahren der Stilforschung der 1920er und 30er Jahre verbinden (Walzel, Spitzer; ? Wechselseitige Erhellung). In der DDR dagegen dominieren kontextzentrierte Methoden, die auf historischmaterialistischen Literaturkonzeptionen basieren und Literatur auf gesellschaftliche Situationen und sozialistische Ziele beziehen. Im Zuge wissenschaftsgeschichtlicher (,linguistic turn') und gesellschaftlicher Entwicklungen (68er-Bewegung) wird das Spektrum an Literaturkonzeptionen und Methoden in der BRD in den 1970er Jahren erweitert. Das Schlagwort Methodenpluralismus wird geprägt. Es kennzeichnet das Nebeneinander verschiedener Methoden als literaturwissenschaftlichen Ist-Zustand, der je nach Wissenschaftskonzept entweder als Tolerieren des Beliebigen resignativ in Kauf genommen oder als der Disziplin und ihrem Gegenstand angemessener Liberalismus emphatisch bejaht wird. Mit dem Ziel, die Textanalyse zu präzisieren, werden strukturalistische, linguistische und semiotische Theorien modifiziert und entsprechende Methoden erarbeitet, die Textmerkmale auf das Sprachsystem oder andere Zeichensysteme beziehen (/" Strukturalismus, s Semiotik); in der Absicht stärkerer gesellschaftlicher Kontextualisierung werden verschiedene soziologische Ansätze, ζ. T. in Anlehnung an historische Vorläufer der 1920er und 30er Jahre (Schücking, Mehring, Lukács), adaptiert und für Interpretation wie auch Literaturgeschichtsschreibung fruchtbar gemacht, indem Literatur auf verschiedenartige soziale Kontexte bezogen wird (z. B. ^ Ideologiekritik, S Sozialgeschichte, ? Marxistische Literaturwissenschaft). Auch autor-, text- und leserorientierte Varianten literaturpsychologischer Methoden werden in dieser Zeit weiter ausgebildet (s Literatur psychologie). Die Unterschiede rezeptionsbezogener Methoden dokumentieren die /" Rezeptionsästhetik, die zur Analyse der Bedeutung literarischer Texte auf deren Rezeptionsgeschichte rekurriert, und die /• Empirische Literaturwissenschaft, die auf der Basis von Methode' (1) Rezeptionsprozesse und -ergebnisse empirisch untersucht.

Auch einige der seit den 1980er Jahren verstärkt praktizierten ,poststrukturalistischen' Umgangsweisen mit Literatur lassen sich im Sinne von (3) — wenn man die Bedingungen verfahrenstechnische Annahmen' und eingeführte Begriffe' weit faßt — als .Methoden post festum' bezeichnen; etwa die Kontextualisierungsstrategien der s Diskursanalyse oder die textzentrierten Operationen der ? Dekonstruktion, theoriegeleitet und mit entsprechender Terminologie textuelle Randdaten zu fokussieren und Differenzen zu suchen. ForschG: Liefern die wenigen Enzyklopädien der Literaturwissenschaft zwar Methodenreflexionen und vermitteln die ,Methodenlehren' institutionalisierte Verfahrensweisen und Fragestellungen im akademischen Umgang mit Literatur, so setzt eine wenn auch eher sichtende Erforschung literaturwissenschaftlicher Methoden doch erst in den 1970er Jahren ein, und zwar meist in Form kommentierter ,Methodenüberblicke' und vergleichender Darstellungen jeweils aktueller Methoden im Sinne von (2)—(4). Neuere, durchaus ähnliche Überblicke etwa über literaturwissenschaftliche „Vermittlungs-" und „Übersetzungsmodelle" (Pechlivanos u. a.), die ohne den Terminus Methode auskommen, dokumentieren die mithilfe poststrukturalistischer Theoreme begründete Variante der Methodenskepsis. Eine differenzierte, terminologisch präzise historisch-systematische Darstellung literaturwissenschaftlicher Methoden (1)—(4) steht noch aus. Sie hätte ein differenziertes Kriterienset zur Beschreibung von Methoden heranzuziehen: Zu berücksichtigen wären die Interpretationskonzeptionen, mit denen die Methoden jeweils verbunden sind, die als sinnvoll akzeptierten leitenden Fragestellungen, die unterschiedlichen Terminologien und Argumentationstypen sowie normative Annahmen darüber, wo welche Art von Information im literarischen Text zu suchen ist und welche Kontexte einbezogen werden dürfen. Lit: Rainer Baasner: Methoden und Modelle der Literaturwissenschaft. Berlin 1996. — Wilhelm Dilthey: Das Erlebnis und die Dichtung. Berlin 1905. - Brigitte Flach, Werner Flach: Zur

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(1) den Teil der allgemeinen Darstellung (a) der Wissenschaften insgesamt oder (b) einer Einzelwissenschaft, in dem die wissenschaftsspezifischen Methoden begründet und vermittelt werden (auch: Methodenlehre); (2) die wissenschaftstheoretische Untersuchung von Methoden der Wissensgewinnung und der Erkenntnissicherung sowie -Vermittlung, insbesondere ihrer Prämissen und Ziele sowie ihres wissenschaftlichen Status — (a) in den Wissenschaften allgemein, (b) in einer Einzelwissenschaft; (3) jede theoretische Auseinandersetzung mit Methoden; wobei jeweils die Methodenbegriffe variieren können (/" Methode, s Literaturtheorie). Im Plural verwendet, bezeichnet der Begriff: (4) methodologische Modelle, die in unterschiedlichen Wissenschaftskonzeptionen begründet sind und zueinander in Erklärungskonkurrenz treten. Wichtig für die Literaturwissenschaft sind besonders (lb), (2b) und (3). Das stellt ein Problem dar: Während (1), (2) und (4) — wenn auch ζ. T. abweichend bestimmte — Termini technici sind, ist die weite Variante (3) ungeeignet, Klarheit über den nicht einfach abzugrenzenden Gegenstandsbereich des Begriffs zu bringen. Daher einschränkend: Simone Winko (5) Nicht jede theoretische Aussage über eine Methode zählt bereits zur Methodologie; dies ist erst dann der Fall, wenn sie systematischer Teil eines Gesamtentwurfs der Wissenschaft und/oder in ein wissenschaftsMethodologie theoretisches Modell eingebunden ist. Die Lehre von den Methoden. Eine terminologische Schwierigkeit, der Expl: Methodologie ist ein philosophisch- mit einem solchen Vorschlag nicht abzuhelwissenschaftstheoretischer Terminus, der in fen ist, stellt die adjektivische Verwendung die Einzeldisziplinen, so auch in die Litera- des Begriffs dar. Nicht alle der häufig zu turwissenschaft, übernommen worden ist findenden Synonymverwendungen von meund dort — wie auch in seiner Herkunfts- thodisch und methodologisch lassen sich mit disziplin (vgl. Geldsetzer, Karnitz) — unein- Bezug auf (5) korrigieren, da es außer Komheitlich verwendet wird. Die Begriffsver- posita kein Adjektiv zu Methode gibt, mit wendungen schwanken in der Breite des dem eindeutig auf die sprachliche DarstelGegenstandsbereichs, können den Aspekt lung einer Methode Bezug genommen werder Lehre oder den der Forschung betonen den kann: So ist eine methodische Aussage und stärker normativ oder deskriptiv ausge- eine Aussage, die sich durch Methodizität richtet sein. Methodologie kann bezeichnen: auszeichnet, und keine Aussage über MeGrundlegung der Wissenschaft von der Literatur. Bonn 1967. - Harald Fricke: Wieviele .Methoden' braucht die Literaturwissenschaft? In: H. F.: Literatur und Literaturwissenschaft. Paderborn 1991, S. 169-187. - Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode. Tübingen 1960. — Jürgen Hauff u. a.: Methodendiskussion. 2 Bde. Frankfurt 1972. - Reinhard Karnitz: Methode/ Methodologie. In: Hb. wissenschaftstheoretischer Begriffe. Hg. v. Josef Speck. Bd. 2. Göttingen 1980, S. 429-433. - Manon Maren-Grisebach: Methoden der Literaturwissenschaft. München 1970. - Friedrich Nemec, Wilhelm Solms (Hg.): Literaturwissenschaft heute. München 1979. Horst Oppel: Methodenlehre der Literaturwissenschaft. In: Stammler 2 1, S. 39-82. - Leo Pollmann: Literaturwissenschaft und Methode. Frankfurt 21973. - Hermann Paul: Methodenlehre. I'n: Grundriß der germanischen Philologie. Hg. v. Hermann Paul. Bd. 1. Straßburg 21901, S. 159-247. - Miltos Pechlivanos u. a. (Hg.): Einführung in die Literaturwissenschaft. Stuttgart 1995. - Friedrich Rapp: Methode. In: Hb. philosophischer Grundbegriffe. Hg. v. Hermann Klings u.a. Bd. 4. München 1973, S. 913-929. - Gerhard Sauder: Fachgeschichte und Standortbestimmung. In: Erkenntnis der Literatur. Hg. v. Dietrich Harth und Peter Gebhardt. Stuttgart 1989, S. 321-343. - Joseph Strelka: Methodologie der Literaturwissenschaft. Tübingen 1978. Werner Strube: Analytische Philosophie der Literaturwissenschaft. Paderborn 1993. - David E. Wellbery: Positionen der Literaturwissenschaft. München 1985. - Viktor Zmegac (Hg.): Methoden der deutschen Literaturwissenschaft. Frankfurt 1972, S. 7 - 1 2 .

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Methodologie

thoden; eine solche wird daher oft methodologisch genannt. Diesem Bezeichnungsproblem sollte mit größerer Genauigkeit in der Verwendung der Substantive begegnet werden. Teilweise synonym mit Methodologie wird auch die Bezeichnung Methodik gebraucht, die jedoch zweckmäßiger für ein Set methodischer Regeln reserviert werden sollte, mit dem fachspezifische Arbeitstechniken vermittelt werden. WortG: Aus griech. μέθοδος [méthodos] und λόγος [lògos], lat. methodologia. Der Begriff ist als Disziplinbenennung in der protestantischen Schulphilosophie entstanden und bezeichnet meist einen Teil der angewandten Logik (vgl. Geldsetzer). Im Lateinischen zuerst 1643 belegt, wird er um 1800 ins Deutsche übernommen (EWbD2, 867). Eine eigenständige literaturwissenschaftliche Wortgeschichte für Methodologie gibt es nicht. BegrG: Die Begriffsgeschichte von .Methodologie' steht vor dem Problem, daß der Begriff in der Literaturwissenschaft oftmals vermieden und durch schwächere Begriffe im Sinne von (3), etwa ,Methodendiskussion' oder ,-reflexion', ersetzt wird, die die Ähnlichkeit mit dem wissenschaftstheoretischen Konzept und die didaktischen Implikationen von ,Methodenlehre' umgehen. Auch diese disziplintypischen Synonyme sind zu berücksichtigten, um das charakteristische breite Begriffsspektrum in der Literaturwissenschaft aufzeigen zu können. In den frühen Methodenlehren wird der Begriff in Anlehnung an die philosophische Verwendung im Sinne von (lb) gebraucht. Boeckh z.B. bindet die Methodenlehre in die „Encyklopädie" der Philologie ein, d. h. in die allgemeine Darstellung der philologischen Wissenschaft als Ganzes. Unter Methodologie' wird hier der formale Teil der philologischen Wissenschaft verstanden, der die „Methode der Aneignung der Wissenschaft lehren" soll (Boeckh, 48). Diese Begriffsverwendung dominiert weiterhin, wird aber im Zuge der Emanzipationsbestrebungen der Geisteswissenschaften (Dilthey) anders gewertet. Als Folge der Vermeidung eines Methodenbegriffs, der zu

stark an naturwissenschaftlichen Disziplinen ausgerichtet zu sein scheint, wird auch kaum mehr von der Methodologie bzw. Methodenlehre der Literaturwissenschaft gesprochen, es sei denn in explizit um die Systematik des Faches bemühten Werken (ζ. B. Oppel). In den Beiträgen zur Methodendiskussion der 1970er Jahre avanciert .methodologisch' zum Modebegriff; .Methodologie' wird in mindestens fünf neuen Varianten verwendet: - im Sinne von (2b) ζ. B. bei Forschern, die Ansätze der neueren ? Wissenschaftstheorie aufnehmen (ζ. B. Groeben, Pasternack; /" Analytische Literaturwissenschaft)·, - im Sinne von (la), wenn es nicht um die Analyse von Erkenntnisprinzipien oder des Gegenstandsbereichs der Literaturwissenschaft, sondern um die „grundsätzliche Legitimation wissenschaftlichen Erkennens" (Hauff u. a., 3) geht. Die Tendenz, in expliziter Abgrenzung von der logisch-wissenschaftstheoretischen Verwendung von .Methodologie' eine Metaebene einzunehmen, die ins Grundsätzlichere, aber auch Allgemeinere führt und für die keine Standards angegeben werden, ist charakteristisch für diese Begriffsvariante; - in einer flexiblen, (1) bis (3) zulassenden Verwendung in dem Schlagwort von der „Methodologisierung der Literaturwissenschaft" (ζ. B. Solms); - im weiten Sinne von (3) in sogenannten Methoden-Uberblicken, in denen literaturwissenschaftliche Methoden dargestellt und in Hinsicht auf ihre Prämissen und Ziele erörtert werden. Diese häufigste Begriffsverwendung kann sich neben (2b) in denselben Beiträgen finden (ζ. B. Hauff u. a.); - noch weniger spezifisch kann der Begriff sogar auf die additive Präsentation methodenbezogener Quellentexte angewandt werden (ζ. B. Zmegac). Daneben kann Methodologie im Sinne von (lb) noch immer das „Gesamtsystem einer Wissenschaftslehre" bezeichnen, die Prinzipien- und Methodenlehre einschließt (Strelka, XI). Diesem Bedeutungsspektrum haben spätere Verwendungen keine neuen Varianten hinzugefügt.

Methodologie August Boeckh: Encyklopädie und Methodenlehre der philologischen Wissenschaften. Leipzig 1877.

SachG: Die Sachgeschichte der Methodologie ist eine Geschichte der Versuche, in unterschiedlichen Problemsituationen ? Literaturwissenschaft als Wissenschaft zu begründen bzw. erneut zu legitimieren. Daher gibt es kaum deskriptive oder rekonstruierende, sondern in erster Linie normative Ansätze. In den Methodenlehren des 19. Jhs. werden methodologische Begründungen und die Vermittlung von Methoden eingesetzt, um das Fach als eigenständiges zu etablieren, indem Aufbau und Argumentationsmuster philosophischer Methodenlehren übernommen und angepaßt werden. — Um sich gegen die Naturwissenschaften zu behaupten, wird in der 1. Hälfte des 20. Jhs. (Dilthey bis Gadamer) als eigenständige Erkenntnis-,Methode' die hermeneutische Erkenntnis (in ihrer geistesgeschichtlichen Variante; ? Hermeneutik2) propagiert. Anstelle von Methodologien im alten Sinne, die den Naturwissenschaften zugeordnet werden, finden sich zumeist Darstellungen des Gegenstandsbereichs mit Hinweisen zu philologischen Methoden und zur Methodik der s Interpretation (z. B. Kayser). Dies ändert sich zu Beginn der 1970er Jahre, allerdings nicht in dem Maße, in dem die Methodendiskussion der /* Germanistik an Umfang zunimmt. Von methodologischem Interesse sind weniger die zahlreichen Einführungen in neue Methoden des Umgangs mit Literatur in Lehre und Forschung als vielmehr die theoretischen Entwürfe zum wissenschaftlichen Status der Literaturwissenschaft. Ihnen geht es darum, innerhalb des sich ausdifferenzierenden Spektrums wissenschaftlicher Disziplinen die Position der Literaturwissenschaft zu sichern, was über eine methodologische Fundierung des Faches auf unterschiedlichen Wegen erzielt werden soll: zum einen über den Anschluß an die Standards philosophisch-wissenschaftstheoretischer Methodologien (4), vor allem des Logischen Empirismus und Kritischen Rationalismus. So ist z. B. ein Hauptargument gegen die traditionelle hermeneutische Literaturwissenschaft, das mit zur

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Etablierung des neuen Paradigmas der Empirischen Literaturwissenschaft geführt hat, ein methodologisches: die durch Personalunion von Leser und Forscher unumgängliche Subjekt-Objekt-Konfundierung (Groeben, 3 f.). Zum anderen wird an die hermeneutisch-geistesgeschichtliche Tradition angeknüpft (y Geistesgeschichte), wenn neuere verstehenstheoretische Ansätze (z. B. Habermas, Apel) zur methodologischen Begründung herangezogen werden. Als eine Sondergruppe sind die überblicksartigen Darstellungen vorhandener Methoden zu nennen, die durchaus programmatisch mit Blick auf eine künftige Fundierung unternommen werden, diese aber selbst nicht leisten. Auch sie sind methodologisch normativ in dem Sinne, daß der beschreibbare Methodenpluralismus als der Disziplin einzig adäquat legitimiert und gegen einen Methodenmonismus abgesetzt wird (z. B. Maren-Grisebach, Hauff u. a.). Als Reaktion auf die praktische Folgenarmut der methodologischen Entwürfe wird das Thema in den 1980er Jahren erneut vermieden. Im Zuge der Adaptation der Methodenkritik des Poststrukturalismus, etwa im Anschluß an Derrida, findet sich — ohne Bezugnahme auf Methodologien (4) - die Tendenz, das Bemühen um eine methodologische Fundierung der Disziplin als unangemessen abzulehnen. ForschG: Statt einer kontinuierlichen Forschungstradition zur literaturwissenschaftlichen Methodologie gibt es nur vereinzelte Beiträge, meist von wissenschaftstheoretisch sozialisierten Forschern. Bezeichnend ist die Untersuchung Charpas zur Diskrepanz zwischen Methodologie der Wissenschaft allgemein und literaturwissenschaftlicher Praxis im besonderen, die zum Ergebnis kommt, daß sich die methodische bzw. argumentative Praxis der Literaturwissenschaft mithilfe philosophischer Methodologien nicht angemessen rekonstruieren lasse. Als Reaktion auf diesen Befund die ,Methodologisierung' der Disziplin in einem technischeren Sinne als in den 1970ern zu fordern, ginge an den .weichen Standards' der Literaturwissenschaft vorbei; statt dessen bleibt der methodologischen Forschung

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Metonymie

eine — kleinschrittiger vorgehende — sichtende Bestandsaufnahme und Rekonstruktion literaturwissenschaftlicher Methoden nicht allein in ihren Rahmentheorien, sondern vor allem mit ihren praktischen Differenzen: Typische Weisen der Erkenntnissicherung und -Vermittlung, Probleme der literaturwissenschaftlichen Terminologie sowie Argumentations- und Plausibilitätsstandards sind noch weitgehend unerforscht (vgl. Strube). Lit: Ulrich Charpa: Methodologie der Wissenschaft: Theorie literaturwissenschaftlicher Praxis? Hildesheim u. a. 1983. - Lutz Danneberg, HansHarald Müller: Verwissenschaftlichung der Literaturwissenschaft. In: Zs. für allgemeine Wissenschaftstheorie 10 (1979), S. 1 6 2 - 1 9 1 . - L. D.: Methodologien. Berlin 1989. - Dieter Freundlieb: Zur Wissenschaftstheorie der Literaturwissenschaft. München 1978. — Lutz Geldsetzer: Methodologie. In: HWbPh 5, Sp. 1379-1386. Heide Göttner, Joachim Jacobs: Der logische Bau von Literaturtheorien. München 1978. — Norbert Groeben: Rezeptionsforschung als empirische Literaturwissenschaft. Kronberg 1977. — Jürgen Hauff u. a.: Methodendiskussion. 2 Bde. Frankfurt 1972. - Reinhard Karnitz: Methode/ Methodologie. In: Hb. wissenschaftstheoretischer Begriffe. Hg. v. Josef Speck. Bd. 2. Göttingen 1980, S. 4 2 9 - 4 3 3 . - Kayser. - Jürgen Klein: Beyond hermeneutics. Zur Philosophie der Literatur· und Geisteswissenschaften. Essen 1985. — Manon Maren-Grisebach: Methoden der Literaturwissenschaft. München 1970, 4 1976. - Gerhard Pasternack: Theoriebildung in der Literaturwissenschaft. München 1975. — Horst Oppel: Methodenlehre der Literaturwissenschaft. In: Stammler 2 Bd. 1, S. 3 9 - 8 2 . - Tadeusz Pawlowski: Methodologische Probleme in den Geistesund Sozialwissenschaften. Braunschweig 1975. — Wilhelm Solms: Die Methodologisierung der Literaturwissenschaft. In: Literaturwissenschaft heute. Hg. v. Friedrich Nemec und W. S. München 1979, S. 9 - 5 0 . - Axel Spree: Kritik der Interpretation. Paderborn 1995. — Joseph Strelka: Methodologie der Literaturwissenschaft. Tübingen 1978. — Werner Strube: Analytische Philosophie der Literaturwissenschaft. Paderborn 1993. — Christian Timm: Gibt es eine Fachsprache der Literaturwissenschaft? Frankfurt 1992. — Christian Wagenknecht (Hg.): Zur Terminologie der Literaturwissenschaft. Stuttgart 1989. — Viktor Zmegaò (Hg.): Methoden der deutschen Literaturwissenschaft. Frankfurt 1972.

Simone Winko

Metonymie Ein im übertragenen Sinne gebrauchter sprachlicher Ausdruck, der mit dem Gemeinten durch eine Beziehung der faktischen Verknüpfung zu verbinden ist. Expl: Metonymische Sprachverwendung ist ein universell zu beobachtendes — freilich stets im Schatten metaphorischer Sprachverwendung stehendes — Verfahren der Überschreitung konventioneller AusdruckInhalt-Zuordnungen. Im Rahmen pragmatischer Sprachanalyse läßt sich solche s uneigentliche Rede — analog zu indirekten Sprechakten — als eine Divergenz von geregelter lexikalischer Bedeutung des Sprachzeichens und aktuellem Inhalt des Redezeichens charakterisieren. Die durch dieses weithin konventionelle Verfahren gebildete (und ihrerseits in festen Wendungen konventionalisierbare) Metonymie hat in ihrem bestimmten Außerungszusammenhang eine /" Referenz, die nicht in den üblichen Bedeutungsspielraum des verwendeten Sprachzeichens (bzw. Sprachzeichen-Komplexes) gehört, sondern nach Maßgabe von Co-Text und Kontext (unter Einschluß situativer Faktoren sowie des .gemeinsamen Wissens' von Sprecher und Hörern) und der rekonstruierbaren Sprecher-Intention aus einem Teil seiner Inhaltselemente erschlossen werden muß. Hierbei nicht verwendete Inhaltselemente können — wiederum nach Maßgabe des Kontexts und der SprecherIntention — als metonymische /" Konnotationen wirksam sein. [Terminologisches Feld:] Im Unterschied zur s Metapher sind bei der Metonymie die usuelle Bedeutung des Sprachzeichens (bzw. die durch ,Monosemierung' ausgewählte Lesart) und das ad hoc damit Bezeichnete dem gleichen ,Wirklichkeitsbereich' zugeordnet. Während in der SYNEKDOCHE

eine

Teil-Ganzes-Beziehung

zugrundeliegt (bei der ,partikularisierenden S y n e k d o c h e ' a l s PARS PRO TOTO, o d e r a b e r als

,totum pro parte' bei der .generalisierenden Synekdoche'), sind lexikalische und aktuelle Bedeutung einer reinen Metonymie durch eine unterstellte externe Nachbarschaftsrelation (Kontiguität, S Äquivalenzprinzip) miteinander verbunden.

Metonymie Die ANTONOMASIE (lat. pronominatio) gehört zum gleichen Umfeld. Gemäß der .Rhetorica ad Herennium' (4, 31, 42): „quae sicuti cognomine quodam extraneo demonstrat id, quod suo nomine non potest appellari" (,sie zeigt mit einem gleichsam äußerlichen Beinamen dasjenige an, was man nicht mit seinem eigenen Namen benennen kann'); entsprechend auch Quintilians Bestimmung der Antonomasie (8, 6, 29). Seit Vossius (II. 4, 10, 3 - 5 ) bezeichnet dieser Ausdruck generell eine der Metonymie nahestehende Spielart uneigentlicher Rede, bei der Individuen-Namen und Allgemeinbegriffe wechselseitig durcheinander vertreten werden können — also ein Eigenname durch ein prominentes Merkmal („philosophus" statt Aristoteles) oder ein allgemeines Merkmal durch einen seiner typischen Vertreter („ein Quisling" statt Kollaborateur. ,Vossianische Antonomasie'). WortG: Das Wort Metonymie geht zurück auf griech. μετονομάζειν [metonomázein] ,umbenennen', ,neu benennen', ,Namen vertauschen'. Als zugehöriges Nomen ist im klassischen Griechisch allerdings nicht μετωνυμία [metonymía], sondern μετονομασία [metonomasía] belegt (und dies nur in rhetorisch unspezifischem Zusammenhang, wie etwa in Herodots sprachgeschichtlichen Herleitungen bestimmter Wörter). Abgesehen von Tryphonos (,Peri tropon' 195, 19 f.) ist Metonymia erst in lat. Rhetoriken als terminus technicus belegt. So spricht Quintilian (8, 6, 23) von der „metonymia, quae est nominis pro nomine positio" (.Metonymie, d. h. die Setzung einer Benennung für eine [andere] Benennung') und verweist dafür auf Ciceros ,Orator' (27, 93): „hanc ύπαλλαγήν rhetores, quia quasi summutantur verba pro verbis, μετωνυμίαν grammatici vocant, quod nomina transferuntur" (,diese bezeichnen die Rhetoriker als Hypallagé [.Verwechslung', Veränderung'], weil gewissermaßen Wörter für Wörter vertauscht werden, die Grammatiker als Metonymia, weil die Benennungen übertragen werden'). Neben der lat. ist im 18. Jh. bereits die eingedeutschte Wortform üblich (z. B. Zedier 20, 1367).

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BegrG: Wie sie in der Aristotelischen,Poetik' und ,Rhetorik' überhaupt nicht erwähnt wird, so findet die Metonymie in der an sie anschließenden Tradition bis in die jüngste Vergangenheit ein ungleich geringeres theoretisches Interesse als die Metapher. Und zwar wohl deswegen, weil dem metonymischen Bezug im Unterschied zum metaphorischen ein äußerliches und kontingentes Moment anhaftet, das sich auch in der terminologischen Unschärfe der Metonymie niederschlägt. So wird sie in der ,Rhetorica ad Herennium' (4, 32, 43) denominatio genannt, „quae ab rebus propinquis et finitimis trahit orationem qua possit intellegi res, quae non suo vocabulo sit appellata" (,sie bezieht von naheliegenden und verwandten Dingen ihren sprachlichen Ausdruck, mit dem man diejenige Sache zu verstehen gibt, die man nicht mit ihrer eigenen Bezeichnung benannt hat'). Cicero aber gebraucht für sie neben dem griech. Ausdruck μετωνυμία [metonymia] die wenig spezifischen lat. Entsprechungen traductio (,Versetzung', ,Vertauschung') oder immutatio (,Veränderung', .Vertauschung'; ,De Oratore' 3,42,167) oder spricht auch von mutata verba (.veränderte Wörter'), „in quibus pro verbo proprio subicitur aliud, quod idem significet sumptum ex re aliqua consequenti" (,bei denen für den eigentlichen Ausdruck ein anderer eingesetzt wird, der dasselbe bezeichnen soll und aus einem eng zusammenhängenden Begriff stammt'; .Orator' 27, 92). Analog dazu sind im Deutschen erfolglos verschiedene Lehnbildungen vorgeschlagen worden: „Vernennung" (Harsdörffer 1644-49, V. 377; so auch Schottelius, 1248), „ Veränderung (Metonymia)" (Harsdörffer 1648-53, 3, 56; ähnlich Gottsched AW VII. 1, 310: „Namenänderung"), „Namenlehn" (Longolius, 79; so auch Gottsched AW VI. 1, 331 sowie VII. 1, 313) oder „Namenwechsel" (Gottsched, ebd.; ebenso Lindner, 27). Tatsächlich sind mögliche Aspekte (räumliche, zeitliche, kausale, begrifflich verallgemeinernde, konventionelle etc.; 15teilige Typologie bereits 1739 in Zedier 20, 1367—1369), unter denen sich ein metonymischer Nachbarschaftsbezug herstellen läßt, von vornherein kaum einschränkbar (nach Lausberg 21963, 68—77, handelt es

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Metonymie

sich bei allen hier behandelten Spielarten um bloße „Grenzverschiebungs-Tropen"); hingegen impliziert der metaphorische Ähnlichkeitsbezug eine Identität der betroffenen partiellen Begriffsmerkmale, bei gleichzeitiger Differenz der generellen Begriffsbereiche („Sprung-Tropen" nach Lausberg 2 1963, 79 f.). In diesem Sinne ist die Metonymie einerseits weit weniger dazu geeignet, sich zu einem prägnanten sprachlichen Ausdruck zu verdichten, wie sie andererseits kaum Anlaß zu sprachphilosophischen oder literaturtheoretischen Grundsatzüberlegungen geboten hat. Dies hat sich erst durch Jakobson (s. u.) und durch die .Kognitive Linguistik' geändert, für die die Metonymie einen prominenten Typ von .category extension' darstellt (vgl. Taylor, 122-130). Johann Christoph Gottsched: Ausgewählte Werke [ = AW], 12 Bde. Hg. v. P. M. Mitchell. Berlin 1968-87. - Georg Philipp Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprechspiele. 8 Teile. Nürnberg 1644-49. - G. Ph.H.: Poetischer Trichter. 3 Teile. Nürnberg 1648-53. - Heinrich Lausberg: Elemente der literarischen Rhetorik. München 2 1963. — Johann Gotthelf Lindner: Anweisung zur guten Schreibart. Königsberg 1755. - Johann Daniel Longolius: Einleitung zu gründlicher Erkäntniß einer jeden, insonderheit aber Der Teutschen Sprache. Bautzen 1715. — Justus Georg Schottelius: Ausführliche Arbeit von der teutschen HaubtSprache. Braunschweig 1663. - Tryphonos: Περί τρόπον [Peri trópon]. In: Rhetores graeci. Hg. v. Leonard Spengel. Bd. 3. Leipzig 1856, S. 189-256. - Gerardus Ioannes Vossius: Commentariorum Rhetoricorum, sive Oratoriarum institutionum libri sex. Leiden 1630, 4 1643.

ForschG: Gegenüber der älteren rhetorischen Tradition hat Jakobson in seiner /" Linguistischen Poetik eine entschiedene Aufwertung der Metonymie (unter Einschluß der Synekdoche) als Gegenpol zur Metapher vorgenommen. Ausgangspunkt hierfür ist eine sowohl an der rhetorischen Tradition wie an seinem eigenen Zwei-Achsen-Schema der Sprache orientierte Definition beider Tropen2 als „an assignment of a signans to a secondary signatum" (Jakobson 2, 355) - mit der Differenz: „the internal relation of similarity (and contrast) underlies the metaphor; the external relation of contiguity (and remoteness) determines

the metonymy" (232). Außer in der poetischen Sprachverwendung hat Jakobson diese vor allem bei seinen Aphasie-Studien verschiedener Formen des Sprachabbaus beobachtet, in denen es im Extremfall zu einem Ausfall bzw. zu krankhaftem Übermaß einer der beiden Tropen kommt: „Of the two polar figures of speech, metaphor and metonymy, the latter, based on contiguity, is widely employed by aphasies whose selective capacities have been affected. [...] Such metonymies may be characterized as projections from the line of a habitual context into the line of substitution and selection" (250). Jakobsons sprachtheoretische Generalisierung beider Tropen zu einem Gegensatz von similaritätsorientiertem „metaphoric way" und kontiguitätsorientiertem „métonymie way", und zwar „on any verbal level — morphemic, lexical, syntactic, and phraseological" (254 f.), hat literaturtheoretische Wurzeln: in seinen „Randbemerkungen zur Prosa des Dichters Pasternak" (1935; Jakobson 5, 421—432). Ähnlich wie hier hat Jakobson später den .metonymischen Weg' mit der Prosa, der realistischen Schreibweise und der kubistischen Gegenstandszerlegung sowie entsprechenden Filmtechniken, ja selbst noch mit der .kontagiösen Magie' Frazers und der .Verdrängung' und .Verdichtung' in Freuds .Traumdeutung' assoziiert (Jakobson 2. 255-259) und damit weiteren Generalisierungen im französischen /" Strukturalismus (z. B. Lévi-Strauss, Genette, Ruwet) wie in /" Poststrukturalismus (z. B. de Man) und ? New Historicism (z. B. White) den Weg bereitet. Spricht etwa Lacan vom „jeu signifiant de la métonymie" (dem .signifikanten Spiel der Metonymie'; Lacan, 517), so meint er damit - direkt an Jakobson anknüpfend die sprachliche Grundoperation der „connexion" (.Verknüpfung'; ebd. 506 f.) und als deren Resultat die (vor allem in der Dichtung zu vernehmende) .Polyphonie' der Signifikanten, die ihnen aus ihren verschiedenen Verwendungskontexten zuwächst. Lit: Willard Bohn: Roman Jakobson's theory of metaphor and metonymy: An annotated bibliography. In: Style 18 (1984), S. 534-550. - Marc Bonhomme: Linguistique de la métonymie. Bern 1987. - Hugh Bredin: Roman Jakobson on me-

Metrik

591

taphor and metonymy. In: Philosophy and literaMetrik ture 8 (1984), S. 89-103. - Η. Β.: Metonymy. In: Poetics today 5 (1984), S. 45-58. - Kenneth Wissenschaft von den Regeln oder den Burke: Four master tropes. In: Κ. B.: A grammar Prinzipien des Verses. of motives. Englewood Cliffs, N. J. 1945, S. 503517. — Jacques Dubois u. a.: Allgemeine Rheto- Expl: Der Begriff ist mehrdeutig. Er berik. München 1974. — Gérard Genette: Métony- zeichnet im einzelnen: (1) die wissenschaftlimie chez Proust. In: G. G.: Figures III. Paris che Disziplin, die sich mit der systemati1972, S. 41-63. - Raymond W. Gibbs,Jr.: The schen und historischen Beschreibung der poetics of mind. Cambridge 1994. -Louis Goosstrukturellen Charakteristika von Versen sens: By word of mouth. Metaphor, metonymy befaßt (VERSTHEORIE); (2) das Inventar der and linguistic action in a cognitive perspective. metrischen Einheiten sowie der prosodiAmsterdam 1995. - Wolfram Groddeck: Reden über Rhetorik. Frankfurt 1995 [hier S. 233-248]. schen und versifikatorischen Regeln einer - Michel LeGuern: Sémantique de la métaphore Sprache (Verssystem); (3) die Darstellung et de la métonymie. Paris 1973. - Albert Henry: von (2) in normativer oder deskriptiver AbMétonymie et métaphore. Paris 1971. — Heike sicht (Verslehre); (4) die metrische Praxis eiHülzer: Die Metapher. Münster 1987 [bes. nes Dichters oder einer Epoche (Verskunst) S. 187-199], - Roman Jakobson: Selected writings. Den Haag, Paris 1962 ff. - Jacques Lacan: bzw. (5) die Darstellung derselben. Écrits. Paris 1966 [bes. S. 493-528], - Claude Auch der Grundbegriff METRUM wird in Lévi-Strauss: La pensée sauvage. Paris 1962. — verschiedenen Bedeutungen gebraucht, so: David Lodge: The modes of writing. Metaphor, (A) als allgemeines Prinzip der Versstruktumetonymy, and the typology of modern literarierung; (B) als metrisches System bzw. als ture. London 1977. - Paul de Man: Allegories Versifikationstyp (quantitierendes, syllabiof reading. New Haven, London 1979. - Robert sches, alternierendes, akzentuierendes, takJ. Matthews, Wilfried ver Eecke: MetaphoricMetonymic polarities: A structural analysis. In: tierendes, fußmessendes Metrum), /" ProsLinguistics 67 (1971), S. 34-53. - Floyd Merrell: odie·, (C) als spezifische Unterart von (B) Of metaphor and metonymy. In: Semiotica 31 (jambisches, trochäisches Metrum); (D) in(1980), S. 289-307. - Christian Metz: Métanerhalb von (C) als ein spezifisches metriphore / Métonymie, ou le referent imaginaire. In: sches Schema (jambischer Fünfheber, troCh.M.: Le signifiant imaginaire. Paris 1977, chäischer Vierheber); (E) innerhalb der S. 177-371. - Guy Rosolato: L'oscillation métaphoro-métonymique. In: Topique 13 (1973), Fuß-Metrik als metrischer Baustein: metron oder / Versfuß (y Versmaß). S. 75—99. - Maria Ruegg: Metaphor and metonymy: The logic of structuralist rhetoric. In: Weiter lassen sich verschiedene KonzepGlyph 6 (1979), S. 141-157. - Nicolas Ruwet: tualisierungen des Begriffs ,Metrum' unSynekdochen und Metonymien [1975]. In: Theoterscheiden: (a) in der linguistisch fundierrie der Metapher. Hg. v. Anselm Haverkamp. ten (Paul, 94), insbesondere der strukturali2 Darmstadt 1996, S. 253-282. - Leon Surette: stischen und Generativen Metrik (/" GeneMetaphor and metonymy: Jakobson reconsidered. In: University of Toronto Quarterly 56 rative Poetik) das abstrakte Schema (in (1986), S. 557-574. - John R. Taylor: Linguistic traditionellerer Ausdrucksweise:,metrischer Rahmen', .Gerippe' oder ,Grundmaß'; categorization. Oxford 21995. - Friedrich Ungerer, Hans-Jörg Schmid: An introduction to cogni- Arndt, 44), das in metrischer Notation wietive linguistics. London, New York 1996 [bes. dergegeben werden k a n n — etwa f ü r den S. 114-155], - Sigrid Weigel: ,Das Weibliche als jambischen Fünfheber als Folge von SenMetapher des Metonymischen'. In: Kontroverkung (W = weak) und Hebung (S = sen, alte und neue. Hg. v. Albrecht Schöne. Tüstrong): bingen 1986. Bd. 6, S. 108-118. - Harald Weinrich: Zur Definition der Metonymie und zu ihrer WSWSWSWSWS(W) Stellung in der rhetorischen Kunst. In: Text-Ety- bzw. traditionell: mologie. Fs. Heinrich Lausberg. Hg. v. Arnold v-v-v-v-v-(v) Arens. Stuttgart 1987, S. 105-110. - Hayden White: Metahistory [1980], Frankfurt 1991. — und das jeweils einzelsprachlich zu realisieren ist; (b) f ü r den in diesem Metrum Hendrik Birus Schreibenden die mentale G r ö ß e (,verse de-

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Metrik

sign', s. unten), die seine Sprachgebung beeinflußt; (c) in der russischen Metrik-Tradition die ideale Norm mit dem Komplementärbegriff .Rhythmus', der hier die konkrete sprachliche Realisierung bezeichnet, die (fast) immer in einer Spannungsbeziehung zum Metrum steht; (d) der beim Rezipienten psychisch wirksame rhythmische Impuls, der, einmal in Gang gesetzt, seine Wahrnehmung von Versen steuert, selbst wenn das sprachliche Material nicht völlig damit konvergiert. Den empirischen Gegenstand der Metrik bilden metrisch geregelte Verse. Damit ist die Metrik eine Grundlagendisziplin der Literaturwissenschaft, insbesondere der f Poetik. Da sie es immer mit sprachlichen, zumal prosodischen Strukturen zu tun hat, ist ihre eigene Grundlagendisziplin die Linguistik. Insoweit der Vers Eigenschaften hat, die auch in anderen Künsten eine Rolle spielen (Ordnung, Symmetrie, Proportion, Periodizität, Rhythmus), ist die Metrik Teil der Ästhetik-, insoweit die formalen Strukturen selbst Zeichencharakter haben, auch der Semiotik. In Abhängigkeit von der leitenden Fragestellung und dem gewählten empirischen Gegenstandsbereich läßt sich die Metrik wie folgt untergliedern: Die Theoretische Metrik befaßt sich mit der Struktur und Funktion von Versen allgemein. Demgegenüber ist der Gegenstandsbereich der Deskriptiven Metrik auf ein bestimmtes Korpus aus einer oder mehreren Einzelsprachen beschränkt, wobei innerhalb einer Einzelsprache wiederum eine Eingrenzung auf eine bestimmte Sprachstufe, eine Epoche, einen bestimmten Versifikationstyp, einen Dichter oder einen Ausschnitt aus seinem Schaffen vorgenommen werden kann. Wird innerhalb des Korpus unter historischen und/oder systematischen Gesichtspunkten zwischen verschiedenen Teilkorpora unterschieden, sprechen wir von Historischer (Kayser, Breuer) bzw. Vergleichender (Komparativer) Metrik (Bjorklund, Gasparov). Zur Metrik gehört nicht nur im engeren Sinn die Beschreibung derjenigen metrischen Einheiten, die ,gemessen' und zu größeren Einheiten zusammengefügt werden, sondern im weiteren Sinn auch die Be-

schreibung der Strophen- und Gedichtformen (ζ. B. Schlawe, Frank) sowie der Klangelemente wie /" Reim, s Alliteration, Assonanz, die Teil der metrischen Struktur eines Textes sein (wie der Stabreim im altgermanischen Vers oder der Reim im Knittelvers), aber auch nur lokale, metrisch fakultative Strukturen bilden können. Metrik im weiteren Sinne hat den Vers in seiner spezifischen Strukturiertheit zum Gegenstand und muß sich daher auch mit dem Material, das in diese Strukturiertheit gebracht wird, und den Regeln oder Prinzipien, nach denen dies geschieht, befassen. Im Unterschied zu anderen Künsten ist das Material der Poesie, die Sprache, keine form- und bedeutungslose Masse, sondern ein System, das selbst Form und Bedeutung hat. Dieses primäre sprachliche System wird überlagert von einem sekundären metrischen System, das sich zwar im sprachlichen realisiert, dessen Einheiten und Verknüpfungsregeln aber nicht-sprachlicher Natur sind. Daher sind sprachliche und metrische Einheiten strikt voneinander zu unterscheiden. Metrische Systeme unterscheiden sich von sprachlichen erstens durch die Reduzierung sprachlicher Vielfalt auf binäre Oppositionen (ζ. B. Hebung — Senkung, Länge — Kürze) und zweitens durch die periodisch organisierte Anordnung ihrer Einheiten in Vers, Strophe, Gedicht. Zwar gibt es prototypische Entsprechungen zwischen beiden Systemen wie Vers — Satz, Halbvers — syntaktische Phrase, Versfuß — Wort, Silbe — metrische Position, Hebung — betonte Silbe und Senkung — unbetonte Silbe, aber keine Identität (s Enjambement, ? Hebung). Metrische Systeme selektieren aus dem sprachlichen bestimmte prosodische Phänomene und formen sie zu einem neuen, ästhetisch dominierten System, das auf den Prinzipien der Repetition bzw. Rekurrenz (s Äquivalenzprinzip) aufbaut (Küper 1993). Metrische Strukturiertheit kann mindestens die folgenden Funktionen haben, die einander nicht notwendig ausschließen: die /* Poetische Funktion, die u. a. darin besteht, den Text von Prosa zu unterscheiden und die Aufmerksamkeit des Rezipienten auf die spezifische Textstruktur selbst zu

Metrik lenken; die semantische Funktion, und zwar entweder global qua Gedicht- bzw. Versform (intertextuelle Funktion) oder lokal, resultierend aus der Interrelation einer metrischen Form mit ihrer konkreten sprachlichen Füllung (ikonische oder mimetische Funktion); die rhythmische Funktion (/" Rhythmus), die im Extremfall bis zur hypnotischen gesteigert sein kann; die mnemotechnische Funktion (vor allem bei Gebrauchstexten wie " Hypertext). ForschG: In der Theorie des Films hat die Diskussion u m Formen und Funktionen der Montage seit dem russischen Revolutionsfilm (Eisenstein, Pudowkin) Tradition. In der bildenden Kunst und Literatur geht die Beschäftigung mit der Montage der Erforschung der historischen Avantgarden parallel. Seit Adornos .Ästhetischer Theorie' (1970) und Peter Bürgers ,Theorie der Avantgarde' (1974) ist die Montage zu einem zentralen Begriff zur Bestimmung des Werkcharakters avantgardistischer Kunst geworden. Lit: Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie. Frankfurt 1970. - Franz-Josef Albersmeier (Hg.): Texte zur Theorie des Films. Stuttgart 1979. - Denis Bablet (Hg.): Collage et montage au théâtre et dans les autres arts durant les années vingt. Lausanne 1978. - Hans J. Becker: Mit geballter Faust. Kurt Tucholskys Deutschland, Deutschland über alles'. Bonn 1978. Hans Beller (Hg.): Hb. der Filmmontage. München 1993. — Peter Bürger: Theorie der Avantgarde. Frankfurt 1974. - Gertrud I. Dech: Schnitt mit dem Küchenmesser DADA durch die letzte Weimarer Bierbauchkulturepoche Deutschlands. Untersuchungen zur Fotomontage bei

633

Hannah Hoch. Münster 1981. - Horst Fritz (Hg.): Montage in Theater und Film. Tübingen, Basel 1993. — Reinhold Grimm: Montierte Lyrik. In: GRM N F 8 (1958), S. 178-192. - Volker Hage (Hg.): Literarische Collagen. Stuttgart 1981. - V. H.: Collagen in der deutschen Literatur. Frankfurt, Bern 1984. - John Heartfield: Der Schnitt entlang der Zeit. Hg. v. Roland März. Dresden 1981. - Ralph Homayr: Montage als Kunstform. Zum literarischen Werk von Kurt Schwitters. Opladen 1991. - Annegret JürgensKirchhoff: Technik und Tendenz der Montage in der bildenden Kunst des 20. Jhs. Gießen 1978. Otto Keller: Döblins Montageroman als Epos der Moderae. München 1980. - Volker Klotz: Zitat und Montage in neuerer Literatur und Kunst. In: STZ 60 (1976), S. 259-277. - Leo A. Lensing: „Photographischer Alpdruck" oder politische Fotomontage? Karl Kraus, Kurt Tucholsky und die satirischen Möglichkeiten der Fotografie. In: ZfdPh 107 (1988), S. 556-571. Burkhardt Lindner, Hans Burkhard Schlichting: Die Destruktion der Bilder. Differenzierungen im Montagebegriff. In: Alternative 21 (1978), S. 209-225. - Dubravka Oraic-Tolic: Collage. In: Glossarium der russischen Avantgarde. Hg. v. Aleksandar Flaker. Graz, Wien 1989, S. 152178. - Karl Riha: Cross-Reading und Cross-Talking. Stuttgart 1971. - Hans-Burkhard Schlichting: Historische Avantgarde und Gegenwartsliteratur. In: Theorie der Avantgarde. Hg. v. W.Martin Lüdke. Frankfurt 1976, S. 209-251. — Wolfgang Seibel: Die Formenwelt der Fertigteile. Künstlerische Montagetechnik und ihre Anwendung im Drama. Würzburg 1988. — Eckhard Siepmann: Montage: John Heartfield. Berlin 3 1977. — Werner Spiess: Max Ernst Collagen. Köln 1988. - Carl Weissner (Hg.): Cut up. Darmstadt 1969. - Hertha Wescher: Die Geschichte der Collage. Köln 1980. Georg Jäger

Moralisatio ? Allegorie3 Moralische Wochenschriften Zeitschrift

Moralistik In unsystematischer F o r m präsentierte, auf explizite moralische Belehrung verzichtende Darstellungen menschlicher Verhaltensweisen.

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Moralistik

Expl: Als .Moralistik' werden die Schriften der sogenannten Moralisten zusammengefaßt, (1) „im historischen Sinne [...] eine[r] Gruppe französischer Autoren des 17. und 18. Jhs." (Friedrich 1967, 168); gegenüber dieser ,,unzulässige[n] Einschränkung" (2) überhaupt Autoren, „die auf die Frage, was der Mensch sei, antworten durch Betrachten und Beschreiben aller Erscheinungsweisen des Menschen in seelischer, sittlicher, sittengeschichtlicher, gesellschaftlicher, politischer Hinsicht, jeweils nach den Verschiedenheiten der Räume und Zeiten" (ebd.). In diesem zweiten Sinne bezeichnet Moralistik Texte mit einer ahistorisch-anthropologischen Einstellung, deren „wichtigste negative Bestimmung" in ihrer Opposition zu systematischer „Morallehre" und „Moralphilosophie" liegt (ebd.). Wünschenswert wäre für diese schwer operationalisierbare Bedeutung eine ideologiefreie Präzisierung etwa als spezifische S Schreibweise2, für die Kriterien wie formale Offenheit, Freiheit von moralisierender Bevormundung, Bevorzugung eines autoreflexiven Standpunkts bei gleichzeitiger Beachtung sozialer Interaktion geltend gemacht werden könnten. WortG: Frz. moraliste (abgeleitet von morale ,Sittenlehre'), zuerst in Furetières ,Dictionaire universel' (1690), bedeutet „Auteur qui escrit, qui traite de la Morale". In diesem Sinne definiert auch Jaucourt moraliste als „auteur sur la morale" (Diderot u. a., 702) und kritisiert ausdrücklich jene Autoren, die sich damit begnügen, ,genau ausgearbeitete Porträts zu zeichnen, die aber die Methode und die Prinzipien, die die Hauptsache der Moral ausmachen, beiseitelassen'. Chr. Thomasius führt in seiner .Einleitung zur Sittenlehre' (1692) die Fremdwörter morale und moralist ins Deutsche ein. Umgangssprachlich gewinnt moraliste ebenso wie das dt. Fremdwort aber auch schon im 18. Jh. die Bedeutung .moralischer Rigorist' (Richelet 2. 51; Schiller, ,Die Räuber' IV,2), die es bis heute behalten hat. Ab Mitte des 19. Jhs. belegt der .Trésor de la langue française' außerdem moraliste als „Écrivain qui observe, décrit et analyse les mœurs, les passions d'une époque" (,Autor, der die Sitten

und Leidenschaften einer Epoche beobachtet, beschreibt und analysiert', 11, 1066). In diesem Sinne ist moralistes eine Sammelbezeichnung für eine Gruppe von französischen Autoren zwischen Montaigne und Chamfort. F. Nietzsche hat frz. moraliste mit dem Fremdwort Moralist wiedergegeben und dabei als Bezeichnung für eine diesen Autoren unterstellte illusionslose Anthropologie auch den Ausdruck Moralistik geprägt (Friedrich 1967, 168). Die literaturwissenschaftliche Verwendung, seit ca. 1950 v.a. in der Romanistik, steht im Gegensatz zum üblichen Sprachgebrauch, der Moralist mit ,Sittenlehrer' gleichsetzt (Belege: HWbPh 6, 175-179). Denis Diderot u. a. (Hg.): Encyclopédie. Bd. 10. Paris 1765. — Antoine Furetière: Dictionaire universel. Bd. 2. La Haye, Rotterdam 1690. - Pierre Richelet: Nouveau dictionnaire françois. Bd. 2. Paris 1719. — Trésor de la langue française. Hg. v. Institut National de la Langue Française. Bd. 11. Paris 1985.

BegrG: Während die Abgrenzung im Sinne von (1) fest ist, wurden unter der weiteren Bedeutung von .Moralistik' Autoren seit dem Hellenismus subsumiert, die durch konzise, zugespitzte, dabei die Geschlossenheit einer systematischen Ordnung meidende Sentenzen, Lebensweisheiten, Portraits o. ä. im Dienste einer praktischen Verhaltenslehre hervortraten. Dies führt — im Gegensatz zu (1) — zu einer Unschärfe des Begriffs, als dessen Kern nurmehr ein vager Typus von Maximen und Reflexionen übrigbleibt (so bei H. Friedrich). Insbesondere wird die Grenze zum Aphorismus verwischt. Als literaturwissenschaftlicher Terminus konnte sich der Begriff .Moralistik' bis heute nur in der deutschen Romanistik durchsetzen und hat auch dort keine nennenswerte inhaltliche Präzisierung erfahren. SachG: Als erster bedeutender französischer Moralist wird Montaigne genannt. Dessen mehrmals überarbeitete ,Essais' (zuerst 1580) sind in ihren Anfängen noch weitgehend bestimmt von einem späthumanistischen Umgang mit antiken Bildungsinhalten (/" Humanismus2). Diese werden in den späteren Fassungen zunehmend von Selbst-

Moralistik beobachtungen und Überlegungen zu den unterschiedlichsten Bereichen des Alltags überlagert. Montaigne bildet einen wichtigen Bezugspunkt für die .klassischen' Moralisten des 17. Jhs. (La Rochefoucauld, Pascal, La Bruyère), die eine gemeinsame, wenn auch unterschiedlich starke augustinistisch-jansenistische Orientierung erkennen lassen. La Rochefoucauld wurde sowohl durch die Form seiner ,Maximen' (/" Aphorismus) als auch durch die Art ihrer Anordnung in einer eigenständigen Sammlung (.Réflexions ou Sentences et Maximes morales', zuerst 1665) zum Vorbild .moralistischen' Schreibens. Seine Themen entstammen philosophischen, religiösen oder höfischen Traktaten des 16. und 17. Jhs., wobei die Schwerpunkte auf einer moralisierenden Propagierung des Hofmannsideals (.honnêteté') und vor allem auf der Entlarvung des Scheincharakters nur geheuchelter oder auch ernsthaft angestrebter Tugend liegen. Bei Pascals .Pensées' (postum 1669) handelt es sich um Fragmente einer geplanten Apologie der christlichen Religion. La Bruyères Schrift .Les Caractères' (zuerst 1688) steht in der Tradition des antiken Autors Theophrast, bleibt aber thematisch trotz der expliziten Abgrenzung La Rochefoucauld und Pascal verpflichtet. Ab der 4. Auflage werden zunehmend satirische Porträts zeitgenössischer Charaktertypen eingefügt, die zahlreiche Nachahmer fanden und selbst in Romanen (Crébillon d.J.) und Dramen (Regnard) Spuren hinterlassen haben. Vauvenargues' .Réflexions et Maximes' (zuerst 1746) setzen sich mit einer sensualistischempfindsamen Positivierung der Leidenschaften und besonders der Selbstliebe (,amour-propre') von La Rochefoucauld ab. Die postum von fremder Hand redigierten .Maximes et Pensées, Caractères et Anecdotes' (1795) von Ν. Chamfort erweitern das formale Spektrum um die Gattung Anekdote und unterscheiden sich mit ihren literarischen Anspielungen und ihrer rigoristischen, oft bissig ironischen Sozialkritik von den vorhergehenden Sammlungen. Hier deutet sich eine Tendenz zur Subjektivierung an, die die späteren Aphoristiker (Ri-

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varol, Joubert) grundlegend von den .klassischen' Moralisten trennt. Die französischen Moralisten vertreten einen besonderen Typus pragmatischer Morallehre, der in der Frühen Neuzeit weit verbreitet wird. Aus diesem Grund werden von den Verfechtern einer gemeineuropäisch verstandenen Moralistik (etwa von Stackelberg) die .Ricordi' (verschiedene Fassungen 1528, 1530; Erstdruck 1857) von Guicciardini einbezogen, eine Sammlung, die ζ. T. konkrete Handlungsanweisungen formuliert, meist aber — als Konsequenz einer nominalistisch motivierten Skepsis gegenüber allgemeinen Regeln und Beispielen — die Bedeutung situationsadäquater Lebensklugheit (.discrezione') vor Augen führt. Problematischer erscheint die Ausdehnung des Konzepts auf spanische Autoren wie A. Pérez, F. de Quevedo und B. Gracián. Besonders dessen ,Oráculo manual' (1647), eine Sammlung von dreihundert konzisen, knapp kommentierten Sentenzen, hat — nicht zuletzt durch Schopenhauers Übersetzung (, Handorakel und Kunst der Weltklugheit', 1862) — aktualisierende Fehldeutungen erfahren, die die grundlegende aristotelistisch-thomistische Orientierung des jesuitischen Verfassers aus den Augen verlieren. Quevedos zu Lebzeiten unveröffentlichte .Migajas sentenciosas' schließlich müssen eher als eine zum privaten Gebrauch zusammengestellte Zitatensammlung angesehen werden. In Deutschland, wo die Schriften der französischen Moralisten zwar z. T. früh übersetzt, aber erst im späten 18. Jh. allgemeiner bekannt werden, sind die Probleme einer erfahrungsorientierten Morallehre im systematischen Zusammenhang naturrechtlicher Morallehren abgehandelt worden (Pufendorf, Thomasius; vgl. Vollhardt). ForschG: Mit Amaury Duvals kommentierter Ausgabe von Werken der genannten Autoren unter dem Titel,Collection de Moralistes français' setzt die Forschungsgeschichte ein (Kruse 1972, 280). In Deutschland hat besonders Nietzsche ihre Bedeutung herausgestellt und zugleich angeregt, sie als europäische Bücher' im Kontext der Renaissance zu betrachten. Im 20. Jh. ist die Mora-

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Moralität

listik-Forschung mit den Namen Schalk, Kruse und vor allem Friedrich verbunden, der Nietzsches Anregungen in Form eines breit angelegten Forschungsprogramms umzusetzen versucht hat, in eigenen Schriften wie in zahlreichen Arbeiten seiner Schüler. Dabei bezieht er prinzipiell Autoren wie Cervantes oder Shakespeare ein. Damit verliert der Begriff an Trennschärfe. So muß seine meist als grundlegend angesehene Definition in Spezialuntersuchungen in wesentlichen Punkten modifiziert werden. Die deutsche Rezeption der französischen Moralistik ist dokumentiert bei Fricke/Meyer. Derzeit dient,Moralistik' als Sammelbegriff für eine Vielzahl unterschiedlicher Schriften im Grenzbereich von Philosophie und Literatur; eine überzeugende analytische Verwendung ist dabei nicht erkennbar. Lit: Harald Fricke: Aphorismus. Stuttgart 1984, S. 4 6 - 5 2 . - H. F., Urs Meyer (Hg.): Abgerissene Einfálle. München 1998. — Hugo Friedrich: Montaigne. Bern, München 2 1967. - H. F.: Romanische Literaturen. 2 Bde. Hg. v. Brigitte Schneider-Pachaly. Frankfurt 1972. — Gerhard Hess: Gesellschaft - Literatur - Wissenschaft. Hg. v. Hans Robert Jauß und Claus MüllerDaehn. München 1967. — Margot Kruse: Die französischen Moralisten des 17. Jhs. In: Neues Hb. der Literaturwissenschaft. Hg. v. Klaus von See. Band 10. Frankfurt 1972, S. 280-300. M. K.: Die Maxime in der französischen Literatur. Hamburg 1960. - Fritz Schalk (Hg.): Die französischen Moralisten. 2 Bde. Bremen 2 1962f. — Gerhart Schröder: Gracián und die spanische Moralistik. In: Neues Hb. der Literaturwissenschaft. Hg. v. Klaus von See. Bd. 10. Frankfurt 1972, S. 257-279. - Ulrich Schulz-Buschhaus: Moralistik und Poetik. Hamburg 1997. — Jürgen v. Stackelberg: Französische Moralistik im europäischen Kontext. Darmstadt 1982. — Dieter Steland: Moralistik und Erzählkunst von La Rochefoucauld und Mme de Lafayette bis Marivaux. München 1984. - Christoph Strosetzki: Moralistik und gesellschaftliche Norm. In: Französische Literatur in Einzeldarstellungen. Hg. v. Peter Brockmeier und Hermann H. Wetzel. Bd. 1. Stuttgart 1981, S. 177-223. - Louis van Delft: Qu'est-ce qu'un moraliste? In: Cahiers de l'association internationale des études françaises 30 (1978), S. 105-120. - Friedrich Vollhardt: Zwischen pragmatischer Alltagsethik und ästhetischer Erziehung. In: Der ganze Mensch. Hg. v. Hans-Jürgen Schings. Stuttgart, Weimar 1994, S. 112-129. - Frank Wanning: Diskursivität

und Aphoristik. Untersuchungen zum Formenund Wertewandel in der höfischen Moralistik. Tübingen 1989. - Harald Wentzlaff-Eggebert: Lesen als Dialog. Französische Moralistik in texttypologischer Sicht. Heidelberg 1986. - Peter Werle: ,E1 Héroe'. Zur Ethik des Baltasar Gracián. Tübingen 1992.

Peter Werle

Moralität Allegorisches Schauspiel des 15. 16. Jhs. mit lehrhafter Intention.

und

Expl: Im Unterschied zum Geistlichen Spiel dramatisiert die Moralität nicht Stoffe aus der Bibel oder der christlichen Legende, sondern abstrakte Moralvorstellungen. In der religiös-erbaulichen Moralität verfallt ein Vertreter der Menschheit (die Seele, Jedermann) auf dem Lebensweg den Lastern und wird von den Tugenden gerettet oder wird durch die ihn abrufende Todesfigur mit seinem Leben konfrontiert. Einige Moralitäten sind durch einen am Schluß gefällten Urteilsspruch Gottes mit den teils allegorisch gestalteten Weltgerichtsspielen (S Geistliches Spiel) verbunden. Die weltlich-didaktischen und politischen Moralitäten behandeln gesellschaftliche und (nach der Reformation) konfessionspolemische Fragen. WortG: Moralität ist dem frz. moralité, engl, morality, nachgebildet. Als Gattungsbezeichnung zuerst 1427 belegt: .Moralité faitte au College de Navarre' (Helmich, 21 f.). Der Terminus entstammt der Schulsprache des 12. Jhs. und beruht auf spätlat. moralitas (Helmich, 21). In dt. Wörterbüchern (fehlt im DWb) ist Moralität erst ab 1863 nachweisbar (Sanders: „eine früher in England übliche Art Dramen", s. v.). BegrG: Moralisé ist stehendes Beiwort für Werke der mittelalterlichen Dichterallegorese (Ovide moralisé). Als Gattungsbegriff wird moralité zuerst Anfang des 15. Jhs. auf französische Schulstücke angewendet. In englischen Spielbelegen erscheinen morality und moral play seit dem 15. Jh. (Helmich, 20—25). Die flandrischen Rederijker be-

Moralität zeichnen die Moralität als spei van sinne. Vor dem 19. Jh. ist der Begriff im Dt. nur umschreibend belegbar: „dise figur vnd Exempel vom aygen gericht vnd sterbenden menschen" (München 1510). SachG: Als lehrhaftes Stück ist die Moralität seit ihren Anfangen (spätes 14. Jh., Frankreich, England) ein volkssprachlicher Spieltyp. In der lateinischen Spieltradition steht der vermutlich 1152 zur Weihe des Rupertsbergklosters gesungene ,Ordo virtutum' Hildegards von Bingen völlig unikal. Die ältesten Moralitäten und das umfangreichste Textkorpus (etwa 70 Spiele) stammen aus Frankreich. ,Li Jeux des vii pechie et des vii vertus' (1390 in Tours aufgeführt) dramatisiert den Kampf um die Seele, der in langer Tradition auf die ,Psychomachie' des Prudentius zurückgeht. Eine nichtdramatische Vorlage (einen Traktat Guillaumes de Deguileville) hat auch das etwa gleich alte ,Le Jeux de pelerinage de vie humaine'. ,The Pride of Life' (1350-1375) markiert den Beginn der englischen ,moral plays' und führt bereits in den Moralitäten der Sammlung Macro zu bedeutenden Theaterwerken (,The Castle of Perseverance', um 1405-25; ,Mankind', um 1465). Daß es Moralitäten vor der Reformation auch in Deutschland gab, ist erst von der neueren Forschung (Linke) ermittelt worden. Von 1439 (,De viff dogede') bis 1515 (,De love [Glaube] wort in allem state ghesocht unde nicht ghefunden') inszenierte die Lübecker Zirkel-Gesellschaft, deren Mitglieder zur städtischen Oberschicht gehörten, in ihren zu Fastnacht auf einer Wagenbühne aufgeführten Spielen auch etwa 22 weltlich-didaktische und politische (,Van overdaede [Gewalttätigkeit] der forsten unde heren', 1491) Moralitäten. Von ihnen sind nur die Titel bekannt. In einer zu Lesezwecken angefertigten Handschrift von 1448 ist die umfangreiche .Erfurter Moralität' (rund 18 000 Verse) überliefert, die drei neutestamentliche Parabeln allegorisiert. Regionale Rezeption bezeugt das Fragment der ,Berliner Moralität' (ostmitteldt., um 1500), das in einer Textpartie (Mahnworte des Todes) mit Erfurt übereinstimmt. In dem vermutlich 1518 in Straßburg aufge-

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führten ,Tugent Spyl' („Tugent überwindet Fraw Wolust") schuf Sebastian Brant die bedeutendste weltliche Moralität. Die Moralität des 16. Jhs. ersetzt, in der Nachfolge von Pamphilus Gengenbach (,Die zehn alter diser weit', Basel 1515), den Lebensweg durch die Lebensalter (Adaptation von Jörg Wickram, 1531). Verbreiteter sind Moralitäten des ,Jedermann'-Typs, die von dem niederländischen ,Elckerlijc' Peters van Diest (Erstdruck 1495) und dem lat. ,Hecastus' des Macropedius (1539) ihren Ausgang nehmen: ,Das Münchner Eigengerichtsspiel' (1510), der ,Hecastus' von Hans Sachs (1549), Nicolaus Mercators ,Vastelavendes spil van dem Dode unde van dem Levende' (1576). In der Reformation wird der Jedermann-Stoff konfessionalisiert. Der ,Homulus' (1536) des Christian Ischyrius und die dt. Fassung des Kölner Druckers Jaspar von Gennep (1540) betonen polemisch die Macht der bona opera. Gegen die römisch-katholische Lehre richtet sich der ,Mercator' des Thomas Kirchmair (Naogeorgus). ,Der Düdesche Schlömer' Johannes Strickers (Lübeck 1584) erneuert das Jedermann-Spiel im Lichte der Büß- und Rechtfertigungslehre Luthers. Auch einige Jesuitendramen stehen in dieser Tradition (Livinus Brechtus, ,Euripus', 1549; Ferdinand II. von Tirol, ,Ein Spiegel des Menschlichen Lebens', Innsbruck 1584). Die politische Moralität setzt 1514 in der Schweiz (Zürich) mit Balthasar Spross' ,Spiel von den alten und jungen Eidgenossen' neu ein. Diese Tradition setzt sich im ? Vaterländischen Schauspiel der Schweiz bis ins 20. Jh. fort (Gut). Insgesamt tritt in der Geschichte des frühneuzeitlichen Theaters die Moralität als schlichte, didaktisch instrumentalisierte Kunstform hochliterarisch zurück. Durch Hugo von Hofmannsthals Neubearbeitung des englischen ,The Somonynge of Everyman' (1461 — 1483, Erstdruck 1509), .Spiel vom Sterben des reichen Mannes Jedermann' (1911), ist die Moralität in unserem Jh. in historisierendem Gewand wiederentdeckt worden. ForschG: Beschäftigt hat man sich vornehmlich mit den englischen Moralitäten (seit etwa 1910), weil sie zu Marlowe und

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Motiv

Shakespeare führen. Den abwertenden Beurteilungen der moralités widersprach erst Helmich (1976). Seit Goedeke (1865) gibt es eine Forschung zu den Jedermann-Moralitäten (Könneker), durch Hofmannsthal neu angeregt (Parker). Sie verfolgt die nachreformatorischen Wandlungen des Stoffs (Valentin, Best, Rädle). Lit: Thomas W. Best: Everyman and protestantism in the Netherlands and Germany. In: Daphnis 16 (1987), S. 13-32. - Wilhelm Creizenach: Geschichte des Neueren Dramas. Bd. 1. [21911]. Repr. New York 1965, S. 461-490. - Donald Gilman (Hg.): Everyman and company. New York 1989 [Bibliographie S. 193-327]. - Karl Goedeke: Every-Man, Homulus und Hekastus. Hannover 1865. — Katrin Gut: Das vaterländische Schauspiel der Schweiz. Freiburg/Schweiz 1996. — Werner Habicht: Studien zur Dramenform vor Shakespeare. Moralität, Interlude,· romaneskes Drama. Heidelberg 1968. — Werner Helmich: Die Allegorie im französischen Theater des 15. und 16. Jhs. Tübingen 1976. — Barbara Könneker: Die Moralität ,The somonynge of Every-Man' und das Münchener Spiel vom Sterbenden Menschen. In: Virtus et Fortuna. Fs. Hans-Gert Roloff. Hg. v. Joseph P. Strelka. Berlin, Frankfurt 1983, S. 91-105. - Hansjürgen Linke: Die Komposition der Erfurter Moralität. In: Medium Aevum deutsch. Fs. Kurt Ruh. Hg. v. Dietrich Huschenbett. Tübingen 1979, S. 215-236. - H. L.: Erfurter Moralität. In: VL 2, Sp. 576-582. - H. L.: Figurengestaltung in der ,Erfurter Moralität'. In: ZfdA 124 (1995), S. 129-142. - John J. Parker: The development of the Everyman drama from .Elckerlyc' to Hofmannsthal's Jedermann'. Doetinchem 1970. — Robert Potter: The English morality play. London 1975. — Fidel Rädle: Aus der Frühzeit des Jesuitentheaters. In: Daphnis 7 (1978), S. 403 - 4 6 2 . - Renate Schipke: Die .Berliner Moralität'. In: Studien zum Buch- und Bibliothekswesen 4 (1986), S. 3 6 - 4 5 . - Eckehard Simon: The moral plays of Lübeck. In: History and literature. Fs. Karl S. Guthke. Hg. v. William C. Donahue. Tübingen 2000 [im Druck]. — JeanMarie Valentin: Die Moralität im 16. Jh. Konfessionelle Wandlungen einer dramatischen Struktur. In: Daphnis 9 (1980), S. 769-788.

Eckehard Simon

Moritat

Bänkelsang

Morolfstrophe ? Epenstrophe

Motiv Kleinste selbständige Inhalts-Einheit oder tradierbares intertextuelles Element eines literarischen Werks. Expl: Angesiedelt auf der Bedeutungsebene des Textes, ist das Motiv von anderen Kategorien des Inhalts durch seine Bedeutungsweite (Extension) und -dichte (Intension) zu unterscheiden: Im Gegensatz zum ? Stoff, der aus einem komplexeren Sinnzusammenhang besteht, der, ob historisch-real oder fiktiv, durch räumliche, zeitliche und personale Faktoren festgelegt ist, ist das Motiv ein inhaltsbezogenes Schema, das nicht an einen konkreten historischen Kontext gebunden und damit für die Gestaltung von Ort, Zeit und Figuren frei verfügbar ist. Dadurch kann das Motiv verschiedenen Stoffen angehören und über das Einzelwerk hinaus seinen Wiedererkennungswert in der literarischen Tradition behaupten. In diesem Sinne kann es als Element intertextueller Zusammenhänge betrachtet werden. Durch einen höheren Grad an (referentieller) Konkretheit hebt sich das Motiv hingegen vom /* Thema ab, das sich auf den abstrahierten Gehalt des literarischen Textes, seinen zentralen Gegenstand bezieht. Darüber hinaus vermag das Motiv, da es zumeist in Verbindung mit anderen Motiven und mehrfach in einem Werk auftritt, sowohl textbildend als auch -strukturierend zu wirken (S Leitmotiv). Nicht zuletzt wegen seiner geschichtlichen Verschiebbarkeit und textkonstituierenden Leistung (vgl. Andermatt) hat das Motiv als Inhaltselement des öfteren Versuche einer Subkategorisierung herausgefordert, die auf die Bestimmung seiner Funktionen für die Textstruktur, seine Position, d. h. Dominanz innerhalb des größeren Stoffes, oder auf eine Typologie nach Sinnbereichen zielen (s. Frenzel 1974, 21—24): (1) Schon Goethe nahm eine .horizontale' Einteilung der Motive gemäß der Gestaltung der Ereignisfolge vor (s. u.); dies hänge, so Wolfgang Kayser, mit der Nähe von Motivarten zu den Grundgattungen zusammen — z. B. primär lyrische, epische (s. Frenzel 1978, 87 f.) bzw. eher dramatische Motive; nach Kayser besitzen letztere (wie

Motiv „das Motiv der feindlichen Brüder") wegen ihrer „Gespanntheit" (Kayser, 61) ein erhebliches Konfliktpotential. (2) Daneben wurde eine ,vertikale' Gewichtung der Motive versucht, d. h. eine Klassifikation nach dem Grad ihrer textprägenden Kraft: Das Hauptmotiv, auch .primäres Motiv' in .Mittelstellung' (Sperber/Spitzer, 10-12), ,Kernmotiv' (Petsch, 130 f.) oder Motiv in .Mittelstellung' (Krogmann, 427), nicht selten im Werktitel exponiert, bestimmt dabei die ? Komposition, die „bis in die einzelsten Verzweigungen" aus dem „Grundmotiv" erwachse (Heyse, 495—500; ζ. B. der Falke in Boccaccios Novellensammlung .Decamerone' 5,9). Davon werden Nebenmotive unterschieden, die in der Forschung auch als .sekundäre Motive' in .Mittel- und Nebenstellung' oder .detailbildende Motive' (Sperber/Spitzer, 12—14), .Rahmen-' oder .Füllmotive' (Petsch, 132-135), Motive in ,Seiten-' oder ,Randstellung' (Krogmann, 427) oder gar als funktionslose .blinde Motive' (der Begriff geht zurück auf Panzer, 115) nach ihrer Position im Text weiter abgestuft werden. Sie dienen im Gegensatz zum Hauptmotiv eher der atmosphärischen Verdichtung (/" Plot), die sich auf die dargestellten Personen (archaische Kleidung bei Sonderlingen), Situationen (Vollmond bei unheimlichen Begegnungen oder Liebesabenteuern) oder Lokalitäten (die Großstadt) beziehen kann. (3) Auch von ihrer Referenz her sind Motive unterschieden worden; im wesentlichen lassen sie sich nach (a) Typen (der Sonderling, die Stiefmutter, die Femme fatale), (b) Lokalitäten (der in der Bukolik topische Lustort, die Gebirgsschlucht im Schauerroman, die Judengasse bei Goethe, A. v. Arnim oder H. Heine; /" Topos) und (c) Situationen untergliedern, die sich aus Konstellationen von Personen bzw. Gruppen (Bruderkonflikt, Geschwisterliebe, Geschlechterkampf) oder Naturerscheinungen (Mondnacht, Schneesturm, Erdbeben) ergeben. Bei Ding-Motiven wie Maske, Diamant oder Ring ist es semantisch gerechtfertigt, von Dingsymbolen zu sprechen, weil sie fast immer auf ein komplexeres Signifikat (Verstellung, Edelmut, Treue/Macht) verweisen.

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WortG: Als Bildung zu motivus .antreibend', ,anregend' von lat. movere .bewegen' nimmt das Nomen motivum in der Gelehrtensprache des späten Mittelalters die Bedeutung von .Gedanke', ,EinfalF an, die auch dem ital. motivo zukommt. Im Nhd. ist das seit Mitte des 16. Jhs. bezeugte Motiv zuerst nur in der noch heute üblichen Bedeutung von .Beweggrund' nachzuweisen (Schulz-Basler 2. 157 f.). Die Applikation des frz. motif auf die Kunst erfolgt in der .Encyclopédie' (1765) auf dem Gebiet der Musik, wo es die kleinste melodische Einheit bezeichnet, und zu Ende des 18. Jhs. ist es auch als Ausdruck für den künstlerischen Gegenstand in der Malerei belegt. Seine intensive Beschäftigung mit der bildenden Kunst in Italien dürfte Goethe bei der Entlehnung von Motiv aus dem Frz. oder Ital. und der Übertragung des Begriffs auf Phänomene der Literatur beeinflußt haben (ältester Beleg 1795 in .Wilhelm Meisters Lehrjahre', HA 7, 296; Mölk, 96-113); jedenfalls verwendet er ihn in literaturkritischer Absicht, wenn er sich 1817 an den Plan einer Tragödie über „den Gegenstand der Nausikaa" (HA 5. 477) erinnert, der „rührende, herzergreifende Motive" (HA 5, 479) enthalte. Dieser Wortgebrauch, der sich z.B. auch 1825 in seiner Äußerung über „die Mannigfaltigkeit der Motive und Wendungen, welche wir an den serbischen Liebesliedern bewundern" (HA 12, 332), zeigt, findet sich auch schon in Goethes und Schillers gemeinsamer Abhandlung ,Über epische und dramatische Dichtung' von 1797 (s. u.). Derart klassisch beglaubigt, etabliert sich Motiv in den dreißiger Jahren des 19. Jhs. als poetologischer Terminus (Mölk, 112). BegrG: Eine konsensfahige Definition des Motiv-Begriffs konnte sich bis heute nicht durchsetzen. Der hohe Grad an Unbestimmbarkeit erklärt sich aus der Geschichte des Begriffs. Zwar ist dieser bei Goethe vornehmlich morphologisch besetzt: Mit seiner gemeinsam mit Schiller erarbeiteten Unterscheidung von „fünferlei Arten" hebt er offensichtlich ab auf die Strukturierung des Geschehens durch Motive („Vorwärtsschreitende", „Rückwärts-

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Motiv

schreitende", „Retardierende", „Zurückgreifende", „Vorgreifende"; HA 12, 250) und weist zudem auf ihre Affinität zu den einzelnen Gattungen hin. 1798 dann erhält die Motivgestaltung aber auch einen psychologischen Akzent: Ist ein „Gegenstand glücklich gefunden oder erfunden", dann könne seine ,geistige Behandlung' beginnen, die „die untergeordneten Motive" ausmache und ihn dadurch „in seinem inneren Zusammenhange" erfasse (HA 12, 46). In Notizen Goethes über den „tragischen Dichter" werden die „Motive" sogar ins Anthropologische gewendet, seien sie doch „eigentlich Phänomene des Menschengeistes", die, prinzipiell wiederholbar, „der Dichter nur als historische nachweist" (HA 12, 495). Die psychologische Komponente des Begriffs unterstreicht Fr.Th. Vischer, der in seiner .Ästhetik' das Motiv definiert als „einen Bestimmungsgrund zum Handeln" bzw. als einen „Umstand, der einen Charakter anregt, einen seiner Triebe in Bewegung setzt" (Vischer 2, 244 f., § 336). Damit geht er auf die lat. Herkunft des Wortes zurück, die auch die im 19. Jh. aufkommende, von der Begriffstradition der Jurisprudenz beeinflußte Kriminalistik bewahrt und die ebenfalls Freud seiner Analyse der „Witzarbeit" (Freud, 113 f.) zugrunde legt. Dilthey leitet das Motiv aus dem dichterischen Erlebnis ab: Da in ihm „das Erfahrnis des Dichters in seiner Bedeutsamkeit aufgefaßt" werde, berge es „die bildende Kraft in sich, welche die Gestalt des Werkes bestimmt" (Dilthey, 167). Anleihen an die Psychoanalyse Freuds sind in der Motivforschung der ersten Hälfte des 20. Jhs. häufig; sie prägen noch den ,Motiv'-Artikel Krogmanns im RL 2 (dazu Frenzel 1978, 31 f.). Körner etwa will, von den Motiven ausgehend, die „affektiven, .traumatischen' und also charakterologisch aufschlußreichsten Erlebnisse" des Dichters erschließen (Körner, 85). Wenn auch eine derart prononcierte psychologische (oder psychoanalytische) Sinngebung des Begriffs in der modernen literaturwissenschaftlichen Motivforschung zugunsten seines Stoff- und strukturorientierten Verständnisses zurückgedrängt wird, ist die Bedeutungsdichotomie nach wie vor virulent (S Motivierung).

Wilhelm Dilthey: Das Erlebnis und die Dichtung [41912], Leipzig 1991. - Sigmund Freud: Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten [1905], Frankfurt 1977. - Johann Wolfgang Goethe: Werke. Hamburger Ausgabe [HA]. München 13 1983. — Friedrich Theodor Vischer: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen [1846—1857]. 6 Bde. München 21922 f.

SachG/ForschG: Das Phänomen des literarischen Motivs ist nicht nur weitaus älter als sein Begriff, es ist sogar schon vor jeder literarischen Fixierung in der mündlichen Überlieferung aufzufinden, die vor allem von der Märchen- und Mythenforschung berücksichtigt wird (vgl. Würzbach): Archetypische Konstellationen wie der Inzest oder die Rivalität zwischen Brüdern sind nicht auf bestimmte Kulturräume begrenzt, erhalten ihre konkrete Ausprägung und Modifikation aber erst im jeweiligen historisch-kulturellen Kontext ihrer Verwendung (/* Kulturwissenschaft). Impulse erhielt die Motivforschung zum einen durch die Volksliteraturforschung, deren Vertreter Motive aus Volkserzählungen (z. B. Sagen, Märchen) miteinander verglichen und ihre .Grundstruktur' extrahierten (vgl. Propp, Lüthi, Dundes, Dolezel; näher dazu r Aktant, s Figurenkonstellation), zum anderen durch die / Komparatistik (S Motivgeschichte), die sie zu einem ihrer Hauptarbeitsgebiete erklärte (Beller 1970, 2 f.). Die gründliche Sichtung und Dokumentation motivgleicher Texte, seit den Arbeiten der Brüder Grimm (1813 ff.) systematisch betrieben, legte Scherer 1888 einer empirisch-kausalgenetisch verfahrenden Behandlung von Motiven zugrunde, in denen er ein „gesetzmäßiges Verhältniß zwischen Handlung und Charakter" wiedergegeben sah (Scherer, 142 f.). Diese positivistische Ausrichtung der Motivforschung auf Sammeln und Registrieren haben neben Dilthey (s. o.) im ersten Viertel des 20. Jhs. auch andere Vertreter der ? Geistesgeschichte kritisiert; sie entdeckten hinter den einzelnen Motiven kontextfreie „Grundmuster", von denen aus auf „Konstanten der abendländischen Dichtung" zu schließen und über die Relation von „Streuung", „Kontinuität" und „Wiederaufleben von Themen" zu einer

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Motivgeschichte „Deutung des menschlichen Seins" zu gelangen sei (Daemmrich/Daemmrich 1978, 5 f.). Kayser oder Vertreter des /" New Criticism wie Wellek hingegen bemängelten an der Auflistung von Stoffen und Motiven die Reduktion ihrer jeweiligen textimmanenten Umgebung auf nacherzählbare marginale Inhaltsmomente, wodurch der spezifische Kunstcharakter eines literarischen Werks verfehlt werde (Kayser, 59). Seit den 1960er Jahren wurde das Motiv verstärkt zum Gegenstand theoretischer Erörterungen (Trousson; Frenzel 1978, 9—14), ohne d a ß es jedoch zu einer überzeugenden Lösung der konzeptuellen Probleme gekommen wäre (Darstellung der neueren Forschung bei Frenzel 1993). Eine begriffliche Klärung im Anschluß an Kategorien der /" Textlinguistik versucht Andermatt (bes. 17-27). Lit: Michael Andermatt: Verkümmertes Leben, Glück und Apotheose. Die Ordnung der Motive in A. v. Arnims Erzählwerk. Bern u. a. 1996. — Manfred Beller: Von der Stoffgeschichte zur Thematologie. In: Arcadia 5 (1970), H. 1, S. 1-38. M. Β.: Stoff-, Motiv- und Themengeschichte. In: Literaturwissenschaft. Grundkurs 2. Hg. v. Helmut Brackert und Jörn Stückrath. Reinbek 1981, S. 13-27. - Horst S. Daemmrich, Ingrid G. Daemmrich: Wiederholte Spiegelungen. Themen und Motive in der Literatur. Bern, München 1978, S. 5-23. - H. S. D„ I. G. D.: Themen und Motive in der Literatur. Tübingen, Basel 21995, bes. S. XIV-XXI. - Lubomir Dolezel: From motifemes to motifs. In: Poetics 4 (1972), S. 5 5 90. - Rudolf Drux: Retorten- und Maschinenmenschen in der Literatur des Vormärz. Von der Erforschung eines literarischen Motivs im Zeichen seiner technischen Realisierbarkeit. In: DU 41 (1989), H. 5, S. 9-19. - Alan Dundes: Analytic essays in folklore. Den Haag, Paris 1975, S. 61-72. - Elisabeth Frenzel: Stoff- und Motivgeschichte. In: RL 2 4, S. 213-228. - E. F.: Stoffund Motivgeschichte. Berlin 21974. — E. F.: Stoff-, Motiv- und Symbolforschung. Stuttgart 4 1978, bes. S. 3-14, 29-34. - E. F.: Vom Inhalt der Literatur. Stoff - Motiv - Thema. Freiburg u. a. 1980, S. 7-70. - E. F.: Neuansätze in einem alten Forschungszweig: zwei Jahrzehnte Stoff-, Motiv- und Themenforschung. In: Anglia 111 (1993), S. 97-117. - Paul Heyse: Meine Novellistik [1900]. In: P. H.: Werke. Bd. 2. Frankfurt 1980, S. 491-506. - Wolfgang Kayser: Das Motiv. In: Kayser, S. 55—71. - Klaus Kanzog: Formel, Motiv, Requisit und Zeichen. In: Romantik

in Deutschland. Hg. v. Richard Brinkmann. Stuttgart 1978, S. 625-627. - Gerhard Paul Knapp: Stoff - Motiv - Idee. In: Grundzüge der Literatur- und Sprachwissenschaft. Bd. 1. Hg. v. Heinz Ludwig Arnold und Volker Sinemus. München 1973, S. 200-207. - Josef Körner: Erlebnis - Motiv - Stoff. In: Vom Geiste neuer Literaturforschung. Fs. Oskar Walzel. Hg. v. Julius Vahle und Victor Klemperer. Wildpark-Potsdam 1924, S. 80-90. - Willy Krogmann: Motiv. In: RL 2 2, S. 427-432. - Max Lüthi: Motiv, Zug, Thema aus der Sicht der Volkserzählungsforschung. In: Elemente der Literatur. Bd. 1. Hg. v. Adam J. Bisanz und Raymond Trousson. Stuttgart 1980, S. 11-24. - Ulrich Mölk: Das Dilemma der literarischen Motivforschung und die europäische Bedeutungsgeschichte von .Motiv'. In: Romanistisches Jb. 42 (1991), S. 91-120. - Friedrich Panzer: Hilde — Gudrun. Halle 1901. - Robert Petsch: Deutsche Literaturwissenschaft. Berlin 1940, bes. S. 129-150. - Leo Pollmann: Literaturwissenschaft und Methode. Bd. 2. Frankfurt 1971, S. 24-36. - Vladimir J. Propp: Morphologie des Märchens [1928]. München 1972. - Wilhelm Scherer: Poetik [1888]. Hg. v. Gunter Reiss. Tübingen 1977, S. 141-149. - Hans Sperber, Leo Spitzer: Motiv und Wort. Leipzig 1918. - Frank Trommler (Hg.): Thematics reconsidered. Fs. Horst S. Daemmrich. Amsterdam 1995. - Raymond Trousson: Un problème de littérature comparée. Les études de thèmes. Paris 1965. — René Wellek: The theory of comparative literature. In: Yearbook of Comparative Literature 2 (1953), S. 1 - 5 . — Natascha Sp. 947-954.

Würzbach:

Motiv.

In:

EM 9,

Rudolf Drux

Motivgeschichte Teildisziplin der Literaturwissenschaft, die die Geschichte von Motiven oder Motivkomplexen untersucht. Expl: Die Motivgeschichte stellt ein konkretes s Motiv oder einen Motivkomplex (aus zwei oder mehreren motivischen Elementen) diachronisch dar. Die dabei ermittelten Konstanten und Varianten, individuellen oder epochenspezifischen Präferenzen gestatten Rückschlüsse auf die Funktion von Motiven im Text, auf die historische Modifikation von Bedeutungsstrukturen und auf

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Motivgeschichte

ihre historisch-gesellschaftliche Vermitteltheit. WortGABegrG: f Motiv. Die Bezeichnung Motivgeschichte wird erst spät gebraucht (z.B. 1921 von Ermatinger, 161 f.) und dann zumeist mit der ? Stoffgeschichte zu einer Zwillingsformel verbunden (so schon Merker/Lüdtke 1929-1937, Bauerhorst, Frenzel 1984, Weisstein u. a.). Die Koinzidenz der Untersuchungsbereiche erklärt sich daraus, daß Motive als Elemente des Stoffes verstanden werden und ihre Überlieferung demzufolge mit dessen Geschichte zusammenhängt, wie umgekehrt Motive aufgrund ihrer Selbständigkeit im Laufe der Literaturgeschichte an verschiedene Stoffe angeschlossen werden können; das wiederum verlangt eine Untersuchung, die sich mit der Analyse der jeweiligen literarischen Ausformungen auf beide Gegenstandsbereiche erstreckt. SachG/ForschG: Mit der Motivgeschichte hat sich die Germanistik seit ihrer Konstituierung als Wissenschaft im frühen 19. Jh. befaßt: Aus der Geschichte von Motiven, die in den „Hausmärchen" sowie in anderen Gattungen der Volksdichtung (Sage, Lied) vorkommen, läßt sich nach Wilhelm Grimms Meinung ein „urdeutscher Mythus" rekonstruieren (Grimm, 330). Im Anschluß an die Brüder Grimm konzentrieren sich Germanisten wie L. Uhland oder Indologen wie Th. Benfey bei der Erforschung von Motiven auf deren Alter, Herkunft, Wandlung und Verbreitung. Ihre Ergebnisse wurden für die Märchenforschung, vor allem für die von Krohn und Aarne begründete ,finnische Märchenschule' maßgebend (s Märchen). Thompson stellt in seinem ,Motif-Index of Folk-Literature' eine nach Handlungssträngen geordnete Systematik von rund 40000 international wirksamen Einzelmotiven zusammen. Dagegen suchte der ? Positivismus aus der Betrachtung von Motiven Aufschlüsse über literarische Abhängigkeitsverhältnisse zu gewinnen, was die atomistische Sondierung und Registratur von Inhaltselementen mit sich brachte. Fernerhin sollten die in ihren literarischen Anverwandlungen verfolgten Motive „als Exponenten der jeweiligen Kulturstim-

mung und Stilrichtung erscheinen und somit Bausteine zur Geschichte des geistigen Lebens und der seelischen Entwicklung des deutschen Volkes bilden" (RL 1 3, 309). Eine derartige nationalphilologische Einengung konnte — schon von ihrem Selbstverständnis her — die Komparatistik nicht nachvollziehen, die etwa seit Mitte der 1960er Jahre einen Stoff- wie Motivgeschichte umfassenden Forschungsbereich der ,Thematologie' ausgebaut hat (Petriconi, Trousson, Vinge; vgl. Stoffgeschichte). Bestrebungen der deutschsprachigen Komparatistik in den 1970er Jahren, den wissenschaftshistorisch belasteten Begriff der Stoff- und Motivgeschichte durch ,Thematologie' zu ersetzen und dadurch zugleich eine methodisch-theoretische Neuorientierung herbeizuführen (vgl. Beller 1970, 1981), lösten eine intensive Diskussion aus, die bis heute andauert (Frenzel 1993). An der Göttinger Akademie der Wissenschaften wurde 1977 eine Kommission für literaturwissenschaftliche Motiv- und Themenforschung eingerichtet (Wolpers). Neuere motivgeschichtliche Monographien suchen „durch Kontrastanalyse wichtige Indizien zur Bestimmung der historischen und ästhetischen Spezifik einzelner Werke" zu gewinnen (Kaiser, 81), während die Motiv-Lexika (Brunei, Daemmrich/ Daemmrich 1995, Frenzel 1992, Seigneuret) weiterhin eher positivistischem Sammeln verpflichtet bleiben. Daneben aber wird nach wie vor die herkömmliche Beschreibung von Gattungs- und Epochenaffinitäten praktiziert, und auch die Suche nach existentiellen bzw. anthropologischen Grundmustern geht weiter (>" Literarische Anthropologie). Dementsprechend zeichnen sich motivgeschichtliche Studien in der Gegenwart durch einen kulturvergleichenden Ansatz aus (Schöne). Unter geschichtsphilosophischer Perspektive untersucht M. Frank Motive wie das ,kalte Herz' oder die ,ziellose Fahrt', in denen sich „pathogene Züge des Modernisierungs- und Rationalisierungsprozesses der Neuzeit" kristallisieren (Frank 1989, 9). Lit: Antti Aarne, Stith Thompson: The types of the folktale [1910], Helsinki 31961. - Kurt Bauerhorst: Bibliographie der Stoff- und Motiv-

Motivierung geschichte in der deutschen Literatur. Berlin 1932 [fortgeführt von Franz Anselm Schmitt, 31976], — Manfred Beller: Von der Stoffgeschichte zur Thematologie. In: Arcadia 5 (1970), S. 1-38. M. Β.: Thematologie. In: Vergleichende Literaturwissenschaft. Hg. v. Manfred Schmeling. Wiesbaden 1981, S. 73-97. - Pierre Brunei (Hg.): Dictionnaire des mythes littéraires. Paris 1988. — Horst S. Daemmrich, Ingrid G. Daemmrich: Spirals and circles. A key to thematic patterns in classicism and realism. 2 Bde. New York 1994. - H. S. D., I. G. D.: Themen und Motive in der Literatur. Tübingen, Basel 21995. - Emil Ermatinger: Das dichterische Kunstwerk. Leipzig 1921. - Manfred Frank: Kaltes Herz - Unendliche Fahrt - Neue Mythologie. Motiv-Untersuchungen zur Pathogenese der Moderne. Frankfurt 1989. - M. F.: Die unendliche Fahrt: Die Geschichte des Fliegenden Holländers und verwandter Motive. Leipzig 21995. - Elisabeth Frenzel: Stoff- und Motivgeschichte. In: RL 2 4 [1984], S. 213-228. - E. F.: Motive der Weltliteratur [1976], Stuttgart 4 1992. - E. F.: Neuansätze in einem alten Forschungszweig: zwei Jahrzehnte Stoff-, Motiv- und Themenforschung. In: Anglia 111 (1993), S. 97-117. - Wilhelm Grimm: Vorrede zu den Kinder- und Haus-Märchen. Bd. 2 [1815], In: W. G.: Kleinere Schriften. Hg. v. Gustav Dethlef Hinrichs. Bd. 1. Berlin 1881, S. 328—332. — Gerhard R. Kaiser: Einführung in die Vergleichende Literaturwissenschaft. Darmstadt 1980, S. 80-92. - Peter von Matt: Ungehorsame Söhne, mißratene Töchter. München 1995. - Paul Merker: Stoff, Stoffgeschichte. In: RL 1 3, S. 305-310. - P. M., Gerhard Lüdtke (Hg.): Stoff- und Motivgeschichte der deutschen Literatur. 16 Bde. Berlin, Leipzig 1929-1937. Hellmuth Petriconi: Metamorphosen der Träume. Fünf Beispiele zu einer Literaturgeschichte als Themengeschichte. Frankfurt 1971. - Leander Petzoldt (Hg.): Studien zur Stoff- und Motivgeschichte der Volkserzählung. Frankfurt, Bern 1995. — Albrecht Schöne: ,Auf Biegen und Brechen'. Komparative Motivgeschichte als vergleichende historische Verhaltensforschung. In: Begegnung mit dem ,Fremden'. Hg. v. Eijiro Iwasaki. Bd. 1. München 1991, S. 113-136. - JeanCharles Seigneuret (Hg.): Dictionary of literary themes and motives. 2 Bde. New York u. a. 1988. — Stith Thompson: Motif-index of folk-literature [1932-1936]. 6 Bde. Helsinki 2 1955-1958. Raymond Trousson: Le thème de Prométhée dans la littérature européenne. 2 Bde. Genf 1964. — Louise Vinge: The Narcissus theme in western European literature up to the early 19th century. Lund 1967. - Ulrich Weisstein: Einführung in die Vergleichende Literaturwissenschaft. Stuttgart u. a. 1968, S. 163-183. - Theodor Wolpers

643

(Hg.): Gattungsinnovation und Motivstruktur. 2 Bde. Göttingen 1989, 1992. - Theodore Ziolkowski: Varieties of literary thematics. Princeton 1983, S. 201-227. Rudolf Drux

Motivierung Ursache oder Begründung f ü r das in einem narrativen (dramatischen oder im engeren Sinne erzählenden) Text dargestellte Geschehen. Expl: Die Motivierung (Motivation) eines dargestellten Ereignisses ordnet dieses in einen Erklärungszusammenhang ein und trägt so zur Kohärenz narra ti ver u. a. Texte bei. Die erzählten Ereignisse folgen dann nicht nur chronologisch aufeinander, sondern nach Regeln oder Gesetzen auseinander. Es sind zwei Dimensionen narrativer Motivierung zu unterscheiden (Martinez 1996a, 1 3 - 3 2 ) : (1) Die ,kausale Motivierung' ist ein Bestandteil der erzählten Welt (Diegese, s Diegesis) narrativer Texte. Sie erklärt ein Ereignis lebensweltlich als Ergebnis einer Ursache-Wirkungs-Kette. Kausale Motivierung u m f a ß t psychologische Beweggründe der Protagonisten f ü r ihre Handlungen, aber auch nicht-intentionale Ursachen wie Zufalle, Naturereignisse oder Gemengelagen von Handlungen. (Gelegentlich wird der Begriff .Motivierung' enger begrenzt auf die psychologischen „Beweggründe als auch [die] Absichten der Gestalten [...], die sie zu bestimmten Handlungen veranlassen"; Propp, 75.) Es ist eine notwendige Eigenschaft von Geschichten, d a ß das in ihnen dargestellte Geschehen grundsätzlich kausal motiviert ist — auch wenn im Einzelfall unbestimmt sein mag, welche spezifischen Ursachen f ü r den Eintritt eines Ereignisses vorliegen (Danto, 236). In klassizistischen, aufklärerischen, realistischen und naturalistischen Poetiken wurde diese Eigenschaft zum Postulat einer nicht nur möglichen, sondern wahrscheinlichen oder gar notwendigen Motivierung verschärft.

644

Motivierung

Die .kausale Motivierung' kann, besonders in vormodernen Werken, durch eine ,finale Motivierung' ergänzt und überlagert sein. In finaler Motivierung erscheint das Geschehen vor dem Sinnhorizont eines mythischen Weltmodells durch das Wirken einer allmächtigen numinosen Instanz determiniert. Der Handlungsverlauf ist hier von Beginn an geplant, scheinbar freie Entscheidungen der Figuren oder Zufälle enthüllen sich als Fügungen göttlicher Providenz. Kausale oder finale Motivierungen des Geschehens können dem Leser explizit in der Erzähler- oder Figurenrede mitgeteilt werden; meist werden sie aber im Sinne von Roman Ingardens ,Unbestimmtheitsstellen' (s Leerstelle) im Akt der Lektüre als unbestimmt-vorhanden vorausgesetzt (vgl. Ingarden, 44, sowie Martinez / Scheffel, 111 — 119; zu Unterschieden zwischen expliziten und impliziten Motivierungen und ihren Auswirkungen auf das Textverstehen vgl. Genette und Schultz.) (2) Eine grundsätzlich andere Dimension narrativer Texte wird mit der kompositorischen Motivierung' bezeichnet. Sie betrifft die funktionale Stellung einzelner Motive oder Ereignisse im Rahmen der gesamten Komposition — pointiert formuliert in „Cechovs These, wenn man zu Beginn einer Erzählung von einem Nagel in der Wand spreche, müsse sich der Held am Ende der Erzählung an diesem Nagel aufhängen" (Tomasevskij, 227 f.). Jeder narrative Text ist sowohl kausal als auch kompositorisch motiviert, allerdings mit unterschiedlicher Akzentuierung. Die kompositorische Motivierung des dargestellten Geschehens folgt dem s Erzählschema der jeweiligen Gattung und leitet sich aus (je nach Gattung unterschiedlich gefüllten) Kategorien der Modalität ab — in der erzählten Welt eines Märchens sind andere Dinge .möglich', .wahrscheinlich' und .notwendig' als in derjenigen eines realistischen Romans. In normativer Begriffsverwendung wird eine empirisch unwahrscheinliche oder lükkenhafte Motivierung des Geschehens häufig als trivial abgewertet. Dabei ist jedoch zu bedenken, daß die /" Trivialliteratur als Schemaliteratur eher an der Aktualisierung,

Variation und Kombination von Erzählschemata (und damit an Kriterien kompositorischer Motivierung) als an stringenter kausaler Motivierung des Geschehens orientiert ist. WortG: Das Verb motivieren wurde im 18. Jh. aus frz. motiver ,begründen' entlehnt (1767 bereits auf Literatur bezogen bei Lessing: .Hamburgische Dramaturgie' 2,71; LM 10, 86); die substantivierte Form Motivierung ist seit der ersten, Motivation seit der zweiten Hälfte des 19. Jhs. nachgewiesen (Schulz-Basler 2, 158). Die russischen Formalisten V. Sklovskij und B. Ejchenbaum unterschieden terminologisch (allerdings nicht durchgängig) zwischen der empirisch-kausalen motivacija ,Motivation' und der kompositorisch-funktionalen motivirovka ,Motivierung' (Hansen-Löve 1978, 197). Die deutschen Verbalsubstantiva Motivierung und Motivation werden hingegen literaturwissenschaftlich ohne Bedeutungsunterschied verwendet. In der Linguistik besteht die .Motivation' oder .Motiviertheit' eines sprachlichen Zeichens aus seinen nicht-arbiträren Eigenschaften auf phonologischer (Onomatopöie), morphologischer oder semantischer Ebene. — Siehe auch s Motiv. BegrG: In seiner ,Poetik' verlangt Aristoteles, die Handlung eines Dramas oder Epos solle eine Einheit bilden, indem die einzelnen Ereignisse „nach der Wahrscheinlichkeit oder der Notwendigkeit" (1451a) aufeinander folgen. Aristoteles' Forderung einer (nicht nur möglichen, sondern) wahrscheinlichen Verknüpfung der dargestellten Ereignisse wurde im Rahmen des Verisimilitudo-Begriffs (/* Wahrscheinlichkeit) und der " Sturm und Drang verwendete Prädikat steht im Zusammenhang mit älteren Vorstellungen des Schöpferischen, Ursprünglichen und Innovativen, welche (1) die natürliche Begabung und außergewöhnliche Fähigkeit eines Individuums (s Genie) umschreiben sowie (2) die unverwechselbare, dabei zugleich musterhafte Eigenart seiner künstlerischen (zunehmend seltener: wissenschaftlichen) Leistung charakterisieren sollen. Beide Bestimmungen dienen der Abgrenzung von als vorbildlich angesehenen Autoren der Antike wie der Neuzeit, geltenden Gattungskonventionen und poetologischen Normen, vornehmlich jenen der Nachahmung (s Imitatio). Der Bruch mit der literarischen Tradition gilt, sofern er dabei eine erkennbare

Fritz Peter Knapp

Orientalismus /

Exotismus

Original S Authentizität

Originalität Die einem Menschen, insbesondere einem Künstler (Autor) zugeschriebene Kreativität bzw. die an einem (literarischen) Werk wahrgenommene Neuheit.

Originalität ? Funktion

erfüllt, als künstlerische INsomit als Qualitätsmerkmal (y Abweichung, S Rezeptionsästhetik), ebenso die behauptete Unabhängigkeit von Bezugstexten (verneinte s Intertextualität). Aufgrund dieser weitreichenden, dabei notwendig unscharf bleibenden Kriterien entwickelte sich — parallel zu dem noch im 19. Jh. wirkungsmächtigen Konzept positiver Individualität — die Forderung nach einschränkenden Maßstäben der Beurteilung (,originaler Unsinn'), ohne daß sich hieraus präzisere Beschreibungen ergaben. In der Literaturwissenschaft ist der Terminus Originalität kaum noch in Gebrauch, im Unterschied zur ? Literaturkritik, wo die der Wertung dienende Formel die in der /" Goethezeit geprägte Topik schöpferischer Kreativität' mehr oder weniger explizit aufnimmt. NOVATION und

WortG: Frz. originalité »Selbständigkeit', ,Ursprünglichkeit', ,Eigenartigkeit', seit dem späten 17. Jh. nachgewiesen (Smith, 17), wird im 18. Jh. ohne Bedeutungsänderung in engl, originality und dt. Originalität übernommen (Schulz-Basler 2, 272). Wortgeschichtliche Zusammenhänge bestehen mit lat. origo ,Ursprung', ,Quelle' (KlugeMitzka, 524) und originalis ,ursprünglich' (DWb 13, 1347 f.). Das substantivierte Adjektiv des Neutrums ist seit dem 15. Jh. in der Kanzleisprache belegt (mlat. originale, ohne feste Terminologie; zu späteren Übersetzungen aus dieser Wortgruppe s Authentizität). Die im 18. Jh. entstehenden Wortzusammensetzungen wie Originalcharakter, -denker, -dichter, -kerl, -köpf, -künstler, -manier, -novellen, -schriftsteiler, -stück (DWb 13, 1348; Schulz-Basler 2, 269 f.) veralten seit der 2. Hälfte des 19. Jhs. oder sterben aus. Logan Pearsall Smith: Four words: ,romantic', ,originality', ,creative', ,genius'. Oxford 1924.

BegrG: Die lateinische Poetik der Antike läßt dem Autor die Wahl zwischen der Bearbeitung überlieferter und der Erfindung neuer Stoffe, bei deren Ausarbeitung auf die Regeln der Wahrscheinlichkeit und Stimmigkeit zu achten ist: „aut famam sequere aut sibi convenientia finge, scriptor." (Horaz, ,De arte poetica', ν. 119 f.) Der Dichter

769

erscheint damit als „Kristallisationspunkt von Tradition und Originalität" (Fuhrmann, 108). Die mittelalterliche Dichtung und Poetik (Galfrid von Vinsauf, um 1210) hat den Verfahren der ,dilatatio materiae' (s Amplificatio), der formbildenden Bearbeitung tradierter Themen, den Vorzug gegenüber der Erfindung neuer ,materiae' gegeben (Worstbrock, 9 f.). Die in der Forschung lange Zeit als Reform des f Meistergesangs gedeutete Forderung nach einem neuen und eigenen ,Τοη', wie sie sich bei dem Nürnberger Hans Folz im späten 15. Jh. findet, läßt sich möglicherweise mit dem heutigen Begriff vom künstlerischen Eigentum (Kornrumpf/Wachinger, 376 f.), kaum aber mit jenen im 18. Jh. ausgebildeten Vorstellungen von Originalität in Verbindung bringen (Stackmann, 145). Diese bilden sich auf der Grundlage von Anregungen und Einsichten, welche die vergleichsweise späte, für die Folgezeit aber einflußreichste Poetik des Humanismus2 (1) auf die Formel einer quasi-göttlichen Schöpferkraft des Dichters brachte, der hierin anderen Künstlern überlegen sei: „At poeta et naturam alteram et fortunas plures etiam ac demum sese istoc ipso perinde ac deum alterum efficit" (Scaliger 1,1,70: ,der Dichter dagegen erschafft nicht nur eine zweite Natur, sondern auch noch mehr Lebensschicksale, und macht sich eben hierdurch selbst gewissermaßen zu einem zweiten Gott'; vgl. Rüfner, 273; Lieberg, 164; Tigerstedt); und (2) in dem Neuheits-Theorem (NOVITAS) zusammenfaßte: „Summa enim laus in poetica novitas" (Scaliger 1,1,162: ,Das höchste Lob kommt in der Dichtung nämlich der Neuheit zu'; vgl. Lange, 133 ff.). Erst im 18. Jh. entfalteten diese programmatischen Sätze ihre eigentliche Wirkung; zunächst führte das gesteigerte Kreativitätsbewußtsein weder zu einer Auflösung der Imitatio-Lehren (vgl. Reckermann), noch bewirkte die Novitas-Formel einen Verzicht auf die Ableitung von Regeln zur Herstellung ,origineller' poetischer Arbeiten (Jacob Masen, ,Ars nova argutiarum', 1649, ,Palaestra eloquentiae ligatae', 1654-57; vgl. Bauer). Am Ende des 17. Jhs. mehren sich dann auch in Deutschland Urteile über „vortrefflichste Poete[n]" wie Paul

770

Originalität

Fleming, dessen „unvergleichlicher Geist [...] mehr auff sich selbst/als frembder Nachahmung beruhet" (Morhof, 214). Die Rezeption der in England durch Shaftesbury, Edward Young, William Duff u. a. entwickelten Modellbildungen (vgl. E. L. Mann, W. Clemen, P. Philipps) begünstigte — parallel zu der Ablösung der rhetorischen Regelpoetik durch die / Ästhetik in den literarischen Zentren der deutschsprachigen Länder die Ausbildung eines Konzepts der Originalität, das mit den Begriffen ,Ausdruck', ,Ursprünglichkeit', .Phantasie', ,Natur', „Eingegeistetes" (Herder über Klopstock, in: AdB 19/1, 1773, 112; weitere Belegstellen bei Schulz-Basler 2, 272 f.) eine durch Sprache erzeugte Erlebensdimension umschreibt. In keinem anderen europäischen Land entwickelte sich jedoch gleichzeitig eine so starke Kritik an den „Originalköpfen" und ihren „Andachten über eine Schnupftabacksdose" (G. C. Lichtenberg, ,Parakletor oder Trostgründe für die Unglücklichen, die keine Originalgenies sind', 209): „Nulle part le débat sur l'originalité littéraire n'a été plus passioné, plus général, plus profond que dans le monde de langue allemande" (Mortier, 38). Wenn literarische Werke nur als Ausdruck der .Individualität' des Autors Geltung haben, sind sie weder kritisierbar noch musterbildend. In der ,Kritik der Urteilskraft' hat Kant dieses Problem zu lösen versucht, indem er Originalität als die Fähigkeit des Genies bestimmte, seine Produkte „exemplarisch" zu machen: „mithin, selbst nicht durch Nachahmung entsprungen, anderen doch dazu, d.i. zum Richtmaße oder Regel der Beurteilung, dienen müssen" (§ 46). Der nicht aufgelöste Widerspruch im Begriff einer ,musterhaften Originalität' ist um 1800 eingehend untersucht worden (Ferdinand Heinrich Lachmann, ,Ueber Paradoxie und Originalität', 1801; zit. n. Stüssel, 116), er begleitet die ästhetische Theoriebildung im 19. Jh., die ein zunehmend geringeres Interesse an der Frage nach der Originalität zeigt. ForschG: Zur Geschichte und Vorgeschichte des ,Geniebegriffes' veröffentlichte Edgar Zilsel 1926 eine materialreiche Arbeit, an

welche die Forschung erst spät (Nachdruck 1972; s. auch Genie) angeknüpft hat. Ebenfalls in den 1920er Jahren erschien die dezidiert ahistorische, Elemente der Phänomenologie und des Neukantianismus aufnehmende Studie von Meikichi Chiba zur ,Originalitätslehre', die ohne Nachfolge blieb. Die zahllosen Erwähnungen des Begriffs in Titeln literaturwissenschaftlicher Arbeiten verdanken sich zumeist dem Bedürfnis der Verfasser, ihren Gegenstand durch die vage Anspielung auf ein Theorem der idealistischen Ästhetik aufzuwerten. In jüngster Zeit ist der Versuch unternommen worden, den in der Kreativitätspsychologie gebrauchten Begriff der Originalität (vgl. etwa Krämer) für die Analyse der Künstlerproblematik in den Novellen des 19. und frühen 20. Jhs. zu nutzen (Blamberger). Lit: Barbara Bauer: Jesuitische ,ars rhetorica' im Zeitalter der Glaubenskämpfe. Frankfurt 1986. - Günter Blamberger: Das Geheimnis des Schöpferischen oder: Ingenium est ineffabile? Stuttgart 1991. - Meikichi Chiba: Originalität und Alltriebsbefriedigung. Berlin 1924. - Wolfgang Clemen: Originalität und Tradition in der englischen Dichtungsgeschichte. München 1978. — Manfred Fuhrmann: Einführung in die antike Dichtungstheorie. Darmstadt 1973. - Gisela Kornrumpf, Burghart Wachinger: Aiment. In: Deutsche Literatur im Mittelalter. Hg. v. Christoph Cormeau. Stuttgart 1979, S. 356-411. Hans-Joachim Krämer: Zu Konzept und Diagnose der Originalität. München 1979. — HansJoachim Lange: Aemulatio Veterum sive de optimo genere dicendi. Bern 1974. - Georg Christoph Lichtenberg: Vermischte Schriften. Neue vermehrte, von dessen Söhnen veranstaltete Original-Ausgabe. Bd. 1. Göttingen 1844. - Godo Lieberg: Poeta creator. Amsterdam 1982. - Elizabeth L. Mann: The problem of originality in English literary criticism, 1750-1800. In: Philological Quarterly 18 (1939), S. 97-118. - Daniel Georg Morhof: Unterricht von der Teutschen Sprache und Poesie [21700]. Hg. v. Henning Boëtius. Bad Homburg 1969. - Roland Mortier: L'originalité. Genf 1982. — Patricia Philipps: The adventurous muse. Theories of originality in English poetics 1650-1760. Uppsala 1984. - Alfons Reckermann: Das Konzept kreativer imitatio im Kontext der Renaissance-Kunsttheorie. In: Innovation und Originalität. Hg. v. Walter Haug und Burghart Wachinger. Tübingen 1993, S. 98 — 132. - Vinzenz Rüfner: Homo secundus Deus.

Ornatus In: Philosophisches Jb. 63 (1955), S. 2 4 8 - 2 9 1 . Karl Stackmann: Quaedam Poetica. In: Literatur, Musik und Kunst im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit. Hg. v. Hartmut Boockmann u . a . Göttingen 1995, S. 132-161. - Kerstin Stüssel: Poetische Ausbildung und dichterisches Handeln. Tübingen 1993. - Eugène Ν. Tigerstedt: The poet as creator. Origins of a metaphor. In: Comparative Literature Studies 5 (1968), S. 4 5 5 - 4 8 8 . - Franz J. Worstbrock: Dilatado materiae. In: FMSt 19 (1985), S. 1 - 3 0 . - Edgar Zilsel: Die Entstehung des Geniebegriffes. Tübingen 1926.

Friedrich Vollhardt

Ornatus Der stilistische Schmuck des sprachlichen Ausdrucks; dessen wichtigstes in der Rhetorik gelehrtes Wirkungsmittel. Expl: Die über die sprachliche Korrektheit, stilistische Reinheit, Klarheit und Eleganz hinausgehende, doch ebenfalls noch zum Lehrgebiet der ? Elocutio zählende, ja in dessen Zentrum stehende Ausschmückung einer Rede bzw. jedes sprachlichen Textes zur Erhöhung der Aufmerksamkeit und/ oder des ästhetischen Genusses des Hörers oder Lesers durch die Wahl bestimmter Wortklänge, Wortinhalte, Wortverbindungen und Gedanken(reihen). WortG: Der von Cicero (,Orator' 80, ,De oratore' 3,149) und dann von Quintilian (8,3,1) für diesen Begriff gewählte Terminus ornatus .Ausstattung', ,Schmuck', ,Zierde' hat erst in modernen Handbüchern der traditionellen Rhetorik seinen festen Platz in der Systematik der Elocutio erhalten, den ihm Quintilian zugedacht hatte. Sonst konkurriert er mit anderen Ableitungen von dem lat. Verb ornare ausstatten', ,schmükken', so auch im Frz. (ornement) und im Engl. (ornacy, ornament, ornating; ornate nur als Adjektiv) und mit anderen, teilweise bildhaften Bezeichnungen; hierher stammt auch das EPITHETON ORNANS (das bloß schmückende, in stehender Verbindung hinzugefügte Beiwort). Dt. Ornat wird offenbar nie in dieser Bedeutung gebraucht. —

771

Von den hochmittelalterlichen Poetiken verwendet nur die .Parisiana poetria' (Joh. de Garlandia 2,44; 2,147) ornatus ungefähr wie Cicero. DWb 13, Sp. 1350. - Johann Chr. Th. Ernesti: Lexicon technologiae latinorum rhetoricae. Leipzig 1797 (s. v. exornatio, ornare). - Johannes de Garlandia: Parisiana poetria. Hg. v. Traugott Lawler. New Haven, London 1974. — Bernard Lamy: La Rhétorique ou l'Art de parler [ 4 1699]. Repr. Brighton 1969, 4,10; 1 7 - 1 8 .

BegrG:,Ornatus' bei Cicero und Quintilian entspricht am ehesten griech. κόσμος [kósmos] ,Schmuck', dessen terminologischen Stellenwert wir jedoch aufgrund der Quellenlage nicht genauer kennen. Die .Rhetorica ad Herennium' gebraucht als Oberbegriff der gedanklichen und sprachlichen Ausschmückungen (exornationes) dagegen dignitas ,Würde' (4, 13,18), findet damit aber auch wenig Nachfolge. Ein besonderer Bedarf an einem solchen Oberbegriff bestand offenbar gar nicht, insbesondere wenn sich die Ornatus-Lehre, wie häufig, ganz auf die Aufzählung der Tropen und Figuren konzentrierte (welche im Mittelalter nicht selten als .colores', seltener .flores rhetorici' zusammengefaßt wurden). Im Deutschen tritt meist .Schmuck' für .ornatus' ein, aber mit wechselndem Begriffsumfang. „Der Schmuck einer tapffern Rede bestehet in zweyen / nemlich in zierlichen Tropen vnd stattlichen Figuren", heißt es bei J. M. Meyfart. W. Hebenstreit versteht dagegen dann „unter Schmuck die verzierenden Redefiguren". Unscharf ist der Gebrauch von „zierde der rede" (184) bei J. A. Fabricius und von „Zierrath poetischer Ausdrückungen" bei Gottsched (257). Alberich von Montecassino: Flores rhetorici. Hg. v. D. Mauro Inguanez und Henry M. Willard. Montecassino 1938. - Johann Andreas Fabricius: Philosophische Oratorie [1724]. Repr. Kronberg 1974. — Galfred von Vinsauf: Poetria nova. In: Farai, S. 1 9 4 - 2 6 2 , hier V. 960. - Lausberg, § 538. - Henry G. Liddell, Robert Scott u. a.: A Greek-English Lexicon. Oxford 1953, S. 985. Johann Matthäus Meyfart: Teutsche Rhetorica oder Redekunst [1634]. Repr. Tübingen 1977. Gerhard Johannes Vossius: Commentariorum Rhetoricorum sive Oratoriarum Institutionum Libri sex pl630], Repr. Kronberg 1974.

772

Omatus

SachG: Die möglichen Qualitäten des Ornatile sind laut Quintilian (8,3-9,4; 12,10) Kraft, Vornehmheit, Schärfe, Fülle, Witz, Ergötzlichkeit, Normgerechtheit, Farbigkeit und Glanz, die Mittel des Ornatus die folgenden im Bereich der Einzelwörter: Auswahl des passenden Synonyms nach klanglichen und inhaltlichen Gesichtspunkten, insbesondere eines archaischen, neugebildeten oder bildhaften Ausdrucks (vetustas, fictio, tropus); im Bereich der Wortverbindungen: die Wort- und Sinnfiguren (figurae elocutionis et sententiae) sowie die syntaktische Gestaltung, soweit sie über die grammatische Korrektheit hinausgeht (composition d. h. einschließlich der Klausellehre (s Cursus). In solcher Vollständigkeit erscheint dieses Lehrgebiet freilich nur in wenigen Handbüchern der Rhetorik. Bei der sonst weithin üblichen Konzentration auf die Tropen und Figuren fallen die anderen Phänomene entweder in andere Lehrbereiche der Elocutio oder ganz weg. Eine eigene, spezifisch mittelalterliche Ausprägung erfahrt der Ornatus in den Poetiken Galfreds von Vinsauf, Eberhards von Bremen und Johannes' von Garlandia. Er tritt hier an die Stelle der ? Genera dicendi, die ihrerseits zu rein inhaltlichen Qualitätsbegriffen umfunktioniert worden sind. Unabhängig vom Dignitätsgrad des gewählten Stoffes verleiht dann der schwere Schmuck (ornata difficultas, gravitas, modus gravis, semita difficilis, ornatus difficilis) der Darstellung durch reichen Gebrauch der Tropen würdevolles Gewicht; umgekehrt gewährleistet der leichte Schmuck (ornata facilitas, levitas, sermo levis, via plana, ornatus facilis) durch Meidung bildhafter Ausdrücke und Einsatz der Figuren einen zwar kunstvollen, aber scheinbar mühelosen und faßlichen Redefluß. Auch der GEBLÜMTE STIL (zu mhd. bliiemen ,mit Blumen schmücken', vgl. ,flores rhetorici') im deutschen Spätmittelalter steht dem Ornatus difficilis nahe. Eine gewisse Affinität bestimmter Formen des Ornatus zu den drei Stilarten (Genera dicendi) hatte es freilich schon in der Antike gegeben. Im Gegensatz zu dem mittelalterlichen Schematismus bestand der Unterschied aber v.a. in einer kaum meßbaren gradmäßigen Steige-

rung der Schmuckfülle. In diesem Sinne verfahren dann auch die Rhetoriker der frühen Neuzeit wie René Bary oder Gottsched, wobei die Aufklärung natürlich gegen den manieristischen Schwulst

(s Manierismus)

der

barocken Rede opponiert und folglich die Ornatus-Lehre mehr und mehr in die Poetik verlagert, wo es wenigstens nicht primär um rationale Argumentation geht. So hat denn Gottsched gleich sechs Kapitel (von 12 des 1. Teils) der ,Critischen Dichtkunst' diesem Lehrgebiet vorbehalten. René Bary: La Rhétorique françoise [...]. Paris 1659, S. 263 f. - Eberhard von Bremen: Laborintus. In: Farai, S. 336-377, hier v. 385-598. Galfred von Vinsauf: Documentum de modo et arte dictandi et versificandi. In: Farai, S. 2 6 3 320, hier S. 284-309 (3,1-102). - G.v.V.: Poetria nova. In: Farai, S. 194-262, hier ν. 7 6 5 1587. — Johannes de Garlandia: Parisiana poetria (s. WortG), 2,44-310.

2

ForschG: Der Ornatus hat in der Forschung in der Regel nur im Zusammenhang der gesamten Elocutio oder in der Beschränkung auf Tropus und Rhetorische Figur Beachtung gefunden. Die Mediävistik ist seit Edmond Farai (1924) auf die neue Lehre vom leichten und schweren Schmuck in den Poetiken des 13. Jhs. aufmerksam geworden. Franz Quadlbauer erhellt dann die Herkunft dieser Lehre aus der antiken Theorie der Genera dicendi; Romanisten und Germanisten untersuchen die vergleichbaren Stilphänomene in den mittelalterlichen Volkssprachen. Von der Mediävistik ist auch ein wichtiger Impuls für die Diskussion um den Begriff des Barocks ausgegangen, in der der Ornatus immerhin eine gewisse Rolle spielt, da Ernst Robert Curtius (1948) im Barock nur eine Sonderform des ? Manierismus¡ sehen wollte, dessen Rhetorik und Poetik davon geprägt seien, daß „der ornatus wähl- und sinnlos gehäuft wird" (Curtius, 278). Lit: Wilfried Barner: Barockrhetorik. Tübingen 1970. - Edmond Farai: Les arts poétiques du XII e et du XIIIe siècle [1924], Repr. Genf, Paris 1982. - Birgit Gansweidt: Ornatus. In: LexMA 6, Sp. 1474. - Douglas Kelly: The arts of poetry and prose. Turnhout 1968. - Paul Klopsch: Einführung in die Dichtungslehren des lateinischen Mittelalters. Darmstadt 1980. — Josef Kopper-

Orthographie Schmidt (Hg.): Rhetorik. 2 Bde. Darmstadt 1990 f. — Udo Kühne: Colores rhetorici. In: HWbRh 2, Sp. 282-290. - Ulrich Mölk: Trobar clus - trobar leu. München 1968. - Franz Quadlbauer: Die antike Theorie der Genera dicendi im lateinischen Mittelalter. Wien 1962. — F. Q.: Colores rhetorici. In: LexMA 3, Sp. 61 f. — Frieder Schülein: Zur Theorie und Praxis des Blümens. Bern u. a. 1976. - Gert Ueding, Bernd Steinbrink: Grundriß der Rhetorik. Stuttgart J 1994.

Fritz Peter Knapp

Orthographie Kodifizierte Norm der schriftlichen Repräsentation sprachlicher Äußerungsformen. Expl: Die Orthographie (respective RECHTSCHREIBUNG) einer Sprache hat die Funktion, durch möglichst präzise normative Bestimmungen eine weitgehende Gleichförmigkeit der Schreibprodukte zu erreichen, so daß beim Lesen eine schnelle Sinnentnahme gewährleistet ist. Explizit kodifiziert wird sie mittels der Formulierung genereller orthographischer Regeln sowie der Festlegung von Einzelwortschreibungen (insbesondere in speziellen Rechtschreib-Wörterbüchern, z. B. im ,Duden'). Orthographische Normen der Gegenwart sind zumeist rigide und haben einen generellen Verbindlichkeitsanspruch, der auch literarische Publikationen einschließt. Schon im Alltäglichen, aber erst recht im Literarischen werden jedoch gezielte Verstöße gegen die Rechtschreibung dort akzeptiert, wo ein besonderer Inhalt deutlich gemacht werden soll. Eine strenge Normierung nicht-literarischer Schreibprodukte, der sich literarische Werke anpassen können, nicht aber anpassen müssen, eröffnet zugleich neue Möglichkeiten der literarischen Gestaltung per graphischer Verfremdung. WortG: Der Ausdruck Orthographie geht zurück auf die Verbindung von griech. όρθός [orthós],aufrecht', .richtig' und γραφία [graphía] zu γράφειν [gráphein] .zeichnen', ,einritzen', schreiben'. Tradiert über die lat. Vermittlung — vgl. ζ. B. Quintilians

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Explikation von „orthographia" als „recte scribendi scientia" (1,7,1) — wurde dieses Wort Ende des 15. Jhs. (Nielas von Wyle, ,Translatzen', 1478) ins Deutsche übernommen und dann im 16. Jh. (Rot 1571) per analoger Übersetzung als Rechtschreibung auch in den eigensprachlichen Wortschatz eingegliedert. Translationen von Nielas von Wyle. Hg. v. Adelbert v. Keller [1861], Repr. Hildesheim 1967, S. 350, 27. - Simon Rots Fremdwörterbuch. Hg. v. Emil Öhmann. Helsinki 1936.

BegrG: Für die Orthographie charakteristisch ist ihr Verbindlichkeitsanspruch, und dies unabhängig davon, ob er nur von einzelnen Normierern vertreten wird (vgl. ζ. B. Frangk 1531) oder per staatlichem Dekret (s. Regeln 1902, Deutsche Rechtschreibung 1996) durchgesetzt werden soll. Allerdings hat man nicht selten auch dort von Orthographie gesprochen, wo es gar nicht um explizit normative Ansprüche zu tun war, sondern nur um verschiedene Arten einer faktischen, mehr oder minder gleichförmigen Verschriftlichung (und zwar von einer kommunen Schreibpraxis bis zu rein individuellen Schreibgewohnheiten). Eine derartige Identifikation des Usus mit der Norm kann dann, pointiert formuliert, zu einer contradictio in adiecto (s Paradox) führen, wie sie ζ. B. Lichtenbergs Diktum „Der eine hat eine falsche Rechtschreibung und der andere eine rechte Falschschreibung" (Lichtenberg, 140) aufdeckt. Deutsche Rechtschreibung. Amtliche Regelung. Düsseldorf 1996. - Fabian Frangk: Orthographia Deutsch / Lernt / recht buchstäbig deutsch schreiben. Wittenberg 1531. - Georg Christoph Lichtenberg: Schriften und Briefe. Bd. 2. München 1971. - Regeln für die deutsche Rechtschreibung nebst Wörterverzeichnis. Berlin 1902.

SachG: Frühe orthographische Normierungsversuche konzentrierten sich wesentlich auf die .richtige', möglichst eineindeutige Umsetzung gesprochener in geschriebene Sprachformen; verhindert werden sollten insbesondere Verwechslungen ähnlicher Laute, Umstellungen in der Reihenfolge der Buchstaben u. a. m., welche die Wiedererkennbarkeit des gesprochenen Worts im Geschriebenen stark minderten. Eine wirk-

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Osterfeier

liehe Gleichförmigkeit der Schreibprodukte ließ sich dadurch jedoch nur in Ansätzen erreichen, weil die Ausspracheweisen vielfach differierten. Als entscheidend erwies sich letztlich die Tatsache der dauerhaften Repräsentation bedeutungstragender sprachlicher Einheiten (primär: der Wörter), da (1) die Umsetzung des Gesprochenen ins Geschriebene per se nur Mittel zum eigentlichen Zweck des Schreibens war, nämlich dem der Mitteilung von Inhalten, und da (2) immer mehr schriftlich fixierte Vorlagen zur Verfügung standen, an denen man sich orientieren konnte. Die Orthographie, die zunächst auf Transkriptionsanweisungen zur Umsetzung des Gesprochenen ins Geschriebene konzentriert war, nahm fortschreitend mehr und mehr Festlegungen zur richtigen Schreibung einzelner Wörter auf, bis schließlich besondere RechtschreibWörterbücher entstanden. Mit dem konsequenten Ausbau schriftlicher Gestaltungsformen (Separierung graphischer Wörter mittels Spatien, ihre Trennung am Zeilenende, Schaffung von Majuskel· und Minuskelinventaren, partielle Großschreibung am Wortanfang usw.) hat sich im Laufe der Zeit das Feld für Normierungen Stück für Stück erweitert, so daß die Orthographie inzwischen sehr viel mehr umfaßt als in früheren Zeiten und mittlerweile ζ. B. auch die / Interpunktion einschließt. Von der Rechtschreibnorm nicht erfaßt bleiben allerdings weiterhin graphische Mittel wie Schriftauszeichnung, Absatzmarkierung u. a. m. Einmal umfassend etablierte orthographische Normen lassen sich, wie ζ. B. die Erfahrungen des 20. Jhs. bezüglich des deutschen Sprachgebiets gezeigt haben (zuletzt 1998), per Reform allenfalls noch in marginalen Bereichen revidieren, und dies nur unter großen Schwierigkeiten. ForschG: Die Forschung zur Orthographie steckt noch in den Anfängen. Jenseits von Versuchen, die vorherige Entwicklung orthographischer Bemühungen rein deskriptiv nachzuzeichnen, und individuellen Bestrebungen, selbst zu einer Rechtschreibreform beizutragen, haben sich die Wissenschaftler lange Zeit damit zufriedengegeben,

verschiedenartige ,Prinzipien der (Recht-) Schreibung' namhaft zu machen, deren Postulat das orthographisch Festgelegte irgendwie begründen und nachträglich rechtfertigen sollte. Dabei hatte man sich für gewöhnlich eher global auf ganz unterschiedliche Aspekte bezogen: phonetische, phonologische, morphologische, syntaktische, semantische und/oder pragmatische Faktoren, einen .allgemeinen Schreibusus', die Etymologie, die Homonymendifferenzierung (Unterscheidung gleichlautender Wörter im Geschriebenen) u. a. m. Erst seit ca. einem Vierteljahrhundert gibt es im Rahmen der Linguistik ernsthafte Bemühungen, hier die notwendige theoretische Klarheit zu schaffen und das komplexe Zusammenwirken der verschiedenen Faktoren deskriptiv differenziert zu erfassen. Berücksichtigt werden dabei inzwischen auch die besonderen normativen Aspekte der Rechtschreibung, die zuvor weitgehend vernachlässigt worden waren. Wenig erforscht ist auch noch immer die Bedeutung orthographischer Aspekte für dichterische Texte (literaturtheoretisch ζ. B. Fricke, 16—23; zur extrem abweichenden ,VerschreibKunst' Arno Schmidts ζ. B. Simon). Lit: Gerhard Äugst u. a. (Hg.): Zur Neuregelung der deutschen Orthographie. Begründung und Kritik. Tübingen 1997. - Rolf Bergmann u. a. (Hg.): Documenta orthographica. Hildesheim 1998 ff. — Harald Fricke: Norm und Abweichung. München 1981. - Peter Gallmann: Graphische Elemente der geschriebenen Sprache. Tübingen 1985. - Burckhard Garbe (Hg.): Die deutsche rechtschreibung und ihre reform 1722-1974. Tübingen 1978. - Manfred Kohrt: Theoretische Aspekte der deutschen Orthographie. Tübingen 1987. - Dieter Nerius u. a.: Deutsche Orthographie. Leipzig 1987. — D. N., Jürgen Scharnhorst (Hg.): Studien zur Geschichte der deutschen Orthographie. Hildesheim u. a. 1992. - Jens Simon: Weg von der Dudennorm. Arno Schmidts Weg von den ,Stürenburg-Geschichten' zur ,Inselstraße'. Berlin, New York 1991. Manfred

Osterfeier

Osterspiel

Kohrt

Osterspiel

Osterspiel Geistliches Spiel des Mittelalters, zentriert um die Auferstehung Christi. Expl: Typus des mittelalterlichen ? Geistlichen Spiels, in dem die Vorgänge bei der Auferstehung Christi dargestellt werden. An das im Neuen Testament berichtete Geschehen lagern sich weitere Szenen an, die keine oder nur eine schwache Stütze in den Evangelien haben, sich aus alttestamentarischer Prophetie, Apokryphen, legendarischer Überlieferung, theologischen Schriften speisen und Lücken im Geschehensablauf füllen oder dessen heilsgeschichtlichen Sinn ausdeuten. Die wichtigsten Szenentypen sind Grabwache, Höllenfahrt Christi und Seelenfang (Versuch des Teufels, Seelen für die Hölle zu fangen), Salbenkauf (Mercatorszene) und Besuch des Grabes durch die drei Marien (,Visitado sepulchri'), die Begegnung des Auferstandenen in der Gestalt des Gärtners mit Maria Magdalena (Hortulanus-Szene), Wettlauf der Jünger zum Grab, Besuch des Wirtshauses in Emmaus. Ein Teil dieser Szenen - so die Visitado, die Hortulanus-Szene und der Jüngerlauf (zu den Typen: de Boor) — wird mehr oder weniger genau aus den lateinischen OSTERFEIERN übernommen, die in der Liturgie des Ostersonntags am Morgen der Ostermesse vorausgingen. Die hinzutretenden Szenen sind häufig komisch, manchmal derb-obszön ausgestaltet, so insbesondere die Mercator-, die Hortulanus- und die Emmaus-Szene. Szenengestaltung und -verlauf können sich dabei mit einzelnen Typen des /" Fastnachtspiels wie dem Arztspiel berühren. In den enger auf die Heilsgeschichte bezogenen Teilen verwendet das Osterspiel — wie die Geistlichen Spiele überhaupt — biblische und liturgische Elemente: Evangelientexte, Prophetenworte, Hymnen, Antiphone (Wechselgesänge) u. ä. Die Grenzen zu anderen Typen des Geistlichen Spiels sind fließend: Stofflichthematisch überschneiden sich die Osterspiele häufig mit den PASSIONSSPIELEN; das Ostergeschehen kann in größere heilsgeschichtliche Zusammenhänge eingebettet sein (wie in den Fronleichnamsspielen), und einzelne szenische Abschnitte können als

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selbständige Spiele auftreten (so in den Emmaus-Spielen). WortG: Zu Spiel s Geistliches Spiel; osterspil ist im Mittelalter keine präzise Gattungsbezeichnung, sondern kann für unterschiedliche um den Ostertermin aufgeführte Geistliche Spiele verwendet werden, also auch für das Luzerner Passionsspiel (1545). Wegen der stofflichen Überschneidungen schwankt bei einzelnen Texten die Bezeichnung als Oster- oder Passionsspiel. Erst in der jüngeren Forschung setzt sich durch, Osterspiel nur für szenische Darstellungen des Ostergeschehens zu verwenden (vgl. die Forderung von Bergmann/Stricker, 53). Rolf Bergmann, Stefanie Stricker: Zur Terminologie und Wortgeschichte des Geistlichen Spiels. In: Mittelalterliches Schauspiel. Fs. Hansjürgen Linke. Hg. v. Ulrich Mehler und Anton H. Touber. Atlanta 1994, S. 4 9 - 7 7 .

BegrG: Gebräuchlicher als osterspil ist im Mittelalter die lateinische Bezeichnung ludus paschalis, auch sie nicht ausschließlich für Osterspiele i. e. S. verwendet (dt.: osterleich spil\ Kremsmünster, 14. Jh., für ein Passionsspielfragment). Wo der dargestellte Vorgang bezeichnet werden soll, findet sich „spil von der urstend", ,Auferstehungsspiel' (Linke 1994, 121). Seit den Arbeiten von Young, Hardison, de Boor, Lipphardt und Linke hat sich die terminologische Abgrenzung zwischen den liturgischen, jedoch gleichfalls theatralische Mittel nutzenden Osterfeiern und dem außerliturgischen Osterspiel durchgesetzt. SachG: Lateinische Osterfeiern mit szenischen Darstellungen des Ostergeschehens sind in ganz Europa seit dem 10. Jh. belegt. Besonders in dem am reichsten ausgestalteten Typus III (de Boor) finden sich zahlreiche Übereinstimmungen mit den volkssprachigen Osterspielen des späteren Mittelalters. Das älteste überlieferte deutschsprachige Osterspiel, das Osterspiel von Muri, stammt noch aus dem 13. Jh.; aus dem 14. Jh. sind meist nur Fragmente auf uns gekommen (vollständig: das Innsbrucker Osterspiel, 1391). Die meisten Texte sind aus dem 15. und dem frühen 16. Jh. überliefert, insbesondere aus Rheinfranken, Tirol

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Osterspiel

und der Schweiz, in nd. Sprache das Wolfenbütteler und das Redentiner Osterspiel von 1464, das wegen seiner ausführlichen Höllenfahrt- und Seelenfangszene eine Sonderstellung einnimmt. Die Spiele sind teils als Lesetexte, teils auch als Textvorlagen von Aufführungen überliefert (etwa die für den Spielleiter bestimmte, thematisch weiter ausgreifende f r a n k f u r t e r Dirigierrolle'). Die Texte sind unfest, d. h. die Spiele können für jeden neuen Anlaß bearbeitet und anders eingerichtet werden, einzelne Szenenelemente und Textpassagen ersetzt oder mehr oder minder wörtlich in andere Spiele übernommen. So entstehen textlich untereinander enger verwandte Spiel-Gruppen (,hessische', ,Südtiroler'), zwischen denen jedoch gleichfalls Austausch möglich ist. Unter dem Einfluß der Reformation wird das Osterspiel wie das mittelalterliche Geistliche Spiel überhaupt in die katholischen Gebiete zurückgedrängt. Thematische Verwandtschaft ergibt sich mit dem (früh)neuzeitlichen / Mysterienspiel. ForschG: Die ältere Forschung bemühte sich vor allem um die Sicherung des Textbestandes. Gegenüber den älteren rekonstruierenden' Editionen (Kummer, Froning) hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, daß bei der Spielüberlieferung noch mehr als sonst im Mittelalter jede Handschrift als Träger einer besonderen Fassung eigene Beachtung verdient und ihre intertextuellen Beziehungen zu anderen Fassungen in der Edition sichtbar zu machen sind. Umgesetzt wurde dieses Programm in Janotas (Passions-) Spiel-Ausgaben. Mit einem Schwerpunkt im angelsächsischen Bereich ist die Tradition der Feiern und Geistlichen Spiele im monumentalen Werk von Young aufgearbeitet. Hardison hat das dort und in der älteren Forschung latente Entwicklungsmodell (,νοη der Feier zum Spiel') zugunsten komplexerer Abhängigkeitsverhältnisse korrigiert. Eine Typologie der den Osterspielen vorausliegenden Feiern wurde von de Boor entwickelt. Ältere, oft spekulative Forschungen zum mittelalterlichen Theater wurden durch B. Neumanns umfangreiche Sammlung von Nachrichten zur Aufführungspraxis korri-

giert. Warning (1974) warf erstmals die Frage auf, ob das Osterspiel — wie das Geistliche Spiel überhaupt — sich zureichend als Medium christlicher Didaxe interpretieren lasse oder ob es diese nicht unterlaufe oder gar verkehre; er betont den Zusammenhang zwischen Osterspiel und Ostergelächter (risus paschalis, ostarrûn), dessen Ausbruch körperhafter Vitalität nicht mehr nur als Ausdruck christlicher Erlösungshoffnung zu verstehen sei. Die Auseinandersetzung mit Warnings Thesen blieb innerhalb der Germanistik, von einer umfangreichen Rezension Ohlys (1979) abgesehen, marginal. Strukturelle und funktionale Differenzen der Spiele zu anderen — oft inhaltsverwandten — Texten laikaler Frömmigkeit sind erst ansatzweise erforscht (Müller 1998). In diesem Zusammenhang wird insbesondere der rituelle Charakter der Spiele (/" Ritual), in Abgrenzung zur Liturgie, näher zu betrachten sein (vgl. Müller 1999). Lit: Das Drama des Mittelalters. Hg. v. Richard Froning [1891 f.], Repr. Darmstadt 1964. - Erlauer Spiele [1882], Hg. v. Karl F. Kummer. Repr. Hildesheim 1977. - Frankfurter Dirigierrolle. Frankfurter Passionsspiel. Hg. v. Johannes Janota. Tübingen 1996 [recte: 1997], - Das Innsbrucker Osterspiel. Hg. v. Rudolf Meier. Stuttgart 1963. - Lateinische Osterfeiern und Osterspiele. Teil 1 - 5 . Hg. v. Walther Lipphardt. Teil 7 - 9 . Hg. v. Hans-Gert Roloff und Lothar Mündt. Berlin, New York 1975-1990. - Das Redentiner Osterspiel. Hg. v. Brigitta Schottmann. Stuttgart 1975. - Schauspiele des Mittelalters [1846]. Hg. v. Franz Joseph Mone. Repr. Aalen 1970. Rolf Bergmann: Katalog der deutschsprachigen geistlichen Spiele und Marienklagen des Mittelalters. München 1986. - R. B.: Geistliche Spiele des Mittelalters - Katalogerfassung und Neufunde. In: Silier 1994, S. 13-32. - Helmut de Boor: Die Textgeschichte der lateinischen Osterfeiern. Tübingen 1967. — Osborne Bennett Hardison: Christian rite and christian drama in the Middle Ages. Baltimore 1965. - Thomas Kirchner: Raumerfahrung im geistlichen Spiel des Mittelalters. Bern u.a. 1981. - Hansjürgen Linke: Das volkssprachige Drama und Theater im deutschen und niederländischen Sprachbereich. In: Neues Hb. der Literaturwissenschaft. Bd. 8. Hg. v. Willi Erzgräber. Wiesbaden 1978, S. 733—763. - H. L.: Vom Sakrament zum Ex-

Oxymoron krement. Ein Überblick über Drama und Theater des deutschen Mittelalters. In: Theaterwesen und dramatische Literatur. Hg. v. Günter Holtus. Tübingen 1987, S. 127-164. - H. L.: Osterfeier und Osterspiel. Vorschläge zur sachlich-terminologischen Klärung einiger Abgrenzungsprobleme. In: Silier 1994, S. 121-133. - Jan-Dirk Müller: Mimesis und Ritual. Zum geistlichen Spiel des Mittelalters. In: Mimesis und Simulation. Fs. Rainer Warning, Hg. v. Andreas Kablitz und Gerhard Neumann. Freiburg 1998, S. 541-571. - J.D. M: Kulturwissenschaft historisch. Zum Verhältnis von Ritual und Theater im späten Mittelalter. In: Lesbarkeit der Kultur. Hg. v. Gerhard Neumann. München 2000, S. 55-73. - Bernd Neumann: Geistliches Schauspiel im Zeugnis der Zeit. 2 Bde. München, Zürich 1987. - Johan Nowé: Kult oder Drama? Zur Struktur einiger Osterspiele des deutschen Mittelalters. In: The theatre in the Middle Ages. Hg. v. Herman Braet u. a. Löwen 1985, S. 269-313. - Friedrich Ohly:

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Rezension von Warning 1974. In: Romanische Forschungen 91 (1979), S. 111-141. - Max Siller (Hg.): Osterspiele. Innsbruck 1994. - Johannes Streif: Das Arztspiel des vorreformatorischen Fastnachtspiels. Diss. München 1999. - Rolf Steinbach: Die deutschen Oster- und Passionsspiele des Mittelalters. Köln, Wien 1970. - Barbara Thoran: Studien zu den österlichen Spielen des deutschen Mittelalters. Göppingen 21976. Rainer Warning: Funktion und Struktur. Die Ambivalenzen des geistlichen Spiels. München 1974. - Karl Young: The drama of the medieval church. 2 Bde. Oxford 1933. Jan-Dirk

Ottave rime ? Stanze Oxymoron S Paradox

Müller

REALLEXIKON DER DEUTSCHEN LITERATURWISSENSCHAFT Band III

REALLEXIKON DER DEUTSCHEN LITERATURWISSENSCHAFT Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte gemeinsam mit Georg Braungart, Harald Fricke, Klaus Grubmüller, Friedrich Vollhardt und Klaus Weimar herausgegeben von Jan-Dirk Müller

Band III P-Z

w DE

G Walter de Gruyter · Berlin · New York

Die Originalausgabe dieses Bandes erschien 2003. Mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft (Finanzierung der Redaktorstelle)

Redaktion: Armin Schulz

© Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

ISBN 978-3-11-019355-8 Bibliografische

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der Deutschen

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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Inhalt des dritten Bandes Über das neue Reallexikon Hinweise zur Benutzung Abgekürzt zitierte Literatur Sonstige Abkürzungen Verzeichnis der Artikel in Band III Artikel P - Z Verzeichnis der Verfasserinnen und Verfasser (Bände I—III) . . . .

VII IX XI XVI XVIII 1 905

Über das neue Reallexikon - Das ,Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte' heißt in seiner dritten, von Grund auf neu erarbeiteten Auflage ,Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft' (RLW). - Mit dieser Namensänderung wird zunächst nur eine Anpassung an die geänderten Verhältnisse vollzogen: das Fach, das sich beim Erscheinen der ersten Auflage ab 1926 noch ,Deutsche Literaturgeschichte' genannt hat, heißt heute im allgemeinen ,Deutsche Literaturwissenschaft'. Darüber hinaus resultiert die Namensänderung aus einer Anwendung des eigenen lexikographischen Programms: es ist untunlich, eine Wissenschaft mit demselben Wort zu bezeichnen wie ihren Gegenstandsbereich. - Dementsprechend strebt das RLW nicht eine alphabetisch geordnete Darstellung des Wissenschaftsgegenstandes ,deutsche Literaturgeschichte' an, sondern eine lexikalische Darstellung des Sprachgebrauchs der Wissenschaft, d. h. des Faches »Deutsche Literaturwissenschaft'. Denn Realien steht hier, wie schon bei den Begründern Paul Merker und Wolfgang Stammler, nicht für ,Sachen', sondern für ,Sachbegriife' — im Kontrast zu ,Eigennamen' als Personalien (für die ζ. B. Stammler selbst das ,Verfasserlexikon' auf den Weg gebracht hat). - Leitfrage eines Lexikon-Benutzers ist: „Was versteht man unter ...?" - demgemäß wird man im RLW also nicht darüber informiert werden, was ζ. B. ,das Wesen der Klassik' sei, sondern seit wann und wie und in welchem Sinne Klassik unter Literaturwissenschaftlern im Gebrauch ist. - Das RLW als BegrifTswörterbuch erstrebt zwar auch eine möglichst vollständige und systematische Bestandsaufnahme des literaturwissenschaftlichen Sprachgebrauchs, hat aber sein eigentliches Ziel darin, ihn zu präzisieren. Es ergreift deshalb Partei nur für die Genauigkeit des wissenschaftlichen Sprachgebrauchs und nicht für eine bestimmte Richtung des Faches. - Im Interesse von Klärung und Präzisierung des wissenschaftlichen Sprachgebrauchs will sich das RLW zunächst darin von anderen Lexika unseres Faches abheben, daß es so deutlich wie jeweils möglich zwischen Wort-, Begriffs-, Sach- und Forschungsinformation unterscheidet. Der Artikel Drama ζ. B. enthält in gekennzeichneten Abschnitten Informationen darüber, woher das Wort Drama kommt, was seine Bedeutungen waren und sind (WortGeschichte), wie sich der Begriff,Drama' konzeptuell verändert hat und ggf. alternativ benannt worden ist (BegriffsGeschichte), wie die heute mit Drama bezeichnete Sache — insbesondere im deutschen Sprachgebiet — von

Vili

Uber das neue Reallexikon

den Anfängen bis in die Gegenwart ausgesehen hat (SachGeschichte), schließlich wie bzw. inwieweit die — insbesondere deutschsprachige — Literaturwissenschaft diese Sache bislang erforscht hat und wie man sich am zuverlässigsten darüber informieren kann (ForschungsGeschichte mit knapper Literaturliste). — Im Interesse von Klärung und Präzisierung des wissenschaftlichen Sprachgebrauchs will das RLW dabei die Wort- und Begriffsinformation, also den terminologischen Aspekt, eindeutig in den Vordergrund stellen und die in vielen anderen Nachschlagewerken ausführlich angebotene Sachdarstellung eher knapp (somit auch den Gesamtumfang aller Artikel überschaubar) halten. So bietet der Artikel Drama keine kurzgefaßte ,Geschichte des deutschen Dramas', sondern nur so viel davon, wie nötig ist zur Ergänzung der Wortund BegrifTsinformation sowie zur Begründung eines historisch adäquaten Präzisierungsvorschlags. — Im Interesse von Klärung und Präzisierung des wissenschaftlichen Sprachgebrauchs enthält das RLW in jedem Artikel eine Explikation: einen historisch gestützten Gebrauchsvorschlag dafür, mit welchen begrifflichen Merkmalen und mit welchem Begriffsumfang der betreffende Terminus in der gegenwärtigen Literaturwissenschaft sinnvollerweise zu verwenden ist und wie er sich ggf. zu seinem TERMINOLOGISCHEN FELD verhält. Da unser Fach zu einem nicht unbeträchtlichen Teil seine Termini aus der Umgangssprache bezieht, unternimmt es diese Explikation (und nicht etwa schon die zur Groborientierung vorangestellte ,Kopfzeile'), die Grenze zwischen dem umgangssprachlichen und einem geklärten fachsprachlichen Gebrauch ein- und desselben Wortes zu ziehen. — Ebenso wie viele Explikationen müssen dabei auch wort- und begriffsgeschichtliche Untersuchungen nicht selten ohne nennenswerte Vorarbeiten auskommen; dieser Umstand verdeutlicht schon, daß hier kein fraglos bestehender Konsens festgestellt oder gar festgeschrieben werden kann, sondern daß im RLW Ergebnisse terminologischer Forschung zu weiterer Nutzung und Diskussion bereitgestellt werden. Der Bezug auf einen solchen Thesaurus wissenschaftsgeschichtlich reflektierter Gebrauchsvorschläge wird es jedem einzelnen Forscher erleichtern, bei Bedarf seine eigenen terminologischen Entscheidungen zu treffen und sie ohne großen Aufwand, nämlich durch knappe Benennung der Übereinstimmungen und Differenzen zur RLW-Explikation, deutlich zu machen. — Um diese Verbindung von Kontinuität und Zukunftsoffenheit in jedem einzelnen Artikel zu erreichen, bedurfte es einer ungewöhnlich engen Kooperation von Artikel-Verfassern und Herausgebern. Für ihre Bereitschaft, sich dem viel Zeit und Toleranz abverlangenden Prozeß oft mehrstufiger Überarbeitungen und nicht selten auch schmerzhafter Kürzungen geduldig und kooperativ zu unterziehen, sollte den Verfassern aller Artikel der Dank der Fachwelt sicher sein; der Dank der Herausgeber sei ihnen auch an dieser Stelle ausgesprochen.

Hinweise zur Benutzung — Das RLW ist für sämtliche darin explizierten Termini konsequent alphabetisiert (in der jeweils gebräuchlichsten Wortform — À = Ae usw., Jambus statt Iambus usw., Kode unter Code usw.). Erfolgt nicht schon am alphabetischen Ort eine ausführliche Darstellung zu einem Lemma, so wird durch den Pfeil ? auf denjenigen anderen Artikel verwiesen, in dessen Rahmen dieses VerweisStichwort erläutert wird. — Ein Verweis-Stichwort verhält sich dabei zu seinem Artikel-Stichwort nicht in jedem Fall als Unterbegriff zur übergeordneten Kategorie (wie ANAPÄST ZU Versfuß), sondern oft auch als gleichrangiger Parallelfall (EPIPHER im Artikel Anapher), als Gegenstück eines Begriffspaars (FORM/INHALT gemeinsam im Artikel Form), als historische Spezialform (GÖTTINGER HAIN im Artikel Empfindsamkeit), als möglicher Konkurrenzbegriff (ERZIEHUNGSROMAN im Artikel Bildungsroman) oder einfach als partielles historisches Synonym von eigenem lexikographischen Gewicht (MUNDARTDICHTUNG im Artikel Dialektliteratur). — Auch auf sachlich angrenzende bzw. ergänzende Artikel wird aus dem Text mit einem Pfeil verwiesen. Wo sich dieser Verweis auf das Unterstichwort eines Artikels bezieht, wird dieses kursiv vor dem Pfeil aufgeführt, der auf das zugehörige Artikelstichwort lenkt (Hyperbel, ? Emphase). — Ein förmliches Verweis-Stichwort entfällt, wo bereits die allgemeine Sprachkompetenz problemlos zum zweiten Teilausdruck eines Terminus als der richtigen Fundstelle leiten sollte: Binnenreim wird man unter Reim nachschlagen, Externe Funktion unter Funktion usw. — Wo ein terminologischer Ausdruck schon innerhalb der deutschen Literaturwissenschaft systematisch mehrdeutig gebraucht wird, werden seine Lesarten durch Indizes unterschieden (Schwankt als gründerzeitliche Komödienform, Schwank2 als frühneuzeitliche Erzählform) und gesondert dargestellt (je ein eigener Artikel für Glosse! als Erläuterungs- und Erschließungsinstrument vor allem mittelalterlicher Texte, Glosse2 als Gedichtgattung, Glosse3 als publizistische Kleinform). Dabei stehen reine Verweise immer voran (ALLEGORIE] ist nur Unterstichwort zu Metaphernkomplex); im folgenden rangiert dann die allgemeinere jeweils vor der historisch begrenzteren Bedeutung (erst Allegorie2 als zeitübergreifende Schreibweise, dann Allegorie3 als vor allem mittelalterliche Gattung). — Metasprachlich thematisierte Wörter erscheinen kursiv, thematisierte ,Begriffe' und alle anderen ,Bedeutungen' in einfachen Anführungsstrichen.

Hinweise zur Benutzung

Zugeordnete Verweis-Stichwörter innerhalb eines Artikels werden an der Stelle ihrer jeweils wichtigsten Erläuterung durch KAPITÄLCHEN hervorgehoben. Geschieht das in der Form eines förmlichen ,Gebrauchsvorschlages', so findet sich dies als terminologisches Feld' am Schluß des Abschnittes Explikation. Um den ungleichen altsprachlichen Vorkenntnissen der Benutzer Rechnung zu tragen, werden griechische Wörter und Zitate im Original mit anschließender Transkription in [...] wiedergegeben (Wörter aus anderen Schriften nur transkribiert); wo griechische oder lateinische Zitate nicht unmittelbar darauf in ,Häkchen' übersetzt sind, werden sie im Kontext unmißverständlich paraphrasiert. Zur Entlastung des - gewollt knapp und damit überschaubar gehaltenen — bibliographischen Apparates werden häufig herangezogene Quellentexte, Nachschlagewerke und Zeitschriften in fachüblicher Weise abgekürzt zitiert; die Auflösung der Siglen wie auch aller sonstigen Abkürzungen findet man im Gesamtverzeichnis zu Beginn eines jeden Bandes. Auch bei den übrigen bibliographischen Angaben rangiert im Bedarfsfall problemlose Identifizierbarkeit vor bibliothekarischer Vollständigkeit: Überlange Aufsatz- oder Kapiteltitel werden gegebenenfalls durch markierte Auslassungen [...] gekürzt; Untertitel werden durchweg nur angegeben, wo dies zur Verdeutlichung des Lemma-Bezuges unerläßlich ist. Werktitel im laufenden Text stehen in einfachen Anführungszeichen (,Kabale und Liebe'). Werke antiker und mittelalterlicher Autoren werden im Regelfall mit eingeführtem Kurztitel und nach der Konvention zitiert (Aristoteles, ,Poetik' 1454 b). Im Anschluß an die einzelnen Artikel-Rubriken werden in alphabetischer Ordnung jene Titel nachgewiesen, die nur in der jeweiligen Rubrik zitiert oder vorrangig dort von Belang sind. Kurznachweise im Text, die sich nicht gleich hier aufgelöst finden, verweisen auf die Rubrik Literatur, die für das Gesamtstichwort wichtige Titel verzeichnet.

Abgekürzt zitierte Literatur AdB Adelung

BMZ

Campe

CC Cgm Clm Cpg CSEL Curtius DEI DWb DWb 2 EJ EM

Ersch/Gruber EWbD Findebuch Frnhd.Wb. Georges Gottsched

Allgemeine deutsche Bibliothek. Hg. v. Friedrich Nicolai. 118 Bde. Berlin, Stettin 1766-1796. Johann Christoph Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart. 4 Bde. Wien 31808 [5 Theile Leipzig '1774-1786; 4 Bde. Leipzig 2 1793-1801], Mittelhochdeutsches Wörterbuch. Mit Benutzung des Nachlasses von Georg Friedrich Benecke ausgearbeitet von Wilhelm Müller und Friedrich Zarncke. 3 Bde. Leipzig 1854—1861. Repr. Hildesheim 1963. Joachim Heinrich Campe: Wörterbuch der Deutschen Sprache. 5 Bde. Braunschweig 1807-1811. Repr. Hildesheim 1969-1970. Mit einer Einführung und Bibliographie v. Helmut Henne. Corpus Christianorum Series Latina. Turnhout 1954 ff. Codex germanicus monacensis (Bayerische Staatsbibliothek München). Codex latinus monacensis (Bayerische Staatsbibliothek München). Codex palatinus germanicus (Universitätsbibliothek Heidelberg). Corpus scriptorum ecclesiasticorum latinorum. Wien u. a. 1866 ff. Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. Bern 1948 u. ö. Dizionario Enciclopedico Italiano. 12 Bde. Rom 1955-1961. Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. 33 Bde. Leipzig 1854-1954. Repr. München 1984. Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. Neubearbeitung. Leipzig 1983ÍT. Encyclopaedia Judaica. Das Judentum in Geschichte und Gegenwart. 10 Bde. A - L . Berlin 1928-1934. Enzyklopädie des Märchens. Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung. Hg. v. Kurt Ranke zusammen mit Hermann Bausinger u.a. Berlin, New York 1977ff. Johann Samuel Ersch, Johann Gottfried Gruber (Hg.): Allgemeine Encyclopädie der Wissenschaften und Künste. Leipzig 1818 ff. Etymologisches Wörterbuch des Deutschen. Hg. v. Wolfgang Pfeifer u.a. 3 Bde. Berlin (Ost) 1989. 2 Bde. 21993. Kurt Gärtner u. a.: Findebuch zum mittelhochdeutschen Wortschatz. Mit einem rückläufigen Index. Stuttgart 1992. Frühneuhochdeutsches Wörterbuch. Hg. v. Robert R. Anderson, Ulrich Goebel und Oskar Reichmann. Berlin, New York 1989 ff. Karl-Ernst Georges: Ausführliches Lateinisch-Deutsches Handwörterbuch. 2 Bde. [Leipzig 81913] Repr. Basel 1951 u.ö. Johann Christoph Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst. Leipzig 41751. Repr. Darmstadt 1962.

XII GWb

Hain

Hebenstreit

Heyne HRG HWbPh HWbRh Kayser Kl. Pauly Kluge-Mitzka Kluge-Seebold

Lausberg Lexer LexMA LThK LThK 3 MF

MG

MGG MGG2

Mlat.Wb.

Abgekürzt zitierte Literatur Goethe-Wörterbuch. Hg. v. der Akademie der Wissenschaften der DDR, der Akademie der Wissenschaften in Göttingen und der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Stuttgart u.a. 1978ff. Ludwig Hain: Repertorium bibliographicum, in quo libri omnes ab arte typographica inventa usque ad annum MD: typis expressi [...] enumerantur vel [...] recensentur. 4 Bde. Stuttgart u.a. 1826—1836. Repr. Mailand 1966. Wilhelm Hebenstreit: Wissenschaftlich-literarische Encyklopädie der Aesthetik. Ein etymologisch-kritisches Wörterbuch der ästhetischen Kunstsprache. Wien 21848. Moriz Heyne: Deutsches Wörterbuch. 3 Bde. Leipzig 1890—1895. Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte. Hg. v. Adalbert Erler und Ekkehard Kaufmann. 5 Bde. Berlin 1971-1998. Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hg. v. Joachim Ritter und Karlfried Gründer. Basel, Darmstadt 1971 ff. Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hg. v. Gert Ueding. Tübingen 1992 ff. Wolfgang Kayser: Das sprachliche Kunstwerk. Eine Einführung in die Literaturwissenschaft. Bern, München 1948 u. ö. Der kleine Pauly. Lexikon der Antike. Hg. v. Konrat Ziegler und Walther Sontheimer. 5 Bde. Stuttgart 1964-1975. Friedrich Kluge: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Bearbeitet v. Walther Mitzka. Berlin 20 1967. Friedrich Kluge: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Unter Mithilfe von Max Bürgisser und Bernd Gregor völlig neu bearbeitet v. Elmar Seebold. Berlin, New York 221989; 23 1995. Heinrich Lausberg: Handbuch der literarischen Rhetorik. Eine Grundlegung der Literaturwissenschaft. 2 Bde. München 1960. Matthias Lexer: Mittelhochdeutsches Handwörterbuch. 3 Bde. Leipzig 1872-1878. Repr. Stuttgart 1992. Lexikon des Mittelalters. 10 Bde. München, Zürich 1980-1999. Lexikon für Theologie und Kirche. Hg. v. Josef Höfer und Karl Rahner. 10 Bde. Freiburg i.Br. 2 1957-1965. Lexikon für Theologie und Kirche. Hg. v. Walter Kasper. Freiburg i.Br. 1993ff. Des Minnesangs Frühling. Unter Benutzung der Ausgaben von Karl Lachmann und Moriz Haupt, Friedrich Vogt und Carl von Kraus bearbeitet v. Hugo Moser und Helmut Tervooren. Stuttgart 371982. Monumenta Germaniae Histórica. Hannover, Leipzig 1826 ff. SS — Scriptores. SS rer. Germ. — Scriptores rerum Germanicarum in usum scolarum separatim editi. Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik. Hg. v. Friedrich Blume. 17 Bde. Kassel, Basel 1949— 1986. Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik. Begründet v. Friedrich Blume. 2., neubearbeitete Ausgabe hg. v. Ludwig Finscher. 20 Bde. Kassel u. a. 1994 ff. Mittellateinisches Wörterbuch bis zum ausgehenden 13. Jh. Hg. v. der Bayerischen Akademie der Wissenschaften und der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. München 1967 ff.

Abgekürzt zitierte Literatur OED Paul-Betz Paul-Henne PL Quintilian

RAC

RDK RGG RL 1 RL 2

Robert

Sanders

Scaliger

Schweikle Schulz-Basler Splett Stammler Sulzer Thesaurus TRE Trübner VL

XIII

The Oxford English Dictionary. Hg. v. J. A. Simpson und E. S. C. Weiner. 20 Bde. Oxford 21989. Hermann Paul: Deutsches Wörterbuch. Bearbeitet v. Werner Betz. Tübingen 71976. Hermann Paul: Deutsches Wörterbuch. Vollständig neu bearbeitete Auflage v. Helmut Henne und Georg Objartel. Tübingen 9 1992. Patrologiae cursus completus. Series Latina. Hg. v. J. P. Migne. 221 Bde. Paris 1844-1865. Marcus Fabius Quintilianus: Institutionis oratoriae libri XII. Ausbildung des Redners. Hg. und übers, v. Helmut Rahn. 2 Bde. Darmstadt 1972, 1975. Reallexikon für Antike und Christentum. Sachwörterbuch zur Auseinandersetzung des Christentums mit der antiken Welt. Hg. v. Theodor Klauser, Ernst Dassmann u.a. Stuttgart 1950ff. Reallexikon zur Deutschen Kunstgeschichte. Hg. v. Otto Schmitt u.a. Bde. 1 - 5 Stuttgart 1937-1967. Bd. 6ff. München 1973ff. Die Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft. Hg. v. Kurt Galling. 6 Bde. Tübingen 3 1957-1965. Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte. Hg. v. Paul Merker und Wolfgang Stammler. 4 Bde. Berlin 1925-1931. Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte. Bde. 1—3 hg. v. Werner Kohlschmidt und Wolfgang Mohr. Berlin 2 1958-1977. Bd. 4 hg. v. Klaus Kanzog und Achim Masser. Berlin 21984. Le grand Robert de la langue française. Dictionnaire alphabétique et analogue de la langue française. Hg. v. Alain Rey. 9 Bde. Paris 2 1985. Daniel Sanders: Deutscher Sprachschatz geordnet nach Begriffen zur leichten Auffindung und Auswahl des passenden Ausdrucks. Ein stilistisches Hülfsbuch für jeden Deutsch Schreibenden. 2 Bde. Hamburg 1873. Repr. Tübingen 1985. Julius Caesar Scaliger: Poetices libri Septem = Sieben Bücher über die Dichtkunst. Unter Mitwirkung v. Manfred Fuhrmann hg. und übers, v. Luc Deitz und Gregor Vogt-Spira. Stuttgart-Bad Cannstatt 1994 ff. Metzler Literaturlexikon. Stichwörter zur Weltliteratur. Hg. v. Günther und Irmgard Schweikle. Stuttgart 1984; 21990. Deutsches Fremdwörterbuch. Begonnen v. Hans Schulz, fortgeführt von Otto Basler. 7 Bde. Straßburg u.a. 1913-1988. Jochen Splett: Althochdeutsches Wörterbuch. Berlin u.a. 1993. Wolfgang Stammler (Hg.): Deutsche Philologie im Aufriß. 3 Bde. Berlin 2 1957-1969 ['1952-1959], Johann Georg Sulzer: Allgemeine Theorie der schönen Künste. 4 Bde. Leipzig 2 1792-1794. Repr. Hildesheim 1967-1970. Thesaurus linguae latinae. Ed. auctoritate et Consilio Academiarum quinqué Germanicarum [...] et al. Leipzig 1900ff. Theologische Realenzyklopädie. Hg. v. Gerhard Krause und Gerhard Müller. Berlin, New York 1974 ff. Trübners Deutsches Wörterbuch. Hg. v. Alfred Götze, Walther Mitzka u.a. 8 Bde. Berlin 1939-1957. Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. Hg. v. Kurt Ruh u. a. Berlin, New York 21978 ff.

XIV Weigand Wilpert Zedier

Abgekürzt zitierte Literatur Friedrich L. K. Weigand: Deutsches Wörterbuch. 3 Bde. Gießen 5 1909. Gero v. Wilpert: Sachwörterbuch der Literatur. Stuttgart 71989. Johann Heinrich Zedier (Hg.): Großes vollständiges UniversalLexicon aller Wissenschaften und Künste. 64 Bde. Halle, Leipzig 1732-1750. Repr. Graz 1961-1964.

Periodika AAA ABÄG AfdA AfK AGB Annales ESC ASNSL BIOS BNF Börsenblatt DA DaF DS DU DVjs EG FMLS FMSt GGA GR GRM GWU HistJGG IASL JbFDH JbIG JbLH JEGP KZfiSS LiLi LingBer LitJb LWU MfdU MIÖG MittellatJb MLN MLR

Arbeiten aus Anglistik und Amerikanistik Amsterdamer Beiträge zur älteren Germanistik Anzeiger für deutsches Altertum und deutsche Literatur Archiv für Kulturgeschichte Archiv für Geschichte des Buchwesens Annales. Economies. Sociétés. Civilisations Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen Zeitschrift für Biographieforschung und Oral History Beiträge zur Namenforschung Börsenblatt für den deutschen Buchhandel Deutsches Archiv für Geschichte des Mittelalters; ab 8/1951: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters Deutsch als Fremdsprache Deutsche Sprache. Zeitschrift für Theorie, Praxis, Dokumentation Der Deutschunterricht. Beiträge zu seiner Praxis und wissenschaftlichen Grundlegung (Stuttgart 1948-1982, Velber 1983 ff.) Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte Etudes Germaniques Forum for Modern Language Studies Frühmittelalterliche Studien Göttingische Gelehrte Anzeigen Germanic Review Germanisch-romanische Monatsschrift Geschichte in Wissenschaft und Unterricht Historisches Jahrbuch der Görresgesellschaft Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts Jahrbuch für Internationale Germanistik Jahrbuch für Liturgik und Hymnologie The Journal of English and Germanic Philology Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie LiLi. Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik Linguistische Berichte Literaturwissenschaftliches Jahrbuch der Görres-Gesellschaft Literatur in Wissenschaft und Unterricht Monatshefte für den deutschen Unterricht Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung Mittellateinisches Jahrbuch Modern Language Notes Modern Language Review

Periodika Mu NLH NPL PBB PMLA PTL Rev.Int.Phil. RQ Schiller-Jb. STZ SuF SuLWU TeKo ThR TSLL WB WW ZÄAK ZADSV ZfD ZfdA ZfdPh ZfdU ZfG ZrPh ZThK

Muttersprache New Literary History Neue Politische Literatur Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur Publications of the Modern Language Association of America A journal for descriptive poetics and theory of literature Revue internationale de philosophie Renaissance Quarterly Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft Sprache im technischen Zeitalter Sinn und Form Sprache und Literatur in Wissenschaft und Unterricht Text und Kontext Theologische Rundschau Texas Studies in Literature and Language Weimarer Beiträge Wirkendes Wort Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft Zeitschrift des Allgemeinen Deutschen Sprachvereins Zeitschrift für Deutschkunde Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur Zeitschrift für deutsche Philologie Zeitschrift für den deutschen Unterricht Zeitschrift für Germanistik Zeitschrift für romanische Philologie Zeitschrift für Theologie und Kirche

XV

Sonstige Abkürzungen Die Bücher der Bibel werden abgekürzt nach LThK 3 . =

t ae. afrz. ahd. am. aprov. arab. art. Art. asächs. AT Bd./Bde./ Bdn. begr. BegrG bes. Bl. c. cap. d. Gr. Diss. dt. ebd. engl. erw. Expl f. [Zahl] [Zahl] f. Fase. ff. frnhd. ForschG Fr. frz. Fs. gest. ggf· griech.

ist gleich gestorben altenglisch altfranzösisch althochdeutsch amerikanisch altprovençalisch arabisch articulus Artikel altsächsisch Altes Testament Band/Bände/Bänden begründet Begriffsgeschichte besonders Blatt carmen capitulum der Große Dissertation deutsch ebenda englisch erweiterte Fassung Explikation folium folgende Fasciculus (mehrere) folgende frühneuhochdeutsch Forschungsgeschichte Fragment französisch Festschrift für gestorben gegebenenfalls (alt)griechisch

H. Habil. Hb./-hb. Hg. hg. v. Hs. ital. IVG

Jb./-jb. Jg-

Jh./Jhs. Kap. lat. lib. Lit masch. mhd. mlat. mnd. mnl. Ms. nd. NF nl. NT obdt. o.J. o.O. Pers. port. pr. praef. ad prov. q·

[Zahl]r Reg. Repr. russ.

Heft Habilitationsschrift Handbuch/-handbuch Herausgeber/ Herausgeberinnen herausgegeben von Handschrift italienisch Internationale Vereinigung für germanische Sprachund Literaturwissenschaft Jahrbuch/-jahrbuch Jahrgang Jahrhundert/Jahrhunderts Kapitel lateinisch liber Literatur(verzeichnis) maschinenschriftlich mittelhochdeutsch mittellateinisch mittelniederdeutsch mittelniederländisch Manuskript niederdeutsch Neue Folge niederländisch Neues Testament oberdeutsch ohne Jahresangabe ohne Ortsangabe Person portugiesisch prooemium praefatio ad provençalisch quaestio recto Register Reprint, fotomechanischer Nachdruck russisch

XVII

Sonstige Abkürzungen s. SachG sc. SJ span. St. s.v. tit. tschech. u. a. u. ä. u. a. m.

siehe Sachgeschichte scilicet Societas Jesu (Jesuitenorden) spanisch Stück sub voce (unter dem Stichwort) titulus tschechisch und andere/und anderswo und ähnlich(es) und andere(s) mehr

übers, v. u. ö. usw. v. [Zahl]v v. a. vgl. vs. Wb./-wb. WortG z.B. zit. n. Zs. z.T.

übersetzt von und öfter und so weiter Vers verso vor allem vergleiche versus (im Gegensatz zu) Wörterbuch/-Wörterbuch Wortgeschichte zum Beispiel zitiert nach Zeitschrift zum Teil

Verzeichnis der Artikel in Band III Die Herausgeber haben sich jeweils mit sämtlichen Artikeln dieses Bandes befaßt und sie untereinander wie mit den Verfasserinnen und Verfassern diskutiert. Die Herausgeber-Kürzel hinter den Lemmata der folgenden Liste (B = Georg Braungart, F = Harald Fricke, G = Klaus Grubmüller, M = Jan-Dirk Müller, V = Friedrich Vollhardt, W = Klaus Weimar; ohne Kürzel = Herausgeber-Artikel) geben an, welcher Herausgeber jeweils die Korrespondenz geführt und die Schlußredaktion verantwortlich überwacht hat: Paläographie (G) Palinodie (F) Panegyrikus (M) Pantomime (M) Parabel (M) Paradox (F) Paralipomena (F) Parallelismus (F) Paratext (F) Parodie (F) Parteilichkeit (M) Partitur (M) Pasquill (Β) Pasticcio, Pastiche (F) Pastourelle (G) Pathos (V) Performance (M) Perikope (M) Perioche (B) Periode (F) Peripetie (Β) Periphrase (F) Permutation 2 (F) Personifikation (G) Perspektive (V) Petrarkismus (M) Phänomenologische Literaturwissenschaft (V) Phantasie (F) Phantastisch (F) Phantastische Literatur (F) Philologie (G) Physiognomik (Β) [Ut] pictura poesis (M)

Pietismus (V) Plagiat (M) Pleonasmus (F) Plot (F) Poème trouvé (V) Poesie Poetik Poetische Funktion (F) Poetische Gerechtigkeit (M) Poetische Lizenz (B) Poetizität (F) Poiesis (B) Pointe (F) Polemik (B) Politische Dichtung (V) Pop-Literatur (V) Populäre Lesestoffe (M) Pornographie (M) Positivismus (V) Posse (F) Postmoderne (V) Poststrukturalismus (V) Potenzierung Präsupposition (G) Pragmatik (M) Predigt (G) Predigtmärlein Priamel (G) Produktionsästhetik (G) Pro-Formen (G) Prolog (M) Proposition (F) Prosa (M) Prosagedicht (F)

Verzeichnis der Artikel in Band III Prosaroman Prosimetrum (G) Prosodie (G) Protasis (Β) Proxemik (M) Psalm (M) Pseudonym (M) Psychoanalytische Literaturwissenschaft (F) Publikum (M) Puppenspiel (M) Quelle! (G) Quelle 2 (G) Querelle (V) Quodlibet, (G) Quodlibet 2 (G) Rätsel (G) Rahmenerzählung (V) Rahmenhandlung (V) Realismus! (V) Realismus 2 (V) Rechtsspiegel (G) Rechtssymbolik (G) Rede, Rede 2 , Redegattungen (M) Rede 3 (M) Redensart (G) Referenz (V) Reformation Reformationsdrama (M) Refrain (F) Regieanweisung Reim (F) Reimprosa (M) Reiseliteratur (V) Renaissance (V) Reportage (V) Repräsentation (G) Reproduktionsverfahren (V) Restauration (M) Revue (F) Rezension 2 (M) Rezeption (G) Rezeptionsästhetik (G) Rezeptionsforschung (V) Rhetorik Rhetorische Figur (Β) Rhetorische Frage (Β) Rhythmus Ritornell (F) Ritual (M)

Robinsonade (V) Rokoko (V) Rolle (F) Rollengedicht (F) Roman (B) Romantheorie (B) Romantik (V) Romanze (V) Rondeau (F) Rotulus Rührendes Lustspiel (V) Rührung (V) Säkularisierung (V) Sänger (M) Sage (M) Salon (V) Sangspruch (G) Satire (M) Satyrspiel (V) Satz (G) Schattenspiel (M) Schauerroman (F) Schauspieler (M) Schelmenroman (V) Scherzrede (F) Schicksalsdrama (B) Schlager (F) Schlüsselliteratur (M) Schön (V) Schreiben (V) Schreiber (G) Schreibweise2 (F) Schrift (M) Schriftstellerverband (G) Schule (V) Schultheater (M) Schwank! (F) Schwank 2 (M) Schwankroman (G) Science Fiction (F) Script-Theorie (F) Selektion (F) Semiotik (F) Sensus litteralis/spiritualis (G) Sentenz (G) Sentimentalisch (B) Sequenz (M) Serenade (M) Serie (M) Sestine (M) Singspiel (F)

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Verzeichnis der Artikel in Band III

Siziliane (F) Skaz (M) Sketch (F) Skizze (F) Slogan (M) Sonett (M) Sonettenkranz (M) Song (F) Sozialgeschichte (M) Sozialistischer Realismus (V) Spätmittelalter (M) Spannung (F) Spiegel (G) Spiel (F) Spiel im Spiel (F) Spielmannsdichtung (G) Sprachgesellschaft (V) Sprachkritik (F) Sprachspiel (F) Sprechakt (F) Sprichwort (G) Stabreim (G) Städtelob (G) Ständeklausel (B) Stammbuch (V) Stanze (M) Stationendrama (M) Statistische Literaturanalyse (F) Stegreifdichtung (G) Stemma (G) Stichisch (G) Stil (M) Stilebene (F) Stilistik (F) Stilprinzip (F) Stoff (G) Stoffgeschichte (G) Straßentheater (M) Streitgespräch (G) Strophe (F) Strophenform (F) Struktur (F) Strukturalismus (F) Stundenbuch (G) Sturm und Drang Sujet (G) Sukzession (F) Surrealismus 2 (V) Symbol ? (F) Symbolismus (F) Synästhesie (V) Synopse (G) Systemtheorie (V)

Szenario (M) Szene (B) Tableau (Β) Tabu (M) Tabulatur (G) Tagebuch (M) Tagelied (G) Takt (F) Tanz (M) Tempus (V) Terminologie Terzinen (M) Teufelsbuch (M) Text (F/M) Textanalyse (F) Textauszeichnung (V) Textkritik (G) Textlinguistik (G) Textologie (G) Textsorte Texttheorie (F/M) Textur (F) Theater (M) Theatercoup (M) Theaterkritik (F) Theaterwissenschaft (M) Theaterzettel (M) Thema (G) Thema/Rhema (G) Thesen (F) Tierepik (G) Titel (G) Ton (G) Topik (V) Topos (V) Totengespräch (V) Totenklage (G) Totentanz (G) Tradition (M) Tragikomödie (B) Tragisch (V) Tragödie (V) Traktat (G) Traum (Β) Traumbuch (G) Travestie (F) Trilogie (V) Trinklied (M) Triolett (F) Triumph (M)

Verzeichnis der Artikel in Band III Trivialliteratur (B) Tropus 2 (B) Troubadour (G) Typenkomödie (V) Typisch (V) Typographie (G) Typologie ι (G) Typologie 2 (V) Typologie 3 (V) Überbau (M) Überdetermination (V) Überlieferung Übersetzung (M) Underground-Literatur (V) Uneigentlich (F) Unterhaltung; (B) Unterhaltung 2 (B) Urheberrecht (M) Urkunde (G) Utopie (V) Vagantendichtung (M) Vagantenzeile/Vagentenstrophe (M) Vaterländisches Schauspiel (F) Verfahren (F) Verfilmung (M) Verfremdung 2 (M) Vergleich (M) Verlag (V) Vers (G) Versdrama (F) Verserzählung (M) Versfuß (G) Versifizierung Versmaß (G) Versöhnung (V) Verstehen (V) Vertonung (F) Videoclip (F) Villanelle (M) Vision (G) Vita (G) Volksbuch Volkskultur (M) Volkslied (M) Volksliedstrophe (Β)

Volksstück (F) Vorausdeutung (G) Vormärz (V) Vorschein (V) Vorspiel (M) Vorwort (F) Wahrscheinlichkeit (F) Waise (G) Wappendichtung (M) Warencharakter (V) Wechselseitige Erhellung der Künste Weistum (G) Weltliches Spiel (G) Weltliteratur (F) Welttheater (B) Werbetext (F) Werk (G) Werkimmanente Interpretation (F) Wertung (V) Widerspiegelung (V) Widmung (F) Wiegenlied (B) Wildwestroman (F) Wirkung (V) Wirkungsästhetik (V) Wirkungsgeschichte (V) Wissenschaftsgeschichte! (V) Wissenschaftsgeschichte 2 (V) Wissenschaftstheorie (V) Witz (F) Wortspiel (F) Zäsur (F) Zahlensymbolik (M) Zauberspruch (M) Zeichen (F) Zeilenstil (G) Zeitroman (B) Zeitschrift (B) Zeitung (B) Zeitungslied (G) Zensur (M) Zeugma (M) Zitat (M) Zyklus (V) Zynismus (V)

Ρ Paläographie Wissenschaft von alten Schriften. Expl: Aufgabe der Paläographie ist einerseits das korrekte Entziffern alter Schriften, andererseits die Bestimmung ihrer Entstehungszeiten und Ursprungsorte durch Erforschung ihrer historischen Entwicklung und ihrer unterschiedlichen Ausprägungen. An sich wäre jegliche alte schriftliche Aufzeichnung in unterschiedlichen Schriftzeichen und Sprachen Gegenstand der Paläographie, wobei ,alt' in erster Linie für die Dauer des Schriftgebrauchs als alleiniges Medium in Antike und Mittelalter vor seiner Ablösung durch den Buchdruck steht; herkömmlich gilt jedoch die Begrenzung auf Buch- und Urkundenschriften auf Papyrus, Pergament oder Papier, unter Ausschluß der Inschriften auf Stein, Metall, Glas und anderen harten Materialien, so daß sich die Paläographie durch den Beschreibstoff von der Epigraphik, Siegelkunde u. ä. abgrenzt. Je nach verwendeten Schriftzeichen spaltet sich die Paläographie auf in verschiedene Spezialgebiete wie lateinische, griechische, hebräische Paläographie, in Runenkunde oder musikalische Notationskunde. Mit den Textzeugen des abendländischen, lateinischen wie volkssprachigen Schrifttums, für das fast ausschließlich das aus der Antike übernommene lateinische Alphabet verwendet wurde, befaßt sich die lateinische Paläographie. WortG/BegrG: Abgeleitet von griech. παλαιός [palaiós] ,alt' und γραφή [graphé] ,Schrift', wurde die Bezeichnung 1708 von dem französischen Benediktiner Bernard de Montfaucon in seiner ,Palaeographia graeca' geprägt. Längere Zeit wurde die Disziplin auch als Diplomatile bezeichnet, da ihre erste Zielsetzung war, die Echtheit

von Urkunden anhand ihrer Schrift zu erweisen. Paläographie galt bis in die jüngere Zeit als .historische Hilfswissenschaft' im Dienst von Geschichts- und Literaturwissenschaft oder /" Philologie; sie verschaffte die Kenntnisse, die zum Entziffern und Analysieren schriftlichen Quellenmaterials befähigten. Entscheidend für den Fortschritt der paläographischen Forschung war die Erfindung der Fotografie; erst die moderne Reproduktionstechnik erleichterte den Vergleich der Schriften von Codices, die an unterschiedlichen Orten aufbewahrt werden; vor allem die vergleichende Methode läßt Schriftzusammenhänge und Schriftentwicklungen erkennen. Mit ihrer Weiterentwicklung auf dieser Grundlage und mit der Erforschung bisher weniger beachteter Aspekte tendiert die Paläographie in neuester Zeit zur Verselbständigung als unabhängige Disziplin. Paläographie hängt eng zusammen mit Handschriftenkunde (Kodikologie, /" Codex). SachG: Schriften ( / Schrift) lassen sich generell auf zwei Grundtypen zurückführen: die kalligraphische, geformte, konstruierte Schrift (y Kalligraphiei), in der jeder Buchstabe aus einzelnen Bestandteilen zusammengesetzt wird, und die kursive Schrift, die fließend und zusammenhängend geschrieben wird. Die geformte Schrift ist überindividuell und bildet Normen und Regeln aus, die jeweils für bestimmte Epochen und Regionen gültig sind und die von ihren Schreibern erlernt werden. Die kursive dynamische Schrift enthält mehr Variantenreichtum und individuelle Formen. Die Anwendungsbereiche beider Grundtypen waren im Früh- und Hochmittelalter getrennt: geformte Schrift wurde als Buchschrift, Kursive als Gebrauchs- und individuelle Notizenschrift verwendet. Anfangs nur gele-

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Paläographie

gentlich, seit dem 13. Jh. zunehmend, zuerst im Kanzleiwesen, kommt es zu gegenseitiger Beeinflussung beider Bereiche bis hin zur Auflösung der vorherigen Trennung; dementsprechend existieren zahlreiche Übergangsformen. Die Majuskelschrift der Antike, die Kapitalis, lebte im Mittelalter und auch später, besonders in Inschriften (s Epigraphik), als Auszeichnungsschrift fort, daneben wurden bis zum 8. Jh. die Minuskelschriften Unziale und Halbunziale als Buchschriften, Kursiven als Gebrauchsschriften verwendet. Diese vorkarolingischen Schriften überliefern lediglich lateinisches Schrifttum, die ältesten Denkmäler in althochdeutscher Sprache sind in karolingischer Minuskel aufgezeichnet, die vom späten 8. bis ins 12. Jh. die allein gebrauchte, wenn auch in ihrem Gesamtaspekt sich leicht verändernde Buchschrift war. Klosterskriptorien bildeten unterschiedliche Schriftstilarten aus; die diplomatische Minuskel der Urkunden hat ebenfalls die karolingische Minuskel zur Grundlage. Die karolingische Minuskel wurde in einem längeren Übergangsprozeß von der gotisierenden Schreibweise erfaßt, die im anglonormannischen Raum im späten 11. Jh. erkennbar wird und von West nach Ost fortschreitend sich von der Mitte des 12. Jhs. an im deutschsprachigen Raum verbreitete, wo sie bis zum 2. Viertel des 14. Jhs. die allein gebrauchte Buchschrift blieb. Die gotische Buchschrift, Textualis oder Textura, ist gekennzeichnet durch Engerstellung, Betonung der Vertikalen, Differenzierung zwischen druckstarken Schäften und feinen Haarstrichen, vor allem aber durch Brechung von Bögen und Schäften, die sich von der einfachen zur doppelten Brechung weiterbilden kann. Zusammenschreibung einander zugekehrter Bögen (Bogenverbindung) verdichtet zusätzlich das kompakte Schriftbild. Vollständige regelmäßige Gotisierung wird vor allem auf höchster kalligraphischer Stilebene geübt, während Schriften auf einfacherem Niveau, zu denen viele deutschsprachige Aufzeichnungen gehören, meist nur vereinzelte neue Elemente aufnehmen. Textualis als Buchschrift wurde im Verlauf des 14. Jhs. schnell

von der Kursive überholt und entwickelte sich nicht mehr weiter. Als erstarrte, teilweise manierierte Schrift auf hohem kalligraphischem Niveau ist die Textualis der 2. Hälfte des 14. und des 15. Jhs. schwer datierbar. Kursive Schriften, die im 13. Jh. im Urkunden· und Verwaltungsbetrieb aufkommen, erscheinen seit dem 2. Viertel des 14. Jhs. zunehmend auch als Buchschriften in Zusammenhang mit dem neuen Beschreibstoff Papier. Kursive Buchschriften zeigen im 14. Jh. verschiedene Entwicklungsstufen von kanzleinaher komplizierterer älterer zu einer flüssigeren vereinfachten jüngeren Form. Seit dem Ende des 14. Jhs. werden sie ersetzt durch die Bastarda, die in sich kalligraphische Elemente aus der Textualis (Brechung, Zusammensetzung aus einzelnen Zügen) mit der zügigen Schreibweise der Kursive vereint. Die Bastarda wurde in unterschiedlichen, zunehmend auch individuell geprägten Erscheinungsformen und auf verschiedenen Stilebenen die Buchschrift der breiten handschriftlichen Überlieferung des 15. Jhs. Neue Formen und Ausprägungen der Bastarda wie etwa die Fraktur kamen aus dem Kanzleibereich, der im Spätmittelalter einen starken Einfluß auf die Buchschriften ausübte. Zum Ende des 15. Jhs. kamen neue Schriftarten auf: Italienische Renaissanceschriften wurden in deutschen Humanistenkreisen für lateinisches Schrifttum übernommen, und für deutschsprachige Texte entwickelte sich die Kurrentschrift im Kanzleibereich wie im Buchwesen. Gleichzeitig begann das gedruckte Buch die Handschrift auf das Gebiet der individuellen Aufzeichnung zurückzudrängen. Wenig systematisch untersucht sind bisher die neuzeitlichen, im Verwaltungs- und privaten Bereich verwendeten und häufig schwer zu entziffernden Schriften des 16.-18. Jhs. ForschG: Paläographische Studien nahmen 1681 ihren Anfang mit dem Benediktiner der Mauriner-Kongregation Jean Mabillon, der die Echtheit der ältesten französischen Königsurkunden anhand ihrer Schrift zu überprüfen versuchte. Lange Zeit lag der Forschungsschwerpunkt der Paläographie

Palinodie auf den Schriften des frühen und hohen Mittelalters, erst in neuerer Zeit wurden die quantitativ weit überwiegen den spätmittelalterlichen Schriften ebenfalls Studienobjekt. Für die paläographische Forschung in Deutschland wurde vor allem die ,Münchener Schule' wegweisend, verkörpert durch L.Traube (1861-1907) und seine Schüler und Nachfolger P.Lehmann (1884-1964) und B. Bischoff (1906-1991); grundlegend sind Bischoffs Forschungen zu karolingischen Schriften und Schreibschulen sowie sein Handbuch der Paläographie. In Frankreich stellte J. Mallon die Paläographie auf neue erweiterte Grundlagen und machte auf Entstehung und Konstruktion der Buchstabenformen aufmerksam. 1953 wurde in Paris auf Initiative von Charles Samaran das ,Comité international de paléographie latine' gegründet, das seither die paläographische Forschung durch diverse Unternehmen stark fördert: vor allem die in zahlreichen europäischen Ländern veröffentlichten Kataloge datierter Handschriften (bis 1998 rund 40 erschienene Bände) sind wichtige Hilfsmittel für die paläographische Forschung geworden.

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chen [5 Teile 1910-1930], Repr. Hildesheim u.a. 1975. - Karin Schneider: Gotische Schriften in deutscher Sprache. Bd. 1: Vom späten 12. Jh. bis um 1300. Wiesbaden 1987. - K. S.: Paläographie und Handschriftenkunde für Germanisten. Tübingen 1999. — Jacques Stiennon: De l'écriture. Turnhout 1995. — Ludwig Traube: Vorlesungen und Abhandlungen. Hg. v. Paul Lehmann. München 2 1965. - Wilhelm Wattenbach: Das Schriftwesen im Mittelalter. Leipzig 31896.

Karin Schneider

Palinodie Widerruf einer eigenen Äußerung oder eines eigenen Textes.

Expl: Angelehnt an die rechtsgeschichtliche Institution der REVOCATIO (des förmlichen .Widerrufs' mit sühnender Ehrenerklärung) bezeichnet im literarischen Bereich Palinodie eine >" Schreibweise2, bei der konstitutive Merkmale des widerrufenen Textes erhalten bleiben, während die dominante Textfunktion in ihr Gegenteil verkehrt wird (Schmähung — Lob, Absage — Zusage, Klage — Preis und umgekehrt). Hier ist sie Lit: Johanne Autenrieth: Die Münchener Schule. ein Spezialfall der ? Kontrafaktur — wie die Ludwig Traube — Paul Lehmann — Bernhard Biden attackierten Text partiell imitierende schoff. In: Un secolo di paleografia e diplomatica ,contradictio', von der sich die Palinodie je(1887-1986). Hg. v. Armando Petrucci und Alesdoch durch den ausschließlichen Bezug auf sandro Pratesi. Rom 1988, S. 101-130. - Berneinen Text desselben Autors unterscheidet. hard Bischoff: Paläographie des römischen Altertums und des abendländischen Mittelalters. Abkürzend wird auch ein Text, dem diese Berlin 2 1986. - B.B. u. a.: Nomenclature des écriSchreibweise zugrunde liegt, als Palinodie tures livresques du IX e au XVI e siècle. Paris 1954. bezeichnet. - Leonard E. Boyle: Medieval latin palaeography. Toronto 1984. - Michelle Brown: A guide to western historical scripts from antiquity to 1600. London 1990. - Anton Chroust (Hg.): Monumenta palaeographica. München 1902— 1917, Leipzig 1931-1940. - Ernst Crous, Joachim Kirchner: Die gotischen Schriftarten. Leipzig 1928. — Hans Foerster: Abriß der lateinischen Paläographie. Stuttgart 2 1963. - Walter Heinemeyer: Studien zur Geschichte der gotischen Urkundenschrift. Köln, Wien 1982. - Jean Mallon: De l'écriture. Paris 1986. - Les manuscrits datés. Paris 1985. — Otto Mazal: Paläographie und Paläotypie. Stuttgart 1984. - O. M.: Lehrbuch der Handschriftenkunde. Wiesbaden 1986, S. 8 0 148. - Erich Petzet, Otto Glauning: Deutsche Schrifttafeln des IX. bis XVI. Jhs. aus Handschriften der Bayerischen Staatsbibliothek Mün-

WortG: Palinodie geht zurück auf das griech. Substantiv παλινφδία [palinodia] von πάλιν [pálin],wiederum' und φδή [odé] .Gesang' (/" Ode) in den ursprünglichen Bedeutungen »Wiederholung oder Widerrufung des vorigen Gesanges' sowie allgemein .Widerruf' und dient schon Ende des 5. Jhs. v. Chr. — nach den Belegen bei Isokrates und Piaton (Stesichoros-Legende im ,Phaidros' 243c, sowie 257a) — als Bezeichnung für einen bestimmten Liedtyp ebenso wie für einen bestimmten Typ schulrhetorisch geformter Rede. In der spätantiken und frühmittelalterlichen Lexikographie von Hesychios (5. Jh. n. Chr.) bis Suidas

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Palinodie

(um 1000 η. Chr.) ist darüber hinaus Palin- ligata' (der gebundenen Rede; ? Vers). Inodie im Sinne von ,Widerruf in alltäglicher, folge der inhaltlichen Festlegung auf Lob prosaischer Rede' überliefert. Mit dieser Be- kann er den Ausdruck darüber hinaus als deutung hatte bereits Cicero im 1. Jh. Bezeichnung für eine Art des ? Panegyrikus v. Chr. das Wort in die lat. Sprache einge- anführen (dazu auch Scaliger 3,115); mit führt (,Epistulae ad Atticum' 1,9,1; 4,5,1; der Forderung nach der Verarbeitung eines 7,7,1). Den frühneuzeitlichen Orientierun- (eigenen) Textes gerät Palinodie schließlich gen an der Antike ist es dann vorbehalten, auch zumindest in die Nähe der Bezeichnicht nur das Wort selber — zusammen mit nungs-Überlieferung von Parodie (,parden lateinischen Entsprechungen revocatio, odia seria'). Scaligers folgenreicher Termirecantatio und retractatio — zu bewahren, nologisierungs-Vorschlag verfestigt darin sondern auch dessen semantischen Spiel- antike und humanistische Traditionen, raum einschließlich der mit der Rezeption bleibt aber in systematischer Hinsicht unbedes Römischen Rechts gegebenen speziellen friedigend. Erst in jüngster Zeit gibt es verjuristischen Bedeutung. In der frühneuzeit- einzelt Versuche zu einer Präzisierung im lichen Rechtsprechung wird unter Palinodie Rahmen der Parodie-Forschung (zuerst eine Form der Sühne bei Beleidigungspro- Verweyen/Witting 1982). zessen verstanden, die von der Ehrenerklärung über die Abbitte bis zu dem für den SachG: Nach allem, was bisher bekannt ist, Beklagten schmählichen Widerruf reicht dürfte das für die Palinodie in Frage kom(iactio ad palinodiam: ,die Klage auf Wider- mende Textkorpus außerordentlich schmal ruf'; Dasypodius 1536, s.v.: „Palinodia, Ein sein. Das als Prototyp genannte Gedicht gegen gesang/ ein widerruoff. Ad Palin- des Stesichoros ist nur als Bruchstück überodiam redactus est, Er hat muessen ein wi- liefert und kann in seiner Struktur und Gederruoff thuon"). Die Bedeutungsbreite samttendenz aufgrund des Platonischen hält sich bis weit ins 18. Jh. (z.B. Hamann Dialogs lediglich ansatzweise erschlossen im Brief an Mendelssohn 11.2.1762: „Palin- werden. Auch die als Palinodie verstandene, odien will ich singen"; so auch Herder 9, auf das Stesichoros-Fragment im ,Phaidros' 431; vgl. dazu Hoffmann, 11 f., 36-38, so- anspielende und von Scaliger als Mustertext wie zur engl. Entsprechung OED 11, 96); empfohlene Ode 1,16 des Horaz erlaubt seither dominiert allein die literarische Ver- noch keine zuverlässigen Einblicke in die wendung (Belegsammlung bei Schulz-Bas- strukturellen Beziehungen zwischen ,Tadel' und ,Lob' (Enkomion, ? Panegyrikus). Erst ler 2, 293). im 16. Jh. (Tasso) und in der französischen Renaissance (Ronsard) wird das für Johann Georg Hamann: Briefwechsel. Hg. v. ArDeutschland wirksame Modell bereitgethur Henkel u.a. Wiesbaden u.a. 1955ff. - Johann Gottfried Herder: Sämtliche Werke. Hg. v. stellt. Mit dem Gedichtpaar ,An seine BulBernhard Suphan. Berlin 1877-1913. schafft' und .Palinodie oder widerruff deß vorigen Lieds' (in den ,Teutschen Poemata' BegrG: Mit der Poetik Scaligere von 1561 von 1624) begründet Opitz dann im Rahbeginnt maßgeblich die poetologisch orienmen der literarischen ? Imitatio auch diese tierte, wieder an die Stesichoros-Legende formgeschichtliche Tradition. In der neuesich anschließende Begriffsverwendung. Als ren Geschichte der deutschen Literatur ist Palinodien haben danach solche Texte zu die Schreibweise der Palinodie weitgehend gelten, bei denen der ,Inhalt' in dem ,an die in Vergessenheit geraten. Beispiele wie LaStelle der angehäuften Beschimpfungen trevaters ,Parodie' genannter Widerruf auf tenden Lob' besteht und die ,Form' des Wisein tendenzpoetisches Lob der Französiderrufs durch die Vorgaben des zu widerruschen Revolution stellen nur Einzelfalle dar. fenden Textes bestimmt wird (Scaliger 1,54). Aufgrund seiner Orientierung an dem ForschG: Eine kontinuierliche Forschung bei Piaton erörterten Gedichtbeispiel be- zur Palinodie gibt es nicht. An Einzelunterschränkt Scaliger zudem die Verwendung suchungen in deutscher Sprache sind die von Palinodie auf den Bereich der ,oratio Arbeiten von Hoffmann (1956), Friedrich

Panegyrikus (1964) und Verweyen/Witting (1982) zu nennen; sowie Obermeier (1999) zum europäischen Mittelalter mit ausführlichem, allerdings nicht immer spezifischem Bezug auf antike Uberlieferungen. Lit: Burkhard Bittrich: Panegyrik und Palinodie: Saars österreichische Festdichtung und ihr Widerruf. In: Ferdinand von Saar. Hg. v. Kurt Bergel. Riverside 1995, S. 25-47. - Petrus Dasypodius: Dictionarium Latinogermanicum. Straßburg 1536, Repr. Hildesheim 1995. - Hugo Friedrich: Epochen der italienischen Lyrik. Frankfurt 1964. - Friedrich-Wilhelm Hoffmann: Die Palinodie als Gedichtform in der weltlichen Lyrik des 17. Jhs. Diss. Göttingen 1956 (masch.). - Anita Obermeier: The history and anatomy of auctorial self-criticism in the European middle ages. Amsterdam 1999. - Alessandro Parronchi (Hg.): Palinodia michelangiolesca. Florenz 1992. - Gianfelice Perón (Hg.): La palinodia. Padua 1998. Patricia B. Phillippy: Love's remedies. Recantation and Renaissance lyric poetry. Lewisburg 1995. — Kurt Plenio: Metrische Studien über Waithers Palinodie. In: PBB 42 (1917), S. 2 5 5 276. - Theodor Verweyen, Gunther Witting: Parodie, Palinodie, Kontradiktio, Kontrafaktur. In: Dialogizität. Hg. v. Renate Lachmann. München 1982, S. 202-236. Theodor

Pamphlet

Verweyen / Gunther

Witting

Polemik

Panegyrikus Auf das Lob ihres Gegenstandes in verherrlichender oder moralisierender Absicht zielende Rede oder Dichtung. Expl: Der Panegyrikus hat den Lobpreis der darzustellenden Person oder Sache in gebundener oder ungebundener Rede zum Ziel, faßt also LOBLIED und LOBREDE zusammen. Der Autor stellt seinen Gegenstand mit Hilfe gattungsspezifischer s Topoi, d.h. der Darstellungsmuster, die die Rhetorik für diesen Zweck bereithält, und unter extensiver Verwendung der elokutionellen Mittel (s Elocutio) des Hohen Stils (Genus grande,

? Genera dicendi)

rühmend

zur Schau. Die Wahl des stilistischen Regi-

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sters rechtfertigt sich dadurch, daß die gepriesene Person zumeist hochgestellt oder anderweitig ausgezeichnet bzw. der Gegenstand des Lobes von allgemeinem Interesse ist (/" Aptum!Decorum). Während der Gepriesene dabei umfassend repräsentiert wird, bekundet der Redner/Dichter selbst seine Fähigkeit zur geregelten rhetorischpoetischen Kommunikation über gesellschaftlich akzeptierte Meinungen und Haltungen. Im lobenden Genus kann die Person/der Gegenstand auf ein allgemein anerkanntes Ordnungsmodell oder Verhaltensideal verpflichtet werden, so daß sich Panegyrik und Kritik im Einzelfall durchaus vertragen. WortG: Abgeleitet von griech. πανήγυρις [panégyris] .festliche Volksversammlung', bedeutet das Adjektiv πανηγυρικός [panegyrikós] ,feierlich', ,festlich', aber auch (mit pejorativer Konnotation) .prunkend', ,überschwenglich'. Als Nomen bezeichnet panegyrikos (seil, logos) ein Werk der Redeoder Dichtkunst, das seinen Gegenstand mit lobender Intention vorstellt. Kanonisch wird, vor allem wegen seiner häufigen Erwähnung in der .Rhetorik' des Aristoteles, der den Zweiten Attischen Seebund (378 v. Chr.) begründende .Panegyrikos' des Isokrates. Dieses Muster verhindert lange Zeit die Übertragung des Begriffs auf eine ausschließlich lobpreisende Darstellung. Deren chorische Gestaltung wird als ENKOMION bezeichnet. Erst in der Spätantike wird das Wort wie in Claudians .Panegyricus' auf die Konsuln Probinus und Olybrius (395 n. Chr.) oder im .Panegyricus' des Magnus Felix Ennodius auf Theoderich d. Gr. (506/07) wieder als Werktitel exponiert. Seit dem 4. Jh. wird nach der Terminologie des Hermogenes die dritte der Redegattungen als panegyrikos bezeichnet (die epideiktische Rede, von griech. έπίδειξις [epídeixis] Zurschaustellung'; lat. genus demonstrativum,

S

Rede2)\

er unterscheidet einen panegyrischen Stil in Vers und in Prosa (vgl. Fumaroli, 162). Epideiktische Werke gallischer Autoren des 3. und 4. Jhs. (Eumenius, Mamertinus) heißen panegyrici latini. Heute wird das eher selten gebrauchte Adjektiv panegyrisch tendenziell

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Panegyrikus

für jede Form preisender Dichtung in Anspruch genommen, oft auch pejorativ verwendet. Schulz-Basler 2, S. 304.

BegrG: Der Begriff erhält seine Bedeutungsweite im Kontext von /" Rhetorik und Kasualpoesie (y Gelegenheitsgedicht). Als Lobrede folgt der Panegyrikus den Regeln, die die Rhetorik für das Genus demonstrativum, die epideiktische y Rede2, angibt; diese erhalten mit ihrer Übernahme in die normative s Poetik auch für Versdichtungen Gültigkeit. Für Panegyrik in Vers wie Prosa findet sich bis in die Frühe Neuzeit häufig die Bezeichnung laudes (lat. ,Lobrede'/,^-gedieht')· Da Panegyrik fast immer durch eine besondere Gelegenheit veranlaßt wird, kann sie auch der Kasualpoesie zugeordnet werden. Wie diese ist auch sie nicht auf eine Gattung fixiert. So wird sie etwa im Schäferroman episch oder im Festspiel szenisch verwirklicht; dennoch bevorzugt der poetische Lobsänger die Lyrik. Deshalb setzt sich die Poetik vor allem mit dem Lobgedicht auseinander, dem sie den Panegyrikus (mehr oder weniger explizit) subsumiert. Begriffliche Differenzierungen sind nicht sehr häufig. So unterscheidet Scaliger das „Panegyricon" wegen seines öffentlichen Charakters von „Laus" und „Laudatio" (Scaliger 3, Buch 3 (,Idea'), Kap. 1 0 9 111). Opitz vermeidet den Begriff, wenn er sich im ,Buch von der Deutschen Poeterey' (1624) von einer Art des Dichtens abgrenzt, die „die grossen herren ehrt" und „herauß zue streichen [weiß] / Was besser schweigens werth" (Opitz, 28). Gleichwohl gibt er als Beispiel für ,Pindarisieren' (d. h. ein Schreiben im Stil des griechischen Hymnendichters Pindar, der das chorische Preislied entwickelte) zwei eigene panegyrische Oden (ebd., 63—69), eine zu einer Hochzeit (Epithalamium), eine zu einem Todesfall (Epicedium). Der Panegyrikus wird also durch zwei kasualpoetische Typen vertreten. Mit der Abwertung der rhetorisch geprägten Gelegenheitsdichtung, die als unecht und opportunistisch gescholten wird, verfallt der Panegyrikus im 18. Jh. der ästhetischen Kritik, die von Gottscheds praktischer Warnung vor „verächtlichen Schmäuche-

leyen" (Gottsched, 494) bis zu Schillers prinzipieller Geringschätzung einer Dichtung reicht, die sich in Dienst nehmen und „die idealische Reinheit" (Schiller, 257) vermissen läßt (vgl. Hallbauer, 754 f.). Johann Christoph Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst. Anderer besonderer Theil [1730], In: J. C. G.: Ausgewählte Werke. Bd. 6/2. Hg. v. Joachim Birke und Brigitte Birke. Berlin, New York 1973. — Friedrich Andreas Hallbauer: Anleitung zur Politischen Beredsamkeit [1736]. Repr. Kronberg/Ts. 1974. - Martin Opitz: Buch von der Deutschen Poeterey [1624]. Hg. v. Herbert Jaumann. Stuttgart 2002. — Friedrich Schiller: Über Bürgers Gedichte [1791]. In: Schillers Werke. Nationalausgabe. Hg. v. Julius Petersen u. a. Bd. 22. Weimar 1958, S. 246-264.

SachG: Panegyrische Redekunst und Dichtung erreicht einen ersten Höhepunkt unter den römischen Kaisern. Als Götter verehrt, sind sie nur mit den Mitteln des Hohen Stils angemessen zu verherrlichen (vgl. die Versbzw. Prosapanegyriken des Horaz auf Augustus, des Statius auf Domitian, des Plinius d. J. auf Trajan u. a.). Im Mittelalter ist das Herrscherlob vor allem häufig Gegenstand der Sangspruch- und ^ Wappendichtung sowie der Ehrenreden, begegnet aber auch in den anderen Gattungen. Dichter werden dafür entlohnt, daß sie ihren Auftraggebern huldigen und deren Feinde verspotten (Bumke, 714 f.). Im ? Humanismus2 wird nach antikem (v. a. Plinius d. J.) und italienischem Vorbild die Fürstenpanegyrik auch in Deutschland zu einem bevorzugten Anlaß, rhetorische Brillanz zu demonstrieren, zumal von den Anlässen öffentlicher Rede allein das Genus demonstrativum übriggeblieben ist. Auch poetische Gattungen werden im 15./16. Jh. für panegyrische Ziele instrumentalisiert (Müller). Einen zweiten Höhepunkt erlebt die Panegyrik mit der Etablierung des Absolutismus in den deutschen Territorialstaaten im 17. Jh., kommt sie doch dem Repräsentationsbedürfnis ihrer Herrscher entgegen. Indem sie deren herausragende Stellung im Gefüge der göttlichen Ordnung preisen und die Vertreter der Stände auf die Wahrnehmung ihrer Funktion im absolutistischen Machtstaat hin disziplinieren, legitimieren sich gelehrte Dichter und Redner von

Panegyrikus Weckherlin und Opitz bis Canitz, Neukirch, Weise und Hunold. Ihre „panegyrische Offerte" (Wiedemann, 184) setzt eine Verpflichtung auf Gegenseitigkeit (lat. mutua obligatio) voraus: Das dauerhafte Dichterwort garantiert Nachruhm; dafür werden die Dichter bezahlt, geschützt und gesellschaftlich anerkannt. Gerade dies bringt die Panegyrik in dem Maße in Mißkredit, in dem Werke auf den Landesherrn von besoldeten Hofdichtern zu jeder beliebigen Gelegenheit hervorgebracht werden und Dichter nicht nur dem Adel, sondern immer häufiger ökonomisch potenten Bürgern auf Bestellung huldigen. Mit dem politischen System gerät in der Aufklärung auch die dieses stützende Panegyrik in eine Legitimationskrise. Klopstock geißelt in seiner Ode ,Fürstenlob' (1775) die würdelose Verherrlichung von Tyrannen, „die sich in vollem dummen Ernst für höhere / Wesen halten als uns" (Klopstock, 10), und fordert als Voraussetzung für die Lobrede die überprüfbare Humanität des Besungenen ein. Daß dieser Anspruch allerdings nicht eingelöst wurde, sondern weiterhin poetische Produktionen sich an Machtkonstellationen orientierten, läßt sich auch nach Klopstock verfolgen — von den Herolden des preußischen Friedrich II. (Ramler, Karsch, Gleim) bis zum Personenkult diktatorischer Regimes im 20. Jh.: zu Weinheber, der Hitler, und Becher, der Stalin feierte. Insgesamt aber widersprach die Panegyrik zu offensichtlich einem nachromantisch-idealistischen Dichtungsverständnis (/" Autonomie), wonach „in der Dichtkraft nur das Poetische, nicht aber das, was außerhalb der Poesie liegt" (Hegel, 53), entscheidend ist. Eine eigene Traditionslinie bildet die neulateinische, später auch nationalsprachliche Panegyrik auf Gelehrte zu relevanten Anlässen im akademischen Leben. Sie trug wesentlich zum Zusammenhalt der Res publica litteraria im 16. und 17. Jh. bei. Diese Tradition lebt in der im Frankreich des 18. Jhs. perfektionierten ELOGE, einer prunkvollen Rede, mit der z. B. die Mitglieder der ,Académie française' geehrt werden, bis heute fort. Als Anlaß, rhetorische oder poetische Gewandtheit zu demonstrieren, konnte der Panegyrikus sich beliebiger Ge-

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genstände (z. B. Naturphänomenen, Jahreszeiten, Genußmitteln usw.) oder Personen (der fernen Geliebten, des persönlichen Freundes u. ä.) annehmen. Für einzelne Typen von laudes wie für das Städtelob prägten sich eigene Traditionen aus, die noch in Gedichten des 19. und 20. Jhs. spürbar sind (Hölderlin, Platen, Rilke, Hesse, M. L. Kaschnitz). Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik [1826]. Teil 3. Hg. v. Rüdiger Bubner. Stuttgart 1971. - Friedrich Gottlieb Klopstock: Oden. Bd. 2. Hg. v. Paul Merker. Leipzig 1913.

ForschG: Die Panegyrik wurde zumeist im Kontext zweier Forschungsgebiete betrachtet: der Geschichte der Rhetorik und der Hofkultur. Mit dem neuen Interesse an Rhetorik seit den 1960er Jahren (Barner, Dyck u. a.) fanden auch die den Regeln des Genus demonstrativum gehorchenden panegyrischen Werke stärkere Beachtung. Hinzu kamen Studien zur politischen Funktion des Hofes und der höfischen Gesellschaft in der römischen Antike, in Mittelalter (Bumke, Kleinschmidt) und Renaissance (Müller) und im Zeitalter des Absolutismus (Braungart, Heidt), die das Herrscherlob thematisierten. Panegyrik wurde als Element der Repräsentationskunst beschrieben, zugleich ihre Ordnung stiftende und wahrende Rolle betont, wodurch das Herrscherlob die Funktion eines ? Fürstenspiegels wahrnehmen kann (Verweyen, 36 f.). Eine Beschreibung der poetologischen Grundlagen panegyrischen Schreibens und seiner sozialgeschichtlichen Implikationen, die (in systematischer Hinsicht) von der Rhetorik weitgehend unabhängige, (in historischer) nach dem Untergang des frühneuzeitlichen Machtstaates produzierte Texte berücksichtigte, ist noch zu leisten. Lit: Wilfried Barner: Barockrhetorik. Tübingen 1970. - Georg Braungart: Hofberedsamkeit. Tübingen 1988. — Vinzenz Buchheit: Untersuchungen zur Theorie des Genos Epideiktikon von Gorgias bis Aristoteles. München 1960. Joachim Bumke: Höfische Kultur. Bd. 2. München 1986. — Rudolf Drux: „Das wider viele ungegründete Vorwürffe vertheidigte Frauenzimmer". In: Johann Christian Günther. Hg. v. Hans-Georg Pott. Paderborn, München 1988,

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Pantomime

S. 2 1 - 3 8 . - Joachim Dyck: Ticht-Kunst. Bad Homburg u. a. 1966. — Stephan Füssel: Dichtung und Politik um 1500. Das ,Haus Österreich' in Selbstdarstellung, Volkslied und panegyrischen Carmina. In: Die österreichische Literatur (1050-1750). Hg. v. Herbert Zeman. Bd. 2. Graz 1986, S. 803-831. - Marc Fumaroli (Hg.): Histoire de la rhétorique dans l'Europe moderne. Paris 1999. — Annette Georgi: Das lateinische und deutsche Preisgedicht des Mittelalters in der Nachfolge des genus demonstrativum. Berlin 1969. — Kerstin Heidt: Der vollkommene Regent. Studien zur panegyrischen Casuallyrik am Beispiel des Dresdner Hofes Augusts des Starken. Tübingen 1997. — Erich Kleinschmidt: Herrscherdarstellung. Bern, München 1974. - Wilhelm Kühlmann: Gelehrtenrepublik und Fürstenstaat. Tübingen 1982. - Lausberg, § 239-254. Jan-Dirk Müller: Gedechtnus. Literatur und Hofgesellschaft um Maximilian I. München 1982. — Volker Sinemus: Poetik und Rhetorik im frühmodernen deutschen Staat. Göttingen 1978. — Claus Uhlig u.a.: Musenhof, Mäzenatentum und Panegyrik. In: Europäische Hofkultur im 16. und 17. Jh. Hg. v. August Buck u. a. Bd. 2. Hamburg 1981, S. 9 9 - 1 9 4 . - Theodor Verweyen: Barockes Herrscherlob. In: D U 28 (1976), H. 2, S. 25—45. - Conrad Wiedemann: Barockdichtung in Deutschland. In: Neues Hb. der Literaturwissenschaft. Bd. 10/2. Hg. v. August Buck. Frankfurt 1972, S. 177-201. - Konrat Ziegler: ,Panegyrikos'. In: Paulys Real-Enzyclopädie der classischen Altertumswissenschaft. Neue Bearbeitung. Hg. v. Georg Wissowa u. a. Stuttgart 1894-1978. Bd. 18/2, Sp. 559-581.

Rudolf Drux

Pantomime Wortloses Theaterspiel. Expl: Pantomime ist (1) die Darstellung einer Empfindung, Situation, Szene oder Handlung durch ein Repertoire ausschließlich mimischer, gestischer und/oder tänzerischer Ausdrucksmittel. Es handelt sich also um eine theatrale Gattung, deren Sujet nur durch Mienenspiel und Körperbewegungen (mit und ohne Maske) präsentiert wird. (2) heißt Pantomime der Darsteller, der sich während einer Vorführung ausschließlich dieser Ausdrucksmittel bedient. — Im Tanz wie in der Redekunst kommt

der Pantomime vor allem veranschaulichende, verdeutlichende Funktion zu, sie verfügt deshalb über ein reiches Repertoire konventionalisierter und somit auch einem breiten Publikum verständlicher Gesten. WortG: Herkunft aus griech. παντομίμος [pantomimos], lat. pantomimus (,alles nachahmend') zu griech. πάν [pan] ,alles' und μιμεΐσθαι [mimeísthai] ,nachahmen' (Kluge-Seebold23, 610; /" Mimesis2). Frz. pantomime ist seit 1560 bezeugt, seit Mitte des 18. Jhs. als Substantivum femininum ins Dt. übernommen (Schulz-Basler 2, 313 f.; RL 2 3, 1-7). BegrG: Das antike Verständnis der Pantomime, des Pantomimus, im Sinne von Gebärden- und Körpersprache, ordnete diese sowohl der s Rhetorik (Cicero, Quintilian) als auch der /" Tawz-Kunst zu, wie es die wichtigste der überlieferten theoretischen Abhandlungen zu diesem Gegenstand, der .Dialog von der Tanzkunst' des Lucian von Samosata (120—180 n. Chr.), dokumentiert: „Darstellung einer Empfindung, Leidenschaft oder Handlung durch Gebehrden, welche natürliche Zeichen derselben sind" (Lucian, 155). Der Unterschied zur neuzeitlichen Auffassung von Pantomime beruht auf zwei Gegebenheiten: (1) In Griechenland und Rom trat der Pantomime gemeinsam mit (zumindest) einem Sänger oder Sprecher auf; (2) mit ,Tanz' (,saltatio') war ein rhythmisiertes Gehen oder Schreiten gemeint. Darüber hinaus agierten die Pantomimen gewöhnlich mit ? Maske, was die / Mimik2 als Ausdrucksmittel stark reduzierte. So konnte im 18. Jh. J. G. Noverre gerade aus der umfassenden Kenntnis der antiken Theoretiker und in Abgrenzung von ihnen sein neues, maßgebliches Verständnis von Pantomime im Rahmen einer grundlegenden Reform des ^ Balletts entwickeln: „Le Ballet [...] doit être Pantomime dans tous les genres, & parler à l'ame par les yeux" (Noverre, 18). Pantomime als die ,Seele des Tanzes' soll also — bei Verzicht auf Maske und konventionalisierte Gestik — v. a. Gefühle, ,Erregungen der Seele', zum Ausdruck bringen; sie wird zu einem Teil des Balletts, wofür Noverre Gat-

Pantomime tungsbezeichnungen wie danse-ballet-pantomime oder l'action pantomime einführt. Diese Harmonisierung eines .inneren' Bildes mit einem ,äußeren' Bewegungsablauf steht in engem Zusammenhang mit den sich im 18. Jh. auch in Deutschland rasch entwickelnden Disziplinen der Physiognomik (Lavater), Pathognomik (Lichtenberg) und Anthropologie (Herder) mit ihren Versuchen, aus äußeren Körperzeichen Rückschlüsse auf Befindlichkeiten der Seele ziehen zu können; sie gewann auch für die Schauspielkunst durch die vielfachen Ansätze, eine regelrechte .Grammatik' der Ausdrucksgebärden zu entwickeln, zunehmend an Bedeutung: Rémond de SainteAlbine (1747), Riccoboni (1750), Lessing (1767/69), Engel (1785/86), Iffland (1785).

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Im antiken Rom entwickelte sich der ,Pantomimus' seit Augustus zu einer der populärsten Bühnengattungen überhaupt. Eigene Pantomimenschulen und -dynastien etablierten sich, und seit dem 1. Jh. n. Chr. traten auch weibliche Darstellerinnen auf. Zum Mittelalter hin lassen sich keine direkten Traditionslinien verfolgen, doch finden auch hier pantomimische Elemente Eingang in die dramatische Praxis (/" Geistliches Spiel, Fastnachtspiel). Auf Jahrmärkten und Festen lebte die Pantomime in den Darbietungen der Gaukler fort. Zentrale Bedeutung kommt ihr indessen erst wieder in der Renaissance zu, im Rahmen der /" Commedia Je/Z'ar/e-Aufführungen (,Lazzi' v. a. des Arlecchino) und bei den über ganz Europa verbreiteten WanderIn diesen Schriften wird — wie am Ende truppen. In Renaissance und Barock haben des Jhs. noch bei Sulzer (3, 647-649) - Pantomimen in Maskenzügen (/" Karneval), zwischen ,Pantomime', ,stummem Spiel' im bei den Zwischenspielen (S Intermezzo) und /" Ballett-,Entrées' der höfischen Feste und Sinne von ,Pantomimik' (auch im Sprechtheater) sowie ,Mimik' nicht klar unter- Opernaufführungen einen festen Platz im schieden. Die moderne Eingrenzung von Mi- Repertoire. Zur selben Zeit kennt selbst das mik auf ,Mienenspiel', ,Gesichtsausdruck' ernste Sprechtheater die Pantomime nicht bildet sich erst seit dem 19. Jh. heraus. Der nur als Zwischenakt-Einlage, sondern auch Gattungsbegriff Mimodrame bezeichnet eine als Spiel im Spiel (vgl. die berühmte von Clowns dargebotene Pantomime. SLAP- ,dumb show' in ,Hamlet'). STICK heißt artistisch ausgeführte, oft kariIm 17. und 18. Jh. kommt es in England kierend überdrehte Bewegungskomik. und Frankreich v. a. über das JahrmarktsJohann Jakob Engel: Ideen zu einer Mimik. und Volkstheater zu einer Erneuerung der 2 Teile. Berlin 1785/86. - August Wilhelm IffPantomime, die auch auf den Schauspielstil land: Fragmente über Menschendarstellung auf der Sprechtheater einwirkt. Dabei bildete deutschen Bühnen. Gotha 1785. — Gotthold sich in England (,Drury Lane', .Lincoln's Ephraim Lessing: Hamburgische Dramaturgie Inn Fields') die theatrale Sonderform einer [1767/69], Hg. v. Otto Mann. Stuttgart 1958. zweiteiligen ,Pantomime' heraus, bei der Lucían von Samosata: Dialog von der Tanzauf eine ernste, zumeist der Mythologie entkunst. Übers, v. Christoph Martin Wieland nommene Handlung mit gesprochenen oder [1789], In: Max v. Boehn: Der Tanz. Berlin 1925, gesungenen Partien die populäre ,HarlekiS. 133-165. — Jean Georges Noverre: Lettres sur nade' folgte, in der neben Akrobatik und la danse, et sur les ballets. Stuttgart, Lyon 1760. Tanz eine bewunderungswürdige Perfektion - Pierre Rémond de Sainte-Albine: Le comédien. auch des ,stummen Spiels' erreicht wurde. Paris 1747, 2 1749. — Francesco Riccoboni: L'art Paris zeigt pantomimische Darbietungen du théâtre. Paris 1750. SachG: Im Rahmen von rituellen und kul- dieser Art v. a. auf dem ,Boulevard du Temturellen Festen und Tänzen hatte die Panto- ple', später dem ,Théâtre des Funambules', mime bereits in vorchristlicher Zeit ihren fe- in Berlin gründete 1763 André Bergé ein ersten Platz, so in Ägypten, Asien und Grie- stes festes Theater für „das stumme Fachenland. Im griechischen Theater prägt sie schingsspiel, die Harlekinade ohne Worte" die Tanz- und Choreinlagen zwischen den (Brachvogel, 181). Seit dem Ende des einzelnen Akten (,Orchestik', d.h. aufge- 18. Jhs. bildet sich mit der europäischen führt im ,Orchestrion' zwischen Bühne und Mode der Attitüden- und Tableaux-vivantsDarstellungen zumeist mythologischen InZuschauerraum).

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Pantomime

halts (Lady Hamilton, Henriette HendelSchütz) eine Sonderform der Pantomime aus (s Tableau). Bühnenreformerische Impulse, die seit dem Ende des 19. Jhs. auf eine Überwindung des historistischen Kostüm- wie des klassizistisch-epigonalen ,Wort'-Theaters abzielten, trugen mit ihrer Neubewertung von Gestik und Körper-,Zeichen' zu einer Aufwertung der Pantomime bei. Führende Schriftsteller der Zeit (Schnitzler, Hofmannsthal, Vollmoeller, Marinetti) verfaßten eigene Pantomimen- oder Ballett-Libretti (/" Szenario). Der aufkommende Stummfilm, insbesondere die expressionistische Kinokunst gaben des weiteren Anstöße, über die Ausdrucksmöglichkeiten des ,Kinodramas' mit seiner Prominenz gestisch-körperlicher Darstellungsmittel und zugleich über die Abgrenzung dieser neuen auf die Fläche gebannten ,Körperkunst' von der traditionellen Pantomime zu reflektieren. Die Slapstick-Szenen von Kino-Stars wie Charles Chaplin oder Buster Keaton führten überdies die Pantomimen-Komik zu neuem Triumph. Als Schöpfer einer modernen ,puren' Pantomimen-Technik und -,Sprache' gelten Etienne Decroux (1898—1991) und seine Schüler Jean-Louis Barrault, Marcel Marceau (,Bip'), Jacques Lecoq u. a. Eine eigene Mimenschule, ,Le Mandragore', entstand 1963 in Paris. Bekannte Einzelvertreter der Pantomime sind Samy Molcho (*1936) oder der Schweizer Clown Dimitri (* 1935). In der Kunst der Gegenwart hat die Pantomime, auch außerhalb von etablierten Spielstätten oder dem Bühnentanz, einen festen Platz im Bereich der Performance Art (/" Performance), bei Installationen und .Events' sowie den vielfaltigen Formen eines vorherrschend körperorientierten ,Aktionstheaters'. ForschG: Aus theatergeschichtlicher Sicht wurde die Pantomime seit dem 19. Jh. in erster Linie unter dem Aspekt ihrer historischen und nationalen Erscheinungsformen erforscht, wobei die sachkundige Auswertung reichhaltigen Quellen-Materials sich noch immer als äußerst ergiebig erweisen kann (Hera). Entscheidende Forschungsim-

pulse gehen seit dem letzten Drittel des 20. Jhs. von einer zunehmend semiotisch orientierten Tanz- und f Theaterwissenschaft aus, die zu immer differenzierteren Analysen von Körper-,Sprache' und -,Bildern' gelangt (Brandstetter, Jeschke) und ihren Fokus sowohl auf außereuropäische Bereiche (Japan: Nö-Spiele, Kabuki-Theater) als auch auf den wechselseitigen Einfluß ,alter' wie ,neuer' Medien richtet. Ethnologischen, anthropologischen wie kulturtheoretischen Forschungsansätzen sind darüber hinaus wichtige Einsichten in die Bedeutung von ritualisierten Gebärden, ,Körperzeichen' und ,Körperkunst' zu verdanken (Braungart, Kosenina). Lit: Maurice Albert: Les théâtres de la foire. Paris 1900. — François H. de L'Aulnaye: De la saltation théatrale [sic!], ou recherches sur l'origine, les progrès et les effets de la pantomime chez les anciens. Paris 1790. — Dene Barnett: The art of gesture. Heidelberg 1987. - Albert E. Brachvogel: Das alte Berliner Theater-Wesen bis zur ersten Bliithe des deutschen Dramas. Berlin 1877. — Gabriele Brandstetter: Tanz-Lektüren. Frankfurt 1995. — Georg Braungart: Leibhafter Sinn. Tübingen 1995. - Etienne Decroux: Paroles sur le mime. Paris 1963. - Jean Dorcy: Eintritt Frei: Pantomime. Hg. v. Jean-Pierre Moulin und Yvan Dalain. Lausanne 1963. - Thomas Dreher: Performance Art nach 1945. München 2001. — Heide Ellert: „... allein durch die stumme Sprache der Gebärden": Erscheinungsformen der Pantomime im 18. Jh. In: Theater im Kulturwandel des 18. Jhs. Hg. v. Erika Fischer-Lichte und Jörg Schönert. Göttingen 1999, S. 339-360. H. E.: „... und allemal ist eine verkehrte Pantomime daran schuld." In: Begegnung der Zeiten. Fs. Helmut Richter. Hg. v. Regina Fasold u. a. Leipzig 1999, S. 37-48. - Bettina Falckenberg, Günter Tritt: Die Kunst der Pantomime. Köln 1987. - Janine Hera: Der verzauberte Palast. Aus der Geschichte der Pantomime. Berlin 1981. - Kirsten Gram Holmström: Monodrama. Attitudes. Tableaux vivants. Stockholm 1967. - Herbert Ihering, Marcel Marceau: Die Weltkunst der Pantomime. Berlin 1956. - Claudia Jeschke: Noverre, Lessing, Engel. Zur Theorie der Körperbewegung in der zweiten Hälfte des 18. Jhs. In: Schauspielkunst im 18. Jh. Hg. v. Wolfgang F. Bender. Stuttgart 1992, S. 85-111. - C. J., Hans-Peter Bayerdörfer (Hg.): Bewegung im Blick. Berlin 2000. - Michael Kramer: Pantomime und Clownerie. Offenbach 1986. - Alexander Kosenina: Anthropologie und Schauspielkunst. Tübingen 1995. — Manfred Krüger:

Parabel J. G. Noverre und das ,Ballet d'action'. Emsdetten 1963. - Günther Lohr: Körpertext. Opladen 1987. — Dieter Mehl: Die Pantomime im Drama der Shakespearezeit. Heidelberg 1964. - Anya P. Royce: Movement and meaning. Bloomington 1984. - Karl Günther Simon: Pantomime. München 1960. - Karl Sittl: Die Gebärden der Griechen und Römer. Leipzig 1890.

Heide Ellert

Papier

Beschreibstoff

Papyrus / Beschreibstoff Parabel Kurze Erzählung, die in uneigentlicher Rede Lebenseinsichten vermittelt. Expl: (1) Ein rhetorisch-stilistisches Textelement in der Form anschaulich vergleichender Rede, als Beweismittel, als Schmuck, als Verhüllung. Dieses Explikat ist im deutschen Sprachraum außerhalb der Bibelwissenschaft kaum noch lebendig, wohl aber ζ. B. in Frankreich und England. (2) Das biblische ,Gleichnis' (durch Luthers Eindeutschung Synonym für Parabel): Repertoire von vergleichenden Textelementen gemäß (1) und von kurzen, vollständigen Erzählungen, die auf uneigentliche Weise anschaulich belehren oder göttliche Heilsbotschaft verhüllt mitteilen sollen (so bis heute in der Theologie). (3) Eine literarische Form kurzen, pointierten, lehrhaften Erzählens in der Art biblischer Gleichniserzählungen, die grundlegende Lebenseinsichten vermittelt, auch reflektierende Weisheitsprosa oder -Sprüche. Hier findet sich die Parabel im Feld vieler anderer Genres kurzen, lehrhaften Erzählens mit ähnlichen Funktionen; Abgrenzungsversuche blieben kontrovers. (4) Eine fiktionale Erzählung, die im Text oder in der Textumgebung Hinweise darauf enthält, daß sie als ganze uneigentlich zu verstehen ist. Die Hinweise können explizit (im Text oder im Co-Text, ? Kontext) oder implizit (etwa durch textübergreifende Metaphorik) gegeben sein, und die

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Richtung, in der die neue Bedeutung zu suchen ist, kann festgelegt werden oder offen bleiben. Nur dieses literaturwissenschaftliche Explikat (Zymner, 101) erlaubt, weitgehend vom Text her und ohne inhaltliche und funktionale Festlegungen, die Erzählgattung .Parabel' schlüssig von vergleichenden Textelementen (1, teilweise 2) wie mit entsprechenden Explikaten von anderen Kurzformen vergleichenden Erzählens abzugrenzen: Für das ? Gleichnis wird stets Zweiteiligkeit mit Vergleichskopula gefordert, ein explizites Tertium comparationis und, sofern es zur Erzählung ausgebaut ist, die hypothetische Form (Zymner, 124, 128); die Beispielgeschichte (s Fabel2) spricht nicht uneigentlich-metaphorisch, sondern wird s metonymisch als Muster oder Beleg, oft aus der Historie, auf gleicher Ebene auf ein Allgemeines bezogen (Zymner, 140). Ein Sonderfall der Beispielgeschichte ist die f Fabel2, die nicht nur durch das „global anthropomorphisierte [...] Figurai" (Zymner, 145) abgrenzbar ist, sondern überdies nicht uneigentlich spricht (gegen Grubmüller). Uneigentlich wie die Parabel ist dagegen die ? Allegorie3, von jener nur unterscheidbar, wenn sie vollständig durch Personifikation von Abstrakta bestimmt wird (Zymner, 133); als erweiterte Metapher dagegen (Allegorie¡, s Metaphernkomplex), die eine ins einzelne gehende Übertragung des erzählten Geschehens auf eine andere Sinnebene nahelegt, ist sie eine Strukturvariante der Parabel (,Parabelallegorie'; v. Heydebrand, 39, 119). (5) Ein literarischer Text, der auch ohne Hinweise wie bei (4) durch Allegorese von einem neu herangetragenen Kontext aus als uneigentlich verstanden und in einem hermeneutischen Akt als Parabel gedeutet wird (v. Heydebrand, 39—41, gegen Zymner, 134 f.). — Dieses Explikat trägt neben historischen insbesondere modernen Verwendungen des Begriffs Rechnung. Eine Abgrenzung gegen die nicht durch textimmanente „intentionale Textur" (Ricoeur 1974, 24), sondern durch Allegorese erzeugte /* Allegories ist nicht möglich. WortG: Das Wort Parabel, griech. παραβολή [parabolé], meint ,Vergleichung', von

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Parabel

griech. παραβάλλειν [parabállein] ,nebeneinanderstellen'. Durch Aristoteles (,Rhetorik' 2,20,2—4) wird parabolé in das Feld der vergleichenden Beispiele (παραδείγματα [paradeígmata]) gestellt, durch die Stoa in das Feld der Vergleiche innerhalb der Tropen· und Figurenlehre (Barwick, 88—97). So kann das Wort in der lateinischen Rhetorik von Quintilian (5,11) bis in die Spätantike — es bleibt häufig in der griechischen Form erhalten — fast synonym mit similitudo oder collatio verwendet werden. Betont wird oft, daß die Parabel den Vergleich aus einem entfernteren, auch auf anderer Ebene liegenden Bereich holt (Krewitt). Nur in Bibel und Bibelexegese bezeichnet das Wort, synonym mit hebräisch maschal, zusätzlich auch das erzählende Gleichnis. Sofern die Parabel als Allegorie! im Sinne einer ,metaphora continuata' verstanden oder dem allegoretischen Deutungsmodus unterworfen wird, verschmilzt der Terminus bei verschiedenen christlichen Autoren mit imago, figura oder ycon als „inexpressa comparatio" (Gervais von Melkley, 153). Noch in der Gemengelage der frühneuzeitlichen Exemplarik hat das Wort Parabel kein großes Gewicht und keine klar abgegrenzte Bedeutung. Auch die Konstitution einer lehrhaften Parabelgattung in der Barockpoetik vollzieht sich nicht unter dem Terminus Parabel, der auf die biblischen Gleichnisse fixiert bleibt. Erst Aufklärung und Romantik (Lessing, Herder, Goethe, Fr. Schlegel u. a.) bezeichnen mit Parabel eine eigenständige literarische Gattung und einen Erkenntnismodus von hohem Rang. Im Laufe des 19. Jhs. fällt das Wort in die Sphäre des Trivial-Erbaulichen ab. Bedeutende Autoren im 20. Jh. (Kafka, Brecht) aktualisieren sowohl — erkenntnisskeptisch — die religiös-allegorischen als auch die didaktisch-appellativen Valenzen des Terminus; er wird nun auch auf literarische Großformen wie Roman und Drama angewendet (dazu Zymner, 103-115, 164-171). Gervais von Melkley: Ars poetica. Hg. v. HansJürgen Gräbener. Münster 1965, S. 150-153.

BegrG: Bei der Übersetzung der alttestamentarischen Schriften ins Griechische der Septuaginta (3. Jh. v. Chr.) vertritt parabolé

regelmäßig hebräisch maschal·, damit umfaßt der Begriff im jüdisch-hellenistischen wie urchristlichen Gebrauch Textelemente wie Gleichniswörter und -sätze, aber auch ganze, erzählend ausgeführte Gleichnisse, Parabeln, Fabeln sowie Allegorien (als erweiterte Metaphern), dazu auch Sprüche, ? Sprichwörter, / Rätsel, Spottverse u. a. Alle diese biblischen Parabeln werden dem Verfahren der Allegorese unterworfen, Parabel und Allegorie als Produkt von Allegorese austauschbar (Klauck). Trotz theoretischer Einsprüche dagegen bleibt die allegoretische Parabelauslegung in der Praxis bis ins 16. Jh. hinein das Übliche (Kissinger). Das ändert sich erst durchgreifend am Ausgang des 19. Jhs., im Zuge spezialisierter Parabelforschung. Die Arbeit am Begriff von Parabel als unselbständiger Form des f Vergleichs richtet sich dagegen von Anfang an auf die Einordnung ins Begriffsfeld der Rhetorischen Figuren und ^ Tropen2. Aristoteles stellt die Parabel in der Figurenlehre als Beweismittel unter die erdichteten Beispiele, grenzt sie von der äsopischen Fabel durch den Herkunftsbereich ab — dort Tierreich und Mythologie, hier Alltagsleben — und führt sie in seinem Mustersatz als Gleichnis aus: Gekennzeichnet ist sie durch Zweigliedrigkeit, vergleichende Kopula und hypothetische Form (,Rhetorik' 2,20). Die Stoa ordnet die Parabel unter die Tropen und schreibt ihr eine bloße Schmuckfunktion zu (Barwick). Quintilian läßt auch eingliedrige Parabeln als erweiterte Metapher oder Metonymie zu und bereitet dadurch die Gleichsetzung mit Allegorie2 vor (Quintilian 8,3,77 f.). So kann die Parabel im Zuge der Verchristlichung der Rhetorik bei Augustinus wie auch bei Thomas von Aquin den Figuren der Dunkelheit — Allegorie und Rätsel - an die Seite gestellt werden und rückt mit der allegorischen Bibelhermeneutik bei Cassiodor an die ,figura' heran, die das geheime göttliche Wesen der Dinge erkennen läßt. Als rhetorisch-stilistisches Textelement wird Parabel von Termini wie collatio, similitudo, comparatio, allegoria, figura, imago, exemplum, S integumentum, fabula abgegrenzt, aber auch mit ihnen gleichgesetzt.

Parabel Die Erweiterung des Parabel-Begriffs auf eine Erzählform wird durch das Eindringen der biblischen Beispiele in die Rhetorik seit der Spätantike vorbereitet, setzt sich aber erst im 12. Jh. in Traktaten und Schulgrammatiken durch (Krewitt). Damit entsteht die Vertauschbarkeit mit exemplum, fabula, integumentum, die für die mittelalterlichen Exempla-Sammlungen charakteristisch bleibt; volkssprachlich wird die Parabel meist, ungeschieden von anderen Typen uneigentlicher Rede, als gelîchnisse oder bispel (s Exempel) bezeichnet. Durch allegorische Deutung auch profaner, fiktiver Beispiele auf christliche Wahrheiten hin wird seit dem 13. Jh. (Engelbert von Admont; nach v. Moos) die von der monastischen Theologie gezogene Grenze für den Parabelgebrauch in profaner Dichtung und Heiliger Schrift durchlässig. In Luthers Bibelübersetzung wird für die biblische Parabel der Terminus Gleichnis gewählt. Bacon (,De dignitate et augmentis scientiarum', 1623, 2,13) unterscheidet erdichtete Fabel und Parabel so, daß nur die Parabel von hoher und verborgener Wahrheit spricht (v. Heydebrand). Zum Gattungsbegriff der Poetik wird die Parabel bei G.Ph. Harsdörffer, aber unter dem Wort und der Bestimmung als erzählendes „Lehrgedicht" (Harsdörffer 1, ll v , und 2, 6V); er schließt erstmals das vergleichende Satzglied als ,Gleichnis' explizit aus dem Begriff aus und nimmt damit die heute gängige Vorstellung der Parabel als Erzählung' vorweg (Zymner). Die Barockpoetiken suchen ohne durchgreifenden Erfolg nach Abgrenzungen gegen die Fabel, die wegen ihrer terminologischen Unschärfe Oberbegriff bleibt. In der Aufklärung profitiert die Parabel, sofern ihr Formtypus in Fabelkorpora enthalten ist, wenigstens parasitär von der Begriffsentwicklung der Fabel. La Fontaine befreit diese von ihrer Funktion als Exempel und entwickelt sie als ästhetisch-poetische Form (,Préface' zu ,Fables choisies', 1668), Christian Wolff führt Fabel wie Parabel auf die Operation des ,principium reductionis' zurück und würdigt dessen Leistung beim Erdichten wie Verstehen (Wolff 2, §302-322). Lessing sieht in die-

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sem Entdeckungsvorgang und nicht mehr in der Fabelmoral den Gewinn des Verfahrens (Harth). Die deutsche Aufklärungsdiskussion beläßt jedoch Fabel und Parabel in der Regel ungeschieden in der Rhetorik. Das Wort Parabel dagegen bleibt religiös-erbaulichen, allegorisch kommentierten Lehrgedichten vorbehalten. Nur Lessing will Fabel und Parabel, an Aristoteles anknüpfend, stilistisch-wirkungsbezogen unterscheiden: Die Fabel stelle einen Fall durch individuell-konkretes Erzählen „als wirklich" vor Augen; die Parabel begnüge sich durch einen hypothetischen Modus „an der Möglichkeit desselben" (Lessing, 379). Herder erst rückt die Fabel aus der Rhetorik und ^ Lehrdichtung in die zweckfreie Poesie. Mit der Orientmode der Zeit verstärkt sich die Verbindung des Begriffs mit religiöser und profaner Weisheitsdichtung, und auch der Formenkreis erweitert sich erneut (Goethe, ,Buch der Parabeln' im ,West-östlichen Divan', 1819). Fr. Schlegel sieht in der Parabel „die rechte Form der wahren Philosophie verborgen" (Schlegel, 137). In der Restaurationsepoche erhält die Parabel neues Leben als christlich-erbauliche Gebrauchsgattung; das Wort Parabel wird für kurze, lehrreiche, meist ernsthafte analogische Zweckdichtungen profaner Art gleichrangig mit Fabel verwendet. Hegel wertet in seinen Vorlesungen zur Ästhetik (zwischen 1817 und 1829) — gegen Herder wie Schlegel — die Parabel mit anderen Kleinformen durch Zuordnung zur subjektiven „bewußten Symbolik der vergleichenden Kunstform" als „bloßes Suchen der wahren Kunst" ab (Hegel, 5 und 18). Schopenhauer dagegen weist, ähnlich Wolff und Lessing, Allegorie und Parabel eine grundlegende Rolle in der Begriffsbildung zu (Schopenhauer, 399 f.). Die heute dominierende Bedeutung »erzählende Parabel' verdankt sich A. Jülicher und seiner Wirkung auf die Literaturwissenschaft nach 1950 (Jülicher, 98-101). Georg Philipp Harsdörffer: Nathan und Jotham. 2 Bde. Nürnberg 1650 f. - Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Ästhetik [1835]. Hg. v. Georg Lukács. Berlin 1955. — Gotthold Ephraim Lessing: Fabeln. Drei Bücher [1759], In: G.E.L.: Werke. Hg. v. Herbert G. Göpfert. Bd. 5. München 1973,

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Parabel

S. 352-419. - Friedrich Schlegel: Kritische Ausgabe. Hg. v. Ernst Behler. Bd. 15. Paderborn u.a. 2002, S. 135-144. - Arthur Schopenhauer: Werke. Zürcher Ausgabe. Hg. v. Arthur Hübscher. Bd. 10. Zürich 1977. - Christian Wolff: Philosophia practica universalis. 2 Bde. Frankfurt, Leipzig 1738 f.

Die Biedermeier- oder RestaurationsZeit und der Vormärz wirken als Schmelztiegel für die alten und neuen Valenzen der Gattung. Hervorstechend ist der ausgedehnte Gebrauch, den Kierkegaard über sein ganzes Werk hin von allen Formvarianten der biblischen Parabel macht (v. HeydeSachG: Das typusbildende Ausgangsmodell brand, 102—106). Danach bemächtigt sich für die erzählende Parabel findet sich in den die trivialpädagogische und erbauliche Parabeln, Gleichnissen und Allegorien der Publizistik der Parabel, jedoch ohne unjüdisch-christlichen Heiligen Schrift und bei terscheidendes Formbewußtsein. Erst im den Rabbinern. Profane Parabeln können 20. Jh. greifen bedeutende Autoren die Pavon Anfang an als Fabeln mit .menschli- rabel in ihrer lehrhaften und ihrer verrätchem Figurai' (Zymner, 146) in den Fabel- selnden Variante wieder auf: Bin Gorions Korpora vorkommen. Wegen der mittelal- und Martin Bubers Wiedererweckung der terlichen Gleichsetzung von parabola mit Chassidischen Lehrerzählungen (Übersetexemplum gibt es Parabeln auch in Exem- zungen seit 1906) bereiten Kafkas vielfaltige pel-Kompendien, etwa sog. Promptuarien Verwendung der Parabel-Struktur vor, pädfür den Predigtgebrauch. Unter den allego- agogisch-didaktische Parabeln in Gedichtrischen Exempeln finden sich im 13. Jh. die sammlungen sozialistischer Autoren zwifrühesten Belege für nicht-biblische, nun oft schen 1910 und 1930 von Edwin Hoernle, auch parabola genannte Parabeln als literaErich Weinert oder Friedrich Wolf präludierische Textart, z. B. im ,Liber parabolarum' ren Brechts Gebrauch für kleine wie große des Odo von Cheriton (f 1247), in Rudolfs parabelförmige Texte. Nach 1945 werden von Ems ,Barlaam und Josaphat', im Fürstenspiegel ,Speculum virtutum moralium' die Impulse Brechts und Kafkas breit auf(1309) des Engelbert von Admont (Zymner, genommen (G. Anders, G. Kunert, Fr. Dür185 — 189). Deutschsprachige Parabeln als renmatt u. a.). erzählerische Kleinform mit didaktischer ForschG: Parabelforschung setzt 1886 mit Funktion entstehen seit dem 13. Jh. in der Jülicher ein und bleibt für gut 50 Jahre DoRegel unter dem Rubrum bîspel (v. Heyde- mäne der Theologie. Sie ist von Harnisch brand, 62 f.). (1982a) in ihren wesentlichen Positionen Erst im Barock, seit Harsdörffer, tritt die dokumentiert und u. a. durch v. HeydeParabel aus dem Kontext von Fabel- und brand (1991, 71-78) im Überblick analyBeispielsammlungen heraus und erscheint siert worden. Ein dominant literaturwissenschaftliches bei literarisch ambitionierten Autoren, meist als Lehrgedicht, in eigenen Kompila- Konzept wird neuerdings vom Strukturalistionen. Die Aufklärung konzentriert ihr In- mus begünstigt (Via, Crossan) und durch teresse wieder auf die Fabel. Die Kritik Les- ein Modell der Parabel als / Metapher im sings und anderer an der Fabel-Allegorese modernen Sinn gefördert (Black, Ricoeur, und sein Einsatz für Fabeln/Parabeln ohne Harnisch). beigesetzte Exegese markieren den historiParabelforschung in der Literaturwissenschen Sprung zwischen traditioneller Lehr- schaft beginnt, ausgelöst durch das Werk parabel' und .moderner' Parabel als deu- Kafkas, erst in den 1950er Jahren (RL 2 3, tungsoffenem Text (Elm). Das von Herder 7—12; Politzer); sie baut fast durchweg auf stimulierte antiquarische Interesse für die den problematischen Bestimmungen Jü,naive' Poesie anderer Völker, die Entdek- lichers auf. Adorno spricht im Anschluß an kung der Bibel als Poesie und die Orientbe- einen Kafka-Essay Walter Benjamins von geisterung in den Jahrzehnten um 1800 len- 1934 von einer „Parabolik, zu der der ken den Blick vor allem auf den Parabel- Schlüssel entwendet ward" (Adorno, 304). schatz des Orients und führen Herder, Goe- Dichtung als religiös-existential interprethe, Rückert und andere zu Übersetzungen tierte Parabel wird zu einem ,Grundzug unund Nachbildungen. serer Epoche' erklärt, als moderne ,Vor-

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Paradox gangsparabel' der traditionellen, rhetorischdidaktischen ,Lehrparabel' entgegengesetzt (Miller). Seit den 1960er Jahren arbeitet die Literaturwissenschaft in Anlehnung an die theologische Formgeschichte an der Bestimm u n g auch der historischen G a t t u n g s f o r m u n d liest an ihr eine Verfallsgeschichte der Metaphysik ab ( R L 2 3, 7 - 1 2 ; Philippi, Brettschneider, Billen). In bezug auf Brecht aktualisiert K.-D. Müller die rhetorische Parabeltradition u n d erweitert den zweiteiligen F o r m t y p u s u m das konstitutive Merkmal des Kontextes zur Dreiteiligkeit (in: Elm/Hiebel 1986, 315—344). Auch Elm betont die Stimulation des Rezipienten durch die Parabel, die er erst in der A u f k l ä r u n g beginnen läßt, u n d sieht in ihr eine „hermeneutische G a t t u n g " mit je historischer Erkenntnisfunktion (Elm 1982,20 f., 82). Von Ter-Nedden wird die Parabel im R a h m e n der Mündlichkeitsforschung diskutiert u n d als gedächtnis- u n d gemeinschaftsstützende ,Wiedergebrauchsrede' von der situationsbezogenen Lehrdichtung abgelöst (Ter-Nedden, 61 ff.). Die linguistisch-pragmatische Klassifikation der,Bildreden' des Mittelalters (Michel 1987) u n d eine systematische wie historische M o n o g r a phie der nun auf ,Uneigentlichkeit' festgelegten Parabel (Zymner 1991) liefern jeweils präzise Beschreibungen. Eine begriffsgeschichtliche Studie (v. H e y d e b r a n d 1991) u n d Versuche zur kulturgeschichtlichen Verortung von Fabel u n d Parabel im 18. Jh. (Elm/Hasubek 1994) stehen am vorläufigen Ende der Forschungsgeschichte. Lit: Deutsche Parabeln. Hg. v. Josef Billen. Stuttgart 1982. - Fabeln, Parabeln und Gleichnisse. Hg. v. Reinhard Dithmar. München 1970. Theodor W. Adorno: Aufzeichnungen zu Kafka. In: T.W.A.: Prismen. Frankfurt 1955, S. 302-342. - Karl Barwick: Probleme der stoischen Sprachlehre und Rhetorik. Berlin 1957. Josef Billen (Hg.): Die deutsche Parabel. Darmstadt 1986. - Max Black: Models and metaphors. Ithaca 1962. - Werner Brettschneider: Die moderne deutsche Parabel [1971], Berlin 2 1980. — John D. Crossan: Structuralist analysis and the parables of Jesus. In: Semeia 1 (1974), S. 192-213. - Theo Elm: Die moderne Parabel. München 1982. - T. E., Hans Hiebel (Hg.): Die Parabel. Parabolische Formen in der deutschen Dichtung des 20. Jhs. Frankfurt 1986. - T. E., Peter Hasubek (Hg.): Fabel und Parabel. Kultur-

geschichtliche Prozesse im 18. Jh. München 1994. — Klaus Grubmüller: Fabel, Exempel, Allegorese. In: HaugAVachinger 1991, S. 58-76. Wolfgang Harnisch (Hg.): Gleichnisse Jesu. Darmstadt 1982[a], - W.H. (Hg.): Die neutestamentliche Gleichnisforschung im Horizont von Hermeneutik und Literaturwissenschaft. Darmstadt 1982[b], - Dietrich Harth: Christian Wolffs Begründung des Exempel- und Fabelgebrauchs im Rahmen der Praktischen Philosophie. In: DVjs 52 (1978), S. 43-62. - Walter Haug, Burghart Wachinger (Hg.): Exempel und Exempelsammlungen. Tübingen 1991. - Renate v. Heydebrand: Parabel. In: Archiv für Begriffsgeschichte 34 (1991), S. 27-122. - Joachim Jeremias: Die Gleichnisse Jesu. Göttingen 71965. Adolf Jülicher: Die Gleichnisreden Jesu [1886, 2 1910], Repr. Darmstadt 1976. - Warren S. Kissinger: The parables of Jesus. Metuchen, London 1979. — Hans-Josef Klauck: Allegorie und Allegorese in synoptischen Gleichnistexten. Münster 1978. — Ulrich Krewitt: Metapher und tropische Rede in der Auffassung des Mittelalters. Ratingen u.a. 1971. - Paul Michel: Alieniloquium. Elemente einer Grammatik der Bildrede. Bern 1987. - Norbert Miller: Moderne Parabel? In: Akzente 6 (1959), S. 200-213. - Peter v. Moos: Die Kunst der Antwort. In: HaugAVachinger 1991, S. 23-57. - Thomas Oden (Hg.): Parables of Kierkegaard. Princeton 1978. - Klaus-Peter Philippi: .Parabolisches Erzählen'. In: DVjs 43 (1969), S. 297-332. - Heinz Politzer: Franz Kafka. Parable and Paradox. Ithaca 1962. Paul Ricoeur: Die Interpretation [1965]. Frankfurt 1974. - P. R.: Die lebendige Metapher [1975], München 1986. - P.R.: Biblische Hermeneutik [1975]. In: Harnisch 1982b, S. 248-339. Gisbert Ter-Nedden: Das Ende der Lehrdichtung im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit der Schrift. In: Elm/Hiebel 1986, S. 58-78. Dan O. Via: Die Gleichnisse Jesu [1967]. München 1970. - Rüdiger Zymner: Uneigentlichkeit. Studien zu Semantik und Geschichte der Parabel. Paderborn 1991. Renate von

Paradigmatisch

Heydebrand

Äquivalenzprinzip

Paradox Eine verblüffende, widersprüchliche Beh a u p t u n g , die sich auf den zweiten Blick überraschend als sinnvoll u n d treffend erweisen kann.

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Paradox

Expl: Das rhetorische Paradox benutzt vor- bilden); ζ. B.: „Vergine madre, figlia del tuo dergründig Gegensätzliches zur Erzeugung figlio" (Jungfräuliche Mutter, Tochter Deieines Widerspruchs, der durch Interpreta- nes Sohnes'; Dante); „I burn and freeze like tion aufzulösen ist. Seine Funktion ist die ice" (Th. Wyatt); „schlimm-heilig" (G. Kel/" Emphase, der es in zweifacher Hinsicht ler); „traurigfroh" (Hölderlin). dient: (1) Es fallt auf durch die ungewohnte, CONTRADICTIO IN ADJECTO (lat. Widerbefremdliche, widersinnig erscheinende For- spruch im Beiwort'): Spezialfall des Oxymomulierung. (2) Es prägt sich dem Leser da- rons, in welchem der Gegensatz zwischen durch ein, daß es von ihm eine Denkanstren- einem Substantiv und seinem Attribut hergung zur Auflösung des scheinbaren Wider- gestellt wird — z.B.: „concordia discors" spruchs verlangt. Beispiel: „Monsieur du (,zwieträchtige Eintracht', Horaz); „darkChâtelet possédait toutes les incapacités exi- ness visible" (Milton); der Topos vom ,spregées par sa place" (,Herr du Châtelet besaß chenden Schweigen'. alle Unfähigkeiten, die sein Posten verIm Unterschied zum formallogischen Wilangte'; Balzac, 61). derspruch muß sich das rhetorische ParadoDie rhetorischen Mittel, die dabei ange- xon auf der semantischen Ebene auflösen wendet werden, reichen vom Widerspruch ¡ lassen, um seine Funktion zu erfüllen. Demund dem Oxymoron bzw. der Contradictio in gegenüber stellt die LOGIK! ein formales Syadiecto, der /" Antithese, der ? Ironie und stem der Folgerungsbeziehungen zwischen der Antinomie bzw. dem Dilemma (y Anti- Aussagen dar, in welchem ein WIDERthese) bis zur Kühnen s Metapher. Im Ver- SPRUCH! klar definiert ist als Konjunktion hältnis zu diesen Mitteln ist das Paradox eines Aussagesatzes mit seiner eigenen Neeine übergeordnete Kategorie und kann gation. In der klassischen (»zweiwertigen', sich einzelner oder mehrerer dieser Figuren auf die beiden Wahrheitswerte ,wahr' und bedienen. Aus diesem Grund läßt sich das ,falsch' bezogenen) Logik wird eine solche Paradox nur bedingt an strukturellen Merk- Konjunktion für sämtliche möglichen Intermalen festmachen; deshalb hat das für die pretationen als falsch gewertet. Die Frage Rhetorik der Renaissance kennzeichnende des ,Auflösens' von Widersprüchen stellt Verständnis des rhetorischen Paradoxes als sich hier nicht — anders als wenn im .Lüg„primär eine Wirkungskategorie und erst in nerparadox' ein Lügner zu lügen behauptet zweiter Linie eine Strukturkategorie" (Plett, (s Potenzierung) und dadurch den Wahr92) noch heute Gültigkeit. Die oft konzise heitsbegriff in Frage stellt (vgl. Martin, Formulierung (/" Stilprinzip) eines Parado- Chapuis, Gupta). Den ästhetischen Unterxes und seine Auflösbarkeit (/" Argutia, schied zwischen dem formalen Widerspruch f Pointe) machen es seinerseits zum gern als echtem Fehler („un vice réel du disverwendeten poetischen Mittel, z.B. im cours") und dem Paradox als echtem GeAphorismus, der Sentenz, dem /" Epi- winn an Schönheit („une beauté réelle") begramm, dem ? Concetto, dem Rätsel, nannte schon der französische Rhetoriker dem /" Sprichwort oder dem /" Witz. P. Fontanier (1827/30, 265). [Terminologisches Feld:] Honoré de Balzac: Les illusions perdues. Bd. 1. Die im Paradox am häufigsten vorkom- Hg. v. Gilbert Mayer. Paris 1946. - Pierre Fontamenden rhetorischen Figuren sind folgen- nier: Les figures du discours [1827/30]. Hg. v. Gédermaßen charakterisiert: rard Genette. Paris 1968. OXYMORON (aus griech. όξύς [oxys] ,scharf' und μωρός [morós] ,dumm' - zu- WortG: Aus griech. παρά [pará],wider',,gesammen: .scharfsinnige Dummheit'): eine — gen' und griech. δόξα [dóxaj .Meinung', im Gegensatz zur rhetorischen Figur des .Lehrsatz' wird das griech. Adjektiv παράParadoxons syntaktisch subordinierte — δοξος [parádoxos] .gegen die Meinung', wiZusammenstellung widersprüchlicher Sub- dersprüchlich'; sein substantiviertes Neustantive und Attribute, Adverbien und Ver- trum παράδοξον [parádoxon] wird als lat. ben oder Kombinationen dieser Wortarten paradoxon übernommen. Es gelangt im (auch in Komposita, die ein einzelnes Wort 16. Jh. in den dt. Wortschatz als Paradoxon,

Paradox gelegentlich latinisiert Paradoxum, oder endungslos Paradox; der Plural Paradoxe ist bereits im 16. Jh. belegt (vgl. KlugeSeebold, 527). Bis zum 17. Jh. wurde es in der Bedeutung von ,der allgemeinen Meinung entgegenstehend', .wunderbar', seltsam' benutzt, dann zunehmend im Sinn von .unwahrscheinlich', ,widersinnig' (EWbD, 1227). BegrG: In der Antike wird der Begriff des Paradoxen - in seiner ältesten Gebrauchsform als Adjektiv, später auch als Substantiv (Schilder, 3) - zur Charakterisierung eines sonderbaren', .befremdlichen' Sachverhaltes oder auch einer .der allgemeinen Meinung entgegenstehenden' Aussage benutzt. Aristoteles erläutert im .Organon' das .Paradoxon' als Gegensatz zum ,Endoxon' (.allgemein anerkannt und gebilligt'). Als Kategorie der Rhetorik wird der Terminus Paradoxon bei Menander von Laodikeia (3. Jh. n. Chr.) in den Zusammenhang von vier verschiedenen Arten des Lobes gestellt und dann u.a. spezifiziert: „Der Unterschied zwischen dem Adoxon und dem Paradoxon liegt darin, daß das Adoxon moralische Übel betrifft, die kein Spiel vertragen, während das Paradoxon Gegenstände betrifft, die eine gewisse spielerische Behandlung gestatten" (zit. n. Lausberg, § 241). Julius Rufinianus (4. Jh. n. Chr.) definiert das Paradox als „sustentatio vel inopinatum", als ,das Hinhalten der Zuhörer oder das Unerwartete', wodurch der Gedanke in der Schwebe gehalten werde (Rufinianus, 46). Die Bedeutung von ,gegen die Erwartung gerichtet', aber auch .wunderlich', wie die „admirabilia con traque opinionem omnium" (Cicero, pr. 4) in den ,Paradoxa Stoicorum', die für die klassische Periode kennzeichnend ist, verändert sich im Mittelalter nicht substantiell (dazu Schilder, 19-38). In der Neuzeit findet sich zunehmend eine Verwendung des Begriffs, die etwas nicht wirklich der Vernunft oder Logik Widersprechendes bezeichnet. In dieser Verwendungsweise werden Paradoxa zu s Thesen, die eigen oder sonderbar erscheinen mögen, aber durchaus wahr oder sogar beweisbar sind. Der bahnbrechende Logiker Augustus de

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Morgan charakterisierte diese Paradoxa als „the isolated opinion of a few" und „something which is apart from general opinion, either in subject-matter, method, or conclusion" (de Morgan, 23 und 2). Im Gegensatz zu dieser Verwendung steht diejenige in der jüngeren Tradition der Logik und Mathematik, die man zusammengefaßt hat als „Urteile, die in schlußfolgernder Verknüpfung scheinbar unabweislich und gleich folgerichtig zu einander ausschließenden und so widerspruchsvollen Ergebnissen führen" (Eisler, 375). Die Dominanz dieses Begriffsaspektes im 19. und 20. Jh. geht auf die neuen Entwicklungen in der Mathematik (Cantors Mengenlehre und die Theorie des Transfiniten) mit der Entdeckung der ,Paradoxien des Unendlichen' zurück — sowie auf die Wiederentdeckung und Neuentdekkung semantischer Paradoxien durch die moderne Logik. Marcus Tullius Cicero: Paradoxa Stoicorum. Stoische Paradoxien. Hg. v. Rainer Nickel. München, Zürich 1994. - Augustus de Morgan: A budget of paradoxes. London 1872. - Rudolf Eisler: Wb. der philosophischen Begriffe. Berlin 1929. — Iulius Rufinianus: De figuris sententiarum et elocutionis. In: Rhetores latini minores. Hg. v. Carolus Halm. Leipzig 1863.

SachG: Das Paradoxon im Sinne eines spielerischen Lobes, eines ,Enkomion paradoxon', hat eine Tradition, die bis ins 5. Jh. v. Chr. zurückreicht. Einige der bekanntesten Vertreter dieser Verwendung im Rahmen komischer Gattungen sind Alkidamas mit einem Enkomion über den Tod; Polykrates (ca. 400 v. Chr.) über Mäuse, Hummeln, das Salz und andere Alltäglichkeiten. Dion Chrysostomus (Ende 1. Jh. n. Chr.) lobte die Mücke, den Papagei und das Haar; ähnlich schrieb Lukian (2. Jh. n. Chr.) über die Fliege. Weitere Vertreter dieser Genre-Tradition angewandter Paradoxic finden sich auch im Mittelalter und noch in neuerer Zeit (vgl. dazu Haas, Köbele, Zapf; Klemm zu S. Franck). Hervorzuheben ist Erasmus' satirisch die Dummheit in Paradoxien preisendes .Moriae encomium' von 1509, welches bedeutend zur Verbreitung des Genres beitrug (näher dazu Burgess und Pease; ausführliche Werkliste bei Miller); in der Barockzeit dann u.a.

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Paradox

C. Dornau, J. Passerat, D. Czepko und J. Scheffler (vgl. Vorrrede zum Cherubinischen Wandersmann'). Das Paradox im Sinne einer ,wunderbaren' Begebenheit oder eines ,merkwürdigen' Sachverhaltes war das kennzeichnende Merkmal einer anderen Gattung der Literatur, hervorgebracht durch die griechischen ,Paradoxographen'. Die ältesten Sammlungen solcher ,faits divers' oder naturkundlicher Merkwürdigkeiten datieren vom 6. bis 7. Jh. v. Chr. Die Gattung überlebt während mehrerer Jahrhunderte, ihr Ende wird mit Phlegon aus Tralles im 2. Jh. n. Chr. verbunden (Stählin/Schmid, 237-239, 803, 1044; sowie Westermann, Keller, Giannini; Reardon, 237—241). Die gelegentlich in der Renaissance geortete ,Epidemie' von Paradoxa (Colie) betrifft mehr die Philosophie in ihrer Beschäftigung mit paradoxen Aussagen oder Sachverhalten als die Verwendung der rhetorischen Figur. Ihre periphere Position in den Rhetoriken und Poetiken der Zeit (vgl. Plett, 101) läßt eher auf eine untergeordnete Rolle dieser Figur schließen. Das Paradox bleibt in jüngerer Zeit eine (wenn auch reizvolle) rhetorische Randerscheinung — literarisch von Interesse etwa bei Goethe (Zusammenstellung dazu in FA I. 13, 537), Kafka (dazu Neumann) und in den genannten Spruch-Gattungen (dazu HWbRh 1, 773-781).

komions galt schon den antiken Rhetorikern als unwürdig (vgl. Überblick bei Burgess, 157-166), und bis heute hat sich die Forschung wenig mit dem Thema befaßt. Die Situation bezüglich des rhetorischen Paradoxes im explizierten Sinne ist ähnlich. Margolin notiert die auffallige Absenz des Paradoxes in den Rhetoriken von der Antike bis heute und kommt zu dem Schluß, daß seine Titelfrage (,Ist das Paradox eine rhetorische Figur?') zu verneinen sei. W. G. Müllers Befund für die englische Barocklyrik, wonach es „außer einigen Spezialartikeln, vor allem zum Paradoxon bei John Donne, [...] an systematischen, auch den rhetorisch-stilistischen Aspekt berücksichtigenden Untersuchungen" fehle (Müller, 356), gilt mehr oder minder für alle Epochen. Spezial-Literatur zum Paradox in der Renaissance ist bei Jones-Davies zusammengefaßt; eine ganze Reihe von Einzel-Untersuchungen — die Zeit von der Antike bis ins 20. Jh. betreffend — finden sich bei Geyer/Hagenbüchle.

Lit: Elke Brendel: Die Wahrheit über den Lügner. Berlin, New York 1992. - Ulrich Broich: Form und Bedeutung der Paradoxie im Werk John Donnes. In: GRM NF 17 (1967), S. 231248. - Cleanth Brooks: Paradoxie im Gedicht [1942 u.ö.]. Frankfurt 1965. - Theodore C. Burgess: Epideictic literature [1902], Repr. New York u. a. 1987. - André Chapuis: Circularity, Caspar Dornau: Amphitheatrum sapientiae So- truth, and the liar paradox. Diss. Bloomington craticae ioco-seriae. Hanau 1619, Repr. Gold1993. - A. C.: Recent theories of truth. In: Jourbach 1995. - Alexander Giannini: Paradoxogra- nal of the Indian Council of Philosophical Rephorum Graecorum reliquiae. Mailand 1967. — search 15 (1998), S. 89-123. - Rosalie L. Colie: Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke Paradoxia epidemica: The renaissance tradition [Frankfurter Ausgabe, FA]. Frankfurt 1985 ff. — of paradox. Princeton 1966. — Gottfried Gabriel: Otto Keller: Rerum naturalium graeci scriptores. Logik und Rhetorik der Erkenntnis. Paderborn Leipzig 1877. - Henry Rnight Miller: The para1997, bes. S. 67-115. - Paul Geyer, Roland Hadoxical encomium with special reference to its genbüchle (Hg.): Das Paradox. Tübingen 1992. vogue in England, 1600—1800. In: Modern Philo- Anil Gupta: Truth. In: The Blackwell guide to logy 53 (1956), S. 145-178. - Jean Passerat: Ac- philosophical logic. Hg. v. Lou Goble. Oxford curatissimum poema de Nihilo. Groningen 1661. 2001, S. 90-114. - Alois M. Haas: Überlegun— Arthur S. Pease: Things without honor. In: gen zum mystischen Paradox. In: Probleme phiClassical Philology 21 (1926), S. 27-42. - Bryan losophischer Mystik. Fs. Karl Albert. Hg. v. EleP. Reardon: Courants littéraires grecs des IIe et nor Jain und Reinhard Margreiter. Sankt AuguIIIe siècles après J.-C. Paris 1971. - Otto Stählin, stin 1991, S. 109-124. - Marie-Thérèse JonesWilhelm Schmid: Wilhelm Christ's Geschichte Davies: Le paradoxe au temps de la renaissance. der griechischen Literatur. München 61961. — Paris 1982. — Karl Klemm: Das Paradoxon als Anton Westermann (Hg.): Paradoxographi Ausdrucksform der spekulativen Mystik SebaGraeci [1839], Repr. Amsterdam 1963. stian Francks. Diss. Leipzig 1937. — Susanne KöForschG: Die theoretische Beschäftigung bele: Bilder der unbegriffenen Wahrheit. Tübinmit der speziellen Form des paradoxen En- gen, Basel 1993. - Eckard Lefèvre: Die Bedeu-

Paralipomena tung des Paradoxen in der römischen Literatur der frühen Kaiserzeit. In: Poetica 3 (1970), S. 59—82. - Jean-Claude Margolin: Le paradoxe est-il une figure de rhétorique? In: Nouvelle revue du seizième siècle 6 (1988), S. 5 - 1 4 . - Robert L. Martin (Hg.): Recent essays on truth and the liar paradox. Oxford 1984. - Justus Meier: Die Paradoxic des Lügners. Diss. Bielefeld 1997. - Wolfgang G. Müller: Das Paradoxon in der englischen Barocklyrik. In: Geyer/Hagenbüchle 1992, S. 355-384. - Gerhard Neumann: Umkehrung und Ablehnung: Franz Kafkas ,gleitendes Paradox'. In: DVjs 42 (1968), S. *702-*744. - Neal R. Norrick: How paradoxes mean. In: Poetics Today 10 (1989), S. 551-562. - Heinrich F. Plett: Das Paradoxon als rhetorische Kategorie. In: Geyer/Hagenbüchle 1992, S. 89-104. Klaas Schilder: Zur Begriffsgeschichte des Paradoxon'. Diss. Erlangen 1933. — Josef Zapf: Die Funktion der Paradoxie im Denken und im sprachlichen Ausdruck bei Meister Eckhart. Diss. Köln 1966.

André Chapuis

Paragoge ? Metaplasmen Paragraph

Kapitel

Paralipomena Beiseite gelassene oder später nachgetragene Textteile. Expl: Der traditionelle Titel Paralipomenon für einen Nachtrag und Zusatz zu einem bereits veröffentlichten f Werk (oder auch: zu einem bereits besprochenen Thema) ist heute im engeren Sinn die editionsphilologische Bezeichnung für solche Texte und Textfragmente, die ursprünglich für ein bestimmtes Werk vorgesehen waren, dann aber dort beiseite gelassen (und allenfalls erst später vom Autor selbst oder von anderen veröffentlicht) wurden. Im weiteren Sinn werden in der Editionspraxis mit dem Ausdruck Paralipomena sowohl alle handschriftlichen Zeugnisse der Entstehungsgeschichte eines Werkes bezeichnet, die nicht lediglich als ,Entstehungsvariante' (/" Lesart) im Apparat verzeichnet werden, als auch im Nachlaß eines Autors aufgefundene /" Skizzen

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und s Fragmente2, die sich keinem seiner veröffentlichten Werke zuordnen lassen. WortG: Der Ausdruck Paralipomenon geht zurück auf das griech. Verb παραλείπειν [paraleípein] .vorüberlassen', ,übergehen', ,auslassen' (daher auch der Name der rhetorischen bzw. erzähltechnischen Figur der ,überspringenden' Paralipse). Er wurde in der ersten griech. Übersetzung der hebräischen Bibel (.Septuaginta'), in der Folge auch in der lat. Bibelübersetzung des Hieronymus (,Vulgata') als Name für die Bücher der ,Chronik' eingesetzt, vermutlich weil diese als Nachträge zu den vorangehenden ,Büchern der Könige' aufgefaßt wurden. In Anknüpfung daran wurde der griech.-lat. Terminus Paralipomena auch allgemein als Titel für Nachträge, Ergänzungen oder kommentierende Zusätze zu einem bestimmten vorangehenden — eigenen oder fremden — Werk oder auch zu einem an anderer Stelle schon ausführlich behandelten Thema verwendet — vgl. etwa die Bezeichnung der sogenannten ,Posthomerica' des Quintus von Smyrna als Paralipomena in den Ausgaben von G. Heyne (1783 u. ö.) oder Baldi (1818) und Werke wie Kepler: ,Ad Vitellionem Paralipomena', 1604; Rebhan: ,Paralipomenon Meyerianorum sive selectarum quaestionum Iustinianearum', 1659; Eberhard: ,Paralipomena ad historiam doctrinae de associatione idearum', 1787; Leopardi: ,Paralipomena della Batracomiomachia', 1842; Schopenhauer: ,Parerga und Paralipomena', 1851. BegrG: Eine Veränderung des Konzepts von Paralipomenon geht mit seinem Gebrauch in der Editionspraxis einher (/" Editionswissenschaft), der sich im deutschsprachigen Bereich wohl auf Goethe und dessen Herausgeber zurückführen läßt. Goethe selbst bezeichnete mit dem bei ihm zuerst 1807 belegten Ausdruck (WA III. 3, 196) bisher ungedruckte Texte, deren Publikation er aus unterschiedlichen (pragmatischen, sozialen oder ästhetischen) Gründen erst für die Zukunft vorgesehen hatte. Daran anknüpfend wird der Ausdruck in wissenschaftlichen Editionen seit dem 19. Jh. sowohl für solche Texte und Textfragmente verwendet, die im

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ParaUelismus

Rahmen einer Werkausgabe nicht anderweitig einzuordnen sind, als auch für die Gesamtheit aller handschriftlichen Entstehungszeugnisse zu einem Werk, die nicht in den Lesarten-Apparat integrierbar sind, da sie noch nicht Werkcharakter haben (Stichwörter, Gliederungen, Stoffsammlungen) oder nicht eindeutig auf bestimmte Stellen des Werkes beziehbar sind (/" Edition). Zur Eingrenzung des Begriffs schlägt Kanzog vor, ausschließlich solche Texte als Paralipomeni! zu bezeichnen, die tatsächlich einmal als Bestandteile des zu veröffentlichenden Werkes vorgesehen waren und dann weggelassen wurden, nicht aber sämtliche Zeugnisse früher Stadien der Textgenese wie Gliederungsentwürfe usw. (Kanzog, 106 f.). Johann Wolfgang Goethe: Werke [Weimarer Ausgabe, WA]. Weimar 1887-1919.

ForschG: Theoriegeleitete Überlegungen zum Begriffsgebrauch finden sich in einigen Beiträgen zur /" Textologie (Scheibe, Laufer, Kanzog); die Erforschung der Texte und Textfragmente selbst hat ihren Ort vor allem in der Editionspraxis sowie im Rahmen entstehungsgeschichtlicher Untersuchungen zu bestimmten Werken (Erforschung einzelner Paralipomena-Gruppen, besonders prominent z. B. zu Goethes ,Faust'). Im Zusammenhang mit der steigenden Bedeutung, die dem aus den handschriftlichen Zeugnissen abzulesenden Wandel eines Werkes etwa bei der Erarbeitung textgenetischer Ausgaben oder im Rahmen der ,critique génétique' (vgl. Hay; Textkritik) zugemessen wird, hat die Untersuchung des Sachzusammenhangs in der 2. Hälfte des 20. Jhs. an Beachtung gewonnen. Lit: Anne Bohnenkamp: „... das Hauptgeschäft nicht außer Augen lassend". Die Paralipomena zu Goethes ,Faust'. Frankfurt 1994. — Louis Hay: Die dritte Dimension der Literatur. Notizen zu einer ,critique génétique'. In: Poetica 16 (1984), S. 307-323. - Klaus Kanzog: Einführung in die Editionsphilologie der neueren deutschen Literatur. München 1991. - Christel Laufer: Von den Texten. In: Vom Umgang mit Editionen. Hg. v. Siegfried Scheibe u. a. Berlin 1988, S. 5 5 - 8 5 . — Siegfried Scheibe: Zu Problemen der historisch-kritischen Edition von Goethes Werken. In: WB 6 (1960), Sonderh., S. 1147-1160. -

S.Sch.: Zum Verhältnis der Edition/Textologie zu den Gesellschaftswissenschaften. In: WB 33 (1987), S. 158-166.

Anne Bohnenkamp

Parallelismus Rhetorische Figur der Satz- und Textgliederung. Expl: Ein Parallelismus entsteht durch Koordination (Gleichordnung) zweier oder mehrerer syntaktischer Einheiten gleicher grammatischer Kategorie mit gleicher oder annähernd gleicher Länge. Die Koordination kann durch reine Parataxe (Asyndeton, z. B.: „Alle laufen, viele rennen, manche schreien") oder durch verbindende Konjunktionen geschehen (Polysyndeton, z. B.: „Alle laufen und viele rennen und manche schreien"; Periode). Koordiniert werden können Syntagmen (z. B. Nominalphrasen, Verbalphrasen), Teilsätze in einer Satzperiode, Satzgefüge, ggf. auch aufeinander folgende Sätze oder ganze Textabschnitte (geläufig in Textsorten wie Fachprosa, Gesetzestexten, technischen Anleitungen). Hingegen wird die Koordination syntaktisch abhängiger Einzelwörter (z.B. „Wir sehen Sonne, Mond und Sterne") üblicher und zweckmäßiger nicht als Parallelismus bezeichnet, sondern als Aufzählung (Enumeration); die Verdopplung bzw. Reihung identischer Lexeme (z. B. „Er läuft und läuft und läuft") angemessener als Epanalepse bzw. Gemination. Die koordinierte Reihung syntaktisch unabhängiger Einzelwörter (oft eingesetzt als ? Gradatio) kann dagegen durchaus einen Parallelismus bilden (z.B.: „Veni, vidi, vici"). Wenn die syntaktische Struktur von koordinierten Teilsätzen oder Satzgefügen identisch ist, wird dieser Sonderfall des Parallelismus auch Symmetrie (als Mittel der KonzinnitäV, / Stilprinzip) genannt. Wird syntaktischer Parallelismus in zwei Sätzen mit zwei parallel gestellten semantischen Oppositionen kombiniert, ergibt sich die Rhetorische Figur der /" Antithese (z. B. „Der Tag bringt uns Mühen, die Nacht be-

Parallelismus schert uns Freuden"). Wird diese Struktur umgekehrt, also der Parallelismus durchbrochen, ergibt sich die Figur des CHIASMUS (,Kreuzstellung'), ζ. B.: „Der Tag bringt uns Mühen, Freuden beschert uns die Nacht." Der Chiasmus läßt sich artifiziell komplizieren, indem zusätzlich zwei lexikalische Wiederholungen eingebaut werden. Dann

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Joachim Heinrich Campe: Wb. zur Erklärung und Verdeutschung der unserer Sprache aufgedrungenen fremden Ausdrücke [1801]. Braunschweig 2 1813. — Johann Christoph Gottsched: Handlexicon oder Kurzgefaßtes Wb. der schönen Wissenschaften und freyen Künste [1760]. Repr. Hildesheim, New York 1970.

SachG: Älter noch als die ordnende Funktion des Parallelismus ist sein potentieller „Wir leben nicht, um zu arbeiten, sondern Stileffekt von Persuasion (S Rhetorik)·. Seit wir arbeiten, um zu leben." Im Vergleich den ältesten erhaltenen Sprachdenkmälern zum syntaktischen Gleichlauf lassen sich bis heute ist der Parallelismus ein suggestidie Kreuzstellungen des Chiasmus und der ves und autosuggestives Sprachmittel in unAntimetabole mit den — seit Aristoteles und terschiedlichen Religionen (f ZauberSprüQuintilian in der ? Rhetorik, später in der che, Litaneien und andere s Liturgische ? Linguistischen Poetik geläufigen — Kate- Texte, ? Gebete, ? Psalmen etc.), später ebenso in der politischen und Konsum-Wergorien der Abweichung als PERMUTATION], als parallele Vertauschung der Normalstel- bung. Traditionell werden auch konzise z1 Aphorismen oder Wahlsprüche (s Motto2) lung beschreiben. Die Stilwirkung des Parallelismus und durch Parallelismus gestaltet (z.B. „Ehre, seiner Abwandlungen kann durch formale Freiheit, Vaterland"). In literarischen TexÄquivalenzen wie Epipher, f Anapher oder ten überwiegt zu allen Zeiten die Ästhetische bzw. s Poetische Funktion des Paralle/ Reim etc. verstärkt werden, besonders in ÄquivalenzFachtexten häufig auch durch typographi- lismus durch Erfüllung des prinzips. sche Mittel (ζ. B. Durchnumerierung, Spiegelstriche, Einrückungen). ForschG: Seit dem 18. Jh. wird der Paralleb e s t e h t d i e F i g u r d e r ANTIMETABOLE, Z . B . :

WortG/BegrG: Die Bezeichnung Parallelismus folgt spätgriech. παραλληλισμός [paralelismos] in Anlehnung an griech. παράλληλος [parállelos] nebeneinander'. In dt. Texten ist die latinisierte Form (vielfach auch parallelismus membrorum ,Gleichlauf der [Satz-] Glieder') zuerst 1618 als mathematischer Terminus belegt und wird 1648 von Zesen als „ebenweitiger Abstand" verdeutscht (Schulz-Basler 2, 335; vgl. den eigenen Artikel 1740 bei Zedier 26, 795; ähnlich dann in Gottscheds ,Handlexicon' 1760 und bei Campe 1801). Als rhetorischer Fachbegriff setzt sich das Wort im 19. Jh. durch. In der antiken Rhetorik wird der Gleichlauf von Sätzen mit ISOKOLON bezeichnet (/" Kolon). Für diesen Terminus gibt es historisch eine Reihe von Synonymen: „Das Isocolon oder Parison oder die Parisosis besteht in der koordinierten Nebeneinanderstellung zweier oder mehrerer Kola [...] oder Kommata [...], wobei meist die Kola (oder Kommata) jeweils gleiche Satzteilabfolge zeigen" (Lausberg 1, 359).

lismus als typisches Stilmittel der hebräischen Syntax und der alttestamentarischen Metrik (A. Berlin, Geller, Pardee) untersucht. Hierauf greifen kulturwissenschaftliche und ethnolinguistische Arbeiten des 20. Jhs. zurück, die Parallelismen als konstitutives Merkmal von s Oral poetry analysieren (Crowell, Fraser, Gräf, Schulze). Dabei hebt die Forschung auf archaischen Stil, Hilfe beim Memorieren (vgl. s Mnemonik, ? Merkvers) und persuasive Wirkung auf Zuhörer und Leser ab (Überblick bei Spillner). In der neueren stilforschenden Linguistik tritt das Phänomen parallelismus' hinter der Beschäftigung mit der syntaktischen Koordination zurück (z. B. Dik, Clément, van Oirsouw). Lit: Adele Berlin: The dynamics of biblical parallelism. Bloomington 1985. - Danièle Clément (Hg.): La coordination. Paris 1977. — Richard Weiland Crowell: Parallelism in the ,Iliad'. Diss. Boston 1994. - Simon C. Dik: Coordination. Amsterdam 1972. - Robert D. Fraser: Verbal parallelism in ballad and medieval lyric. Diss. Eugene 1972. — Stephen Α. Geller: Parallelism in early bibilical poetry. Missoula 1979. - Hermann

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Paratext

Graf: Der Parallelismus im Rolandslied. Diss. Würzburg 1931. - Ewald Lang (Hg.): Parallelismus und Etymologie. Fs. Wolfgang Steinitz. Berlin 1987. — Robert R. van Oirsouw: The syntax of coordination. London u.a. 1987. - Dennis Pardee: Ugaritic and hebrew poetic parallelism. Leiden u.a. 1988. - Brigitte Schulze: Der Wortparallelismus als ein Stilmittel der (nord-)ostjakischen Volksdichtung. Szeged 1988. - Bernd Spillner: Semantische und stilistische Funktion des Parallelismus. In: Forms and functions. Fs. Vilém Fried. Hg. v. Jürgen Esser und Axel Hübler. Tübingen 1981, S. 2 0 5 - 2 2 3 .

Bernd Spillner

Paraphrase ? Interpretation S Periphrase Parataxe f Periode Paratext Beiwerk und Rahmenstücke eines Textes. Expl: Die ,paratextuelle' Umgebung eines Textes, die nicht (wie im Drama der ? Nebentext) zu ihm selbst gehört, aber einen deutlichen Bezug zu ihm herstellt, wird durch die Texte gebildet, die ihn innerhalb eines Buches oder sonstigen Veröffentlichungs-Kontextes begleiten. Dazu gehören der Titel, die Angabe des Autornamens (häufig ergänzt durch Informationen zu seiner Person im ,Waschzettel', Rücken- oder Klappentext eines Buches), die f Widmung, das Motto2, das Nachwort und das ? Vorwort, Zählung und ggf. (Zwischen-) Überschriften der Paragraphen oder auch s Kapitel·, besonders bei wissenschaftlichen Publikationen häufig auch Inhaltsverzeichnis, Anmerkungsapparat, Bibliographie, Sachbzw. Personen-Register. [Terminologisches Feld:] TITELEI: Der oft römisch paginierte erste halbe oder erste ganze Bogen (auch: Titelbogen) eines Buches, der mindestens einen Titel, meist auch einen Schmutztitel (ein der Titelseite vorgeschaltetes Blatt mit Verfasserangabe und Kurztitel), manchmal eine Widmung oder ganze Widmungsvorrede, ein Vorwort (bzw. Geleitwort von fremder

Hand), ein Inhalts-, Abbildungs- oder Abkürzungsverzeichnis enthält. IMPRESSUM: Druckvermerk mit Copyright (s Urheberrecht), Angaben z.B. über den /" Verlag, Verlagssitz, verantwortliche(n) Herausgeber, Lektor, Übersetzer, Redaktion bzw. Ressortleiter; über Auflage, Auflagenhöhe, Druckerei, Schrifttype oder Papierqualität. Das Impressum, bei ? Zeitungen und Zeitschriften wegen der presserechtlichen Verantwortlichkeit gesetzlich vorgeschrieben, steht in Büchern meist auf der Rückseite des inneren Titelblattes oder aber ganz hinten. WortG: Paratext, eine hybride Zusammensetzung aus griech. παρά [pará] mit der Doppelbedeutung ,neben', ,gegen' und lat. textus,Gewebe',,Geflecht' (S Text), ist eine Wortschöpfung von G. Genette (1982 und 1987) und wurde noch vor Übersetzung seiner Schriften auch in die Terminologie der deutschsprachigen Literaturwissenschaft aufgenommen (Broich/Pfister 1985; Rothe 1986). - Der Ausdruck Titelei geht zurück auf lat. titulus, .Inschrift'. Als Wort der Verlagssprache ist Titelei ebenso wie das Synonym Titelbogen erst spät belegt. Das Grimmsche Wörterbuch gibt für Titelbogen einen Beleg aus dem 18. Jh. (DWb 21, 525), Titelei hat sich erst im 20. Jh. durchgesetzt (Löffler/Kirchner, 405). — Impressum (lat. .Gedrucktes', .eingedruckt') für d r u c k v e r merk' erscheint im Dt. zuerst im 19. Jh. (Kluge-Seebold 23 , 397). Ulrich Broich, Manfred Pfister (Hg.): Intertextualität. Tübingen 1985. - Karl Löffler, Joachim Kirchner (Hg.): Lexikon des gesamten Buchwesens. Bd. 3. Leipzig 1937.

BegrG: Das Konzept des Paratextes, soweit es auf Genette zurückgeht, bezieht sich auf die Formen der Präsentation eines Textes vor der Öffentlichkeit. Es umfaßt in Genettes Überlegungen nicht nur die Begleittexte in der Umgebung eines anderen, sondern auch die publizistische Darbietung eines Textes: sein Format, das Papier, die Umschlaggestaltung, die / Typographie sowie f Illustrationen. Genette nennt diesen Bereich den Peritext (Genette 1989, 12). Darüber hinaus zählt Genette auch öffentliche Äußerungen und Kommentare eines Schriftstellers sowie

Parodie seine privaten Notizen und mündlichen Mitteilungen über seinen Text zum ,Paratext'. Genette nennt diesen Bereich des Paratextes den Epitext (Genette 1989, 12). Das sehr weite und an seinen Grenzen nicht in jedem Punkt trennscharfe Konzept von Genette ist noch sehr jung, eine Diskussion darüber hat bisher nur in Ansätzen stattgefunden. Jedoch hebt sich von Genettes ausgedehntem Paratext-Begriff zunehmend ein Konzept ab, das den Terminus Paratext eingrenzt auf seine Verwendung als Oberbegriff einer Gattungssystematik, der allein die ? Textsorten in der Umgebung eines anderen Textes unter sich umfaßt (Moennighoff 2000, 22-25; Antonsen, 18-23). SachG: Frühformen des Paratextes gibt es schon im handschriftlichen Buch. Doch die volle Entfaltung seiner eigenen Geschichte hat die Erfindung des Buchdrucks und die öffentliche Verbreitung des Buchs zur Vora u s s e t z u n g {s Buch,

f Druck).

I m 16. J h .

werden viele Erscheinungen des Paratextes konventionalisiert (z.B. Titel, Angabe des Autornamens), bleiben es unter mannigfacher Ausbildung ihres Stil- und Formenschatzes im 17. Jh. und bleiben zum überwiegenden Teil bis in die Gegenwart so bestehen. Erst im 18. Jh. verlieren einzelne Erscheinungsformen des Paratextes wie die Widmung oder das Vorwort aus sozialoder geschmacksgeschichtlichen Gründen an Prestige, doch leben auch sie bis heute fort. Über die Geschichte einzelner Formen des Paratextes informieren Motto2, s Titel, ? Vorwort,

s

23

die langsam einsetzende Paratextforschung (z.B. Lane, Heiler/Mecke, Retsch; thematisch ausgeweitet bei Brand, Lethurgez) wird an die von Genette getroffenen Unterscheidungen anschließen können und sie gegebenenfalls zu verfeinern haben. Lit: Jan-Erik Antonsen: Text-Inseln. Studien zum Motto in der deutschen Literatur vom 17. bis 20. Jh. Würzburg 1998. - Joachim Brand: Der Text zum Bild. Untersuchungen zu den Erscheinungsformen und paratextuellen Funktionen von sprachlichen Bestandteilen zu deutschen graphischen Folgen und Zyklen des 19. Jhs. Diss. Marburg 1994. — Anne Cayuela: Le paratexte au siècle d'or. Genf 1996. - Gérard Genette: Palimpseste [1982], Frankfurt 1993. - G. G.: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches [,Seuils', 1987], Frankfurt, New York 1989. - Susanne Heiler, Jochen Mecke (Hg.): Titel, Text, Kontext. Randbezirke des Textes. Fs. Arnold Rothe. Glienicke, Berlin 2000. - Philippe Lane: La périphérie du texte. Paris 1992. - C. Maria Laudando: Parody, paratext, palimpsest. A study of intertextual strategies in the writings of Laurence Sterne. Neapel 1995. - Gérard Lavergne (Hg.): Le paratexte. Nizza 1998. - Florence Lethurgez: Fonctions et usages des médiations paratextuelles des œuvres musicales. Diss. Lille 1993. - Burkhard Moennighoff: Paratexte. In: Grundzüge der Literaturwissenschaft. Hg. ν. Heinz Ludwig Arnold und Heinrich Detering. München 3 1999, S. 349-356. - B. M.: Goethes Gedichttitel. Berlin, New York 2000. - Poétique 69 (1987): Paratextes. - Annette Retsch: Paratext und Textanfang. Würzburg 2000. - Arnold Rothe: Der literarische Titel. Frankfurt 1986. Burkhard

Moennighoff

Widmung.

ForschG: Während spezielle Formen von Paratexten in Einzelstudien seit längerem Gegenstand der Forschung sind, ist die zusammenhängende Untersuchung des Paratextes eine junge Erscheinung. Die Paratext-Forschung ist bei Genette eingebunden in die allgemeine Erforschung der ,Transtextualität' iV Intertextualität), die Gesamtheit aller Beziehungen eines Textes zu anderen Texten. In der Studie ,Seuils' (1987; im selben Jahr ergänzt durch ein ganzes Themenheft der Zs. ,Poétique') erläutert Genette die Subformen des Paratextes und entwirft eine Systematik ihrer Untersuchung;

Parodie Ein in unterschiedlichen Medien vorkommendes Verfahren distanzierender Imitation von Merkmalen eines Einzelwerkes, einer Werkgruppe oder ihres Stils. Expl: Im literarischen Bereich bildet das Parodieren eine intertextuell ausgerichtete Schreibweise2, bei der konstitutive Merkmale der Ausdrucksebene eines Einzeltextes, mehrerer Texte oder charakteristische Merkmale eines Stils übernommen werden, um die jeweils gewählte(n) Vorlage(n) durch Komisierungs-Strategien wie Untererfül-

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Parodie

lung und/oder Übererfüllung herabzusetzen (Witting, 286). Abkürzend wird auch ein Text, dem die Schreibweise zugrunde liegt, als Parodie bezeichnet. Die Parodie unterscheidet sich von der ? Kontrafaktur dadurch, daß sie sich in der Komisierung der Vorlage erschöpft und somit keine eigene Botschaft formuliert; von der Travestie durch die Adaptation spezifischer stilistischer Merkmale. Ein Spezialfall der Parodie ist der /* Cento, sofern bei ihm komisierende Herabsetzung dominiert. Häufig werden Parodie und Travestie auch unter den Oberbegriff PERSIFLAGE subsumiert — ein aus der Theaterwelt stammender Ausdruck für das ,Verhöhnen' (frz. siffler ,auszischen', so seit 1735 in Umlauf), der bald die speziellere, in Literatur und Journalistik der Aufklärung motivierte Bedeutung von raillerie mordante annimmt (,beißender Spott'; Krauss, 296-330). WortG: Parodie geht auf das griech. Substantiv παρωδία [parodia] von φδή [odé] ,Gesang' (>" Ode) zurück, dessen Grundbedeutung jeweils von der Bestimmung der Präposition παρά [pará] abhängt: ,wider' (Koller, 18), ,zuzüglich zu' (Scaliger 1,42) oder ,nach dem Vorbild von' (Quintilian 9,2,35). Mit παρωδία, zunächst in der antiken Musiklehre verwendet, wird aufgrund von παρά in der Bedeutung ,nach dem Vorbild von' ursprünglich ein nichtpolemisches „Verhältnis von Modell und Imitation" bezeichnet, nämlich „das Singen einer Begleitstimme, die parallel zur Hauptstimme verläuft und deren Bewegungen in einigem Abstand nachvollzieht" (Pöhlmann, 147 f. und 150). Bereits in der 1. Hälfte des 4. Jhs. v. Chr. setzt dann die Verfestigung des Ausdrucks zum poetologischen Terminus technicus ein (Pöhlmann, 151), bei der nach den angeführten Beispielen etwa aus der Geschichte der ,Eposparodie' παρά in der Bedeutung ,wider' dominiert. Seither bedeutet Parodie neben ,Nebengesang' auch ,Gegengesang'. Diese Äquivokation erhält sich wortgeschichtlich bis in die gegenwärtige Lexikalisierung. Maßgeblich dafür sind: Quintilians Rhetorik (1. Jh. n. Chr.), die Parodie als Fremdwort in die lat. Überlieferungsge-

schichte einführt (6,3,97), Scaligers Poetik von 1561 (1,42) und der ,Thesaurus' des Henricus Stephanus von ca. 1540 (560: ,,παρωδέω [parodéo] [...] carmen ad alterius imitationem" — ,Gesang als Nachahmung eines anderen'); dann Eschenburgs E n t wurf' von 1783, in dem Parodie als „besondre Art der Satire" die Bedeutung einer spezifischen Form kritischer Textverarbeitung gewinnt, welche „die ganze Manier eines Dichters nachbildet, um dadurch sein Gedicht oder den Gegenstand desselben zu belachen" (87 f.); schließlich die AnthologieTradition des 19. und frühen 20. Jhs. (C. F. Solbrig, 1816; G. G. Roller; K. Müchler; C. F. Kunz; R. M. Meyer; F. Umlauft, 1928). Diese historische Bedeutungsbreite des Wortes macht zugleich bis heute das terminologische Problem aus (dazu Verweyen/Witting 1979, 4-26). Johann Joachim Eschenburg: Entwurf einer Theorie [...] der schönen Wissenschaften. Berlin u.a. 1783. — Henricus Stephanus: Thesaurus graecae linguae. Bd. 6. Hg. v. Carl Benedikt Hase u.a. Paris 3 1842-1847.

BegrG: Der Versuch, die historische Mehrdeutigkeit des Wortes Parodie auch zur Basis einer aktuellen Begriffsbestimmung zu machen, führt zu erheblichen terminologischen Unschärfen und verdeckt vor allem den Funktionsunterschied zwischen imitativer und kritischer Verarbeitung von Vorlagen. Dies gilt in der neueren Begriffsgeschichte spätestens seit Scaligers Poetik, in der aber immerhin der Ausdruck tradiert wird und die Anschlußmöglichkeiten an die Antike, beispielsweise an .Parodie' als Gattungsbegriff für literarische Epos-Kritik in Aristoteles' ,Poetik' (1448a 11-14), gewahrt bleiben. Folgenreiche Ansätze zu einer Begriffsdifferenzierung lassen sich erst im 18. Jh. beobachten, indem nun — bedingt durch eine neue Auffassung von Kunst und Literatur (s Aufklärung) — die komisch-kritische Funktion stärker akzentuiert wird. Dabei greifen deutsche Theoretiker wie Eschenburg, J. G. Sulzer (Sulzer 3, 650— 652) und C. F. Flögel (1, 362) insbesondere auf die frz. Diskussion der 1. Hälfte des 18. Jhs. zurück (etwa Fuzelier und Riccoboni, ferner Abbé Sallier und die Enzyklo-

Parodie pädisten; vgl. ν. Stackelberg, 204-209). Sieht man ab vom lange dominierenden mediävistischen Begriffsgebrauch (vgl. Lehmann) und von kulturkritischen Expansionen des Begriffs (wie vor allem in der romantischen Ästhetik, bei Nietzsche sowie in der Moderne- und Postmoderne-Diskussion; vgl. Reckennann, Höfele), setzt sich die Tendenz, das Merkmal der /" Komik als entscheidendes Kriterium für die Begriffsanwendung zugrunde zu legen, im 19. und noch mehr im 20. Jh. verstärkt fort (z. B. RL 1 2, 631; dagegen RL 2 3, 12, und vor allem Rotermund 1963, 17). Freilich bleibt hier insoweit eine Unschärfe bestehen, als nicht unterschieden wird nach der Richtung der komischen Kritik (Bezug auf die Vorlage oder aber auf einen der Vorlage externen Gegenstand). Gerade dies ist jedoch für die Differenzierung im terminologischen Feld (Kontrafaktur, Cento) unerläßlich. Ein Versuch, der sowohl solche Funktionsunterschiede als auch grundlegende Übereinstimmungen bei traditionell verschieden benannten Adaptationen berücksichtigt, kann nur aufgrund einer Einschränkung des Begriffsumfanges von ,Parodie' erfolgen (vgl. Verweyen/Witting 1979, 4—26, und aus juristischer Sicht Hess).

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strophe, v. 7098—7108). Auch das idealisierende literarische Selbstbild des Hofes in der /" Artusepik wird mitunter zur Disposition gestellt — mit parodistischen Zügen etwa in Strickers ,Daniel' bereits um 1215. In Renaissance, Humanismus und Barock tritt die Parodie deutlich in den Hintergrund, da im Horizont der ,imitatio veterani' (s Imitatio) die Formen der wetteifernden Bezugnahme auf Mustertexte und Vorbild-Autoren dominieren. Die nachgerade inflationär auftauchende .Parodia Horatiana' wie etwa auch die ,Parodia Opitiana' sind ganz diesem Prinzip verpflichtet und sollten daher systematisch nicht unter ,Parodie', sondern unter ,Kontrafaktur' eingeordnet werden. Einige herausragende Ausnahmen müssen für die deutsche Literaturgeschichte gleichwohl genannt werden: der von Crotus Rubeanus stammende Teil der ,Epistolae obscurorum virorum' (,Dunkelmännerbriefe') von 1515/17, die Stilparodien auf die Konventionen der petrarkistischen Liebessprache Petrarkismus) und die parodistische Herabsetzung des ,hohen Romans' in Grimmelshausens ,Simplicissimus Teutsch' von 1669. Vorbilder haben diese Formen in der sprachkritischen Tradition des europäischen Humanismus, in der Tradition der antipetrarkistischen Parodie z. B. eines Carl Friedrich Flögel: Geschichte der komischen Francesco Berni (1. Hälfte des 16. Jhs.) und Litteratur. Liegnitz u.a. 1784. — Gangolf Hess: Urheberrechtsprobleme der Parodie. Baden-Bain Gegenentwicklungen innerhalb des euroden 1993. päischen Romans (nach Bachtin, 251—300). Mit der Aufklärung ändert sich die GelSachG: Weit vor der frühneuzeitlichen Rezeption des Parodiebegriffs der Antike und tung der komischen Kritik grundlegend. des einzigen erhaltenen Textes von Rang, der Parodie und Travestie begleiten seither als (spät)hellenistischen Ilias-Parodie ,Batra- spezifische Formen der Literaturkritik chomyomachia' (,Froschmäusekrieg'; /" Ko- als ,Probe des Lächerlichen' (Shaftesbury, misches Epos), ist die Schreibweise schon im 11 f.) — die literarische Produktion. Dies Mittelalter bekannt. Gegenstand komisie- zeigen etwa Lichtenbergs .Fragment von render Herabsetzung werden dabei Einzel- Schwänzen' (1783) gegen Lavaters S Phytexte wie ganze Textgruppen (z. B. Meß- siognomik, Voß' ,Bußlied eines Romanoder Predigt-Parodien). Volkssprachlich tikers', Früh werke Wielands und Jean setzt sich die gattungsorientierte Art der Pauls, A. W. Schlegels ,Schillers Lob der parodistischen Kritik durch, die in Par- Frauen', Brentanos ,Glocke'-Version oder odien etwa auf die Minnekanzone (/" Min- E. T. A. Hoffmanns ,Wilhelm Meister'-Parnesang) oder das Tagelied verstärkt zum odie in den ,Lebensansichten des Katers Zuge kommt — beispielsweise im Liedschaf- Murr' und Vischers ,Faust'-Parodie (1863). fen Neidharts, Steinmars und Oswalds von Ab der Mitte des 19. Jhs. wird die ParWolkenstein oder in Wittenwilers satiri- odie sogar zu einer Art komisch-kritischer schem Epos ,Der Ring' (z. B. die Wächter- Alternative gegenüber der etablierten aka-

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Parodie

demischen Literaturgeschichte. Anzuführen sind hier unter vielen anderen L. Eichrodts .Gedichte in allerlei Humoren' (1853) und .Lyrische Karrikaturen' (1869), F. Mauthners ,Nach berühmten Mustern' (1878/79), Η. v. Gumppenbergs,Das Teutsche Dichterroß in allen Gangarten vorgeritten' (1901), Chr. Morgensterns ,Der grüne Leuchter' (1928, postum), und R. Neumanns vielfach wiederaufgelegte Bücher ,Mit fremden Federn' (1927 u. ö.). Neben anthologieartigen Sammlungen finden wir aber auch immer wieder einzelne Parodien von Dichtern wie E. Friedeil, K. Tucholsky, L. Thoma oder E. Kästner. Die seit der Nachkriegszeit erschienenen Arbeiten etwa von A. Eichholz, G. de Bruyn, P. Rühmkorf, R. Gernhardt, E. Henscheid und vieler anderer Autoren zeigen, daß die Parodie trotz des gelegentlich immer noch zu hörenden Vorwurfs der pietätlosen Sachbeschädigung' oder der bloßen Plagiierung ihre Stellung in der Literatur (speziell im / Kabarett, mit der szenischen Sonderform der stimmimitierenden ,Politiker-Parodie') und darüber hinaus auch in Film, TV-Formaten, in Musik und Bildender Kunst behauptet. Michail M. Bachtin: Die Ästhetik des Wortes. Hg. v. Rainer Grübel. Frankfurt 1979. - Anthony Earl of Shaftesbury: Der gesellige Enthusiast. Hg. v. Karl-Heinz Schwabe. München u. a. 1990. ForschG: Eine genuine Parodie-Forschung setzt erst relativ spät ein. Sieht man von Darstellungen ab, in denen die Parodie im Rahmen der komischen Literatur (Flögel, Jean Paul, F. W. Ebeling, H. Schneegans u. a.) oder des Witzes (S. Freud) mitbehandelt wird, so ist erstmals im Russischen ? Formalismus eine anspruchsvolle Parodie-Theorie formuliert, die in eine umfassende Theorie der literarischen /" Evolution eingebettet ist (Sklovskij, Tynjanov, beide bereits 1921). Freilich wird dieser Ansatz in der deutschsprachigen Literaturwissenschaft erst in den 1970er Jahren aufgenommen (v. Stackelberg, Karrer, Verweyen/Witting). Folgenreicher ist zunächst R. Neumanns Essay ,Zur Ästhetik der Parodie' (1927/28). Sein Einfluß läßt sich noch in Rotermunds Monographie (von 1963) nachweisen.

Mit ihr beginnt ab den 1960er Jahren eine intensive, bis heute andauernde, auch in der Mediävistik sich etablierende theoretische Diskussion — nicht zuletzt bedingt durch Rotermunds Vorschlag, die rhetorischen Änderungskategorien zur Beschreibung parodistischer Texte anzuwenden. Zusätzliche Aktualität gewinnt die Parodie als Forschungsgegenstand heute durch die Bachtin-Rezeption ( / Dialogizität, S Karneval) und die sich daran anschließenden Debatten über Karnevalisierung und " Periode) im Sinne einer logischen ,Prämisse' oder

Proverbium Voraussetzung'. Grundlegend für diese Bedeutung ist eine Vielzahl von Belegen bei Aristoteles (,Rhetorik' 1356b 4 f., 1357a 22-27, 1359a 7 f., 1378a 9; ,Analytica priora' 24a 16; ,Nikomachische Ethik' 7,3,13). Im Lat. durch propositio wiedergegeben (,Thesaurus graecae linguae', 2054), hat sich der Begriff bis in die Schulrhetoriken des 17. und 18. Jhs. gehalten. Die Protasis bildet den ersten Teil des aus Protasis, Aetiologia, s Amplificano und Conclusio bestehenden Argumentationsmusters der Chrie (Fauser; / Argumentum¡). Der Kompositionslehre der Rhetorik entstammt die Bedeutung von Protasis als spannungsschaffendem ersten Teil einer Periode, auf den eine spannungslösende Apodosis (άπόδοσις [apodosis] »Rückgabe') folgt (Lausberg, § 924). (2) Auf die Dramentheorie wird der Begriff erst spät übertragen, zuerst im Kommentar über die Komödien des Terenz von Aelius Donatus (4. Jh. n. Chr.), wo die Protasis als „primus actus fabulae" (Donatus: ,Euanthius de Comoedia' 7,4) bezeichnet wird. Der Terminus Prolog wird von den frühneuzeitlichen Theoretikern meist gleichbedeutend mit Protasis gebraucht (so Viperanus: ,De poetica', 1574; zit. n. Bickert, 36). Unterschiedliche Meinungen gibt es in der Frage, ob die Protasis Bestandteil des Dramentextes selbst ist oder ihm als separater Prolog voransteht (Rotth 3,134). Die Dominanz der Tragödie in der poetologischen Diskussion und eine vor allem seit der Mitte des 18. Jhs. stärker auf die dramaturgische Funktion als auf die mechanische Zuordnung von Akten und deren Aufgaben (/* Analytisches Drama) zielende Betrachtungsweise haben den Begriff gegenüber demjenigen der Exposition in den Hintergrund treten lassen. F ü r d a s Geschlossene

Drama

(/" Offenes

Drama) mit seiner engen Korrespondenz von Dramaturgie und Wirkungspoetik ist die Protasis unerläßlich. Ohne den Begriff in diesem Sinne zu benutzen, formuliert Aristoteles die Notwendigkeit eines sinnvoll gewählten .Anfangs' (αρχή [arché];,Poetik', Kap. 7, 1450b 28) für die Einheit der Hand-

183

lung ( / Drei-Einheiten-Lehre) und ihre affektpsychologische Wirkung. Die Protasis kann im ? Offenen Drama entweder ganz entfallen oder aber auf das gesamte Stück ausgedehnt werden (Asmuth, 105 f.). Mit der völligen Aufgabe oder der Streuung vorbereitender Informationen entfällt dann auch der Dreischritt von erregendem', ,steigerndem' und retardierendem' Moment (Freytag, 107). Aelius Donatus: Commentum Terentii. Hg. v. Paul Wessner. Bd. 1. Stuttgart 1962. - Albrecht Christian Rotth: Vollständige Deutsche Poesie [1688]. Repr. hg. v. Rosmarie Zeller. Tübingen 2000. — Thesaurus graecae linguae. Bearbeitet v. Henricus Stephanus [Henri Estienne]. 8 Bde. London 1818-1826.

ForschG: Nach den umfassenden Bilanzen der poetologischen Diskussion im 18. und 19. Jh. durch Bickert (1969) und Schultheis (1971) hat die Dramenanalyse inzwischen ihr Interesse auf die Ebene der drameninternen Kommunikation (Pfister) oder der Performanz bzw. Theatralität (/" Theater) verlagert, so daß der aus der normativen Poetik stammende Begriff seine Funktion eingebüßt hat. Die rhetorische Chrien-Lehre hat Fauser dargestellt; weitergehende textanalytische Untersuchungen bleiben Desiderat. Lit: Bernhard Asmuth: Einführung in die Dramenanalyse. Stuttgart 41994, S. 103-109. Hans Günther Bickert: Studien zum Problem der Exposition im Drama der tektonischen Bauform. Marburg 1969. - Markus Fauser: Die Chrie. In: Euphorion 81 (1987), S. 414-425. - Gustav Freytag: Die Technik des Dramas [1863, 131922]. Repr. Darmstadt 1965. — Otto Mann: Poetik der Tragödie. Bern 1958, S. 103-122. - Robert Petsch: Drei entscheidende Punkte im Drama. In: GRM 24 (1936), S. 401-411. - Manfred Pfister: Das Drama. München lo 2000. - Hans Werner Schmidt: Die Struktur des Eingangs. In: Die Bauformen der griechischen Tragödie. Hg. v. Walter Jens. München 1971, S. 1 - 2 0 . - Werner Schultheis: Dramatisierung von Vorgeschichte. Assen 1971. Claudia

Protestsong ? Song Proverbium

Sprichwort

Albert

184

Proxemik

der Form des fixierten, semi-fixierten bzw. informellen Raums. Dabei sind ExtremErforschung des menschlichen Raumver- punkte mit dem Theater der Renaissance haltens, u. a. bei theatralen Aktionen. und dem Avantgarde-Theater des 20. Jhs. Expl: Unter Proxemik versteht man in der bezeichnet. Seit der Renaissance war ein Höchstmaß Nachfolge des Anthropologen Ε. T. Hall die an Prächtigkeit und räumlicher Rigidität Untersuchung der Ausnutzung des Raums durch Menschen und der damit zusammen- (,fixity') das Ideal der räumlichen Organisahängenden wahrnehmungshaften Orientie- tion; dies führte zu einem Höchstmaß an rung im Raum: „man's use of space as a Formalismus. Jedes theatrale Element, anspecialised elaboration of culture" (Hall gefangen beim Bühnenbild bis hin zum ein1966, 1). Dabei lassen sich — auch für das gesperrten' Zuschauer, hatte einen mehr Theater — zwei zentrale Gesichtspunkte un- oder weniger unveränderbaren, festen Platz. Dieses fixierte Raum-Modell dominierte terscheiden: (1) Fragen interpersonaler Nähe (Mikro- lange Zeit im typischen westlich-bürgerliraum), der Abstand zwischen Interaktions- chen Theater. Es geriet gegen Ende des 19. Jhs. mit Forderungen nach Abschaffung partnern und die Veränderung desselben in der Rampe unter Beschüß. bezug auf die Kommunikationssituation Das moderne Theater neigt in den meiund das Verhältnis der Kommunikationssten Fällen dazu — seit Strindbergs Theater partner. (2) Das Verhältnis zwischen Menschen der Intimität —, die architektonische Unbeund dem sie umgebenden Raum (Makro- weglichkeit so weit wie möglich in dynamiraum). Dabei wird unterschieden zwischen sche, proxemische Informalität zu verwan(a) fixiertem bzw. architektonischem Raum, deln. Meistens steht im Zentrum des neuen (b) semi-fixiertem (d. h. durch bewegliche Theaters, besonders der letzten Jahrzehnte, Gegenstände konstituierten) Raum und das Aufbrechen der strengen Trennung zwi(c) informellem Raum. Bei diesem sind wei- schen Bühne und Zuschauerraum ^Guckkatere proxemische Faktoren wie Körperhal- stenbühne'; /" Bühnenform) zugunsten eines tung, Berührung zwischen Körpern, Wahr- unvorhersehbaren und von der jeweiligen Sinehmung von Körpern zu unterscheiden. tuation abhängigen ,body-to-body space'. Sie werden über die verschiedenen Kommu- Diese Auflösung eines festen Raumverhältnikationskanäle übermittelt und bilden ge- nisses greift auf frühere Formen des Theameinsam jeweils ein komplexes Pattern des ters zurück, wie beispielsweise auf mittelalMysterienspiele. Raumverhaltens. Proxemik überschneidet terliche sich hier mit Kinesik (Untersuchung von Die Forschung zur Proxemik wurde von Bewegungsabläufen). Theaterkünstlern wie Scott Burton und Richard Schechner unmittelbar rezipiert und WortG: proxemics (engl.), von lat. proximus in ihre künstlerische Arbeit integriert (vgl. ,der nächste', proximare ,sich nähern'. Als Argelander). Terminus in Anlehnung an phonemics (Phonemik) durch Hall (1963) eingeführt. ForschG: Seit ihrer Prägung durch Hall (1963) hat sich die Proxemik als UntersuBegrG: Der Begriff hat sich seit seiner Einchungsfeld und Forschungsprogramm in führung kaum verändert. In die Theaterwisverschiedenen wissenschaftlichen Disziplisenschaft wurde er 1980 von Elam eingenen etabliert. Fabbri (1968), Watson (1970) führt. Die wichtigste Verschiebung ist die und Eco (1972) entwickeln die Proxemik zu zunehmende Verengung des von Hall mögeiner auch Fragen der räumlichen Reprälichst weit gefaßten Begriffs auf den Bereich sentation durch Sprache, Literatur, Malerei der zwischenmenschlichen Interaktion (des und Theater explizit wie implizit einbezieMikroraums). henden /" Semiotik des Raums (vgl. Nöth). SachG: Die Geschichte des Theaters ist ge- In den Geisteswissenschaften ist sie am inkennzeichnet durch die jeweilige Dominanz tensivsten durch die ? Theaterwissenschaft

Proxemik

Psalm rezipiert worden. In Anlehnung an die drei von Hall definierten proxemischen Grundkategorien wurde von Elam eine theaterwissenschaftliche und -geschichtliche Raumsemiotik vorgeschlagen: (1) Der,fixierte Raum' läßt sich auf das Theatergebäude oder auf das Verhältnis zwischen Bühne und Zuschauer beziehen. (2) ,Semi-fixierter Raum' meint bewegliche, aber undynamische Objekte wie Möbel, Vorhänge, Requisiten; dazu gehören auch Bühnenbild und Licht. (3) Die ständig wechselnde Beziehung von Nähe und Distanz zwischen Individuen (,informeller Raum') läßt sich im Theater auf das Verhältnis von Schauspieler zu Schauspieler, Schauspieler zu Zuschauer und Zuschauer zu Zuschauer definieren. Daneben gebraucht Fischer-Lichte ,Proxemik' in Abgrenzung und Ergänzung zu den Begriffen ,Kinesik', Gestik und /" Mimik 2 als Bestandteil der Aufführungsanalyse. Dabei sind die Grenzen zwischen Proxemik und Kinesik fließend (Schechner 1973). In jüngerer Zeit versuchten Aston/ Savona in Anlehnung an die sozialsemiotischen Forschungen von Guiraud sowie Hodge/Kress ,Proxemik' mit ideologiebezogenen Fragen zu verbinden. Eine vergleichbare breite Rezeption der Proxemik-Forschung innerhalb der Literaturwissenschaft hat es bisher nicht gegeben. Lit: Ronald Argelander: Scott Burton's behavior tableaux. In: The Drama Review 17.3 (1973), S. 109-113. - Elaine Aston, George Savona: Theatre as sign system. London 1991. - Marvin Carlson: Places of performance: the semiotics of theatre architecture. Ithaca, London 1989. Umberto Eco: Einführung in die Semiotik [1968]. München 1972. - Keir Elam: The semiotics of theatre and drama. London 1980. - Paolo Fabbri: Considérations sur la proxémique. In: Langages 10 (1968), S. 65-75. - Erika Fischer-Lichte: Semiotik des Theaters. Bd. 1. Tübingen 31994, S. 87-93. - Pierre Guiraud: Semiology. London 1975. - Edward T. Hall: Proxemics. The study of man's spadai relations. In: Man's image in medicine and anthropology 4. Hg. v. Iago Galdston. New York 1963, S. 422-445. - E. T. H.: The hidden dimension. London 1966. - Robert Hodge, Gunther Kress: Social semiotics. Cambridge 1988. - Samy Molcho: Körpersprache. München 1994. - Winfried Nöth: Hb. der Semiotik. Stuttgart 1985, S. 365-375. - Jean-Pierre van Noppen: Proxemics, discourse, and literature. In:

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Union in partition. Fs. Jeanne Delbaere. Hg. v. Gilbert Debusscher und Marc Maufort. Lüttich 1997, S. 25-33. - Richard Schechner, Cynthia Mintz: Kinesics and performance. In: The Drama Review 17.3 (1973), S. 102-108. - Michael O. Watson: Proxemic behavior: a cross-cultural study. Den Haag 1970. - Dieter Wunderlich: Sprache und Raum. In: Studium Linguistik 12 (1982), S. 1-19; 13 (1982), S. 37-59. Christopher Balme

Psalm Texttypus im Alten Testament oder ein Text, der sich inhaltlich oder formal auf dieses Vorbild bezieht. Expl: Psalmen im engeren Sinn sind die 150 Stücke des alttestamentarischen Psalters. Sie bestehen aus verschiedenen Gattungen, darunter ,Dank-' und ,Klageliedern des Volkes' und des ,Einzelnen', ,Weisheitsgedichten' und ? Hymnen. Ihre unterschiedliche Form wurde bestimmt durch den jeweiligen ,Sitz im Leben', d. h. ihre Funktion im sozialen und kultischen Kontext. Der Vortrag wurde von Instrumenten begleitet. Charakteristisch für die Psalmen sind: ein dialogischer Aufbau; einfache, konkrete Metaphorik; starke Expressivität bei oft formelhaften Wendungen. Die einzelnen Typen sind durch Inhalte und Redehaltungen gekennzeichnet, z. B.: Klage, Anrufung, Bitte um Errettung, Erinnern, Dank für Erhörung, Aufforderung zum Lobpreis. Die Versbindung erfolgt nicht in einem festen metrischen Schema, wie es die europäischen Literaturen kennen, sondern ihr Prinzip ist die parallelistische Metrik hebräischer Dichtung, der syntaktische Gleichlauf von zwei oder mehr Versgliedern; selten finden sich strophische oder abecedarische Gliederung Abecedarium2). Der Name der biblischen Psalmen wurde übertragen auf Übersetzungen und paraphrasierende Nachdichtungen in metrischer Form oder Prosa. Die seit dem 16. Jh. auch als Geistliche Lieder, S Oden oder f Elegien bezeichneten Psalm-Paraphrasen sind häufig geprägt durch exegetische oder

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Psalm

rhetorische Überformung des Ausgangstextes. Als Psalmen werden darüber hinaus Gedichte und Lieder bezeichnet, die sich (a) an die geistlichen Inhalte, (b) an die poetische Form oder (c) an sprachliche Motive der Psalmen anlehnen, (d) u. U. sogar in parodistischer Absicht. WortG: Griech. ψαλμός [psalmós] meint ein zum Saitenspiel vorgetragenes Lied und entspricht wahrscheinlich dem hebräischen mizmor. Der hebräische Name des Psalters (griech. ψαλτή ριον [psaltérion]) lautet allerdings tehillim, griech. mit ϋμνοι [hymnoi] wiederzugeben. Der Titel der Sammlung leitete sich also jeweils von einer einzelnen Psalmengattung her. Aus griech.-lat. psalmus wurde ahd. psalm(o), dann mhd. psalme, psalm und salm(e) (Kluge-Seebold 23 , 653; Schulz-Basler 2, 721; Lexer 2, 304). Die Übertragung auf ein an die biblischen Psalmen angelehntes Genre (a—d) erfolgte, vorbereitet durch die Fülle der freien Psalmen-Adaptationen seit Luther (,Eine feste Burg ist unser Gott', nach Ps 46), wohl in der 2. Hälfte des 17. Jhs. (etwa Q. Kuhlmann, ,Kühlpsalter', 1684-1686, ζ. B. „Der 15. Kühlpsalm"; J. C. Arnschwanger, ,Heilige Palmen und christliche Psalmen', 1680) und etablierte sich bis zum Ende des 18. Jhs.: Nach Adelung spricht Campe davon, daß „in der hoehern Schreibart auch ein erhabenes Lied, in welchem man das Lob Gottes singt, ein Psalm genannt wird" (Campe 3, 701). DWb 13, Sp. 2198 f. - Hans-Joachim Kraus: Psalmen. 2 Bde. Neukirchen-Vluyn 51978.

BegrG: Die jahrhundertelange Sonderstellung der Psalmen als Teil der jüdisch-christlichen Offenbarung hat eine sachliche Einordnung in den profanen Katalog literarischer Formen lange Zeit behindert. Die Folge ist eine Verwendung des Begriffs, die entweder nur die eigentlichen Bibeltexte meint oder emphatisch jedes Gedicht mit religiöser Grundstimmung einschließt. Apologetische Aussagen der Kirchenväter führten Barockdichter zur Auffassung, die hebräischen Texte seien in rhetorischer und metrischer Hinsicht den Oden, Hymnen und Elegien der Griechen und Römer ähn-

lich (Bach/Galle, 150-155). Folglich unterschied man deutsche Psalmen formal nicht von profanen Liedern und Gedichten und unterwarf sie denselben poetischen Regeln. In der Aufklärung verschob sich der Begriffsinhalt auf das freirhythmische Gedicht mit erhabenem Inhalt. Herders Schrift ,Vom Geist der Ebräischen Poesie' (1782/83) lenkte den Blick auf die archaische Schönheit der biblischen Psalmen, deren spezifische Form seines Erachtens jedoch genuin dem Volk der Juden im Altertum angehöre und sich daher nicht zur Nachahmung durch andere Zeiten eigne. Dies erklärt ζ. T. die Zurückhaltung deutscher Autoren im 19. Jh. Im 20. Jh. wird der Psalm in vielfaltiger Weise von Dichtern aufgegriffen, u. a. als Chiffre für den abgerissenen Dialog mit der Transzendenz, als Kritik an moderner Sprachzerstörung oder als spezifisch jüdische poetische Form. SachG: In stärkerem Maße als bei anderen Gattungen wird die Tradition der Psalmendichtung immer wieder durch den unmittelbaren Rückbezug auf die alttestamentarischen Vorbilder bestimmt, wobei sich Wandlungen im theologischen Verständnis ebenso geltend machen wie etwa eine veränderte poetische Auffassung der Psalmen. Verglichen mit den Oden, Hymnen und Elegien der griechischen und lateinischen Lyriker erscheinen viele Werke der anonymen Psalmisten archaischer, drastischer und unmittelbarer. Verfassernamen wie David und Mose hält man meist für spätere, fiktive Zuschreibungen. Die Psalmen wurden als Gebetsformulare gebraucht und aus theologisch-kultischen Gründen mehrfach überarbeitet, bevor man sie in den Kanon der alttestamentarischen Schriften einfügte. Die Entstehung der ersten biblischen Psalmen und der Abschluß der Sammlung reichen etwa von der Zeit des Mose bis ins 3. vorchristliche Jh. Die Texte zeigen deutliche Verwandtschaft mit Gebetstexten und religiöser Lyrik der antiken Nachbarvölker Israels. Die Juden erhoben das ,Buch der Preisungen' (Buber) zum Gebet- und Gesangbuch der Gemeinde. Das frühe Christentum übernahm Psalmverse in die Liturgie ( Liturgische Texte),

Psalm wo man sie durch besonderen Vortrag (Psalmodie) von der Prosa abhob. Aufgrund der liturgischen Bedeutung kam es zu zahllosen griechischen und lateinischen Übersetzungen, Kommentaren und Auslegungen, später auch in den Volkssprachen (Notker der Deutsche; ,Windberger Psalter', Luther). Hinzu kommen poetische Übertragungen (Mönch von Salzburg). Luther und Calvin sahen in den Psalmen angemessene Gebetsvorlagen für Christen und förderten entscheidend die volkssprachliche Umsetzung in geistliche Lieder, wobei Luther Wert auf die theologisch-exegetische Umformung legte, während der Liedpsalter der Calvinisten sich vor allem um Texttreue und poetische Qualität bemühte. Gleichzeitig mit den zahlreichen reformatorischen Paraphrasen entstanden anspruchsvolle neulateinische Nachdichtungen in klassischen Gedichtformen und rhetorischem /" Ornatus. Ihnen verwandt sind volkssprachliche Paraphrasen im Barock: verschiedene Odenformen (G. R. Weckherlin, Opitz), ,Elegien' in Alexandrinern (P. Fleming), Lieder in der Tradition des reformatorischen Chorals (P. Gerhardt) und pindarische Oden (Gryphius). Während die Paraphrasen trotz starker rhetorischer Überformung an den Bibeltext gebunden bleiben, kommt es z.B. bei Gryphius und Q. Kuhlmann (Zyklus ,Kühlpsalter', 1684— 1686) auch zu freieren Nachdichtungen. Als ,Muster der erhabenen Ode' wurden die Psalmen in der poetologischen Auseinandersetzung des 18. Jhs. angesehen und nachgedichtet (S. G. Lange, J. A. Cramer). Die Entdeckung des ,parallelismus membrorum', also des syntaktischen Gleichlaufs zwischen einzelnen Versen, eröffnete den Weg für die freirhythmischen Übertragungen von Herder und M. Mendelssohn. Von der Psalmform angeregt sind auch metrische Experimente wie Klopstocks ,Frühlingsfeyer' und Wielands ,Empfindungen eines Christen', doch fanden solche Versuche in psalmartigen, freien Gedichten zunächst kaum Nachfolger. Im 19. Jh. gibt es nur wenige Psalmdichtungen (z.B. W.Jordan, ,Psalm90', 1871, mit Anspielungen auf den deutsch-französischen Krieg). Für die Expressionisten wurde

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die freirhythmische Struktur der Psalmen ebenso relevant wie die klagenden, ausdrucksstarken Sprachgesten; u. a. finden sich Psalmgedichte bei Y. Göll, Werfel, E. Weiß und Trakl. Brechts Psalmen (ζ. T. in der ,Hauspostille') greifen die prosanahe Form auf und nutzen sie parodierend/travestierend für profane Themen. Daneben gibt es Psalmadaptationen christlicher Dichter. Im Unterschied zu ihnen zeigen Kurt Mariis Psalmen stärkere Rücksicht auf die Eigenart der hebräischen Vorbilder. Der Sprachverlust nach Auschwitz ist Thema der Psalmgedichte von H. Piontek, I. Bachmann und Th. Bernhard. In Celans ,Psalm' wird das biblische Strukturmodell aufgegriffen, um die Toten der Vernichtungslager sprechen' zu lassen. ForschG: Lange Zeit wurde die literarische Faktur der Psalmen gegenüber ihren religiösen Inhalten und Sprechhaltungen vernachlässigt. Ansatzpunkte bot die Entdekkung des ,parallelismus membrorum'. Diese Gewichtsverteilung setzte sich bis ins 20. Jh. fort. Die neuere Bibelforschung bemühte sich vor allem um ein Verständnis der Psalmen in ihrem historischen, sozialen und kultischen Umfeld. Die Germanistik hat die poetische Besonderheit der Psalmen meist übersehen und daher unter ,deutschen Psalmen' nahezu ausschließlich Übersetzungen und Nachdichtungen verstanden, ohne die vor allem im 20. Jh. entstandenen Transformationen des Texttypus wahrzunehmen, die sich mehr formal als inhaltlich an die Psalmen anlehnen. Eine Wende bedeutete erst die Anthologie von Kurz (1978). Die wenig zahlreichen Untersuchungen sind unter sozial- und religions- und literaturgeschichtlichen Aspekten vor allem den Psalmparaphrasen des 16. und 17. Jhs. gewidmet; erst neuerdings interessiert man sich auch für moderne Adaptationen. Lit: Martin Buber: Das Buch der Preisungen. Köln 1958. - Paul Gerhardt: Geistliche Andachten [...]. Berlin 1667. — Andreas Gryphius: Ternsche Reim-Gedichte. Frankfurt 1650. - Eobanus Hessus: Psalterium universum [...]. Marburg 1537. - Wilhelm Jordan: Psalm 90 [1871]. In: Epochen der deutschen Lyrik. Hg. v. Walter Killy. Bd. 8. München 21975, S. 266 f. - Friedrich Gottlieb Klopstock: Die Frühlingsfeyer. In:

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Pseudonym

Der nordische Aufseher. Hg. v. Johann Andreas Cramer. Bd. 2. Kopenhagen, Leipzig 1759, S. 3 1 1 - 3 1 6 [veränderte letzte Fassung in: F . G . K . : Oden. Hamburg 1771, S. 32-38], Quirinus Kuhlmann: Der Kühlpsalter. 4 Bde. Amsterdam 1684—1686. - Paul Konrad Kurz (Hg.): Psalmen vom Expressionismus bis zur Gegenwart. Freiburg 1978. - Moses Mendelssohn: Die Psalmen. Berlin 1783. - Martin Opitz: Die Psalmen Davids. Danzig 1637. - Christoph Martin Wieland: Empfindungen eines Christen. Zürich 1757. Inka Bach, Helmut Galle: Deutsche Psalmendichtung vom 16. bis zum 20. Jh. Berlin, New York 1989. - Laurent Cassagnau: Martin Opitz et la tradition de l'adaptation des psaumes. In: Le texte et l'idée 10 (1995), S. 6 3 - 7 9 . - KlausPeter Ewald: Engagierte Dichtung im 17. Jh. Stuttgart 1975. - Guido Fuchs: Psalmdeutung im Lied. Göttingen 1993. - Jaap Goedegebuure: Das Modell der Psalmen. In: Interpretation 2000. Hg. v. Henk de Berg. Heidelberg 1999, S. 2 6 5 278. - Gerhard Hahn: Evangelium als literarische Anweisung. München 1981. - Christian Jeremias: Psalmen in der geistlichen Dichtung. In: JbLH 38 (1999), S. 4 0 - 6 4 . - Klaus Kirchert: Grundsätzliches zur Bibelverdeutschung im Mittelalter. In: ZfdA 95 (1984), S. 6 1 - 7 8 . - Bernhard Kytzler: Moderne Psalmen. In: Bibel und Literatur. Hg. v. Jürgen Ebach und Richard Faber. München 1995, S. 157-181. - Peter H . A . Neumann (Hg.): Zur neueren Psalmenforschung. Darmstadt 1976. — Angelika Reich: Übersetzungsprinzipien in den deutschsprachigen liedhaften Gesamtpsaltern des 16. und 17. Jhs. Diss. Regensburg 1977.

Helmut Galle

Pseudandronym / Pseudonym Pseudepigraph

Fälschung

Pseudogynym S Pseudonym Pseudonym Deckname, um den Autor eines Textes zu verschleiern. Expl: Das Pseudonym ist ein künstlich gewählter Autorname, mit dessen Hilfe die wahre Verfasserschaft verhüllt wird

(/" Autor). Dies verbindet das Pseudonym mit gewollter /" Anonymität, dem gänzlichen Verzicht auf einen Autornamen. Während aber eine mündlich fundierte Literaturtradition in der Regel keine Autornamen kennt, setzt die Wahl eines Pseudonyms Autorbewußtsein und den Willen zur Tarnung voraus, der für die anonyme Publikation erst frühneuzeitlich (seit der Reformation) zwecks Schutz vor Identifikation wirksam wird. Die Bezeichnung Pseudonym löst sich z.T. aus ihrer personalen Sphäre und wird begrifflich auf Texte selbst übertragen (veraltet; dafür auch /* Camouflage). [Terminologisches Feld:] ALLONYM: Wahl eines eingeführten Autornamens als Pseudonym des eigenen: So veröffentlichte Willibald Alexis ( = Heinrich Georg Wilhelm Häring) seinen zur freien Übersetzung erklärten Roman ,Walladmor' unter dem Namen Walter Scott. KRYPTONYM: Ältere Bezeichnung für Pseudonym, die an die Praxis von Geheimschrift (/" Kryptogramm) und Verschlüsselung (/" Anagramm) anknüpft, was früh schon im ,Lalebuch' (1598) parodiert wird (,Verfassername' mit allen Buchstaben des Alphabets auf dem Titel). PSEUDANDRONYM:

Männliches

Pseud-

onym, das sich eine Autorin wählt (George Sand für Aurore Dudevant; Richard Hugo für Ricarda Huch; Georg Münk für Paula Buber). PSEUDOGYNYM: Weibliches Pseudonym, das einem Autor als Maske dient (Clara Gazul für Prosper Merimée; Charlotte Arand/Zoë ν. Rodenbach für Leopold v. Sacher-Masoch). WortG: Antik nicht belegte Nominalableitung vom griech. Adjektiv ψευδώνυμος [pseudónymos] .falsch benannt', das seinerseits auf den Substantiven ψευδός [pseúdos] ,das Unwahre' und ονυμα [ónyma] (einer Nebenform zu όνομα [ónoma]) ,Name' beruht. Das zuerst im 17. Jh. in Frankreich aufkommende Wort bleibt der gelehrten Sphäre vorbehalten und findet Eingang in fast alle europäischen Sprachen, die aber z.T. weitere eigene Bezeichnungen wie frz. nom de guerre/nom de plume entwickeln; dt. seit Ende des 18. Jhs. (Belege bei SchulzBasler 2, 722).

Pseudonym BegrG: Bei der Wahl eines Pseudonyms wird häufig die .sprechende' Bedeutung eines Namens programmatisch oder auch nur spielerisch mit z.T. gelehrter Verschlüsselung genutzt. In älterer Zeit bis zum Barock stützt dies eine allegorisch-emblematische Ausdruckspraxis. Entsprechend groß ist die Zahl von Pseudonymen im 16. und 17. Jh., als die Mehrzahl der Autoren auch oder sogar nur unter Pseudonym veröffentlicht, was zu frühen Entschlüsselungslexika führt (z.B. Placcius 1674). Dabei sind vielfach ? Anagramme der echten Namen beliebt (Chasmindo für Simon Dach, Jan Rebhu für Johann Beer), deren Entschlüsselung sich schwierig gestalten kann. Das Pseudonym fungiert hier als Maskierung, die weniger der Tarnung als der Verrätselung dient und zur Auflösung anregt. Dieser Ansatz setzt sich fort, wenn indikatorische Namen einen literarischen Diskurs durchspielen (,Der Lebendige' Georg Herwegh gegenüber dem Verstorbenen' Hermann Fürst v. Pückler-Muskau). Eine philosophische Dimension verleiht den Pseudonymen S. Kierkegaard, der sie als eigenproduktive, dichterisch ,reale' Individualitäten versteht und in ihnen eine gedachte Existenz und deren Lebensanschauung getrennt vom eigenen Ich projiziert sehen will. Dieser überhöhte Ansatz nimmt aber eine Sonderstellung ein. Wenn Arno Holz für ,Papa Hamlet' einen skandinavischen Autornamen (Bjarne P. Holmsen) nutzt und seinen Text sogar noch als Übersetzung ausgibt, so gewährt die Pseudonym-Praxis Einblicke in literatursoziologische Zusammenhänge. Vielfach sind Pseudonyme aber nur Mittel einprägsamer Signifikation, sei es, daß häufige, verwechslungsfahige Autornamen durch Annahme eines auffalligeren Pseudonyms hervorgehoben, sei es, daß Pseudonyme zu sich verselbständigenden Abbreviaturen werden (Jean Paul für Johann Paul Friedrich Richter; Nikolaus Lenau für Nikolaus Niembsch Edler von Strehlenau), was ein konsequentes Anstreben gewollter und nur schwer zu durchbrechender Anonymisierung einschließen kann (etwa B. Tra ven als Pseudonym für den lange Zeit unidentifizierten Anarchisten Ret Marut, der wahrscheinlich Otto Feige hieß; vgl. Guthke).

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SachG: Schon antike Autoren benutzen Pseudonyme, um sich vor Bloßstellung und möglicher Verfolgung zu schützen. Die Verhüllung sozialer Abkunft spielt hier noch kaum eine Rolle. Dies wird erst neuzeitlich wichtig, wenn Autorschaft nicht mit dem gesellschaftlichen Status (als Adliger oder auch als Frau) akzeptabel zur Deckung zu bringen ist. Das Pseudonym schützt zudem den noch unbekannten Autor vor gesellschaftlicher Kompromittierung (Corvinus für Wilhelm Raabe; Theophil Morren/Loris für Hugo v. Hofmannsthal). Andererseits kann auch das Vermeiden eines ästhetisch problematischen Namens zum Pseudonym führen (Albert Paris Gütersloh statt Albert Konrad Kiehtreiber). Die Tilgung von Namensspuren jüdischer Herkunft (Jakob van Hoddis für Hans Davidsohn; Emil Ludwig für Emil Cohn) gehört hierzu. Diskriminierung weiblicher Autorschaft erzwingt noch stärker als eine jüdische Herkunft die Entscheidung, unter Pseudonym zu veröffentlichen, wobei als Sonderfall die Annahme des Namens von einem selbst als Autor bekannten Gatten oder Bruder gelten kann (Dorothea Schlegel unter Friedrich Schlegel, Sophie (Tieck-) Bernhardi unter Ludwig Tieck). Ästhetischen Motiven entspringt die Entscheidung zugunsten eines ,poetischen' Pseudonyms (programmatisch im Kontext der /" Sprachgesellschaften

des 17. Jhs. mit

Namen vom Typus ,Der Gekrönte' = Martin Opitz; aber auch der Romantik: Novalis = Friedrich Leopold Freiherr v. Hardenberg; Bonaventura = Ernst August Friedrich Klingemann), die einer dichtungstheoretischen Absicht entsprechen kann. Neben pragmatischen Entscheidungen für ein Pseudonym, um etwa die gleiche Autorschaft zu pluralisieren (z. B. Kurt Tucholskys genredifferenzierende Pseudonyme Kaspar Hauser, Peter Panter, Theobald Tiger, Ignaz Wrobel) oder um die Möglichkeiten einer Nebenautorschaft zu nutzen (wie Alfred Döblin als Linke Poot, als er 1919/20 politische Zeitkommentare verfaßt), sind Pseudonyme in der Regel das Ergebnis utilitaristischer Überlegungen im Hinblick auf Wirkung oder wegen eigener Schutzinteressen. Diese spielen außer in politischen Zu-

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Psychoanalytische Literaturwissenschaft

sammenhängen vor allem in der erotischen Literatur eine wichtige Rolle. Aber auch die Trennung von wissenschaftlichem und literarischem Werk oder die Deckung einer nicht opportunen Autorschaft ζ. B. eines Offiziers können ein Grund für pseudonyme Publikation sein. Traditionell bedient sich vielfach auch der Satiriker des Pseudonyms, wobei sich möglicher Selbstschutz schon mit Gattungszwängen verbindet. Insgesamt ist die Geschichte des Pseudonyms ein produktions- wie rezeptionsästhetisch aufFächerbarer Teil der Literaturhistorie. Sie belehrt über Autorbewußtsein wie -abhängigkeiten, verweist auf Strategien der literaturgesellschaftlichen Verständigung und kennzeichnet Mechanismen von Represssion durch Staat oder Öffentlichkeit. Auktoriale Anpassungs- wie Widerstandsstrategien lassen sich an Pseudonymen ablesen. ForschG: Die Erforschung der literarischen Pseudonyme konzentriert sich traditionell auf deren Auflösung, was sich in nach Nationalliteraturen aufgefächerten Lexika und ζ. T. umfangreichen Debatten zu Einzeltexten (etwa den romantischen ,Nachtwachen' des Bonaventura') niederschlägt. Eine umfassende, methodisch vielseitig angelegte (Kultur-) Geschichte des Pseudonyms, zumal unter komparatistischen Gesichtspunkten, steht noch aus. Lit: Lars Bejerholm: .Meddelelsens Dialektik'. Studier i S0ren Kierkegaards teorier om spràk, kommunikation och pseudonymitet. Kopenhagen 1962. — Edwin Bormann: Die Kunst des Pseudonyms. Leipzig 1901. - Karl S. Guthke: B. Traven. Biographie eines Rätsels. Zürich 2 1990. - Barbara Hahn: Unter falschem Namen. Frankfurt 1991. - Leopold Hirschberg: Der Taschengoedeke [1924], München 1990, S. 5 9 9 611. - Michael Holzmann, Hans Bohatta: Deutsches Pseudonymen-Lexikon [1906], Repr. Hildesheim 1961. - HWbPh 7, Sp. 1567-1569 [u. a. zu Kierkegaard]. — Heinrich Matthes: Die Verschleierung der Verfasserschaft bei englischen Dichtungen des 18. Jhs. In: Beiträge zur Erforschung der Sprache und Kultur Englands und Nordamerikas 4 (1928), S. 33-112. - Namensschlüssel. Die Verweisung der Berliner Titeldrucke zu Pseudonymen, Doppelnamen und Namensabwandlungen. 2 Bde. [31941]. Repr. Hildesheim 1965-1968 [mit Ergänzungen]. - Vin-

cent Placcius: De scriptis et scriptoribus anonymis atque pseudonymis syntagma. Hamburg 1674. — V. P.: De scriptoribus occultis detectis tractatus duo quorum prior anonymos detectos posterior pseudonymos detectos [...] exhibet. Hamburg 1674. - V. P.: Theatrum anonymorum et pseudonymorum. Hamburg 1708. - Jost Schillemeit: Bonaventura. Der Verfasser der .Nachtwachen'. München 1973. - J. S. (Hg.): Nachtwachen von Bonaventura. Frankfurt 7 1994. - Josef A. Sint: Pseudonymität im Altertum. Innsbruck 1960. - Gerhart Söhn: Literaten hinter Masken. Berlin 1974. - Archer Taylor, Fredric J. Mosher: The bibliographical history of anonyma and pseudonyma. Chicago 1951. Wilhelm Totok u.a.: Hb. der bibliographischen Nachschlagewerke. Hg. v. Hans-Jürgen und Dagmar Kernchen. Bd. 2. Frankfurt 6 1985, S. 1 5 7 210 [umfassender Überblick auch für die übrigen europäischen Länder]. - Emil Weller: Lexicon pseudonymorum [21886]. Repr. Hildesheim 1963.

Erich Kleinschmidt

Psychoanalytische Literaturwissenschaft Untersuchung literarischer Texte, ihrer Autoren und ihrer Leser mit tiefenpsychologischen Kategorien. Expl: (1) Psychoanalytische Literaturwissenschaft konzentriert sich auf literarische Darstellungen bzw. Manifestationen psychischer Phänomene und untersucht neben den Texten selbst die mit der Produktion und Rezeption literarischer Texte verbundenen psychischen Aktivitäten. Als ihre maßgebliche Besonderheit innerhalb einer weit verstandenen /" Literaturpsychologie gilt die freudianische Grundthese, daß psychische Prozesse zum großen Teil unbewußt ablaufen, weil vor allem der Druck verinnerlichter kultureller Verbote das Bewußtwerden und die unverstellte Artikulation bestimmter (insbesondere sexueller) Bedürfnisse verhindert. Psychoanalytische Literaturwissenschaft ist vor allem durch den Anspruch und Versuch gekennzeichnet, in diesem Sinne die Anteile des Unbewußten an literarischen Kommunikationsprozessen mindestens partiell bewußt zu machen.

Psychoanalytische Literaturwissenschaft (2) Gleichwohl bezeichnet der Sammelbegriff Psychoanalytische Literaturwissenschaft eine unscharf begrenzte Teilmenge literaturpsychologischer Untersuchungen. Er hat sich weitgehend als Oberbegriff für diversifizierte psychologische Forschungsaktivitäten und Interpretationspraktiken durchgesetzt, die sich weniger den (für die verhaltensorientierte Fachpsychologie heute maßgeblichen) Standards empirischer Natur- und Sozialwissenschaften als an ? Hermeneutik¡ oder /" Semiotik orientierten Geistes- und Kulturwissenschaften verpflichtet sehen. Eine genaue begriffliche Abgrenzung der heterogenen Richtungen Psychoanalytischer Literaturwissenschaft ist nicht immer möglich, zumal die Forschungspraxis vielfach durch einen eklektischen Gebrauch von Theoremen unterschiedlicher Herkunft gekennzeichnet ist (dazu Schönau, 28). WortG: Das fachsprachliche Kompositum Psychoanalyse (wörtlich etwa,Seelenzergliederung') geht über Vorstufen wie psychische Analyse, hypnotische Analyse oder psychologische Analyse (1894: GW 1, 59-74) auf Sigmund Freud zurück (zuerst frz., dann dt., 1896: GW 1, 407-422 bzw. 373-383). Die Fachbezeichnung Psychoanalytische Literaturwissenschaft, vorgeprägt in Titeln wie .Psychoanalyse und Literaturwissenschaft' (Muschg 1930) oder .Psychoanalytical criticism of literature' (Hyman 1947), hat sich im Zuge der literaturwissenschaftlichen ,Methodendiskussion' der 1960er/ 1970er Jahre eingebürgert {/ Methodologie) und scheint 1979 erstmals selbständig als Titel eines dokumentierten Kongresses belegt zu sein (Krauss/Wolff). BegrG: Häufig synonym mit Psychoanalyse verwendet wird der von dem Schweizer Psychiater Eugen Bleuler (in ,Die Psychanalyse Freuds' [sie], 1910) geprägte, von Freud 1913 (GW 8, 398) aufgegriffene Ausdruck Tiefenpsychologie; er dient auch als Oberbegriff für die diversen von Freud abweichenden oder ihm folgenden Richtungen. Die Nähe, aber auch die Differenz zu hermeneutischen Theorien und Praktiken (/" Hermeneutik2) betont die Bezeichnung Tiefenhermeneutik, die Nähe zu jüngeren Sprachtheorien die (vorrangig auf J. Lacan

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und seine Schule rekurrierende) Bezeichnung Strukturale Psychoanalyse. Daneben konkurrieren etliche literaturpsychologische Schulen mit je eigenen Selbst- oder Fremdbezeichnungen miteinander: die auf Deutsch entwickelte, vor allem in der nordamerikanischen Literaturwissenschaft und Mythenforschung rezipierte Analytische Psychologie (C. G. Jung), die Individualpsychologie (A. Adler), die französische Schizoanalyse (Deleuze/Guattari), die sich von Freuds ,Trieb-Psychologie' abgrenzende amerikanische Ich-Psychologie (N. N. Holland) bzw. Selbst-Psychologie (H. Kohut), die Beziehungsanalyse (M. Klein) oder die Kultur-Analyse (A. Lorenzer) aus dem Umfeld der / Kritischen Theorie. SachG/ForschG: Literatur und die Beschäftigung mit ihr gehören zu den „Konstitutionsbedingungen der Psychoanalyse" (Marx/ Wild, 167). Die Geburtsstunde der Psychoanalyse war zugleich die der Psychoanalytischen Literaturwissenschaft (Lorenzer, 20): Ähnlich wie im Fall der literarisch imaginierten URSZENE (in der das Kind die Eltern beim sexuellen Akt beobachtet; vgl. Borneman) ging Freuds Beschreibung und Benennung des ödipalen Konflikts im Prozeß der Subjektwerdung (Vater-, Kern- oder ÖDIPUS-KOMPLEX, zuerst 1910: GW 8, 73) mit der Deutung und der Erklärung der Wirkung des ,König Ödipus' von Sophokles einher. Auch hatte Freud schon in den S t u dien über Hysterie' (1895) bemerkt, daß sich die Psychoanalyse selbst literarischen Darstellungsformen annähere: Die erzählten Krankengeschichten seien „wie Novellen zu lesen" (GW 1, 227). In der .Psychologischen Mittwoch-Gesellschaft', dem ersten Kreis von Schülern und Mitarbeitern Freuds (v. a. O. Rank, K. Abraham, W. Stekel, T. Reik), wurden bereits seit 1902 Vorträge über Kunst und Literatur gehalten; nach 1912 erschienen erste Literaturanalysen in ,Imago', der Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften' (vgl. Fischer). Anfangs suchten Freud und seine Schüler in ihren Auseinandersetzungen mit Literatur vor allem anschauliche Bestätigungen ihrer theoretischen Konzepte. Seine aus-

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Psychoanalytische Literaturwissenschaft

führliche Interpretation einer Novelle (,Der Wahn und die Träume in W. Jensens „Gradiva" 1907) geriet zur kleinen Einführung in den damaligen Stand der Psychoanalyse. Hier nannte der Analytiker die Dichter „wertvolle Bundesgenossen" im gemeinsamen Projekt der Erkundung des Seelenlebens. Sie seien „Vorläufer der Wissenschaft und so auch der wissenschaftlichen Psychologie" (GW 7, 33 bzw. 70). Das .intuitive' psychologische Wissen, das Autoren in ihre Texte eingeschrieben haben, dient der wissenschaftlichen Psychologie, die mit Literatur im Rahmen eines derartigen ,Kooperationsmodells' (Rutschky) umgeht, „als Heuristik, d.h. zur Aufstellung von Hypothesen" (Groeben, 15), deren Geltungsprüfung wissenschaftliche Aufgabe kontrollierter Beobachtung und begrifflichtheoretischer Präzisierung bleibt. Im Gegensatz dazu beziehen die dem ,Therapiemodeir (Rutschky) folgenden Textinterpretationen auch Informationen über den Autor mit ein; sie legen ihn gleichsam auf die Couch. Zum Paradigma für die autororientierte Textinterpretation wurde dabei schon früh das Modell der psychoanalytischen Traumdeutung. Basis dafür ist die u. a. in Freuds Schrift ,Die Dichter und das Phantasieren' (1907) beschriebene Ähnlichkeit zwischen dichterischen Phantasien (als Fortsetzung von Kinderspielen) und (Tag-) Träumen als „Korrektur der unbefriedigenden Wirklichkeit" in Form imaginierter Wunscherfüllungen, wobei die „treibenden Wünsche" sich „je nach Geschlecht, Charakter und Lebensverhältnissen der phantasierenden Persönlichkeit" unterscheiden (GW 7, 216). Die späteren Anknüpfungspunkte der /" Kulturwissenschaften und speziell der Gender studies an die Psychoanalytische Literaturwissenschaft sind hier schon vorbereitet. Auch an den zahlreichen ,Psychopathographien', in denen Künstlerbiographien als Krankengeschichten dargestellt werden, hatte die Psychoanalyse ihren Anteil, indem sie Kunstwerke als symptomatische Tagträume, Ersatz- oder Abwehrhandlungen diagnostizierte (z. B. M. Bonaparte in ihrer Poe-Studie, 1934). Weniger pathologisierend gingen jene ,Psychobiographien' vor,

die, wie K. R. Eisslers monumentale Goethe-Monographie (1963), die Entwicklung eines Künstlers tiefenpsychologisch nachzeichneten. Wichtige Beiträge leistete die autororientierte Psychoanalyse zur Theorie künstlerischer und literarischer Kreativität und zur Psychogenese von Kunstwerken (s Produktionsästhetik). Die unter dem Begriff der SUBLIMIERUNG populär gewordene These, daß kulturelle Werke sich unbefriedigten, doch produktiv umgeleiteten (,sublimierten') Triebenergien verdanken, erweiterte und differenzierte sie erheblich. Dabei lieferte sie auch Erklärungsansätze zu psychischen Funktionen literarischer Formen im Dienst u. a. des Lustgewinns oder der Angstabwehr, der strukturierenden Grenzziehung zwischen Wunsch und Wirklichkeit, der kommunikativen Kontaktaufnahme mit dem Leser (Überblick in Schönau, 1—36; vgl. Pietzcker) oder der ,narzißtischen' Übertragung von Vollkommenheitsansprüchen an die eigene Person auf das Werk — im Sinne eines ,primären' oder ,sekundären' NARZISSMUS (der frühkindlichen oder regressiven Rückbindung der Libido an die eigene Person; zum LiteraturBezug vgl. Schärer/Schärer). Das kulturanalytische Konzept Lorenzers kehrt die dem älteren Therapiemodell folgende Rollenzuweisung (Autor gleich phantasierender Patient) im Rahmen umfassenderer Interaktionsanalysen um und beschreibt die Leser als jene Teilhaber an literarischer Kommunikation, die durch Autoren und ihre Texte quasi therapeutisch verändert werden können. Die leserorientierte Psychoanalyse ergänzt also auch die literaturwissenschaftliche ? Rezeptionsforschung um eine Dimension des Unbewußten. In der Rezeption .gemeinsamer Tagträume' (Sachs) antworten die unbewußten Wünsche des Lesers auf die des Autors. Ähnlich wie beim /" Witz dient die formale Gestaltung der Überwindung von Abstoßung und zensierender Aufmerksamkeit und ermöglicht so den Genuß anstößiger Inhalte und Triebregungen. Im Gefolge der ,Analytischen Psychologie' C. G. Jungs führten demgegenüber In-

Psychoanalytische Literaturwissenschaft terpreten die Bedeutung literarischer Werke auf ein mythisches Grundmuster der Individuation (Trennung, Belastungsproben in der Fremde und gereifte Wiederkehr) oder auf einige ARCHETYPEN 2 als vorgeprägte Muster des Kollektiven Unbewußten' zurück. Die Anwendung dieser Konzeption auf die Interpretation von Literatur hat durch die einflußreichen Arbeiten Bodkins (1934 u. ö.) und Fryes (1957 u. ö.) als ,Myth Criticism' in der amerikanischen Literaturforschung sehr viel größere Anhängerschaft gefunden als in Europa (vgl. Volkmann, Simonis). Die weitere und überaus komplizierte Beziehungsgeschichte' (Marx/Wild, 166) von Psychoanalyse und Literaturwissenschaft war lange Zeit eine einseitige: Während sich die Psychoanalyse seit ihren Anfangen intensiv mit Literatur befaßte (vgl. Rutschky; zusammenfassend Schönau, 128—140) und die Literatur der Moderne seit dem Erscheinen der ,Studien über Hysterie' (Breuer/Freud, 1895) und der .Traumdeutung' (1899/1900) umgekehrt mit der Psychoanalyse (vgl. Worbs, Cremerius 1995, Anz), wurde diese in Deutschland von der akademischen Literaturwissenschaft bis Ende der 1960er Jahre weitgehend ignoriert. In der Germanistik wurde der Zusammenhang von Psychound Literaturanalyse erst im Umkreis von Studentenbewegung und Kritischer Theorie wiederentdeckt. Im Rahmen der forcierten Methoden-Debatten erschienen etwa ab 1970 die ersten tiefenpsychologischen Arbeiten (Dettmering, von Matt, Cremerius u.a. 1981 ff.). Für neuere Literatur- und Kulturtheorien (y Strukturalismus, s Gender studies, ? Dekonstruktorí) hatten neben den Schriften Freuds (und auch, vor allem in den USA, C. G. Jungs) besonders diejenigen Lacans große Anziehungskraft, die Freuds Ansatz mit strukturalistischem und sprachpsychologischem Instrumentarium reformulierten — etwa mit dem über Freuds dichterisches Phantasieren' hinausgehenden Begriff des IMAGINÄREN als dritter Stufe neben dem ,Realen' und dem Symbolischen' (dazu Horatschek; vgl. ? Fiktion, S Mentalitätsgeschichte).

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Die lange Zeit vor allem affektiv vorgetragene Kritik an der Psychoanalytischen Literaturwissenschaft (bekannt als ,Freudbashing') weicht in jüngerer Zeit einer wissenschafts-, sprach- und argumentationsanalytischen Überprüfung ihrer Praxis (Pfohlmann); die gegen Ende des 20. Jhs. generell zunehmende Kritik an der wissenschaftstheoretischen Haltbarkeit psychoanalytischer Modelle (insbesondere an ihren Strategien der Selbst-Immunisierung) hat auch ihr literaturwissenschaftliches Gegenstück nicht verschont (Überblick bei Grünbaum sowie Fricke, 56—60; Diskussion bei Birus, Wünsch u. a.). Lit: Thomas Anz (Hg.): Psychoanalyse in der modernen Literatur. Würzburg 1999. — Hendrik Birus: Psychoanalyse literarischer Werke? In: Kontroversen, alte und neue. Hg. v. Albrecht Schöne. Teilbd. 6: Für und Wider einer Psychoanalyse literarischer Werke. Tübingen 1986, S. 137-146. - Maud Bodkin: Archetypical patterns in poetry. New York 1934. - Marie Bonaparte: Edgar Poe. Eine psychoanalytische Studie. Wien 1934. — Ernest Borneman: Die Urszene. Frankfurt 1977. - Johannes Cremerius (Hg.): Psychoanalytische Textinterpretation. Hamburg 1974. — J. C. u.a. (Hg.): Freiburger literaturpsychologische Gespräche. Frankfurt 1981 — 1984, Würzburg 1985ff. - J. C.: Freud und die Dichter. Freiburg i. Br. 1995. - Gilles Deleuze, Félix Guattari: Anti-Ödipus. Frankfurt 1977. - Peter Dettmering: Psychoanalyse als Instrument der Literaturwissenschaft [1969, 1981]. Eschborn 2 1995. - Kurt R. Eissler: Goethe. Eine psychoanalytische Studie [1963]. 2 Bde. Basel, Frankfurt 1983-1985. - Jens Malte Fischer (Hg.): Psychoanalytische Literaturinterpretation. Tübingen 1980. - Sigmund Freud: Gesammelte Werke [GW], 16 Bde. London 1940-1950. - Harald Fricke: Thesen zur psychoanalytischen Literaturinterpretation. In: H. F.: Literatur und Literaturwissenschaft. Paderborn 1991, S. 56—62. Northrop Frye: Anatomy of criticism. Princeton 1957. - Sebastian Goeppert (Hg.): Perspektiven psychoanalytischer Literaturkritik. Freiburg i.Br. 1978. - Norbert Groeben: Literaturpsychologie. Stuttgart 1972. — Adolf Grünbaum: Psychoanalyse in wissenschaftstheoretischer Sicht [1984]. Konstanz 1987. — Norman Ν. Holland: Einheit Identität Text Selbst. In: Psyche 33 (1979), S. 1127-1148. - Annegreth Horatschek: ,Imaginäre, das'. In: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Hg. v. Ansgar Nünning. Stuttgart, Weimar 1998, S. 231 f. - Stanley E. Hyman: Psy-

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Publikum

choanalytical criticism of literature. In: Western Review 12 (1947/48) S. 106-115. - Carl Gustav Jung: Über die Beziehung der analytischen Psychologie zum dichterischen Kunstwerk. In: C. G. J.: Gesammelte Werke. Bd. 15. Ölten 1972, S. 75-96. - C. G. J.: Psychoanalyse und Dichtung. In: ebd., S. 97-120. - Melanie Klein: Seelische Urkonflikte. Frankfurt 1983. — Henning Krauss, Reinhold Wolff (Hg.): Psychoanalytische Literaturwissenschaft und Literatursoziologie: Akten der Sektion 17 des Romanistentages 1979 in Saarbrücken. Frankfurt u.a. 1982. - Jacques Lacan: Das Seminar über E. A. Poes ,Der entwendete Brief'. In: J. L.: Schriften. Bd. 1. Hg. v. Norbert Haas. Ölten 1973, S. 7-60. - Jean Laplanche, Jean-Bertrand Pontalis: Das Vokabular der Psychoanalyse. Frankfurt 1972. - Alfred Lorenzer (Hg.): Kultur-Analysen. Psychoanalytische Studien zur Literatur. Frankfurt 1986. Reiner Marx, Reiner Wild: Psychoanalyse und Literaturwissenschaft. In: LiLi 53/54 (1984), S. 166-193. - Peter von Matt: Literaturwissenschaft und Psychoanalyse [1972], Stuttgart 22001. — Walter Muschg: Psychoanalyse und Literaturwissenschaft [1929], Berlin 1930. - Joachim Pfeiffer: Literaturpsychologie 1945-1987. Eine systematische und annotierte Bibliographie. Würzburg 1989. - Oliver Pfohlmann: ,Eine finster drohende und lockende Nachbarmacht'? Untersuchungen zu psychoanalytischen Literaturdeutungen am Beispiel von Robert Musil. München 2002. - Carl Pietzcker: Zur Psychoanalyse der literarischen Form. In: Goeppert 1978, S. 124-157. - Otto Rank: Das Inzest-Motiv in Dichtung und Sage. Leipzig, Wien 1912. — Theodor Reik: Arthur Schnitzler als Psycholog [1913]. Frankfurt 1993. — Michael Rutschky: Lektüre der Seele. Eine historische Studie über die Psychoanalyse der Literatur. Frankfurt u. a. 1981. Hanns Sachs: Gemeinsame Tagträume. Wien 1924. - Hans-Rudolf Schärer, Peter Schärer: Literatur und Psychologie (IV): [...] Literaturwissenschaft und Narzißmustheorie. In: JbIG 25.1 (1993), S. 25-87. - Walter Schönau: Einführung in die psychoanalytische Literaturwissenschaft. Stuttgart 1991. - Annette Simonis: , Mythentheorie und -kritik'. In: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Hg. v. Ansgar Nünning. Stuttgart, Weimar 1998, S. 388-390. Wilhelm Stekel: Dichtung und Neurose. Wiesbaden 1909. - Bernd Urban (Hg.): Psychoanalyse und Literaturwissenschaft. Tübingen 1973. Laurenz Volkmann: , Archetypentheorie (archetypal criticism)'. In: Metzler Lexikon Literaturund Kulturtheorie. Hg. v. Ansgar Nünning. Stuttgart, Weimar 1998, S. 21-23. - Michael Worbs: Nervenkunst. Literatur und Psychoana-

lyse im Wien der Jahrhundertwende. Frankfurt 1988. — Marianne Wünsch: Zur Kritik der psychoanalytischen Textanalyse. In: Methoden der Textanalyse. Hg. v. Wolfgang Klein. Heidelberg 1977, S. 45-60. Thomas

Anz

Publikum Adressaten und Rezipienten von Kommunikationsakten aller Art, i. e. S. von Kunst, Musik, Literatur, insbesondere auch von Theater. Expl: Publikum bezeichnet in den Kulturwissenschaften primär einen Kreis von Individuen, die sich zum Erleben eines kulturellen Ereignisses im öffentlichen R a u m (Theater, Konzert, Kino) zusammenfinden, in einem weiteren Sinn dann auch die Gesamtheit der realen oder auch nur möglichen Teilhaber an einem kulturellen Geschehen, wobei entweder auf individuelle bzw. kollektive f Rezeption abgehoben oder allgemein eine literarische /" Öffentlichkeit gemeint wird. Das Publikum ist insofern die faktische oder wenigstens als ZIELGRUPPE imaginierte Instanz für alle Bereiche kultureller Produktion. Ursprünglich in der passiven Funktion des Zeugen aufgefaßt, wird Publikum inzwischen überwiegend als aktiver Partner der jeweiligen Kommunikationsakte angesehen. Erst im rezeptiven Akt erschließt sich das Potential kulturellen und künstlerischen Handelns voll, was eine nur an Unterhaltung interessierte Anteilnahme nicht ausschließt. Eine Sonderform ist das AUDITORIUM (,Zuhörerschaft'): gelehrter Begriff zur Bezeichnung eines in einem R a u m versammeltem Publikums, das einem Vortrag zuhört (/ Hörer) bzw. auch als ZUSCHAUER, wenn es z. B. u m medizinische Demonstrationen geht, zusieht. WortG: Das klassische Latein spezifiziert in Anlehnung an das Adjektivpublicus das Substantiv publicum als Bezeichnung f ü r ,Gebiet/Eigentum/Einkommen des Staates' und grenzt dadurch den .öffentlichen R a u m ' von dem im H a u s ab. Die mittelalterliche Ver-

Publikum wendung des lat. Wortes bezieht sich noch auf diesen Funktionsraum; was publicum ist, wird begrifflich konkretisiert, etwa als tributum, vectigal ,Steuer' oder allgemein Staatsangelegenheiten' (publica; Georges 2, 2062 f.). Das schon in der Antike verfügbare Neutrum publicum entwickelt sich bei Weitergeltung seiner ursprünglichen Bedeutungsbereiche im Mlat. zum Synonym von vulgus ,Volk', woran frühneuzeitlich die Verwendung im Sinn von Staatsbürgerschaft' (der cives .Bürger') anschließt. Der ältere Bedeutungsstrang wird im mittelalterlichen Latein weitergeführt, indem der Terminus auf den ,Fiskus' und die .öffentlichen Anlegenheiten' (publica) übertragen wird. Daraus resultiert der bis ins 18. Jh. akzeptierte Anspruch, daß publicum das sei, was in den Rechtsbereich der Herrschaft, nicht aber der Privatpersonen falle (Zedier 29, 1139). Erst durch die Übernahme des lat. Wortes in die Volkssprachen (zuerst engl, public, dann frz. public/publique, ital. pubblico, spät, nämlich zu Anfang des 18. Jhs., dt. Publikum usw.; DWb 13, 2201 f.) vollzieht sich die begriffliche Zuspitzung im heutigen Sinne zum Rezipientenkreis eines Kulturereignisses (ursprünglich des Theaters, dann auch von Musik und Kunst) und zum Synonym für institutionalisierte Öffentlichkeit'. Otto Brunner u. a. (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Bd. 4. Stuttgart 1978, S.430f. - Wilhelm Feldmann: Fremdwörter und Verdeutschungen des 18. Jhs. In: Zs. für deutsche Wortforschung 8 (1906/07), S. 4 9 - 9 9 , hier S. 90.

BegrG: Die Vorstellung einer kollektiven Instanz, an die sich Akte öffentlicher Kommunikation, speziell Kunst und Literatur, richten und die über sie urteilt, ist viel älter als der moderne Begriff des Publikums. Der raumbezogene Öffentlichkeitsbegriff der Antike setzt die Vorstellung eines vor Ort anwesenden Personenkreises voraus, der an einem Geschehen (z. B. der Liturgie, rechtlich relevanten Vorgängen, politischen Ereignissen, theatralen Aufführungen) teilhat. Dieser Publikumsbegriff ersetzt erst im 18. Jh. die ältere Wortbedeutung ,Einrichtungen des Staates' oder selbst,Staatsvolk'. Nach 1700 neigt sich die Verwendung klar

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zur personalen Seite, wobei die Vorstellung eines allgemeinen Kollektivs im Sinne von .Gemeinde' oder sogar .Einwohnerschaft (einer Stadt/eines Landes)' zunehmend auf die spezifische Bedeutung ,Theater-/Lesepublikum' konzentriert wird. Die dadurch erfaßte neue Schicht eines gebildeten Bürgertums, das sich bewußt der traditionellen Ständeordnung entzieht, entwickelt für ihre Bedürfnisse ein Netz öffentlicher ? Institutionen (Konzert, Zeitung, Bibliothek, Theater, Ausstellung usw.), die fortan der Bezugs- und Entfaltungsraum von .Publikum' sind. Aus dem konkreten, an unterschiedliche Rezeptionsbereiche und -formen angebundenen Publikums-Begriff, der bis heute präsent geblieben ist, spaltet sich nach und nach ein abstrakter ab, der weitgehend synonym mit der ihn schließlich im 20. Jh. ersetzenden .Öffentlichkeit' wird. War .Publikum' zunächst fast nur auf eine Zeugenfunktion kulturellen Geschehens beschränkt, so entdeckt schon das 17./ 18. Jh. seinen Partner-, wenn nicht sogar Richterrang. Dem Publikum wird die Qualität eines Subjekts zugeschrieben, das — in der Formulierung Kants — dazu fähig ist, daß es „sich selbst aufkläre" (Kant, 36), um fortan zumindest dem Anspruch nach ,mündig' sein zu können. Schon die Klassiker um 1800 standen diesem Anspruch skeptisch gegenüber, und aktive Vereinnahmungen wie Geringschätzung des Publikums wechseln sich bis ins 19. und 20. Jh. je nach literarischer Richtung ab. Dabei überlagert sich ein am Einzelleser orientierter Publikums-Begriff mit kollektiv ausgerichteten Vorstellungen, die vor allem von politischen Literaturkonzepten, sei es im Vormärz wie in der Weimarer Republik, der D D R oder in den westdeutschen 1960er Jahren, induziert wurden. Die begriffliche Fassung von ,Publikum' orientiert sich an wechselnden Konzepten von .Öffentlichkeit'. Immanuel Kant: Gesammelte Schriften. Hg. v. der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften. Bd. 8. Berlin 1912.

SachG: Über das kulturelle Publikum der Antike sind kaum allgemeine Aussagen möglich, da es zwischen kleinen Rezeptions-

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Publikum

zirkeln und nahezu stadtgemeindlicher Teilnahme (im griechisch-römischen Drama) viele Ausformungen aufweist, die auch religiöse Kultbereiche mit variabler Öffentlichkeit bei einer z.T. komplexen Verschränkung von Akteuren und Zuschauern einschließt. Die römische Kaiserzeit fügt dem Theater-Publikum das an Rennen und Spektakeln interessierte Circus-Publikum hinzu. Nach dem durch die Völkerwanderung bedingten Zivilisationsbruch vollzieht sich die mittelalterliche Geschichte des Publikums zunächst im Rahmen der kulturfähigen Institutionen Hof und Kirche, zu denen erst im Spätmittelalter wieder die Städte und ihre Bildungseinrichtungen hinzutreten. Eine ständische Struktur prägt das kleinteilige Bild des mittelalterlichen Publikums, wobei im wesentlichen auf Abgrenzung und nicht auf Integration gesetzt wurde. Charakteristisch dafür sind neben den höfischen Zirkeln auch die Tendenzen in den Städten, eine sich abschließende Kulturpraxis zu entwickeln, deren bekannteste Organisationsform der ^ Meistergesang ist. Ansätze zu einer sich gesellschaftlich öffnenden Publikumsform existieren für das Geistliche Spiel, das f Fastnachtspiel oder das Bürgerdrama des Reformationszeitalters (/" Reformationsdrama). Doch werden mit den Anfangen eines literarischen Marktes im Spätmittelalter — noch vor der Erfindung des Buchdrucks — ständische oder institutionelle Schranken zwischen abgrenzbaren Kommunikationsgemeinschaften immer stärker eingeebnet. Während mit dem Buchdruck (s Druck) und den ihm entsprechenden Formen der Distribution das Publikum literarischer Kommunikation prinzipiell offen ist (wenn auch faktisch begrenzt vor allem durch ökonomische und bildungsmäßige Voraussetzungen), lassen sich Verschiebungen in der Zusammensetzung des Publikums am besten am Beispiel des nachmittelalterlichen Theaters verdeutlichen. Das frühneuzeitlich sich entwickelnde / Schultheater bleibt ebenso wie das höfische Theater schon aus Raumgründen eher exklusiv. Erst die Gegenreformation drängt auf den öffentlichen, propagandistischen Repräsentationsakt, der einen breite-

ren, wenn auch regulierten Zutritt einfordert. Je nach Aufführungsort differenziert sich das Publikum der qualitativ sehr unterschiedlichen Wanderbühnen des ausgehenden 16. und 17. Jhs., die Bedürfnisse eines höfischen Publikums ebenso befriedigen wie Unterhaltungsforderungen des ländlichen Lebensraumes im Rahmen von Marktspielen. Gesellige Formen der Wahrnehmung kultureller Ereignisse, wie sie sich von Italien, Frankreich und England im 16./17. Jh. ausgehend in Europa ausbreiten, führen zur Entwicklung eines Publikums, das nicht mehr durch spezifische Zulassungsschranken begrenzt ist, sondern das sich nach eigener Entscheidung der beteiligten Individuen anlaßbezogen zusammenfindet, wobei die Kommerzialisierung des Zugangs zu Theater und Konzert (mit relativer Ausschlußwirkung) ziemlich früh einsetzt, wenn sie auch erst im 19. Jh. technisch voll entwikkelt ist. Der Publikums-Charakter wird wesentlich geprägt durch neu entstehende Aufführungsräume mit einer sozialen Gliederung nach Parkett und abgestuften Logenbzw. Emporenrängen. Der entsprechende Bautypus gehört zunächst dem Hofbereich zu, wird dann aber vom städtischen Theaterbau bis ins 20. Jh. hinein übernommen; jedoch bilden sich aus ästhetischen Erfordernissen wie aus sozialen Entwicklungen auch nicht-hierarchisch strukturierte Spielstätten (unter Einschluß von s Straßenthea?er/-kunst/-musik) heraus (y Bühne, Bühnenform). Sie tragen ebenso wie die neuen Medien Kino, Radio und Fernsehen (mit zeitlich und räumlich getrenntem, .dispersen' Publikum) zu einer eingeebneten Publikums-Struktur bei, deren egalitärer Charakter zwar postuliert wird, aber deshalb nicht unbedingt realisiert ist. Bei den übrigen literarischen Gattungen ist seit der Frühen Neuzeit zunehmend mit einem solch dispersen Publikum zu rechnen, das durch den Buchdruck (oder andere Medien) versammelt wird, von kleinen Liebhaberzirkeln bis zu den Adressaten der Massenkommunikation. Moderne empirische Erhebungsmethoden haben die komplexe Zusammensetzung jeweiliger Rezipientenkreise durchsichtig gemacht, was deren Ansprech-

Publikum barkeit (etwa für Werbung, aber auch für Literatur) weitgehend vorherzusehen erlaubt. ForschG: Seit dem 19. Jh. wird Publikumsgeschichte als Bestandteil bürgerlicher Selbstdarstellung untersucht und unter dem Gesichtspunkt des Literarischen Lebens exemplarisch rekonstruiert. Im Zentrum standen vor allem die Weimarer Klassik, die Sturm- und Drang-Bewegung, die Romantik und der Vormärz, wobei das Interesse zunächst auf Literatur, Kunst, Musik und Theater selbst beschränkt blieb. Ernsthaftere Versuche, eine ^ Sozialgeschichte des Publikums zu schreiben, setzen Impulse der Soziologie voraus und führen in den 1920er Jahren zu ersten zaghaften Versuchen einer eher empirisch orientierten Forschung, wobei es mehr um reine Leser(innen)forschung (etwa für den Roman) und Daten zum Theaterpublikum ging (/" Literatursoziologie·, vgl. zusammenfassend Jäger). Seit den 1930er Jahren wurden die Ansätze von völkischen Fragestellungen überlagert und abgelenkt (insbesondere in der nationalsozialistischen Volkskunde), oder sie wurden von dem vorherrschenden geistesgeschichtlichen, am Autor-Werk-Verhältnis interessierten Paradigma blockiert. Nach dem 2. Weltkrieg bedurfte es des wissenschaftlichen Anstoßes durch soziologische Fragestellungen in der Literaturwissenschaft nach 1968, um eine neue Publikums-Erforschung zu initiieren, die zum einen bildungssoziologisch orientiert war, zum anderen emanzipatorisch-aufklärerische Zielsetzungen verfolgte. Die literaturwissenschaftliche Theoriebildung führte über das Paradigma der /" Rezeptionsästhetik zu einem tieferen Verständnis der Rolle des Publikums schon bei der Produktion und erst recht bei der verstehenden Wahrnehmung von Literatur, Kunst und Musik. Mentalitätsgeschichtliche Aspekte blieben demgegenüber bis heute eher randständig. Aber auch Anregungen des s New Historicism oder auch der Diskursanalyse (s Diskurstheorie) sind für die Publikums-Erforschung noch kaum genutzt. Eine differenzierte, methodisch eigenwertige Sozialgeschichte des Publikums fehlt in Deutsch-

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land sowohl als Gesamtüberblick wie — trotz gelungener Ausnahmen — für wichtige epochale wie gattungsbezogene und literaturinstitutionelle Teilbereiche. Lit: Richard D. Altick: The English common reader. Chicago 1957. - Erich Auerbach: Das französische Publikum des 17. Jhs. München 1933. - Ε. Α.: Literatursprache und Publikum in der lateinischen Spätantike und im Mittelalter. Bern 1958. - Patrick Barwise, Andrew Ehrenberg (Hg.): Television and its audience. London 1988. - Susan Bennett: Theatre audiences. London 1990. - Urs Bircher: Theaterform und Gesellschaftsform. Berlin 1979. - Herbert Blau: The audience. Baltimore 1990. - E. W. Brody: Communication tomorrow: New audiences, new technologies, new media. New York 1990. - Otto Dann (Hg.): Lesegesellschaften und bürgerliche Emanzipation. München 1981. - Rolf Engelsing: Der Bürger als Leser. Stuttgart 1974. — Werner Fechter: Das Publikum der mittelhochdeutschen Dichtung [1935], Repr. Darmstadt 1966. - Patrice Flichy: Tele. Geschichte der modernen Kommunikation [1991]. Frankfurt u. a. 1994. Heide Gerstenberger (Hg.): Schöne Künste und ihr Publikum im 18. und 19. Jh. [Katalog]. Bremen 1987. - Paul Goetsch (Hg.): Lesen und Schreiben im 17. und 18. Jh. Tübingen 1994. Gunter Grimm: Rezeptionsgeschichte. München 1977. — Klaus-Henning Hansen: Leseverhalten und soziale Struktur. Hamburg 1974. - Georg Jäger: Historische Lese(r)forschung. In: Die Erforschung der Buch- und Bibliotheksgeschichte in Deutschland. Hg. v. Werner Arnold u. a. Wiesbaden 1987, S. 485-507. - Henrike Junge (Hg.): Avantgarde und Publikum. Köln 1992. - RainerMaria Kiel: Die deutsche Klassik und ihr Publikum. München 1977. - Helmuth Kiesel, Paul Münch: Gesellschaft und Literatur im 18. Jh. München 1977. - Heinz Kindermann: Das Theaterpublikum der Antike. Salzburg 1979. — Η. K : Das Theaterpublikum des Mittelalters. Salzburg 1980. - Volker Klotz: Dramaturgie des Publikums. München 1976. - Martin Löffler: Das Publikum. München 1969. Jürgen Miethke (Hg.): Das Publikum politischer Theorie im 14. Jh. München 1992. - Wulf Rueskamp: Dramaturgie ohne Publikum. Köln 1984. Manfred Günter Scholz: Zum Verhältnis von Mäzen, Autor und Publikum im 14. und 15. Jh. Darmstadt 1987. - Erich Schön: Der Verlust der Sinnlichkeit oder die Verwandlungen des Lesers. Stuttgart 1987. — Marianne Spiegel: Der Roman und sein Publikum im früheren 18. Jh. 17001767. Bonn 1967. - Rainer Warning (Hg.): Rezeptionsästhetik. München 1975. - Lutz Winck-

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Pupi

1er: Autor, Markt, Publikum. Berlin 1986. Reinhard Wittmann: Buchmarkt und Lektüre im 18. und 19. Jh. Tübingen 1982.

Erich Kleinschmidt

Publizistik

Journalismus

Puppenspiel Performativer Vorgang, der sich als Animationsprozeß zwischen Darstellern und Darstellungsmitteln (Puppen, Gegenständen oder sonstigem Material) vollzieht. Expl: Puppenspiele haben sich sich in vielen Kulturen der Welt in unterschiedlichen Kontexten (religiöses ? Ritual, Brauchtum, Schaugewerbe, ? Theater) und in unterschiedlicher Gestalt ausgeprägt. (1) Im engeren Sinne begreift man in neuerer Zeit ,Puppenspiel' als Gattung der darstellenden Kunst (s Theater), die sich im Unterschied zum Schauspiel (s Drama) durch die Differenzierung/Trennung zwischen dem Körper des Darstellers und den Mitteln der Darstellung konstituiert. Das Spektrum der Darstellungsmittel reicht von Automaten über Puppen zu Gegenständen oder unbehandeltem Material. Häufig realisiert sich das Puppentheater (auch: Figurentheater) als Animationsvorgang, wobei der Darsteller (Puppenspieler) die Darstellungsmittel (Puppen) bewegt und ihnen seine Stimme leiht. In jüngerer Zeit wird zunehmend die Eigenwertigkeit des Spielmaterials hervorgehoben und die Relation von Darsteller und Darstellungsmittel thematisiert. Die wichtigsten Erscheinungsformen sind: Handpuppentheater mit von unten geführten, über die Hand gestreiften Puppen, MARIONETTENTHEATER mit von oben mittels Drähten oder Fäden bewegten Puppen, Stock- oder Stabpuppentheater mit von unten an einem oder mehreren Stäben geführten Puppen, Objekttheater/Materialtheater mit geformten oder ungeformten Gegenständen aus dem Alltag; eine Sonderform mit eigenen Traditionen ist das ? Schattenspiel.

Irreführend wird alltagssprachlich KASgelegentlich synonym mit Puppenspiel gebraucht. Das Wort bezeichnet eine über ein Handlungsgerüst improvisierte Spielform, in deren Zentrum die Rolle der lustigen Figur ,Kasper(l)' steht. Geprägt wurde sie von dem Wiener Schauspieler Johann La Roche 1764, der ihre Eigenschaften vom Hanswurst übernommen hat (y Komische Person). (2) Puppenspiel bezeichnet ein dramatisches Genre: Texte, die für die Aufführung auf dem Puppentheater, dabei auch als Parodien auf das Schauspieltheater verfaßt wurden. PERLTHEATER

WortG: Wortgeschichtlich geht der Ausdruck zurück auf lat. pupa .Mädchen', ,Spielpuppe',,Larve', woraus das mhd.pope, poppe, boppe entsteht (Kluge-Seebold23, 655 f.; DWb 13, 2244-2246; vgl. auch Storms Erzählung ,Pole Poppenspäler'). Erstmals findet sich Puppenspiel in Wenkers Chronik von 1510 (Purschke 1979, 47). Langsam verdrängt es die bis dahin gebräuchliche Bezeichnung tockenspil von mhd. tocke oder docke. Bereits im 13. Jh. war tocke sowohl zur Bezeichnung einer Spielzeugpuppe gebräuchlich als auch für Puppen, die zu Aufführungszwecken verwendet wurden (BMZ 3, 45). Etwa gleichzeitig findet sich auch die Verwendung in übertragener Bedeutung: „als der tokken spilt der Walch mit Tiutschen vürsten" (von der Hagen, 361). Noch bis ins 17. Jh. halten sich neben dem Begriff Puppenspiel eine Vielzahl von anderen Namen: Kunzenjagen im Süddt. und Heinzelspiel bei den Jesuiten für das ,Handpuppenspiel', ferner Pokelspiel und Pimperle (Purschke 1979, 35-47). Seit dem 19. Jh. verengt sich Puppenspiel zunehmend zum Gattungsbegriff (1) der darstellenden Künste, (2) der dramatischen Literatur. Friedrich Heinrich von der Hagen (Hg.): Minnesinger. Bd. 2. Leipzig 1838.

BegrG: Vom Mittelalter bis zur Mitte des 18. Jhs. fehlt eine einheitliche Terminologie für die Theaterform (Taube, 110). Erst dann setzen sich, synonym verwendet, Ρuppenspiel und Marionettenspiel für alle Formen durch (vgl. Adelung und Campe, s. v. ,Pup-

Puppenspiel penspiel'). In Deutschland bezeichnet Marionettenspiel erst seit ca. 1800 die mit an Fäden oder Drähten bewegten Puppen aufgeführten Spiele als Untergattung des Oberbegriffs ,Puppenspiel'. Die begriffliche Entwicklung reflektiert seit dem 17. Jh. die Einbindung des Puppenspiels in die Aktivitäten der Komödianten und verweist auf das ,nachbarschaftliche' Verhältnis von ,Puppenspiel' und ,Schauspiel'. ,Puppenspiel' wird in Abhängigkeit vom Schauspiel und als dessen verkleinerte „Nachahmung" (Krug 1833, 385) verstanden (Taube, 107 — 113). Anders verläuft die Entwicklung des Begriffs in der Literatur zwischen Aufklärung und Romantik. Zu unterscheiden sind hier (1) die topischen Differenzierungen des Begriffs ,Marionette' zur Angabe eines deterministischen oder ambivalenten Abhängigkeitsverhältnisses, (2) die Ausarbeitung des Puppenspiels vornehmlich in seiner Erscheinungsform als Marionettentheater zum Modell für Theater (ζ. B. bei Kleist, Hoffmann), (3) die Rezeption des zeitgenössischen Puppenspiels als Reservoir des deutschen Volksdramas, das es festzuhalten und fortzuschreiben gilt (ζ. B. bei Tieck, Kerner; vgl. Drux; Taube, 115—126). Damit wird ,Puppenspiel' auch zum literarischen Gattungsbegriff erweitert. Zu Beginn des 20. Jhs. bildet sich eine Begriffsopposition von künstlerischem Puppenspiel' und volkstümlichem Puppenspiel', wobei ersteres an die Theaterreformbewegung um 1900 anschließt. Die Bestimmungsversuche des Puppenspiels als darstellende Kunst setzen sich in den 1960er Jahren in der Prägung des Begriffs Figurentheater (erstmals als Zeitschriftentitel ,Das Figurentheater', 1963) fort. Wilhelm Traugott Krug: Allgemeines Handwb. der philosphischen Wissenschaften nebst ihrer Literatur und Geschichte. Bd. 3. Leipzig 21833.

SachG: Im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit war das Puppenspiel Teil der Tätigkeiten von Spielleuten und auf Festen in Dörfern, Städten und an den Höfen präsent. Die spärlichen Belege lassen aber keine verläßlichen Angaben über Art und Inhalt der Spiele zu (Purschke 1984, 18-31;

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Taube, 80—85). Gegenüber den Quellen ist Vorsicht angebracht: Das Vorkommen eines entsprechenden Begriffs sagt noch nichts über die historische Spielpraxis aus. Etwa aus der Mitte des 17. Jhs. stammen die ältesten Berichte über Marionettenspiel in Europa (Purschke 1984, 38). Im 17. Jh. bilden sich in Deutschland das Berufsschauspielertum und die Betriebsform der Wanderbühne mit Ensemble und Repertoire nach dem Vorbild der .Englischen Komödianten' aus. Bis etwa in die Mitte des 18. Jhs. werden Schauspiel und Puppenspiel (meist mit Marionetten) von den Akteuren oft parallel ausgeübt. Seit Mitte des 18. Jhs. werden die ersten stehenden Theater in der Obhut der Landesherren errichtet. Im Zuge dieser Entwicklung wird das Schauspiel als Kunst institutionalisiert und legitimiert, während das Puppenspiel Teil des (mitunter illegitimen) Wandergewerbes bleibt. An der Schwelle zum 19. Jh. bildet sich eine neue Trägerschaft heraus. Die Komödiantendynastien werden abgelöst von arbeitslosen Handwerkern, die zunächst vornehmlich aus Textilberufen stammen. Damit einher geht (1) eine Einschränkung der Reisetätigkeit auf bestimmte Regionen, (2) die Ablösung des Prinzipalsystems mit Ensemble durch Familienbetriebe, (3) die Spezialisierung der Betreiber auf das Puppenspiel und die Einschränkung anderer Aktivitäten. Regionale Puppenspieltraditionen bilden sich aus (Taube, 85-103). Parallel dazu bemühen sich Schriftsteller und Dichter seit Beginn des 19. Jhs. (vgl. etwa Simrocks Rekonstruktion des Puppenspiels vom ,Doctor Johannes Faust', 1846) fortlaufend um die Literarisierung eines vornehmlich aus dem Stegreif improvisierten (/ Improvisation) bzw. mündlich überlieferten Textbestandes. Im Kontext der Theaterreformbewegung um 1900 wird das Puppenspiel zu einem fruchtbaren Experimentierfeld und erstmals als Kunstform konzipiert. Künstler unterschiedlicher Herkunft setzen sich mit dem Puppenspiel auseinander und lokalisieren es zwischen alternativem nicht-naturalistischen Schauspielermodell (ζ. B. die Über-Marionette E. G. Craigs) und der Idee eines Ge-

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Puppenspiel

samtkunstwerks aus bildender und darstellender Kunst (ζ. B. bei Oskar Schlemmer). Die Geschichte des Puppenspiels im 20. Jh. ist geprägt von Traditionsbrüchen. Im Hinblick auf die ästhetische Entwicklung sind (1) das Aufbrechen des Guckkastens seit den 1960er Jahren und die Integration des Spielers in die visuelle und dramaturgische Konzeption der Inszenierung sowie (2) der Bruch mit anthropomorphen Nachahmungskonzepten und die Entstehung des ,Objekttheaters' hervorzuheben. Das ,Objekt' ist hier - von seiner Zweckbestimmung gelöst — eigenständiger Partner des Akteurs. Etwa seit Anfang der 1980er lahre hat sich diese Form - von Frankreich ausgehend — ausgebildet. Ausgangs des 20. Jhs. sind Puppenspieler meistens spezialisierte Darsteller (auch aus verschiedenen Kunstsparten), die entweder ils Freischaffende oder im Zusammenhang ;ines Ensembles an einem stehenden Theater arbeiten. Im Zuge der medialen Entwicklung entstanden Puppenfilme und TVAdaptationen von Puppenspielen ( p u p pets-Show', ,Augsburger Puppenkiste'). ForschG: Die erste historische Darstellung i/erfaßte 1852 Magnin unter literaturgeschichtlicher Perspektive. Um 1900 wurde in den Altertumswissenschaften die Herkunft des Puppenspiels - aus Indien (Pischel) oder aus Griechenland (Reich)? — diskutiert; ein Problem, das mit Purschkes '1979) Hinweis auf die unterschiedlichen Wanderungsbewegungen obsolet wurde. Für eine stärkere Berücksichtigung der historischen Kontexte tritt in jüngerer Zeit Taube ein. Im Rahmen der Germanistik stand zulächst das Sammeln von Belegen im Vordergrund (Flögel), wobei die Auffassung vom Puppenspiel als „literarhistorische^] Erscheinung" (Leibrecht, 1) dominierte. Eine wichtige Aufgabe war die Rekonstruktion and Edition der mündlich überlieferten Spieltexte, wobei ein besonderes AugenTierk dem ,Puppenspiel vom Doctor Faust' Xübke) galt. In jüngerer Zeit hat die Beschäftigung mit dem diesbezüglichen MetaDhernkomplex (Drux) Bedeutung gewonlen.

In der Volkskunde kam die Erforschung der soziologischen Aspekte und der Kommunikationsstrukturen der Aufführungssituation hinzu (Rabe, Naumann). Arbeiten des ,Prager Zirkels' (um 1920-1940) bemühten sich um die Grundlegung einer Theorie des Puppenspiels auf der Basis der / Semiotik (Bogatyrev, Veltrusky). Im Zusammenhang der /" Theaterwissenschaft wurde das Puppenspiel zunächst als Erscheinungsform des ,Mimus' (Kutscher, Messen) thematisiert. Arbeiten, die das Puppenspiel in erster Linie als ästhetisches Phänomen beschreiben (Buschmeyer), tendieren zu ahistorischer Argumentation. Unter zeichentheoretischen (Kavrakova-Lorenz, Jurkowski) und wirkungsästhetischen (Knoedgen, Tillis) Aspekten bildete sich ein Theoriediskurs aus, der die Funktion des Darstellers im Verhältnis zu den Darstellungsmitteln, den komplexen Signifikationsprozeß und damit einhergehende Fragen nach der dynamischen Materialität der theatralischen Zeichen ins Blickfeld der Forschung rückt. Lit: Petr Bogatyrev: The interconnection of two similar semiotic systems: The puppet theater and the theater of living actors. In: Semiotica 47 (1983), Sonderh.: Puppets, masks, and performing objects from semiotic perspectives, S. 47— 68. — Silvia Brendenal (Hg.): Animation fremder Körper. Berlin 2000. - Lothar Buschmeyer: Die Kunst des Puppenspiels. Erfurt 1931. - Rudolf Drux: Marionette Mensch. München 1986. Carl Friedrich Flögel: Geschichte des Groteskekomischen. Leipzig 1788. — Annie Gilles: Images de la marionnette dans la littérature. Nancy 1993. - Henryk Jurkowski: Aspects of puppet theatre. London 1988. — H. J.: Ecrivains et marionnettes. Charleville-Mézières 1991. - H. J.: A history of European puppetry. 2 Bde. Lewiston 1996, 1998. — H. J.: Métamorphoses. La marionnette au XX e siècle. Charleville-Mézières 2000. - Konstanza Kavrakova-Lorenz: Das Puppenspiel als synergetische Kunstform. Diss. Berlin 1986. - Werner Knoedgen: Das unmögliche Theater. Zur Phänomenologie des Figurentheaters. Stuttgart 1990. Artur Kutscher: Grundriß der Theaterwissenschaft. München 21949. - Philipp Leibrecht: Zeugnisse und Nachweise zur Geschichte des Puppenspiels in Deutschland. Leipzig 1919. Hermann Lübke: Die Berliner Fassung des Puppenspiels vom Doctor Faust. In: ZfdA 31 (1887), S. 105—171. - Charles Magnin: Histoire des ma-

Puppenspiel rionnettes en Europe. Paris 1852. - John McCormick u. a.: Popular puppet theatre in Europe 1800-1914. Cambridge 2000. - Hans Naumann: Volksbuch und Puppenspiel. In: Η. Ν.: Grundzüge der deutschen Volkskunde. Leipzig 2 1929, S. 103-114. - Carl Niessen: Das Volksschauspiel und Puppenspiel. In: Hb. der deutschen Volkskunde. Hg. v. Wilhelm Peßler. Bd. 2. Potsdam 1938, S. 429-487. - Richard Pischel: Die Heimat des Puppenspiels. Halle 1900. — Hans R. Purschke: Die Anfänge der Puppenspielformen und ihre vermutlichen Ursprünge. Bochum 1979. - H. R. P: Die Entwicklung des Puppenspiels in den klassischen Ursprungsländern Europas. Frankfurt 1984. - Johannes Emil Rabe: Kasper Putschenelle. Historisches über die

201

Handpuppen und althamburgische Kasperszenen. Hamburg 1912. - Hermann Reich: Der Mimus. Berlin 1903. - Sabine Scholze: Puppen im Film. Dresden 1997. - Wolfgang Stellmacher: Goethes ,Puppenspiel'. Frankfurt u.a. 2001. Steve Tillis: Toward an aesthetics of the puppet. Puppetry as a theatrical art. New York 1992. Gerd Taube: Puppenspiel als kulturhistorisches Phänomen. Tübingen 1995. - Jiri Veltrusky: Puppetry and acting. In: Semiotica 47 (1983), Sonderh.: Puppets, masks, and performing objects from semiotic perspectives, S. 69—122. — Manfred Wegner (Hg.): Die Spiele der Puppe. Köln 1989. Christoph

Lepschy

Q Quaestio

Disputatio

Quantität /" Prosodie Quartett ? Sonett Quasîda

Ghasel

Quasi-Norm ^ Norm

Quellex Materialien, die einer Wissenschaft als Ausgangspunkt der Forschung dienen; in der Literaturwissenschaft: die literarischen Texte und die mit ihnen in Verbindung stehenden mündlichen, schriftlichen oder gegenständlichen Überlieferungen. Expl: ,Quelle^ umfaßt in der Literaturwissenschaft (1) alle mündlichen, schriftlichen, bildlichen oder auch elektronisch gespeicherten Zeugnisse, die mit einem literarischen Werk und seiner Entstehung, Verbreitung (y Distribution), s Überlieferung und s Rezeption in Verbindung stehen und zu seiner Erklärung (s Interpretation) herangezogen werden; (2) bei Fragestellungen im Horizont von /" Kulturwissenschaft, / Mentalitätsgeschichte oder s Wissenschaftsgeschichte2 auch das literarische Werk selbst. Die Bestimmung dessen, was ,Quelle' sei, ist im konkreten Fall abhängig von Fragestellung und theoretischen Prämissen. Als ,Quellen' im Sinne von (1) kommen in Frage: (a) Lebens- und Zeitzeugnisse wie ? Autobiographie, s Biographie¡, f Brief, /" Interview, S Tagebuch, /" Nachlaß, ? Reportage, Archivalien (y Literaturarchiv); (b) s Paratexte wie Vorrede, ? Vorwort, Geleitdichtungen, Nachwort, ? Motto2,

? Kommentar2; (c) Bildmaterial wie Porträts, Photographien, Filme; (d) die materielle Beschaffenheit der Werke (s Beschreibstoff, / Buch, S Codex, s Rotulus), ihre Ausstattung (y Buchmalerei, ? Illustration, Einband); (e) Rezeptionszeugnisse wie Rezension2, ? Literaturpreis, ? ZensurDokumente. (f) Innerhalb der Editionswissenschaft werden die der Konstituierung des Textes zugrundeliegenden Materialien im Sinne von Quelle¡ gewertet und behandelt. WortG: Quelle, spätmhd. quelle (DWb 13, 2342), aus ahd. quellan, mhd. quellen, scheint zur Bezeichnung dessen, was zum Ursprung einer Sache führt oder diesen darstellt, erst seit dem ausgehenden 18. Jh. nachgewiesen zu sein (DWb 13, 2344 f.). Es übernimmt die metonymische Bedeutung von griech. πηγή [pegé] ,Quelle' (Stephanus/v. Sinner 6, 1033 f.) bzw. von lat. fans .Quelle' (,Thesaurus linguae latinae' 6/1, 1025), wie sie bereits in der Antike ausgebildet ist (Xenophon, Cicero). Sie ist ebenfalls biblisch-alttestamentlich vorgegeben (Jons vitae; Ps 35,10 u. ö.) bzw. vorwiegend in christlicher-religiöser Dichtung verbreitet (in der Doppelformel fons et origo; Baxter; ,Thesaurus linguae latinae' 9, 990). Als Fachterminus ist Quelle ab etwa 1800 belegt, so etwa bei Schiller: „Armut an Quellen" (DWb 13, 2344 f.), entsprechend auch in Komposita: Quellenforscher, Quellenkunde, Quellenschrift, Quellenschriftsteller, Quellenstudium (ebd., 2349 f.); Geschichtsquelle (DWb 5,3870). Thesaurus graecae linguae. Bearbeitet v. Henricus Stephanus [Henri Estienne], hg. v. Gabriel Rudolf Ludwig v. Sinner u. a. 8 Bde. Paris 1831 1865.

BegrG: Quelle etabliert sich als fachsprachlicher Begriff in den ersten Jahrzehnten des 19. Jhs. im Zusammenhang der Begründung

Quelle2 der Geschichtswissenschaft. Sammlungen von historischen Zeugnissen werden als,Geschichtsquellen' publiziert (ζ. B. .Geschichtsquellen der Provinz Sachsen', 1870 ff.). Durch Dahlmann ist der Begriff Quellenkunde 1830 eingeführt worden (DWb 13, 2350; vgl. Dahlmann-Waitz: .Quellenkunde der deutschen Geschichte'). In diesen Zusammenhang gehört auch die an den Sprachgebrauch der Humanisten {ad fontes) anschließende entsprechende Verwendung von lat. fons, in der Regel im Plural fontes, zur Bezeichnung für die (historische) Quelle: Die .Monumenta Germaniae Histórica' wurden ab 1826 herausgegeben von der ,Societas Aperiendis Fontibus Rerum Germanicarum Medii Aevi' (.Gesellschaft zur Erschließung der Quellen der deutschen Geschichte des Mittelalters'). Auch spätere Quellensammlungen verwenden die entsprechende lateinische Bezeichnung, so etwa: ,Fontes Rerum Austriacarum', 1855 ff., .Fontes Rerum Bohemicarum', 1871 ff. ForschG: Nicht nur die Verwendung des Begriffs ,Quelle', sondern auch die Methodik der Quellenanalyse sind seit dem 19. Jh. maßgeblich von der Geschichtswissenschaft geprägt worden. Die Geschichtsforschung hat sogar bereits im 19. Jh. als eigene quellenkundliche Disziplin die Historischen Hilfswissenschaften hervorgebracht, die grundlagenorientierte und auch philologisch bedeutsame Spezialdisziplinen umfassen wie ^ Paläographie und s HandschrifíeM-Kunde, ^ Epigraphik, Diplomatik (Urkundenlehre), Sphragistik (Siegelkunde), Heraldik und Numismatik (Quirin; umfassender: Goetz). Lit: James H. Baxter: Fons et origo. In: Archivum Latinitatis Medii Aevi 4 (1928), S. 79 und 156. - Friedrich Beck u.a. (Hg.): Archivistica docet. Potsdam 1999. — Friedrich Christoph Dahlmann u. a.: Quellenkunde der deutschen Geschichte [Dahlmann-Waitz], Stuttgart 1 0 19691999. - Hans-Werner Goetz: Moderne Mediävistik. Darmstadt 1999, S. 153-173. - Kayser, S. 5 6 - 5 9 . - Christoph König, Siegfried Seifert (Hg.): Literaturarchiv und Literaturforschung. München u.a. 1996. - Heinz Quirin: Einführung in das Studium der mittelalterlichen Geschichte. Braunschweig 3 1964, S. 4 5 - 2 1 9 . - Paul Raabe: Einführung in die Quellenkunde zur neueren

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deutschen Literaturgeschichte. Stuttgart 3 1974. P. R., Georg Ruppelt: Quellenrepertorium zur neueren deutschen Literaturgeschichte. Stuttgart 3 1981. - Andreas Volk (Hg.): Vom Bild zum Text. Die Photographiebetrachtung als Quelle sozialwissenschaftlicher Erkenntnis. Zürich 1996. - Winfried Woesler: Der Autor und seine Quellen aus der Sicht des neugermanistischen Editors. In: Quelle — Text - Edition. Hg. v. Anton Schwöb und Erwin Streitfeld. Tübingen 1997, S. 3 - 1 9 .

Nikolaus Henkel

Quelle2 Im allgemeineren Sinn: Woraus sich ein Text herleitet; im engeren: Text, aus dem ein anderer schöpft. Expl: Als .Quellen' im weitesten Sinne gelten verschiedene dem Text vorausliegende Gegebenheiten, die in die Textentstehung einfließen können: (1) Kontexte und Umstände (historische Hintergründe, Ereignisse, Zeitgeist u. a.; Überbau!Basis)·, (2) Dispositionen des Autors (,source vécue': /" Erlebnis, Erfahrung; /" Inspiration)·, (3) durch Traditionen oder konkrete Einzelzeugnisse mündlich, schriftlich oder bildlich Vermitteltes oder Bestandteile davon (>" Plot, S Stoff, Motiv, S Sujet, S Gattung, / Erzählschema, S Ton, S Figur5). In literaturwissenschaftlicher Verwendung sollte die Begriffsmetapher Quelle einem über unspezifische oder zufallige Ähnlichkeiten (,Vorläufer', .Parallele') und bloße Anregungen zur Textproduktion hinausgehenden textgenetischen Abhängigkeitsverhältnis vorbehalten bleiben und insbesondere textlich Vorgeformtes bezeichnen, das sich in Texten als literarisch produktiv Rezipiertes bezeugt. Während die Dependenzbeziehung dem Autor nicht notwendig bewußt ist (/" Einfluß), erweitert sie sich durch exoder implizite Markierung (z. B. Quellenberufung, ^ Anspielung2, ? Zitat) zu einer Referenzbeziehung (/" Intertextualität). Als dominant und bewußt in einen Neutext verwandelte und von ihm absorbierte heißt die Quelle Vorlage, als im Text präsente und intertextuell an der Sinnbildung beteiligte

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Quelle2

Prätext. Zur näheren Qualifizierung der Quellenverwendung kann unterschieden werden: (a) einzeltextbezogen nach Umfang und Grad der Dependenz bzw. Korrespondenz (Anleihe/Entlehnung, Anklang, Reminiszenz, Anspielung2, ? Zitat, [Kurz-] ? Fassung, Paraphrase, Bearbeitung/Adaptation, /" Plagiat)·, (b) traditionsbezogen nach Intensität und Intention des Rekurses (/" Aneignung2, S Imitatio/Aemulatio, / Fälschung, / Kompilation, ? Übersetzungllnterpretatio); (c) auf Gattung und Schreibweise bezogen nach Verfahren der produktiven Rezeption, Bearbeitung und Bezugnahme (/" Kontrafaktur, / Parodie, S Travestie) und nach Formen der medialen und der Gattungs-Transformation wie /" Versifizierung, Prosaauflösung, Dramatisierung, ? Verfilmung, ? Vertonung)', (d) nach den Modi der Referenz/Interferenz (S Dialogizität, s Intertextualität). WortG: /" Quelle,. BegrG/SachG: In der klassischen Rhetorik erscheint lat. fons zuerst als inhaltlich vager Teil einer Metaphorik des Fließens, die verschiedene Aspekte der Rede verbildlicht (vgl. abundantia, derivatio u. ä.): Cicero nennt die ,loci communes' der Inventio wie die Autoritäten fontes (,De oratore' 2,117; ,Orator' 27,96), Quintilian (9,2,25) auch die / Rhetorischen Figuren. Horaz, dem das literarische Wissen als zentrale Quelle des,poeta doctus' gilt („scribendi recte sapere est [...] fons" — ,die rechte Einsicht ist [...] Quelle, um richtig zu schreiben'; ,Ars poetica', ν. 309), erklärt vorbildliche Werke zur poetisch frei beleihbaren „publica materies". Ihre Imitatio bleibt bis ins 18. Jh. (s Querelle) als ein poetologisches Prinzip der Literaturverfertigung aus Literatur in Geltung, das Dichtung auf traditionsbewährte Quellen und den Autor ihnen gegenüber auf einen Gestaltungswillen verpflichtet (vgl. Barner, Stöckmann). Spätantike und mlat. Rhetorik und Poetik schöpfen v. a. „de fonte doctrinae" (vgl. Lausberg, § 468) buchmäßiger ,auctoritates', deren Namen Musterhaftigkeit verbürgen. Bleiben sie ungenannt oder geraten Quellenangaben ,fabulistisch' (Wilhelm), so ist dabei keine Täuschungsabsicht im Spiel, denn das Imitatio-Konzept deckt selbst den

.furtum honestum' (,ehrenhaften Diebstahl'). In der vor- und nachhöfischen mhd. Epik ist Schriftlichkeit der Quelle Maßstab für historische Faktizität und Sachrichtigkeit (vgl. Haymes, Grubmüller): Mit buoch ist dort v. a. die — laut stereotyper Beteuerung treu reproduzierte — Vorlage gemeint. Wo dagegen auch dichterischer Inspiration ,Einfluß' auf die Textkonstitution eingeräumt ist, gliedert sich das Metaphernfeld lexikalisch auf und kann auch aus musischen ursprinc und brunnen geschöpft werden (Gottfried von Straßburg: .Tristan', v. 4731, 4876). Wenn Wolfram von Eschenbach seine tatsächliche Quelle leugnet und die angeblich gefundene (Kyot) wohl erfunden hat (,Parzival' 115,30; 827,1-4; 416,20 f.), so deutet diese Verkehrung des poetologisch Gebotenen zugleich auf dessen Alternative: Nicht das ihm zugrundeliegende buoch, sondern der Gehalt des Werkes verbürgt seine Autorität und Wahrheit. Indem sich nun der Autor das Urteil über „die rihte und die wârheit" (.Tristan', v. 156) vorbehält, und sei es auch gegen alle Quellen, wird Quellenkritik textkonstitutiv. Im Gefolge Petrarcas erhebt das ,ad fontes'-Prinzip des /" Humanismus2 die Quelle zu einem auf Textsicherung, kommentierende ? Exegese und reproduzierende Imitatio antiker Musterautoren gerichteten philologischen Konzeptbegriff (/" Kommentar¡), unter dem sich die Poetiken (etwa Scaliger) zu Kompendien vorbildlicher Stoff- und Stilquellen auswachsen. Im Barock werden sie zu .poetischen Schatzkästen' ausgebaut (S Inventio, S Topik). Die Geniezeit ( Sturm und Drang) und die Originalitätsästhetik des 19. Jhs. halten es im Anspruch zwar mit dem selbstschöpferischen Autor {Innovation, s Originalität) und verschreiben sich nurmehr den .natürlichen' Quellen der Poesie (und seien es gefälschte; vgl. Groom zu .Ossian'), zeigen sich in ihren Texten aber so wenig autochthon und traditionslos wie die zu allen Zeiten sich selbst reproduzierende Literatur vor und nach ihr. Das antiquarische Interesse der Romantik und des Historismus stimuliert zwar noch einmal die poetologische Reflexion über die Quelle (vgl. Ricklefs),

Querelle doch ohne ihr den seit Verabschiedung des Imitatio-Prinzips eingebüßten konzepthaften Status zurückzugeben. Bleibt sie als Substrat und Impetus von Literatur auch in ungebrochener Geltung, so zeichnet die jüngere Geschichte ihres Gebrauchs doch nurmehr unscharfe Konturen und läßt allenfalls die Tendenz zur zunehmenden Verwertung außerliterarischer Texte (Enzyklopädien, Zeitungen o. ä; /" Realismus2, S Dokumentarliteratur) erkennen. Gottfried von Straßburg: Tristan und Isolde. Hg. v. Friedrich Ranke. Berlin 1959. — Wolfram von Eschenbach: Parzival. Hg. v. Karl Lachmann [61926], Berlin 1965.

ForschG: Quellenforschung ist obligater Bestandteil der Literaturwissenschaft von ihren Anfangen an und hat im /* Kommentar2 seit je ihren systematischen Ort. Sie ist auch unverzichtbar für die Rekonstruktion der Genese, der Faktur und Geschichtlichkeit des Textes sowie der Arbeitsweise, kulturellen Prägung und günstigenfalls der s Intention des Autors, den Quellenforschung auch als produktiven Leser (/" Rezeptionsästhetik) im Blick hat. Strittig ist ihr Aufschlußwert für die / Interpretation des in seiner Ästhetik wie in seinem Bedeuten nicht von Quellenbeziehungen abhängig zu machenden Textes (/" Werkimmanente Interpretation), den insbesondere das vom s New Criticism monierte,source-hunting' des /" Positivismus und die komparatistische EinflußForschung zu einem aus Kausalursachen erklärbaren degradierte. Statt ihn im Prä- und Hypotext der Intertextualität aufgehen zu lassen (vgl. Clayton/Rothstein), hätte künftige Quellenforschung v. a. den Begriff ihres Gegenstands zu disziplinieren und die historischen Möglichkeiten zu systematisieren, sich literarisch zur Quelle in ein Verhältnis zu setzen (Ansätze dazu bei Bloom). Als Konzept der Bedeutungsermittlung mag sie ausgedient haben, als Zelle des kulturellen Gedächtnisses und textkonstitutive Größe bleibt sie eine integrale Kategorie literaturwissenschaftlicher Erkenntnis. Der Quellenforschung in der Editionsphilologie ein Altenteil einzurichten (vgl. Woesler, Zeller), besteht daher kein Anlaß. Lit: Wilfried Barner: Barockrhetorik. Tübingen 1970. — Harold Bloom: The anxiety of influence.

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New York 1973. - Jay Clayton, Eric Rothstein (Hg.): Influence and intertextuality in literary history. Madison 1991. - Walter Falk: Wolframs Kyot und die Bedeutung der ,Quelle' im Mittelalter. In: LitJb 9 (1968), S. 1 - 6 3 . - Nick Groom: Celts, Goths, and the nature of the literary source. In: Tradition in transition. Hg. v. Alvaro Ribeiro und James G. Basker. Oxford 1996, S. 275-296. - Klaus Grubmüller: Das ,buoch' und die Wahrheit. Anmerkungen zu den Quellenberufungen im .Rolandslied' und in der Epik des 12. Jhs. In: ,bickelwort' und ,wildiu maere'. Fs. Eberhard Nellmann. Hg. v. Dorothee Lindemann u.a. Göppingen 1995, S. 37-50. - Edward R. Haymes: „ez wart ein buoch funden". Oral and written in Middle High German heroic epic. In: Comparative research on oral traditions. Hg. v. John Miles Foley. Columbus 1987, S. 235-243. - Herbert H. Lehnert: Quellenforschung und fiktive Strukturen. In: Rice University Studies 53 (1967), S. 13-21. - Carl Lofmark: The authority of the source in Middle High German narrative poetry. London 1981. - Friedrich Panzer: Vom mittelalterlichen Zitieren. Heidelberg 1950. - Ulfert Ricklefs: Quelle und Referenz. In: Editio 11 (1997), S. 33-49. - Werner Schröder: „Die von Tristande hant gelesen". Quellenhinweise und Quellenkritik im Tristan' Gottfrieds von Straßburg. In: ZfdA 104 (1975), S. 307-338. R. W. Stallman: The scholar's net: literary sources. In: College English 17 (1955), S. 20-27. Ingo Stöckmann: Vor der Literatur. Tübingen 2001. - Friedrich Wilhelm: Über fabulistische quellenangaben. In: PB Β 33 (1908), S. 286-339. - Winfried Woesler: Der Autor und seine Quellen aus der Sicht des neugermanistischen Editors. In: Quelle - Text - Edition. Hg. v. Anton Schwöb und Erwin Streitfeld. Tübingen 1997, S. 3-19. - Hans Zeller: Übernahme und Abweichung - ein Darstellungsproblem. Quellenforschung und Edition. In: Editio 11 (1997), S. 2 0 32.

Gerd Dicke

Querelle ,Streit' um den Vorrang jeweils älterer (klassischer) oder neuer Autoren, Werke oder kultureller Werte. Expl: Mit der abgekürzten Redeweise ist in einer engeren Bedeutung ein historisches Ereignis gemeint: die ,Querelle des Anciens et des Modernes', eine Auseinandersetzung

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Querelle

um den Vorrang des Zeitalters Lud- krisis', .paragone',,confronto'; des Dialogs, wigs XIV. gegenüber der Antike, die Char- der Invektive, auch der panegyrischen/poliles Perrault 1687 auslöste. Im Ausgang von tischen Epideixis); diesem historischen Streit ist .Querelle' — mit der Tradierung bzw. Formierung schon seit den frühesten Darstellungen vormoderner und neuzeitlicher Diskurse (Irailh 1761, Rigault 1856) das Stichwort um Theodizee, historische ,Zyklen' vs. für eine auf die Antike zurückgehende Pro- Fortschritt' sowie von Konzepten zur Legiblemgeschichte der vergleichenden Kon- timierung der Neuzeit, denen sie einen Rahfrontation von ,Klassikern' und ,Modernen' men bietet. zum Zweck der Legitimation der einen oder WortG: Frz. quereile bedeutet ,Streit', der anderen Seite als höherwertig. ,Zank', auch ,literarisch-kulturelle KontroBei der ,Querelle' geht es in einer allgeverse' (,Literaturfehde', .Federkrieg': guerre meineren Bedeutung um die Interpretation de plumes), z.B. im 16./17. Jh. die quereile kultureller wie auch politischer Identitäten d'Alceste, querelle du Cid, quereile des femvon lokaler und situationaler bis zu univermes u. a. Frz. ancien meint .ehemalig', ,alt', seller Reichweite (,Menschheit'), die hier ,antik'; zu frz. moderne vgl. Moderne. Die mit Hilfe des Codes ,alt' (,les anciens' — in volle Bezeichnung Querelle des Anciens et der Regel: Antike) vs. ,neu' (,les modernes' des Modernes erscheint in Frankreich erst— das Heute, die ,Neueren'), also in einer mals 1761 (Irailh), ehe sie 1856 durch RiZeitperspektive, formuliert sind. Die Begault in die Historiographie eingeführt stimmung der Identitäten ist relational: Was wird. sind die ,Neueren', und was sind sie wert in bezug auf die ,Alten', und umgekehrt? Da- BegrG: Man hat zu unterscheiden zwischen bei werden in der Regel zwei Dichotomien der Dauerpräsenz des Schemas im kulturelgekreuzt: eine diachronische (,alt/neu') mit len Hintergrund und gelegentlich akuten einer geographisch-regionalen (nationalen), Verdichtungen zu einer,Querelle' mit Ereigz.B. die ,alten' Griechen in Attika vs. die nischarakter, schon im Mittelalter etwa zwi,neuen' in Kleinasien; die ,alten' Griechen schen den Zentren Chartres und Orléans vs. die ,neuen' Römer; die ,Alten' (Antike) (Logik/Philosophie vs. Grammatik und vs. die .Modernen' (Neuzeit); die ,alten' .auctores'), aber besonders seit der italieniModernen (italienische Renaissance) vs. die schen Renaissance und der französischen ,neuen' Modernen (Frankreich im 17. Jh.). Klassik. Die spezielle Geschichte der QueDie Argumentationen haben unterschied- relle' in der Frühen Neuzeit besteht in Verliche Ziele: Bekräftigung des Heute; Kritik suchen, die Dynamik der Ausdifferenzieder Verleumdung des Heute; Kritik der rung der Nationalkulturen auf der Ebene Idealisierung des/der Alten aus verschiede- von Bildungsidealen und Konzepten der nen Gründen; die Alten sind eigentlich die Wahrnehmung von Kunst und Literatur ewig Jungen, während die gerade Jungen alt (Ästhetik) mit Hilfe des generellen Alt/NeuCodes zu reflektieren: in ihren offensiven aussehen usw. Aufgrund ihrer Thematisierungsleistun- Dominanzansprüchen, in evasiven oder gen ist die Geschichte der Alt/Neu-Diskurse kompensatorischen Idealisierungen nach bzw. der ,Querelle' mit folgenden Problem- rückwärts usw. Es scheint berechtigt, zwischen dem Alt/Neu-Diskurs in Antike und feldern verknüpft: — mit der Dynamik innerhalb der euro- Mittelalter und der .Querelle' als einer päischen Gelehrtenrepublik zwischen / Re- durch ihren Ereignischarakter typischen Ernaissance, ? Barock, / Aufklärung und scheinung der (Frühen) Neuzeit zu unterscheiden (Fumaroli 2001, 7 und 24). DenKlassizismus (/" Frühe Neuzeit)·, — mit der Literaturkritik, für die sie noch bleibt es ergiebig, diese historischen von jeher ein Praxisfeld darstellt, auf dem Grenzen immer wieder zu überschreiten, auch Darstellungsformen und Schreibwei- nach rückwärts bis zur antiken ? Attizisbzw. nach vorsen der Kritik praktiziert werden (bes. For- mus/Asianismus-Debatte men des Vergleichens: ,comparatio', ,syn- wärts etwa zur Weiterführung der .Querelle

Querelle d'Homère' im 19. (Létoublon 1999) oder im 20. Jh. zur Diskussion über ? Postmoderne (Dobbe 1999). Der Gebrauch des Codes, auch ohne Rücksicht auf weiterreichende Ansprüche, sichert hier die Vergleichbarkeit. Bis heute fehlt eine angemessene terminologische Benennung des Gesamtphänomens. Die lat. Versionen für das in Frage stehende Thema stehen wie meist der authentischen Bedeutung näher: praecellentia, praestantia (Accolti ca. 1460/1689), comparano (Ayrer 1735), ebenso ital. paragone, confronto, die gleichzeitig die dafür verwendeten literarischen Gattungen bezeichnen. Gelegentlich begegnende dt. Varianten von ,Querelle' wie Vorzugsstreit (Rötzer), Rangstreit, Wettstreit oder Krieg in der gelehrten Welt (Kapitza) haben sich nicht durchgesetzt. SachG: Charles Perrault (1628-1703) knüpft an frühere Debatten an und bringt die ,Altertumsfreunde', d.h. die .Anciens', und die Fraktion der ,Modernes', zu der er selbst gehört, gegeneinander auf. Mit seiner hexametrischen Huldigungsadresse ,Le siècle de Louis le grand' (1687) setzt er das prominenteste Ereignis der ,Querelle' in Gang. Er selbst führt sie in den fünf enzyklopädischen Dialogen der ,Parallèle' weiter (in 4 Bdn. 1688-1697) und findet sogleich eine wirksame Unterstützung in der ,Digression sur les anciens et les modernes' von Bernard de Fontenelle (1688), der eine Theorie des Fortschritts als eines irreversiblen Prozesses entwirft. Gegenspieler (,Anciens') sind u. a. Nicolas Boileau, der Baron de Longepierre, Pierre-Daniel Huet. Auch für Perrault ist der Fortschritt das Rückgrat seiner Argumentation. Er ist gebunden an persönliche Phantasie und Gedankenreichtum und vor allem an die Erfindungskraft und Reflexionsfahigkeit der Modernen: .invention, digérée par la méditation', sind die Schlüsselbegriffe. Ihm gegenüber steht die ,steril' gewordene Imagination der Anciens. Der Kompromiß in Bd. 4 enthält die bedeutsame Differenzierung zwischen einem ,beau absolu' und einem ,beau relatif', einem invarianten Schönen und einem von Zeit und Sitten abhängigen. Sie ist ein Schritt zur Subjektivierung der Kunstwahr-

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nehmung in der sensualistischen Ästhetik von Jean-Baptiste du Bos und in Richtung auf die Pluralisierung und Historisierung der Kulturen bei Herder. Der Streit findet in der ,Querelle d'Homère' 1714/15, die sich an einer modernisierenden' ,Ilias'-Übersetzung von Houdar de La Motte (16721731) entzündete, seine Fortsetzung. Parallelen von Antike und Moderne mit verschiedenen Optionen u.a. von Secondo Lancellotti (1623/36), Alessandro Tassoni (1620), Cristóbal de Villalón oder des Florentiner Kanzlers Benedetto Accolti (ca. 1460) gehen Perrault, der bereits ein Textcorpus seiner eigenen Vorgeschichte' konstruiert, voraus. Accoltis Dialog, erst 1689 gedruckt, ist der Modellfall für das Lob der Modernen als rhetorisches Exercitium: keineswegs zur Begründung des .Fortschritts', sondern zur Huldigung und Legitimierung der Medici (vgl. Black). Die regionalen und zeitlichen Schwerpunkte der ,Querelle' als Phänomen der Neuzeit folgen den wechselnden Verschiebungen der interkulturellen Dominanzen in Europa, besonders von Italien nach Frankreich (16./17. Jh.). Dies erklärt auch, daß die Debatten an der Peripherie, in England, Spanien und vor allem in Deutschland, deutlicher von Italien und Frankreich abhängig sind und geringere Brisanz entfalten. In Deutschland kommt es allerdings nicht erst mit Winckelmann, Schiller oder gar der Frühromantik (vgl. Jauß 1967/1970), sondern nahezu synchron zu einer gelehrten Rezeption der .Querelle', deren heute kaum bekannte Schriften zeigen, daß man über die europäische Tradition verfügt (Alpár 1939, Martini 1965, bes. Kapitza 1981). In der Fortsetzung der ,Monatsgespräche' von Thomasius/Ryssel (1690, Februar und März) wird zum ersten Mal auf Deutsch über Querelle-Schriften berichtet und daraus übersetzt. Ayrer verfaßt 1735, lange vor Irailh und Rigault, eine erste Geschichte der ,Querelle', und Gottsched übersetzt Fontenelle (1727/1730). ForschG: Das landläufige Verständnis leidet unter dem Fehlen eines Begriffs und erschöpft sich deshalb leicht in der vordergründigen Referenz auf das mit dem Namen Perrault verbundene akademische Er-

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Quodlibet]

eignis von 1687 ff. Die Forschung, zumindest in Deutschland seit J a u ß (1964), hat sich heute von der übermäßigen Festlegung auf die geschichtstheoretische Problematik u n d deren meist teleologische Interpretation zu lösen. Die ältere Teleologie in der französischen Forschung, wonach alle .Vorgeschichte' auf Perrault u n d La Motte/ M m e Dacier zulaufe (seit Rigault), scheint inzwischen weitgehend überwunden (Fumaroli 1999, 2001; Armogathe; J a u ß 1964). Desiderate sind demgegenüber: die Rekonstruktion eines C o r p u s der D o k u m e n t e ohne unausgewiesene Selektionen; eine Zusammenstellung maßgeblicher Texte f ü r das Studium der verschiedenen regionalen u n d nationalen D e b a t t e n in verschiedenen E p o chen; weitergehende Differenzierung verschiedener Typen von .Querelles' in unterschiedlichen Kontexten, z. B. stärkere Beachtung der rhetorisch-topischen Argumentationen; Entwicklung einer angemessenen u n d gegenüber benachbarten Forschungsfeldern anschlußfahigen Terminologie. Die Erforschung der Eigenart der Rezeption u n d Debatte in Deutschland wurde seit Kapitza (1981), der in D o k u m e n t a t i o n u n d Fragestellungen eine neue Basis geschaffen hat, nicht weitergeführt. Es handelt sich u m ein klassisches T h e m a f ü r eine Literaturforschung mit europäischem Horizont. Lit: Benedetto Accolti: Dialogue de praestantia virorum sui aevi [ca. 1460]. Parma 1689. — Gyula Alpár: Streit der Alten und Modernen in der deutschen Literatur bis um 1750. Budapest 1939. - Jean-Robert Armogathe: Une ancienne querelle. In: Lecoq 2001, S. 801-849. - Georg Heinrich Ayrer: Dissertatio de comparatione eruditionis antiquae et recentioris. Leipzig 1735. - Robert Black: Ancients and moderns in the renaissance. In: Journal of the History of Ideas 43 (1982), S. 3 - 3 2 . - Gisela Bock (Hg.): Die europäische Querelle des Femmes. Stuttgart, Weimar 1997. - Martina Dobbe: querelle des anciens, des modernes et des postmodernes. München 1999. — Marc Fumaroli: La quereile des anciens et des modernes, sans vainqueurs ni vaincus. In: Le Débat 104 (März/April 1999), S. 73-88. - M. F.: Les abeilles et les araignées. In: Lecoq 2001, S. 7-218. - Hubert Gillot: La querelle des anciens et des modernes en France. Paris 1914. — Augustin-Simon Irailh: Querelles littéraires ou mémoires pour servir à l'histoire des révolutions de la république des lettres, depuis Homère

jusqu'à nos jours. 4 Bde. Paris 1761. - Hans Robert Jauß: Ästhetische Normen und geschichtliche Reflexion in der Querelle des Anciens et des Modernes. In: Charles Perrault: Parallèle des anciens et des modernes en ce qui regarde les arts et les sciences [4 Bde., 1688-1697]. Repr. München 1964, S. 8 - 6 4 . - H. R. J.: Schlegels und Schillers Replik auf die .Querelle des Anciens et des Modernes' [1967]. In: H. R. J.: Literaturgeschichte als Provokation. Frankfurt 1970, S. 67-106. Richard Foster Jones: Ancients and moderns. St. Louis 21961. - Peter K. Kapitza: Ein bürgerlicher Krieg in der gelehrten Welt. Zur Geschichte der Querelle des Anciens et des Modernes in Deutschland. München 1981. — Hans Kortum: Charles Perrault und Nicolas Boileau. Berlin 1966. - H. K„ Werner Krauss (Hg.): Antike und Moderne in der Literaturdiskussion des 18. Jhs. Berlin 1966. — Secondo Lancellotti: L'hoggidi, 2 Bde. Venedig 1623, 1636. - AnneMarie Lecoq (Hg.): La quereile des anciens et des modernes. Paris 2001. — Françoise Létoublon (Hg.): Homère en France après la querelle. Paris 1999. — Joseph M. Levine: Ancients, modems, and history. In: Studies in change and revolution. Hg. v. Paul J. Korshin. Menston/Yorkshire 1972, S. 43-75. — José Antonio Maravall: Antiguos y modernos. Madrid 1966. — Giacinto Margiotta: Le origini italiane de la querelle des anciens et des modernes. Rom 1953. — Fritz Martini: .Modern, Die Moderne'. In: RL 2 2 [1965], S. 391415. - Charles Perrault: Le siècle de Louis le grand. Paris 1687. - Hippolyte Rigault: Histoire de la querelle des anciens et des modernes [1856, 2 1859], Repr. New York o. J. [ca. 1965], - Hans Gerd Rötzer: Traditionalität und Modernität in der europäischen Literatur. Darmstadt 1979. — Christian Thomasius: Monatsgespräche. Bd. 5. Halle 1690, S. 87-222 [Jakob von Ryssel], - Albert Zimmermann (Hg.): Antiqui und Moderni. Berlin, New York 1974. Herbert

Jaumann

Quodlibet! Schriftliche Ausarbeitung einer als Lehrveranstaltung an mittelalterlichen Universitäten gehaltenen ,disputatio de quolibet'; im weiteren Sinne diese Lehrveranstaltung selbst. Expl: Voraussetzung u n d G r u n d l a g e des Quodlibet als Textform ist die universitäre Lehrpraxis der /" Disputatio, bei der in ei-

Quodlibetj nem institutionell geregelten Verfahren wissenschaftliche Fragestellungen dargestellt, diskutiert und geklärt werden. Neben wöchentlich erörterten ,quaestiones ordinariae' einzelner Magister stehen in feierlichen, zweimal jährlich und öffentlich dargebotenen Disputationen ,de quolibet' (,über einen beliebigen Gegenstand'), zuerst um 1230 an der Pariser theologischen Fakultät, ,quaestiones quodlibetales' zur Diskussion, die von jedem Anwesenden (,a quolibet') gestellt werden können. Quodlibet meint die schriftliche Fassung solcher Quaestionen (Ausarbeitung seitens des Magisters oder Mitschrift durch Hörer), dient aber auch als Kurzbezeichnung von disputatio (quaestio) de quolibet. WortG: Lat. quodlibet (vom Indefinitum quilibet jeder beliebige') wird im mittelalterlichen Lehrbetrieb seit dem 13. Jh. der Name von Texten, die aus thematisch freien Disputationen hervorgehen. BegrG: Mit der Diversifizierung universitärer Disputationsformen des Mittelalters erfolgt die Ausprägung des Begriffs Quodlibet'. Zur Kennzeichnung der von ihm erfaßten Sache (Quaestionen, Disputationen) können (neben quodlibetalis) wechselnde Attribute dienen: extraordinaria, communis, generalis. Als ab dem späten 14. Jh. die Quodlibet-Veranstaltungen an deutschen Universitäten durch einen publikumswirksamen unterhaltenden Teil (mit Behandlung leichterer Fragen oft scherzhaften Charakters) abgeschlossen wurden (vgl. Zarncke, 49—154), galt es, etwa in Fakultätsstatuten, Scherz und Ernst zu trennen: Neben die Hauptsache der quaestio principalis traten quaestiones minus principales (accessoriae), die auch als quaestiones fabulosae (.erfundene, konstruierte Fragestellungen', .wissenschaftliche Scheinfragen') bezeichnet wurden, z. T. Verbreitung im Druck fanden und in der humanistischen Scholastik-Kritik nachwirkten. Friedrich Zarncke: Die deutschen Universitäten im Mittelalter. Leipzig 1857.

SachG: Nach den Pariser Anfangen in der 1. Hälfte des 13. Jhs. breitete sich der universitäre Veranstaltungstyp ,disputatio de

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quolibet' europaweit aus und blieb auch nicht auf die theologische Fakultät beschränkt. Im mündlichen Verfahren folgte er den für jede ,quaestio disputata' geltenden Regularien. Unter dem Vorsitz eines Magisters brachten in kontroverser Diskussion ältere Schüler unterschiedliche Positionen zu einer Problemstellung vor. Dieser ,disputatio' im eigentlichen Sinne schloß sich, oft erst anderntags, die Entscheidung durch den Magister (,determinatio magistralis') an. Im Rahmen einer QuodlibetVeranstaltung kamen auf solche Weise ganze Serien von Einzelfragen zur Entscheidung. Der Übergang vom Lehrvortrag zu schriftlichem Text (dem Quodlibet im engeren Sinne) konnte verschiedenartig erfolgen (aber auch unterbleiben). Meist erstellte der federführende Magister (.quodlibetarius') eine eigene Textfassung (,redactio') seiner ,determinatio'. Doch kursierten auch Mitschriften (,reportationes') von Hörerseite. ForschG: Für das Quodlibet als Lehrpraxis und Literaturform liegen eine Gesamtdarstellung (Glorieux) sowie neuere Zusammenfassungen des Forschungsstands (Wippel, Weijers) vor. Die besondere Bedeutung der Quodlibet-Literatur für die Kenntnis institutioneller /" Oralität im Mittelalter steht außer Frage (vgl. Miethke). Weitergehend rechnet Enders das Quodlibet (etwa neben dem ? Geistlichen Spiel) zu den Formen mittelalterlicher Theatralität. Lit: Jos N. J. Decorte: .Quodlibet'. In: LexMA 7, Sp. 377. — Jody Enders: The theater of scholastic erudition. In: Comparative Drama 27 (1993), S. 341—363. - Palémon Glorieux: La littérature quodlibétique de 1260 à 1320. 2 Bde. Kain, Paris 1925, 1935. - Brian Lawn: The rise and decline of the scholastic .Quaestio disputata'. Leiden u.a. 1993, S. 15-17. - Jürgen Miethke: Die mittelalterlichen Universitäten und das gesprochene Wort. München 1990, S. 3 0 - 3 6 . - Olga Weijers: Terminologie des universités au XIII e siècle. Rom 1987, S. 355-360. - John F. Wippel: Quodlibetal questions chiefly in theology faculties. In: Bernardo C. Bazàn u. a.: Les questions disputées et les questions quodlibétiques dans les facultés de théologie, de droit et de médecine. Turnhout 1985, S. 151-222.

Udo Kühne

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QuodIìbetz

Quodlibet2 Scherzhaftes Gedicht oder Liedkomposition, die ihre Wirkung aus der Kombination inkohärenter Teile erzielen. Expl: Quodlibet bezeichnet einen poetischen Text (1) oder eine Liedkomposition (2). (1) Das Quodlibet ist thematisch frei und auch nicht an eine bestimmte Form gebunden. Vielmehr besteht das den Gedichttypus konstituierende Merkmal in einer meist syntaktisch gleichgeordneten reihenden Zusammenstellung von heterogenen, oft im Gestus des Lehrhaften stehenden Aussagen: Allerweltswahrheiten, Selbstverständlichkeiten, Paradoxien oder auch Unsinn (/" Nonsens). Der Autor verzichtet also absichtsvoll auf innertextliche Kohärenz und führt den vom Text signalisierten didaktischen Anspruch spielerisch und unterhaltsam ad absurdum. Hierin unterscheidet sich das Quodlibet vom (meist kürzeren) s Priamel, das ähnlich gereihte Aufzählungen einer sinnstiftenden und satzschließenden Schlußpointe zuführt. Die in literaturwissenschaftlicher Verwendung nicht seltene Umschreibung quodlibetartiger Text verdient insbesondere dann den Vorzug, wenn das jedem Quodlibet zugrundeliegende quodlibetische Prinzip als Schreibweise2 (ähnlich der des Cento) mitbenannt werden soll. (2) In musikalischer Terminologie meint Quodlibet eine Vokalkomposition, bei der mehrere zumeist bekannte (seltener neugeschaffene) und mit Texten versehene Melodien, also Liedzitate (oder Teile davon), in simultaner Schichtung oder sukzessiver Reihung auftreten. WortG: Lat. Quodlibet .Beliebiges' ( / Quodlibet ¡) wird im 16. Jh. alltagssprachlich ins Deutsche übernommen und bedeutet dann ,Mischmasch', durcheinander', Angeordnetes' (vgl. Roth [1571], 344). Eine direkte Herleitung aus Quodlibet¡ ist nirgends erkennbar. Erstbeleg (1529) für die Bezeichnung eines Gedichts als Quodlibet bei Hans Sachs (RSM 9, 99: 2S/287a): „Ein quotlibet". Horst Brunner, Burghart Wachinger (Hg.): Repertorium der Sangsprüche und Meisterlieder des 12.-18. Jhs. [RSM], 16 Bde. Tübingen 1986ff. -

DWb 13, Sp. 2384-2386. - Simon Roths Fremdwörterbuch [1571], Hg. v. Emil Öhmann. In: Mémoires de la Société Néo-Philologique de Helsingfors 11 (1936), S. 225-370.

BegrG: Über das quodlibetische Prinzip, künstlerische Gestaltung, die Unpassendes zusammenführt, ist seit alters poetologisch reflektiert worden, z. B. von Horaz am Beginn seiner ,Ars poetica' unter dem Stichwort (v. 10) der potestas quidlibet audendi (.Freiheit, alles zu wagen'). Was solcherart als Theoriestück eines ,exemplum vitii' auftrat, konnte in bestimmten Gebrauchszusammenhängen noch vor der Prägung des Begriffs zur Spielform literarischer (und musikalischer) Praxis werden. Rückwirkend rechnet man insbesondere einige quodlibetartige Reimpaarreden des 14. und 15. Jhs., die als aubentewrliche rede oder geplerr bezeichnet sind, mitsamt den Sonderformen Lügenquodlibet („Behauptungen vom Adynata-Typ"; Fischer, 43; /" Lügendichtung) und Kettenreime (/" Reim) zur Geschichte des Genres. Gottsched bestimmt das ,Quodlibet' (im Blick auf die zeitgenössische Produktion solcher Texte) als Scherzgedicht von freier Form, geeignet zur Darbietung bei festlichem Anlaß (y Gelegenheitsgedicht), womit eine Art Minimaldefinition des literarischen Begriffs gefunden ist (Gottsched, 796). Ein anderes Begriffsverständnis, die lokker kombinierte Szenenfolge aus zurückliegenden Erfolgsstücken, liegt dem dramatischen Quodlibet im Wiener Volkstheater des 19. Jhs. (Nestroy, Raimund) zugrunde. Als theatrale Kleinkunst verselbständigt sich dieses ? Montage-Prinzip in der Literatur des Fin de siècle, kulminierend in der ,Blechschmiede' (1902) von Arno Holz. Bei Peter Handke ist das .Quodlibet' (1970) gekennzeichnet durch den Verzicht des Theaterautors auf die Strukturierung des Agierens und Sprechens. Quodlibetartige Texte und Liedkompositionen außerhalb des deutschsprachigen Raums unterliegen mit vielfältigen Benennungen (z. B. frz. Coq-à-1'âne bzw. Fricassée) eigener, konzeptuell vergleichbarer Begriffsbildung. SachG: (1) Im Hinblick auf das literarische Genre bilden die quodlibetartigen Reim-

Quodlibet2 paardichtungen des Spätmittelalters ein erstes Teilcorpus von Texten (Verzeichnis: Westphal-Wihl, 172 f.). Besonderer Beliebtheit erfreuten sich die sog. Lügenquodlibets, denen die (wenigen aus dieser Zeit erhaltenen) pseudo-lehrhaften eigentlichen' Quodlibets entwicklungsgeschichtlich wohl erst nachfolgten. Ohne direkte Anknüpfung im Sinne historischer Kontinuität setzt sich der Gedichttypus um 1700 vielfaltig fort („Quodlibetmode"; Liede, 54). (2) Quodlibet-Kompositionen avant la lettre beinhaltet bereits das um 1480 entstandene ,Glogauer Liederbuch'. Einen Höhepunkt in der Geschichte des musikalischen Genres stellt das Liedschaffen des Coburger Hofmusikers Melchior Franck ( t 1639) dar. Im volkstümlichen Vereinsgesang wird das Quodlibet noch heute gepflegt. Das den Kompositionen eigene Bauprinzip simultaner Schichtung von Liedeinheiten findet eine avantgardistische Neufassung im rezitierten Simultangedicht der Moderne (y Dadaismus). ForschG: Die Erforschung des Quodlibets ist durch Arbeitsteiligkeit gekennzeichnet:

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Zugänge wurden, weithin unvermittelt, gemäß Zuständigkeit von Seiten der Literaturgeschichte (Alt- bzw. Neugermanistik je für sich) und der Musikwissenschaft gesucht. Ansätze zur Synthese bietet Liede. Lit: Markus Bandur: ,Quodlibet'. In: Handwb. der musikalischen Terminologie. Hg. v. Albrecht Riethmüller. Ordner IV, 19. Auslieferung. Stuttgart 1991. — Klaus Conermann: Scherzhafter Stil und burleske Komik in der deutschen Lyrik der galanten Epoche: Zur Geschichte des Quodlibets und des Versbriefes. In: Europäische Tradition und deutscher Literaturbarock. Hg. v. Gerhart Hoffmeister. Bern, München 1973, S. 153-188. - Hanns Fischer: Studien zur deutschen Märendichtung. Tübingen 2 1983. - Alfred Liede: Dichtung als Spiel. Bd. 2. Berlin, New York 2 1992, S. 4 8 - 5 7 . - Hans Joachim Moser: Corydon. Das ist: Geschichte des mehrstimmigen Generalbaßliedes und des Quodlibets im deutschen Barock. 2 Bde. Braunschweig 1933. — Wolfgang Rogge: Das Quodlibet in Deutschland bis Melchior Franck. Wolfenbüttel, Zürich 1965. — Sarah Westphal-Wihl: Quodlibets: Introduction to a Middle High German genre. In: Genres in medieval German literature. Hg. v. Hubert Heinen und Ingeborg Henderson. Göppingen 1986, S. 1 5 7 174.

Udo Kühne

R Rabenschlachtstrophe ? Epenstrophe Radîf / Ghasel Radikaler Konstruktivismus ? Analytische Literaturwissenschaft

Rätsel Verschlüsselte Frage als literarische Kleinform. Expl: Rätsel gehören, kommunikationstheoretisch gesehen, zur Gruppe der Prüfungsfragen, da dem Rätselsteller die Antwort bekannt ist und der Gefragte sich in der Rolle eines Geprüften befindet. Im Unterschied zu Examens- oder Quizfragen wird jedoch bei ihnen das Frageziel verschlüsselt umschrieben. Die Mittel der Rätselverschlüsselung, die sich auf die Inhalts(,Sachrätsel') und Ausdrucksseite (.Worträtsel') eines Lösungswortes beziehen können, sind vielfaltig, da / Ambiguität, Vagheit und fast alle Arten des uneigentlichen Sprechens zur Verrätselung genutzt werden (Synonymie, Homonymie, s Metapher, Synekdoche (y Metonymie) u.a.). Auch die Vertextungsstrategien sind zahlreich: Rätsel können die Gestalt eines Berichts, einer Frage, Aufzählung, Ich-Rede usw. annehmen. Meist sind sie von prägnanter Kürze, in Einzelfallen aber auch von mehrseitiger Länge. Bei der Unterscheidung zwischen ,Kunsträtseln' und,Volksrätseln' betont ,Kunsträtsel' die /" Poetizität eines Textes, während ,Volksrätsel' eine soziale Komponente in den Vordergrund rückt. Die Begriffe stellen kein echtes Oppositionspaar dar und sollten auch nicht mit dem Gegensatz .mündlich/ schriftlich' vermischt werden.

[Terminologisches Feld:] Für Untertypen des Rätsels haben sich Einzelbezeichnungen eingebürgert: so ζ. B. Halslösungsrätsel für Rätsel, die durch ihre Rahmenhandlung definiert werden (ein Verurteilter kann sein Leben retten, indem er ein Rätsel aufgibt, das niemand zu lösen vermag); auch werden Rätselformen nach den verwendeten Verschlüsselungen benannt, etwa der Logogriph, bei dem das Lösungswort durch Auslassung, Zufügung oder Änderung von Buchstaben gefunden wird; das ? Anagramm, das mit Buchstabenversetzungen operiert; oder das rückläufig lesbare Palindrom (/* Kryptogramm). Bei der SCHARADE wird die Lösung in selbständige (silbische) Bestandteile zerlegt und deren Sinn umschrieben, beim REBUS ist sie durch Aneinanderreihung von Bildern, Zahlen und Buchstaben verschlüsselt. WortG: Bereits im Ahd. sind Bezeichnungen wie ratnussa, ratissa u. a. für lat. aenigma bezeugt. Diese Bildungen waren vieldeutiger als der heutige Gattungsausdruck, zumal lat. aenigma auch als Begriff der Bibelhermeneutik gebraucht wurde. Noch bis in die Neuzeit konnten mit redersch, rednisz, retsche, rettrisch, ratung, ratt usw. neben Rätseln auch andere schwierige Aufgaben bezeichnet sein. Die große Vielfalt der von raten abgeleiteten Varianten hatte über das 16. Jh. hinaus Bestand, bis sich mit dem Lutherschen Sprachgebrauch die durch das Suffix -sei gebildete nhd. Form durchsetzte. Auch die Tatsache, daß für ,Rätsel' kein gemeingermanisches Wort existierte (altnordisch gäta\ vgl. den gotischen Beleg frisahts), deutet an, daß es sich bei Bildungen wie ratnussa nicht um eine uralte Terminologie zur engeren Bezeichnung des Rätsels als Gattung handeln dürfte (Nachweise: Tomasek 1993, 92— 102).

Rätsel BegrG: Die Indizien sprechen dafür, daß im frühen Deutsch ursprünglich kein distinkter Textsorten-Begriff für das Rätsel vorgelegen hat. Der Sinn der von raten abgeleiteten Begriffsprägungen blieb vieldeutig, und die Gattung dürfte unter umfassendere Vorstellungen des ,Ratens' subsumiert worden sein. Noch die Gegenwartssprache kennt neben dem Gattungsausdruck einen allgemeineren Sinn von Rätsel (,Rätsel der Wissenschaft' usw.). Bei antiken Autoren ist dagegen, wie das Werk des Symphosius zeigt, ein eigenes Gattungsverständnis des Rätsels anzunehmen. Entsprechend wird in der mittelalterlichen Grammatik und Rhetorik der Begriff aenigma (von griech. αίνιγμα [aínigma]) unter den /" Tropen2 als oratio bzw. quaestio obscura (,dunkle Rede', ,dunkle Frage') behandelt und damit die entscheidende Rolle der Sprachgebung im Rätsel betont. Wenn sich bei einigen schulgebildeten deutschen Autoren des Mittelalters eine terminologische Anwendung des Rätselbegriffs zeigt (rêtisle in Lamprechts .Alexander', v. 1408), so sind dies erste Vorboten der langfristigen Durchsetzung eines engeren Gattungsbildes. Lamprechts Alexander. Hg. v. Karl Kinzel. Halle/S. 1884.

SachG: Für die Anfänge des westeuropäischen Rätsels sind lateinische Vorgänger aus Spätantike und Frühmittelalter (Symphosius, Aldhelm von Malmesbury u.a.) bedeutsam. Im nordgermanischen und im angelsächsischen Raum konzentriert sich die frühe volkssprachliche Rätselüberlieferung auf jeweils eine Sammlung, die Heidreksrätsel der ,Hervarar-Saga' (12. Jh.?) und die Rätsel des ,Exeter-Book' (10. Jh.). Ein anderes Bild ergibt sich für das deutsche Sprachgebiet, wo im 13. Jh. eine Reihe bedeutender Sangspruch-Autoren (Reinmar von Zweier, Tannhäuser u.a.) Rätsel zur Bereicherung ihres Repertoires nutzten. Die Tradition des Sangspruchrätsels lebte bis ins 17. Jh. im Meistergesang fort. Dort pflegte man auch den fingierten literarischen Rätselstreit weiter, dessen wichtigster Repräsentant im 13. Jh. der .Wartburgkrieg' ist. Im Gegensatz zu dieser frühen strophischen Rätseltradition werden deut-

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sche Rätsel in Reimpaarform erst seit dem ausgehenden 15. Jh. selbständig in größerer Zahl überliefert (ζ. B. im Weimarer Codex Q 565). Ein Zeugnis eigener Art ist das ,Traugemundslied' (14. Jh.), in das sowohl Elemente lateinischer Fragenliteratur als auch eine alte (germanische) Technik der Fragenbündelung eingegangen sind. Besonders folgenreich für die Verbreitung des deutschen Rätsels wurde das vor 1510 erstmals gedruckte, thematisch gegliederte ,Straßburger Rätselbuch', das auch in Skandinavien und den Niederlanden nachwirkte. Es erschien im 16. Jh. in etwa 40 Auflagen, wurde im 17. Jh. als ,Neuvermehrtes Rätselbuch' mehrmals verlegt und war Anstoß für zahllose spätere Sammlungen (bis hin zu Simrocks .Deutschem Rätselbuch' von 1850). Sein Erfolg veranlaßte 1535 Johann Behem, ihm unter dem Titel ,Christliches Ratbüchlein für die Kinder' eine auf der Lutherbibel basierende, ebenfalls traditionsbildende Sammlung biblischer Wissensfragen entgegenzustellen. Aus beiden schöpfte das erste lateinische Rätselbuch eines deutschen Humanisten, Johannes Lorichius' ,Aenigmatum libellus' (1540 und 1545), welches 1599 in die ,Aenigmatographia' Nikolaus Reusners (zweite Auflage 1602) einging. Diese versammelte die zu jener Zeit verfügbaren rätseltheoretischen Schriften und Rätselsammlungen in einem umfangreichen Kompendium und ist Hauptzeugnis dafür, daß das lateinische Rätsel den Gelehrten des deutschen Humanismus als Element elitärer Standeskulur galt; bis ins 19. Jh. wurde sie von zahlreichen Autoren, wie ζ. B. Johannes Sommer (,Aenigmatographia Rythmica'), Melchior Stahlschmidt (Jocoseria mensalia', beide 1605/06), Georg Philipp Harsdörffer (,Nathan und Jotham', 1650/51), Johann Christoph Ludwig (,Centuria Aenigmatum Selectorum', 1746-1750) und Wilhelm Binder (,Flores Aenigmatum latinorum', 1857), als Quelle benutzt. War im 16. Jh. die wesentliche Neuerung das gedruckte Rätselbuch, so brachte das Zeitalter des Barock dem volkssprachlichen literarischen Rätsel weitere neue Impulse. Im modisch-neuen Gewand des ? Alexandriners war es als Sprachspiel bei prominen-

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Rahmenerzählung

ten Vertretern der ? Sprachgesellschaften beliebt, in deren Schriften erstmals auf Deutsch über die Poetik des Rätsels reflektiert wurde (u. a. Schottel, v. a. Harsdörffer). Nach der vorwiegend kritischen Beurteilung von Rätseln während der Aufklärung eröffnete der Beginn des 19. Jhs. eine neue Blütephase des literarischen Rätsels, maßgeblich angeregt durch Schillers ,Turando t'. Überhaupt zeichnete sich das 19. Jh. durch eine Rätselbegeisterung aus, die von namhaften Autoren geteilt wurde (Platen, Fechner, Körner, Vischer, Hauff, Hebel u. a.) und vereinzelt (vgl. z. B. die anspruchsvollen Versrätsel bei Karl Kraus) bis ins 20. Jh. anhielt. Der Siegeszug des 1925 erstmals in Deutschland belegten Kreuzworträtsels markiert dagegen einen noch heute spürbaren Umbruch in der Rätselkultur, der mit einem Verlust an literarischen Geselligkeitsformen und der Entstehung neuer Medien einhergeht. ForschG: Die von Gedanken Herders zur Beschäftigung mit dem Rätsel angeregte Forschung des 19. Jhs. suchte zunächst nach uraltem, mythologisch gefärbtem Volksgut (z.B. Uhland, Simrock). Noch heute unverzichtbar sind dagegen die um die Wende zum 20. Jh. entstandenen, in ihrer Methodik eher positivistischen Forschungen Petschs, der bereits die bahnbrechende Volksrätselsammlung Wossidlos benutzen konnte. Seit den komparatistischen Großuntersuchungen der Finnischen Schule (Aarne) sowie Taylors hat sich die Rätselforschung inzwischen zu einem Untersuchungsfeld der internationalen Ethnologie entwickelt; vor allem ist auf die zahlreichen, zumeist strukturalistischen Arbeiten im Journal of American Folklore' zu verweisen (z. B. Bd. 89). In neuerer Zeit sind beachtenswerte linguistische Arbeiten zum Rätsel entstanden (z. B. Pepicello/Green). Lit: Antti Aarne: Vergleichende Rätselforschungen. 3 Bde. Helsinki 1918-1920. - Heike Bismark: Rätselbücher. Diss. Münster 2002 (masch.). - Walther Böttger: Wortspielrätsel, sprachlich betrachtet. In: Sprachpflege 35.3 (1986), S. 36-38. - Wolfgang Eismann, Peter Grzybek (Hg.): Semiotische Studien zum Rätsel. Bochum 1987. — Johannes Baptist Friedreich: Geschichte des Räthsels [41860], Repr. Wiesba-

den 1969. - Mathilde Hain: Rätsel. Stuttgart 1966. - F. R. Hoffmann: Grundzüge einer Geschichte des Bilderräthsels. Berlin 1869. — André Jolies: Einfache Formen. Legende, Sage, Mythe, Rätsel, Spruch, Kasus, Memorabile, Märchen, Witz [1930], Tübingen 61982. - Hansjörg Meyer: Das Halslösungsrätsel. Diss. Würzburg 1967. W[illiam] J. Pepicello, Thomas A. Green: The language of riddles. Columbus 1984. - Robert Petsch: Neue Beiträge zur Kenntnis des Volksrätsels. Berlin 1899. - R. P.: Das deutsche Volksrätsel. Straßburg 1917. — Hanno Rüther: Zur Druck- und Überlieferungsgeschichte des Straßburger Rätselbuches. In: Jb. der Oswald von Wolkenstein Gesellschaft 11 (1999), S. 269-298. - Claudia Schittek: Die Sprach- und Erkenntnisformen der Rätsel. Stuttgart 1991. - Volker Schupp (Hg.): Deutsches Rätselbuch. Stuttgart 1972. - Archer Taylor: A bibliography of riddles. Helsinki 1939. - A. T.: The literary riddle before 1600. Berkeley, Los Angeles 1948. — Tomas Tomasek: Das deutsche Rätsel im Mittelalter. Tübingen 1993. - T. T.: Medieval German riddles. In: Jb. der Oswald von Wolkenstein Gesellschaft 11 (1999), S. 259-267. Heike Bismark l Tomas Tomasek

Radikaler Konstruktivismus Analytische Literaturwissenschaft Empirische Literaturwissenschaft Raffung

Erzähltempo

Rahmenerzählung Erzählung, in der eine oder mehrere andere Erzählungen enthalten sind. Expl: Die narratologische Gemeinsamkeit höchst unterschiedlicher Erscheinungsformen des Erzähltyps Rahmenerzählung besteht in einem zwei- oder mehrstufigen inneren (fiktionsinternen) Kommunikationssystem. Die Rahmenerzählung enthält immer mindestens zwei verschiedene Erzählinstanzen, einen (eventuell nichtexpliziten) f Erzähler der Rahmenhandlung und einen Erzähler, der in dieser Rahmenhandlung (INTRADIEGETISCH) als Figur in Erscheinung tritt und eine BINNENERZÄHLUNG hervor-

Rahmenerzählung bringt (in Genettes Begriffssystem: eine METADIEGETISCHE Erzählung; vgl. Martinez/ Scheffel, 190, sowie /" Diegesis). Diese Binnenerzählung kann eine gerahmte Einzelerzählung sein (,Rahmennovelle'), oder sie ist Teil einer gerahmten Erzählsammlung (s Zyklus) bzw. eines größeren Erzählganzen (y Komposition). Oft wird der intradiegetische Erzählvorgang eingebettet in eine mündliche Erzählsituation (,vor dem Kamin', ,im Wirtshaus' usw.; vgl. Skaz). Tritt an die Stelle des ,sichtbaren' Erzählvorgangs ein schriftlicher Erzähl-Text (Manuskript-Fiktion, ^ Tagebuch, s Briefroman), kann es sich ebenfalls um eine Rahmenerzählung handeln, zumindest wenn dieser Erzähl-Text fiktionalen Figuren des inneren Kommunikationssystems vorgelesen wird (E. T. A. Hoffmann: ,Die Serapions-Brüder'; vgl. dagegen die Jugendgeschichte in Kellers ,Grünem Heinrich'). Nicht als Rahmenerzählung können Texte gelten, die ein äußeres (fiktionsexternes, d. h. leserbezogenes) Kommunikationssystem fingieren (Herausgeberfiktion, /" Vorwort; ζ. B. E. T. A. Hoffmann: ,Lebens-Ansichten des Katers Murr'; Goethe: ,Die Leiden des jungen Werthers') oder ein solches mit nichtfiktionalen oder nichtnarrativen rahmenartigen Elementen (Vorwort, Nachwort, Widmung usw.) konstruieren. WortG/BegrG: Der Begriff Rahmenerzählung entstand durch die fachsprachliche Terminologisierung einer umschreibenden Redeweise (einrahmen, Rahmen: Dunlop [1814J/1851, 217), neben der weitere gleichwertige Umschreibungen Verwendung fanden (wie einschachteln, einkleiden, einschalten). Gegenüber der umschreibenden Redeweise, die für verschiedenste Formen struktureller ,Rahmung' stehen kann - ζ. B. auch bei motivischer Äquivalenz von Anfang und Ende, bei einleitenden und/oder abschließenden Erzählerkommentaren (Stifter: ,Brigitta') oder bei Erzählungen, deren Hauptteil als Rückwendung erzählt wird (Storm: ,Immensee') —, bezieht sich der Fachbegriff im Sinne der Expl ausschließlich auf die erzählkommunikative Rahmung. Zur Vermeidung einer homonymischen Verwendung von Rahmenerzählung

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für das Erzählganze (inkl. seiner Binnenteile) und zugleich für die Rahmenteile allein werden die Rahmenteile statt als Rahmenerzählung auch als Erzählrahmen bezeichnet. John Dunlop: The history of fiction. London 1814 [dt.: Geschichte der Prosadichtungen. Berlin 1851],

SachG: Wichtiger als antike und mittelalterliche Ansätze zur Einbettung von Bildbeschreibungen mit erzählenden Komponenten (/" Descriptio) oder von — nur mehr oder weniger selbständigen — Erzählpassagen waren für die Entfaltung der Rahmenerzählung in der neueren deutschen Literatur die arabische Erzählung .Tausendundeine Nacht' (Quellen seit dem 8. Jh. belegt) und v. a. die ,klassischen' Rahmenzyklen, nämlich Boccaccios ,Decameron' (1349— 1353), Chaucers ,Canterbury Tales' (vor 1400), Marguerites de Navarre .L'Heptaméron' (1542—1549), Basiles Märchensammlung .Pentamerone' (1634—1636), aber auch der jüngere und formal experimentelle Dialogroman Jacques le fataliste et son maître' von Diderot (1778-1780, vollständig 1796). Gestaltungsmuster der Rahmenerzählung dürften zu einem großen Teil indirekt durch / Heroisch-galante Romane, / Robinsonaden und s Abenteuerromane, eventuell auch durch barocke Gesprächsspiele vermittelt worden sein (Harsdörffer: ,FrauenzimmerGesprächsspiele', 1641-1649; G.H.Büchner: ,Der Welt-Lauf', 1754-1756). Wesentlich zur Etablierung der Rahmenerzählung haben Goethes .Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten' (1795) beigetragen. Seine größte Verbreitung fand dieser Erzähltyp im 19. Jh.; er erschien u. a. bei Wieland (,Das Hexameron von Rosenhain', 1806), C. Brentano (,Geschichte vom braven Kasperl und dem schönen Anneri', 1817), L. Tieck (,Phantasus', 1812-1816), W. Hauff (,Mährchen-Almanache', 18261828), im ? Realismus2 überwiegend in der Form der selbständigen Rahmennovelle: J. Gotthelf (,Die schwarze Spinne', 1842), G.Keller (,Das Sinngedicht', 1881), C. F. Meyer (,Die Hochzeit des Mönchs', 1883/84), Th. Storm (,Der Schimmelreiter', 1888). — Im 20. Jh. sind Rahmenerzählun-

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Rahmenhandlung

gen selten (S. Zweig: ,Schachnovelle', 1943; Botho Strauß: ,Kongreß', 1989). ForschG: Nach der richtungsweisenden Monographie von Goldstein (1906) stand zunächst die literarhistorische Erschließung des Gegenstandsbereichs im Vordergrund. Einer gewissen Tendenz zur fortlaufenden Erweiterung des Bereichs einerseits (Kanzog 1968) wie anderseits der gattungsspezifischen Einengung durch Anbindung an die Novellenforschung (Merker 1928/29, Lockemann 1957) wirkte seit Genette 1972 eine gattungsneutrale strukturalistische Fundierung des Begriffs entgegen (Seager 1991, Nelles 1997; Forschungsbericht in Jäggi 1994, 11-58). Lit: Gérard Genette: Discours du récit. In: G. G.: Figures III. Paris 1972, S. 6 5 - 2 7 8 [dt.: Die Erzählung. München 1994, S. 9 - 1 9 2 ] , - Moritz Goldstein: Die Technik der zyklischen Rahmenerzählungen Deutschlands. Diss. Berlin 1906. - Harald Haferland, Michael Mecklenburg (Hg.): Erzählungen in Erzählungen. München 1996. — Andreas Jäggi: Die Rahmenerzählung im 19. Jh. Bern u.a. 1994. - Klaus Kanzog: .Rahmenerzählung'. In: RL 2 3 [1968], S. 3 2 1 - 3 4 3 . - Fritz Lockemann: Gestalt und Wandlungen der deutschen Novellen. München 1957. - Erna Merker: .Rahmenerzählung'. In: RL 1 3 [1928/29], S. 1 - 4 . — William Nelles: Frameworks. New York u.a. 1997. - Matias Martinez, Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie. München 3 2001. Ehrhard Marz: Goethes Rahmenerzählungen. Frankfurt u.a. 1985. - Dennis L. Seager: Stories within stories. New York u.a. 1991. - Gerrit Stratmann: Rahmenerzählungen der Moderne. Marburg 2000. - Agnes Waldhausen: Die Technik der Rahmenerzählung bei Gottfried Keller [1911], Repr. Hildesheim 1973.

Peter Stocker

Rahmenhandlung Geschehen, das eine Binnenhandlung (oder mehrere) umschließt, speziell auch im Drama. Expl: Eine Rahmenhandlung unterscheidet sich von einem bloßen „Situationsrahmen" (Bracher, 70) oder einer einleitenden Herausgeberfiktion. Die Rahmenhandlung (wie

auch der Rahmen ohne eigentliche Handlung) ist dem Binnengeschehen (BINNENHANDLUNG) kommunikativ übergeordnet, an Umfang und Bedeutung in der Regel untergeordnet. Rahmenhandlungen gibt es in epischer und dramatischer Form. Im Unterschied zur Rahmenerzählung dient die dramatische Form der Rahmenhandlung der Umsetzung von Techniken bei Bühne und Film, so u. a. der Rückblende, der Vorausdeutung oder einem kommentierten ? Spiel im Spiel. WortG/BegrG: Zur Terminologisierung vgl. /" Rahmenerzählung. Das Wort Rahmenhandlung entstand im Gefolge dieser fachsprachlichen Fixierung. Petsch (1942, 533 f.) verwendet es in bezug auf den griechischen Roman der Antike. Allgemein verbreitet ist es seit den 1950er Jahren im Hinblick auf Novellen (Klein) und moderne Dramatik (Szondi), besonders auf Brechts ,Der kaukasische Kreidekreis' (1949, Uraufführung 1954). Als ,gerahmt' sind außer Rahmenerzählungen bezeichnet worden: (1) Dramen, in denen ein anderes Drama aufgeführt bzw. einstudiert wird (Gryphius: ,Herr Peter Squentz'; Tieck: ,Der gestiefelte Kater'; Schnitzler: ,Der grüne Kakadu'); (2) Dramen mit prologartigem Vorspiel (Goethe: ,Faust'; Brecht: ,Der kaukasische Kreidekreis'); (3) Dramen mit begleitendem Spiel von Figuren, z. B. Göttern, die der eigentlichen Handlung enthoben sind (Brecht: ,Der gute Mensch von Sezuan'); (4) Geschichten, Dramen und Gedichte mit einer Entsprechung von Anfang und Schluß (Keller:,Romeo und Julia auf dem Dorfe' [Septemberzeit]; Schiller: ,Wilhelm Teil' [Idylle]; Goethe: ,Der Fischer'), besonders wenn die Randteile, wie öfters die Akte 1 und 5 bei Grillparzer (z. B. ,Weh dem, der lügt!'), sich vom übrigen Geschehen abheben. — Rahmenhandlung kommt außer manchen Rahmenerzählungen vor allem den Varianten (1) bis (3) zu. Robert Petsch: Wesen und Formen der Erzählkunst [1934], Halle 2 1942.

SachG: Das Rahmendrama gab es im deutschen Sprachgebiet zu verschiedenen Zeiten. Befördert wurde es durch die in der Ba-

Realismus! rockzeit herrschende Auffassung der Welt als Theater. Mit dem Geschlossenen Drama (y Offenes Drama) teilt es die Tendenz zur symmetrischen Bauform, weicht aber ansonsten von ihm ab. Die Kontinuität der /" Handlung fehlt hier vielfach. Einheitsstiftend ist eher ihre episierende Behandlung (vgl. Szondi, 59) in Form des Rahmens. Das gilt besonders für das /" Fastnachtspiel, Tieck (,Der gestiefelte Kater') und das Epische Theater Brechts. In szenischen Medien-Genres ( / Film, /* Fernsehspiel, z1 Hörspiel) sind neue Rahmen-Techniken entwickelt worden. ForschG: Zur Rahmenhandlung gibt es keine eigenen Veröffentlichungen. Ansätze zu genauerer Definition, etwa in Abgrenzung von der ausgebauten, mehrere Erzählungen überlagernden Rahmennovelle (Klein, 31 — 33), waren wenig wirksam. Über Erscheinungsformen des Rahmendramas äußern sich Pütz, Pfister, Stadler und weitere Literatur. Vergleiche epischer und dramatischer Rahmenwerke hinsichtlich ihrer unterschiedlichen Form (Vermittlung durch je einen Erzähler, aber mehrere Schauspieler), Funktion (Beglaubigung; Betonung des Illusionscharakters) und Verbreitung fehlen bislang. Lit: Hans Bracher: Rahmenerzählung und Verwandtes bei G. Keller, C. F. Meyer und Th. Storm. Leipzig 1909. - Moritz Goldstein: Die Technik der zyklischen Rahmenerzählungen Deutschlands. Diss. Berlin 1906. - Norbert Greiner u.a.: Einführung ins Drama. München 1982. Bd. 1, S. 85-93; Bd. 2, S. 8 4 - 8 9 . - Joseph Kiermeier-Debre: Eine Komödie und auch keine. Theater als Stoff und Thema des Theaters von Harsdörffer bis Handke. Stuttgart 1989. - Johannes Klein: Geschichte der deutschen Novelle [1954], Wiesbaden 4 1960. - Jörg Henning Kokott: Das Theater auf dem Theater im Drama der Neuzeit. Diss. Köln 1968. - Franz H. Link, Günter Niggl (Hg.): Theatrum mundi. Götter, Gott und Spielleiter im Drama von der Antike bis zur Gegenwart. Berlin 1981. - Walter Pache: Pirandellos Urenkel. In: Sprachkunst 4 (1973), S. 124-141. - Manfred Pfister: Das Drama. München 51988, S. 294-307. - Peter Pütz: Die Zeit im Drama. Göttingen 2 1977, S. 8 8 - 9 2 , 150 f., 189-202. - Manfred Schmeling: Das Spiel im Spiel. Rheinfelden 1977. - Karin Schöpflin: Theater im Theater. Frankfurt 1993.

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- Herbert Seidler: Die Kunst der Rahmung in Grillparzers Dramen. In: H. S.: Studien zu Grillparzer und Stifter. Wien u.a. 1970, S. 118-134. - Edmund Stadler: .Vorspiel'. In: RL 2 4, S. 7 9 6 807, bes. 800 ff. - Peter Szondi: Theorie des modernen Dramas. Frankfurt 1956.

Bernhard Asmuth

Rampe ? Bühne Ratiocinatio Raubdruck

Argumentatio Urheberrecht

Ready-mades / Poème trouvé Realismusi Ästhetischer Begriff, der die Kunst in Gegenstand und Gestaltungsweise der Realität verpflichtet. Expl: Das Grundproblem der RealismusDefinition liegt in der Unschärfe des Begriffs .Realität' (oder .Wirklichkeit'). Will man ,Realismus' als Intention und Methode der Realitätsdarstellung definieren und zugleich der kulturhistorischen Variabilität der Realitätsauffassungen gerecht werden, so bedarf es einer Bestimmung des für den Realismus konstitutiven Realitätsbegriffs: .Realismus' setzt voraus, daß eine sinnlich und pragmatisch konstituierte Erfahrungswelt auf naturgesetzlicher Basis als .Realität' gilt; Akzentuierungen innerhalb dieser Wirklichkeitsauffassungen führen dann zu unterschiedlichen Ausprägungen und Gattungen realistischer Literatur. Unter Realismus versteht man in der Literaturwissenschaft die Darstellung der fiktiven Welt als ,real', d. h. bestimmt durch die Faktizität raumzeitlicher Natur und die Intersubjektivität der Erfahrungswelt. Die stiltypologischen Komponenten resultieren aus Intention und Technik dieser Realitätsdarstellung. So führt der Modellcharakter natürlich-pragmatischer Strukturen zu raumzeitlicher Bestimmtheit der fiktiven Welt, Pragmatik des Handlungsverlaufs (Ausschluß

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Realismus]

transzendenter Faktoren wie ideeller Fügungen) und Motivation des äußeren wie inneren Geschehens nach Ursächlichkeit, Kontinuität und Kohärenz ( / Motivierung). Die literarische Fiktion geriert sich so als Nachahmung der Natur (s Mimesis2). Durch Darstellungsweisen, die den Vorgang der Wahrnehmung (sinnliche Anschauung, Sinnverständnis) nachvollziehen, entsteht eine Vergegenwärtigung gegenständlicher Wirklichkeit (Abbild, / Widerspiegelung), die den Darstellungsinhalten durch die InterSubjektivität ihrer Erfahrbarkeit erhöhte Objektivität verleiht (y Wahrscheinlichkeit). Diese Gestaltung von Erfahrungswelt verlangt deskriptiv erzeugte Anschaulichkeit (Ekphrasis, Descriptio), Sichtbarmachung innerer Vorgänge, Konkretheit und Plastizität der Gegenstandsdarstellung durch die Betonung des Individuell-Besonderen, Normalität der Personen (.mittlerer Held') und Stoffbereiche (soziale Repräsentativität). Die ,mimetisch' erzeugte Vorstellung von Realität (s Illusion) zielt in intentional realistischer Literatur stets zugleich auf die Erkenntnis objektiver Gegebenheiten. Künstlerische Formen und Deutungsmuster werden der Darstellung von Wirklichkeit entsprechend untergeordnet. Das bedeutet: Sachbindung von Stil, Sprache und Reflexion, Neutralisierung der künstlerischen Vermittlungsformen, vorgeblichen Verzicht auf Stilisierung oder Tendenz, Sachfundierung der Bildsemantik, Induktion der sinnkonstitutiven Momente bei den Figuren (typisierende Charakteristik; s Figur3) wie der Handlung (pragmatischer Nexus). Im Spielraum der Fiktionalität evozieren realistische Texte in stärkerem Maß Wirklichkeitswissen (,Wiedererkennbarkeit'), aktivieren durch den Gestus von Sachlichkeit und Information das Interesse an den Gegenstandsbereichen wie den Erlebnisformen der historischen Wirklichkeit und regen den Leser zu einer Überprüfung des eigenen Wirklichkeitsverhältnisses an. Diesen erwünschten Phänomenen der Rezeption korrespondiert als Problem die Gefahr einer naiv kunstvergessenen Lesart, die die Texte auf ihren Sachgehalt reduziert und zur Affirmation des Dargestellten tendiert.

WortG: Realismus ist eine neulat. Bildung des späten 18. Jhs.; parallel dazu entstehen Realist, realistisch und realisieren (KlugeSeebold23, 671; Schulz-Basler 3, 187-192). Der Terminus ist eine Entsprechung zu frz. réalisme sowie engl, realism und steht als solcher in Zusammenhang mit dem bereits Anfang des 18. Jhs. gebräuchlichen Begriff Realität. Bezugspunkt des gesamten Wortfeldes ist das im frühen 17. Jh. geprägte Adjektiv real, das auf mlat. realis ,sachlich', ,wesentlich' und den scholastischen Begriff der realitas, beides Ableitungen von lat. res ,Ding', zurückgeht (Kluge-Seebold23, 671; Schulz-Basler 3, 180-187). BegrG: Als Begriff zur Bezeichnung des künstlerischen Weltbezugs steht,Realismus' in der Tradition des Mimesis2- Begriffs der Aristotelischen Poetik, der durch die Interpretation dieses Weltbezugs als Nachahmung' einer — vom Verständnis der jeweiligen Epoche abhängigen — ,Natur' ihre grundlegende Bedeutung erhält. Allerdings bleibt die ,Nachahmung der Natur', die sich aus der (vom Modellcharakter der Handlungswelt ausgehenden) Aristotelischen Mimesis entwickelte, über die Renaissance bis ins 18. Jh. eine Kategorie der Vernunft und die dargestellte Welt durch rationale wie moralische Prämissen bestimmt sowie durch das Gattungssystem begrenzt, so daß das in der Praxis zunehmende Interesse an der ,Abbildung' von Wirklichkeit ästhetisch zunächst nur unter diesen Einschränkungen reflektiert wird. Kants Vernunftkritik begründet den modern-empirischen Realitäts- und damit den Realismusbegriff. Als ,Realism' bezeichnet Kant die Überzeugung von der vorbegrifflichen Existenz der Dinge, die für ihn erst in den Kategorien raumzeitlicher Erfahrung und in konstituierenden Verstandesbegriffen Form erhalten. Diese Skepsis gegenüber einer bewußtseinstranszendenten Empirie kennzeichnet Schillers analog geprägten Realismusbegriff, über den sich die Ausgestaltung zur ästhetischen Kategorie vollzieht: Da die „Realität der Dinge" (NA 20, 399) sinnfrei ist und ihre wahre Natur erst in der „Darstellung des Ideals" zum Vorschein kommt (ebd., 437), bleibt Realismus

Realismus] - die „Anhänglichkeit an das Wirkliche" und Abhängigkeit „von einem äußern Stoffe" (ebd., 399) - künstlerisch problematisch; Aufgabe des Dichters ist daher die Synthese von „Realism" und „Idealism" (ebd. 28, 164 f.). Durch die seit der Aufklärung zunehmende Anerkennung des Tatsächlichen (Comte) und die Identifikation von Wirklichkeit mit Wahrheit (Feuerbach) entsteht im 19. Jh. ein substantialistischer Realitätsbegriff, mit dem sich die Darstellung sinnlich wahrnehmbarer und zugleich als sinnhaft geltender ,Welt' durchsetzt. Um die Jahrhundertmitte ist der Aufstieg zum programmatischen Begriff europaweit abgeschlossen. In Deutschland dient die Literaturkritik der von J. Schmidt und G. Freytag herausgegebenen Zeitschrift ,Die Grenzboten' zur Durchsetzung des neuen Begriffs (y Realismus2). Die Begriffsbestimmung ergibt sich nicht selten aus der Frontstellung gegen den ,Idealismus' der Goethezeit wie den ,Materialismus' des Vormärz. Im Epochendiskurs bleibt die BegrifTsverwendung allerdings belastet durch das idealistische Verdikt. Prädikatierungen wie ,Idealrealismus' oder .poetischer Realismus' verweisen daher auf die ,Essentialität' der Realitätsdarstellung. Ganz auf die Positivität der naturgesetzlichen Welt stützt sich erst der .konsequente Realismus' des Naturalismus. Die Problematik von .Realismus' als poetologischer Kategorie beginnt mit der Relativierung von Realität. Begriffen als Funktion von Empfindung (Mach), des Für-wahr-Haltens (Nietzsche), des Sprachsystems (Wittgenstein) oder des Unbewußten (Freud, C. G. Jung) wird die dingliche Welt zu einem Gegenstand der Interpretation und damit zu einem Raum, in dem man im Medium der Kunst die Gesetze von Natur und Erfahrungswelt suspendiert (SURREALISMUSO. In der Moderne kommt es zur Demontage des Realismuskonzepts: Kunst proklamiert die Emanzipation von Materiellem (/" Expressionismus), die Transzendenz der Erfahrung ( / Surrealismus2) oder die Absolutheit der Versprachlichung (y Konkrete Poesie). Eine weitere Konsequenz ist die Expansion des Realismusbe-

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griffs: Als .erweiterten Realismus' versteht der moderne Roman die Komposition aus Bewußtseinswelten; als /" Magischen Realismus bezeichnet man seit den 1920er Jahren eine die Ordnung der dargestellten .Welt' durchbrechende Erzählfiktion. Gegen diese Auflösung der Objektwelt protestiert die /" Neue Sachlichkeit und der auf dem Widerspiegelungstheorem basierende / Sozialistische Realismus, welcher als Doktrin wahrheitsgetreuer und zugleich ideologisch effizienter Wirklichkeitsdarstellung in die DDR-Literatur Eingang findet. Die gesellschaftspolitische Implikation übernimmt in der BRD der Realismusbegriff der Arbeiterliteratur bzw. der / Dokumentarliteratur. In der Gegenwart ist die Begriffsverwendung von Spannungen geprägt: Konstruktivistischen Realismus-Konzeptionen von Kognitionsforschung wie Analytischer Philosophie (Radikaler Konstruktivismus, ? Analytische Literaturwissenschaft) steht die gesamtkulturelle Bedeutung erfahrungsweltlicher Kategorien entgegen, so daß die Substituierbarkeit des Realismusbegriffs fraglich scheint; dem Realismusverdikt der Literaturtheorie (/" Poststrukturalismus) begegnet in der Literaturkritik die Forderung nach sozial relevanter, also realitätsbezogener Kunst. Die Proklamation von postavantgardistischen ,(Neo-) Realismen' in der bildenden Kunst findet in der Literaturdebatte zur Zeit noch kaum Entsprechung. Friedrich Schiller: Werke. Nationalausgabe [NA]. Hg. v. Julius Petersen u.a. Weimar 1943ff.

SachG: Noch im Rahmen der rhetorisch geprägten Poetik wächst in der Frühen Neuzeit die Bedeutung des literarischen Weltbezugs. Das Docere (s Belehrung) orientiert sich an lebensweltlichen Belangen; die Sinnbildlichkeit der Natur erschließt sich in .beschreibender Poesie'; moraldidaktische oder wirkungsästhetische Zielsetzungen führen im Drama des 18. Jhs. zur illusionierenden Reproduktion bürgerlicher Erfahrungswelt (/" Bürgerliches Trauerspiet), im Roman zur pragmatischen Verifizierung von Psychologie und Handlungsverlauf. Legitimiert wird diese empirisch begründete Wahrheit allerdings stets erst durch die Formen der Kunst (Stilisierung, Teleologie).

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Realismus]

Protest gegen den .schönen Schein' führt im Nachidealismus zur Demonstration des Lebens in seiner nackten, d . h . empirischsinnlichen Wirklichkeit: durch die Akzentuierung natürlicher Faktoren (Zufall, Trieb, soziale Determinanten), die biedermeierliche Skizze des Partikularen (/" Restauration) oder die aktionistische .Emanzipation des Fleisches'. Demgegenüber beansprucht der Realismus der Jahrhundertmitte durch die systematische Erfassung von Wirklichkeit im Medium der Kunst stilbildende Funktion (/* Realismus2). Bereits in den fünfziger Jahren des 19. Jhs. führt die Dominanz naturgesetzlicher Erklärungsmuster (Physiologie, Darwin) zu einer materialistischen Weltsicht, auf welche die intentional realistische Literatur mit der Divergenz von Sachdarstellung und Sinnkonstitution reagiert. Durch den Einfluß der Wahrnehmungstheorie verfeinert sich diese Sachdarstellung im letzten Jahrhundertviertel zur naturalistischen bzw. impressionistischen Registrierung äußerlich-innerlicher Phänomene. Mit der Entwertung der Erfahrungswelt wird der Weltentwurf zur Funktion der Kunst: Gegenständliches wird zu Bildzeichen in künstlerischen Subystemen (/" Symbolismus), artifizielle Dingwelten bilden subjektkonforme Räume (/" Àsthetizismus), im Erlebnisausdruck entsteht eine innerlich begründete Realität (/" Expressionismus). Gegen diese Strömungen formiert sich in den 1920er Jahren eine facettenreich wirklichkeitsbezogene Literatur (/" Neue Sachlichkeit): In der Prosa reproduzieren radikal-mimetische Verfahrensweisen die Tatsächlichkeit der Objektwelt ( / Reportage), das Drama legt durch den Bruch mit dem Illusionismus die gesellschaftlichen Bedingungen bloß (S Episches Theater), die Lyrik evoziert Naturbilder durch die poetische ,Beschwörung' (s Naturlyrik). Die Korruption gegenständlicher Kunst durch den Faschismus führt im Europa nach 1945 zu einem engagiertem Realismus (ital. ,Neorealismo'; s Nachkriegsliteratur). Doch liegt der Hauptakzent in der Kunst auf modern-selbstreflexi ven Darstellungsformen, zu denen auch die methodisch intensivierte Objektivierungstechnik des

? Nouveau Roman gehört. Mit der Politisierung der Literatur in den 1960er Jahren verlagert sich das Interesse wieder stärker auf den Realitätsgehalt bis hin zur Fingierung von Authentizität (s Dokumentartheater). In der Gegenwart führt die Konkurrenz mit der Wirklichkeitsillusion der Medien gerade bei intentional realistischer Literatur zur ästhetischen Verdichtung von Erfahrungswelt. ForschG: Das Problem liegt in der Bildung eines systematischen Begriffs, der sowohl der Intention und Methode realistischer Literatur als auch der Historizität des ? Realismus2 gerecht wird. Die für die jüngere Forschung wichtige Studie von Auerbach (1946) basierte auf einem Stoffbegriff, der dem deutschen Realismus des 19. Jhs. nicht entsprach; die Spezialforschung der 1960er Jahre (besonders Brinkmann) hob demgegenüber den para-modernen Kunstcharakter der Realitätsdarstellung hervor. In den 1970er Jahren führte die — bereits 1921 von Jakobson initiierte und durch die Auseinandersetzung mit der marxistischen Realismusforschung intensivierte - Diskussion über die Konventionalität oder Progressivität künstlerischer Wirklichkeitsdarstellung zur Definition eines durch seine Innovativität charakterisierten ,methodischen Realismus' (Kohl). Seit Mitte der 1990er Jahre versucht man durch den Rückgriff auf den Pragmatismus oder die Anknüpfung an die Zeichentheorie eine Schlichtung der Kontroverse um Weltbezug oder Selbstreferentialität des (historischen) Realismus. Damit findet die von der amerikanischen Philosophie ausgehende neuere Realismusdebatte innerhalb der Germanistik erste Entsprechungen. Lit: Erich Auerbach: Mimesis. Bern 1946 u. ö. — Richard Brinkmann (Hg.): Begriffsbestimmung des literarischen Realismus. Darmstadt 1969. Uwe Dethloff (Hg.): Europäische Realismen. St. Ingbert 2001. - Reinhold Grimm, Jost Hermand (Hg.): Realismustheorien. Stuttgart u.a. 1975. - Luc Herman: Concepts of realism. Columbia 1996. - Roman Jakobson: Über den Realismus in der Kunst [1921]. In: Russischer Formalismus. Hg. v. Jurij Striedter. München 1969, S. 3 7 3 391. — Stephan Kohl: Realismus: Theorie und Geschichte. München 1977. - Peter Laemmle

Realismusj (Hg.): Realismus - welcher? München 1976. George Levine (Hg.): Realism and representation. Madison 1993. - Claus-Michael Ort: Zeichen und Zeit. Probleme des literarischen Realismus. Tübingen 1998. - Bernd W. Seiler: Das Wahrscheinliche und das Wesentliche. In: Zur Terminologie der Literaturwissenschaft. Hg. v. Christian Wagenknecht. Stuttgart 1989, S. 373— 392. - Joseph Peter Stern: Über literarischen Realismus. München 1983. - René Wellek: Grundbegriffe der Literaturkritik. Stuttgart u. a. 1965. - Hayden White: Figurai realism. Baltimore u. a. 1999. — Markus Willaschek (Hg.): Realismus. Paderborn u. a. 2000. - Rosmarie Zeller: Realismusprobleme in semiotischer Sicht. In: JbIG 12 (1980), S. 8 4 - 1 0 1 .

Monika Ritzer

Realismus2 Literaturhistorischer Epochenbegriff für die Zeit von ca. 1850-1900. Expl: Realismus heißt eine epochale Programm-Tendenz moderner Literatur im 19. Jh., die mit prononcierter Abgrenzung gegen ? Romantik und /" Vormärz auf größere Wirklichkeitsnähe drängt und sich zwischen 1850 und 1870 als vorherrschendes Paradigma etabliert, dann der Konkurrenz neuer Epochentendenzen wie /* Gründerzeit oder /" Naturalismus ausgesetzt ist und um 1900 aus dem Programmspektrum literarischer Kommunikation ausscheidet. Die spätere zusätzliche Qualifikation als BÜRGERLICHER oder POETISCHER REALISMUS verdankt sich dem Primat sozialgeschichtlicher bzw. ästhetischer Kriterien für die Rekonstruktion des literarischen Realismus im 19. Jh. WortG: Realismus ist zunächst ein erkenntnistheoretischer Fachterminus der Philosophie, der als Gegenbegriff zum .Idealismus' seit dem 18. Jh. (/" Realismus¡, WortG) jede Konzeption bezeichnet, die ein erkenntnisunabhängiges Gegebensein der Realität behauptet. In der Kantschen Fassung hat Schiller das Begriffspaar .Realismus'/,Idealismus' aufgenommen und auf ästhetische Fragestellungen bezogen, wobei sein Zielpunkt in einer Entdifferenzierung lag, die

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von der epochalen Erwartung einer den Widerstreit von antiker (,Realismus') und moderner (,Idealismus') Kultur versöhnenden Nachmoderne motiviert war. Ohne diesen geschichtsphilosophischen Bezug ist das erkenntnistheoretische und ästhetische Potential der Begriffskonstellation im 19. Jh. tradiert worden, besonders markant z.B. in W. T. Krugs Konzept des ,Synthetismus', das die komplementären Mängel .realistischen' Kopierens und idealistischer' Weltlosigkeit vermeide und die Darstellbarkeit .idealer Realität' anzeige. In dieser Version ist das Wort nach 1848 - verstärkt noch durch die Aufnahme Hegelscher Theoreme — als echter, wahrer, poetischer oder idealer Realismus programmatisch verwandt worden. BegrG: Der Epochenbegriff .Realismus' wurde bereits in der 2. Hälfte des 19. Jhs. von den Programmatikern der zeitgenössischen Literatur als Selbstverständigungsformel genutzt (J. Schmidt, R. Prutz, M. Carriere u. a.; auch die Naturalisten betrachteten sich selbst als .konsequente' Realisten). Um die Wende zum 20. Jh. ist er als literaturgeschichtliche Kategorie unstrittig etabliert; in Frage steht bis in die Gegenwart lediglich, ob ihm die Attributierung als .poetisch' (Stern, Nußberger, Preisendanz, Cowen) oder als bürgerlich' (bes. Martini) größere historische Signifikanz zu geben vermag. Sengle hat 1971 im Hinblick auf das poetologische Profil der Epoche von .programmatischem Realismus' gesprochen und mit dieser Formel viel Resonanz gefunden. Der Realismus des 19. Jhs. hat nicht etwa die ,Wirklichkeit' seiner Zeit zum Thema gemacht; ihm lag vielmehr ein voraussetzungsvolles ästhetisches Programm zugrunde, das die Konstruktion literarischer Realitäten konditionierte. In diesem Sinne der Selbstreferenz aller Realitätssimulationen war der Realismus im 19. Jh. ,poetisch' (.Poetischer Realismus'); im Hinblick auf seine Ausrichtung auf ein mittelständisches Publikum darf er zugleich als .bürgerlich' gekennzeichnet werden (.Bürgerlicher Realismus'). Die Realitätskonstruktion des Realismus stand in der Kontinuität idealistischer Äs-

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Realìsmus2

thetik, die das Kunstwerk als idealisierte Repräsentation der ,Welt' deutete. Die Literatur hatte danach nicht die Aufgabe, die Realität mit einer anderen Version zu konfrontieren, sondern ihr ,schönes Wesen' als „erhöhtes Spiegelbild des Gegenstandes" (O. Ludwig, zit. nach Plumpe, 150) auch kontraphänomenal zur Anschauung zu bringen. Die ,Welt' diente als Medium, dessen lockere Kopplung ,schöner' Elemente die Literatur in ihren Formen restringierte, d. h. von aller Kontingenz befreite. Die Differenzierung von .schöner Welt' und .schöner Dichtung' leistete die Disjunktion ,unverklärt'/,verklärt'. Es sei die „Pflicht des Poeten", so Gottfried Kellers beispielhafte Formulierung, „das Gegenwärtige [...] zu verstärken [...] und zu verschönern, daß die Leute noch glauben können [...], so gehe es zu" (Keller, 195). Gegenüber einer zunehmend als intransparent wahrgenommenen Lebenswirklichkeit sollten die Realitätssimulationen der Literatur noch einmal den Schein von Authentizität, Transparenz und Ordnung erzeugen, diesen Schein aber zugleich als eigentliches Wesen der Wirklichkeit ausweisen. Das ,erhöhte Spiegelbild' der Literatur tilge alle Kontingenz der Welt und stelle ihre schöne Notwendigkeit in plastischer Anschaulichkeit heraus (bei den russischen und französischen Realisten treten demgegenüber Momente der Imagination und der Poetizität stärker hervor). Um die genannte Leistung für das Publikum zu erreichen, durfte die Differenz von präsupponierter ,Realität' als Medium und artikulierter Simulation als Form nur so groß sein, daß der Wiedererkennungseffekt beim Publikum nicht in Frage gestellt war. Gestalten und Ereignisse der Dichtung mußten erwartbar und in der ,Lebenswelt' wiedererkennbar sein. Der Anspruch, mit .Wirklichkeit' zu konfrontieren, auch wo sie Literatur ist, gab den Wortführern des Realismus Anlaß zu einer oft schrillen Schelte alternativer Literaturprogramme, die als .romantische Weltflüchtigkeit', .verstiegene Polit-Utopismen' (y Utopie) oder ,photographischer Häßlichkeitskult' verworfen wurden. Auch die Ablehnung der Rhetorik als lebens-

fremd (Fontane 14, 326) war von dem idealistischen Konzept einer Tiefenidentität von Sein und Kunst getragen. Demgegenüber bezog man sich zustimmend auf Tendenzen der englischen Erzählliteratur und auf das modische Genre der ? Dorfgeschichte. Mit seiner idealisierenden Wirklichkeitskonstruktion unterschied sich der deutschsprachige Realismus von der maßgeblichen gesamteuropäischen Programmatik in ihren dezidiert sozialkritischen, psychologischen, aber auch ästhetizistischen Spielarten (Thackeray, Dostojewski, Flaubert). Die Fragwürdigkeit der idealrealistischen Konstruktion ist dann bevorzugter Gegenstand der naturalistischen Kritik geworden. Moriz Carriere: Die Kunst im Zusammenhang der Culturentwicklung und die Ideale der Menschheit. Bd. 5. Leipzig 1873. - Gottfried Keller: Gesammelte Briefe. Hg. v. Carl Helbling. Bd. 3/2. Bern 1953. - Otto Ludwig: Shakespeare-Studien. Leipzig 1872. — Robert Prutz: Die deutsche Literatur der Gegenwart. Leipzig 1859. - Julian Schmidt: Geschichte der deutschen Literatur im 19. Jh. Leipzig 2 1855. - Adolf Stern: Geschichte der neuern Litteratur. Bd. 7: Realismus und Pessimismus. Leipzig 1885.

SachG: Der programmatische Anspruch des Realismus hat sich vornehmlich in der Erzählliteratur artikuliert, deren besondere Welthaltigkeit und Wirklichkeitsnähe schon die idealistische Ästhetik betont hatte. Ob es Sinn macht, von realistischer' Lyrik zu sprechen, oder ob es realistische' Dramatik im 19. Jh. gegeben hat, sind bis heute offene Fragen, deren positive Beantwortung in erster Linie den Wunsch nach einem allzuständigen Epochenbegriff verraten dürfte. Einen engen Zusammenhang von realistischer' Mentalität und der Bevorzugung narrativer Genres unterstellten jedenfalls die Zeitgenossen: „Man betrat den Boden der Thatsachen, und damit gab es wieder etwas zu erzählen" (M. Waldau, zit. n. Bucher 2, 407). An Roman und Novelle wurde die Erwartung gerichtet, Weltkontingenz nicht lediglich zu kopieren, sondern die Ordnung der Narration als die des Wirklichen nacherlebbar zu machen und so der Poesie in der Moderne ihr Recht zurückzugewinnen (Hegel, Vischer). Objektivität, Integration der Elemente zum Ganzen (/" Zyklus- Konzept)

Realismus2 und durchgängige Motiviertheit (/" Motivierung) waren insofern vorrangige Normen realistischen Erzählens; die forcierte Orientierung am Paradigma dramatischer Kohärenz sollte der Prosa zudem ästhetische Reputation einbringen. Die Artikulation solcher Postulate in den Genremustern des Bildungs-, f Zeit- und des f Historischen Romans erwies das epochale Dilemma, tradierte Kunstprogrammatik und moderne Lebenswirklichkeit im Vollzug der Narration noch integrieren zu können. So wenig es den historisierenden Genres gelang, expandierendem Spezialwissen von der Geschichte, nationalen Legitimationsansprüchen und dem Unterhaltungsbedürfnis des Lesepublikums zugleich zu entsprechen, so wenig gelang es den paradigmatischen Bildungsromanen des Realismus, den gattungsprägenden Konflikt von Subjektivität und Gesellschaft überzeugend zum Ausgleich zu bringen. Während Stifter in seinem .Nachsommer' die Subjektivität zugunsten der sprachlich beschworenen Ordnung des Seins völlig depotenziert, Kellers ,Grüner Heinrich' die diskursiven Strukturen der Moderne im Erlebniszusammenhang der Person nicht länger sinnhaft integrieren kann und Raabes ,Hungerpastor' gelingenden Weltbezug ironisch in die Weltferne verlegt, überführt Freytags ,Soll und Haben' — „die erste Blüte des modernen Realismus" (Fontane 21/1, 215) — das Genreschema in ein ideologisch geladenes Normgefüge mit dem vormodernen Ambiente altdeutscher Bürgerlichkeit. Der Zeitroman spielt sein narratives Potential selbst in der avancierten Gestalt von Gutzkows ,Die Ritter vom Geiste' nicht aus, deren programmatische Polyperspektivität und Simultaneität — ,Roman des Nebeneinander' — bei aller Stoff- und Personenfülle in den Proportionen einer expandierten ,Familiensaga' verbleibt. Die Differenz von Programm und Schreibweise radikalisiert sich schließlich bis zum Dementi, wenn Fontanes Romane der neunziger Jahre (,Stinel, ,Frau Jenny Treibel', ,Effi Briest', ,Der Stechlin') seine Verklärungsästhetik der fünfziger Jahre ironisch außer Kurs setzen, wenn Kellers letzter Roman ,Martin Salander' vor der ,Prosa der Mo-

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derne' kapituliert oder Raabes , Stopfkuchen' das Erzählen erzählt und die Narration so selbstreferentiell schließt. An diesem literaturgeschichtlich aufschlußreichen Ende des Realismus im 19. Jh. offenbarten sich die historischen Grenzen literarischer Welt- und Selbstreferenz in der Perspektive idealistischer Realitätskonstruktionen. Aus dem Zerfall dieser Konstruktionen ist die Divergenz gesellschaftsbezogener (Naturalismus) und kunst- oder literaturorientierter (Ästhetizismus) Programme hervorgegangen, deren Nebeneinander die Wirklichkeit moderner literarischer Kommunikation um 1900 bestimmt hat. Theodor Fontane: Sämtliche Werke. Hg. v. Walter Keitel. 24 Bde. München 1959-1975.

ForschG: Ausgehend von Nietzsches bereits 1880 formulierter Kritik an der Objektivitätssuggestion des Realismus — „Realismus in der Kunst eine Täuschung" (Nietzsche, 80) — erweist sich die ältere, repräsentationstheoretisch argumentierende Forschung in ihren Prämissen (realistische Literatur als ,Wirklichkeitsabbildung' bzw. Widerspiegelung) als unhaltbar. Dies gilt insbesondere für ihre marxistische Variante, die .realistische' Literatur auf eine politisierte Realitätsversion verpflichten wollte. Man machte sich gleichsam den Vorteil systematisch nicht zunutze, die Literatur bei der Beobachtung ihrer ,Realität' beobachten zu können. Die neuere Forschung gründet dagegen auf der Einsicht in den Perspektivismus und die Konstruiertheit aller ,Realität' als Medium realistischer Literatur, die selbst festlegt, was ihre Wirklichkeit sein soll. Diese Einsicht steht ebenso hinter Brinkmanns Konzeption einer progressiven Subjektivierung des literarischen Weltbezuges im 19. Jh. wie hinter Preisendanz' Akzentuierung der Poetizität des Realismus, dem im Gestaltungsspielraum des s Humors eine allein noch literarisch überzeugende Darbietung versöhnbarer Antagonismen von Ich und Welt gelinge. Solchen primär die Selbstreferenz literarischer Kommunikation hervorhebenden Positionen steht mit Martinis monumentaler Gesamtdarstellung der Versuch entgegen, die gei-

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Rechtsspiegel

stes- und sozialgeschichtliche Einheit der Epoche in ihrer dezidierten ,Bürgerlichkeit' zu konturieren. Seit Sengle auf die Existenz eines programmatischen Selbstverständnisses des Realismus nach 1848 aufmerksam gemacht hat, wurde diese Programmatik in sozialhistorischer Lesart als Reflex des politischen Liberalismus und seines Wandels (Widhammer), in epistemologischer Lesart als Kontinuierung identitätsphilosophischer Ästhetik (Eisele) detailliert untersucht; neuere texttheoretische Ansätze finden sich in den Nachbarphilologien (Warning), bei Titzmann und Ort. In Zukunft wird die Forschung vor der Aufgabe stehen, die Perspektivierung der Programme in der geschriebenen Literatur und der mit ihr verbundenen Kommunikation zu rekonstruieren, um der prekären ,Einheit' des Realismus als Epoche deutscher Literatur im 19. Jh. entsprechen zu können. Lit: Richard Brinkmann: Wirklichkeit und Illusion. Tübingen 1957. — Max Bucher u. a. (Hg.): Realismus und Gründerzeit. 2 Bde. Stuttgart 1975,1981. - Roy C. Cowen: Der poetische Realismus. München 1985. - Ulf Eisele: Realismus und Ideologie. Stuttgart 1976. - U.E.: Der Dichter und sein Detektiv. Tübingen 1979. — Hermann Gerig: Karl Gutzkow. Der Roman des Nebeneinander. Winterthur 1954. — F. Hoffmann u.a.: ,Realismus'. In: HWbPh 8, Sp. 148 — 158, 169-172. - Fritz Martini: Deutsche Literatur im bürgerlichen Realismus. Stuttgart 1962. — Edward Mclnnes, Gerhard Plumpe (Hg.): Bürgerlicher Realismus und Gründerzeit 1848-1890. München u. a. 1996. - Friedrich Nietzsche: Gesammelte Werke. Musarion-Ausgabe. Bd. 11. München 1924. — Max Nußberger: ,Poetischer Realismus'. In: RL 1 3, S. 4 - 1 2 . - Claus-Michael Ort: Zeichen und Zeit: Probleme des literarischen Realismus. Tübingen 1998. - Gerhard Plumpe (Hg.): Theorie des bürgerlichen Realismus. Stuttgart 1985. - Wolfgang Preisendanz: Humor als dichterische Einbildungskraft. München 1963. — W. P.: Wege des Realismus. München 1977. — Wolfgang Rohe: Roman aus Diskursen. Gottfried Keller: ,Der grüne Heinrich'. München 1993. - Friedrich Sengle: Biedermeierzeit. Bd. 1. Stuttgart 1971, S. 257-284. - Michael Titzmann: An den Grenzen des späten Realismus. C. F. Meyers ,Die Versuchung des Pescara'; mit einem Exkurs zum Begriff des ,Realismus'. In: Zeller 2000, S. 9 7 - 1 3 8 . - Rainer Warning: Die Phantasie der Realisten. München 1999. — Helmuth Widhammer: Realismus und klassizistische

Tradition. Tübingen 1972. — Marianne Wünsch: Vom späten ,Realismus' zur ,Frühen Moderne'. In: Modelle des literarischen Strukturwandels. Hg. v. Michael Titzmann. Tübingen 1991, S. 187-203. - Rosmarie Zeller (Hg.): Conrad Ferdinand Meyer im Kontext. Heidelberg 2000. - Theobald Ziegler: Die geistigen und sozialen Strömungen des neunzehnten Jhs. Berlin 1899.

Gerhard Plumpe

Realismusstreit /" Sozialistischer Realismus Rebus

Rätsel

Recensio ? Stemma Rechtschreibung

Orthographie

Rechtsspiegel Bezeichnung für vorwiegend mittelalterliche Werke der gelehrten und ungelehrten Rechtsliteratur. £xpl: Rechtsspiegel ist keine rechtshistorische Quellen- und Gattungsbezeichnung, sondern lediglich ein Sammelbegriff für verschiedene lateinische oder deutsche Werke des Mittelalters oder der Frühen Neuzeit, die sich selbst als speculum bzw. /" Spiegel bezeichnen oder später als solche bezeichnet wurden. WortG: / Spiegel. Das Kompositum Rechtsspiegel ist bisher zum ersten Mal belegt bei B. G. Niebuhr (1812), bezogen allerdings auf „römische Bücher" (DWb 14, 437). Es wird in der rechtshistorischen Fachliteratur nur gelegentlich und dann vorwiegend für die entsprechend betitelten deutschen Rechtsbücher gebraucht. BegrG: Die Fähigkeit eines Spiegels, größere Bildwelten einzufangen, ließ ihn traditionell geeignet erscheinen, als Bild für Formen der Zusammenschau und Erkenntnis zu fungieren. Die Idealisierung des Abbilds zu einem Vorbild wurde dadurch begünstigt, daß der Spiegel von jeher auch als

Rechtsspiegel kosmetisches Hilfsmittel diente. Der ,LaienspiegeP (1509) versammelt in einem gereimten Epilog die traditionellen Erklärungen für den Buchtitel: „Layenspiegel" werde dieses Buch genannt, weil es Laien eine juristische Unterweisung an die Hand geben wolle. Richter, Amtleute, Anwälte, Ratmannen (= Ratsherren), Notare usw. sollen „ir mängel darinn beschauwen, / als etwo thuond junckfrauwen / ir gsmuck sind spiegel gen dem tantz, / das sy haben iren rechten glantz". SachG: Anknüpfend an die theologische Spiegel-Literatur des 11./12. Jhs. (s Spiegel) brachte auch die Rechts- und Rechtsbücher-Literatur ihr kompilatorisches und moralisch-didaktisches Anliegen gelegentlich in Spiegel-Titeln zum Ausdruck. Der .klassische' Rechtsspiegel ist der .Sachsenspiegel', ein um 1225 von dem sächsischen Ritter Eike von Repgow verfaßtes Rechtsbuch. In einer Reimvorrede liefert der Verfasser eine Begründung für den Titel: „ ,Spegel der Sassen' / seal dit buk sin genant / went Sassen recht is hir an bekannt, / alse an eneme spegel de vrowen / er antlite scowen" (v. 178-182: , „Spiegel der Sachsen" sei dies Buch genannt, denn darin wird das Recht der Sachsen bekannt [gemacht], so wie in einem Spiegel die Frauen ihr Antlitz erblicken'). Zu den Rechtsspiegeln gehört ferner der ,Deutschenspiegel', („spiegel allr taeutzher laeute"; Oppitz 1, 33), eine um 1275 entstandene oberdeutsche ,Sachsenspiegel'-Bearbeitung. Dieser bildet eine Zwischenstufe zum sog. ,SchwabenspiegeF, einem um 1275 in Augsburg entstandenen und später weit verbreiteten Rechtsbuch. Diesem lag die Konzeption eines umfassenden Kaiserrechts zugrunde, weshalb es sich auch meist k a i serliches Rechtsbuch', ,Kaiserrecht' u.a., gelegentlich auch .Spiegel kaiserlichen und gemeinen Landrechts' nannte. Die Bezeichnung ,Schwabenspiegel' geht auf eine Randnote (1609) von Melchior Goldast v. Haiminsfeld (1578 — 1635) zurück. In dem Bestreben, dem norddeutschen .Sachsenspiegel' ein entsprechendes süddeutsch geprägtes Werk gegenüberzustellen, hat sie sich trotz Einwänden durchgesetzt. Dagegen

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blieb die für das sog. ,Kleine Kaiserrecht' vorgeschlagene Bezeichnung ,Frankenspiegel' ungebräuchlich. Die Masse der übrigen Rechtsbücher kennt den Spiegel-Titel nicht. Von den deutschen Rechtsbüchern als Darstellungen des ungelehrten Rechts unterscheidet sich nach sprachlicher Form, Konzept und Inhalt die am römischen Recht orientierte Juristenliteratur. Auch diese bedient sich bisweilen des (lateinischen) Spiegel-Titels, allerdings ohne Zusammenhang mit dem ,Sachsenspiegel'. Aus der gelehrten Juristenliteratur mit SpiegelTitel ist als wichtigstes Werk das, Speculum iudiciale' zu nennen, dessen Autor Wilhelm Durandus (um 1230—1296) von seinen Zeitgenossen geradezu als speculator bezeichnet wird. Es handelt sich hierbei um eine umfassende Darstellung des römisch-kanonischen Prozeßrechts, dem in der Entwicklung des Verfahrensrechts und in der Rezeptionsgeschichte eine zentrale Rolle zukommt. In dessen Tradition, aber auch jener der deutschen Rechtsbücher, stehen sogenannte populäre Werke, deren Ziel es ist, die mit der Rechtspraxis befaßten Laien über das rezipierte gemeine Recht (= praktiziertes römisches Recht) zu informieren. Dazu zählt ein um 1425 verfaßtes Rechtsbuch, das seit der 1516 von Sebastian Brant besorgten Neuauflage ,Richterlich Clagspiegel' hieß. Große Verbreitung fand ferner der 1509 erstmals erschienene .Layenspiegel' des Nördlinger Stadtschreibers Ulrich Tengler, der 1511 als ,Der neu Layenspiegel' ebenfalls von Brant herausgegeben wurde. In die gleiche Reihe, die mit der juristischen Professionalisierung ausläuft, gehört schließlich auch noch ,Der Rechten-Spiegel' (1552) des Justin Gobier (1503-1567). ForschG: Für die rechtshistorische Forschung ist ,Rechtsspiegel' kein literarischer Gattungsbegriff, sondern lediglich eine Sammelbezeichnung für die Titelgleichheit verschiedener Werke. Die strenge Unterscheidung zwischen deutschem und römischem Recht hat zu einer definitorischen Zäsur zwischen Rechtsbüchern einerseits und römischrechtlich-gelehrter und populärer Literatur andererseits geführt und hat die Forschung diesbezüglich getrennte

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Rechtssymbolik

Wege gehen lassen. Eine besonders intensive Zuwendung hat der .Sachsenspiegel' erfahren, insbesondere dessen vier Bilderhandschriften. Freilich steht die bildliche Darstellungsweise mit dem Spiegel-Begriff in keinem Zusammenhang, sondern ist das Ergebnis einer breiteren Visualisierungstendenz im Spätmittelalter. Die in der neueren Forschung eingeleitete Aufgabe einer scharfen Trennung zwischen deutschem und römischem Recht könnte auch für den Begriff ,Rechtsspiegel' Folgen haben, indem sich jenseits sachlich verschiedener Literaturgattungen doch ein durch die Titelgebung indiziertes gemeinsames Muster und Anliegen erkennen läßt. Lit: Hans-Jürgen Becker: ,Durantis'. In: HRG 1, Sp. 790 f. - Sten Gagnér: Sachsenspiegel und Speculum ecclesiae. In: Niederdeutsche Mitteilungen 3 (1947), S. 82-103. - B. Koehler: ,Laienspiegel'. In: HRG 2, Sp. 1357-1361. - Β. Κ.: ,Klagspiegel'. In: HRG 2, Sp. 855-857. - Paul Lehmann: Erforschung des Mittelalters. Bd. 5. Stuttgart 1962, S. 73-84. - Heiner Lück: Über den .Sachsenspiegel'. Halle/S. 1999. - Dietlinde Munzel: .Spiegel des Rechts'. In: HRG 4, Sp. 1759-1761. — Ulrich-Dieter Oppitz: Deutsche Rechtsbücher des Mittelalters. 4 Bde. Köln u.a. 1990-1992. Ruth Schmidt-Wiegand, Dagmar Hüpper (Hg.): Der .Sachsenspiegel' als Buch. Frankfurt u. a. 1991. — Gerhard Theuerkauf: Lex, Speculum, Compendium iuris. Köln 1968, S. 104-107, 334 f. - Hans-Erich Troje: ,Gobier, Justin'. In: HRG 1, Sp. 1726-1730. - Winfried Trusen: Die Rechtsspiegel und das Kaiserrecht. In: Zs. der Savigny-Stiftung für Rechtgeschichte, Germanistische Abteilung 102 (1985), S. 12-59. Clausdieter Schott

Rechtssymbolik Sinnbildliche Darstellung von rechtsrelevanten Vorgängen, Verhältnissen, Ansprüchen oder Ideen. Expl: Die Rechtssymbolik beruht auf der Verbindung einer Realie und/oder Handlung mit einer über das Faktische hinausgehenden rechtlichen Bedeutung (z.B. Krone und Zepter für Herrschaft, Lilie für Frieden, Rose für ein Urteil, Ergreifen eines Getreidehalms für Anspruch auf Grund und

Boden, Anfassen für Inbesitznahme, Brechen des Stabs für ein Todesurteil etc.). Seine Funktion als Sinnbild unterscheidet das Rechtssymbol bei zahlreichen Überschneidungen vom Rechtszeichen, das zur Kennzeichnung und Differenzierung von Personen und Sachen im Recht dient (Grenzsteine, Siegel, Wappen), und von der Pars pro toto (s Metonymie) im Recht mit reiner Stellvertreterfunktion (Scholle für Grundstück, Schere für Aussteuer). Sie tritt häufig im Kontext der Übergabesymbolik auf, wird also symbolisch verwendet, ohne selbst Symbol zu sein. Hauptsymbolträger sind Realien und Handlungen. Symbolik und ihr Verständnis entstehen oft erst in der Kombination mehrerer Träger (Sache und/oder Ritual, häufig auch als Begleithandlung zum gesprochenen Wort). Bei den Realien kommen sowohl Gegenstände des Rechts (Galgen, Schwert) als auch solche des Alltags (Schere, Schlüssel, Kleidung) oder der Natur (Planzen, Tiere) in Frage. Der gleiche Gegenstand kann in verschiedenen Handlungskontexten Unterschiedliches symbolisieren oder bezeichnen (Handschuh als Persönlichkeits· oder Übertragungssymbol, als Botenzeichen, als Beweis für das vom König verliehene Marktrecht, als Prozeßpfand oder als Investitursymbol). Obwohl die Symbolik in der Regel für die Rechtsrelevanz und Gültigkeit der Handlung zwingend notwendig ist, sind manche Realien austauschbar, da sie im Rahmen derselben Handlung dasselbe versinnbildlichen (Strohwisch, Kreuz, Handschuh und Roland-Statue als Befriedungssymbol des Marktes, Schwert und Schild als Gerichtssymbol). Körperteile sind selten selbst Symbol (Hand als Friedenssymbol), um so öfter ist die GESTIK Teil symbolischer Handlungen: Ausübung und Wahrung eines weitgehend schriftlosen Rechts sind ohne die Ausdrucksmöglichkeiten des Körpers als Produktionsort und Vollzugsstätte von Recht undenkbar. Stehen, Sitzen, Knien sind Ausdruck von Rechtsbeziehungen und Hierarchien. So ist dem Richter das Sitzen mit gekreuzten Beinen vorgeschrieben, stehend soll man Urteil schelten, sitzend muß man

Rechtssymbolik Urteil finden. Die Beziehung von Gestik und Recht gipfelt in ihrer Identität. WortG: Die Zusammensetzung von Recht und Symbolik ist sprachliche Neuschöpfung des frühen 19. Jhs. Zuerst findet sie sich in J. Grimms Aufsatz ,Von der Poesie im Recht' (§ 10: „Beweis aus rechtssymbolen"; Grimm 1816, 48). Im Kontext der immer breiteren Erforschung der Sache seit der Wende zum 20. Jh. erscheint das Wort im Titel zahlreicher v. a. rechtsgeschichtlicher Arbeiten (Amira, Herwegen, Schwerin u.a.). Daneben gibt es bis heute Stimmen gegen den Terminus bzw. für seinen eingeschränkten Gebrauch (Schramm 3, 1076— 1078; Ott, 227). Versuche, ihn durch Rechtswahrzeichen, -Wortzeichen, -leibzeichen

oder

-Sinnbild zu ersetzen, konnten nicht überzeugen. BegrG: Die Diskussionen um den Begriff ,Rechtssymbol' sind gekoppelt an die um den des Symbols. Bis heute unübertroffen ist die Terminologie Schwerins, der bei den Gegenständen zwischen f Symbolen2, Zeichen, Geräten, Attributen, Stellvertretern, Orten und Marken differenziert und diese nach ihrer Funktion zu ordnen sucht. Funktional ausgerichtet ist auch die interne Trennung von Verkörperungs-, Verdeutlichungs- und Motivationssymbolen, die auf Beyerle zurückgeht. Beide Ansätze wurden in der Folge nicht ausgebaut; vielmehr verliert zuvor schon begrifflich Unterschiedenes in jüngeren Arbeiten (Kissel u. a.) wieder an Konturen. Bei der im Falle des Rechts besonders dringlichen Frage, wie mit Mehrdeutigkeit oder gar Widersprüchlichkeit zu verfahren sei, besteht Einigkeit darin, daß der letztlich entscheidende Transfer beim Rezipienten liegt, der Rechtswissen mitbringen muß, will er die Rechtssymbolik ,richtig' verstehen. SachG: Rechtssymbolik begegnet in allen Zeiten und Kulturen. Im Nebeneinander von deutschem und römischem Recht erreicht sie einen Höhepunkt im deutschen Recht des frühen und hohen Mittelalters. Reichhaltige rechtsikonographische Quellen sind die vier durchgehend illustrierten Bilderhandschriften des .Sachsenspiegels' aus

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dem 14. Jh. In ihrer Fülle geben sie ein eindrucksvolles Beispiel der Realisierung und damit der funktionalen Bedeutung der mittelalterlichen Symbolik in allen Bereichen des Rechtslebens. Auch in der deutschsprachigen Literatur des Mittelalters finden sich zahlreiche Beispiele (Peil). Das mittelalterliche Rechtsleben ist der bedeutendste profane, en détail festgelegte, verbindliche Wirkungsbereich der Gestik. Unter den Gesten sind vor allem die Handgebärden fester Bestandteil der Rechtssprache. Sie gehören zum juristischen Vokabular', ersetzen oder ergänzen das Wort, wobei erst die bildliche Darstellung die Rechtsgebärde zum Symbol macht. Durch Festlegung einzelner und Verknüpfung mehrerer Gebärden entsteht im Mittelalter eine eigene ausgeprägte, an feste — quasi grammatische — Regeln gebundene Gebärdensprache, in der die Hände die wohl bedeutendsten Funktionsträger sind. Zu den ältesten Handgebärden im Recht zählt der Handschlag oder Handstreich zur Bekräftigung eines Rechtsgeschäftes. Ein Lehnsverhältnis wird durch den Treueid und den sog. Handgang begründet: Der Lehnsmann reicht dem Lehnsherrn seine aneinandergelegten Hände, die dieser mit den seinen umschließt. Die Eidesleistung wird von einer kombinierten Handund Fingergebärde begleitet: Schwurfinger sind die gestreckten Zeige- und Mittelfinger der rechten Hand, mit denen der Schwörende den Eid auf den Reliquienschrein ablegt. Die Gründe für die Bedeutung der Rechtssymbolik im Mittelalter sind vielfältig: Weitgehend fehlende Schriftlichkeit bzw. Lesefähigkeit sind allein keine ausreichende Erklärung, zumal die Rechtssymbolik sich noch mehrere Jahrhunderte lang behaupten konnte, nachdem Schriftlichkeit das Recht dominierte. Eine Rolle spielen sicher die im Gegensatz z. B. zum römischen im deutschen Recht fehlende Begrifïlichkeit und die besondere Bedeutung von Öffentlichkeit im Rechtsleben. So wird z.B. der Verkauf oder die Vererbung eines Grundstücks und damit der Übergang des Eigentums durch die Überreichung einer Erdscholle (als Pars pro toto) .offensichtlich' und dadurch .offenkundig' gemacht. Gleich-

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Rechtssymbolik

zeitig steht der symbolische Akt unabdingbar f ü r die Rechtmäßigkeit der Rechtshandlung u n d soll so den Rechtsfrieden garantieren. In einer Zeit, in der rechtlicher Gehalt u n d äußere F o r m als u n t r e n n b a r e Einheit verstanden werden, birgt die Symbolik f ü r die Beteiligten mnemotechnische Vorzüge; sie organisiert Wissen, erleichtert u n d bew a h r t Erinnerung. Gelegentlich k a n n ein dingliches Wahrzeichen im Rechtsstreit zudem als Beweis dienen. Auch die Vorstellung, d a ß Rechtssymbolen magische K r ä f t e innewohnen, d ü r f t e eine Rolle spielen. Mit der Rezeption des römischen Rechts u n d der Entstehung v o n Rechtsschulen u n d Universitäten (Berufsjuristen) im Spätmittelalter n i m m t die Bedeutung der Rechtssymbolik immer mehr ab; mit der Entwicklung eines begrifflichen u n d kodifizierten Rechts im 18. Jh. findet sie ihr endgültiges Ende. D a s geltende Recht k o m m t weitgehend ohne sie aus. Relikte sind noch im Prozeßrecht (Zeugeneid) oder in der Staatssymbolik (Wappen, Fahne, Fahneneid) zu finden. ForschG: N a c h Anfangen im 17. u n d 18. Jh. (Jurisprudentia symbolica': Hellmann, Otto) legt J. G r i m m 1828 mit seinen .Deutschen Rechtsaltertümern' den Grundstein zur Erforschung der Rechtssymbolik. In der 2. H ä l f t e des 19. Jhs. u n d zu Beginn des 20. Jhs. dominieren rechtsphilosophische Fragestellungen u n d die Diskussion terminologischer Probleme. D a r ü b e r hinaus stehen einzelne Symbole im Z e n t r u m der Analysen. Heute ist die Rechtssymbolik bei rückläufiger Tendenz von juristischer Seite überwiegend in historischer Perspektive Forschungsgegenstand der Rechtsarchäologie u n d der Rechtlichen Volkskunde. Neues Interesse erfährt sie im Kontext der noch jungen Disziplin der Rechtsikonographie, die über die Bilder Fragen zur Rechtspraxis zu beantworten sucht. Der Literaturwissenschaft ist die Rechtssymbolik notwendige Hilfe bei Strukturierung u n d Verständnis von Texten. Lit: Karl v. Amira: Die Handgebärden Bilderhandschriften des Sachsenspiegels. handlungen der Königlich Bayerischen mie der Wissenschaften, 1. Klasse,

in den In: AbAkadeBd. 23,

2. Abt., München 1905, S. 161-263. - Κ. ν. Α.: Der Stab in der germanischen Rechtssymbolik. München 1909. — Franz Beyerle: Sinnbild und Bildgewalt im älteren deutschen Recht. In: Zs. der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germanistische Abteilung 58 (1938), S. 788-807. Jacob Grimm: Von der Poesie im Recht. In: Zs. für geschichtliche Rechtswissenschaft 2 (1816), S. 25-99. - J. G.: Deutsche Rechtsaltertümer. 2 Bde. [1828], Hg. v. Andreas Heusler und Rudolf Hübner [41899], Repr. Darmstadt 1989. - Johann Tobias Hellmann: Dissertatio jurídica de jurisprudentia symbolica. Jena 1726. - Ildefons Herwegen: Germanische Rechtssymbolik in der römischen Liturgie. In: Deutschrechtliche Beiträge 8.4 (1913), S. 307-344 [Repr. Darmstadt 1962], - Brigitte Janz: Hand in Hand. Hand und Handgebärde im mittelalterlichen Recht. In: Die Beredsamkeit des Leibes. Hg. v. Ilsebill Barta Fliedl und Christoph Geissmar. Salzburg 1992, S. 195-197. - Otto Rudolf Kissel: Die Justitia. Reflexionen über ein Symbol und seine Darstellung in der bildenden Kunst. München 1984. — Gernot Kocher: Abstraktion und Symbolik im Rechtsleben. In: Symbole des Alltags — Alltag der Symbole. Fs. Harry Kühnel. Hg. v. Gertrud Blaschitz u.a. Graz 1992, S. 191-207. - G. K.: Zeichen und Symbole des Rechts. München 1992. - Eberhard Frhr. v. Künßberg: Schwurgebärde und Schwurfingerdeutung. Freiburg 1941. — August Nitschke: Die Freilassung. Beobachtungen zum Wandel von Rechtsgebärden. In: Zs. der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germanistische Abteilung 99 (1982), S. 220-251. - A.N.: Wandel der Rechtsgesten. In: Forschungen zur Rechtsarchäologie und Rechtlichen Volkskunde 11 (1989), S. 105-129. - Norbert H. Ott: Der Körper als konkrete Hülle des Abstrakten. Zum Wandel der Rechtsgebärde im Spätmittelalter. In: Gepeinigt, begehrt, vergessen. Hg. v. Klaus Schreiner und Norbert Schnitzler. München 1992, S. 223-241. - Everhard Otto: Trias exercitationum de jurisprudentia symbolica. Utrecht 1730. - Dietmar Peil: Die Gebärde bei Chrétien, Hartmann und Wolfram. München 1975. - Max Schlesinger: Geschichte des Symbols [1912]. Repr. Hildesheim 1967, S. 207-268. - Ruth Schmidt-Wiegand: Gebärdensprache im mittelalterlichen Recht. In: FMSt 16 (1982), S. 363-379. — Percy Ernst Schramm: Herrschaftszeichen und Staatssymbolik. 3 Bde. Stuttgart 1954-1956. Claudius Frhr. v. Schwerin: Einführung in die Rechtsarchäologie. München o. J. [1943; = Karl v. Amira, Claudius Frhr. v. Schwerin: Rechtsarchäologie. Teil 1], — Berent Schwineköper: Der Handschuh im Recht, Ämterwesen, Brauch und Volksglauben. Berlin 1938, Sigmaringen 21981. — Alfred Voigt: Zum Begriff des Rechtssymbols. In:

Rede, Bibliographie zur Symbolik, Ikonographie und Mythologie. Ergänzungsbd. 1: Beiträge zu Symbol, Symbolbegriff und Symbolforschung. Hg. v. Manfred Lurker. Baden-Baden 1982, S. 181 — 188.

Brigitte Janz

Récit s Plot Redaktion /· Fassung Rede! Situativ eingebundenes, wirkungsadressatenbezogenes Sprachhandeln.

und

Expl: ,Rede' ist Inbegriff menschlichen Sprechens; ihre Disziplinierung ist Gegenstand der Kunstlehre der ? Rhetorik. (1) Das als ,Rede' begriffene Sprachgeschehen ist verbunden mit der Zeit und dem Ort, an dem es sich ereignet (Redekonstellation, f Kontext), und einbezogen in Handlungen (y Pragmatik; s Sprechakt), in bezug auf die es kohärent und zweckmäßig sein muß (>" Aptum). (2) Als zweckgerichtetes sprachliches Handeln (etwa als öffentliche Ansprache: /" Rede2) zielt die Rede auf die Herstellung handlungsleitender Überzeugungen durch einleuchtende, die Zustimmung der Hörer gewinnende Argumentation. Zu diesem Zweck appelliert sie an einen konventionell bestimmten gemeinschaftlichen Sinn' der Menschen (,sensus communis'), den sie selbst herstellt und der sich in ihrem Vollzug ständig erneuert und verändert. Dieser richtet sich auf das Wahrscheinliche und das der gemeinen Vernunft Einleuchtende. Aufgabe der Rede ist die Herstellung von Plausibilität durch Auslotung und .evidente' Darstellung des Wahrscheinlichen'. (3) Die Rede gilt seit Cicero als Grundlage der Zivilisation: als Basis vernünftigen Handelns und eines die Menschen verbindenden Gemeinsinns. Rationalität ist an Rede gebunden, gefaßt in der Formel „ratio et oratio", in der sich der europäische Bildungsgedanke bis ins 18. Jh. hinein verdichtet.

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(4) Das Ziel der Überredung (Persuasio, s Rhetorik) wird durch die Trias ,docere — delectare — movere' (Belehrung, Unterhaltung, Erschütterung) angestrebt. Die Rede ist insofern immer auch affektiv bestimmt und affektiv wirksam. Ihre Ausdruckskraft beruht auf einem tropischen und figurativen Sprachpotential (y Tropus2, s Rhetorische Figur), das Phantasie und Leidenschaft anspricht. Zu ihrem Verständnis gehört daher Einsicht in die menschliche Triebnatur und die Wirksamkeit der Worte. Davon handelt die rhetorische ? Affektenlehre. (5) Die mangelnde Bestimmtheit der Worte macht Rede anfallig für Manipulation. Dem korrespondiert in sophistischer Tradition die Einsicht in die konventionelle (konsensuelle) Qualität der handlungsleitenden gesellschaftlichen (politischen, religiösen) Normen und Werte. Hieraus resultiert die Kritik an der Rhetorik. WortG: Rede ist vermutlich eine frühe Entlehnung aus lat. ratio oder stammt von einer urverwandten, bedeutungsgleichen germanischen Wurzel (Kluge-Seebold23, 673). Anfangs ist ahd. rede ein Begriff aus der Kaufmannssprache und übernimmt aus dem Lat. zunächst die Bedeutung von „rechnung, die in bezug auf ein geldgeschäft gestellt oder abgelegt wird" (DWb 14, 450). Im Ahd. hat das Wort daneben die Bedeutung von Rechenschaft' und bezeichnet dann im weiteren Sinne jede Form der zusammenhängenden Darlegung oder Äußerung, die dazu dient, einen Sachverhalt klarzustellen (vgl. Schützeichel, 208). Im Mhd. bezeichnet rede bereits alles, „was leute unter einander sprechen" bis hin zu ,Gerede', ,üble Nachrede' und ,Gerücht' (rumor, fama\ DWb 14, 457). Dieses breit gefacherte Bedeutungsspektrum hat sich bis heute ohne wesentliche Veränderungen erhalten. In der Literaturwissenschaft wird Rede v. a. in drei Bedeutungen gebraucht: als ,mündliche Rede' (im Gegensatz zur f Schrift), als Terminus für eine bestimmte Textsorte (s Rede2) und als Bezeichnung für metrisch nicht gebundene Texte (,oratio soluta'). Rudolf Schützeichel: Ahd. Wb. Tübingen "1989.

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Redei

BegrG/SachG: In der rhetorischen Theorie seit der Antike ist die Rede das in der Praxis verankerte Medium der Verständigung und Selbstverständigung, des begrifflichen Denkens und der gegenständlichen Erkenntnis, durch die sich der Mensch über das Tier erhebt. Der griech. Terminus ist λόγος [lògos], der sowohl ,Zahl', ,Rechnung', Ordnung', ,Zusammenhang' als auch ,Wort', ,Sprache', ,Sinn' bedeutet — in dem also die Aspekte ,ratio' und ,oratio' zusammenfallen. ,Welt' wird in Rede erschlossen. Anders als die Logos-Spekulation in der antiken Metaphysik insistiert die Rhetorik auf der konventionellen Bestimmtheit Gauctoritas', .traditio', ,consuetudo') und .analogen' Strukturiertheit (,analogia', ,proportio') des Logos sowie auf dem praktischen Bezug des Sprachgeschehens — und profiliert in diesem Zusammenhang den Begriff der Rede: „sermo constat ratione, vetustate, auctoritate, consuetudine, rationem praestat praecipue analogia, nonnumquam et etymologia" (,Die gesprochene Rede wird bestimmt durch Vernunftsgründe, Alter, Gewicht der Autorität und Üblichkeit der Ausdrucksmittel. Die Vernunftsgründe liefert hauptsächlich die Analogie, manchmal auch die Etymologie'; Quintilian 1,6,1). Entsprechend sieht Quintilian in der Rede (bestimmt als zusammenhängende Darstellung eines Sachverhalts) nicht den Stoff, sondern das Werk der Rhetorik („sermo quacumque de re compositus dicatur oratio, non materia sed opus [rhetorices] est" — ,heißt eine zusammenhängende Darstellung, die sich über irgendeinen Sachverhalt äußert, ,Rede', so ist sie nicht der Stoff, sondern das Werk der Rhetorik') — und führt dazu aus, daß der Stoff nicht nur in den ,Worten' (,verba') bestehe, die ohne ihren sachlichen Gegenstand (,rerum substantia') bedeutungslos seien, sondern in ,allen Gegenständen, die sich zum Reden darbieten' bzw. die ,das gesprochene Wort nötig haben', um in Erscheinung zu treten (Quintilian 2,21,1). Von Anfang an erweist sich daher der Versuch der systematischen Erfassung aller möglichen Redeanlässe als schwierig. Bereits Quintilian (3,4,3) konstatiert eine unüberschaubare Vielfalt der Redegattun-

gen, die sich aus der Allgegenwart der Rede ergibt. Traditionsbildend ist Ciceros Kopplung vollendeter Rede an das Ethos des Redners: Der Redner ist der ,vir bonus' (,De oratore' 1,31 ff. und 3,54ff.; Quintilian 12,1,1). Als solchem komme ihm eine Führungsrolle gegenüber der ,Masse' (,vulgus') zu, deren schwankende Affekte er zum sittlich Guten lenkt. ,Rede' wird damit Fundament eines umfassenden Bildungskonzepts. Damit konkurrieren zwei Auffassungen: ,Rede' als Inbegriff menschlichen Sprachhandelns im Sinne von (1)—(5) und ,Rede' als eine kunstvolle, nach Regeln geformte Weise des Sprechens (y Rhetorik, s Rede2). Je nachdem, welcher Aspekt vorherrscht, bestimmt sich die Einstellung zu dem Konzept. So betont Augustinus die Auslegungsbedürftigkeit des biblischen Worts, das die göttliche Wahrheit gleichnishaft mitteilt, damit die Notwendigkeit ihrer überzeugenden Darstellung in der Predigt (,ars praedicandi') und diejenige der Analyse rhetorischer Strategien. Er erhält so das Interesse an rhetorischen Einsichten und Techniken am Leben; doch wendet er sich andererseits gegen den Typus von Redekunst, die Gegenstand antiken Rhetorikunterrichts ist. Bei der Frage nach dem Anteil, den die sprachliche Formung an der Erkenntnis hat, vertritt er die Position, daß die Wahrheit unabhängig von der Form ihrer Aussage besteht, daß sie den sprachlich abgesteckten Bewußtseinsraum sprengt und nur ,innerlich' (im ,lautlosen' Gebet) erfahren werden kann (Augustinus, ,De magistro' 40-46; vgl. Ijsseling). Die Kunst- und Anspruchslosigkeit der Bibel ist nicht Zeichen rhetorischen Unvermögens, sondern sie wird als SERMO (STILUS) HUMILIS (schlichte Rede, ,Rede von Fischern') dem STILUS GRAVIS der rhetorischen Kunstlehre gegenüber aufgewertet, da sie sich gerade durch den Verzicht auf rhetorischen Ornatus zum Gefäß der von Gott geoffenbarten Wahrheit eigne. Daß prunkvolle Rede der Botschaft des wahren Glaubens unangemessen sei, ist das zentrale Argument der Rhetorik-Kritik vor allem christlicher Observanz; für einen Begriff von ,Rede' als sozial verankertem Instrument der Wahrheits-

Redei findung ist kein Platz mehr. Von hier ausgehend wird der sermo humilis zur stilistischen Norm einer auf rhetorisch ungeschminkte Wahrheit gerichteten christlichen Dichtung in unterschiedlichen Genres. Er wirkt ebenso in der Theorie der ? Predigt wie später in literaturtheoretischen Positionen des / Realismus ι (vgl. Auerbach; / Genera dicendi). Die rhetorikkritische Auffassung überwiegt im Mittelalter, doch wird sie mit der Wiederentdeckung der antiken Rhetorik seit dem 14./15. Jh. in Frage gestellt. Die humanistische Kritik an der scholastischen Philosophie und Theologie ist vor allem Sprachkritik: Die Haarspaltereien und sprachlichen Ungetüme der sog. Dialektikι (s Artes liberales) verschütteten die gesellschaftsbildende Kraft der Rede. Die Aufwertung der Rhetorik gegenüber der Logik sucht, in Anknüpfung an die Antike, die kulturstiftende Funktion der Rede wiederzubeleben (y Humanismus2). Diese Auffassung von der Macht der Rede dominiert in der Frühen Neuzeit. Man erkennt die Rede zwar als nahezu beliebig instrumentalisierbar, doch als prinzipiell — in der Tradition Ciceros — an moralphilosophische Normen gebunden. Ihr kommt dadurch, daß sie den ungehemmten Affekt bricht, sittliche Bedeutung zu: Durch Verzögerung der spontanen Reaktion verschafft sie Zeit, die Konsequenzen des Handelns zu bedenken; sie ersetzt physische Gewalt durch die Macht des Worts, durch die sich allein Gerechtigkeit und Frieden gewinnen lassen (Blumenberg). Diese Hochschätzung der Rede spiegelt sich im Barock und noch in der frühen Aufklärung in der Hochschätzung des Rhetorikunterrichts an Schule und Universität und der Beredsamkeit als wichtigster Qualifikation des ,Mannes von Welt' (Konversation, s Unterhaltung2) sowie in der Ausrichtung der Dichtung an den Regeln der Rhetorik. Wenn auf der einen Seite ,Rede' Medium des Aushandelns vernünftiger' Meinungen in einer räsonierenden s Öffentlichkeit ist, werden auf der anderen Seite die konventionellen Anteile dieser Rede — das, was als sozial verbindlich an ihr eingeübt wird (ζ. B. in ? Briefstellern) — suspekt: als Behinde-

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rung des ganz und gar spontanen und individuellen Ausdrucks des Subjekts. Daraus resultiert ein antirhetorischer Affekt in der 2. Hälfte des 18. Jhs.: Das zur Sicherung des ,Ich' im 18. Jh. entwickelte Konzept der ,unmittelbaren Selbstaussage' versteht sich aus der Frontstellung gegenüber dem rhetorischen Rede-Begriff, auch wenn dieser unerwähnt bleibt und die Rhetorik der Unmittelbarkeit ihrerseits in rhetorischen Traditionen steht (so schon nachgewiesen für den /" Pietismus; vgl. Berning) und konventionalisiert werden kann (Meuthen). Stimmen, die auf die rhetorische Struktur der spontanen Ausdrucksform' hinweisen und der Rede (vor allem in der Gestalt des Gesprächs) wahrheitskonstitutive Bedeutung zubilligen (Wieland, Adam Müller), treten demgegenüber zurück. Im 19. Jh. unterliegt die Regel-Rhetorik einem massiven Verdrängungsprozeß im schulischen Unterricht, während die Rede vor den verschiedensten gesellschaftlichen und politischen Foren wiederauflebt. Das hat auch Folgen für die Abwertung von ,Rede' generell, als eines angeblich beliebigen Gewandes für Aussagen aller Art. Eine Gegenposition vertritt Nietzsche: Die Rede bzw. ihr rhetorischer Kern — ein gedanklich nicht beherrschbares metaphorisch-figuratives Potential — erscheint bei Nietzsche als bestimmender Grund des Bewußtseins und als Instanz, die die Äußerungsmöglichkeiten des Ich kontrolliert. Damit eröffnet sich eine neue, sich auf die Sophisten berufende Perspektive: Die Sprache wird definiert als „das Resultat von lauter rhetorischen Künsten" — weniger auf Wahrheitsfindung bedacht als auf der ,Übertragung' von .Vorurteilen' und .Erregungszuständen' (Nietzsche 2/4, 425; 3/2, 373 ff.). Nietzsches These hat für Kunst, Philosophie und ästhetische Reflexion des 20. Jhs. grundlegende Bedeutung. In vermittelter Form ist sie für den Neuansatz der Rhetorikforschung in der deutschen Literaturwissenschaft seit dem Ende der 1960er Jahre (insbesondere bei Barner) bedeutsam. In der französischen poststrukturalistischen Debatte wird sie explizit wiederaufgegriffen. Dabei wird Nietzsches Orientierung am

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Redei

Rede-Begriff der klassischen Rhetorik immer mehr aufgegeben, seine Einsicht in die rhetorische Verfaßtheit aller Texte bleibt jedoch Ausgangspunkt literaturwissenschaftlicher Analyse. ForschG: ? Rhetorik. - W. Scherers früher Versuch, dem Rhetorik-Verdikt des 19. Jhs. entgegenzuwirken sowie den Rede-Begriff und Fragen der Publikumsbezogenheit der Literatur wieder ins Zentrum der poetologischen Reflexion zu rücken (,Poetik l , 1888), stieß auf breite Ablehnung und blieb folgenlos. Erst seit den 1960er Jahren gelang es, den Geltungsanspruch der Rhetorik-Kritik seit der /" Autonomie-Periode einzuschränken und einem literaturwissenschaftlichen RedeBegriff den Boden zu bereiten. Auf der Basis poststrukturalistischer bzw. dekonstruktivistischer Konzepte wurde dies versucht, u. a. in Anknüpfung an Foucaults ,discours'-Begriff (S Diskurs), der historische Praxis als Vollzug symbolischer Ordnungen zu fassen sucht, sowie an de Mans Postulat einer Lecture, die das rhetorische' Apriori von Texten (die Anspruch auf Originalität und Authentizität erheben) durch Exposition ihrer diskursiven Formationen (grammatischen Funktionen, figurativen Elemente, topischen Strukturen) deutlich zu machen sucht. Dabei handelt es sich allerdings um Modelle einer ,neuen (dezentrierten) Rhetorik', die intentionales Bewußtsein nicht mehr als ihre Voraussetzung, sondern als ihr Produkt betrachtet — und die sich daher nicht mehr im traditionellen Sinne als Überredungsmittel verstehen läßt, sondern die ästhetische Rhetorik-Kritik gleichsam ,verinnerlicht' (,in sich aufgehoben') hat (zur Kritik einer solchen Position vgl. Vickers). Während die Geschichte der Rhetorik inzwischen in zahlreichen monographischen Studien aufgearbeitet ist, fehlt eine Geschichte der Rede. Lit: Erich Auerbach: Mimesis. Frankfurt, Bern 1946. — Aurelius Augustinus: De magistro. Übers, und hg. v. Burkhard Mojsisch. Stuttgart 1998. - Wilfried Barner: Barockrhetorik. Tübingen 1970. - Roland Barthes: Die alte Rhetorik. In: R. B.: Das semiologische Abenteuer. Frankfurt 1988, S. 15-101. - Stephan Berning: Zur

pietistischen Kritik an der autonomen Ästhetik. In: Literatur und Religion. Hg. v. Helmut Koopmann und Winfried Woesler. Freiburg i. Br. u. a. 1984, S. 91-121. - Hans Blumenberg: Anthropologische Annäherung an die Aktualität der Rhetorik. In: H. B.: Wirklichkeiten, in denen wir leben. Stuttgart 1981, S. 104-136. - Lothar Bornscheuer: Rhetorische Praktiken im anthropologiegeschichtlichen Paradigmenwechsel. In: Rhetorik. Hg. v. Joachim Dyck u. a. Bd. 8. Tübingen 1989, S. 13-42. - Rüdiger Campe: Affekt und Ausdruck. Tübingen 1990. — Curtius. — Klaus Dockhorn: Macht und Wirkung der Rhetorik. Bad Homburg u. a. 1968. - Hans Flasche: Die begriffliche Entwicklung des Wortes ,ratio' und seiner Ableitungen im Französischen bis 1500. Diss. Bonn 1935. — Jürgen Fohrmann, Harro Müller (Hg.): Diskurstheorien und Literaturwissenschaft. Frankfurt 1988. — Michel Foucault: Les mots et les choses. Paris 1966. - HansGeorg Gadamer: Rhetorik, Hermeneutik und Ideologiekritik. In: H.-G. G.: Kleine Schriften. Bd. 1. Tübingen 1967, S. 113-130. - Karl-Heinz Göttert: Geschichte der Stimme. München 1998. — Johann Christoph Gottsched: Ausführliche Redekunst [1736]. Repr. Hildesheim, New York 1973. - Dieter Gutzen, Martin Ottmers: .Christliche Rhetorik'. In: HWbRh2, Sp. 197-222. Jürgen Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns. 2 Bde. Frankfurt 1981. - Walter Hinderer: Über deutsche Literatur und Rede. München 1981. — Samuel IJsseling: Rhetorik und Philosophie. Stuttgart-Bad Cannstatt 1988. Walter Jens: Von deutscher Rede. München 1969. — Josef Kopperschmidt: Zwischen Sozialtechnologie und Kritik. Plädoyer für eine andere Rhetorik. In: JbIG 9.1 (1977), S. 53-89. - J. K : Argumentationstheoretische Anfragen an die Rhetorik. In: LiLi 11 (1981), H. 43/44, S. 44-65. Philippe Lacoue-Labarthe: Der Umweg [1971]. In: Nietzsche aus Frankreich. Hg. v. Werner Hamacher. Frankfurt, Berlin 1986, S. 75-110. Paul de Man: Allegories of reading. New Haven, London 1979. - Erich Meuthen: Selbstüberredung. Rhetorik und Roman im 18. Jh. Freiburg i.Br. 1994. - Adam Müller: Zwölf Reden über die Beredsamkeit und deren Verfall in Deutschland. In: A. M.: Kritische, ästhetische und philosophische Schriften. Bd. 1. Hg. v. Walter Schröder und Werner Siebert. Neuwied, Berlin 1967, S. 293-451. - Friedrich Nietzsche: Werke. Kritische Gesamtausgabe. Hg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Berlin, New York 1968ff.— Peter Philipp Riedl: Öffentliche Rede in der Zeitenwende. Tübingen 1997. — Helmut Schanze, Josef Kopperschmidt (Hg.): Rhetorik und Philosophie. München 1989. - Brian Vickers: In de-

Redez, Redegattungen fence of rhetoric. Oxford 1988. — Irmgard Weithase: Zur Geschichte der gesprochenen deutschen Sprache. 2 Bde. Tübingen 1961.

Erich Meuthen / Jan-Dirk Müller

Rede2, Redegattungen Mündlich vor einem Publikum vorgetragener, anlaßbezogener Prosatext, rhetorischer Tradition zufolge v. a. in drei funktional bestimmten Unterarten. Expl: ,Rede' wird in der / Rhetorik aufgrund der Merkmale ,Kommunikationssituation', ,Performanz', .Pragmatik' und ,Textur' zugleich als kommunikatives Ereignis (s Redej) und als textuelles Phänomen bestimmt. Mit Bezug auf den Interaktionsaspekt der Kommunikation unterscheidet man mindestens zwei Rede typen: die interaktive (dialogische) Rede, die mit expliziter Gegenrede rechnet oder selbst Gegenrede ist (ζ. B. Gerichtsrede, Parlamentsrede), und die exklusive (monologische) Rede im Sinne einer Ansprache, die ein eigenständiges Kommunikationsereignis darstellt (ζ. B. Festrede, Dankrede, Lehrvortrag). Zu den Performanz- Merkmalen (s Linguistische Poetik) gehört, daß die Rede als Faceto-face-Kommunikationsakt vor Zuhörern mündlich vorgetragen wird (Contionalität und s Oralität). Hierauf bezieht sich die Körperrhetorik der klassischen Lehre von ACTIO und PRONUNTIATIO (begleitende Gesten und stimmlicher Vortrag; s Deklamation). Zur Pragmatik der Rede gehören ihre Ziele (Intentionalität, Funktionalität), als deren oberstes der Versuch einer Veränderung im Denken oder Handeln des Interaktionspartners zählt (Metabolie), welche sich in Überzeugungstechniken (Persuasio, ? Rhetorik) niederschlägt. Im Unterschied zur Predigt steht die Rede in weltlichen Funktionszusammenhängen. Auf die Textur bzw. Machart einer Rede beziehen sich einerseits die rhetorische Lehre von den Redeteilen (,partes orationis'; / Dispositio), andererseits die aus dem Angemessenheits-Postulat (s Aptum) abzuleitenden fakultativen Textmerkmale, die

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z. B. die ^ Topik, das s SW-Niveau (/" Stilebene, /" Genera dicendi) oder den ? Ornatus, insbesondere die ? Rhetorischen Figuren, betreffen. Seit der Antike werden auf der Grundlage dieser Gesichtspunkte drei große Funktionalgattungen der Rede unterschieden: die Gerichtsrede in der Funktion von Anklage oder Verteidigung (GENUS IUDICIALE), die (politische) Beratungsrede in der Funktion des Zuratens oder Abratens (GENUS DELIBERATIVUM) und die Vorzeigerede, insbesondere als Lob oder Tadel (GENUS DEMONSTRATIVUM oder EPIDEIKTISCHES GENUS). Sie waren bis in die Neuzeit hinein Gegenstand schulischer Deklamationsübungen und wurden in der Literatur fingiert. WortG/BegrG: Wenn historisch von den Gattungen!genera der Rede gesprochen wird, dann schwankt die Bedeutung zwischen dem Ereignis- und dem Textaspekt. So verwendet Notker der Deutsche die entsprechenden ahd. Interpretamente in seiner ,Rhetorik' (vor 1021) lediglich für die Fallsituationen (,causae'), in denen Reden zu halten sind, nicht aber für die Textarten im strengen Sinn: z.B. „causa iudicialis/tiu dinchlicha", ,Rede vor Gericht'. Noch in Friedrich Riederers .Spiegel der wahren Rhetoric' von 1493 sind die Gattungsbegriffe sowohl auf die Texte wie ihre Anlässe zu beziehen: „genus iudiciale siue forense/ geslächt [,Typus des'] gerichtshandels", „genus demonstratiuum seu sermocinatiuum/ gesiecht der belümdung" (,Typus des Lobs oder Tadels'), „genus deliberatiuum seu concionale/geslecht des ratslags" (zit. n. Knape/Sieber, 60 und 45 f.). Es gibt keine zweifelsfreien Belege, in denen ahd. reda oder mhd. rede (Düwel, 207—209) für den hier in Frage stehenden Gattungsbegriff Rede, griech. λόγος [lògos] bzw. lat. oratio, vorkommen. Seit dem 15. Jh. sind dt. Termini für Unterarten der drei Funktionalgattungen belegt. Unter die Gerichtsrede fallen in der ,Augsburger Chronik' aus der Mitte des 15. Jhs. „rede und widerred", d. h. Anklage und Verteidigung vor Gericht (Zink, 29 und 47), sowie „defensio/gegenred/widerred" bei Riederer (zit. n. Knape/Sieber, 44). Die drei Grund-

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Rede2, Redegattungen

typen werden in der Folge weiter untergliedert, so durch Josua Maaler (,Die Teütsch spraach', 1561) oder durch Kaspar Stieler (1691, 1539-1541), der rund 120 Redetypen unterscheidet. (Im 20. Jh. werden derartige Aufzählungen durch moderne Subgenera ergänzt; vgl. Dovifat, 227 f.) Eine andere Einteilung findet sich bei Gottsched (1736, 372 f.), und zwar nach längerer oder kürzerer Aufführungsdauer. Als Gebrauchsformen handelt er große Lobreden, Trauerreden (Parentationen), Schulreden, Hof- und Staatsreden, Standreden, Personalien und Trostschriften, Verlobungs-, Trauungs- und Strohkranzreden ab. Klaus Düwel: Werkbezeichnungen der mittelhochdeutschen Erzählliteratur (1050-1250). Göttingen 1983. - Johann Christoph Gottsched: Ausführliche Redekunst [1736]. Repr. Hildesheim, New York 1973. — Joachim Knape, Armin Sieber: Rhetorik-Vokabular zur zweisprachigen Terminologie in älteren deutschen Rhetoriken. Wiesbaden 1998. - Kaspar Stieler: Der Teutschen Sprache Stammbaum und Fortwachs. 2. Teil [1691]. Repr. München 1968. - Burkard Zink: Augsburger Chronik. In: Die Chroniken der deutschen Städte vom 14. bis in's 16. Jh. Bd. 5 [1866], Repr. Göttingen 1965.

SachG: In der griechischen Polis dient die öffentlich vorgetragene Rede der politischen Willensbildung, der rechtlichen Auseinandersetzung oder der Verständigung über gemeinschaftliche Normen, Traditionen, Zielvorstellungen, Weltbilder o. ä. Systematisiert sind die Anlässe in der Lehre von den drei Redegattungen. Sie geht auf Aristoteles zurück (.Rhetorik' 1,3,3). Vorher gab es unterschiedliche Systematiken (Engels, 705—707). Aus genauer Analyse der öffentlichen kommunikativen Situationen seiner Zeit folgert Aristoteles, daß es in Hinblick auf Redner, Zuhörer, Gegenstand und Ziel drei Arten öffentlich vorgetragener Reden (γένη των λόγων [gène ton logon]) gebe. Diese Einteilung in Beratungs-, Gerichts- und Vorzeigerede wird in der römischen Theorie übernommen (,Rhetorica ad Herennium' 1,5; Quintilian 3,4). Schon in der römischen Kaiserzeit verschiebt sich aufgrund der Funktionslosigkeit öffentlicher Rede das Gewicht zunehmend auf die epideiktische Rede. Beweise rednerischer

Kunstfertigkeit liefern in der Spätantike v. a. panegyrische Reden ( / Panegyrikus) auf Herrscher oder andere bedeutende Persönlichkeiten, Reden auf Institutionen, auf Künste und Wissenschaften, auf Kunstwerke usw. Hinzu kommen deren komische Verkehrungen. Der öffentliche Anlaß ist häufig nur noch fingiert. Dieser stilistisch ambitionierten Rhetorik, wie sie die Rhetorenschulen lehren (Deklamatorik), stellt sich der christliche Sermo humilis (/* Rede¡) als Medium der Unterweisung und Verkündung entgegen. Die Konkurrenz beider Typen beeinflußt die christliche Dichtung des Mittelalters und darüber hinaus die europäische Literatur bis hin zur Moderne. Im Mittelalter ist die Gattung der stilistisch hochelaborierten Rede weithin schriftliterarisch (Knape 2001, 1373 f.; vgl. auch /" Ars dictaminis), sieht man von einzelnen Institutionen wie der Universität ab, wo öffentlich vorgetragene Reden in Disputationen oder Festakten (hier ,in genere demonstrative') üblich sind. Den Gegentypus vertreten Predigt und Predigtheorie (,ars praedicandi'). Auch der humanistische Versuch einer Wiederbelebung antiker Redepraxis und -formen konzentriert sich auf lobende bzw. tadelnde Prunkreden. Zwar werden zunehmend Reden mit dem Ziel politischer oder gesellschaftlicher Beeinflussung entworfen, doch spielen sie in den Handlungszusammenhängen, für die sie konzipiert sind (also selbst etwa in fürstlichen oder ständischen Beratungsgremien) keine große Rolle. Rede bleibt vorläufig eine überwiegend literarische Gattung. Es besteht deshalb ein Interesse daran, sie weiter zu spezifizieren. So gewinnen andere Gebrauchsformen Bedeutung. Melanchthon ergänzt die Trias um die Lehrrede, das „genus didacticum" oder „didaskalikón" (Knape 1999, 125), dem in etwa heute die ,Informationsrede' entspricht. Die Klassifikationsversuche von Maaler, Stieler u.a. basieren letztlich auf alltagsweltlichen Redeanlässen und Kommunikationstypen. Die verschiedenen Typen siedelt Quintilian oft noch unter dem Dach der Epideiktik an (3,4,2—3). Der besondere Charakter der epideiktischen Rede, der sich für Aristoteles aus ihrer Beschäftigung mit dem Schö-

Rede3 nen und Häßlichen, Ehrenhaften und Unehrenhaften ergibt (,Rhetorik' 1,3,5), ließ sie Brücke zur Dichtkunst werden. Darum fallt im 17./18. Jh. das Gros der Gelegenheitsdichtungen mit der rhetorischen Gelegenheitsepideiktik zusammen. Seit dem 19. Jh. differenzierten sich mit den Redeanlässen auch die Typen der Rede weiter aus, doch entspricht dem keine ausgearbeitete Gestaltungslehre mehr. Rhetorische Anweisungen vermitteln auch in neuerer Zeit kein spezifisch gattungsbezogenes Wissen über genaue Textstrukturen, sondern über die falladäquaten Vorgehensweisen bei der Textproduktion und Textaufführung (Bremerich-Vos, 260 ff.). Entsprechend willkürlich und unbeholfen sind Systematisierungsversuche (ζ. B. Einteilung in ,Rede', .Vortrag', ,Referat' oder .spontan', .improvisiert', gründlich erarbeitet', ,frei vorgetragen', ,abgelesen' usw.; vgl. Duden, 66-72). ForschG: Für bestimmte Epochen sind viele Redearten in ihren historischen Zusammenhängen von den historisch-philologischen Disziplinen untersucht worden. Das .Historische Wörterbuch der Rhetorik' dokumentiert dies unter zahlreichen Lemmata (ζ. B. .Beratungsrede', ,Gerichtsrede', .Festrede' oder .Feldherrenrede', ,Gedenkrede', ,Gelegenheitsrede', ,Hochzeitsrede' usw.). Gegenüber diesen historisch orientierten Forschungen steht die Theorie der Redegattungen zurück. Sie ist bis zum 20. Jh. kaum über die Positionen der griechischen und lateinischen Antike hinausgekommen (Überblick bei Engels), wie dies der Beitrag Dovifats im,Handbuch der Publizistik' von 1968 zeigt. Neue, für die Redegattungen allerdings noch nicht voll entwickelte Ansätze bieten die Gebrauchsliteratur-Forschung (Überblick bei Müller) und die ? Textsorten- Lehren der s Textlinguistik (Überblick bei Heinemann/Viehweger, 129—175).

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- Thomas Haye: Oratio. Mittelalterliche Redekunst in lateinischer Sprache. Leiden u.a. 1999. - Wolfgang Heinemann, Dieter Viehweger: Textlinguistik. Tübingen 1991. — Wilhelm Hilgendorff: .Ansprache.' In: HWbRh 1, Sp. 655-658. - Joachim Rnape: Melanchthon als Begründer der neueren Hermeneutik und theologischen Topik. In: Werk und Rezeption Philipp Melanchthons in Universität und Schule bis ins 18. Jh. Hg. v. Günther Wartenberg. Leipzig 1999, S. 123131. - J. K.: .Mittelalter. A'. In: HWbRh 5 [2001], Sp. 1372-1384. - Jan-Dirk Müller: ,Gebrauchsliteratur'. In: HWbRh 3, Sp. 587-604. Kurt Spang: Rede. Bamberg 21994. Joachim Knape

Rede3 Diskursiv-räsonierende Reimpaar- und Prosatexte des (späteren) Mittelalters.

Expl: Rede (mit kurzem e) wird als Sammelbegriff für verschieden deutlich ausgeprägte deutschsprachige literarische Texte, Textgruppen und Genres insbesondere des späten Mittelalters verwendet. Reden werden abgegrenzt von narrativen Texten einerseits, szenischen andererseits, doch gibt es Gemeinsamkeiten und Überschneidungen mit diesen in formaler wie thematisch-intentionaler Hinsicht. Auch die Überlieferung trennt nicht zwischen ihnen. Gleichwohl lassen sich den Reden besondere Merkmale ablesen. Sie sind so stilisiert, als wende sich im Hier und Jetzt ein Sprecher an einen oder mehrere Adressaten; dabei ist die Differenz von implizitem, literarischem Publikum und explizitem Adressaten selten strikt markiert. Gewöhnlich spricht allein der IchSprecher, der auch als Autor konturiert sein kann; Repliken des/der Adressaten sind möglich (,Revue'-Szenen, Z1 Streitgespräch). In diesem Rahmen wird diskursiv argumentiert, ,Welt' wird nicht ,erzählt', sondern Lit: Manfred Beetz: Frühmoderne Höflichkeit. Stuttgart 1990. - Georg Braungart: Hofbered- gesprochen' (/" Tempus), doch sind häufig samkeit. Tübingen 1988. - Albert Bremerich- Erzähl- und Äeife-Elemente zusammenVos: Populäre rhetorische Ratgeber. Tübingen montiert. Die verschiedenen Gruppen der 1991. — Emil Dovifat: Das gesprochene Wort. In: Reden sind nach Themen, Funktionen und E. D.: Hb. der Publizistik. Bd. 1. Berlin 1968, Gebrauchszusammenhängen differenziert, S. 224-239. - Duden. Reden gut und richtig nach verschiedenen Ausgestaltungen der halten! Mannheim u. a. 1994. — Johannes Engels: Adressaten-Rolle und diversen Varianten Genera causarum. In: HWbRh 3, Sp. 701-721.

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Rede3

der Sprecher-Konturierung (vom nicht näher bestimmten Ich bis zur Referenz auf lebensweltlich zu fixierende Stände oder Berufe, ζ. B. Herolde). WortG: Ahd. reda, asächs. redia, etymologisch mit lat. ratio verwandt, umfaßt ein breites Bedeutungsspektrum vorwiegend mündlicher, kontextuell spezifizierter, z.T. auf den Inhalt oder den Gang der Argumentation bezogener Äußerungen, wobei in verschiedenen, z.T. formelhaften Verbalkonstruktionen die Bedeutungen Rechenschaft' und (vorgetragene) ,Rede' dominieren. Im Mhd. (und Mnd.) erscheint rede auch als Bezeichnung für .literarisches Werk', dies in Konkurrenz mit liet, buoch, spei, maere, äventiure, getiht; es sind autoroder typenspezifische, regionale oder zeitliche Differenzierungen zu beobachten. Eindeutige Semantisierungen in der hier interessierenden Bedeutung sind nicht belegt, Präferenzen für Texte, die mündlich vorzutragen, aber nicht zu singen und überwiegend in wörtlicher Rede angelegt sind, scheinen sich anzudeuten (Düwel).

gangenheit wird in der Regel diskontinuierlich und exemplarisch (im Perfekt) geboten; unter dieser Voraussetzung können im Rahmen einer Rede Exempla durchaus als .Erzählungen' präsentiert werden.

SachG: Seit dem 13. Jh. entstanden verschiedene, nach Inhalt und Funktion differenzierte Typen von Reden: ,Geistliche' Reden sind schriftlich zuerst in Reimpaaren des Strickers zu greifen; sie zeigen eine Nähe zu allegorisierenden Konstrukten mit Affinitäten zu den Bîspeln (s Exempel) und entfalten dogmatische, katechetische, moraltheologische, weniger jedoch panegyrische Themen (wie z.B. der Marienpreis Konrads von Würzburg). .Weltliche' Reden sind, sofern sie didaktisch auf allgemeine Normen und Tugenden zielen, nur schwer von .geistlichen' Reden zu unterscheiden. In der Überlieferung werden beide Gruppen mitunter zu bestimmten thematischen Komplexen zusammengestellt. Die f Sentenzen oder die Kurzgnomik Freidanks weisen eine spezifische Form einander ebensosehr unterstützend ergänzender wie sich wechselseitig relativierender Äeife-Einheiten auf. Breit BegrG: Mit ,Rede' als Oppositionsbegriff zu entfaltet sind die sog. .politischen' Reden. Sie ,Erzählung' (und ,Spiel') wird ein Versuch überschneiden sich häufig thematisch mit unternommen, auf induktiver Basis die der Spruchdichtung und sind seit dem spätmittelalterliche deutsche Literatur als 14. Jh. und vor allem im 15. Jh. zu greifen. System zu beschreiben. Die .Reife-Genera Sie sind Teil eines gesamteuropäischen Phäsind von ? Maeren mittels des Kriteriums nomens von Texten zu Lob und Tadel von argumentierend vs. narrativ' abgegrenzt. Institutionen (im besonderen von Städten Damit werden beide in einem Feld formund Herrschaften) und von Personen, von und inhaltsverwandter literarischer Typen letzteren besonders in Ehrenreden zu Lebsituiert (Fischer 1968). Glier hat 1971 mit zeiten und in Nekrologen (y Totenklage). dem Begriff ,Ich-Hohlform' auf ein zentraEine Sonderform ist die Wappen- und les strukturelles Merkmal der Minnereden Heroldsdichtung. Autoren sind Lupoid hingewiesen. Deren durchweg aus ,Rede'Hornburg, Suchenwirt, Gelre, Rosenplüt, und ,Erzähl'-Teilen montiertes Ich-IchFolz, Hans Schneider und insbesondere, Schema wird mit vereindeutigenden Gekeinem der verschiedenen Typen allein zuwichtungen — Lehre in den Reden vs. Vorzuordnen, Heinrich der Teichner. — Die gang in den Erzählungen — nicht angemes/" Minnereden (unter ihnen auch thematisch sen beschrieben. An diesem komplexen Fall verwandte Minnebriefe) haben in ihren verhat sich die Diskussion um eine präzisere schiedenen Inszenierungen unter den Reden formale Bestimmung von Rede und Erzähnur bedingt ihren Ort. Andere Reimpaarlung' in Fortführung von Fischer entwickelt Reden dienen der Vermittlung von Wissen (Brüggen, Holznagel, Ziegeler). Der Rede (vgl. auch ? Fachprosa). In bestimmte, insfehlt — in Opposition zu ,Erzählung' — debesondere städtische Gebrauchszusammenren Imagination eines von der Erzählgegenhänge führen /" Quodlibet2, parodistische wart aus gesehen vergangenen ,Vorgangs' in (oft auf das Sprecher-Ich bezogene) Forkontinuierlicher zeitlicher Sukzession'. Ver-

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Redensart men, Lügenreden (/" Lügendichtung), Zechreden, Obszönreden, Klopfan-Sprüche und das f Priamel. ForschG: Die Forschung hat den Gesamtkomplex der Reden noch nicht unter systematischen oder historischen Gesichtspunkten diskutiert; mit dem überlieferungsgeschichtlichen Ansatz und der Erweiterung des Literaturbegriffs seit den 1960er Jahren ist manches überhaupt erst in den Blick gekommen. Wesentliche Impulse gingen von Fischers Überlegungen zur Systematik kleinerer Reimpaardichtungen aus. Daneben gibt es vor allem Einzeluntersuchungen zu bestimmten Genres, beschränkt zumal auf das Œuvre einzelner Autoren oder Überlieferungseinheiten: zu den geistlichen und weltlichen Reden des Strickers und seines Umkreises (Holznagel, Schwab), zu den Freidank-Corpora, zum Teichner (Lämmert), zu den Ehrenreden auf Städte und Personen, im besonderen zur Heroldsdichtung (Melville), zu Klopfan, Lügenreden und zum Priamel. Eine gattungstheoretische Abgrenzung von verwandten Genres versucht Ziegeler. Einen Überblick über weltliche Lehrreden des 12./13. Jhs. vermittelt Brüggen. Lit: Wim van Anrooij: Spiegel van riderschap. Héraut Gelre en zijn ereredes. Amsterdam 1990. - Elke Brüggen: Laienunterweisung. Habil. Köln 1994 (masch.). - Klaus Düwel: Werkbezeichnungen der mittelhochdeutschen Erzählliteratur (1050-1250). Göttingen 1983. - Hanns Fischer: Studien zur deutschen Märendichtung. Tübingen 1968, 2 1983, S. 2 9 - 6 3 . - Ingeborg Glier: Artes amandi. München 1971, S. 394-429. - Arne Holtorf: ,Klopfan'. In: VL 4, Sp. 1222-1225. A. H.: .Lügenreden'. In: VL 5, Sp. 1039-1044. Franz-Josef Holznagel: Der Wiener Codex 2705. Untersuchungen zu Überlieferung und Form kleinerer mittelhochdeutscher Reimpaardichtungen des 13. Jhs. Habil. Köln 1999 (masch.). Berndt Jäger: „Durch reimen gute lere geben". Untersuchungen zu Überlieferung und Rezeption Freidanks im Spätmittelalter. Göppingen 1978. Hansjürgen Kiepe: Die Nürnberger Priameldichtung. München 1984. — Eberhard Lämmert: Reimsprecherkunst im Spätmittelalter. Eine Untersuchung der Teichnerreden. Stuttgart 1970. — Gert Melville: Das Herkommen der deutschen und französischen Herolde. In: Kultureller Austausch und Literaturgeschichte im Mittelalter.

Hg. v. Ingrid Kasten u.a. Sigmaringen 1998, S. 4 7 - 6 0 . - Theodor Nolte: Lauda post mortem. Die deutschen und niederländischen Ehrenreden des Mittelalters. Frankfurt u.a. 1983. - Jürgen Schulz-Grobert: Deutsche Liebesbriefe in spätmittelalterlichen Handschriften. Tübingen 1993. — Ute Schwab: Die bisher unveröffentlichten geistlichen Bispelreden des Strickers. Göttingen 1959. — Hans-Joachim Ziegeler: Erzählen im Spätmittelalter. München 1985, S. 5 1 - 7 4 .

Hans-Joachim Ziegeler

Redebericht

Figurenrede

Redekonstellation

Kontext

Redekriterium / Gattung Redende Namen ? Onomastik

Redensart Vorgeprägter und wiederverwendbarer sprachlicher Ausdruck. Expl: Redensart meint allgemein Wortfolgen oder Wortgruppen, die als bereits vorstrukturierte Ausdruckseinheiten zu den kollektiven Traditionen alltäglicher und literarischer Rede innerhalb einer Sprachgemeinschaft gehören. Strukturell-semantisch ist sie in der Regel (1) aus zwei oder mehreren Wörtern zusammengesetzt, (2) in Wortwahl und -Verknüpfung relativ fest fixiert sowie (3) als Träger einer ganzheitlichen Bedeutung konventionalisiert, deren metaphorische Lesarten oft nicht aus dem Wortsinn ihrer verbalen Bestandteile zu erklären sind. Von diesen Merkmalen hängen alle weiteren Bestimmungen ab: Die syntaktisch unvollständige, doch als Satzbaustein nutzbare Sprachform der Redensart erlaubt die Abgrenzung gegen selbständige Kleintexte wie Sprichwort oder ^ Sentenz; ihre Verwendung im Redekontext, insofern sie stets den Bezug auf einen anonym tradierten Ausdruck aktualisiert, diejenige gegen autorund quellengebundene ? Anspielungen2, Geflügelte Worte (s Apophthegma) oder

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Redensart

SCHLAGWORTEN,

org Schottelius: Ausführliche Arbeit Von der Teutschen HaubtSprache. 2 Bde. [1663]. Repr. Tübingen 1967.

WortG: Der Ausdruck Redensart gilt als frühneuzeitliche Lehnübersetzung von frz. façon de parier (Trübner 5, 343 f.). Im 17. und 18. Jh. bezeichnet er allgemein die ,Art sich redend auszudrücken', dann aber — synonymisch zu lat. locutio oder phrasis — die ,einzelne Wendung', mit der grammatikalische, phraseologische oder rhetorischstilistische Ausdrücke gemeint sein können (DWb 14, 473 f.). In der Sprichwort-Forschung des 19. und 20. Jhs. etabliert er sich als Terminus, der nun ausschließlich für alltags- wie literatursprachlich gängige Redewendungen und dabei bevorzugt für die sprichwörtliche Redensart' verwendet wird.

SachG: Redensartliche Ausdrücke, die als sprachliches Gemeingut zirkulieren, sind ein historisch wie kulturell universales Phänomen. In der deutschen Literatur werden bevorzugt biblische Redensarten seit dem 12. Jh. gattungsübergreifend als Textbaustein verwendet (ζ. B. Thesaurus 1,294—296; 2,35 f.). Literarisch produktiv sind sie zumal dort, wo sie auf gängige Erzählstoffe anspielen oder als Gestaltungskerne zur Textbildung beitragen (Röhrich/Mieder, 83-89). Besondere Anziehungskraft gewinnt die Redensart in Humanismus, Reformation und Barock: In Sprichwörter-Sammlungen wird sie zum Gegenstand gelehrter Kommentare (Agricola, Franck), in didaktischsatirischer Literatur zur rhetorischen Stilfigur (Brant, Murner); als gängigen Ausdruck vorliterarischen Welt- und Erfahrungswissens etabliert sie das Übersetzungs- und Kontrovers-Schrifttum (Luther, Nas), und zumal im 17. Jh. weisen die redensartlichen ,Kern- und Gleichnisreden' die poetische Qualität der deutschen Sprache aus (Harsdörffer, Schottelius, Stieler). Mit der Aufklärung setzt dann ihre Abwertung als gedankenlose ,Idiotismen' und ,Phrasen' ein (Bodmer, Adelung). Ganz ähnlich wie es für das Sprichwort gilt, hat diese Sicht einen Funktionswandel herbeigeführt und neue Spielräume für sprach- und kulturkritische, aber auch humoristische Schreibweisen eröffnet, so in Prosaliteratur und Aphoristik des 19. und 20. Jhs. und noch in jüngerer Erzählliteratur (z.B. Grass, Handke; vgl. auch /" Pop-Literatur).

? Zitate. Im Unterschied zu PAROLEN und die als griffige Kennvokabeln und Losungen in einzelnen gesellschaftlichen Gruppierungen kursieren, ist die Redensart allgemein gebräuchlich. Der Begriff wird in Sprach-, Literaturund Kulturwissenschaft für unterschiedliche Phänomene — Formeln, Klischees, Redewendungen u. ä. — gebraucht. In jüngerer Zeit konkurriert er mit den Termini idiomatische Wendung (engl, idiom) und phraseologischer Ausdruck (PHRASEOLOGISMUS) für feste Wortverbindungen aller Art.

BegrG: Historisch-genetisch steht der Begriff in engem Zusammenhang mit dem des Sprichworts. Grundlegend für die distinkte Wahrnehmung redensartlicher Ausdrücke (Metaphoricae Phrases, verblümte Wort u. ä.) ist die zuerst im Barock formulierte Einsicht in ihre unselbständige Sprachform, die anders als „volstendige" Sprüche und Sprichwörter „keinen volkommen Sinn oder Verstand" aufweist (Petri, [5]); sie führt sowohl zur Unterscheidung zwischen „Sprichwörtern" und „sprichwortlichen Redarten" (Schottelius 2, 1111) als auch zu eigenen Typologien der charakteristischen Verfahren redensartlicher Sinnbildung (vgl. Burger u.a., 360—370). Gegenwärtig stößt der Begriff in dem Maße auf Skepsis, wie sich die Aussagekraft seiner Definitionskriterien - ,Festigkeit', ,Bildhaftigkeit', .syntaktische Unselbständigkeit' — als problematisch erweist (Burger, 12 und 54 f.).

ForschG: Die Erforschung der Redensart hat ihre Grundlagen durch die Parömiologie des 19. Jhs. erhalten, deren Ergebnisse heute in lexikographischen Standardwerken zugänglich sind (Röhrich). Ein vordringliches Desiderat stellt die Identifizierung phraseologischer Ausdrücke in älterer Literatur dar. Sie bildet die Voraussetzung für die Beurteilung des Bedeutungspotentials jeder Redensart im Kontext einer eingeFriedrich Petri: Der Teutschen Weissheit [1604 f.]. spielten Praxis der wiederholten Rede (CoHg. v. Wolfgang Mieder. Bern 1983. — Justus Ge- seriu, 27—32) und damit ihrer spezifisch Ii-

Referenz terarischen u.a., 10).

Verwendungsweisen

(Burger

Lit: /" Sprichwort. — Harald Burger u. a.: Hb. der Phraseologie. Berlin, New York 1982. H. B.: Phraseologie. Berlin 1998. — Eugenio Coseriu: Einführung in die strukturelle Betrachtung des Wortschatzes. Tübingen 2 1973. - Lutz Röhrich: Das große Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten. 3 Bde. Freiburg 1991 f. - L. R., Wolfgang Mieder: Sprichwort. Stuttgart 1977.

Manfred Eikelmann

Redeoratorium S Oratorium Redesituation /

Kontext

Reductio ad absurdum ? Argumentatio Redundanz

Information

Referenz Der Akt sprachlicher Bezugnahme auf Gegenstände der Wahrnehmung oder die Objekte der Bezugnahme. Expl: Der Begriff ,Referenz' wird seit den 1970er Jahren in der Sprachphilosophie, Semiotik, Linguistik und Literaturwissenschaft zur Bestimmung des Phänomens sprachlicher /" Bedeutung, der Erklärung des Verhältnisses von Sprache und Realität und der verschiedenen Formen textueller Bezugnahmen verwendet (Münch, Devitt 1998). Die Bandbreite reicht von der engen Verwendung des Begriffs als reinem Gegenstandsbezug bis zur Bezeichnung jeglicher Form sprachlicher Bezugnahme, die auch auf mentale Repräsentationen, abstrakte Gegenstände oder rhetorische Sprachformen erfolgen kann. Bei der /* Interpretation eines literarischen Textes lassen sich drei Referenztypen unterscheiden (vgl. Whiteside, 192): (1) Referenzen des Textes auf die nichtsprachliche ,Welt': Da die literarische Semantik auf der Semantik der Alltagssprache

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aufbaut, ist der extrareferentielle Realitätsund Gegenstandsbezug eine notwendige Bedingung der Interpretation. Gleichwohl wird er in der Geschichte der Poetik gleichermaßen programmatisch negiert (s Àsthetizismus) wie gefordert (/" Realismus]; Marxistische Literaturwissenschaft). (2) Referenzen eines Textes auf andere Texte: Formen der Interreferentialität (s Zitate, Anspielungen, s Glossen¡ oder /" Kommentarei) stehen im Mittelpunkt der Forschungen zur /" Intertextualität. (3) Referenzen des auszulegenden Textes auf sich selbst (Intra- bzw. Autoreferentialität): Durch Selbstreferenzen (Rekursivität, f Potenzierung) konstituieren sich Texte als autonome Gebilde, die sich nicht auf die Funktion einer Nachahmung der Wirklichkeit (/" Mimesis2) reduzieren lassen. WortG: Lat. referre (.zurückbringen', .Bericht erstatten',,etwas auf etwas zurückführen'); im 15. Jh. aus dem Frz. (se) référer ,in Beziehung setzen', (reflexiv) ,sich auf etwas beziehen', jemandem über etwas Bericht erstatten' entlehnt (Schulz-Basler 3, 203-209; Kluge-Seebold 23 , 673); seit dem 16. Jh. bei Gericht und in der Verwaltung als transitives und intransitives Verb in der Bedeutung ,etwas (zusammenfassend) weitergeben', ,etwas zutragen', ,etwas aus den Akten vortragen', ,sich auf etwas berufen' belegt. Der linguistische Terminus hat erst durch die Übersetzung des in der mathematischen Logik verwendeten Begriffs der Bedeutung (vgl. Frege 1892) mit engl, reference als Anglizismus seit den 1970er Jahren im deutschen Sprachraum Verbreitung gefunden. BegrG: Piaton erörtert in seinem Dialog ,Kratylos' die Richtigkeit der Rede, die sich aus einer Beziehung zwischen Dingen und Worten ergebe (vgl. Derbolav). Dabei wird die Möglichkeit einer auf Konvention gegründeten Erklärung der Referenz erwogen (,physis'-,thesis'-Streit). Von der antiken /* Rhetorik über die stoische Zeichentheorie (Zenon, Chrysipp), die mittelalterliche Suppositionen-Lehre (Thomas von Erfurt, Petrus Hispanus), die augustinische und thomistische Zeichentheorie bis zur Sprachphilosophie John Stuart Mills wird .Referenz'

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Referenz

im Zusammenhang des ,res'-,verba'-Problems thematisiert (vgl. Coseriu; Pinborg; de Rijk 1989). Erst die Verbreitung eines handlungstheoretischen Sprachverständnisses ermöglichte es jedoch, daß der Referenzbegriff in den Diskussionen des 20. Jhs. den Rang eines interdisziplinären Grundbegriffs erhielt. Eine einheitliche Terminologie hat sich dabei nicht herausbilden können, da sich die theoretischen Interessen und Voraussetzungen von Semiotik, s Strukturalismus, Linguistik und Sprachphilosophie Analytische Literaturwissenschaft) als zu divergent erwiesen. Zur Begriffsgeschichte von ,Referenz' zählt daher das gesamte zeichentheoretische Wortfeld Sinn!Bedeutung, Zeichen!Bezeichnetes, Extension/Intension, Designatomi Denotatum, Signifikat! Signifikant (s Konnotation!Denotation; vgl. Eco; Runggaldier, 85; Whiteside, 184 f.). Für die literaturwissenschaftliche Begriffsverwendung sind zwei Entwicklungen von besonderem Einfluß gewesen: (a) die semantische Diskussion zur ? Bedeutung und (b) die daran anschließende Behandlung der Begriffe .Interpretation' und ,Fiktion'. (a) Die neueren Referenz-Diskussionen nehmen ihren Ausgang mit den Kennzeichnungstheorien von Frege und Russell, die gegenüber den traditionellen Zeichenmodellen die Frage nach den logischen, grammatikalischen und bewußtseinstheoretischen Voraussetzungen sprachlicher Referenz neu formulierten. Im Mittelpunkt standen dabei zunächst die verschiedenen Gattungen singulärer Terme (Eigennamen, singuläre Personalpronomen, deiktische Fürwörter, Possessiva, Ziffern), die selbst keine Angabe ihrer Referenz enthalten. Auch Eigenname und Kennzeichnung reichen jedoch zur eindeutigen Bestimmung der Referenz nicht aus. Mit der an den späten Wittgenstein anschließenden /" Sprechakt-Theorie (/" Pragmatik) setzte sich eine handlungstheoretische Deutung durch, die Referenz als Akt der Bezugnahme begreift, der an eine zusätzliche Kenntnis der Gebrauchsumstände (s Kontext) gebunden ist (Searle u. a.). Eine scharfe Kritik erfahren die auf den Referenzbegriff aufgebauten Semantiken durch Quines Thesen zur Unerforschlichkeit der

Referenz. Sie eröffnen semantische Theoriebildungen, in denen Bedeutungs- und Referenztheorie auseinandertreten (Davidson, Brandom). Der Skeptizismus gegenüber der Möglichkeit gesicherter Referenz überwiegt auch im ? Poststrukturalismus und der ^ Dekonstruktion. Der verbreiteten Ablehnung stehen kausale (Kripke, Putnam) und modale (Padilla Gálvez, Lycan) Reformulierungen des Referenzbegriffs entgegen (vgl. Devitt/ Sterelny, Wolf). Dabei hat sich die Diskussion um Zusammenhänge der Sprach- und Bewußtseinsphilosophie erweitert (vgl. Chisholm, Ulrich). Mit der /" Textlinguistik ist darüber hinaus eine Teildisziplin entstanden, die in besonderer Weise Fragen der anaphorischen Referenz ( / Kataphorik), Zeit-, Orts-, Gegenstands- und Ereignisreferenz in Satzverknüpfungen untersucht (/" Kohärenz; vgl. Titzmann, Vater). (b) Im Anschluß an die sprachphilosophische Begriffsentwicklung sind in der Literaturwissenschaft Probleme der Referenz literarischer und fiktionaler Rede sowie die referentiellen Verknüpfungen von Textstrukturen untereinander behandelt worden. In der Diskussion über den Begriff der Fiktion wird Referentialisierbarkeit als Abgrenzungskriterium zwischen fiktionaler und nicht-fiktionaler Rede aufgefaßt ( / Mögliche Welten·, Gabriel 1975, Fricke). Inwieweit Referenzen der aktualen Welt auch in einem fiktionalen Kontext beibehalten werden sollen, kann nur durch eine Vorentscheidung des Rezipienten oder durch die s Intention des Autors beantwortet werden (vgl. Henrich/ Iser, Klemm, Pavel, Lamarque/Olsen, A. Bühler). Interpretatorische Konflikte ergeben sich dort, wo die extratextuelle Referentialisierung auf einen aktuell wahrnehmbaren oder historischen Kontext zur Bedeutungszuschreibung nicht erforderlich scheint, der Einbezug von Realien jedoch die epistemische Kohärenz einer Interpretation erhöht. Josef Derbolav: Piatons Sprachphilosophie im Kratylos und in den späteren Schriften. Darmstadt 1972.

ForschG: Forschungen, die über die Explikationen einzelner Aspekte des Referenzbe-

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Reformation griffs hinausgehen, liegen überwiegend in Form von Einführungen in die Semiotik, Linguistik und Sprachphilosophie vor (vgl. Bencivenga, Eco; vgl. auch Kellerwessel, Newen). Fragen nach der Referenz in literarischen und fiktionalen Texten haben bislang keinen vergleichbar geschlossenen Forschungskontext gefunden (vgl. Gabriel 1975, Whiteside). Eine die verschiedenen Dimensionen literarischer Referenz zusammenführende Untersuchung steht ebenso aus wie der Anschluß an die Diskussion über logische und semantische Antinomien (v. Kutschera, Wandschneider) zum U m gang mit interpretatorischen Unentscheidbarkeiten. Lit: Ermanno Bencivenga: Die Referenzproblematik. Frankfurt u. a. 1987. — Robert Brandom: Making it explicit. Reasoning, representing and discursive commitment. Cambridge/Mass., London 1994. — Axel Bühler: Autorabsicht und fiktionale Rede. In: Rückkehr des Autors. Hg. v. Fotis Jannidis u.a. Tübingen 1999, S. 61-75. Roderick Chisholm: The first person. An essay on reference and intentionality. Brighton 1981. Eugenio Coseriu: Die Geschichte der Sprachphilosophie von der Antike bis zur Gegenwart. Bd. 1: Stuttgart 1969; Bd. 2: Tübingen 1972. Donald Davidson: Inquiries into truth and interpretation. Oxford 1984. - Michel Devitt: .Reference'. In: Routledge encyclopedia of philosophy. Hg. v. Edward Craig. Bd. 8. London u. a. 1998, S. 153-164. - M. D., Kim Sterelny: Language and reality. Oxford 21999. - Umberto Eco: Zeichen. Einführung in einen Begriff und seine Geschichte. Frankfurt 1977. - Gottlob Frege: Über Sinn und Bedeutung. In: Zs. für Philosophie und philosophische Kritik 100 (1892), S. 25-50. Harald Fricke: Sprachphilosophie in der Literaturwissenschaft. In: Sprachphilosophie. Hg. v. Marcelo Dascal u. a. Bd. 2. Berlin 1996, S. 15281538. - Gottfried Gabriel: Fiktion und Wahrheit. Stuttgart-Bad Cannstatt 1975. - G. G.: Zwischen Logik und Literatur. Stuttgart 1991. — John Heintz: Reference and inference in fiction. In: Poetics 8 (1979), S. 85-99. - Dieter Henrich, Wolfgang Iser (Hg.): Funktionen des Fiktiven. München 1983. - Wulf Kellerwessel: Referenztheorien in der analytischen Philosophie. Stuttgart-Bad Cannstatt 1995. - Imma Klemm: Fiktionale Rede als Problem der sprachanalytischen Philosophie. Königstein/Ts. 1984. - Saul Kripke: Naming and necessity. Oxford 1980. - Franz v. Kutschera: Die Antinomien der Logik. Freiburg i. Br., München 1964. - Peter Lamarque,

Stein Haugom Olsen: Truth, fiction and literature. Oxford 1994. — William G. Lycan: Modality and meaning. Dordrecht u. a. 1994. - D. Münch: Referenz, Referenztheorie'. In: HWbPh 8, Sp. 385388. - Albert Newen: Kontext, Referenz und Bedeutung. Paderborn u.a. 1996. - Jesus Padilla Gálvez: Referenz und Theorie der möglichen Welten. Frankfurt u.a. 1989. - Thomas G. Pavel: Fictional worlds. Cambridge/Mass. 1986. Jan Pinborg: Logik und Semantik im Mittelalter. Stuttgart-Bad Cannstatt 1972. - Hilary Putnam: The meaning of .meaning'. In: H. P.: Philosophical papers. Bd. 2. Cambridge, New York 1975, S. 215-271. - Willard van Orman Quine: The roots of reference. La Salle/111. 1974. - Edmund Runggaldier: Zeichen und Bezeichnetes. Sprachphilosophische Untersuchungen zum Problem der Referenz. Berlin, New York 1985. - Lambertus M. de Rijk: Through language to reality. Northampton 1989. - John R. Searle: Proper names. In: Mind 67 (1958), S. 166-173. - Michael Titzmann: Strukturale Textanalyse. München 31993. - Peter Ulrich: Gewißheit und Referenz. Paderborn u.a. 1997. — Heinz Vater: Einführung in die Textlinguistik. Struktur, Thema und Referenz in Texten. München 1992. — Dieter Wandschneider: Das Antinomienproblem und seine pragmatische Dimension. In: Pragmatik. Hg. v. Herbert Stachowiak. Bd. 4. Hamburg 1993, S. 320—352. - Anna Whiteside: Theories of reference. In: On referring in literature. Hg. v. A. W. und Michael Issacharoff. Bloomington 1987, S. 175-204. - Ursula Wolf (Hg.): Eigennamen. Frankfurt 1993. Guido Naschert

Reflektor

Erzähler

Reformation Der Kirchengeschichte entlehnte Bezeichnung für eine literaturgeschichtliche Epoche. Expl: Das Reformationszeitalter im weiteren Sinne umgreift das 16. Jh., im engeren Sinne die Zeit zwischen Luthers Ablaßthesen (1517) und dem Augsburger Religionsfrieden (1555). Es steht am Beginn der Frühen Neuzeit, zwischen S Spätmittelalter und /" Barock oder — bei der engeren Datierung — /" Gegenreformation. Es überschneidet sich mit der Bildungsbewegung

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Reformation

des ? Humanismus2 und der vorwiegend süd- und westeuropäischen ? Renaissance. WortG: Reformare (häufig parallel gebraucht mit renovare, restituere, regenerare o. ä.) meint die Wiederherstellung einer zerstörten Ordnung. Der Gedanke der reformatio — zwischen eschatologischer oder utopischer Erwartung und der Erneuerung einer einstmals geltenden Norm — findet sich schon in der Patristik (Ladner 1959); er kehrt in Reformbewegungen des frühen und hohen Mittelalters wieder (Ladner 1982) sowie in der franziskanischen Geschichtsspekulation (Joachim von Fiore) und wird im 15. Jh. zum Leitwort einer religiösen, politischen und gesellschaftlichen Erneuerung ,an Haupt und Gliedern', so auf den großen Konzilien, aber auch in der Reichs- und Territorialgesetzgebung. Das Wort bezeichnet sowohl auf Erneuerung gerichtete Programmschriften (.Reformatio Sigismundi') wie diese Erneuerung selbst (dt. reformatz·, ,Des Türken Vasnachtspil', 297; daneben reformirung, aber auch widderbringunge/widirbrengen; vgl. Mertens, 406 f.). In dieser Tradition steht die Wittenberger Reformation. Als Rückkehr zum reinen Gotteswort will sie Fortsetzung früherer Reformationen sein, nicht epochale Wende (Luther, Melanchthon, Flacius Illyricus). Das Wort, bei Luther selten, bündelt weiterhin umfassende religiöse und soziale Entwürfe (vgl. die frühen reformatorischen Flugschriften; /" Flugblatt). Anfangs verbindet sich reformatio mit dem Erneuerungsanspruch (renovatio, litterae renascentes) des Humanismus. Seit Luthers Kritik an den Bauernkriegen (1525) und dem Scheitern revolutionärer Täuferbewegungen wird die Bedeutung von reformatio zunehmend auf konfessionelle Fragen eingeschränkt, doch ohne daß der weiter gesteckte Erneuerungsanspruch, etwa im Bildungswesen (Melanchthon) oder in der Ordnung der christlichen Familie (Luther, Bucer), ganz aufgegeben würde. Erst in der Rückschau seit dem späten 16. Jh. wird die durch Luther ausgelöste Reformation als epochales Ereignis von früheren Reformationen abgehoben, bis sich seit dem 17. Jh. Reformation als kirchengeschichtlicher Epochenbegriff durchsetzt.

DWb 14, Sp. 492. - Wilhelm Maurer: Reformation'. In: RGG 5, Sp. 858-873. - Dieter Mertens: Klosterreform als Kommunikationsereignis. In: Formen und Funktionen öffentlicher Kommunikation im Mittelalter. Hg. v. Gerd Althoff. Stuttgart 2001, S. 397-420. - Reformation Kaiser Siegmunds. Hg. v. Heinrich Koller. Stuttgart 1964. — Des Türken Vasnachtspil. In: Fastnachtspiele aus dem 15. Jh. Hg. v. Adelbert v. Keller. Bd. 1. Stuttgart 1853, S. 288-304.

BegrG: Der Epochenbegriff dient seit dem 19. Jh. neben anderen (z.B. ,16. Jahrhundert') auch literaturgeschichtlicher Periodisierung. Dabei wird meist die Übertragung kenntlich gemacht (Eichhorn, 575 — 582: „Reformation. Ihr Einfluß auf die geistige Bildung und Literatur von Europa von 1519—1560"). Erst in der zweiten Jahrhunderthälfte wird die Reformation zur literaturgeschichtlichen Epoche (Roquette; Scherer, 275 — 328: „Reformation und Renaissance"). Darin spiegelt sich die Auffassung, daß die literarische Produktion im 16. Jh. vor allem von konfessionellen Vorgaben abhängt. Der Epochenbegriff ist komplementär zu Gegenreformation, der die zeitlich versetzte Indienstnahme von Literatur durch die römische Kirche seit Mitte des 16. Jhs. erfaßt. Mittels dieser Opposition werden entweder erste und zweite Jahrhunderthälfte unterschieden (letztere auch .Zeitalter der Konfessionalisierung') oder aber die gegnerischen konfessionellen Lager. Konkurrierend verwendet werden Frühbürgerliche Revolution (vor allem in der marxistischen Literaturgeschichtsschreibung und überall, wo gegenüber dem konfessionellen der gesellschaftliche Umbruch akzentuiert wird), s Humanismus2 (wo die Wiederentdeckung und Nachwirkung der Antike hervorgehoben wird) oder /" Renaissance (wo die seit dem 14. Jh. von Italien ausgehende kunst-, literatur- und sozialgeschichtliche Erneuerung im Zentrum steht). Um die Verquickung konfessioneller und bildungsgeschichtlicher Entwicklungen anzudeuten, beginnt sich der Begriff ,Reformationshumanismus' einzubürgern. Als Teilabschnitt geht .Reformation' in das Epochenkonzept ,Frühe Neuzeit' ein, das längerwirkende politische, soziale und kulturelle Prozesse zwischen dem späten Mittelalter und dem Un-

Reformation tergang Alteuropas zu Ende des 18. Jhs. zusammenfaßt. Johann Gottfried Eichhorn: Geschichte der Litteratur von ihrem Anfang bis auf die neusten Zeiten. Bd. 2/2. Göttingen 1805. - Otto Roquette: Geschichte der deutschen Literatur. Bd. 1. Stuttgart 1862.

SachG: Vier Gründe sprechen für eine literaturgeschichtliche Epoche Reformation': (1) Die Bedeutung der Schriften Luthers und seiner Mitstreiter für die Ausbildung einer oberdeutschen Gemeinsprache, die Grundlage der frnhd. ? Literatursprache bis ins 18. Jh. wird; (2) die Entstehung einer Frühform literarischer ? Öffentlichkeit im Gefolge der konfessionellen Auseinandersetzungen; (3) die Sogwirkung der religiösen Reform auf das Schrifttum insgesamt; (4) die Bedeutung der konfessionsgeschichtlichen Zäsur für die Literaturgeschichte. (1) Wesentliche Voraussetzungen für eine überregionale Gemeinsprache als Basis von Literatursprache sind bereits vor der Reformation verwirklicht: die Erfindung des Buchdrucks, die zunehmende Verflechtung wirtschaftlicher Zentren und politischer Institutionen, die Ausgleichstendenzen fördern (wie ζ. B. Kanzleien), das Vordringen der Volkssprache und die zunehmende Verschriftlichung, die in allen sozialen Bereichen einen Normierungsdruck ausübt. In der konfessionellen Kontroverse gewinnen diese Tendenzen eine bis dahin unerhörte Dynamik. Indem religiöse Fragen zur Sache aller werden, nicht mehr nur kleinen Gruppen von Theologen und Laien vorbehalten sind, muß die Volkssprache anstelle des Latein als allgemein und überregional zugängliches Kommunikationsmedium fungieren. Durch die Standardisierung der hochdeutschen Schriftsprache wird das Niederdeutsche als Gemeinsprache beschleunigt zurückgedrängt. Während frühere humanistische Versuche, eine deutsche Kunstprosa zu schaffen, in ihrer Wirkung marginal bleiben, wirkt v. a. Luthers Bibelübersetzung, zusätzlich gefördert durch Ausgleichsbemühungen der Drucker, weit über ihren Entstehungsraum hinaus (Besch 1968 und 1999); ihr sprachlicher Standard wird auch von Seiten der Gegner akzeptiert (katholische Bibelübersetzungen). Luthers und an-

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derer Reformatoren Geistliche Lieder und Psalmenadaptationen (>" Psalm) werden Modelle religiöser Dichtung der Frühen Neuzeit. (2) Glaube und christliches Leben werden zum Gegenstand öffentlicher Auseinandersetzung. Durch den Druck eröffnen sich bislang unvorstellbare Absatzchancen für Schriftwerke, die auch für andere als religiöse Themen genutzt werden können. Im publizistischen Krieg um Kirchenreform, christliche Gesellschaft und rechte Auslegung des Wortes Gottes formiert sich erstmals ansatzweise eine literarische Öffentlichkeit, die — da noch überwiegend illiterat — nicht nur durch Schrift, sondern durch Bilder, Sendbriefe, Predigt, Sprüche, Katechismus-, Zeitungs-, Lob- und Spottlieder mobilisiert werden soll. Die konfessionelle Kontroverse bedient sich hergebrachter literarischer Verfahren und Gattungen: /" Satire, ? Parodie, Pamphlet (y Polemik), ? Lied2, S Fabel2, S Exempel, f Fastnachtspiel usw. Die traditionell didaktisch ausgerichteten literarischen Formen des Spätmittelalters erhalten in der Diskussion religiössozialer Erneuerung ihren gemeinsamen Fokus und erstmals eine Resonanz, die regionale und gruppenspezifische Beschränkungen überwindet. (3) Literarische Texte treten in den Dienst der religiösen Verkündigung und obrigkeitlichen Disziplinierung durch Institutionen wie evangelisches Lehramt, Schule, Gemeinde, Regiment. Katechismus und konfessionelle Lehrschriften ( / Katechese), /" Kirchenlied, Perikopengedichte, Schuldrama (/" Schultheater), städtische Theateraufführungen sind meist mit solchen Institutionen verknüpft. Andere Gattungen wie ζ. B. Prosa-Dialog (Hutten: ,Karsthans'; Bucer: ,Pfarrer und Schultheiß' u. a.), Fabelsammlungen (Erasmus Alberus, Burkhard Waldis), Exempelkompilationen (Johannes Manlius, Andreas Hondorff), s Teufelsbücher (Andreas Musculus, Ludwig Milichius, Cyriacus Spangenberg), Hausväterliteratur und Schriften zur christlichen Ehe (Justus Menius, Johann Fischart), /" Sprichwörter (Johannes Agricola, Sebastian Franck, Christian Egenolff) dienen ausdrücklich den Zwecken einer

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Reformation

,evangelischen' Lebenpraxis. Luther selbst gibt mit seinen Fabeln und Kirchenliedern Beispiele einer Indienstnahme von Literatur für die Glaubenspraxis. Diese ist besonders stark im ersten Jahrzehnt von Luthers öffentlichem Auftreten. Neben den Programmschriften der führenden Reformatoren (Luther, Melanchthon, Zwingli, Bucer u.a.) entsteht im Umkreis der radikalen' Reformatoren (Th. Münzer, J. Eberlin v. Günzburg, M. Hoffmann und H. Herrgot) ein Schrifttum, das in Erwartung der nahen Apokalypse die Rückkehr zu einer urchristlichen Gesellschaft fordert. Die Intensität der konfessionellen Instrumentalisierung könnte einer der Gründe dafür sein, daß erst mit einer Verspätung von fast hundert Jahren die Aufwertung der Volkssprache in der religiösen Kontroverse zu ihrer Aufwertung als Literatursprache generell führt. Ansätze dazu im 16. Jh. (ζ. B. in Bernhard Jobins Vorrede zu Fischarts ,Ehzuchtbüchlein') bleiben aufs Ganze gesehen wirkungslos. (4) Die krisenhaften Entwicklungen in Staat, Kirche und Gesellschaft schlagen um 1520 in offenen Konflikt um. Kontroversen des frühen 16. Jhs. erscheinen von da aus gesehen als Vorgeschichte, so der ,LocherStreit' über das Verhältnis von ,heidnisch'antiker zu christlicher Poesie oder der Streit Johann Reuchlins und der Humanistenfraktion mit Vertretern einer traditionellen, scholastischen' Theologie, gipfelnd in den ,Dunkelmännerbriefen' von 1515/17. Mit dem Beginn der Reformation verschieben sich die Fronten, indem ein Teil der humanistischen .Neuerer' sich für die ,alte' Kirche entscheidet (Erasmus, Peutinger, Pirckheimer, Crotus Rubeanus). Doch scheinen aufs Ganze gesehen literarische Meinungsführerschaft und Anhängerschaft zur Reformation identisch. Die neulateinische Dichtung in Deutschland (Eobanus Hessus, Euricius Cordus, Joachim Camerarius, Georg Sabinus, Johannes Stigelius u.a.) ist überwiegend reformatorisch geprägt (S Neulateinische Literatur). In Melanchthon, dem nach seinem Tode so genannten ,Praeceptor Germaniae', kommen humanistischer und reformatorischer Anspruch zusammen. Andererseits wird mit

dem Angriff auf die Amtskirche und das Auslegungsmonopol der Kleriker die tradierte Bildungshierarchie in Frage gestellt: Der ,gemeine Mann' wendet sich gegen die .verkehrten Gelehrten' (vgl. Brinker-von der Heyde). Die Versuche, die Kirchenspaltung zu überwinden, vergrößern zeitweilig die Möglichkeit, Distanz zu konfessionellen Zielsetzungen zu halten. Angesichts der sich verschärfenden Auseinandersetzung werden gerade von Dissidenten Forderungen nach religiöser Toleranz laut (S. Franck, S. Castellio; vgl. Guggisberg). Die Konfessionalisierung, die mit dem Augsburger Religionsfrieden (1555) einsetzt, bringt diese Strömungen nicht zum Verschwinden, schränkt sie aber mancherorts stark ein (zu den Spielräumen: Matthias/Fatio, 467). Sie hat in einigen lutherischen und reformierten Territorien eine strengere Bindung literarischer Produktion an die Vorgaben der jeweiligen Landeskirche und eine Instrumentalisierung literarischer Bildung zur Folge. Andererseits erlauben die konfessionelle Vielfalt und zahlreiche Konfessionswechsel in den Territorien vor dem Dreißigjährigen Krieg immer wieder Öffnungen zum calvinistischen Westeuropa (literaturgeschichtlich folgenreich vor allem im Südwesten) und zur katholischen Gegenreformation Spaniens und Italiens (vor allem in Süddeutschland). So stehen einige literarische Tendenzen des 16. Jhs. quer zur Reformation. Durch den Buchdruck sind konfessionelle Barrieren durchlässig. Reichsstädtische Druckerzentren wie Frankfurt, Basel oder Straßburg produzieren für einen konfessionell nicht eingeschränkten Markt. Dieser Markt entzieht sich obrigkeitlicher und kirchlicher Gängelung. Unterhalb der religiösen Kontroverse setzen sich spätmittelalterliche Traditionen fort, besonders in Lehrdichtung, ? Erbauungsliteratur, Exempeln, Ritterromanen, Naturlehre. Nicht immer geraten solche Traditionen so deutlich ins Gravitationsfeld der Reformation wie der ? Meistergesang, die religiöse Lyrik oder Spiele mit geistlichen Themen (/" Geistliches Spiet). Es entsteht nämlich gleichzeitig ein größerer Markt für unterhaltende Literatur, angefangen von /" Prosaromanen (Jörg Wiek-

Reformation ram, ,Amadis'-Übersetzungen, Faustbuch, Fischarts ,Geschichtklitterung') bis zu Sammlungen von Schwänken (/" Schwank2), die zum Weitererzählen bestimmt sind (Pauli: ,Schimpf und Ernst'; Wickram: ,Rollwagenbüchlein'; Montanus: ,Wegkürzer'; Lindener: ,Katzipori'; Schumann: ,Nachtbüchlein' u.a.)· Vor allem die Prosaromane richten sich an ein literarisch anspruchsvolleres Publikum aus Stadt- und Landadel, städtischen und fürstlichen Amtleuten und begüterten Bürgern und läßt sich nicht durchweg religiös-ethisch normieren (Kleinschmidt). Allerdings wird die volkssprachige Literatur, da ihr das Ansehen klassischer Latinität fehlt, häufig Gegenstand religiös-moralischer Kritik. Der entstehende absolutistische Fürstenstaat bedarf literarischer Formen der Selbstdarstellung (y Panegyrikus, Fürstenspiegel, Festreden, Geschichtsschreibung). Eine schriftkundige, arbeitsteilig organisierte Laiengesellschaft verlangt nach Fachschrifttum, von Anleitungen zu allen möglichen alltäglichen Verrichtungen bis hin zu wissenschaftlichen Werken: alles Tendenzen, die sich schwerlich unter .Reformation' bündeln lassen, wenn auch diese oft erst die medialen und institutionellen Voraussetzungen schafft, dank denen sie sich entfalten können. Grundsätzlichere poetologische und ästhetische Diskussionen bleiben im wesentlichen auf die Neulateinische Literatur beschränkt. Wo literarische Texte streng daran gemessen werden, was sie zur Einübung in eine christliche Gesellschaft beitragen, führt das zum Bruch mit humanistischen Bildungszielen (Luthers Polemik gegen Erasmus, die Anfeindungen gegen Frischlin, die Kritik humanistischer Gelehrtenzirkel als ,epikuräisch', atheistisch oder skeptizistisch). Im Einflußbereich der Wittenberger setzt sich die Unterordnung der /" Artes liberales unter den Primat des Glaubens durch, gefaßt in die Formel des Straßburger Schulmeisters Johann Sturm: „docta et eloquens pietas" (.wissenschaftlich und rhetorisch gebildete Frömmigkeit'). Mit der Verhärtung der Orthodoxie nach Melanchthons Tod (1560) verengt sich das humanistische Ideal literarischer Bildung zur

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sprachlichen Propädeutik für das Staatsund Kirchenamt, wenn auch der Späthumanismus diese Grenzen so wenig wie nationale Beschränkung akzeptiert hat (Kühlmann). Trotz Übersetzungen klassischer und humanistischer Texte in die Volkssprache und trotz einzelnen literarischen Zentren gewinnt die deutsche Literatur erst am Ende des Reformationszeitalters Anschluß an den europäischen Renaissancehumanismus, vor allem im Heidelberger Kreis um Martin Opitz. Dies hat nach 1600 einen Traditionsbruch zur Folge: Der überwiegende Teil der Literatur des Reformationszeitalters verschwindet als roh, veraltet oder verstiegen (y Manierismus) aus dem literarischen Kanon und erregt nurmehr antiquarisches Interesse. ForschG: Daß sich Reformation als Epochenbezeichnung durchsetzte, ist nicht zuletzt in der konservativ- oder liberal-protestantisch geprägten nationalen Geschichtswissenschaft des 19. Jhs. begründet. Für sie nahm der deutsche , Sonderweg' in die Neuzeit im 16. Jh. seinen Ausgang. Die Reformation galt als nationale Alternative zum Individualismus, Kosmopolitismus und zur ,Weltlichkeit' der europäischen Renaissance, die Emanzipation von der alten Kirche als Äquivalent zu deren Emanzipation von metaphysischen und traditionalen Bindungen. Das religiöse Fundament des Aufbruchs in die Moderne glaubte man noch im Bild einer spezifisch deutschen, von Westeuropa unterschiedenen Aufklärung und Klassik wiederzuerkennen. In säkularisierter Form, gewendet nämlich zur ,Frühbürgerlichen Revolution', prägte dieser Epochenbegriff noch den Luther- und Reformationskult der ehemaligen DDR. Inhaltlich gefüllt wurde der Epochenbegriff durch die in Deutschland einflußreichste, die Wittenberger Reformation. Damit wurde bis vor kurzem nicht nur die gegenreformatorische Alternative ausgeblendet, sondern neben Zwingiis Schweizer Variante auch die zeitlich wie regional begrenztere calvinistische, die Anschluß an die westeuropäischen Metropolen hält. Unterschätzt wurde das europäische Fundament der lateinischen Gelehrtenkultur, und erst auf dem Umweg über die Barock-For-

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Reformation

schung wurden die europäischen Verflechtungen der Reformationsliteratur zum Thema. Die Fokussierung auf Wittenberg förderte die Ansicht von der ,lutherischen Pause' zwischen 1520 und 1530 (Stammler 1950, 303 f.), in der „die Musen schweigen" (Scherer, 275), eine perspektivische Täuschung, selbst wenn die Druckpressen in diesem Jahrzehnt vor allem reformatorisches Kontroversschrifttum hervorbringen. Erst in jüngeren Arbeiten treten die weniger von der Reformation geprägten Züge schärfer hervor. Dabei gewinnt die 2. Hälfte des 16. Jhs. größere Bedeutung. Seit den 1970er Jahren fand insbesondere die Entstehung einer literarischen Öffentlichkeit Interesse. Künftige Forschung sollte konfessionelle, einzelsprachliche und nationale Einschränkungen weiter abbauen. Sie sollte die Auswirkungen der Fraktionskämpfe im reformatorischen Lager auf die Literatur untersuchen (Müller 1992), vor allem aber das Konzept einer durchgängig konfessionell geprägten Kultur verabschieden und die Reformation eher als Symptom frühneuzeitlicher Ausdifferenzierung von Gesellschaftsund Wissensdiskursen beschreiben. Die katalysatorische Wirkung der Bewegung, die der Epoche den Namen gibt, wäre noch schärfer zu profilieren, wenn auch jene Tendenzen zur Sprache kämen, die sich ihr entziehen oder weit über sie hinausgreifen. Lit: Werner Besch: Zur Entstehung der nhd. Schriftsprache. In: ZfdPh 87 (1968), S. 405-426. - W. B.: Zur sprachgeschichtlichen Rolle Luthers. In: Das Frühneuhochdeutsche als sprachgeschichtliche Epoche. Fs. W. B. Hg. v. Walter Hoffmann. Frankfurt u.a. 1999, S. 81-95. Claudia Brinker-von der Heyde: Das 16. Jh.: Ende der Zeit? In: ZfG NF 10 (2000), S. 30-41. — Wolfgang Brückner (Hg.): Volkserzählung und Reformation. Berlin 1974. - August Buck (Hg.): Renaissance - Reformation. Wiesbaden 1984 [darin: Heinz Holeczek, Heinz Scheible, Hans R. Guggisberg, G. R. Elton, Jan-Dirk Müller]. Konrad Burdach: Reformation, Renaissance, Humanismus. Berlin 1918, 21926,31963. - Heinz Otto Burger: Renaissance - Humanismus - Reformation. Bad Homburg, Berlin 1969. - Giles Constable: The reformation of the twelfth century. Cambridge 1996. - Klaus Garber (Hg.): Stadt und Literatur im deutschen Sprachraum der frühen Neuzeit. 2 Bde. Tübingen 1998. — Hans R. Guggisberg: Sebastian Castellio. Göttin-

gen 1996. - Sabine Holtz, Dieter Mertens (Hg.): Nicodemus Frischlin (1547-1590). Poetische und prosaische Praxis unter den Bedingungen des konfessionellen Zeitalters. Stuttgart-Bad Cannstatt 1999. - Paul Joachimsen: Gesammelte Aufsätze. Beiträge zu Renaissance, Humanismus und Reformation. Hg. v. Notker Hammerstein. Aalen 1970. - Erich Kleinschmidt: Stadt und Literatur in der Frühen Neuzeit. Köln, Wien 1982. Hans-Joachim Köhler (Hg.): Flugschriften als Massenmedium der Reformationszeit. Tübingen 1981. - Barbara Könneker: Die deutsche Literatur der Reformationszeit. München 1975. Hans Joachim Kreutzer: Die Reformation — die wahre Revolution. Über ein Konzept der frühen deutschen Literaturgeschichtsschreibung. In: Les romantiques allemands et la revolution française. Hg. v. Gonthier-Louis Fink. Straßburg 1989, S. 343-353. - Wilhelm Kühlmann: Gelehrtenrepublik und Fürstenstaat. Tübingen 1982. — Gerhard B. Ladner: The idea of reform. Cambridge/Mass. 1959. - G. Β. L.: Terms and ideas of renewal. In: Renaissance and renewal in the twelfth century. Hg. v. Robert L. Benson und Giles Constable. Oxford 1982, S. 1-33. - Markus Matthias, Olivier Fatio: ,Orthodoxie'. In: TRE 25, S. 464-497. - Bernd Moeller: .Flugschriften der Reformationszeit'. In: TRE 11, S. 240-246. — Jan-Dirk Müller: Ausverkauf menschlichen Wissens. Zu den Faustbüchern des 16. Jhs. In: Literatur, Artes und Philosophie. Hg. v. Walter Haug und Burghart Wachinger. Tübingen 1992, S. 163-194. — Thomas Nipperdey: The reformation and the modern world. In: Politics and society in reformation Europe. Fs. Geoffrey Elton. Hg. v. E. I. Kouri und Tom Scott. New York 1987, S. 535-552. - Heiko A. Oberman (Hg.): Luther and the dawn of the modern era. Leiden 1974 [darin: William J. Bouwsma, Bengt Hägglund], - Wilhelm Scherer: Geschichte der deutschen Literatur. Berlin 1883. — Luise SchornSchütte: Die Reformation. München 22000. Lewis W. Spitz: Humanism in the reformation. In: Tradition and revolution. Hg. v. Robert M. Kingdon. Minneapolis 1974, S. 153-188. - Ingeborg Spriewald u.a.: Grundpositionen der deutschen Literatur im 16. Jh. Berlin, Weimar 1972. — Wolfgang Stammler: Von der Mystik zum Barock 1400-1600 [1927], Stuttgart 21950 . - Birgit Stolt: Wortkampf. Frankfurt 1974. Ernst Troeltsch: Renaissance und Reformation [1913]. In: E. T.: Aufsätze zur Geistesgeschichte und Religionsphilosophie. Hg. v. Hans Baron. Tübingen 1925, S. 261-296. - Herbert Walz: Deutsche Literatur der Reformationszeit. Darmstadt 1988. Jan-Dirk

Müller

Reformationsdrama

Reformationsdrama Drama des 16. Jhs., das geistliche und weltliche Stoffe Anliegen der Reformation dienstbar macht. Expl: Seit etwa 1530 in den deutschsprachigen Gebieten des Reichs zunehmend verbreitet, stellt sich das ,Reformationsdrama' bewußt in den Dienst der durch die Exponenten des neuen Glaubens vertretenen religiösen, ethischen und politischen Postulate. Kennzeichnend für sein historisches Erscheinungsbild ist die Herausbildung regionaler Sonderformen und die damit verknüpfte ungewöhnliche Vielfalt dramatischer Formen und Motive, die eine typologische Klassifikation erschwert. Von soziologischen Kategorien beziehungsweise vom Aufführungskontext ausgehend, kann man differenzieren zwischen Schuldrama (/" Schultheater), Volksschauspiel (s Vaterländisches Schauspiet) und Meistersingerdrama; aufgrund stofflicher Kriterien bietet sich eine Unterscheidung zwischen Bibeldrama, historisch-politischem Spiel und allegorischem Drama (-" Moralität) an. Scharfe Grenzen zwischen den genannten Typen sind allerdings ebensowenig zu begründen wie deren Zuordnung zu spezifischen dramaturgischen Prinzipien. Offene, reihende Spielformen und geschlossene, nach antikem Vorbild in /" Akte und /* Szenen gefügte Dramen begegnen gleichermaßen, Mischformen sind die Regel. Die Vielgestaltigkeit des Reformationsdramas ergibt sich schließlich auch aus dessen Beeinflussung durch benachbarte Gattungen wie f Fastnachtspiel oder /" Geistliches Spiel und aus seinem lateinisch-deutschen Bilinguismus: Die vor allem im katholischen Raum weiterhin lebendigen mittelalterlichen Spieltraditionen bilden einen Fundus, aus dem die protestantischen Autoren ebenso schöpften wie aus den humanistischen Modellen (/" Humanismus2)', die für das Drama der Reformationszeit konstitutive Zweisprachigkeit begünstigt die Integration gelehrter und populärer Überlieferung. WortG/BegrG: Im 16. Jh. begegnet in Dramentiteln besonders häufig der Ausdruck

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Spil, daneben finden sich Bezeichnungen wie Comoedia, Tragoedia, Tragicomoedia oder aber Dialogus beziehungsweise Gesprech und Action. Der Zeitpunkt der Aufführung (Faßnachtsspil, Neujahrsspil) kann die jeweils gewählte Bezeichnung ebenso legitimieren wie der im Drama gestaltete Stoff {Parabel). Da die sich seit dem 17. Jh. durchsetzenden gattungstheoretischen Distinktionen für das Drama der f Reformations-Zeit noch keine Geltung besitzen, werden die verschiedenen Bezeichnungen weitgehend synonym verwendet. Einige Autoren bemühen sich um eigenständige Bestimmungen. So differenziert Hans Sachs zwischen bestrafter Schuld (Tragoedi) und belohnter Tugend (Comoedia), ohne allerdings die so gewonnene Begrifflichkeit in der literarischen Praxis konsequent anzuwenden (Krause). Auch in der Forschung zeichnet sich kein konsistenter Gattungsbegriff .Reformationsdrama' ab. Einem allgemeinen Terminus werden die spezifischeren Bezeichnungen protestantisches Schuldrama, Bürgerspiel, Volksschauspiel, Moralität vorgezogen; wo die vielfaltigen dramatischen Erscheinungsformen protestantischer Provenienz in ihrer Gesamtheit benannt werden sollen, spricht man in der Regel vom Drama der Reformationszeit (Froning, Michael). SachG: Die Bedeutung, die das Drama im 16. Jh. gewinnt, verdankt sich einerseits dem europäischen Humanismus und andererseits der reformatorischen Bewegung. Die Auseinandersetzung humanistischer Gelehrter mit den Komödien des Plautus und Terenz begünstigt die Herausbildung neuer dramatischer Gestaltungsprinzipien. Zwar bleiben, insbesondere in den südlichen Territorien des Reichs, die in der mittelalterlichen Spieltradition sich ausprägenden Muster lebendig, doch zielt die Auseinandersetzung mit antiken Modellen auf eine theatralische Form, die die ästhetische Ordnung des griechischen und römischen Dramas mit der moralischen Ordnung des neuzeitlichen Christentums verbindet. Die ungeheure Ausweitung, die ein derart modernisiertes, dem Motto ,sacra ex prophanis' (.Heiliges aus Weltlichem') verpflichtetes

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Reformationsdrama

Drama erfahrt, resultiert aus der positiven Einschätzung des Dramas durch die Reformatoren. Der in Schulordnungen protestantischer Gymnasien eindrücklich belegte Stellenwert, den Luther und Melanchthon theatralischen Aufführungen zuweisen, wird nicht nur mit der durch die szenische Rezitation bewerkstelligten Förderung sprachlicher und rhetorischer Kompetenz begründet, sondern auch mit den dem Drama inhärenten Möglichkeiten der Popularisierung eines evangelisch fundierten Wertesystems (vgl. Bacon). Der konfessionspolemische Charakter der ersten reformatorisch inspirierten Spiele weicht früh einer auf religiöse und moralische Didaxe zielenden Haltung. Dem Drama kommt nun die Funktion zu, die im Zuge der Reformation ausgebildeten theologischen Dogmen, ethischen Postulate und sozialen Handlungsnormen bühnenwirksam einem breiteren Publikum zu vermitteln und damit als Medium aktiver Meinungsbildung an der Konstitution reformatorischer Öffentlichkeit zu partizipieren. Dies beeinflußt die Stoffwahl, den Aufbau und die Aufführungspraxis: Neben der antiken, meist römischen Geschichte und der europäischen, insbesondere italienischen Novellistik ist es vor allem die Heilige Schrift, auf die die Autoren bei der Suche nach Stoffen zurückgreifen. Luthers Bibelübersetzung erschließt einen unerschöpflichen Fundus an Protagonisten und Begebenheiten aus dem Alten und Neuen Testament (Parabel vom verlorenen Sohn, Parabel vom reichen Mann und armen Lazarus, Hochzeit zu Kanaa bzw. Adam und Eva, Noah, Abraham, Joseph, Esther, David, Hiob) sowie aus den nach Luthers Ansicht apokryphen Schriften der Bibel (Judith, Susanna, Tobias). Darüber hinaus sind mehrere Dramatisierungen des Jedermann-StofTes bezeugt (Valentin). Der didaktische Impetus manifestiert sich formal in der Kombination diskursiv-lehrhafter und handlungsbezogener Elemente. f Prolog, Argumentum2 und Epilog als expositorisch-argumentative Rahmenteile, Publikumsanreden sowie Einschübe narrativer oder kommentierender Art leisten eine adressatenbezogene Interpretation des sze-

nisch Dargestellten und schlagen eine Brücke zwischen Bühne und Lebenswelt der Zuschauer, die, wie die zeitgenössische Aufführungspraxis belegt, auf vielfaltige Weise in das theatrale Geschehen eingebunden ist: Als Autoren sind vor allem Geistliche und Schulmeister, aber auch Ratsmitglieder, Stadtschreiber oder Handwerker bezeugt. Getragen werden die Inszenierungen von Laienspielern (/" Laienspiel), insbesondere Schülern und Studenten, aber auch städtischen Bürgern. Als Spielorte kommen sowohl Innenräume wie Schulaulen, Gast-, Rat- und Zunfthäuser oder Kirchen als auch Außenräume wie der Marktplatz, die ,spilstatt' vor dem Rathaus oder der Hof eines Kollegiengebäudes in Betracht. Entsprechend heterogen sind die s Bühnenformen. Neben der noch im 16. Jh. verbreiteten mittelalterlichen Simultanbühne gewinnt die in — durch Vorhänge abschließbare — sog. ,Badezellen' gegliederte Terenzbühne an Bedeutung; angesichts mannigfacher Mischund Übergangsformen kann von einem einheitlichen Bühnentypus allerdings nicht die Rede sein (Schmidt). Den unmittelbaren Anlaß zur Aufführung bildet neben Schulfesten und Meßtagen weiterhin der kirchliche Kalender (Fastnacht, Ostern, Pfingsten, Weihnachten und Neujahr). Kennzeichnend ist der enge Konnex zwischen den auf der Szene Agierenden und dem Publikum sowie dessen enge Bindung an die städtische bürgerliche Kultur. Obwohl vereinzelt höfische Aufführungen belegt sind, findet das Reformationsdrama seine Ausprägungen in protestantischen Gebieten, in denen urbane Zentren wie Nürnberg das kulturelle Leben bestimmen. Besondere Bedeutung kommt ferner der Schweiz, dem Elsaß und Sachsen zu. Die zunehmende Theaterfeindlichkeit in protestantischen Territorien, während gleichzeitig neue dramaturgische Paradigmen (englische Wanderbühnen, /" Jesuitendrama) sich durchzusetzen beginnen, entzieht dem Reformationsdrama in zunehmendem Maße das Fundament und trägt zu dessen Bedeutungsverlust seit dem späten 16. Jh. bei. ForschG: Einem neuerwachten Interesse an nationaler Geschichte und Kultur sind meh-

Refrain rere gegen Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jhs. im deutschsprachigen Raum erschienene bibliographische (Goedeke), editorische (Froning, Tittmann) und literarhistorische (Baechtold, Creizenach) Beiträge zum Reformationsdrama zu verdanken. Während mehrerer Jahrzehnte im Forschungdiskurs kaum mehr präsent, haben reformatorische Dramen erst wieder seit den 1980er Jahren Beachtung gefunden. Den Prinzipien moderner Editionsphilologie verpflichtete Einzel-, Sammel- und Werkausgaben (Nikiaus Manuel: 1999; Hans v. Rüte: 2000; Sixt Birck: 1969-1980; Jos Murer: 1974; Thomas Naogeorg: 1975—1987; Leonhard Culmann: 1982) sowie neuere Studien amerikanischer Forscher (Michael, Parente, Schade, Ehrstine) erlauben mittlerweile einen besseren Überblick über die dramatische Produktion in deutscher und lateinischer Sprache des 16. Jhs. Trotzdem sind die in Handschriften und Drucken überlieferten Bühnenwerke des 16. Jhs. noch keinesfalls vollständig gesichtet und ediert, geschweige denn in historischer oder systematischer Hinsicht erforscht. Eine gattungstheoretische Reflexion hat bisher ebensowenig stattgefunden wie die Analyse der vielfaltigen Funktionsmöglichkeiten reformatorischer Dramen oder der Versuch einer literaturgeschichtlichen Einordnung. Lit: Deutsche Spiele und Dramen des 15. und 16. Jhs. Hg. v. Hellmut Thomke. Frankfurt 1996. — Das Drama der Reformationszeit. Hg. v. Richard Froning. Stuttgart 1894. - Fünf Komödien des 16. Jhs. Hg. v. Walter Haas und Martin Stern. Bern, Stuttgart 1989. - Die Schaubühne im Dienste der Reformation. Hg. v. Arnold E. Berger. 2 Bde. Leipzig 1935 f. - Schauspiele aus dem sechzehnten Jh. Hg. v. Julius Tittmann. 2 Bde. Leipzig 1868. Thomas J. Bacon: Martin Luther and the drama. Amsterdam 1976. - Jakob Baechtold: Geschichte der deutschen Literatur in der Schweiz. Frauenfeld 1887, S. 246-400. - Hans Heinrich Borcherdt: Das europäische Theater im Mittelalter und in der Renaissance [1935], Reinbek 1969, S. 149-203. - Wilhelm Creizenach: Geschichte des neueren Dramas. 3 Bde. Halle 21911-1923. Florentina Dietrich-Bader: Wandlungen der dramatischen Bauform vom 16. Jh. bis zur Frühaufklärung. Göppingen 1972. — Glenn Ellis Ehrstine: From iconoclasm to iconography: Reformation drama in sixteenth-century Bern. Ann Arbor 1995. - Karl Goedeke: Grundriß zur Geschichte der

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deutschen Dichtung aus den Quellen. Bd. 2. Dresden 21886. - Horst Hartmann: Bürgerliche Tendenzen im deutschen Drama des 16. Jhs. Habil. Potsdam 1965 (masch.). - Hugo Holstein: Die Reformation im Spiegelbilde der dramatischen Litteratur des sechzehnten Jhs. Halle 1886. — Constantin Kooznetzoff: Das Theaterspielen der Meistersinger [1964]. In: Der deutsche Meistersang. Hg. v. Bert Nagel. Darmstadt 1967, S. 442—497. - Helmut Krause: Die Dramen des Hans Sachs. Berlin 1979, S. 92-103. - Almut Agnes Meyer: Heilsgewißheit und Endzeiterwartung im deutschen Drama des 16. Jhs. Heidelberg 1976. - Wolfgang F. Michael: Das deutsche Drama der Reformationszeit. Bern, Frankfurt 1984 [Bibliographie]. — W. F. M.: Ein Forschungsbericht: Das deutsche Drama der Reformationszeit. Bern u. a. 1989. — James A. Parente, Jr.: Religious drama and the humanist tradition. Leiden, New York 1987. - Richard Erich Schade: Studies in early German comedy 1500-1650. Columbia 1988. Stephan Schmidlin: Frumm byderb lüt. Ästhetische Form und politische Perspektive im Schweizer Schauspiel der Reformationszeit. Bern, Frankfurt 1983. - Expeditus Schmidt: Die Bühnenverhältnisse des deutschen Schuldramas und seiner volkstümlichen Ableger im sechzehnten Jh. Berlin 1903. - Rolf Tarot: Literatur zum deutschen Drama und Theater des 16. und 17. Jhs. Ein Forschungsbericht (1945-1962). In: Euphorion 57 (1963), S. 411-453. - Jean-Marie Valentin: Die Moralität im 16. Jh.: Konfessionelle Wandlungen einer dramatischen Struktur. In: Daphnis 9 (1980), S. 769-788. - Stephen L. Wailes: The rieh man and Lazarus on the Reformation stage. Selinsgrove, London 1997. - Herbert Walz: Deutsche Literatur der Reformationszeit. Darmstadt 1988, S. 112-141. Silvia Serena Tschopp

Refrain Wiederkehrende Zeilen in Liedern. Expl: Übereinstimmung des Sprachmaterials in analogen Positionen strophischer Gedichte, und zwar als (a) ,Schlußrefrain' am Strophenende, als (b),Anfangsrefrain' am Strophenanfang und als (c),Binnenrefrain' im Stropheninnern. Tritt die Übereinstimmung nicht streng strophenweise auf, spricht man vom (d) periodischen Refrain'. Die Übereinstimmung kann ( 1 ) als KEHRREIM vollständig, (2) als ,Refrain' (im enge-

250

Refrain

ren Sinne) auch nur annähernd sein — in aller Regel mit semantisch pointierter Ab-

(in der Posse wie im s Kabarett) u n d f ü r die versifizierte Büttenrede (/ Karneval).

w a n d l u n g (als Minimalpaar,

Als Kunstmittel finden wir den Refrain im Minnesang wie in der religiösen Dichtung, in der ? Sangspruch-Dichlung wie später auch im poetischen s Lied3 (häufig z. B. bei Goethe und Brentano). Seine enge Verbindung mit Musikformen zeigt sich auch im modernen Jazz beim sogenannten ,chorus' sowie in verschiedenen Formen der Unterhaltungsmusik wie dem /" Schlager,

S

Äquivalenz).

Hinsichtlich der Art des Sprachmaterials ist zu unterscheiden zwischen ,Tonkehrreim' (bzw. Tonrefrain) bloßer Lautfolgen („tandaradei") und ,Wortkehrreim' (bzw. Wortrefrain) bei Wiederkehr ganzer Wörter oder Wortfolgen. Bei der metrischen Beschaffenheit des Sprachmaterials kann es sich um die Wiederholung von Verssegmenten, vollständigen Versen, Verspaaren oder ganzen Strophen handeln. WortG: Der Begriffsname leitet sich her von lat. refringere .wieder brechen',,anschlagen' bzw. vom vulgärlat. refractum .Bruchstück' und wird über die Vermittlung des prov. refrainge (,das Brechen der wiederkehrenden Meereswellen') Mitte des 17. Jhs. ins Deutsche eingeführt (ältester Beleg 1648 bei Harsdörffer 1, 91). Die Schreibung bleibt über das 18. Jh. hinaus variabel, neben Refrain trifft man ebenso auf refrein und Refrán (Schulz-Basler 3, 222). Im 18. Jh. wird die Vokabel auch pejorativ im Sinne von .ständige Redensart', ,immer wiederkehrende Bemerkung' verwendet. Georg Philipp Harsdörffer: Poetischer Trichter. 3 Teile. Nürnberg 1648—1653, Repr. Darmstadt 1969.

BegrG: Der Begriff, der im Deutschen häufig ununterschieden mit den Namen Refrain und Kehrreim bezeichnet wird, läßt sich bis in die Antike zurückverfolgen (vgl. Minor, 392f.). G.A.Bürger führt 1793 den Ausdruck Kehrreim als dt. Entsprechung von Refrain ein (DWb 11, 427); Meyer versuchte 1898, weitgehend erfolglos, eine terminologische Differenzierung zwischen Festem Refrain ( K e h r r e i m ) u n d Flüssigem Refrain (bei

unvollständiger Übereinstimmung) durchzusetzen. SachG: Der Refrain ist als Bestandteil strophischer Gedichte bereits in der Antike bekannt und seit jeher ein typisches Bauelement namentlich des Volkslieds, des Tanzlieds und der Balladendichtung. Er ist konstitutives Element einiger Gedichtformen wie

Triolett,

R o n d e l bzw. s

Rondeau,

förmlich gattungsbildend für das s Couplet

dem /

Chanson u n d d e n

Songs der Lie-

dermacher (gezielt als Mittel politischer Pointierung z. B. bei Wolf Biermann). ForschG: Die Refrain-Forschung beginnt in der 2. Hälfte des 19. Jhs. mit Untersuchungen zu seiner Genese, Funktion und Typologie (Grube, Meyer, Stark, Bücher). Es folgen einzelne Studien zum Refrain in der mhd. Literatur (Hausner, Streicher) sowie im romanistischen (Thurau, Gennrich) und anglistischen Bereich (Ruhrmann). A. Liedes Überlegungen zum Verhältnis von Refrain und ? Nonsens blieben weithin ebenso folgenlos wie die Versuche einer musikwissenschaftlich begründeten Typologie bei Gudewill und Hoerburger. Lit: Karl Bücher: Arbeit und Rhythmus. Leipzig 1896. — Friedrich Gennrich: Bibliographisches Verzeichnis der französischen Refrains des 12. und 13. Jhs. Frankfurt 1964. — August Wilhelm Grube: Deutsche Volkslieder. Vom Kehrreim des Volksliedes. Der Kehrreim bei Goethe, Uhland und Rückert. Iserlohn 1866. — Kurt Gudewill: .Refrain'. In: MGG 11, Sp. 103-108. - Renate Hausner: Spiel mit dem Identischen. Studien zum Refrain deutschsprachiger lyrischer Dichtung des 12. und 13. Jhs. In: Sprache, Text, Geschichte. Hg. v. Peter K. Stein. Göppingen 1980, S. 281 — 384. - Felix Hoerburger: Der Refrain in der Volksmusik. In: In: MGG 11, Sp. 108 f. - Susan Marie Johnson: The role of the refrain in old French lyric poetry. Diss. Bloomington 1983. Alfred Liede: Dichtung als Spiel. Berlin 21992. Bd. 2, S. 3 - 1 2 . - Hans Mersmann: Musikalische Werte des Kehrreims. In: Jb. für Volksliedforschung 1 (1928), S. 119-132. - Richard M. Meyer: Die Formen des Refrains. In: Euphorion 5 (1898), S. 1 - 2 4 . - Jakob Minor: Neuhochdeutsche Metrik. Straßburg 21902. - Friedrich G. Ruhrmann: Studien zur Geschichte und Charakteristik des Refrains in der englischen Literatur. Heidelberg 1927. - Otto Schreiber: Der

Regieanweisung Kehrreim als dichterisches Ausdrucksmittel. In: Zs. für den deutschen Unterricht 30 (1916), S. 672—674. - Friedrich Stark: Der Kehrreim in der deutschen Literatur. Diss. Göttingen 1886. — Gebhard Streicher: Minnesangs Refrain. Göppingen 1984. — Gustav Thurau: Der Refrain in der französischen Chanson. Berlin 1901.

251

weise, Gestik und / Mimik2 der Figuren usw. zu bieten und so Anschaulichkeit herzustellen.

WortG: Die ersten Editoren mittelalterlicher Spiele konnten auf keine eingeführte Bezeichnung für die narrativen Textpartien Rüdiger Zymner zurückgreifen. H. Hoffmann (1837, 239) hat sich noch mit einer Umschreibung beholfen: „das Auftreten der einzelnen Personen und was sonst außer dem Sprechen und Refutado ? Dispositio Singen geschehen sollte, war dazwischen besonders angegeben". F. J. Mone benannte dasselbe Phänomen als „theatralische AnRegesten /* Edition leitung" (1841, 13) und als „dramatische oder scenische Anweisung" (1846, 23). Seit Regie Inszenierung den 1890er Jahren finden sich dann Bezeichnungen in ungeregelter Vielfalt: Bühnen-, Regie-, Szenenanweisung oder -bemerkung, Spielanweisung, scenarische oder szeRegieanweisung nische Bemerkung usw. In den letzten JahrBemerkungen vor, in, zwischen oder nach zehnten des 20. Jhs. dominieren Regieanden direkten Reden im Drama. weisung und Bühnenanweisung. Im Engl, hat sich stage direction durchgesetzt (ζ. Β. Expl.* Der ? Nebentext von Dramen pflegt narrative Partien zu enthalten, die (1) meist Dessen/Thomson), in den romanischen mit typographischen Mitteln (z. B. Kursiv- Sprachen seit dem Ende der 1980er Jahre schrift) vom Haupttext, den Reden der Figu- frz. didascalie, ital./span. didascalia — eine ren, abgesetzt sind; (2) häufig eine eigene Bezeichnung, die mit anderer Bedeutung Syntax haben — z. B. Namensnennung als el- zum Inventar der Klassischen Philologie geliptische Inquit-Formel (S Figurenrede), Ein- hört; entscheidend für die Verbreitung diezelwörter, Partizipialkonstruktionen, Aus- ses Terminus ist vermutlich der durchgelassung von Personalpronomina; (3) grund- hende Gebrauch bei A. Ubersfeld (1977 sätzlich im Präsens gehalten sind; (4) aus der u. ö.) gewesen. Sicht des Publikums bei einer theatralen Auf- Heinrich Hoffmann (Hg.): Fundgruben für Geführung formuliert werden (z. B. „kommt schichte deutscher Sprache und Litteratur. Bd. 2. von rechts"); (5) nicht selten das berichtete Breslau 1837. - Franz Joseph Mone: Altteutsche Geschehen (als Signal der szenischen f Fik- Schauspiele. Quedlinburg, Leipzig 1841. F. J. M.: Schauspiele des Mittelalters. Bd. 1. tion) explizit auf einer Bühne lokalisieren. Mannheim 1846. Man nennt solche Passagen Regieanweisung, BÜHNENANWEISUNG oder auch SZENEN- BegrG: Wenn das Drama als „Vorstellung ANWEISUNG — in der Wortwahl dreifach un- einer Handlung durch Gespräche ohne alle passend, weil sie zum einen nur ausnahms- Erzählung" (A.W. Schlegel, 34) konzipiert weise die syntaktische Form einer .Anwei- ist, besteht kaum Anlaß und Möglichkeit, sung' haben (Tschauder), zum anderen auf den gelesenen Text selbst in seinem Textchader Bühne oft gar nicht in dieser Form rea- rakter wahrzunehmen. Trotzdem läßt sich lisiert werden können (ζ. Β. ,erbleicht') und in Umrissen ein Begriff derjenigen Textteile zum dritten für die Lektüre bestimmt sind, erkennen, die bei einer Aufführung nicht gedie auch jeder ? Inszenierung notwendiger- sprochen werden. Wenn F. Hédelin in seiner weise vorausgeht. Für die Lektüre haben sie Dramenpoetik (1675, 47) „des Notes qui die Funktion, Informationen über Requisi- apprennent ce que les vers ne disent point" ten und /" Bühnenbild, über Kostüm und erwähnt und diese ,Informationen über das, Maske, über Aussehen, Aktionen, Rede- was die Verse nicht sagen', als epische Ele-

252

Regieanweisung

mente im Interesse der Gattungsreinheit verwirft, dann sind jene Textteile offenbar unabhängig von einer Aufführung im Blick; wenn dagegen in einem Lexikonartikel (Brockhaus 1824, 673) dem Dramendichter die „Andeutung des mit der Unterredung zu verbindenden Spiels" ans Herz gelegt wird, dann sind sie in ihrer Funktion für eine Aufführung begriffen. Diese Begriffsvariante der szenischen ,Anweisung' hat im 19. Jh. ihre (sie recht gut zusammenfassenden) Benennungen gefunden und sich seither nicht wesentlich verändert. Die strukturalistischen bzw. semiotischen Neufassungen seit den 1970er Jahren (Aston/Savona, Ubersfeld) sind als Präzisierungen dieses Begriffs einzuordnen. [Brockhaus:] Allgemeine deutsche Real-Encyclopädie für die gebildeten Stände. Bd. 8. Leipzig 1824. - François Hédelin Abbé d'Aubignac: La prâtique du théâtre [1675]. Hg. v. Hans-Jörg Neuschäfer. München 1971. - August Wilhelm Schlegel: Ueber dramatische Kunst und Litteratur. Erster Theil. Heidelberg 1809.

SachG: Die griechischen Dramen der Antike sind als reine Rede-Kontinua überliefert, ohne Angabe, wer was spricht, allenfalls mit Zeichen für Sprecherwechsel; ganz vereinzelt eingeschaltete Einzelwörter von ungewisser Authentizität geben als παρεπιγραφή [parepigraphé] ,Beischrift', .Anmerkung' ζ. Β. Geräusche an, die während der Reden ertönen (Taplin). DIDASKALIEN (griech. διδασκαλίαι [didaskalíai] Belehrungen') sind vor allem zur älteren römischen Komödie (Plautus, Terenz) erhalten; es sind (ursprünglich amtliche) Dokumente, die „Aufführungsjahr (Archon), Dichter, Titel, Fest, Chorege, Schauspieler" u.a. festhalten (Zimmermann, 539 f.). D a s mittelalterliche

/ Geistliche

Spiel,

als Aufführungsvorlage oder als Lesetext überliefert (vgl. dazu Bergmann, Linke), hat dagegen zahlreiche Einsprengsel vor, zwischen und nach den Figurenreden. Sie bestehen mindestens und obligatorisch aus dem Namen der Figur, die zu sprechen beginnt, haben oft einen Zusatz wie dicat ,soll sagen' bzw. dicit ,sagt' oder auch sprach, knüpfen nicht selten mit et ,und' oder mit temporalen Adverbien wie tunc ,dann', deinde .darauf' oder hie ,hier' an die vorher-

gehende Rede an, können kurze Beschreibungen (im Präsens, Präteritum oder Futur) von Sichtbarem auf der Bühne enthalten und bisweilen auch anti-illusionistisch ausfallen (etwa „Tunc Lazarus se fingat mortuum" ,dann soll [der Darsteller des] Lazarus sich tot stellen'). Sie bilden den narrativen Kontext, innerhalb dessen die Reden zitiert werden. Die Texte präsentieren sich also mehr oder weniger deutlich als Erzählung von einer — als gegenwärtig, zukünftig oder vergangen gesetzten — Aufführung. Im Fastnachtspiel bleibt zwar die Redeeinleitung mit spricht (dicit, clagt sprechend, geit die antwurt, fragt usw.) erhalten,

nicht aber die Verknüpfung mit der vorangegangenen Rede und die Vielfalt der Tempora und Modi (obligatorische Verbform in Redeeinleitung und Beschreibung ist der Indikativ; dt. fast immer im Präsens, lat. durchweg im Präteritum). Daran ändert sich im deutschen Schauspiel des 16. Jhs. nur das eine, daß nämlich die Präterita verschwinden. Vom 17. Jh. an setzt es sich nach humanistischem Vorbild auch für deutsche Dramen durch, die Narrativität der Passagen zwischen den Reden zu eliminieren oder doch wenigstens zu kaschieren. Die in einer Szene anwesenden Personen werden vor der ersten Rede prädikatlos aufgezählt; Beschreibungen stehen grundsätzlich im Indikativ Präsens; nur in der Komödie finden sich bis zum Ende des 17. Jhs. hie und da noch verbindende Redeeinleitungen (z. B. „endlich fraget er P. Squentzen"). Seit dem 18. Jh. entwickeln sich die außerdialogischen Textpartien zum parenthetischen Begleittext der Figurenreden mit eigenen syntaktischen und Notations-Konventionen. Im 19. Jh. wird er mit zunehmender Frequenz und Detailliertheit eingesetzt, bis hin zu den seitenlangen Bühnenund Personenbeschreibungen im Drama des Naturalismus

u n d im ?

Dokumentarthea-

ter. Neuerungen im 20. Jh. (z. B. Brechts Bezugnahme auf Schauspieler statt auf Dramenfiguren) sind oft Wiederaufnahmen vergessener älterer Konventionen; Dramen (z. B. von Handke) fast oder ganz ohne Figurenrede sind die Wiederbelebung der ? Szenarien (unter anderen Bedingungen

Reim u n d mit anderer Funktion), die auf der frühneuzeitlichen Stegreifbühne als Basis der ? Improvisation dienten. ForschG: A n f a n g des 20. Jhs. haben die Deutsche Philologie (Heinzel) u n d die junge f Theaterwissenschaft die Regieanweisungen genutzt zur Rekonstruktion der mittelalterlichen u n d frühneuzeitlichen Theaterpraxis ( M a u e r m a n n , H e r r m a n n ) . Eine Forschungstradition hat sich aber trotz einer Reihe von Dissertationen, vor allem über nhd. Texte u n d Textgruppen (vgl. Schmidt), nicht gebildet. Der Typisierungsversuch Steiners (1969) ist überholt u n d überboten worden durch strukturalistisch (Levitt), textlinguistisch (Tschauder) u n d semiotisch (Aston/Savona) orientierte Arbeiten. Die jüngsten Untersuchungen richten sich auf Bestandsaufnahme u n d Systematisierung gleichermaßen (Gallèpe, Dessen/Thomson u. a.). Die germanistische Literaturwissenschaft ist bislang an all dem (so gut wie) unbeteiligt. Lit: Elaine Aston, George Savona: Theatre as sign-system. London, New York 1991. — Giuseppe Bartolucci: La didascalia drammaturgica. Neapel 1973. — Rolf Bergmann: Aufführungstext und Lesetext. In: The theatre in the middle ages. Hg. v. Herman Braet u. a. Löwen 1985, S. 314—352. - Alan C. Dessen, Leslie Thomson: A dictionary of stage directions in English drama, 1580-1642. Cambridge 1999. - Andrea Ercolani: Il passaggio della parola sulla scena tragica. Stuttgart 2000. - Thierry Gallèpe: Didascalies. Les mots de la mise en scène. Paris, Montréal 1997. - Sanda Golopentia, Monique Martinez Thomas: Voir les didascalies. Paris 1994. — Richard Heinzel: Beschreibung des geistlichen Schauspiels im Mittelalter. Leipzig 1908. — Max Herrmann: Forschungen zur deutschen Theatergeschichte des Mittelalters und der Renaissance. Berlin 1914. - Dietrich Klose: Die Didaskalien und Prologe des Terenz. Diss. Freiburg 1966. - Paul M. Levitt: A structural approach to the analysis of drama. Den Haag, Paris 1971. — Hansjürgen Linke: Versuch über deutsche Handschriften mittelalterlicher Spiele. In: Deutsche Handschriften 1100-1400. Hg. v. Volker Honemann und Nigel F. Palmer. Tübingen 1988, S. 527-589. - Siegfried Mauermann: Die Bühnenanweisungen im deutschen Drama bis 1700. Berlin 1911. - Linda McJannet: The voice of Elizabethan stage directions. Newark, London 1999. — Margarete Munkelt: Bühnenanweisung und

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Dramaturgie. Amsterdam 1981. - Morena Pagliai: Didascalie teatrali tra otto- e novecento. 2 Bde. Florenz 1994 f. - Manfred Pfister: Das Drama. München 81994. — Georg Rudolf: The theatrical notation of roman and pre-Shakespearean comedy. Bern 1981. — Regula Rüegg: „Im Abgehen ein Schnippchen schlagend". Zur Funktion von Kinegrammen in Volksstücken des 19. und 20. Jhs. Bern 1991. - Brigitte Schmidt: The function of stage directions in German drama. Diss. San Diego 1986. — Jacob Steiner: Die Bühnenanweisung. Göttingen 1969. - Oliver Taplin: Did Greek dramatists write stage instructions? In: Proceedings of the Cambridge Philological Society 203 (1977), S. 121-131. - MarieTheres Thillmann: Der dramatische Zweittext. Zur Funktion der Regieanweisung im absurden Theater Frankreichs. Münster 1992. - Gerhard Tschauder: Wer ,erzählt' das Drama? Versuch einer Typologie des Nebentextes. In: SuLWU 22 (1991), H. 2, S. 50-67. - Anne Ubersfeld: Lire le théâtre. Paris 1977, "1995. - A. U.: Der lükkenhafte Text und die imaginäre Bühne. In: Texte zur Theorie des Theaters. Hg. v. Christopher Balme und Klaus Lazarowicz. Stuttgart 1991, S. 394-400. - Jiri Veltrusky: Das Drama als literarisches Werk. In: Moderne Dramentheorie. Hg. v. Aloysius van Kesteren und Herta Schmid. Kronberg 1975, S. 96-132. - Reinhold Zimmer: Dramatischer Dialog und außersprachlicher Kontext. Göttingen 1982. - Bernhard Zimmermann: Didaskaliai. In: Der Neue Pauly. Hg.v. Hubert Cancik. Bd. 3. Stuttgart, Weimar 1997, Sp. 539 f. Klaus

Register

Weimar

Stilebene

Regionalliteratur /" Heimatdichtung Regressus ad infinitum Argumentatio

Reim Gleichklang zwischen Wörtern. Expl: Im allgemeinen Sprachgebrauch wird oft die häufigste F o r m der Reimbindung in der neueren deutschen Literatur, der Gleichklang a m Ende von Verszeilen, pauschal als Reim oder auch als Endreim bezeichnet. Für

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Reim

die genauere Analyse von Verstexten bedarf es jedoch einer terminologischen Feinunterscheidung zwischen der Wort- und der VersPosition solcher Klangmittel: (1) Generell ist ein Reim die Übereinstimmung des Sprachmaterials wenigstens zweier Wörter; näherhin als — ENDREIM: Übereinstimmung des lautlichen Bestandes von Wörtern mindestens ab dem letzten betonten Vokal [Liebe | Triebe] (zunächst noch unabhängig von ihrer Position im Satz oder Vers; Kayser 1948, 96 f.); kontrastiv dazu als — ANLAUTREIM: Übereinstimmung des Anfangs-Konsonanten, ersatzweise irgendeines Vokals mit germanischem Knacklaut (y Alliteration, s Stabreim)·, sowie als — AUGENREIM oder EYE-RHYME: Übereinstimmung des graphemischen, nicht aber des phonemischen Materials von Wörtern [Trage | Garage]; oder auch als — OHRENREIM oder EAR-RHYME: Übereinstimmung des phonemischen, nicht aber des graphemischen Materials von Wörtern [Mauser | Browser], Die weitere Differenzierung von Formen des Endreims kann vor allem nach seinen phonologischen Varianten und nach seiner Stellung in Verstexten erfolgen. (2) Stellungsvarianten des Endreims: — AUSGANGSREIM: die Reimwörter stehen am Ausgang der Verszeilen (oft mit der wortbezogenen Kategorie Endreim vermengt) — mit den Üntertypen Paarreim (aa bb cc ... xx), Kreuzreim (abab; bzw. f a l ber Kreuzreim': xaya), Blockreim (abba; auch Umarmender oder Umschließender Reim genannt), Schweifreim (aab ccb; bzw. aab aab als ,Zwischenreim' oder abc abc als Verschränkter Reim'), Kettenreim (aba beb c ...) sowie Haufenreim (aaa ... aa). — EINGANGSREIM: die Reimwörter stehen am Eingang der Verszeilen [„Krieg! ist das Losungswort / Sieg! und so klingt es ..."]. — BINNENREIM: mindestens eines der Reimwörter steht im Versinnern — mit den Untertypen Schlagreim (in direkter Wortfolge, besonders als ,Echoreim' am Versende [„als ob es tausend Stäbe gäbe"]), Inreim (zwischen einem Wort im Vers und dem Versausgang [„Mich entzücken und berücken"]), Mittenreim (zwischen einem

Wort im Vers und dem Ausgang des Nachbar-Verses [„Wenn langsam Welle sich an Welle schließet, / In breitem Bette fließet still das Leben"]), Mittelreim (im Innern aufeinander folgender Verse [„Mir ist zu licht zum Schlafen / Der Tag bricht in die Nacht"] ) sowie Zäsurreim (vor der obligaten /" Zäsur aufeinander folgender Verse [„Uns ist in alten maeren ' wunders vil geseit / von helden lobebaeren, 1 von grözer arebeit"]). - PAUSENREIM: Endreim-Bindung des ersten und letzten Wortes einer Strophe, eines Abschnittes oder einer Verszeile [,,wol vierzec jar hab ich gesungen oder mê / von minnen und als iemen sol"]. - FEHLREIM: das pointierte Ausbleiben des leicht erwartbaren Reimwortes mit humoristischer oder auch verschlüsselnder Funktion [„wie Morgenröthe/ fühlet Hatem" statt Goethe]. (3) Phonologische Varianten des Endreims: - REINER REIM [vergüte | behüte] oder U N REINER REIM (leicht geminderte Übereinstimmung der Vokale [Blick | Glück; Hut | kaputt] oder Konsonanten [kälter | Wälder]); verschärft im Halbreim [dt. Mensch | frz. singe] bzw. im Unebenen Reim zwischen Hebung und Senkung [Helenas | wie sie las], - EINSILBIGER REIM [braun | Frau'n] oder MEHRSILBIGER REIM [Brauen | Frauen], auch als Gespaltener Reim [spricht er | Dichter] oder Gebrochener Reim [einander | Wander-/Vogel], (4) Erweiterte Formen des Reims (Übereinstimmung schon vor dem letzten Tonvokal): - SCHÜTTELREIM: der als gesellige Reimpaar-Dichtung beliebte Positionstausch der anlautenden Konsonanten in einem zweiteiligen Endreim [Satteldecke | Dattelsäcke]; - REICHER REIM (nach frz. ,rîme riche'): die Übereinstimmung schon ab der vorletzten / Hebung [Tugendreiche | jugendreiche]; - RÜHRENDER REIM: phonologische Übereinstimmung zweier nicht verwandter Wörter [geboten | Paketbooten]; abgewandelt als Identischer Reim [von Verfalle | im Verfalle] bzw. Grammatischer Reim [gesehn | sehn].

Reim (5) Nachbar-Formen des Reims: HOMOIOTELEUTON (griech. ,mit gleicher Endung'): Übereinstimmung der Wortschlüsse aufeinanderfolgender Wörter oder Wortgruppen in griech. oder lat. Prosaoder Vers-Texten [nolens | volens]; — HOMOIOPTOTON (griech. ,mit gleichem Kasus'): Übereinstimmung der Kasusendungen in einer lat. oder griech. Wortfolge [vocum I rerum], -

WortG: Der Ausdruck Reim wird teils auf afrz. rime zurückgeführt (Kluge-Seebold, 591), teils auf ahd. rîm ,Reihe', ,Zahl' oder auch auf mlat. rithmus ,Vers' (zu Details vgl. Braune, Wolff, Törnquist, Trier). Im letzten Drittel des 12. Jhs. taucht die mhd. Verbform rtmen in der Bedeutung,Verse bilden' auf (erste Belege um 1170 im Servatius' Heinrichs von Veldeke, um 1180 in Albers ,Tnugdalus'). Rîm, Reym oder Reim bezeichnen bis ins 17. Jh. neben- und durcheinander den ,Endreim' oder den ,Ausgangsreim', den einzelnen ,Vers' oder das ganze /" Gedicht (DWb 14, 663-679). Seit Opitz' ,Buch von der Deutschen Poeterey' (1624) wird der Ausdruck zunehmend, seit dem Ausgang des 18. Jhs. überwiegend im Sinne in der Bedeutung , Ausgangsreim' gebraucht; daneben halten sich Verwendungen im Sinne von ,Vers' oder ,Gedicht', besonders in Ausdrücken wie Kinderreim, Abzählreim { 7 Kinderverse), Leberreim (y" Stegreifdichtung) oder Kehrreim (y Refrain) sowie ähnlich abgeschlossen Schüttelreim (vgl. Braune sowie RL 2 3, 418-420) bis heute. Wilhelm Braune: Reim und Vers. Heidelberg 1916. - Nils Törnquist: Zur Geschichte des Wortes ,Reim'. Lund 1935. - Jost Trier: Zaun und Mannring. In: PBB 66 (1942), S. 232-264. Ludwig Wolff: Zur Bedeutungsgeschichte des Wortes ,Reim'. In: ZfdA 67 (1930), S. 263-271.

BegrG: Ein eigenes Konzept von ReimKlangwirkungen entwickelt sich zunächst aus der rhetorischen Tradition, die hier insbesondere mit dem Homoioteleuton verbunden ist (auch in der ? Prosa). Seit der 2. Hälfte des 12. Jhs. verbindet sich mit ihm auch der dt. Begriffsname rîm, der neben alternativen Bezeichnungen (z. B. gebint oder in punt gereimt im 14. Jh.; bunt im 15., Bundwort im 16. Jh.; vgl. Schweikle) vor-

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rangig für die Variante des ,Ausgangsreims' steht. Seit dem ausgehenden 18. Jh. entwikkelt sich schrittweise das oben präzisierte, in der Reimforschung seit dem 19. Jh. gefestigte Begriffsfeld. SachG: Reime i. S. v. s Stabreim waren seit den Anfangen der deutschen Literatur, Reime in anderen Ausprägungen sind — nach der Etablierung des deutschen Endreims durch die binnengereimten Langverse des ahd. ,Evangelienbuchs' Otfrids von Weißenburg (um 870; vgl. Brinkmann, Schweikle) — spätestens seit der mhd. Dichtung bis ins 20. Jh hinein kennzeichnend für Verstexte in deutscher Sprache. Dabei wird schon in mhd. Zeit (seit Heinrich von Veldeke) Reinheit des Reims erwartet, und es werden allerlei phonologische oder Stellungsvarianten erprobt (bei Gottfried von Straßburg, Konrad von Würzburg u. a.). Sie bilden kunstvolle Muster ( Tori) in / Minnesang und /" Meistergesang oder auch in der Spruchdichtung (s Sangspruch). In frnhd. Zeit sind bereits vielfaltige Reimformen anzutreffen — im 16. Jh. auch schon in freieren, bei Luther z. B. am /" Volkslied orientierten Stellungsvarianten. Auch im 17. Jh. bleibt der Endreim konstitutiv für deutsche Verstexte, nun fast ausnahmslos als Ausgangsreim. Versuche in reimlosen Versen kommen vereinzelt vor (Qu. Kuhlmann, Chr. Gryphius); Binnenreime werden in der Reimpoetik des 17. Jhs. ebenso ausgeschlossen wie rührende und gespaltene Reime - einen Sonderfall bilden allerdings die Schlagreime in ,Echo-Gedichten'. Seit den antikisierend reimlosen / Odenstrophen und Freien Rhythmen des 18. Jhs. (Klopstock, Goethe), verschärft dann durch die s Freien Verse des 20. Jhs. (Brecht u. a.), wird mehr und mehr auf den Reim als verskonstituierendes Element ganz verzichtet. Parallel dazu wird im s Drama der gereimte f Alexandriner seit Lessings .Nathan der Weise (1779) vom reimlosen s Blankvers verdrängt. Während des 19. Jhs. bleibt der Reim dennoch zunächst das wichtigste Kennzeichen der Lyrik (während er in der Erzählkunst wie auf der Bühne an Bedeu-

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Reim

tung verliert: Versdrama, ? Verserzählung); gegen Ende des 19. Jhs. wird er erneut in Frage gestellt — u.a. wegen seiner vermeintlichen Abgenutztheit (besonders ζ. B. von Arno Holz). Demgegenüber verteidigen und erproben seine Befürworter den Reim seit jeher unter wechselnden ästhetischen Aspekten: im 17. Jh. unter dem der lautlichen Reinheit (Opitz) und dem der vergnüglichen Klangwirkung (Harsdörffer), Ende des 18. Jhs. unter dem der ? Originalität, der reimtechnischen Artistik und Musikalität (Voss, Brentano, Eichendorff, Heine); im 19. Jh. unter dem Aspekt der Harmonie, teilweise auch der Exotik (Freiligrath); zu Beginn des 20. Jhs. unter dem der Formstrenge (George), Geschmeidigkeit (Rilke), Wahrhaftigkeit (Kraus), Entlegenheit (Benn); in neuerer Zeit wieder unter dem Aspekt der Artistik (Rühmkorf) und - als durchgehende Tradition spätestens seit Heine — unter dem Aspekt der s Komik (u. a. bei Busch, Wedekind, Tucholsky, Morgenstern, Ringelnatz, Rühmkorf, Gernhardt u. a.). Als Remedium allfalliger Reimnot stehen seit der Renaissance zahlreiche Reimlexika zur Verfügung — von Moretos,Rimario de tutte le cadentie di Dante e Petrarca' (1528) und Alberus' ,Novum dictionarii genus' (1540) über Zesens .Hochdeutschen Helikon' (1640), M. Grünwalds ,Reichen und ordentlichen Vorrath der männlichen und weiblichen Reime' (1691) und das berühmte .Poetische Handbuch' J. Hübners (1691) bis zu G. A. Bürgers ,Hübnerus redivivus', (1791) oder das .Allgemeine deutsche Reimlexikon', zuerst 1826 unter dem Pseudonym .Peregrinus Syntax' erschienen, mit 300 000 Reimen u. a. (vgl. Leclerq). ForschG: Die theoretisch-systematisierende Auseinandersetzung mit dem Reim wird seit jeher — von Otfrids lat. Widmungsvorrede (zum ,schema omoioteleuton') bis zu Rühmkorf (über die .menschlichen Anklangsnerven') — in Ausrichtung auf die dichterische Praxis betrieben (vgl. Ernst/ Neuser). Die wissenschaftliche Reim-Forschung im engeren Sinne setzt ein mit W. Grimm (1852); hier wie bei den frühen Nachfolgern interessieren zunächst Pro-

bleme der Genese des Reims. Insbesondere für die germanistische Mediävistik wird der Reim zudem als Hilfsmittel philologischer Rekonstruktionen, bei Textkonstitution, Herkunftsbestimmung, Lautgeschichte und dialektaler Zuordnung, bei Echtheits- und Verfasserfragen zu einem vielfältig erforschten Gegenstand (neuerdings auch computertechnisch; vgl. Berg, Jones). Daneben spielen bereits im 19. Jh. ästhetische und literaturtheoretische Aspekte wie die Frage nach dem Verhältnis von Reim und /" Wortspiel (schon bei A. W. Schlegel), die Frage nach dem Reim als Ersatz für geregelte Quantitäten der antiken Metrik (Bernhardi) oder auch die Frage nach dem Verhältnis von Reim und Witz (Vischer, 119 f.) eine gewisse Rolle. Ergänzend hierzu interessiert der Reimgebrauch einzelner Autoren (Kayser 1932 zu Harsdörffer, Belling zu Lessing; vgl. RL 1 3, 25—35; RL 2 3, 403—420) und in historischen Teilbereichen (ζ. B. Neumann, Schneider, Schuppenhauer). Neben typologischen Ausdifferenzierungen in Metrik-Handbüchern finden sich explizite Reflexionen auf reimpoetologische und literatursoziologische Fragen z.B. bei Lamping, Maiwald und Holtman. Lit: Eduard Belling: Die Metrik Lessings. Berlin 1887. - Thomas Berg: Unreine Reime als Evidenz für die Organisation phonologischer Merkmale. In: Zs. für Sprachwissenschaft 9 (1990), S. 3—27. — August Ferdinand Bernhardi: Sprachlehre. 2 Bde. Berlin 1801-1803. - Renate Birkenhauer: Reimpoetik am Beispiel Stefan Georges. Tübingen 1983. - Werner Friedrich Braun: Zur mittelalterlichen Vorgeschichte des Schüttelreims. In: GRM 44 (1963), S. 91-93. Henning Brinkmann: Verwandlung und Dauer. In: WW, Sammelbd. 2 (1963), S. 92-106. Alexander Ehrenfeld: Studien zur Theorie des Gleichklangs. Zürich 1904. - Ulrich Ernst, Peter-Erich Neuser (Hg.): Die Genese der europäischen Endreimdichtung. Darmstadt 1977. - Harald Fricke, Rüdiger Zymner: Einübung in die Literaturwissenschaft. Paderborn 42000, S. 9 6 102. - Wilhelm Grimm: Zur Geschichte des Reims [1852], In: W. G.: Kleine Schriften. Bd. 4. Gütersloh 1887, S. 125-341. - Astrid Holtman: A generative theory of rhyme. Utrecht 1996. — William Jervis Jones: „Rimen, die sich zueinander limen". In: ZfdPh 110 (1990), S. 384-406. Wolfgang Kayser: Die Klangmalerei bei Harsdörffer. Leipzig 1932. - W. K.: Kleine deutsche

Reimprosa Versschule [1946]. Bern 23 1987, S. 8 1 - 9 9 . - Dieter Lamping: Probleme der Reimpoetik im 20. Jh. In: WW 35 (1985), S. 283-295. - Robert Leclerq: Aufgaben, Methode und Geschichte der wissenschaftlichen Reimlexikographie. Amsterdam 1975. — Peter Maiwald: Der Reim. In: P.M.: Wortkino. Frankfurt 1993, S. 8 7 - 9 5 . Herman Meyer: Erotik des Reims. In: Jb. der Akademie der Wissenschaften in Göttingen (1975). Göttingen 1976, S. 3 9 - 5 9 . - Bert Nagel: Das Reimproblem in der deutschen Dichtung. Berlin 1985. - Friedrich Neumann: Geschichte des deutschen Reims von Opitz bis Gottsched. Berlin 1920. — Ulrich Pretzel: Frühgeschichte des deutschen Reims I. Leipzig 1941. — Peter Riihmkorf: agar agar - zauzaurim. Zur Naturgeschichte des Reims und der menschlichen Anklangsnerven. Reinbek 1981. - Karl Ludwig Schneider: Die Polemik gegen den Reim im 18. Jh. In: D U 16 (1964), S. 5 - 1 6 . - Claus Schuppenhauer: Der Kampf um den Reim in der deutschen Literatur des 18. Jhs. Bonn 1970. Günther Schweikle: Die Herkunft des ahd. Reims. In: ZfdA 96 (1967), S. 165-212. - Friedrich Theodor Vischer: Aesthetik oder Wissenschaft des Schoenen. München 2 1923, Bd. 6.

Rüdiger Zymner

Reimprosa Prosatexte, welche den Endreim als poetisches Kunstmittel verwenden. £xpl: Die Reimprosa ist eine Sonderform der Kunstprosa (/* Prosa). Sie bedient sich kontinuierlich des Endreims (Homoioteleuton, s Reim). Die Position der Reime (Paarreim, Kreuzreim, Dreireim etc.) ist dabei meist an logisch-syntaktische Einschnitte gebunden, so daß durch Sprechpause und Reim homoioteleutische s Kola entstehen, deren Länge variiert. Im Gegensatz zu ,gereimten Versen' liegen der Reimprosa keine metrisch-rhythmischen Versgesetze zugrunde (nicht einmal die rudimentären des Freien /" Knittelverses). Eine klare Abgrenzung von ,gereimten freien Rhythmen' (Heusler), vom s Prosagedicht und von Mischprosa mit gedichtartigen Einlagen (s Prosimetrum) ist nicht immer durchführbar. WortG/BegrG: Der Terminus Reimprosa geht zurück auf Wackernagel (1848, §40)

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und faßt aufgrund der großen Füllungsfreiheit ihrer Verse unter diesem Begriff einige frühmhd. geistliche Lehrdichtungen in Reimpaaren (,Anegenge', ,Merigarto', .Summa Theologiae'). Jedoch spricht bereits Rückert (1826) im Vorwort zur Übersetzung arabischer A/a/cawe«-Dichtung (/" Ghaset) von der „gereimten Prosa" (Rückert, XIV). Friedrich Rückert: Die Verwandlungen des Ebu Seid von Seru'g oder die Maka'men des Hari'ri. [Stuttgart] 1826. - Wilhelm Wackernagel: Geschichte der deutschen Litteratur. Basel 1848, S. 8 4 - 8 7 .

SachG: Reimprosa findet sich in den verschiedensten Literaturen und Textgattungen: u. a. in reicher Tradition in der (spät-) antiken griechisch-lateinischen Literatur (Gorgias, Cicero, Augustinus), in der lateinischen Literatur des Mittelalters (Hrotsvith von Gandersheim, Philipp von Harvengt, Hugo und Richard von St. Viktor), in der arabischen Makamendichtung, partiell in den Erzählungen aus ,Tausendundeiner Nacht' sowie im Koran. Magienahe deutsche Gebetsprosa des 11. und 12. Jhs. verwendet gelegentlich Reime, die jedoch nicht ornamental, sondern magisch-funktional zu verstehen sind (.Gebetbuch von Muri'). Von herausragender Bedeutung ist das Werk Mechthilds von Magdeburg (13. Jh.), in welchem sich paradigmatisch das Changieren von Reimprosa auf höchstem sprachlichem Niveau zwischen reimloser Prosa und sich aus der Reimprosa lösenden selbständigen Lyrikeinlagen minutiös nachvollziehen läßt. Weitere Beispiele aus dem Kreis mittelalterlicher mystischer Literatur (y Mystik) — neben dem Werk Seuses (1295-1366) - sind ,Die Lilie' und ,Die Rede von den 15 Graden' (beide 13. Jh.). Ferner sind das vielfach tradierte ,Speculum humanae salvationis' und der ,Mahrenberger Psalter' (beide 14. Jh.) zu nennen, wie auch Teile von Fischarts ,Geschichtklitterung' (1575). Von Gottsched als „läppische Tändeleyen" abgelehnt (Gottsched 1736, 276), wurde die Reimprosa mit Rückert neu aufgewertet. Im 20. Jh. machten Th. Mann (,Der Erwählte') oder Rilke (,Cornet') passagenweise vom Mittel reimprosaischer Gestaltung Gebrauch, ferner Dauthendey, Ringelnatz, Stadler, Lersch

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Reiseliteratur

und Werfel. Am Ende des 20. Jhs. sind die Sprachkünste des HipHop und Rap wohl dem Gebiet der Reimprosa zuzuordnen, das dadurch zu neuer Blüte gelangte und erstmals ins Bewußtsein breiter Bevölkerungsschichten drang.

erscheinen, als ? 5ne/(korpus), als Stationenverzeichnis oder -chronik, als episodisch ausgeschmückte Reiseerzählung etc. Häufigste Prinzipien der Gliederung sind die nach Tagen oder markanten Aufenthaltsorten.

Johann Christoph Gottsched: Ausführliche Redekunst [...]. Leipzig 1736.

WortG: Das Kompositum aus Reise (mhd. reise ,Aufbruch zum Kriegszug', .Kriegszug'; BMZ 2/1, 663 f.) und /" Literatur erscheint spätestens seit der Mitte des 19. Jhs. ganz selbstverständlich als Bezeichnung für touristisches Schrifttum (ζ. B. v. Kalckstein 1854), auch wenn es im DWb (Bd. 14, publiziert 1893) noch nicht belegt ist. In der Literaturwissenschaft hat es sich jedoch erst seit den frühen 1980er Jahren durchgesetzt. Das gängigere Wort Reisebeschreibung begegnet ab dem letzten Viertel des 17. Jhs., so bei Ch. Weise (,Die Frantzösische, Spanische, Englische, Italiänische Reysebeschreibung' in: ,Die drey ärgsten Ertz-Narren in der gantzen Welt', 1673) und Ch. Reuter (.Schelmuffskys warhafftige curiose und sehr gefahrliche Reisebeschreibung zu Wasser und Lande', 1696). Es folgt früheren Bildungen wie Reisebuch (,Reisbuch' der Nürnberger Familie Rieter, 1594) und reiszbuechlin und zieht im 18. und frühen 19. Jh. Bildungen nach sich wie Reiseerzählung (Seume; später bei Karl May für seine exotischen /" Abenteuerromane), Reisegeschichte, Reiseführer, Reiseskizzen, Reisesammlung (alle bei Goethe), Reisenovelle und Reisebild. Zedier (31 [1742], 361 f.) bietet Reisebeschreibung und Reisebuch als Erläuterung zu frz. itinéraire und lat. itinerarium; Campe (21813, 388) übersetzt lat. itinerarium mit „die Reisebeschreibung".

ForschG: Es gibt nur punktuelle Forschungsansätze (Polheim zu lat., Müller zu arab., Amtstätter zu mhd. Texten); eine Entwicklung läßt sich einstweilen nicht nachzeichnen. Lit: Leif L. Albertsen: Neuere deutsche Metrik, Bern u. a. 1984, S. 143-148. - Mark E. Amtstätter: Die Partitur der weiblichen Sprache. Sprachästhetik aus der Differenz der Kulturen bei Mechthild von Magdeburg. Berlin 2002. - Andreas Heusler: Deutsche Versgeschichte. Bd. 3. Berlin, Leipzig 1929, § 1176. - Friedrun R. Müller: Untersuchungen zur Reimprosa im Koran. Bonn 1969. — Eduard Norden: Die antike Kunstprosa [1898]. 2 Bde. Darmstadt 5 1958. Friedrich Ohly: Textkritik als Formkritik. In: FMSt 27 (1993), S. 167-219 [bes. S. 172-194], - Nigel F. Palmer: ,Mahrenberger Psalter'. In: VL 5, Sp. 1160-1162. - Karl Polheim: Die lateinische Reimprosa [1925]. Berlin 2 1963.

Mark Emanuel Amtstätter

Reiseliteratur Text oder Textgattung, worin ,νοη unterwegs' berichtet (oder analog dazu fingiert) wird; in der Regel in Prosa. Expl: Der Oberbegriff Reiseliteratur bezeichnet (1) pragmatische Texte, welche den Ablauf einer Reise festhalten, und bezieht sich (2) in einer literarischen bzw. literaturwissenschaftlichen Verwendung auf die fiktionale Übernahme solcher Modelle. Als deskriptive Form unterscheidet sich Reiseliteratur von normativen Gattungen, wie sie in der frühneuzeitlichen Apodemik (Anleitungen für das richtige Reisen) oder auch in empfehlend-bewertenden Reiseführern verstärkt seit dem 18. Jh. begegnen. Formale Verbindlichkeiten kennt die Gattung nicht; die Reisebeschreibung kann als /" Tagebuch

Joachim Heinrich Campe: Wb. zur Erklärung und Verdeutschung der unserer Sprache aufgedrungenen fremden Ausdrücke [1801]. Braunschweig 2 1813. — Moritz v. Kalckstein: Erinnerungen an England und Schottland. Ein Beitrag zur Reiseliteratur über jene Länder und zum praktischen Gebrauch für Besucher derselben. Berlin 1854.

BegrG: Der Name der prosaischen Zweckform ,Reisebeschreibung' bzw. ,Reiseliteratur' enthält den begrifflichen Sinn. Seit der Antike (,Odyssee', ,Aeneis', ,Aithiopica') kennt episches Erzählen die ordnende Figur

Reiseliteratur der Reise; für die neuzeitliche /" Autobiographie ist sie ein strukturbildendes Element. Mit dem Begriff verbinden sich der Anspruch auf Authentizität und dokumentarische Treue, früh aber auch der gesteigerte Zweifel daran (Herodot, Lukian; /" Lügendichtung). Neuerdings wird der Wahrheitsgehalt von Reisebeschreibungen im Blick auf persönliche, soziale und kulturelle Prädispositionen des Reisenden bzw. Reisebeschreibers, vornehmlich bei der Begegnung mit Fremdkulturen, untersucht (>" Alterität); nach dieser Konzeption zeigt die Reisebeschreibung in der Darstellung des Unvertrauten zugleich den Beschreibenden mit seinen leitenden ,Imagines' vom Anderen, deren systematischer Untersuchung sich die ,Imagologie' widmet. Die Anzeigen- und Rezensionsorgane des späteren 18. Jhs. rubrizieren Reisebeschreibungen unter .Physische und politische Erdbeschreibung' oder .Statistik'. Gewiß hat Goethes .Italienische Reise' dazu beigetragen, daß die itinerare Gattung seit dem 1. Drittel des 19. Jhs. früher als andere prosaische Zweckgattungen auch als ? Literatur wahrgenommen wird. SachG: In der griechischen Antike finden wir nach der auf eigene Reisen zurückgehenden Erdbeschreibung des Hekataios von Milet und Schiffahrtsbüchern aus dem 4. Jh. v. Chr. die hellenistischen περιηγήσεις [periegéseis] .Herumführer' in Form fingierter Besuche von Sehenswürdigkeiten (Pausanias, Dionysios, Diodorus u. a.). Die Römer nutzten itineraria' (von iter .Weg', ,Fahrt'), d.h. Marschkarten und schriftlich fixierte Strecken- und Stationenverzeichnisse, zu militärischem Zweck. In mittelalterlichen Berichten konkurriert die Autorität des schriftlich Überlieferten mit dem Selbstgesehenen. Bedeutend ist Adams von Bremen ,Gesta Hammaburgensis Ecclesiae Pontificum' (1074-1076) mit weithin zuverlässigen Beschreibungen slawischer und v. a. skandinavischer Gebiete bis ins Eismeer einschließlich Grönland und Island. Seit dem 13. Jh. herrscht neben Fürsten- und Diplomatenreisen die .Pilgerreise' vor, wobei die Jerusalemfahrt reicher dokumentiert ist als die Pilgerschaften nach Rom und Santiago de Compostela (vgl. Paravi-

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cini). Unter wechselnden Bezeichnungen finden sich einfache Landbeschreibungen neben Führern mit ,tabulae' der Gnadenorte, schlichte Auflistungen von Reisestationen neben breiteren Berichten mit historischen, geographischen oder theologischen Exkursen; persönliche Erlebnisse sind zu Exempeln verallgemeinert, Neugier wird als sündhaft verworfen, zu frommer Nachahmung aufgerufen. Hans Tuchers .Beschreibung der Reyß ins Heylig Land' (1482) liefert ein frühes Zeugnis für die Tradition der gedruckten deutschen Pilgerwerke (vgl. auch Miedema). Giovanni Battista Ramusio veröffentlicht 1550—1559 in Venedig seine grundlegende Sammlung .Delle Navigationi e Viaggi' (3 Bde.). Auch die Reisemethodik (,ars apodemica', ,prüdentia peregrinando) mit systematischer Anleitung zum Beobachten und Notieren nimmt im Humanismus einen Aufschwung, beispielhaft sichtbar 1594 in den .Variorum in Europa itinerum Deliciae' von Chytraeus. Von der spätmittelalterlichen Studentenreise und der humanistischen Gelehrtenreise sind seit dem 17. Jh. die Kavalierstour junger Adeliger an Höfe und Ritterakademien und, etwas später, die bürgerliche Bildungsreise zu unterscheiden; erstere ist zumeist in Notizen eines mitreisenden Hofmeisters festgehalten, die andere wird oft mit Hilfe von Wegekarten, Reiseführern und anderer Literatur in einem ausführlichen Text gesichert, der, auch wenn er ungedruckt bleibt, dem von Goethes .Italienischer Reise' bekannten Muster nahekommt. Das reiseliterarisch am besten erforschte 18. Jh. präsentiert — Übersetzungen aus dem Englischen, Französischen, Holländischen oder Schwedischen eingeschlossen — mehr als zehntausend deutschsprachige Itinera. Von 1747 bis 1774 betreibt der Göttinger Mathematiker Abraham Gotthelf Kästner mit der ,Allgemeinen Historie der Reisen zu Wasser und zu Lande' die größte Itinerasammlung der Aufklärung aus Übersetzungen nichtdeutscher Entdeckungsreisen. Eigenständig daneben Georg Forsters .Reise um die Welt' (1779/80, zuerst 1777 auf Englisch), die auf die Teilnahme an Cooks zweiter Erdumsegelung zurückgeht. Das letzte Viertel des

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Reiseliteratur

18. Jhs. bringt zahlreiche Fachreisen bzw. -beschreibungen (pharmazeutisch-botanischen, mineralogischen, literarischen, musikalischen, theatralen, bibliothekarischen u.a. Interesses). Zugleich dringt, angeregt durch Sternes ,Sentimental Journey' (1768), das subjektive Element in die Reisebeschreibung ein, das von August Moritz v. Thümmels , Reise in die mittäglichen Provinzen von Frankreich' (1791-1805) bis zu Heines ,Reisebildern' (1826-1831) und ins 20. Jh. weiterwirkt. Mit der Subjektivität schärft sich gleichzeitig der kritische Blick auf die administrativen, medizinisch-hygienischen und schulischen Verhältnisse deutscher Territorien in den sozialkritischen Reisebeschreibungen (Wekhrlin, Pezzi, Riesbeck, Rebmann u.a.). Aus demselben politischsozialen Impuls speisen sich die zahlreichen Revolutionsreisen, die nach 1789 wie säkularisierte Pilgerreisen das Leben in Paris festhalten (Campe, Fr. Schulz, v. Halem, Reichardt u.a.). In Nicolais zwölfbändiger ,Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz im Jahre 1781' (1783—1796) erscheinen noch einmal alle itinerarischen Gattungen und ihre Elemente enzyklopädisch zusammengefaßt. Erwähnung verdient, wegen des Plädoyers für die Fußreise als besondere Chance sozialer Fremderfahrung, Seumes,Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802'. A. v. Humboldts zumeist französisch verfaßte Berichte über Reisen nach Mittel- und Südamerika begründen die literarische Spezies der Forschungsreise. Die romantischen Reisebeschreibungen, etwa J. Kerners (,Reiseschatten', 1811) oder W. Müllers (,Rom, Römer und Römerinnen', 1820), integrieren Märchen, Sagen, Lieder mit einem deutlich volkskundlichen Interesse. Die Biedermeierzeit (s Restauration), in der das Reisebeschreiben zur ,Modeerscheinung' (Sengle) wird, setzt die spätaufklärerische politische Tendenz fort, beobachtet das Treiben der Volksmasse in Großstädten wie Paris und London, entdeckt die Industrie Englands, des Bergischen Landes und Ruhrgebiets (Weerth, Engels); die neuen Reisemittel Eisenbahn und Dampfboot werden selbst zum itineraren Thema; Reiseliteratur, oft als Korrespon-

denz in Zeitung und Zeitschrift erscheinend, geht eine enge Verbindung mit der Publizistik ein. Formal herrscht, besonders bei den Jungdeutschen, ein subjektiver, bisweilen novellistisch und mit Landschaftsbildern ausgeschmückter Fragmentarismus vor, der sich bis zu dandyhaft-impressionistischen Zügen steigern kann (Pückler-Muskau). Die große Auswandererwelle ab der Jahrhundertmitte bringt die Gattung des pragmatischen ,Auswandererbriefes' hervor, mit der Wende zum 20. Jh. mehren sich die poetisierten exotischen Reisen vornehmlich nach Ost- und Südasien (Bonseis, Dauthendey, Hesse, Keyserling). Die Entwicklung zu allgemeiner Mobilität, kollektiver Reiseorganisation durch Reisebüros und einem — zuerst auf die Rhein- und Alpengegenden orientierten — Massentourismus ist der Reisebeschreibung nicht förderlich, da sie deren Funktion des stellvertretenden Sehens erspart. Reisen in die Vereinigten Staaten von Nordamerika und mehr noch in die junge Sowjetunion (A. Hollitscher, Cl. Zetkin, Kisch, Toller) führen zu einer neuerlichen Politisierung der Reisebeschreibung. Eindeutige Propagandazwecke verfolgt diese im Nationalsozialismus (H. Johst: ,Maske und Gesicht', 1935). In der Nachkriegszeit verbinden sich bei Andersch, Koeppen, Boll, Canetti soziale Aufmerksamkeit mit literarischem Anspruch, bei R. D. Brinkmann (,Rom. Blicke', 1979) mit einer Montagetechnik, die in der Verwendung subliterarischer Reiseakzidentien (Notizen, Brieffetzen, Fotos) die herkömmliche Reisebeschreibung über Italien, das klassische Reiseziel, destruiert. ForschG: Von systematischer — auf Sicherung des Textkorpus, Erhellung der ItineraGeschichte, Scheidung der Gattungen und Spezies, Bestimmung der ästhetischen, pragmatischen und anthropologischen Dimensionen von Reisebeschreibungen bedachter — literaturwissenschaftlicher Forschung ist erst seit den frühen 1970er Jahren zu sprechen. Seither sind Anstrengungen bibliographischer und interpretativer, auch editorischer Art unternommen worden. Bibliographisch am weitesten gediehen ist die Erfassung der Itinera des 18. Jhs.

261

Reklame (Griep); f ü r denselben Zeitraum gab es markante Forschungsanstöße durch Arbeiten zur unterschiedlichen Mentalität von Reisenden (Wuthenow) und zur zeitgenössischen Reisetheorie (Stewart). Zunehmend interdisziplinär genutzt wird die avancierte Reiseforschung der Wirtschafts- und Verkehrsgeschichte, entsprechend wird nach der literarisch formprägenden Wirkung der dort untersuchten Reisebedingungen (Mittel, Wege, Straßen- und Herbergswesen, Privilegien und Verbote) gefragt. In kulturund mentalitätsgeschichtlicher Perspektive werden von einer sich als ,interkulturell' verstehenden Germanistik (/" Interkulturalität), ebenso von seiten der ,Imagologie', die Probleme der ,Ethnozentrie' und des Wechselspiels von literarischer Fremd- und Ichkonstitution in Reisetexten erörtert. Interesse gilt dem Einfluß von Gartenarchitektur und Landschaftsmalerei auf die Wahrnehmung der Landschaft in der Reisebeschreibung (Bender). Neben Reiseautoren und Reisetexten haben bestimmte Textgruppen — wie Revolutionsreisen, Reisen zu bestimmten Zielen etc. - bereits unüberschaubar viele Untersuchungen auf sich gezogen. Mehrere Sammelwerke (Piechotta, Krasnobaev, Griep 1991, Jäger, Brenner 1989) betonen die kultur- und literaturgeschichtliche Bedeutung der Reisegattung, sichern Daten und sorgen für die weitere Differenzierung der Gattung. Lit: Wolfgang Albrecht (Hg.): Wanderzwang Wanderlust. Tübingen 1999. — Hermann Bausinger u.a. (Hg.): Reisekultur. München 1991. Brigitte Bender: Ästhetische Strukturen der literarischen Landschaftsbeschreibung in den Reisewerken des Fürsten Pückler-Muskau. Frankfurt, Bern 1982. - Klaus Beyrer: Die Postkutschenreise. Tübingen 1985. - Urs Bitterli: Der Reisebericht als Kulturdokument. In: GWU 24 (1973), S. 555-564. - Peter J. Brenner (Hg.): Der Reisebericht. Frankfurt 1989. - P. J. B.: Der Reisebericht in der deutschen Literatur. Tübingen 1990. — Lionel Casson: Reisen in der Alten Welt. München 1976. - Anne Fuchs, Theo Harden (Hg.): Reisen im Diskurs. Modelle der literarischen Fremderfahrung von den Pilgerberichten bis zur Postmoderne. Heidelberg 1995. - Vridhagiri Ganeshan: Das Indienbild deutscher Dichter um 1900. Bonn 1975. - Holger T. Gräf, Ralf Pröve: Wege ins Ungewisse. Reisen in der Frühen Neu-

zeit. Frankfurt 1997. - Wolfgang Griep: Deutschsprachige Reiseliteratur 1700-1810. In: Jb. der historischen Forschung in der Bundesrepublik Deutschland 1984, S. 45-48. - W. G. (Hg.): Sehen und Beschreiben. Europäische Reisen im 18. und frühen 19. Jh. Heide 1991. Hans-Wolf Jäger (Hg.): Europäisches Reisen im Zeitalter der Aufklärung. Heidelberg 1992. Bernhard Jahn: Raumkonzepte in der frühen Neuzeit. Zur Konstruktion von Wirklichkeit in Pilgerberichten, Amerikareisebeschreibungen und Prosaerzählungen. Frankfurt u.a. 1993. — Boris I. Krasnobaev u. a. (Hg.): Reisen und Reisebeschreibungen im 18. und 19. Jh. als Quellen der Kulturbeziehungsforschung. Berlin 1980. Manfred Link: Der Reisebericht als literarische Kunstform von Goethe bis Heine. Diss. Köln 1963. - Antoni Maczak, Hans Jürgen Teuteberg (Hg.): Reiseberichte als Quellen europäischer Kulturgeschichte. Wolfenbüttel 1982. - Michael Maurer (Hg.): Neue Impulse der Reiseforschung. Berlin 1999. - Wolfgang Neuber: Zur Gattungspoetik des Reiseberichts. In: Brenner 1989, S. 50-67. - Norbert Ohler: Reisen im Mittelalter. München 1986. - Werner Paravicini (Hg.): Europäische Reiseberichte des späten Mittelalters. 3 Bde. Frankfurt u.a. 1994-2000. - Hans Joachim Piechotta (Hg.): Reise und Utopie. Frankfurt 1976. - Werner Röcke: Wunder der Fremde und der Traum vom Reisen. In: Fremderfahrung in Texten des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit. Hg. v. Günter Berger und Stephan Kohl. Trier 1993, S. 87-102. - Friedrich Sengle: Biedermeierzeit. Bd. 2. Stuttgart 1972. Justin Stagi: Der wohl unterwiesene Passagier. Reisekunst und Gesellschaftsbeschreibung vom 16. bis zum 18. Jh. In: Krasnobaev u.a. 1980, S. 353-384. - William E. Stewart: Die Reisebeschreibung und ihre Theorie im Deutschland des 18. Jhs. Bonn 1978. - Peter Wunderli (Hg.): Reisen in reale und mythische Ferne. Reiseliteratur in Mittelalter und Renaissance. Düsseldorf 1993. - Ralph-Rainer Wuthenow: Die erfahrene Welt. Europäische Reiseliteratur im Zeitalter der Aufklärung. Frankfurt 1980. Hans- Wolf Jäger

Rejet

Enjambement

Reklamant s Codex Reklame S Werbetext

262

Rekurrenz

Renaissance

Äquivalenzprinzip

Rekursivität ? Potenzierung Renaissance Epoche der Kulturgeschichte von etwa 1300 bis 1630. Expl: Renaissance steht seit dem 19. Jh. für eine kulturelle Erneuerung, die um 1300 in Italien begann und von Gelehrten nördlich der Alpen bis nach 1600 aufgegriffen wurde; heute für eine kulturelle Bewegung, in der die Erweiterung der erfahrbaren Welt und der Kommunikationswege sowie die dadurch bedingte Pluralisierung der Weltbilder Gelehrte, Künstler und Politiker zu neuen Standortbestimmungen herausforderten und Orientierungen an antiken Autoren nahelegten. Dieses Ziel wird von Zeitgenossen selbst als moralische, politische oder religiöse renovatio, restitutio, restauratio oder Palingenesie bezeichnet (/" Humanismus2, ? Reformation, ? Gegenreformation). WortG: Frz. Renaissance ,Wiedergeburt' setzt sich im 16. Jh. durch, ebenso lat. litterae renascentes/renatae. Als Metapher für die Wiederkehr eines früheren glücklichen Zeitalters begegnet renasci in neronischer Zeit bei Calpurnius Siculus (,Ecloga' 1,42). Vorbereitet ist die metaphorische Verwendung des Wiedergeburt-Begriffs im Kontext antiker Kulturentstehungstheorien bereits bei Horaz (,De arte poetica', ν. 70) und in Ovids Fassung des Phoenix-Mythos (,Metamorphoses' 15,402; wieder aufgegriffen von Laktanz, ,De ave Phoenice', v. 63). Durch den christlichen Taufritus (1 Petr 1,3 und 23) wurde das Bild der Regeneration als Erzeugung oder Geburt aus Gott oder dem Heiligen Geist gemäß Joh 3,3 — 5 (auch Tit 3,5; Rom 6,4) allgemein verfügbar (Cyprian, ,De mortalitate' 14; u. a. bei Augustinus, Hieronymus). Hellenistische Vorstellungen einer Wiedergeburt, die auf eine zyklische Geschichtstheorie rekurrieren, fließen ein in Mt 19,28 (griech. έν τη παλιγγενησία [en te palingenesia], lat. in rege-

neratione). Renaissance durch die Taufe ist frz. seit dem 12. Jh. belegt (Trésor, 781 — 784). Von einer gegenwärtigen oder künftigen Wiedergeburt, Regeneration und Erneuerung der Natur, des Menschen und der Künste sprechen Bernardus Silvestris und Alanus ab Insulis, mit Bezug auf Christi Mittlerschaft und göttliche Gnade Bernhard von Clairvaux, Anselm von Canterbury u. a. (Ladner, 6 f. und 14—16). Seitdem Gelehrte in Italien im 14. Jh. und nördlich der Alpen im 16. Jh. die zahlreichen künstlerischen und wissenschaftlichen Initiativen zur politischen und religiösen Erneuerung mit der neuerlichen Hinwendung zu den Quellen des griechischen und römischen Altertums begründen, dienen restitutio, renovatio, rinascita und renaissance zur Abgrenzung von einem spätestens mit dem Ende des römischen Imperiums behaupteten Verfall klassischer Bildung. Damit wird Renaissance zur Bezeichnung für ein zeitgenössisches Epochenbewußtsein. Als kunsthistorische Epochenbezeichnung kommt Renaissance engl, und frz. seit 1840 (u.a. bei John Ruskin, J.Michelet) und im dt. Sprachraum seit 1860 (J. Burckhardt) vor. Archiv des Thesaurus linguae latinae, München. — Egidio Forcellini: Lexicon totius latinitatis. Bd. 4. Padua 1940, S. 826. - OED 13, S. 605 f.; Suppl. 3, S. 1185. — Trésor de la langue française. Bd. 14. Paris 1990.

BegrG: Die Epochenbezeichnung trägt dem Selbstverständnis frühneuzeitlicher Gelehrter, Dichter und Künstler Rechnung, indem sie unterschiedliche Erneuerungstendenzen erstmals zu einem Ganzen bündelt und sie durch den Bezug zur Antike vom Mittelalter abgrenzt. In der Nachfolge Boccaccios (,Vita di Dante', 1357—1359) verglichen Literar- und Kulturhistoriker die Leistungen Dantes und Petrarcas, ähnlich auch Giottos, mit dem Wiedererwachen der Musen aus langem Schlaf, ihrer Rückkehr aus dem Exil und der Verjüngung der Natur nach Vertreibung der Dunkelheit (Ullman, 15—19). M. Ficino begrüßt die neue Blüte der /" Artes liberales in Florenz als Wiederkehr des Goldenen Zeitalters (Ferguson, 18-28). C. Celtis

Renaissance preist Maximilian I. als restaurator der Künste und Wissenschaften. Zur Emanzipation von römischer Fremdbestimmung und Wiederbesinnung auf vermeintlich germanische Wertvorstellungen rief Ulrich v.Hutten seit 1521 erstmals in deutscher Sprache auf. Von einer dreistufigen rinascità degli arti, die u m 1500 in d e r maniera moderna

ihren

Höhepunkt erreicht habe, spricht Giorgio Vasari 1550 im Rückblick auf zwei Jahrhunderte italienischer Architektur, Malerei und Skulptur (,Vite', Prooemien zu Bd. 2 und 3). Zum semantischen Feld von renasci gehören in den programmatischen Selbstdeutungen der italienischen (Lorenzo Valla, Enea Silvio Piccolomini) sowie transalpiner Humanisten (Agricola, Celtis, Reuchlin, Melanchthon) die Gegensätze zwischen Winter und Frühjahr, Schlaf und Erwachen, Nord und Süd, Dürre und Blüte, Dunkel und Licht. Erasmus begründete die Wiedergeburt der ,litterae bonae' mit dem Aufschwung der Redekunst in Italien, den Niederlanden und Deutschland und knüpfte an das Studium des originalen Wortlauts der Heiligen Schrift die Hoffnung auf eine Wiederbelebung der Ideale des Urchristentums. Das Studium der hebräischen und griechischen Originalquellen empfiehlt Melanchthon in seiner Wittenberger Antrittsvorlesung als beste Voraussetzung für die ,rechtmäßige Wiedergeburt der Studien' (,Corpus reformatorum' 1, 54). ,Wiedergeburt' und verwandte Metaphern werden im 17. Jh. zu Topoi einer Kulturgeschichtsschreibung, deren Autoren (u. a. H. Conring, G. Naudé, D. G. Morhof) den Aufschwung der Künste und Literatur wie auch die Erweiterung des Wissens auf die Verfügbarkeit z.T. neuer antiker Quellen, die Lehrtätigkeit der aus Byzanz vertriebenen griechischen Gelehrten nach 1453, die Erfindung des Buchdrucks und das Mäzenatentum kunstliebender und gelehrter Monarchen zurückführen. Anknüpfend an ältere Epochendarstellungen, die in den italienischen Humanisten Identifikationsmuster für moderne Libertins sahen, projiziert P. Bayle in seinem ,Dictionnaire' (Bayle, 315; Art. ,Takiddin') zeitgenössische Kontroversen zwischen Theologen und

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Freigeistern auf den Antagonismus zwischen angeblich irreligiösen Humanisten und scholastischen Theologen, um die „restauration des Langues savantes et de la belle Litérature" als Wegbereiterin der Reformation und Vorstufe der Aufklärung zu nobilitieren. Michelet ,erfand' (Febvre) 1840 den Renaissance-Begriff für die sich aus dem Gegensatz zur „tyrannie du moyen âge" definierende Mentalität einer Epoche, die in der bildenden Kunst des 14./15. Jhs. zum Ausdruck gekommen sei und im 16. Jh. alle Lebensbereiche (Literatur, Bildung, Politik, Naturkunde) durchdrungen habe (Michelet, 51 f.). J. Burckhardt erklärte 1860 die „Wiedergeburt des Alterthums" im Bündnis mit „dem italienischen Volksgeist" zum „Gesamtnamen der Zeit" (Burckhardt, 175). Seine Fixierung der Renaissance' auf die Kulturentwicklung im frühneuzeitlichen Italien provozierte zu Beginn des 20. Jhs. Gegenvorschläge, die den Renaissance-Begriff auf frühere, ebenfalls an der Antike orientierte Innovationsschübe übertrugen, die von einem Hof (,karolingische' und ,ottonische Renaissance') oder von Kathedralschulen (,Renaissance des 12. Jhs.': Haskins) ausgingen. Vorher sind schon die Versuche im ausgehenden 19. Jh., die Geschichtsprophetie Joachims von Fiore und seiner Anhänger sowie franziskanische Naturfrömmigkeit als Quellen einer kulturellen .Renaissance' anzusehen (Ferguson, 296—306), Reaktionen auf Burckhardts Epochenkonstruktion. Pierre Bayle: Dictionnaire historique et critique [1697], Bd. 4. Amsterdam 1740. - Jacob Burckhardt: Die Cultur der Renaissance in Italien [I860], Hg. v. Horst Günther. Frankfurt 1989. [Corpus reformatorum:] Philippi Melanthonis Opera quae supersunt omnia. 28 Bde. Hg. v. Karl Gottlieb Bretschneider [1834-1860]. Repr. Bad Feilnbach 1990. - Jules Michelet: Œuvres complètes. Bd. 7. Hg. v. Paul Viallaneix. Paris 1978.

SachG: Im Unterschied zu anderen kulturgeschichtlich begründeten Phaseneinteilungen ist für die Renaissance die Pluralisierung der Weltbilder und Glaubenshaltungen maßgeblich. Voraussetzung für dadurch ausgelöste Neuorientierungen an antikem Sachwissen (v. a. in Medizin, Astronomie,

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Renaissance

Geographie) sind Quellenfunde, kommentierte Editionen und Ubersetzungen aus dem Griechischen, ohne den Umweg über die arabische Tradition und mittellateinische Kompendienliteratur. Die Propagierung neuer Inhalte und Methoden unter Berufung auf antike Autoritäten und in Abgrenzung von den scholastischen' Jahrhunderten ist eine für die Renaissance typische Argumentationsfigur (Rummel, 1—40). Petrarcas persönliche Aneignung römischer Autoren, die er als seine Zeitgenossen anredet (,Epistulae ad familiares' 24; dazu Rener), und seine Rechtfertigung eines Individualstils (ebd., 1,8 und 44) gehen einher mit der Kritik an traditionellen Darstellungsformen. Mit Petrarca beginnt die europäische Kontroverse um die beste Nachahmung der ,auctores classici', ästhetische ,novitas' und den Eigenwert nationalsprachlicher Dichtung ( / Imitatio, s Attizismus). Forderungen humanistischer Gelehrter, Naturforscher und Ärzte nach eigenständigem Studium und praktischer Verwertung antiker Quellen gingen einher mit grundsätzlicher Autoritäten- und Institutionenkritik und der institutionellen Kompetenzentrennung zwischen mathematischen Astronomen und Bibelexegeten. Geschichte und Politik wurden ins akademische Curriculum aufgenommen. Im Gefolge der von Platonismus und Neuplatonismus beeinflußten Naturphilosophie entstand ein hermetisches Schrifttum (Paracelsismus, / Hermetismus·, vgl. Kühlmann/Telle). Petrus Ramus begründet seine Dialektikreform 1543 nicht nur mit ihrer Natur- und Praxisnähe, sondern begreift sie als Teil der restitutio' einer hypothetischen ,prisca philosophia' (einer ,uranfanglichen Philosophie'; Bauer, 833 — 835). Der Wettbewerb deutschsprachiger Schriftsteller mit der italienischen Latinität wurde durch den Vorwurf nordischer Barbarei angespornt und entzündete sich zur Zeit Maximilians I. an Utopien eines einigen, stabilen und politisch handlungsfähigen Reichs (Kühlmann 2000, 249). Ansätze zum Reichspatriotismus bei Celtis und Hutten sowie Konstruktionen einer durch Tacitus' ,Germania' inspirierten Stammesidenti-

tät in der nationalen Geschichtsschreibung werden verständlich als Reaktionen auf das v. a. von Petrarca und Valla formulierte Programm, das kulturelle Erbe und die ,gloria' des antiken Rom allein in Italien wiederzubeleben (Mommsen, 174; Worstbrock 1974, 510f.; Garber, 24f. und 29f.). Die Tugendideale und Verhaltensmodelle humanistischer Sodalitäten (s Sprachgesellschaft) spiegeln die Sehnsucht deutscher Renaissance-Autoren nach politischer Mitgestaltung und publizistischer Resonanz wider. Je mehr regionale Zentren humanistischer Renaissance-Kultur es an Höfen und Hochschulen gab, um so wichtiger wurden Freundschaftsbriefe als Medium gelehrter Kommunikation und Kompensation für die fehlende reichspublizistische Öffentlichkeit. In Deutschland klaffen anfangs der programmatische Anspruch auf vollendete Nachahmung antiker Autoren und das Niveau der Sprach- und Metrikbeherrschung noch auseinander (Schäfer, Worstbrock 1983). Doch ändert sich dies dank der Gründung von Lateinschulen im Laufe des 16. Jhs. (Bauer, 178-183). Die Ziele der ? Reformation setzen akademische Vertrautheit mit der humanistischen Philologie voraus. Tatsächlich waren alle Reformatoren vor der Eskalation des Ablaßstreits Anhänger der humanistischen Erneuerungsbewegung (/" Humanismus2), auch Luther. Nicht erst Bayle erklärte die italienischen Renaissance-Gelehrten zu Wegbereitern der Reformation, sondern schon Nachrufe auf Melanchthon 1560 (Vitus Ortelius) sowie lutherische und reformierte Kulturhistoriker nach 1600 (Calixt, 244; I. Casaubonus, ,Epistola dedicatoria', 4 r ; Adam, 1 f.). Auch die Jesuiten propagierten ihr Bildungsprogramm (,ratio studiorum') als Erbe des Renaissance-Humanismus und priesen die außereuropäischen Missionen als humanen Zweck der Entdeckungsreisen, wodurch die reformationsbedingten Verluste kompensiert würden (Possevinus, 5 f.). Die Überlegenheit der ,modernes' über die ,anciens' in der Querelle, die z. T. mit der Aufwertung der modernen Nationalliteraturen, v. a. aber mit dem Wissenszuwachs und der empirisch-mathematischen Methode der Naturforschung begründet wird,

Renaissance markiert das Ende der Renaissance. Das ästhetische Ideal der ,imitado veterum' erhält fortan Konkurrenz durch das Gebot der Naturnachahmung (s Mimesis2). Auch der Glaube an die Unüberbietbarkeit antiker Sachkompetenz, mit der u. a. N. Copernicus und A. Vesalius ihre Reformen der Astronomie bzw. der Anatomie plausibel zu machen versuchten, weicht um 1600 theoretischen und empirischen Vorstößen, für die die ,novatores' (Morhof) wie Bruno, Campanella, Kepler und Galilei antike Ideen und Methoden nurmehr als heuristischen Überbau benutzten (Krafft, 146-167; Boas). Melchior Adam: Vitae Germanorum theologorum, qui superiori seculo ecclesiam Christi voce scriptisque propagarunt [...]. Heidelberg 1620. — Georg Calixt: Werke in Auswahl. Hg. v. Inge Mager. Bd. 1. Göttingen 1978. - Isaac Casaubonus: De rebus sacris et ecclesiasticis exercitationes XVI. Frankfurt 1615. - Antonius Possevinus: Bibliotheca selecta de ratione studiorum [1599]. Köln 21603.

ForschG: Die Kritik an Burckhardts Epochenverständnis von ,Wiedergeburt' als Lebensgefühl ,allseitiger Individuen' vor dem Hintergrund des politischen und ökonomischen Aufschwungs der italienischen Stadtstaaten hat Untersuchungen zur vor- und nachreformatorischen Kulturgeschichte und zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte besonders der oberitalienischen Stadtrepubliken und der süddeutschen Reichsstädte inspiriert. Michelets und Burckhardts Annahme einer Epochenzäsur regte Mediävisten dazu an, die spezifischen Motive und Folgen der Antikenrezeptionen vom 8. bis zum 13. Jh. zu erforschen, Phänomene der ,longue durée' wie Endzeiterwartungen und Astrologiegläubigkeit zu untersuchen oder umgekehrt anhand mittelalterlicher Beispiele für Subjektreflexion, Kontingenzerfahrung und die Kontinuität römischer ,gloria' die ,Modernität' des Mittelalters zu erweisen. Gut dokumentiert sind das Selbstverständnis der Renaissance-Gelehrten und die Unterschiede zwischen programmatisch behauptetem Neuanfang und tatsächlichen Kontinuitäten hinsichtlich ihrer Sprache, Methode und Frömmigkeitspraxis. Gegen-

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wärtig werden stilistische, religiöse und philosophische Sonderentwicklungen in regionalen Zirkeln und die zentrifugalen Tendenzen gegenüber den zentralen höfischen, kirchlichen und schulischen Institutionen stärker betont als die gemeinsame humanistische Programmatik. Die regionale und religiöse Vielfalt der Rezeption der italienischen Renaissance im deutschen Sprachraum verdankt sich nach Burke, Kühlmann u. a. antagonistischen Motiven wie Bewunderung, Neid, moralischer Entrüstung, Stolz auf eigene Traditionen und Freude am Wettstreit. Die Forschungen Kristellers, Ongs, Charles B. Schmitts und Keßlers haben den Blick für die Vielfalt der teils neuplatonisch inspirierten, an G. Pico della Mirandola und M. Ficino anknüpfenden Erneuerungsbewegungen in der Philosophie geschärft, aber auch Spezialuntersuchungen zum Fortwirken der aristotelischen Philosophie in Italien sowie an deutschen protestantischen und jesuitischen Hochschulen angeregt. Auswertungen von Ego-Dokumenten unterschiedlicher sozialer Provenienz, Analysen eschatologischer Motive in der Predigtliteratur, der Tagespublizistik und Werkinterpretationen z. B. zu Opitz belegen, daß politisch und religiös bedingte Verunsicherungen und Orientierungsverluste zur Mentalitätsstruktur der deutschen Renaissance-Epoche gehören. Ob all diese auseinanderstrebenden Tendenzen des Jangen 16. Jhs.' der mit Renaissance bezeichneten kulturellen Bewegung subsumiert werden sollten, erscheint allerdings angesichts gegenläufiger Tendenzen zur Zentralisierung der Herrschaft nach 1555, Diskriminierung heterodoxer Meinungen (z. B. S. Castellios) und sozial auffälliger Personen (y Hexenliteratur) und Selbstbehauptung der drei rivalisierenden christlichen Konfessionen problematisch. Lit: Klaus Arnold u. a. (Hg.): Das dargestellte Ich. Bochum 1999. - Ulrike Auhagen u. a. (Hg.): Horaz und Celtis. Tübingen 2000. - Barbara Bauer (Hg.): Melanchthon und die Marburger Professoren (1527-1627). Marburg 22000. - James M. Blythe: ,Civic humanism' and medieval political thought. In: Renaissance civic humanism. Hg. v. James Hankins. Cambridge 2000, S. 30-74. - Marie Boas: Die Renaissance der

266

Reportage

Naturwissenschaften. Nördlingen 1988. - August Buck (Hg.): Biographie und Autobiographie in der Renaissance. Wiesbaden 1983. - Α. B.: Humanismus. Freiburg i. Br., München 1987. Peter Burke: Die europäische Renaissance. München 1998. — Lucien Febvre: Michelet und die Renaissance [1942/43], Stuttgart 1995. - Wallace Κ. Ferguson: The renaissance in historical thought. Cambridge/Mass. 1948. - Klaus Garber: Zur Konstitution der europäischen Nationalliteraturen. In: Nation und Literatur im Europa der Frühen Neuzeit. Hg. v. K. G. Tübingen 1989, S. 1-55. — Eugenio Garin: Medioevo e rinascimento. Bari 1954. — Bodo Guthmüller, Wilhelm Kühlmann (Hg.): Europa und die Türken in der Renaissance. Tübingen 2000. - Charles Η. Haskins: The renaissance of the 12th century. Cambridge 1927. - Eckhard Keßler u.a. (Hg.): Aristotelismus und Renaissance. In memoriam Charles B. Schmitt. Wiesbaden 1988. - E. K.: The transformation of Aristotelianism during the renaissance. In: New perspectives on renaissance thought. Hg. v. John Henry und Sarah Hutton. London 1990, S. 137-147. - Fritz Krafft: „... denn Gott schafft nichts umsonst!" Münster 1999. - Paul Oskar Kristeller: Humanismus und Renaissance. 2 Bde. Hg. v. Eckhard Keßler. München 1974-1976. - Wilhelm Kühlmann: Sprachgesellschaften und nationale Utopien. In: Föderative Nation. Hg. v. Dieter Langewiesche und Georg Schmidt. München 2000, S. 245-264. - W. K.: Martin Opitz. Heidelberg 22001. W. K., Joachim Teile (Hg.): Corpus Paracelsisticum. Bd. 1. Tübingen 2001. - Gerhart B. Ladner: Terms and ideas of renewal. In: Renaissance and renewal in the 12th century. Hg. v. Robert L. Benson und Giles Constable. Cambridge/ Mass. 1982, S. 1 - 3 3 . - Ulrich G. Leinsle: Das Ding und die Methode. 2 Bde. Augsburg 1985. — Theodor E. Mommsen: Der Begriff des .Finsteren Zeitalters' bei Petrarca [1942]. In: Zu Begriff und Problem der Renaissance. Hg. v. August Buck. Darmstadt 1969, S. 151-179. - Walter J. Ong: Ramus, method and the decay of dialogue. Cambridge/Mass. 1983. - Monika Rener: Petrarca ludens. In: Wolfenbütteler RenaissanceMitteilungen 15 (1991), Η. 3, S. 100-119. Enno Rudolph (Hg.): Die Renaissance und ihre Antike. Bd. 1. Tübingen 1998. — Erika Rummel: The humanist-scholastic debate in the renaissance and reformation. Cambridge/Mass. 21998. — Merio Scattola: Das Naturrecht vor dem Naturrecht. Tübingen 1999. - Eckart Schäfer: Deutscher Horaz. Wiesbaden 1976. — Wilhelm Schmidt-Biggemann: Philosophia perennis. Frankfurt 1998. - Berthold L. Ullman: Studies in the Italian renaissance [1952]. Rom 21973. — Franz Josef Worstbrock: Uber das geschichtliche

Selbstverständnis des deutschen Humanismus. In: Historizität in Sprach- und Literaturwissenschaft. Hg. v. Walter Müller-Seidel. München 1974, S. 499-519. - F. J. W.: Die ,Ars versificandi et carminum' des Konrad Celtis. In: Studien zum städtischen Bildungswesen des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit. Hg. v. Bernd Moeller u. a. Göttingen 1983, S. 462-498. Barbara

Mahlmann-Bauer

Repertoire /* Selektion S Zeichen Replik /" Bühnenrede

Reportage Informationsbezogene journalistische Textu n d Stilform. Expl: M a n versteht unter Reportage eine journalistische Technik bzw. — auf die Textform bezogen — ein journalistisches s Genre, das zusammen mit der Nachricht und dem Bericht dem Typ der informierenden, wirklichkeitsbezogen Textsorte angehört und durch den beglaubigenden Augenschein des R e p o r t e r s ' von interpretierenden, vor allem bewertenden Textsorten ( / Glosse3) abgegrenzt wird. D a Reportagen auch narrative Elemente enthalten können, wird ihnen nicht selten literarischer Wert zugesprochen. Z u r Gestaltung von Reportagen wird in der journalistischen Praktikerliteratur u. a. der Wechsel der Perspektive (Personen-, Erzählerperspektive; konkrete Einzelheiten u n d allgemeine Sicht), von ? Tempus u n d Tempo sowie der Aktualität (aktueller Fall = primäre Aktualität; G r u n d p r o b l e m a t i k , zu der der aktuelle Fall gehört = sekundäre Aktualität) u n d der Stilelemente (Erlebnisbericht, Stimmungsschilderung, D o k u m e n t a tion, etc.) empfohlen. Ein Merkmal von Reportagen liegt in deren P r o d u k t i o n s f o r m : Reportagen setzen die Anwesenheit des Reporters ,vor Ort' voraus, die Reporter m ü s s e n , a u ß e r H a u s ' gehen, zumindest u m den G r u n d s t o f f f ü r die Reportagen zu erarbeiten.

Reportage [Terminologisches Feld:] BERICHT: Unter Bericht wird eine längere, sachliche Beschreibung eines Geschehens ohne journalistische Bewertung verstanden. Im Mittelpunkt des Berichts steht eine Nachricht. Der Bericht ist — ebenso wie die Nachricht — nach der ,climax-first'Form aufgebaut (Regel: das Wichtigste entsprechend dem ,lead system'-Stil an den Anfang). FEATURE: Sowohl Reportage als auch Feature sind ,lebendig', unter Einbeziehung von Einzelheiten, Hintergründen, wörtlichen Äußerungen von Personen etc. geschrieben. Während Reportagen jedoch eher Beschreibungen von Einzelfallen, einzelnen Geschehnissen sind, zielt das Feature auf charakteristische, allgemeingültige Aussagen ab. Während fiktionale Elemente in der Reportage in der Regel nicht vorkommen sollen, sind sie im Feature durchaus erlaubt. WortG: Das Wort Reportage wurde Ende des 19. Jhs. von frz. reportage, einer Ableitung aus dem engl, reporter Berichterstatter' (von report .Bericht') übernommen. Das dt. Reporter wurde schon in der 1. Hälfte des 19. Jhs. von engl, reporter übernommen, das zunächst für den .Protokollführer', .Stenographen der engl. Parlamentssitzungen' stand. Das engl. Substantiv ist entlehnt aus mittelfrz. repourteur ,wer einen Bericht abfaßt bzw. liefert', auch ,Hinterbringer', .Denunziant', einer Bildung zu afrz./mittelfrz. reporter .zurückbringen', ,(einen Bericht) erstatten', .vortragen', das wiederum aus lat. reportare .zurücktragen', ,-bringen' hervorgegangen ist (Schulz-Basler 3, 325; OED 13, 650 f.). BegrG: Im 19. Jh. war der Reporter allgemein der Berichterstatter', sein Text demgemäß ein Zeitungsbericht. Der Begriff R e portage' wurde vor allem in Frankreich verwendet, in Deutschland wurde er erst Anfang des 20. Jhs. eingeführt. Eine Veränderung hin zu seiner heutigen, eingeschränkten Bedeutung begann schon in den Jahren vor 1920: Egon Erwin Kisch unterschied 1918 die .Reportage' (Kennzeichen: Tatsachenbezug, Sachlichkeit, Authentizität) vom ,Bericht', vom ,Kommentar' und vom

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/ Feuilleton2. Nach Haacke (2, 248) war das Wort Reportage zwischen 1924 und 1932 in der deutschen Presse allgemein verbreitet. B. Frei differenzierte 1934 zwischen Berichten und Reportagen dergestalt, daß er Zeitungsberichte mit Fotografien, Reportagen mit Röntgen-Filmen verglich und damit den Analyseanspruch der (gesellschaftskritischen) Reportage deutlich machte. Zwar wurde der breite Reportagebegriff in der wissenschaftlichen Literatur noch Anfang der 1960er Jahre als Oberbegriff für referierende (berichtende) Stilformen wie Nachricht, Bericht, Schilderung etc. verwendet (vgl. Groth), heute bezeichnet der Begriff jedoch allgemein nur noch einen bestimmten Texttyp: den tatsachenbetonten, aber persönlich gefärbten Bericht (vgl. Reumann). SachG: Die Reportage als eigene journalistische Stilform entwickelte sich in den USA und in Europa in den ersten zwei Jahrzehnten des 20. Jhs. Die Entwicklung in Deutschland wurde durch die Entwicklung in den USA beeinflußt (vgl. Bormann, Dovifat). Dabei lassen sich Zusammenhänge in der Wirklichkeitssicht und der Annäherung an die soziale Realität zwischen der Reportageliteratur (Kisch, Lincoln Steffens), der journalistischen Sozialreportage (Max Winter) und der empirischen Sozialforschung (Robert E. Park und die Chicago-Schule) feststellen (vgl. Haas). In journalistischen Lehrbüchern und in der journalistischen Praxis werden heute verschiedene Typen von Reportage unterschieden. Vor allem die vorgeblich tatsachenorientierte Reiseliteratur des 18. und 19. Jhs. (Seume, J. G. Forster, Dickens, Zola, H. M. Stanley, Heine, Weerth, Börne etc.) wird als Vorläufer der modernen Reportage angesehen. Je nach Medium läßt sich die Zeitungsreportage von der Hörfunk- und der Fernsehreportage unterscheiden. Im Medium Fernsehen wird die LiveReportage, die zu einem eigenen Genre geworden ist, von der ,zeitversetzten' Reportage unterschieden. Eine Sonderform stellt die Rollenreportage oder,verdeckte' Reportage dar, in welcher der Journalist seine berufliche Identität verdeckt, sich als Angehö-

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Repräsentation

riger einer bestimmten sozialen Gruppe ausgibt, um aus diesem Milieu authentischer berichten zu können (vgl. die Reportagen von Günter Wallraff). Literarische Reportagen (Enzensberger, Goettle u. a.) stellen eine aktuelle Form der literarischen Beschreibung gesellschaftlicher Wirklichkeit dar (vgl. auch Geisler). ForschG: Schon aus den ersten zwei Jahrzehnten des 20. Jhs. existieren theoretische Überlegungen zur Reportage u. a. von Kisch. Während einzelne literaturwissenschaftliche Arbeiten zur Reportageform in den 1950er und 1960er Jahren entstehen, setzt eine nennenswerte Reportageforschung erst in den 1970er Jahren ein. Mit Siegel (1973) und Schütz (1977) liegen zwei größere Studien zur sozialkritischen Reportage vor. Schütz (1974) und Siegel (1978) sammeln Äußerungen vor allem von Journalisten und Schriftstellern zur Reportage, Haas (1987) geht Parallelen zwischen sozialkritischer Literatur, journalistischer Reportage und den Anfangen der empirischen Sozialforschung nach. Mit Haller (1997) liegt eine Gesamtabhandlung zur Reportage vor. Einzelne Kapitel zur Reportage sind in den meisten journalistischen Lehrbüchern enthalten. Zukünftige Forschung sollte sich sowohl der Geschichte der Reportage, einer präziseren Herausarbeitung textstruktureller Charakteristika als auch der Systematik und Typologie widmen. Lit: Horst Belke: Literarische Gebrauchsformen. Düsseldorf 1973. - Hanns Heinrich Bormann: Die Zeitung: Darstellung und Bericht. In: Orplid 3 (1929), H. 9, S. 1 - 6 . - Detlef Brendel, Bernd E. Grobe: Journalistisches Grundwissen. München 1976. — Emil Dovifat: Der amerikanische Journalismus [1927], Berlin 1990. - Bruno Frei: Von Reportagen und Reportern. Einige Bemerkungen zu Egon Erwin Kisch's neuem Buch ,Eintritt verboten'. In: Der Gegenangriff 2 (1934), Nr. 42, S. 4. - Michael Geisler: Die literarische Reportage in Deutschland. Königstein 1982. Otto Groth: Die unerkannte Kulturmacht. Grundlegung der Zeitungswissenschaft (Periodik). 3 Bde. Berlin 1960-1972. - Wilmont Haacke: Hb. des Feuilletons. 3 Bde. Emsdetten 1951 — 1953. - Hannes Haas: Die hohe Kunst der Reportage. In: Publizistik 32 (1987), H. 3, S. 277-294. -Michael Haller (Hg.): Die Reportage. Konstanz 41997. - Theodor Karst (Hg.):

Reportagen. Stuttgart 1976. — Egon Erwin Kisch: Wesen des Reporters [1918], In: Schütz 1974, S. 40-44. - E . E . K . (Hg.): Klassischer Journalismus. Berlin 1923. - Walther v. La Roche: Einführung in den praktischen Journalismus [1975], München, Leipzig 131992. - Werner Meyer, Klaus Boele: Journalismus von heute [Loseblattsammlung], Hg. v. Jürgen Frohner. Starnberg-Percha 1979 ff. — Marlise Müller: Schweizer Pressereportagen. Eine linguistische Textsortenanalyse. Salzburg u.a. 1988. — Heinz Pürer (Hg.): Praktischer Journalismus in Zeitung, Radio und Fernsehen. München 1991. - Kurt Reumann: Reportage. In: Das Fischer Lexikon: Publizistik, Massenkommunikation. Hg. v. Elisabeth Noelle-Neumann u. a. Frankfurt 1989, S. 102-104. - E r h a r d H. Schütz (Hg.): Reporter und Reportagen. Texte zur Theorie und Praxis der Reportage der zwanziger Jahre. Gießen 1974. - E. H. S.: Kritik der literarischen Reportage. Reportagen und Reiseberichte aus der Weimarer Republik über die USA und die Sowjetunion. München 1977. — E. H. S.: Facetten zur Vorgeschichte der Reportage. In: Literatur als Praxis? Hg. v. Roul Hübner und E. H. S. Opladen 1976, S. 44-70. - Christian Siegel: Egon Erwin Kisch. Bremen 1973. - C. S.: Die Reportage. Stuttgart 1978. - Jean Villain: Die Kunst der Reportage. O. O. 1965. - Günter Wallraff: Neue Reportagen. Köln 1972. - Peter Zimmermann: Die Reportage. In: Neues Hb. der Literaturwissenschaft. Hg. v. Klaus v. See. Bd. 20. Wiesbaden 1983, S. 141-160.

Günter Bentele

Repräsentation! /" New Historicism

Repräsentation Vergegenwärtigung von Abwesendem. Expl: Repräsentation schafft Gegenwärtigkeit von nicht faktisch präsenten Personen, Dingen oder Werten durch eine sinnlich erfahrbare Darstellung mittels verbaler und nonverbaler Zeichen. Sie ist ein wesentliches Merkmal der Codierungsprozesse in Sprache und Gebärde, Kunst und Musik. Zu unterscheiden sind verschiedene Weisen der Stellvertretung: (1) als konventionell geregelte Zeichenhaftigkeit, (2) als metonymisch begründete Teilhabe. Unter (1) sind

Repräsentation die Zeichenrelationen in Sprache, Schrift, Bild etc. zu subsumieren. Zu (2) gehören solche Relationen, bei denen das Vertretene sich im Vertreter .verkörpert', also als anwesend gedacht wird. Diese Form von Repräsentation prägt sich vor allem im Umkreis von charismatisch operierenden Institutionen (Kirche, politische Herrschaft etc.) aus; sie ist dabei nicht auf archaische oder monarchische Gesellschaften beschränkt, sondern wirkt im Bedürfnis nach Darstellung des Repräsentierten im Repräsentierenden (durch Symbole, Orden, Paraden etc.) bis in die demokratischen Gesellschaften der Gegenwart, für die noch die Vorstellung einer parlamentarischen Repräsentation der Bevölkerung durch gewählte Volksvertreter' gilt. Zu unterscheiden ist vom Begriff der Repräsentation der der Realpräsenz Christi in der Eucharistie, in dem weder Zeichenhaftigkeit noch Teilhabe gelten, sondern Urbild und Abbild als identisch gedacht werden. Literaturwissenschaftlich bedeutsam wird Repräsentation außerdem in dem Maße, in dem literarische Texte (1) in ihrer Performanz, wie es beim ? Theater (s Rolle, f Schauspieler) der Fall ist, auf einem Stellvertreterverhältnis gründen oder (2) teilhaben an der Vermittlung, Gestaltung oder Darstellung von (religiösen, politischen etc.) Repräsentationsverhältnissen. WortG: Lat. repraesentatio, von repraesentare ,vor Augen stellen', vergegenwärtigen', ,darstellen', bedeutet schon im antiken Latein .bildliche Darstellung', .Abbildung', ,Vergegenwärtigung' (ζ. B. Quintilian 8,3,61). In dieser Bedeutung wird es auch im Mittelalter weiter verwendet. Die Anwendungsgebiete vermehren sich. Neben die juristische Verwendung des Begriffes im Sinne von .Stellvertretung' tritt zunehmend die politische im Sinne der Selbstdarstellung eines Kollektivs (.Identitätsrepräsentation') oder der Bildung politischer Korporationen durch Verbindlichkeit erzeugendes Verhalten ihrer Mitglieder (vgl. Hofmann). Heute reicht der Geltungsbereich von der Zeichentheorie bis zur Theaterpraxis. In der ital. Sprache hat der Begriff rappresentazione für .Theatervorstellung' und , Schauspiel' diesen

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Zusammenhang bewahrt. Als Fremdwort ist repräsentieren im Dt. seit der 2. Hälfte des 16. Jhs. belegt, Repräsentation seit der 2. Hälfte des 18. Jhs. (EWbD 2 2, 1117). Erwin Wolff: Die Terminologie des mittelalterlichen Dramas in bedeutungsgeschichtlicher Sicht. In: Anglia 78 (1960), S. 1 - 2 7 .

BegrG/SachG: Repräsentation' soll etwas Unsichtbares oder Entferntes - Abstraktes oder Abwesendes — entweder vergegenwärtigen (,rem praesentem facere') oder bezeichnen (,significare'). Als Fachbegriff gehört ,repraesentatio' deshalb sowohl in den Bereich ( l ) d e r Sakramentenlehre und Liturgiegeschichte als auch (2) zur Terminologie von Verfassungsgeschichte, Staatsrecht und Politikwissenschaft und neuerdings als Entlehnung aus beidem (3) auch zu der der Literaturwissenschaft. (1) Der liturgische Vollzug des Meßopfers ist Vergegenwärtigung der Erlösung durch den Tod Christi. Er zielt auf Sichtbarmachung einer unsichtbaren, aber ontologisch stets vorausgesetzten Wirklichkeit. Auch andere heilsgeschichtliche, aber auch historische und politische Vorgänge, soweit sie heilsgeschichtlich fundiert waren, konnten analog hierzu vor Augen gestellt werden. Dabei gibt es zahlreiche Abstufungen zwischen metonymischer Teilhabe und zeichenhafter Darstellung, etwa zwischen religiösen Feiern (/" Osterspiel) und theatraler Vergegenwärtigung im /" Geistlichen Spiel. (2) Im politischen Zusammenhang wird Repräsentation' primär als Verkörperung von geistlicher und weltlicher Herrschaft verstanden (Kantorowicz, Hofmann). Die Vorstellung von den zwei Körpern des Königs, seinem historischen und seinem symbolischen Körper, stellt Kantorowicz in einen sachlichen Zusammenhang mit den Reflexionen über die zwei Körper des menschgewordenen Gottes, den historischen und den sakramentalen Leib Christi. Dabei stehen sich zwei Lehren gegenüber, die der , Identität' von historischem und sakramentalem .corpus' und die ihrer .Vermittlung' im Geiste. Die Darstellung politischer Einheit durch Personifizierung erhält eine christliche Fundierung. Darin ist auch der Sprachgebrauch von Repräsentation be-

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Repräsentation

gründet, welcher .würdiges, standesgemäßes Verhalten' meint. Repräsentation' wird zum Begriff für die öffentlichkeitsrelevanten Muster geistlicher und weltlicher Herrschaftsdarstellung im Mittelalter. Der Herrscher muß an mehr als einem Punkte gegenwärtig sein, deshalb wird seine Gegenwärtigkeit durch stellvertretende Personen oder Zeichen gewährleistet. Die gesellschaftliche Rangordnung manifestiert sich in der repräsentativen Ausgestaltung des adlig-höfischen Lebens (im höfischen Zeremoniell, in Festen und Turnieren). In der höfischen Dichtung wird die adlige Repräsentation vollendet und überhöht durch die literarische Repräsentation (Repräsentation der Repräsentation). Die modellhafte Überbietung repräsentativer Vollzüge zeigt sich im Vergleich literarischer Zeugnisse und historischer Dokumente, etwa des ,Erec' von Hartmann von Aue und der Darstellung des Mainzer Hoffestes in der ,Hennegauer Chronik' des Gislebert von Möns. Die Literatur steigert die Pracht der Kleider und die Exotik der Gäste ebenso wie die Anschaulichkeit der Handlungsvollzüge. Die Schilderung der Erziehung, der Waffenkunst, der Jagdbräuche, der Musik und der Liebeskunst hat in vielen Texten nicht nur eine unterhaltende, sondern auch eine vergegenwärtigende, wenngleich nicht auf direkte Umsetzbarkeit abzielende Funktion. Artistische Zeichenverwendung verbindet Herrscher und ,tichter'. (3) Im späten Mittelalter gewinnt repraesentatio im Rahmen öffentlicher Herrschaftsdarstellung die Bedeutung von Aufführung', ,Darstellung' oder ,Abbildung', die Trennung zwischen den Darstellern und dem Dargestellten wird erkennbar. Repräsentation erscheint nun im modernen Sinne als ein Darstellungsprinzip, das das (anwesende) Signifikans und das (abwesende) Signifikat im Sinne einer dechiffrierbaren Kodierung aufeinander bezieht. Am Verhältnis des

Geistlichen

Spiels

z u r Liturgie u n d

anderen Formen des religiösen Kults ist dieser Ablösungsprozeß zu beobachten. Es entsteht Freiraum zur Ausbildung einer auf Differenz gegründeten Identität.

Der Zusammenhang von Repräsentation und /" Theater kehrt sich im Übergang zur Frühen Neuzeit gegen seine Ursprünge. Bei Castiglione

(>" Höfische

Verhaltenslehre)

wird der Pomp fürstlicher Umzüge als theaterhafter Schein der öffentlichen Herrschaftsdarstellung polemisch attackiert (,I1 libro del Cortegiano' 4,7). Der klassische Repräsentationsbegriff und seine kritische Infragestellung bleiben aber über Jahrhunderte hinweg nebeneinander bestehen. Einen Nachklang davon finden wir in Schillers ,Wilhelm Teil', wo am Beispiel von Geßlers Hut der Streit um die Gültigkeit metonymischer Herrschaftsrepräsentation entfaltet wird. Die Zerstörung von repräsentativen Herrschaftszeichen, die als .damnatio memoriae' eine lange Tradition hat, in der Französischen Revolution einen besonderen Höhepunkt erfahrt (St. Denis) und sich im Kontext einer grundsätzlich entritualisierten Gesellschaft bis heute beispielsweise in der Mißhandlung von Wahlplakaten manifestiert, zeigt an, daß die Komponente metonymischer Teilhabe im Repräsentationsbegriff nie völlig aufgegeben ist. Baidassare Castiglione: Il libro del Cortegiano. Hg. v. Amedeo Quondam und Nicola Longo. Mailand 1981.

ForschG: Die Diskussion zur Repräsentation ist durch Habermas und seine Ausführungen zum ,Typus repräsentativer Öffentlichkeit' angestoßen worden. Die Diskussion thematisiert Probleme der Inszenierung, von Öffentlichkeit und Privatheit, Heimlichkeit und Arcanum bis zu Fragen von Zeremoniell und Spiel, Theatralität und Performativität. Die kritische Auseinandersetzung mit dem alteuropäischen Begriff der Repräsentation bei Habermas konzentriert sich vor allem auf drei Punkte: (1) Während Habermas der Ansicht ist, daß feudale f Öffentlichkeit als ein eigener, von einer privaten Sphäre geschiedener Bereich soziologisch, nämlich anhand institutioneller Kriterien, nicht nachweisbar sei (Habermas, 19), hat man herausgearbeitet, daß die Teilhabe an feudaler Gewalt der Öffentlichkeit bedarf und sich öffentlich vollzieht. Öffentliches Herrschaftshandeln ist

Repräsentation an spezifische Situationen gebunden, wie ζ. B. Herrscheradventus, Schwertleite, Turniere, Feste, Fürstentage, Gerichtstage etc. Die regelmäßige Wiederholung gibt diesen Ordnungen Kontinuität. Dementsprechend ist feudale Öffentlichkeit soziologisch sehr wohl nachweisbar, und sie ist institutionalisiert, da sie über ,Sozialregulationen' verfügt, in denen die Prinzipien und Geltungsansprüche ihrer Ordnungen symbolisch zum Ausdruck gebracht werden. (2) Es wurde sichtbar, daß es eine gestufte NichtÖffentlichkeit/Heimlichkeit gibt, die viel mit der späteren Privatheit zu tun hat. Untersucht werden die Sinnpotentiale und Handlungsformen, die nicht mit dem öffentlichkeitsfahigen Bild des Herrn harmonisierbar sind oder vom repräsentativen Herrscherbild abgespalten werden; das betrifft etwa die Schamsphäre, aber auch das politische Arcanum, das konstitutiv ist für pragmatisches Herrschaftshandeln. Mit der Entwicklung zum Absolutismus wird diese Sphäre ,amtlich': Geheime Räte, Geheimbücher, Geheimschreiber (,secretarius') weisen darauf hin. (3) Zu kurz kommt bei Habermas die Tatsache, daß der Herr das allgemeine Wert- und Ordnungsgefüge symbolisch durch sich selbst darstellt und damit eine Integrations- und Stabilisierungsleistung für einen politischen Zusammenhang erbringt, der ohne diese Leistung durch Desintegration und Labilität bedroht ist. Der alteuropäische Begriff der Repräsentation hat die Fachdiskussion zu den literarischen und den historischen Quellen des Mittelalters und der Frühen Neuzeit nachhaltig beeinflußt. Die Spannungsfelder von öffentlichen und nichtöffentlichen Handlungsräumen, von geheimer Beratung und darstellender Inszenierung, Fragen nach den Spielregeln des Herrschaftshandelns in literarischen (Ragotzky/Wenzel, Müller 1998, Strohschneider) und historischen Texten (Althoff, Johanek), nach Ritual und Zeremoniell, aber auch zu Techniken der poetischen Visualisierung, nach Blickräumen und Blicksteuerung (Wenzel 1995), die Literatur· und Kunstgeschichte verbinden, haben nicht nur in den jeweiligen Fächern Konjunktur, sie haben auch zu einer Kon-

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vergenzbewegung der verschiedenen Disziplinen geführt. Das gilt in Grenzen ähnlich für die Rechtsgeschichte, während sich die Auseinandersetzung mit dem korporationsrechtlichen Repräsentationsbegriff auf die verfassungsrechtliche und politikwissenschaftliche Thematik konzentriert hat. Lit: Gerd Althoff: Spielregeln der Politik im Mittelalter. Darmstadt 1997. - Carlo Ginzburg: Repräsentation — das Wort, die Vorstellung, der Gegenstand. In: Freibeuter 53 (1992), S. 2-23. Dena Goodman: Public sphere and private life. In: History and Theory 31 (1992), S. 1-20. Jürgen Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit [1962], Neuwied 71975. - Hasso Hofmann: Repräsentation. Berlin 1974, 21990. - Peter Johanek: Fest und Integration. In: Feste und Feiern im Mittelalter. Hg. v. Detlef Altenburg. Sigmaringen 1991, S. 525-540. - Ernst H. Kantorowicz: Die zwei Körper des Königs [1957], München 1990. - Gert Melville, Peter v. Moos (Hg.): Das Öffentliche und Private in der Vormoderne. Köln u.a. 1998. - P. v. M.: Die Begriffe ,öffentlich' und ,privat' in der Geschichte und bei den Historikern. In: Saeculum 49 (1998), S. 161-192. - Jan-Dirk Müller (Hg.): Aufführung' und .Schrift' in Mittelalter und früher Neuzeit. Stuttgart, Weimar 1996. - J.-D. M.: Spielregeln für den Untergang. Tübingen 1998, S. 345-434. - Adalbert Podlech: .Repräsentation'. In: Geschichtliche Grundbegriffe. Hg. v. Otto Brunner u.a. Bd. 5. Stuttgart 1984, S. 509-547. - Hedda Ragotzky, Horst Wenzel (Hg.): Höfische Repräsentation. Tübingen 1990. - I.Reiter: .Repräsentation'. In: HRG4, Sp. 904-911. — E. Scheerer u.a.: Repräsentation (Erkenntnistheorie, Antike und Mittelalter)'. In: HWbPh 8, Sp. 790-797. - Christiane Schildknecht; Dietfried Gerhardus; Uwe Oestermeier: ,Reprasentatio'; Repräsentation'; .Repräsentation, Mentale'. In: Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie. Hg. v. Jürgen Mittelstraß u. a. Bd. 3. Stuttgart, Weimar 1995, S. 589-593. - Peter Strohschneider: Ur-Sprünge. In: Gespräche - Boten - Briefe. Hg. v. Horst Wenzel. Berlin 1997, S. 127-153. - Bernd Thum: ÖffentlichMachen, Öffentlichkeit, Recht. In: LiLi 10 (1980), S. 12-69. - Horst Wenzel: Zur Repräsentation von Herrschaft in mittelalterlichen Texten. In: Adelsherrschaft und Literatur. Hg. v. H.W. Bern, Frankfurt 1980, S. 339-375. H. W.: Hören und Sehen, Schrift und Bild. München 1995, S. 394-413. - Albert Zimmermann (Hg.): Der Begriff der Repraesentatio im Mittelalter. Berlin, New York 1971. Horst Wenzel

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Reproduktionsverfahren

Reproduktionsverfahren Techniken zur Wiedergabe und Vervielfältigung von Originalen, im besonderen von Bild- und Textvorlagen. Expl: Gesamtheit der manuellen, photographischen, elektromechanischen und elektronischen Verfahrensweisen, mit denen Informationsträger in mehrfachen Exemplaren originalgetreu oder dem Original sehr ähnlich wiedergegeben werden können. Sie dienen zumeist zur Herstellung von Druckformen. Der Buchdruck selbst (/" Druck) stellt nur im weitesten Sinn eine Reproduktionstechnik dar; vervielfältigt wird hier nicht das eigentliche Original, das Manuskript, sondern dessen Transformation in den Typensatz. Druckgraphische Verfahren wie Holzschnitt, Radierung oder Lithographie sind prinzipiell als Reproduktionstechniken anzusehen; sie können aber — speziell in künstlerischen Zusammenhängen - die Qualität originalgraphischer Technik annehmen. Reproduktionsverfahren werden angewendet, wo Unikate oder seltene Werke einem größeren Publikum zugänglich gemacht werden sollen. Dies gilt besonders für Handschriften, Inkunabeln, illustrierte Bücher und sonstige Werke der Buchkunst, ebenso für wissenschaftliche Werke. Reproduziert werden auch Werke der bildenden Kunst; Wiederholungen eines Originalwerks im gleichen Material bezeichnet man als Kopien, bei Plastiken und generell bei dreidimensionalen Objekten spricht man von Repliken. Die Wahl des Verfahrens ist abhängig vom jeweiligen Objekt, vom Stand der Technik und dem Zweck der Reproduktion. Das FAKSIMILE strebt die perfekte Nachahmung des Originals an und findet seine wichtigsten Anwendungsgebiete im Bereich der illuminierten Handschriften und der f Buchmalerei sowie bei Unika und Rarissima aus der Frühdruckzeit. Minder hohe Ansprüche an die Qualität der Reproduktion erfüllt der REPRINT; er wird daher vornehmlich bei reinen Textausgaben angewendet. Reprints verzichten auf die Vermittlung individueller Merkmale; Stempel, Anstreichungen etc. werden weg-

retuschiert, häufig weisen die Ausgaben auch eine neue Paginierung auf. WortG: Reproduktion ist eine in der 2. Hälfte des 18. Jhs. aufgekommene Präfixbildung zu Produktion (von lat. producere .vorwärtsführen', im kirchenlat.-bibelsprachlichen Verständnis .hervorbringen'); das Wort steht im allgemeinen Sinne für .Wiedererzeugung'. Seither wird es in Deutschland — wohl in Anlehnung an frz. Sprachgebrauch — in biologischem Zusammenhang für den Prozeß der Fortpflanzung, die Bildung identischer oder ähnlicher Kopien eines Organismus, verwendet, seit Mitte des 19. Jhs. bezeichnet es dann auch die Wiedergabe und den Druck von Bildvorlagen (SchulzBasler 3, 335—337). Auch das entsprechende Kompositum Reproduktionsverfahren ist seit dieser Zeit geläufig (vgl. die Wiener ,Lehr- und Versuchsanstalt fuer Photographie u. Reproductionsverfahren': Eder 1889). Der Terminus Faksimile entspricht dem lat. Imperativ fac simile, ,mach es gleich/ähnlich'; im Sinne gestalterischer Nachahmung ist er zuerst in England im 17. Jh. nachgewiesen. Im deutschsprachigen Raum hat er sich erst im 20. Jh. eingebürgert (Schulz-Basler 1, 199; Kluge-Seebold23, 246). Der englischsprachige Ausdruck Reprint wurde nach 1945 übernommen, als photomechanische Neudrucke in großem Stil von den USA aus verbreitet wurden. Josef Maria Eder (Hg.): Tabellen und practische Arbeitsvorschriften fuer Photographie und Reproductionstechnik, welche an d. k. k. Lehr- und Versuchsanstalt fuer Photographie u. Reproductionsverfahren in Wien angewendet werden. Halle 1889.

BegrG: Während Verfahren zur imitativen Vervielfältigung von Bild und Schrift sehr weit in die Kulturgeschichte der Menschheit zurückverfolgt werden können (ein Beispiel dafür sind auch Münzen), ist von Reproduktion im Sinne der getreuen Wiedergabe von Vorlagen erst im 19. Jh. die Rede. Mit der fortschreitenden Technisierung der Verfahrensweisen hat sich der Bedeutungsinhalt permanent erweitert: Nach anfänglicher Einschränkung auf manuelle Verfahren der Bildwiedergabe umfaßt der Begriff inzwischen eine breite Skala von Vervielfalti-

Reproduktionsverfahren gungsmethoden, deren gemeinsames Merkmal — mindestens bis zur Entstehung der elektronischen (Bildschirm-) Medien im ausgehenden 20. Jh. - in Form des Druckmediums zu suchen ist. In der modernen Drucktechnik wird die Gesamtheit der Vervielfaltigungsverfahren auch unter dem Begriff der Reprographie zusammengefaßt. SachG: Bereits die Abschrift eines Textes in Antike und Mittelalter (und noch in der Renaissancezeit) kann als Reproduktion aufgefaßt werden, besonders dort, wo auf eine identische Gestalt geachtet wurde (ζ. B. beim Übertragen von Papyrus auf Pergament). Auch die Erfindung des Buchdrucks um 1450 weist Bezüge zur Geschichte der Reproduktionstechnik auf, da Gutenberg bei der Satzherstellung zu seiner 42zeiligen Bibel das Erscheinungsbild von Handschriften genau zu imitieren gesucht und sehr wahrscheinlich auch eine konkrete Vorlage verwendet hat. Im 16. und 17. Jh. wurden die damals bekannten druckgraphischen Verfahren in den Dienst der Reproduktion gestellt, der Holzschnitt (etwa zur Wiedergabe antiker Inschriften) ebenso wie der Kupferstich, der für Kopien von Handschriften, Miniaturen, Tafelbildern und Urkunden herangezogen wurde. Im späten 18. Jh. erreichte die populäre Reproduktionsgraphik mit Kupferstich und Radierung einen ersten Höhepunkt. Deutlich günstigere technische Voraussetzungen für die Faksimilierung von Bildund Textvorlagen entstanden jedoch um 1800 mit der Erfindung der Lithographie durch Alois Senefelder. Seit den 1830er Jahren stand auch lithographischer Farbdruck zur Verfügung; die in Frankreich zur Serienreife gebrachte Chromolithographie hatte dort und in England beachtenswerte Handschriftenreproduktionen und Bilderatlas-Bände zum Resultat. Für die technische Reproduktion von Bildvorlagen waren über das gesamte 19. Jh. hinweg aber auch noch andere Verfahren wie Radierung, Holzstich oder Stahlstich in Gebrauch; letzterer blieb lange Zeit das beliebteste Verfahren für die Reproduktion von Gemälden. Die Photographie begründete ab 1840 einen neuen Abschnitt der Reproduktions-

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technik. Hatten die manuellen Techniken eine Umsetzung der Vorlage durch Handzeichnung, Pause oder Umdruck (,Abklatsch') erfordert, so eröffnete sich mit den photochemographischen und photomechanischen Verfahren die Möglichkeit zu einer weitaus größeren Authentizität und Objektivität der Wiedergabe. In Verbindung mit verschiedenen Techniken zur Herstellung von Druckformen (Flachdruck: Photolithographie; Tiefdruck: Heliogravüre, Rakeltiefdruck; Hochdruck: Autotypie bzw. Netzätzung, Strichätzung) waren im bildersüchtigen ausgehenden 19. Jh. die Grundlagen für eine fortschreitende Demokratisierung' von Kunst gegeben. Für hochwertige Faksimile-Editionen erlangte seit 1870 der Lichtdruck besondere Bedeutung, ein komplexes Verfahren, das bis heute als ein optimales Reproduktionsverfahren gilt. Es ermöglicht eine rasterlose Wiedergabe, bei der alle Halbtöne und Farbnuancen der Vorlage erhalten bleiben. Zu den frühesten Beispielen zählt das Faksimile der Gutenberg-Bibel, das der InselVerlag 1911 herstellte. Der wissenschaftliche Reprint setzte die Entwicklung einfacher und kostengünstiger Verfahren voraus. Erst die Verbindung von photographischer Technik mit dem Offsetdruck, die sich nach 1945 durchsetzte, ermöglichte eine solche Vereinfachung und drastische Verbilligung in der Herstellung. Besonders nach den schweren Bücherverlusten zahlreicher Bibliotheken im 2. Weltkrieg, später auch durch Gründung neuer Forschungseinrichtungen, entstand großer Bedarf nach photomechanischen Nachdrukken von Quellenpublikationen, Buchreihen und Zeitschriften, auch von wissenschaftlichen Standardwerken älteren Datums. International agierende Reprintverlage in Deutschland und in den USA deckten diesen Bedarf. Innerhalb weniger Jahre waren so viele tausend Einzeltitel und Zeitschriftenserien verfügbar (1970: 37 000 Titel in Auflagen von durchschnittlich 300—1200 Exemplaren). In Ergänzung zu den im Neusatz herausgebrachten Sammlungen älterer Literaturwerke wie der bereits im 19. Jh. begründeten .Bibliothek des Litterarischen Vereins zu Stuttgart' oder der Serie ,Deut-

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Reproduktionsverfahren

sehe Literatur in Entwicklungsreihen' erschienen jetzt auch Reihen wie die .Deutschen Neudrucke'. Im gleichen Zusammenhang ist auf die seit den 1970er Jahren in Konkurrenz zu den Reprints entstandenen Mikroformen zu verweisen, mit denen eine schnelle und preisgünstige Reproduktionsmethode entstand; Mikrofilme oder Mikrofiches haben den zusätzlichen Vorteil einer raumsparenden Unterbringung. Wichtige Beispiele dafür waren die Verfilmungen der Barockliteratur-Sammlungen von Curt Faber du Faur (2400 Titel) und Harold Jantz. Die Ausbreitung der Fotokopier-Technik ließ verlegerische Initiative im Reprintsektor zunehmend entbehrlich erscheinen. Dagegen ist seit den 1970er/1980er Jahren ein bemerkenswerter Anstieg der Faksimileproduktion zu verzeichnen, als Folge verbesserter Reproduktionsmethoden und eines wachsenden Interesses an Kulturgeschichte, als Folge auch einer gestiegenen Kaufkraft bei den privaten Sammlern. Die aktuelle Entwicklung der Reproduktionstechnik steht im Zeichen elektronischdigitaler Verfahren. Scannertechnik und Computer-Graphikprogramme ermöglichen die Bearbeitung der Vorlagen und nachfolgend die Ausgabe der digital erfaßten Daten in unterschiedlichen Medien, im Druck (etwa in Kombination mit ,printing on demand'-Verfahren) ebenso wie auf elektronischen Datenträgern. Mit der Ausbreitung der elektronischen Netzwerktechnologie ist eine neue Stufe im Bereich der Text- und Bildkommunikation erreicht. ForschG: Die Entwicklung der Reproduktionsverfahren wird seit dem 19. Jh. von zahlreichen druckhistorischen Einzel- und Gesamtdarstellungen dokumentiert, die sich auf die spezifisch technischen Aspekte beschränken (Gerhardt). In neuerer Zeit hat sich das Interesse an den Wirkungsaspekten der Vervielfaltigungstechnologien verstärkt: Dabei wird aus der Perspektive der Mediengeschichte und Medientheorie der Übergang von der Handschrift zum gedruckten Buch als erster und folgenschwerer Triumph der Reproduktion über das Original interpretiert (Eisenstein, Giesecke); die fortlaufend verbesserten Methoden zur

Vervielfältigung von Bild- und Textinformation erscheinen als die entscheidende Basis gesamtgesellschaftlicher Evolutionsprozesse, als Voraussetzung für die Entstehung der neuzeitlichen Wissenschaften und der allgemeinen Verbreitung von Bildung ebenso wie für die Herausbildung des kollektiven Bildgedächtnisses, das unser Geschichtsbewußtsein bestimmt (A. Assmann). Für eine Auseinandersetzung mit den kulturellen Problemaspekten, die sich aus dem Verhältnis von Original und Nachahmung, Unikat und Vervielfältigung ergeben, stellt aber nach wie vor W. Benjamins Essay ,Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit' den wichtigsten Bezugspunkt dar (y Kritische Theorie). Die in den 1970er Jahren an Benjamin anschließende Debatte zielte auf eine materialistische / Ästhetik, von der aus die Produktions- und Rezeptionsbedingungen von Kunst, nicht zuletzt auch ihr f Warencharakter, kritisch analysiert werden könnten. Inzwischen stellt sich, nicht zuletzt unter dem Eindruck einer beschleunigten Medialisierung und Visualisierung aller Realitätsbezüge, die Frage nach dem Verlust von Echtheit, nach dem dialektischen Verhältnis von ,wahr' und ,falsch' in radikal anderer Weise (s Postmoderne). Lit: Aleida Assmann: Erinnerungsräume. München 1999. - Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Frankfurt 1963. — Karl Dachs: Die Konzeption von Faksimileausgaben als bibliothekarische Aufgabe. In: Bibliotheksforum Bayern 14 (1986), H. 1, S. 3 3 - 4 9 . - Elizabeth L. Eisenstein: The printing press as an agent of change. New York 1979. - Claus W. Gerhardt (Hg.): Geschichte der Druckverfahren. 4 Teile. Stuttgart 1974-1993. Michael Giesecke: Der Buchdruck der frühen Neuzeit. Frankfurt 1991. - Christa Gnirss: Internationale Bibliographie der Reprints. 4 Bde. München 1976-1980. - Georg Jäger (Hg.): Geschichte des Deutschen Buchhandels im Ì9. und 20. Jh. Bd. 1/1. Frankfurt 2001, S. 602-643. Thomas Hilka: Zur Terminologie und Geschichte der Faksimilierung. In: Bibliothek. Forschung und Praxis 9 (1985), H. 3, S. 290-299. - René Hirner (Hg.): Vom Holzschnitt zum Internet. Bonn 1997. - Alfred Langer: Kunstliteratur und Reproduktion. Leipzig 1983. - Otto Mazal: Zur Praxis des Handschriftenbearbeiters. Wiesbaden 1987, S. 7 3 - 8 5 . - Friedrich Pfáfflin: Die totale

Restauration Reproduktionsindustrie. In: Gutenberg-Jb. 1972, S. 267-272. — Ludwig Reichert: Faksimiles. In: Imprimatur N F 9 (1977-1980), S. 5 6 - 6 3 . Hans Zotter: Bibliographie faksimilierter Handschriften. Graz 1976.

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zeichnungen wie Nachromantik und Frührealismus sind als überholt anzusehen; Doppelschreibungen wie Biedermeier- Vormärz drücken eine vergleichbare Balancierung aus.

Ernst Fischer

Requisiten ? Bühnenbild

Restauration Epochenbegriff für die Literatur zwischen 1815 und 1848, entlehnt aus der politischen Geschichtsschreibung. Expl: Das Zeitalter der Restauration erfaßt die Jahre zwischen der Wiederherstellung der monarchischen Ordnung in Europa durch den Wiener Kongreß, ihrer fortlaufenden Erschütterung in den 1830er und frühen 1840er Jahren und ihrem Ende in den europaweiten Revolutionen im März 1848. Doppelgesichtigkeit ist die maßgebliche Signatur der Epoche: im Nebeneinander konservativer und progressiver politischer Strömungen, neuer Produktionsverhältnisse für Literatur und scharfer Zensur, autonomer und heteronomer Literaturbegriffe, von traditionsverpflichtetem Dichten und Tagesschriftstellerei. Somit umgreift Restauration der Sache nach die Literatur des alten Goethe, der späten ? Romantik und des Biedermeier im engeren Sinne auf der einen Seite, die programmatisch gegenwartsbezogenen Schriften des Jungen Deutschland (s Vormärz) und die politische Literatur der 1840er Jahre auf der anderen. Als Epochenbegriff akzentuiert .Restauration' die Bedeutung der politischen Eckdaten — die gewaltsame Wiederherstellung des Deutschen (Fürsten-) Bundes und die gescheiterte Revolution von 1848 - und faßt die Literaturverhältnisse vom Politischen her. Darin unterscheidet er sich von der Kennzeichnung der Epoche als B I E D E R MEIER, wodurch werte- und stilkonservative Strömungen herausgehoben werden, ebenso wie von der als /" Vormärz, wodurch die auf Veränderung drängende Literatur in den Vordergrund rückt. Früher geläufige Be-

WortG: Lat. restauratio meint Wiederherstellung'; Heselhaus vermutet für das dt. Lehnwort eine Beeinflussung durch den antiken Rechtsbegriff der restitutio (Heselhaus, 56, Anm. 2). Mit dem Aspekt der rectificado geht es um ,Wieder-gut-Machung' im Sinne von ,Heilung' (Heselhaus,72 f.). In diesem Sinn wurde das Wort auf die „Wiedereinsetzung einer verdrängten Regentenfamilie [...] und Wiedereinführung der ehemaligen Verhältnisse" übertragen (.Allgemeines deutsches Konversations-Lexikon', 836). Als literaturgeschichtlicher Epochenbegriff ist Restauration spät belegt. Biedermeier wurde zunächst satirisch, als Kampfbegriff der Generation nach 1848 gegen die selbstzufriedene Beschaulichkeit der vorausgehenden Zeit geprägt: personifiziert als schwäbischer Schulmeister Gottlieb Biedermaier in L. Eichrodts ,Gedichten in allerlei Humoren' (1853, darin das ,Buch Biedermaier') und in den Münchener f l i e genden Blättern' (1855 ff.). Seit den späten 1920er Jahren wurde daraus eine weithin neutrale Beschreibungskategorie (ausdrücklich als literarische Epochenbezeichnung bei Kluckhohn 1928, 62). Biedermeierzeit wurde durch Sengle (1971-1980) als Epochenbezeichnung durchgesetzt. Allgemeines deutsches Konversations-Lexikon für die Gebildeten eines jeden Standes. Bd. 8. Leipzig 31840. - Clemens Heselhaus: Wiederherstellung. Restauratio - Restitutio - Regeneratío. In: DVjs 25 (1951), S. 5 4 - 8 1 . - Paul Kluckhohn: Die Fortwirkung der deutschen Romantik in der Kultur des 19. und 20. Jhs. In: Zs. für deutsche Bildung 4 (1928), S. 5 7 - 6 9 .

BegrG: ,Restauration' wurde in der Geschichtswissenschaft früh für die Metternich-Zeit zwischen der Rückkehr der Bourbonen und der Julirevolution von 1830 in Frankreich eingeführt (z. B. Rotteck/Welcker 1865, 514). Für die Geschichte der deutschen Literatur ist die Zäsur 1830 von geringerer Bedeutung, weshalb in der Regel die Zeit bis 1848 hinzugerechnet wird; mit

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Restauration

dieser Extension findet sich der Begriff auch in allgemeinen Wörterbüchern (ζ. B. Wahrig, 373). Die Konkurrenz zwischen Restauration' (seit den 1950er Jahren, ζ. B. Sengle 1956) und ,Biedermeierzeit' (Sengle 1971 — 1980) entschied sich in der BRD zugunsten des letzteren, während in der DDR als epochenprägende Dominante die kritisch-emanzipatorische Literatur der Zeit angesehen wurde, so daß Vormärz die vorherrschende Bezeichnung war. Carl v. Rotteck, Carl Th. Welcker: Das StaatsLexikon. Bd. 12. Leipzig 31865, S. 513-536. Gerhard Wahrig u.a. (Hg.): Deutsches Wb. in sechs Bdn. Bd. 5. Wiesbaden, Stuttgart 1983.

SachG: Die Doppelgesichtigkeit der Restaurationsepoche läßt sich in mehreren Aspekten entfalten: (1) in ihrer politischen und ökonomischen Zwischenlage; (2) in einer durchgreifenden Traditionskrise; (3) in einem ,zerrissenen' Lebensgefühl der Dichter; (4) in einem Literaturbetrieb des vielfaltigen Nebeneinanders. (1) Das neue nationale Bewußtsein im Gefolge der Befreiungskriege, in der Forderung nach einer neuen Verfassung gipfelnd, wurde im Deutschen Bund konterkariert. Die durchsetzungsfahigen restaurativen Elemente machte Heine in den Stationen seines „versifizirten Reisebilds" ,Deutschland. Ein Wintermärchen' von 1844 anschaulich: Überwachung und Zensur, Allgegenwart des Militärs, nationale Propaganda, neue Reichsideologie im Kyffhäuser-Mythos und lähmender Stillstand im gesellschaftlichen Leben. In diese deutsche Wirklichkeit drangen von außen Reflexe der politischen Aufstände in Europa zwischen 1820 und 1830, die ihrerseits wieder neue Phasen der Repression mittels neuer Pressegesetze, Verbot von oppositionellen Gruppierungen (,Junges Deutschland' 1835) und freiwilliger oder erzwungener Emigration (ζ. B. Heines und Büchners nach Frankreich) hervorriefen. (2) Gleichzeitig verschärfte sich die weltanschauliche Traditionskrise, die dem Abbau der religiösen und philosophischen Sicherheiten seit der Aufklärung geschuldet war und die im Werk gläubiger Christen tiefe Spuren hinterließ (ζ. B. ,Das geistliche Jahr'

der Droste-Hülshofi). Die Dogmen und Erklärungsmodelle des Christentums erfuhren fundamentale Kritik (Höhepunkte: die Schriften von D. Fr. Strauß 1835 und L. Feuerbach 1841); dem stellte sich die publizistisch mächtige Erweckungsbewegung mit einer militanten Traktatliteratur und einer auflagenstarken Erbauungslyrik (A. Knapp, Ph. Spitta) entgegen. Eine Traditionskrise erfaßte auch die Künste: Die klassische Ästhetik wurde samt ihrer Leitfigur Goethe einer vehementen Kritik durch Börne und die Jungdeutschen ausgesetzt, andererseits richtete sich eine größere Zahl von Schriftstellern wie Grillparzer, Stifter, Mörike ausdrücklich an Weimar und an Goethe aus. Die allgemeine Orientierungsschwäche wurde als / Epigonentum erlebt und thematisiert (Immermanns ,Die Epigonen', 1836). Die partikularstaatliche Ordnung begünstigte die Ausprägung regionaler literarischer Kulturen (Schwaben, Westfalen, das Rheinland), vertreten durch zahlreiche Dichterkreise. (3) In den Lebensläufen der Schriftsteller prägten sich — trotz unterschiedlicher Ausrichtung (z.B. des 1791 geborenen Grillparzer und des 1822 geborenen G. Weerth) — ähnliche individuelle Symptome aus: hier und da eine ,Somatisierung' von Krise; Skepsis und Orientierungsschwäche. Die Metapher vom Riß, der durch die Welt und die Brust des Schriftstellers geht, ist vielfältig belegt (z. B. Heine, Büchner). Weltschmerz und Zerrissenheit waren mehr als bloße Stimmungslagen seit den 1820er Jahren (Byron, Manzoni); in ihnen mischten sich Trauer über zerbrechende Wertsysteme, Wut über politische Ohnmacht und Hilflosigkeit. Noch die Versuche bei Mörike, Stifter oder der Droste, sich der tiefen Verunsicherung zu entziehen, bestätigen die Bewußtseinslage als allgemein. Gegen sie gerichtete Vorwürfe der Verniedlichung, der Enge und der frömmlerischen Selbstbescheidung entstammen schon der zeitgenössischen, jungdeutsch bestimmten Literaturszene (Hebbel, Gutzkow). (4) Doppelgesichtig sind schließlich auch die Bedingungen, unter denen Literatur gemacht wurde, die Bestimmungen ihrer Funktion und die Übernahme von bzw. der

Restauration Bruch mit traditionellen Gattungen und Darstellungsformen. Auf der einen Seite wird Literatur weiterhin in einem häuslichprivaten (Familie, Freundeszirkel), höchstens halböffentlichen Rahmen (Salon, Lesekabinett) verbreitet, was u.a. ein Reflex auf die Präventivzensur seit den Karlsbader Beschlüssen von 1819 war. Auf der anderen Seite nehmen /" Feuilleton¡ und periodische Publikationen (280 verschiedene Taschenbücher und Almanache sind gezählt worden) einen raschen Aufschwung. Dadurch wurden alle kürzeren Gattungen begünstigt. Neue Technologien wie die Schnelldruckpresse (1822) und die 1818 eingeführte Papier-Dampfmaschine sowie neue Vertriebsformen im durchorganisierten Buchhandel erlaubten eine massenhafte Titelproduktion (2200 Zeitschriften waren im Umlauf)· Der expandierende Markt förderte die Konkurrenz innerhalb der wachsenden Schar von Berufsschriftstellern und eine neue Abhängigkeit von Verlegern. Wirkungsbetontes, unter dem Schlagwort .Geschichtsschreibung der Gegenwart' dem Tagesgeschehen verpflichtetes Poesieverständnis der Jungdeutschen, das auch eine moderne, intellektuelle Kulturgeschichtsschreibung förderte (Heine, Prutz), konkurrierte mit einem herkömmlichen Poesiebegriff, der die klassisch-romantische Vorstellung von der /" Autonomie der Kunst weiterführte und sich dem Stilvorbild Goethes verpflichtete. Hierher gehören die großen Werke der ,biedermeierlichen' Literatur: Grillparzers Dramen, Stifters Erzählungen, Mörikes und Drostes Gedichte. Eine eigenständige Theaterkultur entstand vor allem in Österreich, wo man an die lebendig gebliebene Barocktradition anknüpfte und das Genre des Volksstücks fortentwickelte (Raimund, Nestroy und die Vorläufer; in Hessen C. Malss und E. Niebergall); die klassizistischen Dramen Grillparzers erzielten nicht die Wirkung der Salon- und Konversationskomödie (Ε. v. Bauernfeld). Die unentschiedene Konkurrenz unterschiedlicher Literaturkonzepte erlaubte gattungssprengende Innovationen wie Grabbes Dramaturgie und Büchners historisches Gegenwartsdrama. Vor allem ließ sie Mischgattungen sowie, im Rückgriff auf rhetorische Traditio-

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nen des 18. Jhs., Stilmischungen entstehen: Predigteinlagen in Gotthelfs Dorfgeschichten, Reflexionen in Fürst Pückler-Muskaus Reiseerzählungen, detailliert beschreibende Partien neben Allegorien bei der Droste, die Einfügung breiter historiographischer Partien in Dramentexte bei Büchner und modische Salonsprache inmitten empfindsamer Liebeslyrik (Heine). Weniges ist bezeichnender für den Epocheneinschnitt 1848 als die Rigorosität, mit der in den programmatischen Schriften des s Realismus2 aus den frühen 1850er Jahren die neuen Gattungen und jegliche stilistische Freizügigkeit verurteilt wurden. ForschG: An der literarischen Epoche zwischen 1815 und 1848, ihren konkurrierenden Bezeichnungen und inhaltlichen Bestimmungen wurden exemplarisch Probleme der ^ Literaturgeschichtsschreibung entfaltet. In Opposition zur konservativen Biedermeier-Forschung erarbeitete Sengle 1956 ein Konzept, in dem er die innere Gespaltenheit und zugleich Einheitlichkeit der primär politisch definierten Restauration als kennzeichnend für die Literaturverhältnisse zwischen 1815 und 1848 formulierte; dabei sah er die qualitative und quantitative Dominante in der Literaturproduktion auf der biedermeierlichen Seite und brachte daher den literarischen Epochenbegriff .Biedermeierzeit' ins Spiel (Sengle 1971-1980). Von einigen seiner Nachfolger wurde dagegen ,Restauration' bevorzugt (Hermand, Denkler) und das engere ,Biedermeier' auf ein Stilphänomen reduziert. Die „Ära der Restauration" erschien demgegenüber als ein „Kraftfeld höchster soziologischer Spannungen", wobei die bedeutendsten Dramatiker der Zeit als Gegner der dominierenden restaurativen Tendenzen gewürdigt werden (so als Handbuchwissen Stammler 2 2, 2144; vgl. auch Denkler). Nachdrücklich versuchte besonders Hermand, ,Restauration' als Epochenbegriff zu inthronisieren: „Denn von der .Restauration' wurden sie alle betroffen, ob sie nun staatskonform oder oppositionell auftraten. Kraß gesagt, läßt sich weder Stifter noch Heine ohne Metternich begreifen" (Hermand, 16). Der von ihm mitherausgegebene Sammelband

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Revue

legte die Grundlage zu einem offenen Konzept der Epoche; ihre Erforschung hat Sengle in seinem dreibändigen Werk vorläufig abgeschlossen. Die Auseinandersetzung damit bestimmt auch die jüngeren Arbeiten über den Zeitraum (Brenner 1982, Weiss 1987, Bock 1999). Lit: Helmut Bock: Deutscher Vormärz. In: Ehrlich u.a. 1999, S. 9-32. - Rudolf Brandmeyer: Biedermeierroman und Krise der ständischen Ordnung. Tübingen 1982. — Peter J. Brenner: Verspätetes Biedermeier. Karl v. Holteis Romane zwischen Restaurationsliteratur und Realismus. In: Schiller-Jb. 26 (1982), S. 204-234. - Horst Denkler: Restauration und Revolution. München 1973. - Lothar Ehrlich u.a. (Hg.): Vormärz und Klassik. Bielefeld 1999. - Theodore S. Hamerow: Restoration, revolution, reaction. Princeton 1958. — Jost Hermand: Allgemeine Epochenprobleme. In: Zur Literatur der Restaurationsepoche 1815-1848. Hg. v. J. H. und Manfred Windfuhr. Stuttgart 1970, S. 3-61. - Georg Himmelheber: Kunst des Biedermeier. München 1988. - Peter U. Hohendahl: Literarische Kultur im Zeitalter des Liberalismus 1830-1870. München 1985. Elfriede Neubuhr (Hg.): Begriffsbestimmung des literarischen Biedermeier. Darmstadt 1974. Hugh Ridley: Auf der Suche nach dem Vormärz. In: Konzepte und Perspektiven germanistischer Literaturwissenschaft. Hg. v. Christa Grimm u. a. Leipzig 1999, S. 45-61. - Rainer Rosenberg: Eine „neue Literatur" am „Ende der Kunst"? In: Ehrlich u.a. 1999, S. 155-161. - Friedrich Sengle: Voraussetzungen und Erscheinungsformen der deutschen Restaurationsliteratur. In: DVjs 30 (1956), S. 268-294. - F. S.: Biedermeierzeit. Deutsche Literatur im Spannungsfeld zwischen Restauration und Revolution 1815-1848. 3 Bde. Stuttgart 1971-1980. - Streitpunkt Vormärz. Beiträge zur Kritik bürgerlicher und revisionistischer Erbeauffassungen. Hg. v. der Akademie der Wissenschaften der DDR. Berlin/DDR 1977. Florian Vaßen: Restauration, Vormärz und 48er Revolution. Stuttgart 1975. - Walter Weiss: Biedermeierzeit), Vormärz, (Früh-) Realismus? Ein Beitrag zur Epochendiskussion. In: Antipodische Aufklärungen. Fs. Leslie Bodi. Hg. v. Walter Veit. Frankfurt u.a. 1987, S. 503-517. - Michael Werner: Genius und Geldsack. Hamburg 1978. Margarete Zuber: Die deutschen Musenalmanache und schöngeistigen Taschenbücher des Biedermeier. 1815-1848. In: AGB 1 (1958), S. 398489. Joachim Bark

Retardierendes Moment S Protasis Retrogramm S Kryptogramm Revocatio

Palinodie

Revue Handlungsarmes Bühnenspektakel von musikalischer und optischer Opulenz. Expl: Üppig ausgestattete, gegebenenfalls auch satirisch funktionalisierte fiktionale Bühnendarbietung aus lose verknüpften Musik-, Tanz-, Artistik-Nummern (.Bildern') und Spielszenen, die mitunter von ? Conférencen eingeleitet und kommentiert werden. Der überwiegend nichtsprachliche Charakter der Nummern unterscheidet die Revue vom /" Kabarett, ihre szenische Fiktionalität erlaubt die Abgrenzung zur handlungsfreien ,Show'. Erhebliche Verbreitung hat auch jene gattungstheoretisch unbrauchbare und meist pejorativ konnotierte Begriffsverwendung gefunden, die von der ,Revueform' schon überall dort spricht, wo autonome Elemente ohne handlungsmäßige Verbindung zu einer szenischen Darbietung zusammengefügt werden. Je nach Akzentuierung der verwendeten Ausdrucksmittel ist im Sinn eines Gegensatzpaares die ,literarische Revue' (aktuell und zeitkritisch funktionalisiert als ,Kabarettrevue' oder ,Jahresrevue', s. u.) von der ,Ausstattungsrevue' zu unterscheiden. WortG: Revue (von frz. revoir, Wiedersehen') war zunächst ein militärischer Terminus (,Heerschau') und wurde schon in dieser Bedeutung im 17. Jh. aus dem Frz. ins Dt. entlehnt. Seit der 2. Hälfte des 18. Jhs. und unter dem Einfluß von engl, review gebraucht zur Bezeichnung periodisch erscheinender illustrierter Zeitschriften aktuellen Inhalts, diente das Wort dann in Frankreich seit der Juli-Revolution 1830 zur Bezeichnung der neu aufkommenden Jahresrevuen' (frz. revue de fin d'année, dt. eigentlich: Jahresschluß-Revue'; vgl. Völmecke). 1886 gelangt in Paris die Ausstat-

Revue tungsrevue ,Εη revenant de la Revue' zur Aufführung. Der Titel ist „wahrscheinlich der erste Wiederaufgriff dieses Wortes" zur Bezeichnung eines Revue-Programms (KIooss/Reuter, 31). In frz. wie in dt. Sprache verselbständigte sich der Begriff schnell zum Gattungsnamen.

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und -Diseusen). Immer mehr dominierten später die Tanzgruppe (,chorus') und das Dekor die Bühnendarbietungen, oft in Ermangelung einer durchlaufend fiktionalisierten Handlung. Die erste Ausstattungsrevue mit dem Titel,Place aux Jeunes' wurde 1886 in den ,Folies-Bergère' produziert, wo einige Jahre später auch die erste GirlBegrG: Beim derzeitigen Forschungsstand Truppe auftrat. Der Cancan bildete bald ist eine lückenlose Nachzeichnung der Be- das unverwechselbare Markenzeichen der griffsgeschichte noch kaum möglich. Es gibt Pariser Revuen. Als weitere Revue-Bühnen Anhaltspunkte, daß während der 2. Hälfte folgten das ,Olympia' (1887) und das ,Moudes 19. Jhs., als sich die Gattung noch nicht lin-Rouge' (1888). Kurz vor der Jahrhunvoll etabliert hatte, anstelle von Revue auch dertwende präsentierte das ,Alcazar d'Eté' das engl. Music hall oder das frz. Variété ge- die erste Revue, für die ein Buch (/" Szenaläufig waren (zur amerikanischen Minstrel rio) verfaßt worden war: Jetzt mußten Show und dem Vaudeville vgl. Sketch). auch die Artisten in Kostümen erscheiNachdem sich die Gattung um die Jahrhun- nen, die Auftritte der Girls wurden auf die dertwende unter der noch heute gebräuchli- jeweilige Szenenmusik hin choreografiert; chen Bezeichnung durchzusetzen begann, /* Sketches und /" Einakter zur Einleitung machte sich schon bald die Tendenz zu ei- des Abends verschwanden mehr und mehr. ner extensiven Verwendung des Begriffs beIm ausgehenden 19. Jh. fanden die Remerkbar. Unter vitalistischen und sozialvuen über die Grenzen Frankreichs hinaus revolutionären Vorzeichen fand der effektvoll zur Schau gestellte Unterhaltungscha- Verbreitung und wurden auch in den Großrakter der Revue über die Gattung hinaus städten Deutschlands, Englands und der Anerkennung und damit den Eingang in die USA heimisch. Eine Frühform der deutschen Revue enttraditionskritisch definierte Dramatik und stand nach der Jahrhundertwende im BerliTheaterarbeit. ner ,Apollo-Theater', wo in Variété-ProSachG: Als satirische ,Jahresrevue' fand die grammen die im zweiten Teil vorgesehenen Gattung um 1830 in Frankreich erstmals einaktigen Operetten oder Schwänke durch eine eigenständige Ausformung. Die jeweils Ausstattungsbilder ersetzt wurden (.Variétéam Ende eines Jahres aufgeführten Jahres- Revue'). Diese war dann Anregung für die revuen verarbeiteten aktuelle politische Er- humoristisch-satirische Jahresrevue, wie sie eignisse und stellten deren Akteure bloß. das Berliner ,Metropoltheater' unter der /" 7anz-Darbietungen und f Couplets lok- Direktion von R. Schultz zwischen 1903 kerten die unverbundenen Einzelszenen auf. und 1913 pflegte oder wie sie in der Wiener Nach 1850 verlor der Text zunehmend an ,Femina' von A. und E. Schwarz aufgeführt Gewicht, und die Ausstattung nahm immer wurde. breiteren Raum ein. Die aus dieser EntNach dem Zurücktreten der Jahresrevue, wicklung hervorgehende Ausstattungsrevue die später in Gestalt der Kabarett-Revue stand in der 2. Hälfte des 19. Jhs. unter dem (z. B. von Fr. Hollaender) wieder aufleben Einfluß der Pariser Konzertcafés (cafés-con- sollte, erlebte während der 1920er Jahre die certs). Diese Mitte des 19. Jhs. entstandenen Ausstattungsrevue zumal in Berlin eine erVergnügungsstätten mit Bewirtung boten hebliche Ausbreitung: 1922 startete J. Klein dem Publikum Gesangsnummern und ko- in der ,Komischen Oper' mit der Revue mische Szenen in üppigen ? Bühnenbildern ,Europa spricht davon'. Wenig später traten und Kostümen (s Maske), aber auch Tänze H. Haller und E. Charell mit ihren besonund Akrobatik. ders aufwendigen Produktionen hervor. 1869 eröffneten in Paris die ,Folies-Ber- Haller begann 1923 im ,Admiralspalast' mit gère' mit Variété-Nummern (Jongleure, ,Drunter und Drüber'. Conférencen und Zauberer, Ringkämpfer, /" Chanson-Sänger Sketches — letztere, wie auch viele Tanz-

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Revue

stars, zu einem überwiegenden Teil von ausländischen Revuen geborgt — traten zugunsten visueller Effekte zurück. In musikalischer Hinsicht gehörte der eingängige /" Schlager mit Wiedererkennungseffekt zur Grundausstattung der vom amerikanischen Jazz mitbeeinflußten Revue dieser Jahre. Als Spezifikum der Wiener Revuen der 1920er Jahre (H. Marischka, E. Schwarz) sind die sogenannten Jargonkomiker zu nennen, welche die Idiome des Vielvölkerstaates bühnenwirksam umsetzten. Mit ,Hallo, Rag-Time', einer 1912 von A. de Courville für das Londoner ,Hippodrome' produzierten Revue, kam die Revue-Gattung auf die Bühnen der britischen Metropole. Während der 1920er Jahre behaupteten sich dann nur Ch.B. Cochran und A. Chariot nachdrücklich gegen die beliebten musikalischen Komödien. In New York kam die Revue zwischen 1910 und 1930 zu ihrer Blüte (vgl. die ,Follies' von F. Ziegfeld, die .Vanities' von E. Carroll, die ,Scandals' von G. White oder die Greenwich Village Follies' von J. M. Anderson). Von der Revue gingen immer wieder Impulse aus für Inszenierungen in benachbarten Theatergattungen (etwa für Max Reinhardts Operetten-Produktionen) und im Film (vgl. Belach). Nach dem 1. Weltkrieg wurde die traditionell zu unterhaltendem Zweck konzipierte Gattung in den dramenreformerischen Experimenten von E. Piscator im Kontext der revolutionären Arbeiterbewegung politisch funktionalisiert (z.B. ,Revue Roter Rummel' von 1924). Darüber hinaus entwickelte zum Beispiel auch der russische Regisseur V. E. Meyerhold einen von Revue-Techniken inspirierten Inszenierungsstil im Dienste der Revolutionsdarstellung. Seit den frühen 1930er Jahren und dann besonders nach dem 2. Weltkrieg verdrängten einerseits handlungsfreie .Shows', andererseits das szenisch geschlossene s Musical die traditionelle Revue weitgehend. Erhalten blieb sie in einigen Großstädten als imitatorisches Relikt der .Goldenen Zwanziger' (z.B. ,Friedrichstadt-Palast' in Ostberlin). Bis in die jüngste Gegenwart bietet die Revue Inspirationen für Theater-Inszenie-

rungen (prominent etwa für T. Dorsts und P. Zadeks zeitgeschichtliche Revue nach H. Falladas Roman ,Kleiner Mann, was nun?', zuerst in Bochum 1972). ForschG: Für das bisher eher schwache Forschungsinteresse gegenüber der jungen Gattung mögen Reserviertheit gegenüber deren Unterhaltungsanspruch und der transitorische Charakter des Gegenstandes ausschlaggebend sein; darüber hinaus aber auch der zwangsläufig interdisziplinäre Forschungszugang, der als einziger dieser äußerst heterogenen szenischen Mischform gerecht werden kann (vgl. Vogel, 47—61). Im deutschen Sprachraum fand die Revue vielfach nur am Rande von Untersuchungen zu Nachbargattungen wie der ? Operette oder dem Kabarett Erwähnung, was insbesondere für die Ausstattungsrevue gilt. Erst Kothes ist 1977 eine Typologie der unterschiedlichen Revueformen und eine deskriptive Darstellung der Gattung innerhalb eines literatursoziologischen Bezugsrahmens für den deutschsprachigen Raum gelungen. Eine ausgreifende historische Darstellung mit Einbezug aller musikalischen und optischen Codes des plurimedialen Aufführungsereignisses wird in Zukunft von einer vorgängigen theaterwissenschaftlichen Rekonstruktion der noch wenig erschlossenen und vielfach schwer (oder überhaupt nicht mehr) zugänglichen ,theatralen Texte' abhängen. Lit: Robert Barai: Revue. The great Broadway period. New York, London 1962. - Helga Belach (Hg.): Wir tanzen um die Welt. Deutsche Revuefilme 1933-1945. München 1979. - Gerald Bordman: American musical revue. New York u. a. 1985. — Lee Davis: Scandals and follies: The rise and fall of the great Broadway revue. New York 2000. - Dominique Jando: Histoire mondiale du music-hall. Paris 1979. - Wolfgang Jansen: Glanzrevuen der zwanziger Jahre. Berlin 1987. - Reinhard Klooss, Thomas Reuter: Körperbilder. Menschenornamente in Revuetheater und Revuefilm. Frankfurt 1980. - Franz-Peter Kothes: Die theatralische Revue in Berlin und Wien. Wilhelmshaven 1977. - Raymond Mander, Joe Mitchenson: Revue. A story in pictures. London 1971. - Adelheid Rasche (Hg.): Varieté und Revue. Ausstellungskatalog. Berlin 1999. Jens-Uwe Völmecke: Die Berliner Jahresrevuen 1903-1913 und ihre Weiterführung in den Re-

Rezension^ vue-Operetten des Ersten Weltkrieges. Köln 1997. - Benedikt Vogel: Fiktionskulisse. Poetik und Geschichte des Kabaretts. Paderborn 1993.

Benedikt Vogel

Rezension! /" Literaturkritik

Rezension 2 Wertende Vorstellung von literarischen und wissenschaftlichen Neuerscheinungen. Expl: Die Rezension dient dazu, belletristische Werke oder Forschungsbeiträge in die öffentliche Diskussion einzuführen. Neben die übliche Schriftform treten rezensierende Beiträge in Radio, Fernsehen, Internet. In der Sonderform der kurzen Anzeige kann die Information über Anlage und Ziele der rezensierten Arbeit vorherrschen. Die Rezension ist die gebräuchlichste Form von s Literaturkritik und dient der Vermittlung (/" Distribution) des literarischen Werks an die s Öffentlichkeit. Ihr Einfluß auf den literarischen Markt (s Literarisches Leben) ist umstritten, sie kann aber vor allem bei Verrissen (S Polemik) große Wirkung haben. Gegenüber der Rezension von literarischbelletristischen Neuerscheinungen kann die wissenschaftliche Rezension als Sonderform verstanden werden. Als kritische Vermittlung wissenschaftlicher Erkenntnisse auch an ein außerfachliches Publikum findet sie sich bis heute in anspruchsvolleren Tageszeitungen und Zeitschriften. Als Medium innerwissenschaftlicher Auseinandersetzung in Fachorganen gebraucht sie oft ein so hohes Maß an Fachterminologie und -wissen, daß sie ein außerfachliches Publikum weitgehend ausschließt. WortG/BegrG: Lat. recensere meint um 1600 noch unkritisches „erzählen, aufzählen, zusammenstellen", seit Ende des 17. Jhs. dann „kulturelle Neuheiten, v. a. literar. u. wiss. Produkte kritisch anzeigen, besprechen" (Paul-Henne, 694). Die editionstechnische Bedeutung von Recensio (/" Stemma) berichtigende Durchsicht eines

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alten, oft mehrfach überlieferten Textes' wurde bis ins 19. Jh. mit der Aufgabe der Rezension, im Sinne einer kritischen Einstellung und Durchmusterung, in Verbindung gebracht. Synonym mit der Bezeichnung Rezensent für den Verfasser einer Rezension ist Criticus oder heute Kritiker. R e zension' überschneidet sich im 18. und früheren 19. Jh. mit ,(Literatur-) Kritik'. Für die Verständigung über literarisches und (literatur)wissenschaftliches Schrifttum hat sich von da an der unterschiedlich gefüllte Begriff Rezension durchgesetzt. Negative Konnotationen von Rezensent! Rezension resultieren daraus, daß es neben einem dialogisch-konstruktiven ein urteilend-vernichtendes Rezensieren gibt. Einen Eindruck von der Spannweite geben führende Rezensenten selbst: „Die Rezensionen sind bei weitem noch keine Gottesurteile" (Lichtenberg: ,Goldpapierheft', Nr. 79). — „Der Grundsatz: Es wird nun einmahl recensirt, also wollen wir (um uns in Vortheil zu setzen) mit recensiren damit es recht geschieht; ist wie bei einer Revoluzion mit zu morden" (Fr. Schlegel:,Fragmente zu Litteratur und Poesie', Nr. 117). Günther Drosdowski u. a.: Duden. Bd. 7: Etymologie. Mannheim 1963, S. 568. - Kluge-Seebold, S. 598. - Georg Christoph Lichtenberg: Schriften und Briefe. Hg. v. Wolfgang Promies. Bd. 2. München 1971. - Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Hg. v. Ernst Behler. Bd. 16. Paderborn, München 1981.

SachG: Rezensionen erschienen als Teil der Verständigung gelehrter Gesellschaften in Journalen, die eine umfassende Literaturkritik als Begleitung der aktuellen, belletristischen wie wissenschaftlichen Buchproduktion als Aufgabe ansahen (.Journal des sçavans', Paris, ab 1665; ,Miscellanea medico-physica', Schweinfurt und Leipzig, ab 1670; ,Acta eruditorum', Leipzig, ab 1682; vgl. Jaumann 1995). Ein Kritik und Wertung verbindender Rezensionstypus wurde bereits ab 1688 von Christian Thomasius in seinen volkssprachigen ,Monatsgesprächen' entwickelt, die zugleich noch das gelehrte und schon das nicht-gelehrte Publikum zu erreichen suchten. Eine Blütezeit der Rezension war das 18. Jh. Die Rezensionstätigkeit nahm sprunghaft zu. Es entstanden Rezen-

282

Rezension2

sionsorgane. Seit Mitte des 18. Jhs. erscheinen die ,Göttingischen Anzeigen von gelehrten Sachen' (später: ,Göttingische gelehrte Anzeigen'). Autoren wie Lessing ließen einen Großteil ihrer literaturtheoretischen und -kritischen Schriften in Form von Rezensionen erscheinen (vgl. Guthke). In der Folgezeit gab es eine Ausdifferenzierung nach gelehrten und populären literarischen Publikumsinteressen. Seit dem späten 18. Jh. gibt es eine periodisch erscheinende ? Literaturkritik. Parallel zur disziplinären Ausdifferenzierung geisteswissenschaftlicher Forschung entstanden Rezensionsteile in Fachorganen. In den im Zeitraum von 1782 bis 1836 gegründeten ersten germanistischen Fachzeitschriften wurde die gleichzeitige Verständigung mit gebildeten Dilettanten und mit Gelehrten gesucht. Jedoch zeigte sich bei Moriz Haupts Gründung der .Zeitschrift für deutsches Alterthum' (1841) die Ablehnung eines öffentlichen Diskussionsforums, das prinzipiell für jedermann verfolgbar Konkurrenzen von Fragen, Verfahren und Ergebnissen offenzulegen hätte. Der auf Rezensionen beschränkte ,Anzeiger für deutsches Alterthum und deutsche Litteratur' wurde erst 1875 als Ergänzung gegründet. Die Anerkennung, daß Konkurrenzen für die Entwicklung der Germanistik eine notwendige Voraussetzung sind, wurde dauerhaft erst mit Franz Pfeiffers ,Germania' (1856) wirksam. Die Rezensionen wurden zum Hauptfeld der Auseinandersetzung einzelner wissenschaftlicher Schulen. Zur Versachlichung hat beigetragen, daß etwa um die Wende zum 20. Jh. die Menge der Rezensionsorgane die Zahl der konkurrierenden Schulen erheblich überstieg. Heute tritt die germanistische literaturwissenschaftliche Rezension in vielfältigen Formen auf, neben der Einzelrezension in der Form der Sammelrezension oder des Fortschrittsoder Forschungsberichts sowie des Rezensionsaufsatzes. Im Vergleich zur belletristischen Rezension erfordert die wissenschaftliche immanente Schlüssigkeit und Kontrollierbarkeit der Thesen und Ergebnisse. Bei Wissen sammelnden Werken (Lexikon, Handbuch) wird die Rezension mehr auf Verläßlichkeit

und Repräsentativität, bei Monographien mehr auf Innovationen oder anregende Erwägungen achten. Es gehört zu den Hauptaufgaben und den großen Leistungsmöglichkeiten der Rezension, wenn diese beim Werten ein nur dualistisches Schema positiver Richtigkeit und ihres Gegenteils verläßt und das volle Potential des rezensierten Werks auch im Bereich von Anregungen, Erwägenswertem, sinnvoll konkurrierenden Meinungen, möglichen Weiterwirkungen kritisch und anerkennend so darlegt, daß das Buch in das Forschungsgespräch bereits durch den Rezensenten aufgenommen ist. Die Rezension ist die vorherrschende Form, in der das Fach sich über seine ebenso essentiellen wie wandelbaren Größen verständigt. Seit den 1990er Jahren ergänzen Online-Rezensionen das Angebot der Printmedien. ForschG: Altere und neuere Forschung zur Geschichte der Rezension überschneidet sich mit der zur ? Literaturkritik. Hängt deren Geschichte im wesentlichen von wechselnder literarischer /* Wertung ab (Heydebrand/Winko), so sind die Kriterien für die Geschichte der Rezension Gegenstand der WissenschaftsgeschichteJ 2- Eine systematische und historische Konzentration auf die (wissenschaftliche) Rezension findet sich bei Huber u. a. Eine zusammenfassende wissenschaftsgeschichtliche Darstellung steht noch aus (vgl. aber Jaumann 1995 und 2000). Lit: Anni Carlsson: Die deutsche Buchkritik von der Reformation bis zur Gegenwart. Bern, München 1969. — Sabine Dalimann: Die Rezension. In: Sprachnormen, Stil und Sprachkultur. Hg. v. Wolfgang Fleischer. Berlin 1979, S. 5 8 - 9 7 . Ludwig Denecke: Jakob und Wilhelm Grimm als Rezensenten. In: Sammeln und Sichten. Fs. Oscar Fambach. Hg. v. Joachim Krause u. a. Bonn 1982, S. 294-323. - Karl S. Guthke: Literarisches Leben im 18. Jh. in Deutschland und in der Schweiz. Bern, München 1975. — Heinz Hartmann, Eva Dübbers: Kritik in der Wissenschaftspraxis. Frankfurt, New York 1984. — Renate v. Heydebrand: ,Wertung, literarische'. In: RL 2 4, S. 828-871. - R. v. H., Simone Winko: Einführung in die Wertung von Literatur. Paderborn, München 1996. - Martin Huber u. a.: Rezension und Rezensionswesen. Am Beispiel der Germanistik. In: Geist, Geld und Wissenschaft. Hg. v. Pe-

Rezeption ter J. Brenner. Frankfurt 1993, S. 271-295. Herbert Jaumann: Critica. Untersuchungen zur Geschichte der Literaturkritik zwischen Quintilian und Thomasius. Leiden, New York 1995. H. J.: Öffentlichkeit und Verlegenheit. Frühe Spuren eines Konzepts öffentlicher Kritik in der Theorie des ,plagium extrajudiciale' von Jakob Thomasius (1673). In: Scientia Poetica 4 (2000), S. 62—82. - Sibylle Obenaus: Die deutschen allgemeinen kritischen Zeitschriften in der ersten Hälfte des 19. Jhs. In: AGB 14 (1974), Sp. 1 122. - Herbert Rowland, Karl J. Fink (Hg.): The eighteenth century German book review. Heidelberg 1995. - Siegfried Seifert: Die Entwicklung der kritischen Literaturinformation im 18. Jh. in Deutschland. Diss. Berlin/DDR 1981 (masch.). René Wellek: Geschichte der Literaturkritik 1750-1950 [1955-1992], 4 Bde. Darmstadt, Berlin 1959-2002. - Werner Zillig: Textsorte .Rezension'. In: Sprache erkennen und verstehen. Hg. v. Klaus Detering u.a. Bd. 2. Tübingen 1982, S. 197-208. Wolfgang

Harms

Rezeption Aufnahme und Verarbeitung eines Kunstwerks. Expl: Der Terminus bezieht sich auf die Schnittstelle v o n ? Text u n d ? Leser

und

deren Interaktion. Gemeint ist die Aktualisierung und Weiterverarbeitung von Textstrukturen im Bewußtsein des Lesers bzw. die Artikulation dieser Prozesse in Dokumenten wie Kritiken, Rezeptionsprotokollen oder literarischen Werken (,produktive Rezeption'). Terminologisch hat es sich eingebürgert, Phasen des Rezeptionsprozesses zwischen der primären ästhetischen Wahrnehmung \(/* Lesen), d e m auslegenden Verstehen u n d der Applikation zu unterschei-

den. .Rezeption' umfaßt sowohl die Konstitution von vorgegebenem Sinn als auch die Ausbildung von potentiellen, noch nicht ausgeschöpften Sinnmöglichkeiten des Textes. Der Begriff wirft unvermeidlich die Frage nach der Angemessenheit der jeweiligen Aktualisierungen auf. Dieser Sachverhalt bedingt die Aufmerksamkeit der Rezeptionsforschung auf die die Rezeption steuernden Normen (Erwartungshorizont, s Rezeptionsästhetik). Terminologisch ist

283

die Rezeption zu unterscheiden: (1) von der Konkretisation

( / Rezeptionsästhetik)

als

dem phänomenologisch zu beschreibenden Bewußtseinskorrelat von Textstrukturen ( y Leerstelle)·,

(2) v o n der /" Wirkung

oder

Wirkungsgeschichte von Texten, insofern im Unterschied zu diesen die Analyse auf die im Text selbst angelegten Strukturen der Steuerung der Rezeption zielt und damit das Wirkungspotential des Textes in den Blick nimmt; (3) von der /" Interpretation als der methodisch ausgearbeiteten Deutung von Texten. WortG: Der Terminus geht zurück auf die scholastische Theologie und das dort entfaltete asymmetrische Verhältnis von unendlicher göttlicher Wahrheit und endlichem menschlichen Verstand. Thomas von Aquin arbeitet mit der Formel: „Quidquid recipitur ad modum recipientis recipitur" (,Was auch immer rezipiert wird, wird nach der Weise des Rezipienten rezipiert'; ,Summa theologiae' 1,75,5c). Dieser Wortgebrauch mit seinem inneren Spannungsverhältnis bleibt bis zum Ausgang des Mittelalters dominant und zugleich isoliert. Erst im 20. Jh. wird der Ausdruck zum Terminus wissenschaftlicher Disziplinen: Als juristischer Begriff bezieht er sich allerdings auch schon früher auf die Möglichkeiten und Probleme der Übernahme fremder Rechtsnormen, insbesondere auf die Rezeption des römischen Rechts in Europa. In der Philosophie und s Wissenschaftsgeschichte¡ bezieht er sich auf semantische Umbesetzungen, durch die im Zuge von Epochenumbrüchen tradierte Konzepte und Motive bearbeitet werden (Blumenberg). In der Literaturwissenschaft wird der Ausdruck vornehmlich im Zusammenhang mit der Ausbildung der Rezeptionsästhetik oder Rezeptionstheorie (v. a. durch Jauß) seit Ende der 1960er Jahre gebräuchlich, seit den 1980er Jahren zunehmend auch in der Kunst- und Musikwissenschaft. BegrG: Das Konzept der Rezeption unterscheidet sich von historischen Thematisierungen des Adressaten (Hörers oder Lesers) literarischer Gattungen und Werke, wie sie seit der wirkungsästhetischen Perspektive der ,Poetik' des Aristoteles einerseits Ge-

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Rezeption

genstand poetologischer Reflexion, andererseits Thema schriftstellerischer Selbstreflexion darzustellen pflegten. Es hebt sich auch ab von traditionellen Begriffen der Forschung wie dem Nachleben von Werken, die von einem verdinglichten Werkbegriff ausgehen. Rezeption ist immer bezogen auf den Erwartungshorizont des Lesers, d. h. auf ein System lebensweltlicher, ästhetischer und literarischer Normen, vor deren Hintergrund der Text wahrgenommen und konstituiert wird. Dem Wandel des Erwartungshorizonts entspricht ein Wandel des in der Rezeption konstituierten Textsinns. Die REZEPTIONSGESCHICHTE (vgl. Grimm 1977) untersucht die sukzessive Aktualisierung und Entfaltung des zunächst potentiellen Textsinns und rekonstruiert so die Prozesse der literarischen f Evolution als Abfolge von Rezeptionsvorgängen. Der literaturwissenschaftliche Begriff der Rezeption ist also fundiert in einer theoretischen Konstruktion in Gestalt einer Rezeptionstheorie oder Rezeptionsästhetik. In ihr verbinden sich texttheoretische mit funktions- und wirkungstheoretischen Fragestellungen. Die Ausarbeitung des Rezeptionsbegriffs ging einher mit einer triadischen Gliederung des literarischen Feldes als Ensemble von Produktion, Darstellung und Rezeption. Fragen der Wirkung oder Rezeption begleiten unter anderen Titeln die Literatur und ihre Poetik spätestens seit Aristoteles. Allerdings bleibt das Problem einer produktiven, sinnkonstitutiven Rezeption zunächst im Hintergrund angesichts der Dominanz produktions- und darstellungsästhetischer Fragen. Rezeption wird dort zum Problem, wo zwischen Produktion und Darstellung einerseits und Rezeption andererseits ein kritischer Abstand deutlich wird. (1) In massiver Form wird der Hiatus zwischen Produktion und Rezeption etwa in der Renaissance zur epochalen Erfahrung: Die Wiedergeburtsmetapher treibt das Bewußtsein der Inkommensurabilität von Antike und Gegenwart, die Idee der Wiederholung die Wahrnehmung uneinholbarer Differenz hervor. Zwischen Petrarca und Montaigne schlägt sich die Erfahrung .historischer Einsamkeit' (Greene) daher in

einer Thematisierung des Lesens nieder, die dem ,modernen' Rezipienten eine Autonomie und Freiheit zuspricht, die nicht auf bloße Wiederholung, sondern auf Selbstentdeckung im Fremden gegründet ist. (2) Die im Umfeld der Rezeptionsforschung entfaltete Aufmerksamkeit auf die folgenreichen Umbesetzungen der / Querelle des anciens et des modernes gehört gleichfalls in diesen Zusammenhang einer Rekonstruktion bislang vernachlässigter Vorgeschichten der Rezeptionsthematik. (3) Eine dritte Schwelle der expliziten Thematisierung von Rezeption ist mit der Poetik und Anthropologie der /" Aufklärung und der Empfindsamkeit gegeben, insofern in ihrem Kontext das Verhältnis von ästhetischem Gegenstand und Vermögen des Rezipienten (Leser, Hörer, Betrachter) thematisch wird. In diesen Zusammenhang gehört sowohl die Thematisierung des Lesers im Roman der Aufklärung (Fielding, Sterne, Diderot, Wieland) als auch die Diskussion des Verhältnisses der Künste in ihrem Verhältnis zum Rezipienten als Leser oder Betrachter (Lessings ,Laokoon'), die wirkungsästhetische Reflexion zeitgenössischer Bilderfahrung (Diderots ,Salons') und die philosophische , Kritik der Urteilskraft' (Kant), d. h. die Diskussion des f Geschmacks. (4) Eine vierte Entwicklungsstufe, an der die literaturwissenschaftliche Verwendung des Rezeptionsbegriffs — wo nicht terminologisch, so doch sachlich — teilhat, betrifft die Poetik der Moderne nach der Verabschiedung der / Mimesis2 -Ästhetik. Einschlägig ist hier insbesondere der Begriff der Illusion als einer Schnittstelle von Textstruktur und Leserbewußtsein, der die Romanästhetik seit dem frühen 19. Jh. prägt. Die Problematik der seit 1970 etablierten literaturwissenschaftlichen Verwendung des Rezeptionsbegriffs resultiert aus der Spannung von f Wirkungsästhetik und empirischen Gegebenheiten der Rezeption. Einerseits bewegt sich der Rezeptionsbegriff in die Richtung einer Ausarbeitung der (im Text selbst vermuteten) Wirkungsstruktur, mit der zugleich ein Kriterium zur Evaluation von historisch überlieferten Rezeptio-

Rezeptionsästhetik nen zu gewinnen wäre. Andererseits bewegt sich der — hermeneutisch ( / Hermeneutik¡) oder phänomenologisch (/" Phänomenologische Literaturwissenschaft) fundierte — Rezeptionsbegriff in die Richtung einer psychologisch oder soziologisch fundierten Untersuchung empirischer Rezeptionsprozesse (y Rezeptionsforschung), die auf ein normatives, aus der Textstruktur selbst abgeleitetes Kriterium der Beurteilung von individuellen oder kollektiven Rezeptionen verzichtet. In dieser Spannweite seiner Ausarbeitung droht der RezeptionsbegrifT seine methodische Prägnanz zu verlieren. Thomas M. Greene: The light in Troy. Imitation and discovery in Renaissance poetry. New Haven u.a. 1982. ForschG: Der Erforschung von Rezeptionsvorgängen sind historische Forschungen zur Soziologie des literarischen Geschmacks (L. Schücking, .Soziologie der literarischen Geschmacksbildung', 1923; R. Escarpit, .Sociologie de la littérature', 1958) und zur Psychologie der ästhetischen Erfahrung (J. Dewey, ,Art as experience', 1934; I. A. Richards, .Principles of literary criticism', 1925) vorgelagert. Die historischen Bedingungen für den 1970 einsetzenden Erfolg der /" Rezeptionsästhetik und der Rezeptionsforschung haben J a u ß (1983) und Groeben (1994) selbst reflektiert; ihre Attraktivität für die materialistische Literaturwissenschaft (Naumann 1973) und die Veränderungen, denen die Konzeption in einem anderen Paradigma unterworfen ist, beschreiben Danneberg u . a . (1995). Der Aspekt der .produktiven Rezeption' wird im Kontext des /" Intertextualitäts-Paradigmas weitergeführt. Die Weiterentwicklung in der Konkretisierung des Erwartungshorizonts im Rahmen der Historischen Semantik stellt Vollhardt (2002) dar. Lit: Wilfried Barner: Produktive Rezeption. München 1973. - Roland Barthes: Le plaisir du texte. Paris 1973. - Hans Blumenberg: Epochenschwelle und Rezeption. In: Philosophische Rundschau 6 (1958), S. 94-120. - Lutz Danneberg u.a.: Die Rezeption der Rezeptionsästhetik in der DDR. In: 1945-1995. Fünfzig Jahre deutschsprachige Literatur in Aspekten. Hg. v. Gerhard F. Knapp und Gerd Labroisse. Atlanta 1995, S. 643 - 702. - Ulrich Fülleborn (Hg.): Rezeptionsgeschichte. Frankfurt 1982. - Gunter

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Grimm (Hg.): Literatur und Leser: Theorien und Modelle zur Rezeption literarischer Werke. Stuttgart 1975. - G. G.: Rezeptionsgeschichte. München 1977. - Norbert Groeben: Der ParadigmaAnspruch der Empirischen Literaturwissenschaft. In: Empirische Literaturwissenschaft in der Diskussion. Hg. v. Achim Barsch u. a. Frankfurt 1994, S. 21-38. - Geoffrey H. Hartman: The fate of reading and other essays. Chicago 1975. - Peter Uwe Hohendahl (Hg.): Sozialgeschichte und Wirkungsästhetik. Frankfurt 1974. - Robert C. Holub: Reception theory. London 1984. - Roman Ingarden: Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks. Tübingen 1968. - Wolfgang Iser: Die Appellstruktur der Texte. Konstanz 1970. - W. I.: Der Akt des Lesens. München 1976. - Hans Robert Jauß: Literaturgeschichte als Provokation. Frankfurt 1970. — H. R. J.: Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik. Frankfurt 1982. - H. R. J.: Historia calamitatum et fortunarum mearum. Oder: ein Paradigmenwechsel in der Literaturwissenschaft. In: Forschung in der Bundesrepublik Deutschland. Hg. v. Christoph Schneider. Weinheim 1983, S. 121-134. - H. R. J.: Die Theorie der Rezeption. Konstanz 1987. - H. R. J.: .Rezeption, Rezeptionsästhetik'. In: HWbPh 8 [1992], Sp. 996-1004. - H. R. J.: Wege des Verstehens. München 1994. — Wolfgang Kemp: Der Betrachter ist im Bild. Köln 1985. - Walter Müller-Seidel (Hg.): Historizität in Sprach- und Literaturwissenschaft. München 1974. - Manfred Naumann (Hg.): Gesellschaft - Literatur - Lesen. Literaturrezeption in theoretischer Sicht. Berlin, Weimar 1973. - Thomas Schäfer: Modellfall Mahler. Kompositorische Rezeption in zeitgenössischer Musik. München 1999. - Karlheinz Stierle: Was heißt Rezeption bei fiktionalen Texten? In: Poetica 7 (1975), S. 345-387. - Susan Suleiman, Inge Crosman (Hg.): The reader in the text. Princeton 1980. - Friedrich Vollhardt: Von der Rezeptionsästhetik zur Historischen Semantik. In: Rezeptionsforschung in Ost und West. Hg. v. Wolfgang Adam und Holger Dainat. Heidelberg 2003 [im Druck]. - Heinz-Dieter Weber (Hg.): Rezeptionsgeschichte oder Wirkungsästhetik. Konstanz 1978. Helmut

Pfeiffer

Rezeptionsästhetik Theorie, Analyse und Geschichte der Beziehungen zwischen Text und Leser. Expl: Gegenstand rezeptionsästhetischer Untersuchungen ist die Beziehung von

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Rezeptionsästhetik

? Text und ^ Leser als ein Interaktionsverhältnis. Thematisiert werden damit zum einen Textstrukturen und -Strategien, die eine Funktion der Leserlenkung besitzen, zum anderen der ,Akt des Lesens' (Iser) als ein aktives Moment in der Konstitution des ästhetischen Gegenstandes bzw. sein Niederschlag in spezifischen historischen Praktiken des Lesens, ihrer sozialen Funktion und Normierung. Poetologisch und theoriegeschichtlich steht die Rezeptionsästhetik damit einerseits der Werkästhetik (/* Werk) gegenüber, andererseits auch der ? Produktionsästhetik und Darstellungsästhetik als den in der Geschichte von /" Ästhetik und ? Poetik dominierenden Paradigmen poetologischer Reflexion. Als Theorie der Text-Leser-Interaktion ist Rezeptionsästhetik sowohl Texttheorie als auch Theorie der Rezeption. Sie impliziert die Beschreibung des Textes als einer auf ,Konkretisation' angelegten Struktur, und sie macht Rezeptionsprozesse analytisch beschreibbar im Rekurs auf v. a. phänomenologische, hermeneutische, später auch kybernetische Modelle (/" Information, ? Kommunikationstheorie). Mit der Analyse historischer Rezeptionsprozesse öffnet sich die Rezeptionsästhetik für soziologische Fragestellungen insbesondere der Wissenssoziologie und der ? Systemtheorie. Zu unterscheiden ist Rezeptionsästhetik von der empirischen Rezeptionsforschung, die (unter psychologischen oder soziologischen Voraussetzungen) Prozesse der Rezeption von Texten und anderen Kunstwerken untersucht, ohne ein eigenes Modell des ästhetischen Gegenstandes als Ergebnis der TextLeser-Interaktion zu besitzen. Forschungsgeschichtlich ist die Rezeptionsästhetik insbesondere auch durch Arbeiten zur Rezeptionsgeschichte und damit zur historischen Sinnentfaltung von Textstrukturen hervorgetreten. Der Begriff des ERWARTUNGSHORIZONTS, d. h. der die Rezeption steuernden literarischen, sprachlich-semantischen und lebensweltlichen Erfahrungen (Normen), dient dabei als Instrument der Analyse historischer Leserdispositionen (ζ. B. Kablitz 1985), die auf entsprechende Codierungen des Textes reagieren. Die durch ein literarisches Werk in dessen Rezeption hervorgeru-

fene Veränderung des Erwartungshorizonts wird mit dem aus der Philosophie Husserls entliehenen Begriff des HORIZONTWANDELS bezeichnet (Jauß 1970, 178), wobei ein enger Anschluß an Gadamers Hermeneutik und dessen Begriff der Wirkungsgeschichte gesucht wird (ebd., 185). Einen zumindest latent auch normativen Charakter hat die Rezeptionsästhetik durch die Bestimmung des ästhetischen Ranges eines Kunstwerks gemäß dem Grad der Durchbrechung des jeweiligen Erwartungshorizonts, wodurch es als nicht bloß affirmativ erscheint (Jauß 1970). WortG: Der Ausdruck kombiniert das ursprünglich in der mittelalterlichen Theologie und in der Jurisprudenz beheimatete Wort receptio (S Rezeption) mit einem Begriff der f Ästhetik, dem sein ursprünglicher Wortsinn von αϊσϋησις [aisthesis] .Wahrnehmung' wiedergewonnen werden soll. Als literaturwissenschaftliches Programmwort tritt Rezeptionsästhetik seit Jauß 1967 auf. BegrG: Die Rezeptionsästhetik erhebt zunächst das Postulat einer Erneuerung der Literaturgeschichte durch die Einbeziehung der Text-Leser-Interaktion. Fast gleichzeitig werden — später unter dem Titel einer ,Theorie literarischer Wirkung' ausgearbeitet — die Konturen einer Theorie der /" Appellstruktur (Iser 1970) literarischer Texte vorgelegt, die das Konzept des .impliziten Lesers' entfaltet (Iser 1972). Seit Ende der 1980er Jahre läßt sich beobachten, daß der Begriff der Rezeption seine forschungsstrategische Prominenz allmählich einbüßt. Das Konzept der Rezeptionsästhetik profiliert sich aus dem Gegensatz zum „geschlossenen Kreis einer Produktions- und Darstellungsästhetik" (Jauß 1970, 168). Diese Perspektive erlaubt es der Rezeptionsästhetik auch, sich als einen Paradigmenwechsel der Literaturwissenschaft zu verstehen. Letztere verkörpert, auch und gerade in ihrer strukturalistischen Ausprägung, aus der Perspektive der Rezeptionsästhetik einen historischen Objektivismus, der das literarische Faktum um seine geschichtliche Dimension der Wirkung und der Rezeption verkürzt. Dabei benennt für die Re-

Rezeptionsästhetik zeptionsästhetik Wirkung „das vom Text bedingte, Rezeption das vom Adressaten bedingte Element der Konkretisation und Traditionsbildung" (Jauß 1982, 738). Die Rehabilitation der Literaturgeschichte ist insofern eine ,Provokation' der Literaturwissenschaft, als sie der Geschichte der Texte und Gattungen eine dynamische Relation von /" Norm (lebensweltlicher und literarischer Erwartungshorizont) und Innovation (s Abweichung als Überschreitung ästhetischer und lebensweltlicher Normen; ? Originalität) wiedergewinnen will, die den ästhetischen Gegenständen ihren objektivistischen Artefaktcharakter zu nehmen beansprucht. ForschG: Rezeptionsästhetik entsteht aus der philologischen Praxis selbst, möchte allerdings deren Theoriedefizit beheben. Sie wird vorbereitet in materialen Arbeiten zur Literaturgeschichte — von Untersuchungen zur mittelalterlichen Tierdichtung' (Jauß 1959) bis zu ,Der implizite Leser' (Iser 1972; die Einzelaufsätze datieren meist aus den 1960er Jahren) —, die grundsätzliche Perspektiven späterer Wirkungs- und Rezeptionsästhetik eröffnen: die Bedeutung des lebensweltlichen wie des literarischen Erwartungshorizonts, die Codierung von Erwartungen im Text, den Ereignischarakter des normüberschreitenden oder normbrechenden Werks, die offene, durch »Leerstellen' charakterisierte Struktur des literarischen Kunstwerks vor allem der Moderne, die Strategien der Leserlenkung. Theoriegeschichtlich schließt die Rezeptionsästhetik insbesondere an zwei Traditionen an: (1) den Russischen /" Formalismus (R. Jakobson, V. Sklovskij, J. Tynjanov u. a.) mit seiner Opposition von poetischer und praktischer Sprache (s Poetizität) dem Gegensatz von automatisierter Wahrnehmung und Verfremdung2, der Theorie der literarischen /" Evolution als Abfolge von Systemen, schließlich der Lehre von der Spürbarkeit der Form und der Aufdeckung des ? Verfahrens; (2) den Prager ? Strukturalismus (J. Mukarovsky, F. Vodicka) mit seiner Unterscheidung von ästhetischer und praktischer Funktion (s Poetische Funktion), der Differenz von materiellem s Arte-

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fakt und ästhetischem Objekt, der Entfaltung des Begriffs der KONKRETISATION als historische Abfolge je unterschiedlich konstituierter ästhetischer Objekte, schließlich der Einführung der Instanz des Kritikers als des Entwicklungsträgers der ästhetischen Norm. Das Verhältnis zur funktionalistischen Systemtheorie und zur Wissenssoziologie ist in den 1970er Jahren ein vielbehandeltes Thema. In den 1980er Jahren wird die Auseinandersetzung mit der Diskursgeschichte (Foucault) und dem Dekonstruktivismus (Derrida, de Man), schließlich mit dem /" New Historicism (Jauß 1990) geführt. Die Korrelativität von Textstruktur und Rezeptionsakt erfordert eine Reflexion auf die Struktur des Leserbewußtseins, die vorrangig auf phänomenologische Begründungsdiskurse (E. Husserl, R. Ingarden, M. Merleau-Ponty) zurückgreift. Die historische (.wirkungsgeschichtliche') Entfaltung des Textsinns in der Aktualisierung des Textes vor dem Hintergrund wechselnder Erwartungshorizonte stützt sich vorrangig auf hermeneutische Vorgaben (H.-G. Gadamer, P. Ricoeur; /" Hermeneutik2). Die Geschichte der Rezeptionsästhetik beginnt mit Programmskizzen (Jauß 1970, zuerst 1967; Iser 1970), durch die ein Prozeß der Kanonisierung eröffnet wird, der es der Rezeptionsästhetik erlaubt, sich als Konvergenzpunkt verwandter theoretischer und methodischer Bemühungen (Warning 1975) auch in internationalen Kontexten (v. a. M. Riffaterre, S. Fish) zu begreifen. Divergierende Entwicklungstendenzen werden verstärkt durch die seit den 1980er Jahren von verschiedenen Seiten formulierte Kritik, wobei vor allem die dekonstruktivistische Kritik (/" Dekonstruktion) an den hermeneutischen Prämissen der Rezeptionsästhetik von Belang war (aber auch die von Barthes 1973 vorgeschlagene Unterscheidung von ,plaisir' und jouissance' führt zu einer Infragestellung des Sinnbegriffs). Während einerseits rezeptionsgeschichtliche Untersuchungen Forschungskonjunktur gewinnen, werden andererseits unterschiedliche theoretische Anschlußoptionen ausgearbeitet: einerseits eine hermeneutisch orientierte Geschichte der ästhetischen Erfahrung, in der die Geschichte der Künste und

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Rezeptionsforschung

ihrer Reflexion selbst zum Horizont einer Erhellung der Funktionen des Ästhetischen wird; andererseits eine Theorie literarischer Fiktion und ihres unter dem Titel des Imaginären entfalteten Korrelats, beides in einem Entwurf /" Literarischer Anthropologie zusammengeführt.

Expl: (1) Ohne einen spezifischen Theoriebezug bezeichnet Rezeptionsforschung in der Literaturwissenschaft traditionell einen Gegenstands- bzw. Problembereich, und zwar in einem relativ weiten Verständnis die Rezeptionsgeschichte (/" Rezeption), die insbesondere auch die Forschung zur /" Wirkung literarischer Texte, Autoren etc. mit Lit: Roland Barthes: Le plaisir du texte. Paris einbezieht. (2) Ein spezifischeres Verständ1973. - Umberto Eco: L'opera aperta. Mailand 1982. — Manfred Fuhrmann u. a. (Hg.): Text und nis hat sich im theoretischen Rahmen der Rezeptionsästhetik entwickelt, innerhalb Applikation. München 1981. - Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode. Tübingen 1960. dessen der f Bedeutungsaufbau des literari— Robert C. Holub: Reception theory. London schen Textes als Interaktion von Text und 1984. - R. C. H.: Crossing borders. Reception Leser im Mittelpunkt steht; dabei akzentheory, poststructuralism, deconstruction. Madituiert die hermeneutische Rezeptionsforson 1992. - Wolfgang Iser: Die Appellstruktur schung auf der Seite des Textfaktors die vom der Texte. Konstanz 1970. - W. I.: Der implizite Autor betriebene Rezeptionslenkung (ImpliLeser. München 1972. - W. I.: Der Akt des Leziter Leser, f Appellstruktur), auf der Lesersens. München 1976. — W. I.: Das Fiktive und seite die (sozial)historischen Rezeptionsbedas Imaginäre. Frankfurt 1991. - Hans Robert dingungen (Erwartungshorizont, s RezepJauß: Untersuchungen zur mittelalterlichen Tierdichtung. Tübingen 1959. — H. R. J.: Ästhetische tionsästhetik). (3) Die empirische RezepNormen und geschichtliche Reflexion in der tionsforschung (/" Empirische Literaturwis,Querelle des Anciens et des Modernes'. Mün- senschaft) geht von der systematischen Erhechen 1964. - H. R. J.: Literaturgeschichte als bung individueller BedeutungskonstituieProvokation der Literaturwissenschaft. Konstanz rungen aus, thematisiert dabei vor allem die 1967. - H. R. J.: Literaturgeschichte als Provokognitive Konstruktivität des Lesers und kation. Frankfurt 1970. - H. R. J.: Ästhetische deren Möglichkeiten wie Grenzen, die Erfahrung und literarische Hermeneutik. Frankfurt 1982. - H. R. J.: Alter Wein in neuen durch den Text-Faktor bzw. individuelle Schläuchen? Bemerkungen zum ,New Historiund soziale Leserbedingungen bestimmt cism'. In: Lendemains 60 (1990), S. 26-38. werden (/" Literaturpsychologie, S LiteraAndreas Kablitz: Alphonse de Lamartines Méditursoziologie). tations Poétiques'. Untersuchungen zur Bedeutungskonstitution im Widerstreit von Lesererwartung und Textstruktur. Stuttgart 1985. — Walter A. Koch (Hg.): Textsemiotik und strukturelle Rezeptionstheorie. Hildesheim, New York 1976. - Eckhard Lobsien: Theorie literarischer Illusionsbildung. Stuttgart 1975. - José Antonio Mayoral: Estética de la recepción. Madrid 1987. - Jan Mukarovsky: Kapitel aus der Ästhetik. Frankfurt 1970. - Paul Ricoeur: Le conflit des interprétations. Paris 1969.- Felix Vodicka: Die Struktur der literarischen Entwicklung. München 1976. — Rainer Warning (Hg.): Rezeptionsästhetik. München 1975.

Helmut Pfeiffer

Rezeptionsforschung An den Leserbedingungen orientierte empirische Untersuchung der Bedeutungskonstitution literarischer Texte.

WortG:

Rezeption.

BegrG: Russischer /" Formalismus und tschechischer s Strukturalismus gelten als Vorläufer für die Rezeptionsästhetik, die unter der spezielleren Perspektive der Rezeptionsforschung mit der Untersuchung der ,Konkretisation' und der Unbestimmtheitssteilen (y Leerstelle) vor allem auch die Phänomenologische Literaturwissenschaft seit Ingarden fortführt. ,Rezeptionsforschung' wurde zunächst im Rahmen der Rezeptionsästhetik weitgehend als Rezeptionsgeschichte aufgefaßt (vgl. Grimm 1975; 1977; Stückrath 1978). Die rezeptionsästhetische Forschungspraxis erwies sich jedoch als stark textorientiert (vgl. Impliziter Leser, s Appellstruktur), so daß der Rezeptionsspielraum vornehmlich über die historische Perspektive in den Blick kam (Link 1976). In Abhebung davon

Rezeptionsforschung thematisiert die empirische Rezeptionsforschung vor allem die (aktuelle) kognitive Aktivität des Lesers bei der Bedeutungskonstitution und deren systematische Erhebung (vgl. Heuermann u.a. 1975). Rezeptionsforschung stellt dabei einen Teilbereich und eine paradigmatische Struktur für die Empirische Literaturwissenschaft dar (Groeben 1977). Die Konkurrenz zwischen hermeneutischer und empiriewissenschaftlicher Tradition der Rezeptionsforschung (ζ. B. bezüglich Rezeption/Interpretation: Labroisse 1974; Groeben 1981) bestimmt zumindest methodologisch die Entwicklung (/" Methodologie), wenn auch kaum eine aufeinander bezogene Auseinandersetzung (Holub 1984; Beilfuß 1987). SachG/ForschG: Rezeptionsästhetik und empirische Rezeptionsforschung teilen als gemeinsame Voraussetzung die aus der Sprachpsychologie stammende These, daß der Leser bei der Rezeption von Texten nicht nur Information aufnimmt, sondern auch aktiv-konstruktiv schafft (Hörmann 1976); daß dieses generelle Phänomen für literarische Texte in verstärktem Ausmaß gilt, war die erste und mittlerweile eindeutig positiv beantwortete Problemfrage der empirischen Rezeptionsforschung (zusammenfassend ViehofT 1988). Das ist mit darauf zurückzuführen, daß für die literarische Textrezeption von den Lesern/Leserinnen selbst die ,Polyvalenz-Konvention' (Schmidt 1980; / Ambiguität) angesetzt wird, deren (starke bzw. schwache) Geltung mittlerweile ebenfalls als bewährt akzeptiert werden kann (zusammenfassend Groeben/ Schreier 1992). Überhaupt hat die empirische Rezeptionsforschung zunächst stark die (Rezeptions-) Bedingungen auf der Leserseite akzentuiert, von der altersbedingten Rezeptionskompetenz (Andringa 1984) über Intelligenz und Lesefertigkeit (Baurmann 1980; Heuermann u. a. 1982), die motivationale .Projektion' der eigenen Probleme und Komplexe (vgl. das psychoanalytische Rezeptionsmodell von Holland 1975) bis zu Einstellungen (Dogmatismus: Schräm 1991) und Wissen über einzelne literarische Genres (Burgert u.a. 1989). Zunehmend wird

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allerdings auch der Text-Faktor berücksichtigt, um zu einer differenzierten Modellierung der Text-Leser-Interaktion zu gelangen, sei es in bezug auf einzelne (in der hermeneutischen Literaturtheorie herausgearbeitete) Strukturaspekte (wie die Erversus Ich-Erzählform: Ludwig/Faulstich 1985) oder komplexere (formale) Äquivalenzen, Abweichungen und Mehrdeutigkeiten (Hoffstaedter 1986), für deren Rezeptionsrelevanz van Peer (1986) ein Modell des ,Foregrounding' vorgelegt hat, bis hin zu dem Wechselspiel von Inhalts- und Formalaspekten (ζ. B. Gewaltinhalte und repetitive' Strukturierung, die in Serien von empirischen Untersuchungen geklärt wurden: Martindale 1988). Die Verbindung dieser Forschungsperspektiven ζ. B. mit sozialhistorischen Ansätzen der Literaturwissenschaft bietet sich an, steht aber noch weitgehend aus (Groeben/Landwehr 1991). Lit: Els Andringa: Developments in literary readings. In: Siegener Periodicum zur Internationalen Empirischen Literaturwissenschaft [SPIEL] з.1 (1984), S. 1 - 2 4 . - Jürgen Baurmann: Textrezeption und Schule. Stuttgart 1980. - Wilfried Beilfuß: Der literarische Rezeptionsprozeß. Frankfurt u.a. 1987. — Martin Burgert u.a.: Strukturen deklarativen Wissens — Untersuchungen zu ,Märchen' und ,Krimi'. Siegen 1989. — Gunter Grimm (Hg.): Literatur und Leser. Theorien und Modelle zur Rezeption literarischer Werke. Stuttgart 1975. - G. G.: Rezeptionsgeschichte. München 1977. — Norbert Groeben: Rezeptionsforschung als empirische Literaturwissenschaft. Kronberg/Ts. 1977. - N. G. (Hg.): Rezeption und Interpretation. Tübingen 1981. - N. G., Jürgen Landwehr: Empirische Literaturpsychologie (1980-1990) und die Sozialgeschichte der Literatur: ein problemstrukturierender Überblick. In: IASL 16.2 (1991), S. 143-235. - N. G., Margrit Schreier: The hypothesis of the polyvalence convention: A systematic survey of the research development from a historical perspective. In: Poetics 21 (1992), S. 5 - 3 2 . - Hartmut Heuermann и. a. (Hg.): Literarische Rezeption. Paderborn 1975. - H. H. u. a.: Werkstruktur und Rezeptionsverhalten. Göttingen 1982. - Hans Hörmann: Meinen und Verstehen. Frankfurt 1976. Petra Hoffstaedter: Poetizität aus der Sicht des Lesers. Hamburg 1986. — Norman N. Holland: 5 readers reading. New Haven, London 1975. Robert C. Holub: Reception theory. New York, London 1984. - Elrud Ibsch, Dick H. Schräm (Hg.): Rezeptionsforschung zwischen Hermeneu-

290

Rhi

tik und Empirik. Amsterdam 1987. - Roman Ingarden: Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks. Tübingen, Darmstadt 1968. — Gerd Labroisse (Hg.): Rezeption - Interpretation. Amsterdam 1974 [= Amsterdamer Beiträge zur Neueren Germanistik 3]. - Hannelore Link: Rezeptionsforschung. Stuttgart u. a. 1976. - HansWerner Ludwig, Werner Faulstich: Erzählperspektive empirisch. Untersuchungen zur Rezeptionsrelevanz narrativer Strukturen. Tübingen 1985. - Colin Martindale (Hg.): Psychological approaches to the study of literary narratives. Hamburg 1988. — Willie van Peer: Stylistics and psychology: Investigations of foregrounding. London 1986. - Siegfried J. Schmidt: Grundriß der empirischen Literaturwissenschaft. Bd. 1. Braunschweig, Wiesbaden 1980. - Dick H. Schräm: Norm und Normbrechung. Braunschweig 1991. - Jörn Stückrath: Historische Rezeptionsforschung. Stuttgart 1978. — Reinhold Viehoff: Literarisches Verstehen. Neuere Ansätze und Ergebnisse empirischer Forschung. In: IASL 13.1 (1988), S. 1 - 3 9 .

Norbert Groeben

Rezeptionsgeschichte ? Rezeption Rezitation /" Deklamation Rezitativ ? Arie Rhapsode

Sänger

Rhetorik Operationalisierte Fertigkeit wirkungsvollen Redens. Expl: Die Rhetorik erfaßt vorrangig sprachliche Äußerungen — schriftliche wie mündliche — unter der Perspektive des Wirkungsbezugs (PERSUASIO). Sie bezeichnet die auf die Regulierung von Praxis gerichtete Doktrin und zugleich mit ihr die reflektierte Praxis selbst, ist also der Theorie-Praxis-Dichotomie vorgelagert. (1) Folgende Verwendungszusammenhänge lassen sich unterscheiden: (a) Rhetorik als Kunst des wirkungsvollen Redens einschließlich der produktionsorientierten Reflexion darüber; (b) Rhetorik als Unter-

richtsdisziplin bezieht sich auf die institutionalisierte Seite dieser Kunstlehre; metonymisch abgeleitet wird Rhetorik auch als Bezeichnung für einen Lehrbuch-Typus verwendet; (c) als Rhetorik eines Textes (oder — in metaphorischer Verwendung — Rhetorik eines Bildes) bezeichnet man seine spezifische Konstitution (im Sinne des Wirkungsbezugs oder im Sinne einer bestimmten stilistisch-strukturellen Gestaltung); hier sollte besser von Rhetorizität gesprochen werden; (d),Rhetorizität' (rhetoricity) wird im Theoriekontext der /" Dekonstruktion als grundlegende Eigenschaft von Sprache und Texten generell angenommen; Sprache wird dabei als notwendig figurai bzw. metaphorisch und damit ,rhetorisch' (s Metapher) angesehen. (2) Idealtypisch läßt sich ein rhetorisches System' konstruieren, das die Produktion einer (öffentlichen) Rede und dann von Texten überhaupt bestimmt: (a) Ausgehend von drei archetypischen Redesituationen werden drei Anlaßtypen (genera causarum) angesetzt, die den Gattungen der Gerichtsrede, der politischen Entscheidungsrede und der Lobrede zugeordnet werden (s Rede2). (b) Die status-Lehre befaßt sich mit den spezifischen argumentativen Prämissen der (Gerichts-) Rede bzw. dem juristischen Sachverhalt, von dem sie ausgeht, (c) Im Bezug auf das Publikum des Redners werden die Wirkungsintentionen bestimmt — differenziert nach intellektueller (docere, ? Belehrung·, probare ,beweisen') oder emotionaler Beeinflussung (MOVERE, vgl. /" Rührung, /·" Pathos', delectare .erfreuen', vgl. /" Unterhaltung!), (d) Kern des Systems der klassischen Rhetorik ist die Anleitung zum Herstellen einer Rede in fünf Bearbeitungsphasen ( o f f i c i a oratoris ,Aufgaben des Redners'): vom Auffinden der Argumente und Gedanken (/* Inventio) gemäß spezifischen Techniken ( / Topik) und der Herstellung einer argumentativen Tiefenstruktur über die sachgerechte Anordnung (s Dispostilo) hin zur sprachlichen ,Einkleidung' (/" Elocutio) und schließlich dem Sich-Einprägen (/" Memoria) als Voraussetzung einer effektiven Präsentation (Actio/Pronuntiatio, S Rede2\ vgl. /" Mimik), (e) Als Textgebilde betrachtet, muß die Rede bestimmte

Rhetorik Teile (partes orationis) aufweisen (s Dispostilo)·, dazu gehören u.a. Exordium (Redeanfang; mit der Aufgabe, das Wohlwollen des Zuhörers zu gewinnen: Captatio benevolentiae, s Dispositio), Narrado (Darlegung des Sachverhalts), s Argumentatio und die Peroratio (Redeschluß). (f) Normativ gesetzt werden bestimmte Textqualitäten (,Dreistillehre', ? Genera dicendi), zu denen die Situations- und Sachangemessenheit (/" Aptum) ebenso gehört wie die verschiedenen normativen ^ Stilprinzipien, (g) Ohne feste Systemstelle sind die Anforderungen an die Person des Redners: Begabung (natura bzw. ingenium, s Genie)·, Urteilsfähigkeit (iudicium), die — bei einem Wechsel von der Produktionsorientierung zur Rezeptionsorientierung — später in den f Geschmacks-Begriff eingeht; seine Ausbildung (ars) und nicht zuletzt seine moralischen Qualitäten (Ideal des vir bonus). (3) Schließlich ist die Position der Rhetorik im kulturellen System zu berücksichtigen: (a) Seit ihren Anfangen integriert die Rhetorik psychologisches und anthropologisches Wissen, das vor allem für die Kalkulation der Wirkung von Bedeutung ist (s Affektenlehre), (b) Ebenfalls seit ihrer Entstehung ist die Rhetorik dem Verdacht der instrumenteilen Verfügbarkeit und dem Manipulationsvorwurf ausgesetzt, womit sich die Frage nach dem Verhältnis von Rhetorik und Ethik stellt. Verschiedene Abwertungswellen gehören in diesen Kontext: von der empfindsamen Rhetorik-Kritik bis hin zur Konfrontation des Machtinstruments Rhetorik mit dem ,herrschaftsfreien Diskurs' in der kritischen Theorie der Gegenwart (Habermas), (c) Als UnterrichtsDisziplin ist die Rhetorik auf verschiedene institutionelle und soziale Felder bezogen (Fürstenhof, Parlament, Schule/Universität u. a.), die ihre Lehrinhalte beeinflussen. Als Bildungs- und Sozialisationsinstanz prägt sie insbesondere in der Frühen Neuzeit das Standesbewußtsein des Gelehrtenstandes. Die „Synopse von Staatsverfassung und Beredsamkeit" (Barner, 163) ist für die Rhetorikgeschichte grundlegend, (d) Das Verhältnis von Rhetorik und /" Poetik wird selten als Gegensatz betrachtet. Vielmehr ruht die Poetik bis zur Etablierung der s Ästhetik

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im 18. Jh. auf der Basis der rhetorischen Systemvorgaben auf. Zumeist wird die Poetik als ein System zusätzlicher Restriktionen und / Abweichungs-Kegeln aufgefaßt. (e) Als Texttheorie verstanden, steht die Rhetorik auch in Beziehungen zur s Literaturwissenschaft. Im Sinne der literarischen Rhetorik (Lausberg) werden vor allem die stilistischen (auch die dispositionellen) Dimensionen der Anweisungsrhetorik dann als Instrumentarium der Textbeschreibung und Textanalyse (auch zur Analyse von /" Gebrauchstexten) eingesetzt, (f) Im Kontext der Dekonstruktion (de Man) wird Rhetorik für die literaturwissenschaftliche Praxis konstitutiv, indem sie ein Instrumentarium bereitstellt, das es erlaubt zu zeigen, wie literarische und philosophische Texte durch ihre performative Macht zugleich ihre Inhalte und Deklarationen unterminieren. WortG: Das griech. Substantiv ρητορική [rhetoriké (téchne)] .rednerisch' — abgeleitet vom griech. ρήτωρ [rhétor] .Redner' — taucht zuerst in Piatons ,Phaidros' (266d) auf. Im terminologischen Sinne als Fremdwort findet es sich èrst seit Quintilian in lat. Quellen (2,17,5; 2,20,7 u.ö.); im Lat. wird ratio dicendi (,Rhetorica ad Herennium', 1) oder ars bene dicendi (Quintilian 2,17,37) verwendet. Römische Lehrbücher differenzieren zwischen dem orator (.Redner') und dem rhetor (,Redelehrer'; z. B. Cicero: ,De inventione' 1,7). In der 1. Hälfte des 13. Jhs. wird (ars) rhetorica aus dem Lat. ins Mhd. entlehnt. Bis ins 19. Jh. wird das Wort zumeist in der lat. flektierten Form verwendet, vielfach auch in den Varianten Rhetorice, Rhetorick, Rethoric (Schulz-Basler 3, 444). Seither ist Rhetorik völlig eingedeutscht. Im Dt. sind seit dem Beginn des 17. Jhs. verschiedene Übersetzungen belegt, so etwa RednerLehr (Radtke 1619; Knape/Sieber, 78) oder das im 18. Jh. gebräuchliche Redekunst (schon Meyfart 1634; DWb 14, 462). Parallel dazu kommt Beredsamkeit für die rein praktische Fertigkeit des Redners (lat. eloquentiä) auf (DWb 1, 1494). Joachim Knape, Armin Sieber: Rhetorik-Vokabular zur zweisprachigen Terminologie in älteren deutschen Rhetoriken. Wiesbaden 1998. — Johann Matthäus Meyfart: Teutsche Rhetorica oder Redekunst [1634]. Repr. Tübingen 1977.

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Rhetorik

BegrG/SachG: Die Geschichte der Rhetorik zeigt die Dynamik eines in Grenzen wandlungsfahigen Systems, das immer wieder mit Provokationen konfrontiert ist; sie führen zur Erosion und schließlich zu seiner Auflösung. Die Sizilianer Korax und Teisias formulieren im 5. Jh. v. Chr. eine Theorie der Rhetorik (Piaton: ,Phaidros' 273a—c; Aristoteles: ,Rhetorik' 1402a). Der Sophist Gorgias definiert die Rhetorik als Meisterin der Überredung' (vgl. Piaton: ,Gorgias' 453a; vgl. ,Philebos' 58a-b) und wird zum ersten Rhetoriklehrer (wichtig sein ,Lob der Helena'). Die Ausrichtung der Sophisten am .Wahrscheinlichen' (eikös) — statt an der Wahrheit — wurde von Piaton im ,Gorgias' und ,Phaidros' bekämpft: die wirkungsvolle Rede bestehe in der .Seelenführung' (psychagogia\ ,Phaidros' 261a), wozu der Redner über umfassende philosophische Kenntnisse verfügen müsse (270a—272b). Sophisten wie Piatons Gegenspieler Isokrates vertreten durchaus die Ansicht, daß die Fähigkeit zu reden als Teil eines ethischen Bildungskonzeptes an der Lebenswirklichkeit ausgerichtet sein müsse. Ein erstes Rhetoriklehrbuch, die Rhetorik an Alexander', stammt wahrscheinlich von Anaximenes (4. Jh.). Aristoteles bestimmt die Rhetorik als korrespondierendes Seitenstück zur Dialektik (,Rhetorik' 1354a) und integriert sie in die Philosophie. Rhetorik wird aus dieser argumentationslogischen Sicht ethisch neutral bestimmt als ,Fähigkeit, an jedem Gegenstand das zu erkennen, was er an Überzeugungskraft hat' (1355b). Die drei Bücher seiner ,Rhetorik' formulieren die Lehre von den drei Überzeugungsmitteln der Rede (ethos, pathos, logos; 1356a) und den drei Gattungen der Rede (1358b; / Rede2). Die römische Beredsamkeit ist zunächst von einer zwiespältigen Haltung gegenüber der durch griechische Redelehrer vertretenen Rhetorik gekennzeichnet. Charakteristisch ist der ältere Cato mit seinen Sentenzen ,vir bonus, dicendi peritus' (,ein rechtschaffener Mann, des Redens kundig', überliefert bei Seneca: ,Controversiae' 1, praef. 9 und Quintilian 12,1,1) und ,rem

tene, verba sequentur' (,Halte dich an die Sache, dann werden sich die Worte schon einstellen'). Um 100 v. Chr. ist in Rom die zunächst gänzlich griechisch geprägte Rhetorik vollständig etabliert (erstes lateinisches Lehrbuch ist die anonyme .Rhetorica ad Herennium', um 84 v. Chr.). Die zentrale Gestalt der späten Republik - als Redner wie als Rhetorik-Theoretiker — ist Cicero. Sein Jugendwerk ,De inventione' (um 90 v. Chr.) präsentiert die gängige schulrhetorische Doktrin. Der ,Brutus' (44 v. Chr.) bietet eine Geschichte der Beredsamkeit (mit Cicero als Abschluß), der ,Orator' (44 ν. Chr.) bezieht Stellung im Streit um Asianismus und /" Attizismus. Zentral ist der Dialog ,De oratore' (um 55 v. Chr.), in dem Cicero die Vorstellung eines ,idealen Redners' (orator perfectus, 1,63 f.; vgl. Quintilian 1,10,4 f.; 2,15,33) entwirft, der als Staatsmann praktische Philosophie und Rhetorik verbindet. Cicero hält dabei Distanz zur Schulrhetorik (2,114-290). Im Kaiserreich wird die Rhetorik - und für den Absolutismus im Europa der Frühen Neuzeit wiederum modellhaft — einer Umorientierung unterzogen. Im Verwaltungsapparat des Prinzipats, in der Außenpolitik des Reiches und vor allem im Bildungswesen (/" Deklamationen im Rhetorikunterricht, rhetorische Figurenlehre im Grammatikunterricht) bestand weiterhin Bedarf an Rhetorik. Die ,Lobrede' (s Panegyrikus) wurde von ,Konzertrednern' als Schauspiel präsentiert, so daß sich der auch von den Zeitgenossen (Quintilian; Tacitus: ,Dialogus de oratoribus') beklagte Untergang der Rhetorik eher als Verschiebung innerhalb des rhetorischen Gattungssystems (von der Gerichtsrede zur Lobrede) und von der Mündlicheit (/" Oralität; Kennedy 1999, 128 f.) zur Schriftlichkeit erklären läßt. Quintilian wird erster Rhetorik-Professor; seine ,Institutio oratoria' (um 95 n. Chr.) zieht die Summe der antiken Rhetorik und setzt sie über die Philosophie (1 pr. 1 —17 u. ö.). Die originellste Schrift der hellenistischen Rhetorik-Theorie ist ,Peri hypsoús' (,De sublimitate': ,Vom Erhabenen') des Pseudo-Longinos (1. Jh.

Rhetorik η. Chr), die eine alle Normen überschreitende Qualität des / Erhabenen postuliert. Das Christentum begegnet der paganen Rhetorik ambivalent. Der Bibel wird wegen ihrer Abweichung vom Stilideal des Ciceronianismus eine besondere ethische und heilsgeschichtliche Dignität zugeschrieben (vgl. Shuger). Dennoch sind die Funktionseliten des frühen Christentums durch die Rhetorik sozialisiert. Augustinus propagiert im vierten Buch von ,De doctrina Christiana' (426/427) wirkmächtig eine Symbiose von ciceronischer Rhetorik und Christentum (s Predigt). Für das Mittelalter sind zunächst die enzyklopädischen Werke (/* Enzyklopädie) eines Cassiodor, Martianus Capella und Isidor zentral; sie ordnen das antike Gedankengut in das Bildungssystem der sieben Artes liberales ein. Daneben wirken Ciceros ,De inventione' (als ,rhetorica vetus'), die ,Rhetorica ad Herennium' (als ,rhetorica nova') zusammen mit Grammatikern wie Donat weiter. Rhetorische Theoriesplitter finden Eingang in die Lehre von der s Ars dictaminis und die Predigttheorie (,ars praedicandi'); erstere bildet bis weit in die Frühe Neuzeit hinein einen eigenständigen Sektor rhetorischer Theorie und Praxis (Kanzleirhetorik; z1 Formularbuch·, s Brief, s Briefsteller). Die mittelalterliche Dichtungslehre (,ars poetriae') knüpft unter anderem an die Figuren- und Tropenlehre an (/" Ornatus). Die Wiederentdeckung des Quintilian durch Poggio 1416 markiert eine neue Hinwendung zu den antiken Referenztexten. Um 1433/34 legt Georg von Trapezunt die erste vollständige Rhetorik der Neuzeit vor (,Rhetoricorum libri quinqué', Erstdruck Venedig 1470); die erste deutschsprachige Gesamtrhetorik ist Friedrich Riederers ,Spiegel der waren Rhetoric' (1493). In schneller Folge erscheinen seit dem Ende des 15. Jhs. Rhetoriken (etwa Melanchthons ,Elementa rhetorices', 1531), die Teil der humanistischen Gelehrtenkultur sind. Die Fixierung auf Latinität, die Nachahmung (s Imitatio) eines engen Kanons ,ciceronianischer' Autoren und die weitgehende Übernahme der klassischen Doktrin prägt diese Werke. Im Späthumanismus des

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ausgehenden 16. Jhs. wird die Frage nach dem praktischen Nutzen der antiken Theorie im ,,gemeine[n] Leben" (Barner, 150) virulent. Die am Ideal des Republikaners Ciceros orientierte Rhetorik erscheint unter den Bedingungen des entstehenden Absolutismus anachronistisch; vermittelt über den Topos von der ,similitudo temporum' (Epochen-Analogie) greifen die Theoretiker verstärkt auf kaiserzeitliche Autoren zurück. Die Stilnormen wenden sich vom Ciceronianismus ab; man propagiert einen ,kurzen' und ,nervösen' Stil (Tacitismus, s Attizismus) für die unter Zeitknappheit stehenden Redeanlässe am Hof. Das Gattungsspektrum wird in den Rhetoriken des 17. Jhs. um eine Vielzahl von sozial relevanten Redetypen erweitert (unter anderem den s Brief). Die höfische Rhetorik Höfische Verhaltenslehre; ? Unterhaltung2) steht damit vielfach in Distanz zu der als pedantisch qualifizierten lateinischen ,Schulrhetorik'. Daneben ist die ? Poetik des 17. Jhs. ganz auf rhetorischem Fundament gebaut (Dyck). Daß ein Gedicht (oratio ligata) sich allerdings nicht nur durch Verifikation (y Prosodie) und metrische Gebundenheit von der Prosarede (oratio soluta) abhebt, betont schon Opitz durch Rekurs auf den enthusiasmôs (y Inspiration) des Dichters (Till). Im 17. Jh. wirken die Strömungen der lateinischen Schulrhetorik (Vossius, Dieterich u.a.), der Kanzleirhetorik (Stieler, Harsdörffer) und der praktischen Hofrhetorik weiter, wobei scharfe Abgrenzungen vielfach schwierig sind. Meyfart publiziert 1634 seine ganz auf Figuren- und actio-Lehre r e stringierte' (Genette) ,Teutsche Rhetorica', welche im 17. Jh. den Beginn einer volkssprachlichen Rhetorik markiert. Das Werk Christian Weises stellt eine Synthese zwischen Gelehrten- und Hofrhetorik dar (.Politischer Redner', '1677 u.a.). Im Gefolge des Cartesianismus gerät nach der Mitte des 17. Jhs. zuerst die Topik in Mißkredit (A. Arnauld/P. Nicole: ,L'art de penser', '1662), dann auch die normative Dreistillehre. Um 1700 zeigt das rhetorische System deutliche Auflösungserscheinungen. Theoretiker wie Gottsched (,Ausführliche Redekunst', 1736) versuchen es auf der Ba-

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Rhetorik

sis einer rationalistischen Theorie zu reformulieren, sind jedoch langfristig nicht erfolgreich, weil diese Regel-Rhetoriken in einen als anachronistisch empfundenen Normierungszwang führen. Das 18. Jh. bedeutet den Abschluß dieser langsamen Erosionsphase. Zwar werden noch zahlreiche Rhetoriken publiziert (vgl. Dyck/Sandstede); wichtiger sind jedoch die disziplinären Ausdifferenzierungs- und Verschiebungsprozesse, in deren Folge die Rhetorik zunächst in die Systeme der ,schönen Wissenschaften' und .schönen Künste' eingegliedert, dort aber wegen ihrer pragmatischen Zielsetzung marginalisiert wird (Du Bos, Batteux); dieser Prozeß der Ausschließung der Rhetorik wird über Kant und Hegel bei Vischer im 19. Jh. seinen Abschluß finden. Zusätzlich muß die Rhetorik weitere Systembestandteile in sich neu ausdifferenzierende Wissenschaften wie ? Stilistik und Psychologie abgegeben. Kurz nach Kants harschem Verdikt über die Rhetorik in der ,Kritik der Urteilskraft' (1790) erlebt die Rhetorik (im Sinne der öffentlich-politischen Beredsamkeit) ihre Wiedergeburt: in Georg Forsters Reden im Mainzer Jakobinerclub 1792/93. Um 1800 sind Katheder (öffentliche Vorlesungen), Kanzel und Formen der Rede im /" Drama die wesentlichen Foren der öffentlichen Rede (vgl. Riedl). Seit dem Beginn des 19. Jhs. gibt es zwar eine florierende Kultur der Beredsamkeit (entstehender Parlamentarismus, mündlicher Prozeß), aber kaum noch ernstzunehmende Bemühungen um die rhetorische Theoriebildung, sieht man von Nietzsches — freilich erst rezeptionsgeschichtlich bedeutsam gewordenen — Rhetorik·Vorlesungen ab. Auch im Schulunterricht wird die Rhetorik zurückgedrängt (/" Deutschunterricht', ? Germanistik): Zunächst wird im 17. Jh, die Ausrichtung auf die Latinität fragwürdig (in katholischen Gebieten erst in der 2. Hälfte des 18. Jhs.), dann im 18. Jh. die Ausrichtung auf die Produktion und Aufführung (Schul-actai) von Texten zugunsten von Textanalyse bzw. ? Interpretation literarischer Texte, ? Hermeneutik¡ und der ethisch-ästhetischen, Geschmackserziehung' durch Lektüre aufgegeben. Vor allem die Fi-

guren- und Tropenlehre hält sich, nicht zuletzt durch den Lateinunterricht vermittelt, bis heute. ForschG: Das Rhetorik-Verdikt des deutschen Idealismus und nicht zuletzt die Erfahrungen der Propaganda der Dritten Reiches haben nach 1945 die Institutionalisierung einer Rhetorikforschung verhindert (Ausnahme: das 1967 von Walter Jens gegründete ,Seminar für Allgemeine Rhetorik' in Tübingen). International dagegen kann die Rhetorikforschung als konsolidiert gelten. Zeichen hierfür sind nicht zuletzt die 1980 gegründete .International Society for the History of Rhetoric', die seit 1983 auch eine Zeitschrift herausgibt (,Rhetorica'), und das .Historische Wörterbuch der Rhetorik' (1992 fr.). Die germanistische Literaturwissenschaft bedient sich seit den 1960er Jahren (nach Anfangen bei Curtius, Dockhorn u. a.) des rhetorischen Analyse-Repertoires. Dabei wurde die am Paradigma der /" Sozialgeschichte orientierte Barockforschung (Dyck, Fischer, vor allem aber Barner) als Vorreiter tätig. Seither erschienen zahlreiche Studien zur Geschichte der rhetorischen Theorie und Praxis (zuletzt umfassend Fumaroli 1999); eine zuverlässige Geschichte der deutschen Rhetorik allerdings bleibt Desiderat. Vielfach unverbunden nebeneinander stehen die Versuche einer strukturalistischen Reformulierung der Rhetorik (Lausberg, Barthes, Dubois, Plett), die Rehabilitierung und Universalisierung der Rhetorik im Zeichen der Dekonstruktion (dazu kritisch Vickers) und schließlich philosophisch-anthropologisch (Dockhorn, Gadamer, Blumenberg) bzw. argumentationstheoretisch (Toulmin, Perelman/Olbrechts-Tyteca) ausgerichtete Ansätze. Die integrative Funktion der Rhetorik als analytisches Modell für Kommunikation wird heute von der Kommunikationswissenschaft (/" Kommunikationstheorie) geltend gemacht. Lit: Wilfried Barner: Barockrhetorik. Tübingen 1970. - Roland Barthes: Die alte Rhetorik [1970]. In: R. B.: Das semiologische Abenteuer. Frankfurt 1988, S. 15-101. - Barbara Bauer: Jesuitische ,ars rhetorica' im Zeitalter der Glau-

Rhetorische Figur benskämpfe. Frankfurt u.a. 1986. - Manfred Beetz: Rhetorische Logik. Tübingen 1980. - Rudolf Behrens: Problematische Rhetorik. München 1982. - Tobia Bezzola: Die Rhetorik bei Kant, Fichte und Hegel. Tübingen 1993. - Hans Blumenberg: Anthropologische Annäherung an die Aktualität der Rhetorik. In: H. B.: Wirklichkeiten in denen wir leben. Stuttgart 1981, S. 104-136. - Heinrich Bosse: Dichter kann man nicht bilden. Zur Geschichte der Schulrhetorik nach 1770. In: JbIG 10/1 (1978), S. 80-125. - Georg Braungart: Hofberedsamkeit. Tübingen 1988. - Dieter Breuer: Schulrhetorik im 19. Jh. In: Rhetorik. Hg. v. Helmut Schanze. Frankfurt 1974, S. 145-179. - Michael Cahn: Kunst der Überlistung. München 1986. - Rüdiger Campe: Affekt und Ausdruck. Zur Umwandlung der literarischen Rede im 17. und 18. Jh. Tübingen 1990. - Thomas Conley: Rhetoric in the European tradition. Chicago, London 1990. - Paul de Man: Der Widerstand gegen die Theorie. In: Romantik. Hg. v. Volker Bohn. Frankfurt 1987, S. 8 0 106. - Klaus Dockhorn: Die Rhetorik als Quelle des vorromantischen Irrationalismus in der Literatur- und Geistesgeschichte [1949]. In: K. D.: Macht und Wirkung der Rhetorik. Bad Homburg u.a. 1968, S. 46-95. - Jacques Dubois u. a.: Allgemeine Rhetorik [1970]. München 1974. - Joachim Dyck: Ticht-Kunst. Deutsche Barockpoetik und rhetorische Tradition ['1966]. Tübingen 31991. - J. D., Jutta Sandstede: Quellenbibliographie zur Rhetorik, Homiletik und Epistolographie des 18. Jhs. im deutschsprachigen Raum. 3 Bde. Stuttgart-Bad Cannstatt 1996. Ludwig Fischer: Gebundene Rede. Dichtung und Rhetorik in der literarischen Theorie des Barock in Deutschland. Tübingen 1968. — Manfred Fuhrmann: Die antike Rhetorik. München u.a. 1984. — Marc Fumaroli: L'âge de l'éloquence. Genf 1980. - M. F. (Hg.): Histoire de la rhétorique dans l'Europe moderne (1450-1950). Paris 1999. — Hans-Jürgen Gabler: Geschmack und Gesellschaft. Frankfurt u. a. 1982. - Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode. Tübingen 1960. - Ursula Geitner: Die Sprache der Verstellung. Studien zum rhetorischen und anthropologischen Wissen im 17. und 18. Jh. Tübingen 1992. - Gérard Genette: Die restringierte Rhetorik [1970]. In: Theorie der Metapher. Hg. v. Anselm Haverkamp. Darmstadt 1983, S. 229-252. Karl-Heinz Göttert: Einführung in die Rhetorik. München 1991. — Hans-Peter Goldberg: Bismarck und seine Gegner. Die politische Rhetorik im kaiserlichen Reichstag. Düsseldorf 1998. — Gunter E. Grimm: Literatur und Gelehrtentum in Deutschland. Tübingen 1983. - Samuel Ijsseling: Rhetorik und Philosophie. Stuttgart-Bad Cannstatt 1988. - Georg Jäger: Schule und lite-

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rarische Kultur. Bd. 1. Stuttgart 1981. - Walter Jens: ,Rhetorik'. In: RL 2 3, S. 432-456. George A. Kennedy: A history of rhetoric. 3 Bde. Princeton 1963-1983. - G. Α. Κ.: Classical rhetoric and its christian and secular tradition from ancient to modern times. Chapel Hill, London 2 1999. - Joachim Knape: Was ist Rhetorik? Stuttgart 2000. - J. K.: Allgemeine Rhetorik. Stuttgart 2000. - Josef Kopperschmidt: Allgemeine Rhetorik. Stuttgart u.a. 1973. - J . K . (Hg.): Rhetorische Anthropologie. München 2000. - Wilhelm Kühlmann: Gelehrtenrepublik und Fürstenstaat. Tübingen 1982. - Renate Lachmann: Die Rhetorik und ihre Konzeptualisierung. In: R. L.: Die Zerstörung der schönen Rede. München 1994, S. 1 - 2 0 . - Lausberg. James J. Murphy: Rhetoric in the middle ages. Berkeley u.a. 1974. - Peter Lothar Oesterreich: Fundamentalrhetorik. Hamburg 1990. — Chaüm Perelman, Lucie Olbrechts-Tyteca: Traité de l'argumentation. 2 Bde. Paris 1958. - Heinrich F. Plett: Systematische Rhetorik. München 2000. Peter Philipp Riedl: Öffentliche Rede in der Zeitenwende. Tübingen 1997. — Helmut Schanze: Probleme einer ,Geschichte der Rhetorik'. In: LiLi 11 (1981), H. 43/44, S. 13-23. - H. S.: Transformationen der Rhetorik. In: Rhetorik 12 (1993), S. 60-72. - Debora K. Shuger: Sacred Rhetoric. Princeton 1988. — Volker Sinemus: Poetik und Rhetorik im frühmodernen deutschen Staat. Göttingen 1978. - Kerstin Stüssel: Poetische Ausbildung und dichterisches Handeln. Tübingen 1993. - Dietmar Till: Affirmation und Subversion. Zum Verhältnis von rhetorischen' und .platonischen' Elementen in der frühneuzeitlichen Poetik. In: Zeitsprünge 4 (2000), S. 181 — 210. — Stephen E. Toulmin: The uses of argument. Cambridge 1958. — Gert Ueding: Schillers Rhetorik. Tübingen 1971. - G. U., Bernd Steinbrink: Grundriß der Rhetorik. Stuttgart, Weimar 3 1994. - Brian Vickers: In defence of rhetoric. Oxford 1988.

Georg Braungart / Dietmar Till

Rhetorische Figur Stilmittel auf der Ausdrucks- oder Inhaltsebene eines Textes. Expl: Die /" Rhetorik ordnet die Rhetorische Figur' in den Systembereich der s Elocutio ein; Figurenlehre und die Theorie der Prosakomposition (,compositio') werden unter dem Oberbegriff des ? Ornatus zusammengefaßt. Ziel der Elocutio ist die

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Rhetorische Figur

, Einkleidung' der in der ? Invent io gefundenen und in der / Dispositio geordneten Gedanken (,res') durch solche Worte (,verba'), die den Sprachgebrauchsprinzipien (,virtutes dicendi') der Rhetorik entsprechen (Sprachrichtigkeit, ,latinitas'; Angemessenheit, /" Aptum, Decorum\ Verständlichkeit, ,perspicuitas'; Redeschmuck, ,ornatus'). Der Figurenschmuck unterstützt die Wirkungsintention der Rede, indem er den Zuhörer angenehm unterhält (,delectatio', Quintilian 8,3,5; ^ Unterhaltung¡) und seinen Willen durch Einwirkung auf die Affekte beeinflußt (Lausberg, § 538). Meist wird die FIGUR Ι als Redeschmuck, der sich auf Wortverbindungen bezieht (,ornatus in verbis coniunctis'), definiert, während ? Tropus2 den Ersatz eines Einzelwortes bezeichnet (,ornatus in verbis singulis'; Lausberg, § 540). Unterteilt werden die Figuren in ,Wortfiguren' (,figurae verborum'), die auf der Ebene des sprachlichen Ausdrucks angesiedelt sind, und .Gedankenfiguren' (,figurae sententiarum'), die auf der Inhaltsebene (der argumentativen, logischen oder semantischen Struktur eines Textes) ansetzen. Mit dieser dreigliedrigen Taxonomie konkurriert historisch ein zweigliedriges Modell, das die Tropen als ,Einzelwortfiguren' den Ausdrucksfiguren subsumiert (Lausberg, § 601). Von diesen taxonomischen Ansätzen lassen sich Theoriemodelle unterscheiden, in denen die ? Wirkung der Rhetorischen Figuren (>" Affektenlehre) im Vordergrund steht (vgl. Breuer, 228 — 234); historisch treten der strukturale und der funktionale Ansatz meist in Kombination auf (Knape 1996, 289-291). Strukturalistische Theorieansätze (/" Strukturalismus) des 20. Jhs. beschreiben die Rhetorischen Figuren gewöhnlich durch das Konstrukt der /" Abweichung (Deviation) von einer ,schmucklosen' standardsprachlichen f Norm (,Nullstufe', vgl. schon Quintilian 9,1,11-14) durch die drei ,Änderungskategorien' (Knape 1992): (1) Hinzufügung (,adiectio'; Anapher, Epipher, Geminatio, Klimax (S Gradatio)); (2) Wegnahme (,detractio'; ELLIPSE, als Auslassung eines Satzteiles, der aus dem Kontext ergänzbar ist); und (3) Umstellung (,trans-

mutado'; Parallelismus und Hyperbaton, s Periode). Bei den Gedankenfiguren handelt es sich um oft umfangreiche argumentative Strategien und Bedeutungsakzentuierungen (Formen der Gedankenführung und Wortspiele), die sich oft nur aus dem Gesamtzusammenhang der Rede und ihrer situativen Einbettung erkennen lassen. Sie realisieren sich auf vielfaltige Weise: So erzeugen die Apostrophe (die Anrede abwesender oder fiktiver Personen), die SERMOCINATICI (das Sprechen mit fremder Stimme), der Dialogismus (die Beantwortung selbst gestellter Fragen im eigenen Sinne) und der fingierte Zweifel (,dubitatio') die Vorstellung einer anderen Redesituation als der tatsächlich gegebenen. Der Exkurs (,digressio'; Digression), die (mögliche Einwände vorwegnehmende und entkräftende) ,anticipatio' (griech. ,prolepsis') und das die natürliche Folge von Geschehensabläufen verkehrende HYSTERON PROTERON („Ihr Mann ist tot und läßt sie grüßen!") lassen sich als Abweichungen von der üblichen Darstellungsbzw. Argumentationsweise beschreiben. Hinzu kommt eine dritte Gruppe, zu der die /" Rhetorische Frage, der paradoxe und antithetische Ausdruck (s Antithese), die emphatische (/" Emphase), die ,evidente' und die freimütige Rede (,licentia') sowie die ironische Verstellung (/" Ironie) zählen; sie zeichnet sich dadurch aus, daß das tropische Verfahren über die Grenze des Einzelworts hinaus ausgedehnt ist. Als Reaktion auf die Kritik am Deviationsmodell seit den 1960er Jahren haben sich vielfaltige andere linguistische Figurenmodelle entwickelt, welche die .regelverletzenden' Änderungskategorien durch ,regelverstärkende' ergänzen (etwa um die Kategorie der ,Figuren der Äquivalenz', z. B. die Alliteration; Plett 1977, 128-131), ohne daß es aber zu einem verbindlichen Modell gekommen wäre. WortG: Der Ausdruck Rhetorische Figur geht zurück auf den lat. Begriff figura (,Form', .Gebilde'), der zuerst von Terenz verwendet wird (Auerbach, 436); terminologisch ist er zuerst in Ciceros ,De optimo genere oratorum' (5,14) belegt; erst bei Quin-

Rhetorische Figur tilian (1. Jh. n. Chr) hat er sich endgültig durchgesetzt (Knape 1996, 303 f.). Der griechische Terminus für die Rhetorische Figur ist σχήμα [schéma], die Ausdrucksfiguren werden als σχήματα λέξεως [schémata léxeos], die Gedankenfiguren als σχήματα διανοίας [schémata dianoías] bezeichnet. Mit diesen Ausdrücken konkurrieren bis weit in die Frühe Neuzeit andere Bezeichnungen für die Rhetorischen Figuren, etwa verborum

bzw. sententiarum

exornatio

aus

der anonymen ,Rhetorica ad Herennium' (4,18), lumina orationis (Cicero: ,De oratore' 3,96 u. ö.) bzw. conformatio (Cicero: ,De oratore' 3,200) u. a. Seit dem 11. Jh. ist die Wendung colores rhetorici (nach Cicero: ,De oratore' 3,100) für die Rhetorischen Figuren in der Tradition des ,Auetor ad Herennium' belegt; der Ausdruck hält sich bis in die Frühe Neuzeit (Kühne; Quadlbauer 1986). Seltener nachzuweisen ist das Synonym FLORES RHETORICI, das auf eine Äußerung Ciceros zurückgeht, der vom Redeschmuck (,ornatus') als verborum sententiarumque flores (,De oratore' 3,96 u. ö.) spricht (vgl. Thesaurus 6/1, 936 f.). Im Dt. setzt sich das Lehnwort Figur durch. Übersetzungversuche ins Dt., die es seit ahd. Zeit (Knape 1996, 303) und bis ins 17. Jh. (Belege: Rnape/Sieber, 118) gibt, sind insgesamt nicht erfolgreich. Erich Auerbach: Figura. In: Archivum Romanicum 22 (1938), S. 436-489. - Joachim Knape, Armin Sieber: Rhetorik-Vokabular zur zweisprachigen Terminologie in älteren deutschen Rhetoriken. Wiesbaden 1998.

BegrG: Die Unterscheidung von ,Tropen' und .Figuren' scheint auf den AristotelesSchüler Theophrast zurückzugehen; sie ist in der Antike umstritten (vgl. Quintilian 9,1,1-9; Knape 1996, 311). Quintilian schließt sich ihr an und differenziert zusätzlich in ,Wortfiguren' und ,Inhaltsfiguren' (9,1,17). Er wird damit zum Begründer der trichotomischen Figurensystematik. Ihr steht die dichotomische Taxonomie der ,Rhetorica ad Herennium' gegenüber, in der lediglich zwischen ,Ausdrucksfiguren' (,exornationes verborum') und ,Inhaltsfiguren' (,exornationes sententiarum') differenziert wird; die Tropen werden als Inhaltsfiguren behandelt (4,18). Fragen nach der Funktionsbestim-

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mung verdichten sich in Ciceros (,De oratore' 3,201 f.) und Quintilians (4,2,63 und 9,2,40—42) Lehre von der anschaulichen' Darstellung (ενάργεια [enárgeia], ,evidential ,illustratio', ,subiectio sub oculos', ύποτύπωσις [hypotyposis]): Der Redner soll die Dinge so ,anschaulich' schildern, daß der Hörer glaubt, sie tatsächlich ,vor Augen' zu haben (/" Illusion). Zentral ist dabei der Gedanke der ,Verbergung der Kunst' (,dissimulatio artis'): Der Redner soll seinen Text figurai so gestalten, daß die Kunstfertigkeit der Rede dem Hörer nicht bewußt wird (vgl. Aristoteles:,Rhetorik' 1404b; Ps.-Longin: ,De sublimitate' 17,1-2). Quintilian vergleich die Figuren mit den veränderlichen Gesichtszügen ( / Mimik2), in denen sich die Gemütsbewegungen spiegeln (2,13,11). Für die Figurenlehre im Mittelalter sind die ,Rhetorica ad Herennium' und die spätantike Grammatik des Donat (,Ars maior', 4. Jh.) bestimmend. Donat, der die Rhetorischen Figuren unter dem griechischen Terminus schema verhandelt, ordnet die Ausdrucksfiguren der Grammatik, die Inhaltsfiguren der Rhetorik zu („schemata dianoeas ad oratores pertinent, ad grammaticos lexeos"; 3,5). In den ,Colores rhetorici'Traktaten (etwa von Onulf von Speier: ,Rhetorici colores', 11. Jh.) und der Poetik des Mittelalters (etwa der ,Ars versificatoria' des Matthäus von Vendôme) bestehen beide Traditionsstränge, vielfach unverbunden, fort (Quadlbauer 1986, 61). Der Renaissance-Humanismus greift verstärkt wieder auf die antiken Quellen zurück, vor allem auf den 1416 wiederentdeckten Quintilian. Melanchthon rekurriert in seinen .Elementa rhetorices' (1531) auf die heterogene antike Überlieferung und unterscheidet drei Großgruppen (,ordines') von Figuren: Grammatische Figuren, die sich auf die Wortstellung, die Schönheit (,lux') oder den Nachdruck (,emphasis') beziehen, Gedankenfiguren wie die rhetorische Frage, die der Rede Schwung (,motus') verleihen, schließlich Figuren, die der Amplifikation dienen (Melanchthon, 218); letztere leitet er aus dialektischen /" Topoi ab. In einer eigenwilligen Systematik behandelt auch Erasmus in seinem äußerst erfolgrei-

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Rhetorische Figur

chen Lehrbuch ,De duplici copia verborum ac rerum' (zuerst 1512) die Rhetorischen Figuren als Mittel der stilistischen Abwechslung Gvarietas'; Knape 1994, 1048). Seit dem 16. Jh. erscheinen Kompendien und Übersichtswerke, welche beim Umgang mit der komplizierten Terminologie der Figuren helfen (J. Susenbrotus: ,Epitome troporum ac schematum', 1541; J. B. Bernardi: .Thesaurus rhetoricae', 1559; P. Mosellanus: t a bulae de schematibus et tropis', 1536). Im 17. Jh. erneuert sich darüber hinaus das Interesse an der persuasiven Wirkung der Rhetorischen Figuren; die Lehrbücher ordnen vielfach den einzelnen Figuren genau definierte Affekte zu (Dyck, 82—90; Campe, 237-246). Gegen die barocken Stilformen (.Schwulst') und die Kompilationstechniken (rhetorische Topik) führen die Rhetoriker im späten 17. Jh. das Natürlichkeitspostulat ins Feld und lösen damit eine Entwicklung aus, in deren Verlauf sich die tradierte Auffassung vom Kunstcharakter der Figuren auflöst. Philosophen wie Descartes, Hobbes, Locke oder Ch. Wolff kritisieren den Gebrauch von uneigentlichen Ausdrücken in der Wissenschaftssprache, da die Figuren die ,wahre' Erkenntnis der Dinge verstellten (Locke 3,10; vgl. Knape 1996, 322 f.). Von ähnlichen Prämissen gehen die rationalistischen Sprachtheoretiker von Port Royal (A. Arnauld, C. Nicole) aus, die die Figuren als natürlichen' Ausdruck der Affekte des Menschen bestimmen, der sich in Form von Nebenbedeutungen' (,idées accessoires') in den Text der Rede einschreibt. Arnauld/Nicole vertreten die wirkungsmächtige These, daß die Rhetorischen Figuren kein oberflächlicher ,Schmuck' sind, sondern direkt dem Ausdruck der Affekte dienen. Die einflußreiche Rhetorik von B. Lamy (,De l'art de parier', 1675) und C. C. DuMarsais ,Traité des tropes' (1730) schließen sich dieser Auffassung an; damit brechen sie mit der Auffassung vom ,Kunstcharakter' des Redeschmucks. Unter ihrem Einfluß entwickelt sich in Deutschland ein rhetorikkritisches Stilideal der n a türlichen Schreibart' (Hallbauer, Gottsched, Eschenburg), das auf Überwindung der .pedantischen Schreibart' zielt („ohne

eigne Meditation bloß aus den Büchern geschrieben"; Hallbauer, 235 f.), wie sie die Schulrhetorik vermittelt. Um Rhetorische Figuren zu bilden, so lautet ein topisches Argument, braucht man kein (schul)rhetorisches Wissen, da sie nichts anderes als die natürliche „Sprache der Leidenschaften" (Gottsched 1736, 273) sind. Die Literaturtheoretiker der Aufklärung werten die .unteren Seelenkräfte', s Phantasie und Leidenschaft, auf und entwickeln die Lehre von der sinnlichen Motivierung des arbiträren (und damit gleichsam u n n a türlichen') Sprachzeichens durch tropische und figurierte Rede. „Der figürliche und verblümte Ausdruck läßt uns die Gedancken nicht bloß aus willkührlichen Zeichen errathen, sondern machet dieselben gleichsam sichtbar" (Breitinger, 316). Damit erneuert Breitinger Elemente der alten Evidentia-Lehre. Die Entwicklung spitzt sich in Herders Sprachtheorie zu: In der Tradition Vicos und Rousseaus wird die Unterscheidung von sprachlicher .Normallage' und abweichender Figur fallengelassen. Weder gebe es, so lautet die These, einen ,Ausdruck', den man vom Gedanken trennen könne, noch eine sprachliche Ruhelage, von der sich die figurierte Rede abheben ließe. Die figuren- und tropenreiche Sprache der Poesie sei die natürliche, originäre Sprache, die vermeintlich eigentliche' die sekundäre. Der traditionellen Figurenlehre ist damit der Boden entzogen. Doch bedeutet dies nicht das Ende der rhetorischen Sprachreflexion, sondern deren Universalisierung: Zugleich wird am Ende des 18. Jhs. die rhetorische Figurenlehre in die sich neu konstituierende ? Stilistik (/· Stil) überführt; J. Chr. Adelung faßt in seinem Werk ,Ueber den deutschen Styl' (1785) die Rhetorischen Figuren als Produkte der verschiedenen Kräfte der Seele auf (Breuer, 231; Knape 1996, 329). Herders Überlegungen haben für die frühromantische Kunstreflexion grundlegende Bedeutung. Der Ironie-Begriff (Schlegel, Solger) wird zentral, und die tradierte Vorstellung der Abhängigkeit der Worte von den Gedanken löst sich auf (Kleist; E. T. A. Hoffmann: ,Lebensansich-

Rhetorische Figur ten des Katers Murr', Bd. 1, 1819, ,Vorrede des Herausgebers'). Die Entwicklung erreicht ihren Höhepunkt im Werk Nietzsches, in dessen Rhetorik-Vorlesungen (1874) sich das hierarchische Verhältnis von ,oberen' und ,unteren' Seelenkräften verkehrt, in dem Sprache und Rhetorik gleichgesetzt werden und sich die affektrhetorische Sprachauffassung verabsolutiert: „Die Sprache ist Rhetorik" (2/4, 425), formuliert Nietzsche — und: „Das Verständlichste an der Sprache ist nicht das Wort selber, sondern Ton, Stärke, Modulation, Tempo, mit denen eine Reihe von Worten gesprochen werden — kurz die Musik hinter den Worten, die Leidenschaften hinter dieser Musik" (7/1, 89). Johann Jacob Breitinger: Critische Dichtkunst. Bd. 2 [1740], Repr. Stuttgart 1966. - César C. DuMarsais: Des tropes. Bearbeitet v. Pierre Fontanier [1818]. Repr. hg. v. Gérard Genette. Genf 1984. - Johann Christoph Gottsched: Ausführliche Redekunst. Leipzig 1736. — Friedrich Andreas Hallbauer: Anweisung zur verbesserten teutschen Oratorie [1725]. Repr. Kronberg 1974. — John Locke: Essay concerning human understanding. London 1690 [recte: 1689]. — PseudoLonginus: Vom Erhabenen. Hg. v. Reinhard Brandt. Darmstadt 1966. - Philipp Melanchthon: Elementa rhetorices. Grundbegriffe der Rhetorik. Hg. v. Volkhard Wels. Berlin 2001. Friedrich Nietzsche: Werke. Hg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Berlin u.a. 1967ff.

ForschG: In Form von lexikalisch oder systematisch angelegten Nachschlagewerken zur ? Textanalyse wurde das antike Wissen über die Rhetorischen Figuren überliefert: Zentral ist bis heute H. Lausbergs 1960 vorgelegtes ,Handbuch der literarischen Rhetorik', das die antike Figurenlehre auf der Grundlage eines strukturalistischen Abweichungs-Modells kodifizierte. Seine bisweilen rigide Systematisierung der Rhetorischen Figuren wurde von K. Dockhorn kritisiert, der den Wirkungsaspekt ins Zentrum rückte; beide Positionen wirken in der zeitgenössischen Forschung weiter (vgl. Vickers, 294-339). Seit den 1960er Jahren gibt es Versuche, die alten Einteilungen der Tropen, Wort- und Gedankenfiguren auf der Basis der modernen Linguistik durch eine konsistentere und präzisere Systematik „aller nur denkbaren devianten [= regel-

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verletzenden] Spracherscheinungen" (Plett 1977, 128) zu ersetzen (Leach; Todorov 1967; Dubois u.a.; Cohen; Plett 1977 und 2000); trotz der Kritik am Abweichungstheorem (Überblick bei Knape 1992; Knape 1996, 313-320; vgl. Schüttpelz, 13-66) haben solche modernen Figuren-Taxonomien vielfach Eingang in Lehrbücher gefunden (vgl. Ottmers, 155 — 197). Zugleich verbreitet sich eine in Frankreich entwickelte ,neorhetorische' Literaturtheorie, die die ,Figürlichkeit' der Rede in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen stellt. Dabei wird die Figürlichkeit der Sprache als Hinweis auf eine prinzipielle Ünzuverlässigkeit bzw. Unkontrollierbarkeit des Sinnes verstanden, die jeden Deutungsansatz hintertreibt bzw. als ideologisch bestimmt entlarvt (Lyotard, Derrida, de Man (s Dekonstruktion; S Poststrukturalismus). Neuere figurentheoretische Ansätze rekurrieren u. a. auf die Theorie des /" Sprechakts (Fogelin, Schüttpelz); einen Überblick vermitteln die Artikel von Knape (1992, 1994, 1996). Lit: Dieter Breuer: Rhetorische Figur. In: Zur Terminologie der Literaturwissenschaft. Hg. v. Christian Wagenknecht. Stuttgart 1988, S. 2 2 2 238. - Rüdiger Campe: Affekt und Ausdruck. Tübingen 1990. - Jean Cohen: Théorie de la figure. In: Communications 16 (1970), S. 3—25. Klaus Dockhorn: Rezension von Heinrich Lausberg, Hb. der literarischen Rhetorik. In: GGA 214 (1962), S. 177-196. - Jacques Dubois u.a.: Rhétorique générale. Paris 1970. - Joachim Dyck: Ticht-Kunst. Tübingen 31991. - Robert J. Fogelin: Figuratively speaking. New Haven 1988. — Gérard Genette: Figures I. Paris 1966. - Joachim Knape: .Änderungskategorien'. In: HWbRh 1 [1992], Sp. 549-466. - J. K.: ,Elocutio'. In: HWbRh 2 [1994], Sp. 1022-1083. J. Κ.: ,Figurenlehre'. In: HWbRh 3 [1996], Sp. 289-342. - Udo Kühne: ,Colores rhetorici'. In: HWbRh 2 [1994], Sp. 282-290. - Geoffrey Ν. Leach: Linguistics and the figures of rhetoric. In: Essays on style and language. Hg. v. Roger Fowler. London 1966, S. 135-156. - Jean-François Lyotard: Discours, figure. Paris 1971. - Clemens Ottmers: Rhetorik. Stuttgart, Weimar 1996. — Heinrich F. Plett: Die Rhetorik der Figuren. In: H. F. P. (Hg.): Rhetorik. München 1977, S. 125-165. - H. F. P.: Systematische Rhetorik. München 2000. - Erhard Schüttpelz: Figuren der Rede. Zur Theorie der rhetorischen Figur. Berlin 1996. - Franz Quadlbauer: ,Colores rhe-

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Rhetorische Frage

torici'. In: LexMA 3 [1986], Sp. 61 f. - F. Q.: ,Figurae'. In: LexMA 4 [1989], Sp. 439 f. - Tzvetan Todorov: Littérature et signification. Paris 1967, S. 107-114. - T. T.: Synecdoques. In: Communications 16 (1970), S. 2 6 - 3 5 . - Brian Vickers: In defence of rhetoric. Oxford 1988.

Erich Meuthen / Dietmar Till

Rhetorische Frage Frage ohne Erwartung einer Antwort. Expl: Unter Rhetorischen Fragen sind solche Fragesätze zu verstehen, die regelmäßig einer pragmatisch motivierten Umdeutung durch den Hörer unterliegen. So werden im allgemeinen positive Entscheidungsfragesätze negativ gedeutet („Hast du vielleicht Lust dazu?" > ,Du hast keine Lust dazu'), negative Entscheidungsfragesätze positiv („Hast du keine Lust dazu?" > ,Du hast doch bestimmt Lust dazu'). Entsprechendes ergibt sich für Ergänzungsfragesätze („Wer will das schon?" > ,Niemand will das'; „Wer will das nicht?" > ,Alle wollen das'), zusätzlich ist hier noch die Möglichkeit einer referentiell spezifizierten Umdeutung gegeben (,Nur Peter natürlich'). Die Interpretation einer Frage als Rhetorische Frage ergibt sich im allgemeinen aus dem Kontext und der Äußerungssituation, es scheint aber auch sprachliche Indikatoren (wie z. B. die Modalpartikel schon oder etwa in Ergänzungsfragesätzen oder bestimmte Intonationsmuster) zu geben, die einen Fragesatz zur Rhetorischen Frage machen. WortG: Der Ausdruck Rhetorische Frage geht auf griech. έρώτησις [erótesis] bzw. έρώτημα [erotema] und lat. interrogatio ,Frage', rhetorische Frage' zurück (s. Quintilian 9,27). Kaspar Goldtwurm verdeutscht 1545 durch „fragred" (Knape/Sieber, 122); Meyfart 1624 mit „Frag=Figur" (Meyfart, 386). In Zedlers ,Universal-Lexicon' von 1742 findet sich das Stichwort rhetorica interrogatio (Zedier 31, 1138 f.). Das Syntagma Rhetorische Frage scheint erst am Ende des 19. Jhs. belegt zu sein (SchulzBasler 3, 446 f.).

Joachim Knape, Armin Sieber: Rhetorik-Vokabular zur zweisprachigen Terminologie in älteren deutschen Rhetoriken. Wiesbaden 1998.

BegrG: Das Konzept der Rhetorischen Frage scheint sich historisch kaum gewandelt zu haben. Einzelne Autoren und Lehrbücher unterscheiden sich jedoch hinsichtlich der Erklärung, der Funktion und Einordnung (,Wortfigur' oder,Gedankenfigur') dieses Mittels (Lausberg, § 767-770; R h e torica ad Herennium' 4,22). Begriffsgeschichtlich zentral ist die Diskussion bei Quintilian, der sie zu denjenigen ,figurae sententiarum' (,Gedankenfiguren') rechnet (y Rhetorische Figur), die durch ihre starke Affektwirkung bestimmt sind (9,2,6). Quintilian unterscheidet zwischen verschiedenen Funktionen der Rhetorischen Frage: Sie bringt Staunen, Abscheu, Mitleiden oder Verwunderung des Sprechers zum Ausdruck, enthält einen Befehl oder präsentiert in der Rede einen Sachverhalt, der nicht geleugnet werden kann oder schwer zu beweisen ist (9,2,8). Gedankenfiguren, die sich gleichfalls der Frage bedienen, sind neben der ,interrogatio' (Rhetorische Frage) die ,subiectio' als in die Rede eingebauter fingierter Frage-Antwort-Dialog (,Rhetorica ad Herennium' 4,23; bei Quintilian 9,2,15 heißt es „per suggestionem"); die ,dubitatio' als Frage, die die gespielte rednerische Hilflosigkeit ausdrückt; sowie die ,communicatio' als scheinbare Frage um Rat (siehe Lausberg, § 766—779; Ueding/Steinbrink, 286—288). Bisweilen wird von den antiken Theoretikern die ,interrogatio', die nur mit dem parteiischen ,ja' oder ,nein' beantwortet werden kann, vom ,quaesitum' (πύσμα [pysma]), das speziellere Antworten fordert (Lausberg, § 770), abgegrenzt. In der mittelalterlichen Poetik ist die Rhetorische Frage Mittel des ,ornatus facilis' (y Ornatus)·, definitorisch folgen die Theoretiker gewöhnlich der ,Rhetorica ad Herennium' (Schöpsdau, 450). Die frühneuzeitlichen Rhetoriker schließen sich überwiegend den antiken Gewährsmännern an; Melanchthon ordnet die Rhetorische Frage unter diejenige Rubrik (,ordo') von Figuren ein, die der Rede .Schwung' (,motus') verleihen (Melanchthon, 218 und 226). Meyfart erwähnt die „Fragens Art / wenn der

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Rhythmus Redener in seiner Form schlecht und deutlich bleiben kan / aber doch zu einer Person sich kehret" (Meyfart, 386). Zedier definiert die Rhetorische Frage als „eine Figur, da man die Rede als eine Frage einrichtet, ob man sonst wohl das, was man fürbringet, auch nur schlechthin fragen" könne (Zedier 31, 1138 f.). Die Theoretiker der Frühaufklärung klassifizieren die Rhetorische Frage als Affektfigur und weisen auf ihre natürliche Entstehung hin (Hallbauer, 487; Gottsched, 339). Eine differenzierte Darstellung der Rhetorischen Frage bietet Sulzer (1771/74): „Eine rednerische Figur, nach welcher man einem Satz den Schein der Ungewißheit giebt, um seine Gewißheit desto lebhafter fühlen zu machen. Die Frage, in so fern sie eine rednerische Figur ist, ist eigentlich keine Frage, sondern eine höchst zuversichtliche Behauptung" (Sulzer 2, 260). Bei H. Paul (1916-1920 3/1, 13 f.) heißt es: „Man kann auch Fragen stellen, von denen man von vorneherein zu wissen glaubt, wie sie beantwortet werden müssen, die nur dazu dienen, den Angeredeten zur Anerkennung einer Tatsache zu nötigen (sogenannte rhetorische Fragen)." ForschG: Die moderne Sprachwissenschaft differenziert sorgfaltiger zwischen den sprachlichen Formen und den kommunikativen bzw. textuellen Funktionen von Rhetorischen Fragen (zu letzteren siehe Schwitalla 1984, Ilie 1994), wobei auch der Begriff der Antwort-Erwartung präzisiert wird (Rehbock 1987). Im Rahmen der linguistischen Sprechakttheorie werden Rhetorische Fragen als indirekte Sprechakte des Behauptens analysiert (vgl. Berg, 66—82); die charakteristische Umdeutung durch den Hörer wird durch einen Schlußfolgerungsprozeß modelliert (vgl. Meibauer 1986, Kap. 6; 22001, Kap. 8). Eine analoge Analyse erfahren in diesem erweiterten Forschungskontext rhetorische Aufforderungen (z. B. „Frag mich was Leichteres!"). Lit: Wolfgang Berg: Uneigentliches Sprechen. Zur Pragmatik und Semantik von Metapher, Metonymie, Ironie, Litotes und rhetorischer Frage. Tübingen 1978. - Friedrich Andreas Hallbauer: Anweisung zur verbesserten Teutschen Oratorie [1725], Repr. Kronberg/Ts. 1974. - Cor-

nelia Ilie: What else can I tell you? A pragmatic study of English rhetorical questions as discursive and argumentative acts. Stockholm 1994. Jörg Meibauer: Rhetorische Fragen. Tübingen 1986. - J. M.: Pragmatik. Tübingen 22001. Philipp Melanchthon: Elementa rhetorices. Grundbegriffe der Rhetorik. Hg. v. Volkhard Wels. Berlin 2001. - Johann Matthäus Meyfart: Teutsche Rhetorica oder Redekunst [1634], Repr. Tübingen 1977. - Hermann Paul: Deutsche Grammatik. 4 Bde. [1916-1920]. Repr. Tübingen 1968. — Helmut Rehbock: Arten der Antworterwartung in Ergänzungsfragen. In: Sprache und Pragmatik. Hg. v. Inger Rosengren. Stockholm 1987, S. 357-384. - Karl Schöpsdau: .Frage, rhetorische'. In: HWbRh 3 [1996], Sp. 445-454. — Johannes Schwitalla: Textliche und kommunikative Funktionen rhetorischer Fragen. In: Zs. für germanistische Linguistik 12 (1984), S. 131 — 155. - Gert Ueding, Bernd Steinbrink: Grundriß der Rhetorik. Stuttgart 1986. Jörg

Meibauer

Rhythmus Als psycho-physisches Gestaltphänomen die zeitliche Gliederung sinnlich wahrnehmbarer Vorgänge; in der Literatur insbesondere des individuellen Versflusses. Expl: Inhalt und Umfang des RhythmusBegriffs werden mitbestimmt durch unterschiedliche Referenzbereiche (z. B. akustische Ereignisse in der Musik, Körperbewegungen im Tanz, sprachliche Einheiten im Versrhythmus); durch die Art der Strukturierung (z. B. s Isometrie in Alexandriner oder Blankvers, nicht-isometrischer Bau in Odenstrophen oder Freien Rhythmen); sowie durch weitere terminologische Unterteilungen (z. B. in ,kurzphasige' Rhythmen wie Pulsschlag, Takt, Versfuß etc. oder aber .langfristige' Rhythmisierungen wie Jahreszeiten, kompositorische Leitmotivik, wiederkehrende Erzählschemata). In all diesen Kontexten bezeichnet Rhythmus eine (1) temporale Anordnung von (2) vergleichbaren Elementen in einer (3) nichtbeliebigen, sondern gestalthaften Struktur. Die Grundfrage bleibt dabei, ob der Rhythmus den beschriebenen Phänomenen selbst oder dem menschlichen Gestalten

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Rhythmus

bzw. Erleben zuerkannt werden soll. Zur deutlichen Abgrenzung hat man die terminologische Unterscheidung zwischen Objekt· und Subjektrhythmus vorgeschlagen (Benesch, 1954/55). Der Objektrhythmus im Sinne von ,Periodizität' (Tag und Nacht, Ebbe und Flut) markiert — insbesondere in der ? Metrik — die Regelhaftigkeit und somit die weitgehend regelmäßige Abfolge (s Alternation) von Gleichem oder Ahnlichem in gleichen oder ähnlichen Abständen (ζ. T. gleichgesetzt mit /" Takt). Der Subjektrhythmus hingegen ist Ausdruck aktiver Aneignung und Neugestaltung vorgegebener Strukturen (literarisch etwa im Umfeld von Versrhythmus, Erzählrhythmus oder szenischem Rhythmus). Rhythmisches Erleben in der Formgebung und in der Rezeption mag auch Anlaß gegeben haben, daß der Begriff .Rhythmus' metaphorisch auf das räumliche Werk in Architektur und Bildender Kunst übertragen worden ist. Um hier aber einer Ausweitung auf jedwede ästhetische Struktur entgegenzuarbeiten, sollte der literaturwissenschaftliche Gebrauch auf .Rhythmus' als verstheoretische Kategorie begrenzt bleiben: als „Interrelation [...] zwischen metrischer Ordnung und sprachlicher Erfüllung" (Wagenknecht 1999, 135; ^ Prosodie, / Kolon). Für die — besonders in filmtheoretischen Zusammenhängen zunehmend verwendete - narratologische Kategorie des ,Erzählrhythmus' als Wechsel unterschiedlicher Erzählsituationen und des ? Erzähltempos bietet sich zweckmäßiger die Bezeichnung Erzählprofil an.

auffassung ab. J. Trier stellt es zur indogermanischen Wurzel *ver-, die im Deutschen ζ. B. in wehren fortlebt; mit größerem Recht hält jedoch die Mehrzahl der Etymologen an der traditionellen Herleitung aus griech. ρεΐν [rhein] .fließen' (etwa im Sinne periodisch vorüberrollender Wellen) fest. Über das Lateinische übernimmt das Deutsche das Wort erst im frühen 18. Jh. und bildet dazu in der 2. Hälfte des 18. Jhs. das Adjektiv rhythmisch sowie das substantivische Synonym Rhythmik, das zugleich die ,Lehre vom Rhythmus' meint (Kluge-Seebold, 599; Schulz-Basler 3, 447-449).

[Terminologisches Feld:] SKANSION: Ausgestaltung des Versrhythmus bei akustischer Realisierung in der Rezitation (s Deklamation) unter starker Betonung des ? Versmaßes („Metrischer Rhythmus" im Sinne von Kayser I21966, 104— 106); übertriebenes Skandieren führt zur bekannten Gefahr des ,Leierns' von Versen.

Der Begriff gewann seine Konturen nicht zuletzt durch seine Abgrenzungen im Spektrum von ,Periodizität', ,Metrum', ,Sprache' und ,Musik'. Als Spiel zwischen den Polen „Einheit und Mannigfaltigkeit" (Seidel, 116) bestimmte man Rhythmus als „Variation in der Gleichheit" (Kayser 121966, 106). Einerseits wurden dabei die Begriffe .Rhythmik' und .Metrik' in der Diskussion einander angenähert (z.B. Saran, 138— 221), andererseits auch wieder gegeneinander abgehoben (dazu Küper, 102—111, 230-234; Burdorf, 69-73). Das Heraustreten aus einer erwartbaren metrischen oder rhythmischen Ordnung

WortG: Griech. ρυθμός [rhythmós] .Ordnung der Bewegung', ,Tonfall', ,Zeitfall', übertragen auch .Harmonie', .Ordnung und Gesetz schlechthin', ist zuerst im 6. Jh. v. Chr. belegt. Die etymologische Herleitung (vgl. Wagner) hängt von der Begriffs-

BegrG: Mit der Funktion des Rhythmus für Tanz, Musik, Dichtkunst, Natur und menschliche Ordnung überhaupt beschäftigten sich schon antike Philosophen wie Piaton (,Nomoi l 664 e), Aristoteles (.Politik' 1340 a 38 ff.) oder Augustinus (,De musica' 6,13). Über vermittelnde Stationen hinweg (ausführlich dazu HWbPh 8, 1026-1036), unter denen das musikalische Mensuralsystem des 15. und 16. Jhs. (vgl. MGG 2 8, 258-317), die körperbezogene Wende der Begriffsentwicklung bei Isaac Vossius (dt. Vossius 1779; Original lat. ,De poematum cantu et viribus rhythmi', Oxford 1673), die metrischen Konzeptionen Klopstocks und seine antikisierende Erfindung von /" Freien Rhythmen entscheidenden Einfluß gewannen (vgl. Hellmuth, Torra-Mattenklott), knüpfte die neuere Diskussion wieder an philosophische Positionen an, ζ. B. mit den entsprechenden Artikeln in Sulzers enzyklopädischer Darstellung seit 1771 (Sulzer 4, 90-105).

Rhythmus wird Arrhythmie genannt. Sie kann als störende (bzw. komische oder .malende') TONBEUGUNG durch Versakzente im Widerstreit mit Wortakzenten empfunden werden (Paul-Glier, § 5; dazu Wagenknecht 2002), aber auch als höchst wirkungsvolles Ausdrucksmittel (/" Akzent). Kommt der rhythmische Fluß im Wechsel der Hebungen und Senkungen beim Übergang von einer Verszeile zur anderen nicht zur Ruhe, spricht man von SYNAPHIE oder FUGUNG, im gegenteiligen Falle von ASYNAPHIE ( / Enjambement; Hakenstil, ? Zeilenstil). SachG: Ursprünglich gehörten Tanz, Musik und Dichtkunst als ,orchestischer Rhythmus' eng zusammen (dazu Saran, 148— 156). Musik und Sprachkunst haben sich aber auch eigenständige Rhythmus-Traditionen geschaffen, die sich ihrerseits wieder gegenseitig beeinflussen konnten. Offensichtlich stellt seit der Mitte des 18. Jhs. das Zurücktreten festgeprägter Rhythmusvorgaben in Teilen avantgardistischer Musik wie in der Versdichtung eine weitere Entwicklungsstufe dar, die z.B. schon in den Freien Rhythmen der Goethezeit und verstärkt in den ^ Freien Versen des 20. Jhs. greifbar wird. ForschG: In der akademischen RhythmusForschung gingen Musik- und Versgeschichte zunehmend eigene Wege. Etwas einseitig betonte 1896 Bücher den Zusammenhang von ,Arbeit und Rhythmus'. Die ganze Streubreite der Meinungen zeigte 1949 ein Sammelband der Zeitschrift .Studium Generale' (Trier u.a.; vgl. aktuell noch die essayistischen Entwürfe von Frey und Helbling). 1955 versuchte Benesch eine zusammenfassende und zugleich differenzierende Begriffsbestimmung. Für die literaturwissenschaftliche Versanalyse prägend wurden W. Kaysers Unterscheidungen zwischen ,fließendem',,bauendem',,gestautem' und ,strömendem' Rhythmus (Kayser 12 1966, 100-120; zum Prosa-Rhythmus zusätzlich Kayser, 241—270). Aus musikgeschichtlicher Sicht gab Seidel 1976 einen Überblick über die wichtigsten Forschungsetappen; interdisziplinär ausgreifend dann Zollna 1994. Mohr beurteilte 1971 im Überblick die Forschungslage in der Versge-

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schichte und Verstheorie (fortführend dazu Arndt 121990, 44-60; Wagenknecht 1999, 110—114). Auf den Beitrag der modernen strukturalen Linguistik zur Rhythmusforschung verwies 1988 Küper. Lit: Erwin Arndt: Deutsche Verslehre. Berlin 12 1990. - Hellmuth Benesch: Das Problem des Begriffes Rhythmus. In: Wissenschaftliche Zs. der Friedrich-Schiller-Universität Jena 4 (1954/ 55), S. 359-379. - Karl Bücher: Arbeit und Rhythmus. Leipzig, Berlin 1896, 61924. - Dieter Burdorf: Einführung in die Gedichtanalyse. Stuttgart 1995. - Carl Dahlhaus: Studien zur Geschichte der Rhythmustheorie. In: Jb. des Staatlichen Instituts für Musikforschung 1979/ 1980, S. 133-153. - Hans-Jost Frey: Vier Veränderungen über Rhythmus. Basel 2000. — Hanno Helbling: Rhythmus. Ein Versuch. Frankfurt 1999. - Hans-Heinrich Hellmuth: Metrische Erfindung und metrische Theorie bei Klopstock. München 1973. - Andreas Heusler: Deutsche Versgeschichte. 3 Bde. Berlin, Leipzig 19251929. - Philip Hobsbaum: Metre, rhythm and verse form. London, New York 1996. - Wolfgang Kayser: Kleine deutsche Versschule. Bern 1946, 121966. - Christoph Küper: Sprache und Metrum. Tübingen 1988. - Gerhard Kurz: Macharten. Über Rhythmus, Reim, Stil und Vieldeutigkeit. Göttingen 1999, bes. S. 6 - 2 4 . - Fritz Lockemann: Der Rhythmus des deutschen Verses. München 1960. - Martin Lott: Dichtung, Lyrik und Musik. Bermerkungen zum Rhythmus und der Sprache in der Dichtkunst. Hamburg 1996. - Christine Lubkoll: Rhythmus und Metrum. In: Literaturwissenschaft. Hg. v. Heinrich Bosse und Ulla Renner-Henke. Würzburg 1999, S. 103-121. - Wolfgang Mohr: .Rhythmus'. In: RL 2 3 [1971], S. 456-475. - Barbara Naumann: „Musikalisches Ideen-Instrument." Das Musikalische in Poetik und Sprachtheorie der Frühromantik. Stuttgart 1990. - Otto Paul, Ingeborg Glier: Deutsche Metrik. München 81970. Hugo Riemann: System der musikalischen Rhythmik und Metrik. Leipzig 1903. - Franz Saran: Deutsche Verslehre. München 1907. — Hartwig Schulz: Vom Rhythmus der modernen Lyrik. München 1970. - Hans-Jürgen Schlütter: Der Rhythmus im strengen Knittelvers des 16. Jhs. In: Euphorion 60 (1966), S. 48-90. Dietrich Seckel: Hölderlins Sprachrhythmus. Mit einer Einleitung über das Problem des Rhythmus und einer Bibliographie zur Rhythmus-Forschung. Leipzig 1937, Repr. New York 1967. Wilhelm Seidel: Rhythmus. Eine Begriffsbestimmung. Darmstadt 1976. - Caroline Torra-Mattenklott: Bewegung und Verhalt. Theorien über

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RitorneU

die Kräfte des Rhythmus im 18. Jh. In: Rhythmus. Colloquium Helveticum 32 (2001), S. 7 1 - 9 0 . - Jost Trier: Rhythmus. In: Studium Generale 2 (1949), H. 2/3 [Sammelheft über Rhythmus und Periodik], S. 135-141. - Isaac Vossius: Vom Singen der Gedichte und von der Kraft des Rhythmus. In: Johann Nicolaus Forkel: Musikalisch-kritische Bibliothek. Bd. 3 [1779], Repr. Hildesheim 1964, S. 13-107. Christian Wagenknecht: Deutsche Metrik. München "1999. - C. W.: Zum Begriff der Tonbeugung. In: Metrum, Rhythmus, Performanz. Hg. v. Christoph Küper. Frankfurt 2002, S. 5 9 - 7 4 . Hugo Wagner: Zur Etymologie und Begriffsbestimmung von ,Rhythmus*. In: Bildung und Erziehung 7 (1954), S. 8 9 - 9 3 .

Erwin Arndt / Harald Fricke

Rites de passage S Ritual Ritornell Gedicht aus einem oder mehreren Dreizeilem mit ungereimter Mittelzeile. Expl: Das Ritornell ist eine aus der mittelitalienischen Volksdichtung übernommene lyrische Form aus unterschiedlich vielen dreizeiligen Strophen, in denen die erste und dritte Zeile miteinander reimen, während die Mittelzeile eine f Waise bildet. Zeile 2 und 3 sind im allgemeinen jambische Fünfheber (Endecasillabi, ? Versmaß) mit klingender (,weiblicher') /* Kadenz, Zeile 1 ist dagegen meist kürzer (Halbvers) und beschränkt sich auf einen Anruf (gewöhnlich eines Blumennamens: ,Blumenruf-Ritornell'; vgl. Kayser 1966, 43; Frank, 55), eine Aufforderung oder eine Frage; die Ritornell-Strophe ist also in der Regel heterometrisch Isometrie). WortG: Das Wort geht zurück auf ital. ritornello (Diminutivbildung zu ritorno ,Wiederkehr') ,Wiederholung', heute besonders ,Refrain' (Menichetti, 580). Dies begegnet in der Musik des 14. Jhs. als Bezeichnung eines von den Strophen unterschiedenen ein- bis dreizeiligen Abschnitts im ? Madrigal, im 17./18. Jh. als Bezeichnung eines mehrfach wiederkehrenden kurzen Instru-

mentalsatzes zwischen vokalen Teilen (MGG 2 8, 343-348; zur Weiterentwicklung vgl. z.B. Ruile-Dronke). Als literarischer Gattungsbegriff erscheint es speziell in römischer Tradition, während sich im übrigen Italien dafür eher stornello (wohl aus prov. estorn ,Kontrast', ,Wettstreit') durchsetzt, insbesondere als Bezeichnung für Ritornelle, die bei Wettgesängen — etwa der Venezianer Gondolieri — vorgetragen werden. Auch dieses Wort hat inzwischen Eingang ins Deutsche gefunden (z.B. LexMA 8, 194, s.v.), wobei die Abgrenzung zu Ritornell noch nicht einheitlich terminologisiert ist. BegrG: Die seit dem 17. Jh. reich belegten, ursprünglich wohl zum Teil improvisiert vorgetragenen volkstümlichen italienischen Ritornelle weisen, dem Volkslied-Charakter entsprechend, starke ? Poetische Lizenzen (klangliche wie metrische) auf: f Assonanz statt Reim, abweichende Stellung der Waise, andere Metren als Endecasillabi, Vollvers statt Halbvers in der ersten Zeile u. ä. SachG: Der ,Blumenruf' dürfte sich ursprünglich auf die Geliebte (den Geliebten) beziehen; dementsprechend ist das volkstümliche Ritornell sehr häufig Liebesgedicht, aber auch satirische Inhalte kommen vor. Vielfach ist der Blumenname dem Inhalt der Gedichte äußerlich, zum bloßen Reimlieferanten formalisiert. Als Kunstdichtung begegnet das Ritornell in nennenswertem Umfang erst im 19. Jh., in Italien u.a. bei Dall'Ongaro (,Stornelli italiani', 1847 und 1862, mit patriotischen Inhalten) und Carducci; in Deutschland — teils in Übersetzungen und Nachdichtungen nach italienischen Modellen, teils in Eigenschöpfungen — etwa bei Rückert (beginnend mit ,Hundert Ritornelle von Ariccia', 1817), Wilhelm Müller (,Ständchen in Ritornellen aus Albano'), Heyse (,Lalla. Ein Ritornellenkranz'), Geibel (,Ritornelle von den griechischen Inseln'), Storm (,Frauen-Ritornelle'), Ina Seidel (,Herbstritornelle'), Borchardt (,Nelke im Glase', ,Märzwiese') oder Loerke (,Ritornelle'). Auffällig ist dabei, daß das Ritornell ungeachtet seines volkstümlichen Ursprungs im Deutschen durchweg der gehobenen Liebes- und Gedankenlyrik zugehört.

Ritual ForschG: Grundlegend ist wegen ihres Materialreichtums die Darstellung Schuchardts, trotz problematischer genetischer Vermutungen (etwa zur Entstehung aus dem vierzeiligen ,Rispetto'; Schuchardt, 17). Aus einer Verkettung von (isometrischen) Ritornellen, etwa in ,stornello'-Wettbewerben und ähnlichen Wechselgesängen, leitet er die Terzine her (123). Lit: Michele Barbi: Poesia popolare italiana. Florenz 21974. - W. Theodor Elwert: Italienische Metrik. Wiesbaden 21984, S. 129-131. - Horst J. Frank: Hb. der deutschen Strophenformen. Tübingen 21993. - Wolfgang Kayser: Kleine deutsche Vers-Schule [1946], Bern 121966. - Aldo Menichetti: Metrica italiana. Padua 1993. - Jakob Minor: Neuhochdeutsche Metrik. Straßburg 2 1902, S. 470-472. - Jutta Ruile-Dronke: Ritornell und Solo in Mozarts Klavierkonzerten. Tutzing 1978. - Hugo Schuchardt: Ritornell und Terzine. Halle 1874. Werner Helmich

Ritual Nach Anlaß, Verlauf und Präsentationsgestus geregelte, gemeinschaftlich und wiederholt zu vollziehende symbolisch-kommunikative Handlung. Expl: Rituale kommen in mehreren Funktions- und Gestalttypen vor, von der strengen Zeremonie bis zum ekstatischen Tanz. Jedes vermittelt den Teilnehmern einen für ihre Gruppe bedeutsamen Sinn, der von Ursprungsmythen, religiösen Offenbarungen, versöhnenden Opfern, historischen Gründungsakten, Sitten der Väter, natürlichen Zyklen und dgl. hergeleitet wird. Rituale sind in der Regel traditionsbezogene kollektive Bestätigungshandlungen. Doch können sie sich vom Traditionellen lösen, um neuen Werten die Aura ursprünglicher Geltung zu verleihen (z. B. im revolutionären Kultus der ,Göttin der Vernunft'). Die gängige Annahme einer Verdrängung des Rituals durch Rationalität wird durch Forschungen zu modernen massen- und gruppenkulturellen Ritualen sowie zu ritualistischen Gegenbewegungen in Frage gestellt (Soeffner).

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Wesentlich für das Ritual sind demnach nicht traditionelle Sinnvorgaben, sondern das Sinnerlebnis im gemeinschaftlichen, ästhetisierten Vollzug: Die Gestaltqualität rituellen Handelns vermittelt formale Werterlebnisse (wie Ordnung, Geschlossenheit, Freiheit, Ekstase), die die inhaltlichen Werte (z.B. ,Nation') auratisieren. Durch den Anspruch auf formale Unverletzlichkeit ist das Ritual dem ? Tabu verwandt und hat teil an seiner Suggestivkraft. Die Grenze zwischen dem Ritual und anderen Handlungstypen ist fließend. Oft überlagern sich rituell beschwörende und mimetisch-darstellende Vergegenwärtigung mythischen Geschehens. Manche Handlungen oszillieren zwischen gewöhnlicher Zweckund ritueller Gestalthaftigkeit (z.B. .lehrhafte' neben feierlichen' Wiederholungsstrukturen der Rede). Das höfische ZEREMONIELL, das bei kreativer Verwendung ritualästhetischer Mittel die Möglichkeit bietet, aktuelle politische Willensentscheidungen mit der Aura hoher und heiliger Geltung zu verschmelzen, wird teils als,Ritual' (Althof!), teils als Handlungstyp eigener Art (G. Braungart, 200) aufgefaßt. Konstitutiv für das Ritual ist: (1) Gemeinschaftlicher geordneter Vollzug oder innerlicher Mitvollzug der rituellen Handlung durch alle Anwesenden (im Unterschied zur Zurschaustellung vor einem Publikum). (2) Sinnfällige Abgrenzung gegen das Gewöhnliche und Zufallige (Kontingenz). Ihr dienen: (a) die tabu-artige Unabänderlichkeit der Handlungs- und Zeichenfolge sowie die Festlegung bestimmter Umstände wie Zeit, Ort, Anlaß, Zulassung, Kostüm; (b) ästhetische Vorgaben des Raum-, Zeitund Handlungserlebens (z. B. zentrische oder symmetrische Raumanordnung und rhythmisch gemessene (Sprach-) Gebärden in Zeremonien; Exzentrizität bis zur Aufhebung sozialer Ordnung in Übergangsritualen und bis zum Grotesken in der rituellen Clownerie); (c) die Dominanz autoreferentieller Zeichen (z. B. Redundanz schmükkender bei Vermeidung charakterisierender Epitheta); (d) Anbindung an Vorstellungen des Absoluten oder Ganzen wie ,das Heilige', ,das Ewige', ,das All', ,unser Stamm'.

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Ritual

(3) Nicht-rationelles Verhältnis von Zei- rhythmisierter Sprachgebärden das Gefühl chen und Bedeutung: In Ritualen der Ord- der Übereinstimmung mit der Gemeinde nung herrschen Polysemie (/" Ambiguität) der Gleichgestimmten vermittelt. und Redundanz (/" Information)', Rituale [Terminologisches Feld:] der suspendierten Ordnung (Turner 1969: Unter Ritus versteht man die gottes,Anti-Struktur') lösen vorübergehend die dienstliche Ordnung oder eine einzelne Zuordnung der Zeichen und Bedeutungen Kulthandlung. Zeremonie (von lat. caereauf (Babcock). monia ,Ehrfurcht', ,Heiligkeit', .Religions(4) Präsentationssymbolik: Ihr Charak- brauch') bezeichnet eher die profane Feierter ist die ostensiv-expressive Gebärde. Sie lichkeit mit hohen Repräsentanten und/ verweist nicht primär auf Bewußtseinsin- oder hohem Aufwand (/" Repräsentation2). halte, sondern ,stellt sich dar': als ein Tun Zeremoniell heißt das entsprechende Regelund Verhalten, das die intendierte Wirklich- werk, aber auch die feierliche Handlung keit gestisch konstituiert. Wirkung und selbst. Wert solch sinnfälliger Symbolik liegt im inDas biologische Ritual (die zum Verhaltensiven leiblich-seelischen Miterleben. In tensrepertoire einer Art gehörende KundRitualen, die an repräsentationsmächtige gabe instinkt- und reflexbedingter EinstelInstitutionen gebunden sind, verbindet sich lung) und seine Übertragung auf zwanghafder Präsentationswert mit dem Repräsenta- tes stereotypes Verhalten des Menschen ist tionswert der Symbolik. von dem hier behandelten kulturwissenGegenstand der Literaturwissenschaft schaftlichen Ritual-Begriff zu trennen. Ein sind Rituale in den Fällen, wo (1) Texte solches automatisiertes Verhalten nach vorTeile von Ritualen sind (s Liturgie, ? Li- geprägten, meist obsoleten Mustern heißt turgische Texte), (2) Literatur Rituale schil- RITUALISMUS; neben dieser Bedeutung (a) dert (Dörrich), (3) Literatur selbst rituelle wird als Ritualismus (b) die Tendenz beoder pararituelle Strukturen aufweist (z. B. zeichnet, volkstümliche religiöse Rituale gePrüfung des Helden in der Art von Initia- genüber der Amtskirche oder römisch-kationsritualen; Anrufung eines Höheren in tholische Rituale gegenüber der anglikanider f Hymne\ vgl. s Hymnus), (4) die Re- schen Kirche (,Oxford Movement') zu belezeption von Literatur in einen rituellen ben. Von ROUTINEN oder InteraktionsrituaRahmen eingebettet ist ( ^ Fest, Dichter- len (Goffman 1967) sind echte Rituale feier). Am engsten ist die Beziehung beim durch ihre Formgebundenheit, die damit siTheater: Dieses steht in der Spannung zwi- gnalisierte Nicht-Alltäglichkeit und ihre Geschen freiem literarischem Spiel und tragen- stalt· und Erlebnisqualität abgesetzt. den Elementen aus Kultus oder Zeremoniell Übergangs- oder Initiationsrituale (RITES (z. B. Tragödie; ^ Geistliches Spiel·, Ri- DE PASSAGE; van Gennep) begleiten den Statualtheater der /" Avantgarde, namentlich tuswechsel von Personen (z. B. das ErwachA. Artauds). senwerden, die Aufnahme in einen Orden) In wechselseitiger theoretischer Annähe- durch dreiphasige Inszenierung: Aussonderung der Fachwissenschaften wird das ritu- rung der Initianden aus der Ordnung, vorelle Handeln als ,Text' (Geertz), der litera- bereitendes Verharren derselben in einem rische Text als .symbolisches Handeln' außergesellschaftlichen Schwellen- oder LI(Burke) aufgefaßt. — Die Frage, ob literari- MINAIREN Zustand, Wiedereingliederung. sche Kommunikation Ritualcharakter hat, Die Struktur und ihre Symbolik (Turner wird auch danach entschieden werden, ob 1969) prägten literarische Werke und Episoein an Institutionalisierung gebundener den zu allen Zeiten, wie man jetzt erkennt. oder (mit W. Braungart 1996, 151 f.) ein Um einer Ausweitung des Ritualbegriffs durch ästhetische Gestaltqualität begründe- auf jede Art formgebundener Literatur und ter Ritualbegriff zugrunde gelegt wird. Im Literaturrezeption entgegenzusteuern, wurde letzteren Fall wäre sogar das einsame Lesen für ritualanaloge Merkmale derselben der der ,Empfindsamen' als ein ritualisierter Ausdruck pararituell vorgeschlagen (Müller Akt zu betrachten, der im Nachvollzug 1996, 45).

Ritual WortG/BegrG: Lat. ritus bedeutet ,Kultbrauch', selten .magischer Brauch', ,Sitte', ,Art und Weise'. Thomas von Aquin nennt ritus den religiösen Kult, insbesondere den äußeren Vollzug der Sakramente (Glei/Natzel, 1052). Das lat. Nomen rituale (,das den Ritus Betreffende'), dt. das Ritual(e), bezeichnet bis ins 20. Jh. die gedruckten christlichen Gottesdienstordnungen, aber auch die Zeremonienbücher der Freimaurer. Die Erforschung schriftferner Kulturen führte zur Übertragung des Terminus vom schriftlichen Regelwerk auf die konkreten Akte des Kults (vgl. ζ. B. den Stichwortkatalog der Staatsbibliothek Berlin). In diesem Sinn wird Ritual im frühen 20. Jh. in die deutsche Wissenschaftssprache, auch in psychoanalytische Überlegungen, eingeführt (Reik 1919, nachdem Freud 1907 in .Zwangshandlungen und Religionsübungen' im gleichen Sinn den Ausdruck Zeremoniell gebraucht hatte). Die Terminologie ist (noch) unfest und ζ. T. widersprüchlich. Ritual und Ritus werden in der Doppelbedeutung ,Ordnung für ein Vorgehen' und ,Vorgehen nach einer Ordnung' oft synonym gebraucht. Ritual bezeichnet vorrangig (a) den Handlungstyp allgemein, (b) die gesamte Kultordnung einer Religion, (c) einzelne heilige Handlungen nicht-christlicher Gemeinschaften, (d) einzelne rituelle Handlungen profanen Charakters. ForschG: Schleiermachers (1850) Analyse der protestantischen Liturgie schärfte zuerst den Blick für allgemeine Strukturen des Rituals. Die literaturwissenschaftliche RitualForschung entwickelte sich in Abhängigkeit von der anthropologischen und ethnologischen, die meist von Westeuropa und den Vereinigten Staaten ausging. Die auf Befunde gestützte These von der Universalität archaischer Mythen und Rituale unterstrich den anthropologischen Rang des Rituals; unter dieser Perspektive wurden auch rituelle Strukturen der antiken und der abendländischen Literatur von der Wissenschaft wie auch von den schaffenden Autoren neu gesehen. Auf Nietzsches Abhandlung ,Die Geburt der Tragödie' (1872) und auf J. G. Frazers ,The Golden Bough' (1890) basieren Arbei-

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ten von Harrison (1913) und der .Cambridge School of Ritualists' über eine Entwicklung des Rituals zum Drama; die Adäquatheit der These (abwägend Pickard 1927) wurde aus philologischen (Else 1965) und hermeneutischen (Hardin 1983) Gründen bezweifelt. Detailliert deuten Fergusson (1949) und Hinden (1974) die Tragödienstruktur als Opferritual im Sinne Frazers. Durkheim (1912) und Hubert/Mauss (1899) durchbrachen die traditionelle Fixierung der Ritual-Forschung auf das Religiöse und fanden im Ritual eine dem f Mythos und Dogma überlegene Kraft der sozialen Integration. Van Genneps (1909) Forschungen fortführend, deutete Turner (1969) den durch die Rites de passage erzeugten Zwischenzustand als vorübergehende Auslöschung sozialer Ordnung und Identität (,Anti-Struktur') sowie als Grundlage eines egalitären ,Communitas'-Erlebnisses, das die Wiedereingliederung in die soziale Hierarchie relativiert. In der unbestimmten Schwellensituation (,Liminalität') sah Turner die Vorstufe der ,liminoiden' Freiheit des Künstlers (1982). Ritual und Kunst seien Entwicklungsstadien der .cultural performance', d.h. der Fähigkeit des Identität (,Anti-Struktur') sowie als Grundlage eines egalitären ,Communitas'-Erlebher zu begreifen und zu lösen. Turner und R. Schechner regten Schauspieler dazu an, archaisches, rituell geprägtes Dasein in communitas-ähnlich arbeitenden Gruppen nachzuspielen und zu erleben. Hier liegen Kunst seien Entwicklungsstadien der .cultural performance', d. h. der Fähigkeit des lieh orientierte /" Kulturtheorie. Die Leistungen des Rituals (wie die geregelte Entladung von Gewalt durch stellvertretende Opfer, Wettkampf und Magie) werden auch für die Kunst postuliert (Schechner 1993). Nach Girard (1972) sind die Tragödien der griechischen Klassik erstrangige anthropologische Dokumente, weil sie die verwandten Mythen und Riten des Opferkults dekonstruieren und sein periodisches Versagen vor menschlicher Gewalt sichtbar machen. Neben solch anthropologisch fundierten kulturtheoretischen Arbeiten stehen Untersuchungen zu einzelnen rituellen Aspekten

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Ritualismus

literarischer Texte: Kulturgeschichtlich begründete Differenzierungen des christlichen Rituals durch Ästhetisierung und Literarisierung der heiligen Texte sind das Thema von Quast (1999), der damit einen Wesensgegensatz zwischen (mittelalterlichem) Ritual und (neuzeitlicher) Kunst in Frage stellt. Warning (1974) weist auf Rückfálle des Geistlichen Spiels in archaische Exzesse unter dem Einfluß des Laienpublikums hin. Die epische Verarbeitung und Umdeutung mittelalterlicher Rituale untersucht Dörrich (2002). Wie Literatur ein noch ungeregeltes soziales Verhalten zugleich offen reflektiert und vorbildhaft ritualisiert, zeigt Müller (1996) am Minnesang. Die von der pragmatischen Theorie der Rhetorik ignorierte Ritualisierungsfunktion rhetorischer Stilmittel wird von Hahl (1993) textanalytisch nachgewiesen und begrifflich präzisiert. W. Braungart behandelt umfassend und mit interdisziplinärer Orientierung die literaturwissenschaftliche und gattungsspezifische Bedeutung des Ritualbegriffs (1996); darauf beruht seine Untersuchung über die ästhetizistische Adaptation des katholischen Ritus bei Stefan George (1997). Lit: Gerd Althoff: Spielregeln der Politik im Mittelalter. Darmstadt 1997. - Antonin Artaud: Das Theater und sein Double [1938], Frankfurt 1969. - Barbara A. Babcock: Too many, too few. Ritual modes of signification. In: Semiotica 23 (1978), S. 291-302. - Catherine Bell: Ritual. New York 1997. - Andréa Belliger, David J. Krieger (Hg.): Ritualtheorien. Opladen 1998. Georg Braungart: Die höfische Rede im zeremoniellen Ablauf. In: Zeremoniell als höfische Ästhetik in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. Hg. v. Jörg Jochen Berns und Thomas Rahn. Tübingen 1995, S. 198-208. - Wolfgang Braungart: Ritual und Literatur. Tübingen 1996. - W. B.: Ästhetischer Katholizismus. Stefan Georges Rituale der Literatur. Tübingen 1997. - Kenneth Burke: Dichtung als symbolische Handlung. Frankfurt 1966. - Walter Burkert: Anthropologie des religiösen Opfers. München 1984. — W. B.: Kulte des Altertums. München 1998. Corinna Dörrich: Poetik des Rituals. Darmstadt 2002. — Emile Durkheim: Die elementaren Formen des religiösen Lebens [1912]. Frankfurt 1981. — Gerald F. Else: The origin and early form of Greek tragedy. Cambridge/Mass. 1965. — Francis Fergusson: The idea of a theater. Princeton 1949. — C. Clifford Flanigan: The liturgical

drama and its tradition. In: Research Opportunities in Renaissance Drama 18 (1975), S. 81-102; 19 (1976), S. 109-136. - Clifford Geertz: Dichte Beschreibung. Frankfurt 72001. - Arnold van Gennep: Übergangsriten [Les rites de passage, 1909]. Frankfurt, New York 1986. - René Girard: Das Heilige und die Gewalt [1972]. Zürich 1987. - Reinhold Glei, Stephanie Natzel: ,Ritus I'. In: HWPh 8, Sp. 1052f. - Erving Goffman: Interaktionsrituale [1967]. Frankfurt 1971. - Ronald L. Grimes: Research in ritual studies. Metuchen, London 1985. — Werner Hahl: Jeremias Gotthelf - der ,Dichter des Hauses'. Stuttgart 1993. - Richard Hardin: ,Ritual' in recent criticism. In: PMLA 98 (1983), S. 846-862. Jane Ellen Harrison: Ancient art and ritual [1913], New York 1969. - Michael Hinden: Ritual and tragic action. In: The Journal of Aesthetics and Art Criticism 32 (1974), S. 357-373. Henri Hubert, Marcel Mauss: Essai sur la nature et la fonction du sacrifice. In: L'année sociologique 2 (1899), S. 29-138. - Claude Lévi-Strauss: Strukturale Anthropologie. Bd. 1 [1958], Frankfurt 1967, S. 255-264. - C. L.-S.: Das wilde Denken [1962], Frankfurt 1973. - Frank Manning (Hg.): The celebration of society. Perspectives on contemporary cultural performance. Bowling Green u.a. 1983. — Jan-Dirk Müller: Ritual, Sprecherfiktion und Erzählung. In: Wechselspiele. Hg. v. Michael Schilling und Peter Strohschneider. Heidelberg 1996, S. 43-74. - J.-D. M.: Mimesis und Ritual. Zum geistlichen Spiel des Mittelalters. In: Mimesis und Simulation. Hg. v. Andreas Kablitz und Gerhard Neumann. Tübingen 1998, S. 541-571. - Ingwer Paul: Rituelle Kommunikation. Tübingen 1990. - Arthur Wallace Pickard: Dithyramb, tragedy and comedy. Oxford 1927. - Bruno Quast: Vom Kult zur Kunst. Hábil. München 1999. — Theodor Reik: Probleme der Religionspsychologie. Bd. 1: Das Ritual. Leipzig 1919. - Richard Schechner: The future of ritual. London 1993, S. 228-265. - Friedrich Schleiermacher: Die praktische Theologie nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche. Hg. v. Jacob Frerichs. Berlin 1850. — Hans-Georg Soeffner: Auslegung des Alltags. 2 Bde. Frankfurt 1989, 1992. - Victor Turner: Das Ritual. Struktur und Anti-Struktur [1969]. Frankfurt, New York 1988. - V. T.: Vom Ritual zum Theater [1982], Frankfurt, New York 1989. — Edward Burnett Tylor: Primitive culture. 2 Bde. London 1871. — Rainer Warning: Funktion und Struktur. München 1974. Werner Hahl

Ritualismus S Ritual

Robinsonade

Ritus ? Liturgie Robinsonade Romantypus, der sich an zentrale Motive von Defoes,Robinson Crusoe' anlehnt. Expl: Romanhafte, oft abenteuerliche Erzählung, die sich der von Defoe aufgenommenen Modellsituationen des Schiffbruchs, der Isolation von der Gesellschaft und vor allem des Überlebens auf einer einsamen Insel bedient. Defoes Nachahmer haben in vielen Fällen das Reiseabenteuer- oder [Λο/w-Element auf Kosten der bei ihm dominanten Frage des Überlebens durch vernünftiges, planendes Handeln, durch tägliche Rechnungslegung und durch kontinuierliche Selbsterforschung zum Hauptthema ihrer Erzählungen gemacht. WortG: Seit der Mitte des 18. Jhs. ist im dt. Sprachraum der Ausdruck (neben die Robinsone; vgl. Haken 1805-1808) für Romane des oben definierten Typs gebräuchlich, oft auch für jene, die den Namen Robinson nicht im Titel tragen (vgl. Stach). In Frankreich ist eine parallele Entwicklung zu beobachten, während sich im engl. Sprachraum eine entsprechende Begriffsbildung kaum durchgesetzt hat. BegrG: Die Rezensenten der moralischen Wochenschriften und Zeitungen des 18. Jhs. verwenden den Begriff zur Charakterisierung der Flut von Nachahmungen, die das Erscheinen (1719) und die erste deutsche Übersetzung (1720) des ,Robinson Crusoe' auslöste. Allgemeine Tendenz dieser Rezensionen war die Abwertung der ,Robinsonaden' zur Unterhaltungsliteratur. Im 19. und 20. Jh. setzt sich eine gattungstheoretische Bedeutung durch, wobei das Insel-Motiv eine wichtige Rolle bei der Charakterisierung von Texten spielt, die nicht zu den ,Robinson-Crusoe'-Nachahmungen im engeren Sinn gehören. Gelegentlich wird heute der Begriff auch in Zusammenhang mit bestimmten Formen der /" Science Fiction verwendet. SachG: Mit dem Erscheinen von ,The Life and Strange Surprising Adventures of Ro-

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binson Crusoe of York, Mariner' und dem Folgeband ,The Farther Adventures of Robinson Crusoe' (beide 1719) setzt eine rege Übersetzungs- und Nachahmungstätigkeit ein. Defoes Roman wurde bis zum Anfang des 20. Jhs. 17mal ins Deutsche, 20mal ins Französische, fünfmal ins Holländische und dazu noch in viele andere Sprachen übertragen. Schon 1720 liegt der Text in einer von Ludwig Vischer besorgten deutschen Fassung vor. Unmittelbar danach ist in Deutschland eine Nachahmungsproduktion zu beobachten, die im Jahrzehnt nach der Veröffentlichung des .Robinson Crusoe', um die Mitte des Jahrhunderts und zwischen 1790 und 1800 zahlenmäßig am dichtesten ist. Insgesamt werden für den deutschen Sprachraum im 18. Jh. 128 Robinsonaden, Pseudo-Robinsonaden und apokryphe Robinsonaden gezählt; von größter Bedeutung war hier Schnabels ,Insel Felsenburg' von 1731 — 1743 (vgl. Dammann). Dazu kommen noch weitere 131 deutsche und französische Romane dieses Typs im 19. Jh. In diesem Jahrhundert wird die Jugendbuch-Version, für die Joachim Heinrich Campe mit seinem 1779/80 veröffentlichten ,Robinson der Jüngere' das Muster abgibt, traditionsprägend. Für die Robinsonaden sind Anreicherungen von Grundmotiven des Originals mit landsmannschaftlichen bzw. nationalen Besonderheiten charakteristisch. So gibt es einen schlesischen, fränkischen, Brandenburger, ,reußischen', westfälischen, sächsischen neben einem nordischen, dänischen, isländischen, schweizerischen und österreichischen Robinson. Thematisch spiegeln die Robinsonaden in unterschiedlicher Weise und mit unterschiedlichen Schwerpunkten den vielschichtigen Charakter ihres Vorbilds. Defoes R o binson Crusoe' ist in seiner 280jährigen Rezeptionsgeschichte als abenteuerliches Reisebuch, als fiktionale s Autobiographie eines von der Zivilisation isolierten Individuums, als Paradigma bürgerlicher Erfahrungsbewältigung, als Sozialutopie bürgerlichen Zuschnitts, als Darstellung neuzeitlicher Individualisierungsprozesse und als Geschichte der Flucht des modernen Menschen in die Ursprünglichkeit unberührter

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Rokoko

Natur gelesen worden. Alle diese Deutungen finden in der Robinsonaden-Tradition ihren Niederschlag. In Deutschland hat neben Campes pädagogisierender Jugendbuch-Version Schnabels Sozialutopie am nachhaltigsten gewirkt. Im 20. Jh. haben sich auch andere Medien des Stoffes angenommen. Johann Gottfried Schnabel: Insel Felsenburg. Wunderliche Fata einiger Seefahrer. Hg. v. Günter Dammann. 3 Bde. Frankfurt 1997. ForschG: Die Auseinandersetzung der Literaturkritik mit den Robinsonaden ist im 18. Jh. geprägt von moralischen, poetologischen und ästhetischen Vorbehalten. Die einem stereotypen Handlungsablauf gehorchenden Texte werden gemeinhin für pädagogisch nutzlose, schlecht gemachte Phantastereien gehalten, die von Lohnschreibern für ein kleinbürgerliches Publikum ohne Erziehung und Geschmack geschrieben worden sind. Lediglich Schnabels ,Insel Felsenburg' wird wegen seiner erzieherischen Intentionen von dieser Verurteilung ausgenommen. Zugleich zeigt die Häufigkeit, mit der Rezensenten sich diesen Texten widmen, wie populär diese Gattung war. Eine systematische Erforschung des Robinsonaden-Modells mit seinen vielfältigen Variationen setzt erst Ende des 19. Jhs. ein. Nun wird der Versuch unternommen, das unübersichtliche Textmaterial systematisch zu gliedern und die bis dahin nur deskriptiv geleistete und noch unscharfe Gattungskonzeption normativ zu präzisieren. Auch ist eine Neubewertung zu beobachten, die auf einer von Haken getroffenen und auf Rousseaus ,Emile' zurückgehenden Unterscheidung zwischen der „glücklichen Grundidee des .Robinson Crusoe' als Geschichte des Menschen im Kleinen" (Haken 1, S. Vf.) und den für bloßes Beiwerk gehaltenen, abenteuerhaften, fiktionalen Ausgestaltungen aufbaut. Eine entscheidende Schwelle in der Entwicklung des Gattungsbegriffs ist mit Brüggemanns 1914 erschienener Studie zu Schnabels ,Die Insel Felsenburg' erreicht. Brüggemann versucht dort, die Robinsonade über eine Unterscheidung zwischen ,Asyl' und ,ΕχίΓ grundsätzlich von der Utopie abzugrenzen. Diese Unterscheidung ist

in jüngster Zeit von Broich, Reckwitz und Fohrmann relativiert worden. Die moderne Literaturwissenschaft hat durch literatursoziologische Untersuchungen die Bedeutung der Robinsonaden als Projektionsräume bürgerlicher Weltanschauungsmodelle und pädagogischer Utopien klarer herausgearbeitet. Lit: Ulrich Broich: Robinsonade und Science Fiction. In: Anglia 94 (1976), S. 140-162. Fritz Brüggemann: Utopie und Robinsonade. Weimar 1914. — Jürgen Fohrmann: Abenteuer und Bürgertum. Zur Geschichte der deutschen Robinsonaden im 18. Jh. Stuttgart 1981. - Johann Christian Ludwig Haken (Hg.): Bibliothek der Robinsone. 5 Bde. Berlin 1805-1808. - Elke Liebs: Die pädagogische Insel. Studien zur Rezeption des ,Robinson Crusoe' in deutschen Jugendbearbeitungen. Stuttgart 1977. - Dieter Petzold: Daniel Defoe — Robinson Crusoe. München 1982. — Erhard Reckwitz: Die Robinsonade. Amsterdam 1976. — Jürgen Schlaeger: Die Robinsonade als frühbürgerliche ,Eutopia'. In: Utopieforschung. Hg. v. Wilhelm Voßkamp. Bd. 2. Stuttgart 1982, S. 279-298. - Reinhard Stach: Robinson und Robinsonaden in der deutschsprachigen Literatur. Eine Bibliographie. Würzburg 1991. Jürgen Schlaeger

Rokoko Kunstgeschichtlicher, dann auch literaturwissenschaftlicher Sammelbegriff für stilistische Tendenzen zwischen 1740 und 1780. Expl: Im Versuch, die Literatur der nachbarocken und vorklassischen Zeit (/" Klassik2) zu periodisieren, stellt der Begriff ein Angebot dar, die vielfaltigen scherzhaften oder graziösen Sprechweisen der zwischen 1740 und 1780 dominanten Literatur (unabhängig von Gattungsdifferenzierungen) einem einheitlichen Stil zuzuordnen. Mit seiner Anlehnung an die vor allem von Italien, Frankreich und England ausgehende Rokoko-Bewegung (sichtbar in Architektur und Malerei) stellt er für Deutschland eine kulturelle europäische Kontinuität her, die diese Literatur auch in ihrem Eigengewicht aufwertet, obwohl durch die Übertragung

Rokoko von Stilmerkmalen die spezifischen Funktionszusammenhänge dieser Literatur in Deutschland in den Hintergrund treten können. In stilanalytischer Sicht faßt der Begriff die sprachlichen ,Reiz'-Formen und Spielintentionen dieser Literatur zusammen (s Anakreontik, s Empfindsamkeit). Zu ergänzen ist diese durch einen Blick auf deren Entstehungsbedingungen (und damit auf ihr Verhältnis zur f Aufklärung: Formprinzip des s Witzes), durch funktions- und kommunikationsanalytische Einordnungen (,Scherz'-Kultur) oder durch sozialgeschichtliche Erhebungen (Regionalbezug, spezifische Trägergruppen). WortG: Die genaue Entstehung des Worts ist unbekannt; vermutlich geht es auf frz. rocaille zurück (,Muschelwerk'; vgl. Roux 1, 712). Im Umkreis der Französischen Revolution (mit ihrem klassizistischen Architekturideal) bürgert sich die abgewandelte Form rococo als Merkmalsbezeichnung für die, auch politisch bestimmte, ,abgelebte' Kunst und Kultur des Ancien régime ein. In abwertender Form wird das Wort in der 1. Hälfte des 19. Jhs. ins Dt. übernommen (Kluge-Mitzka, 605). François Roux: Nouveau dictionnaire françois et allemand, allemand et françois. 2 Bde. Halle 2 1767.

BegrG: Noch im /" Vormärz (Hoffmann ν. Fallersleben, H. Laube) bleibt die enge Verbindung von kunsttheoretischem und politischem Diskurs bestehen (,Rokoko' als das politisch zu Bekämpfende); erst nach 1848 verliert dieser Impuls an Bedeutung, ohne daß damit das kunsttheoretische Verdikt aufgehoben wird. Als unvoreingenommen charakterisierende Bezeichnung für einen literarischen Zeitoder Epochenstil ist der Rokoko-Begriff neueren Datums. Im 1. Drittel des 20. Jhs. und unter dem Einfluß eines wachsenden Enthusiasmus für eine vorrevolutionäre ,Kultur der Lebensfreude' konnte er der Melancholie des s Fin de siècle entgegengehalten werden. In einer Sammlung unter dem Titel ,Rokoko. Das galante Zeitalter' von 1913 entfaltet sich das Panorama der Zeit vor 1789, wobei auch literarische Bei-

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spiele angeführt werden. Als literaturgeschichtliche Periode gewinnt der Begriff Kontur nach dem 1. Weltkrieg (zuerst bei Wiegand 1922). Rudolf Pechel (Hg.): Rokoko. Berlin 1913. - Julius Wiegand: Geschichte der deutschen Dichtung. Köln 1922.

SachG: In Deutschland setzt der mit der Rokoko-Vokabel benannte Geschmacksund Wertewandel um 1740 ein und wird in der .scherzhaften Literatur' dominant bis hin zum jungen Goethe (,Annette. Lieder mit Melodien', 1767) und über ihn hinaus. Zwar ist das Vorbild Frankreich, doch daneben tritt die englische Literatur mit ihrer ,moral grace'-Lehre (Shaftesbury, Prior, Pope), die der deutschen (Gesellschafts-) Kultur entgegenkommt. Von England beeinflußt ist F. v. Hagedorn, der mit seinem .Versuch in poetischen Fabeln und Erzählungen' (1738) und seiner .Sammlung Neuer Oden und Lieder' (1742-1752) den Anstoß zu einer Bewegung gibt, die kaum einen Literaten unberührt läßt. Was in Universitätsstädten (Leipzig, aber auch das pietistische Halle) zunächst als anti-autoritärer Aufruhr gegen die Erfahrung hierarchischer Beengungen begann, etabliert sich als Stil- und Haltungsgestus auf einem literarischen Markt, der durch entsprechende Publikationsorgane (etwa Belustigungen des Verstandes und Witzes', 1741-1745; .Neue Beyträge zum Vergnügen des Verstandes und Witzes', 1744-1748; Ermunterungen zum Vergnügen des Gemüths', 1747/48) einen regen Austausch ermöglicht. Von den vierziger bis zu den sechziger Jahren entsteht eine große Zahl literarischer Werke im scherzhaften Stil. Dazu gehören Gleims .Versuch in Scherzhaften Liedern', 1744/45), Lessings .Kleinigkeiten' (1751), C. F. Weißes .Scherzhafte Lieder' (1758), v. Gerstenbergs ,Tändeleyen' (1759), J. G. Jacobis ,Poetische Versuche' (1764) oder - als Höhepunkt — Wielands Romane und Erzählungen (,Don Sylvio von Rosalva', 1764; ,Comische Erzählungen', 1765), in denen sich das scherzhafte Spiel mit der Sinnenund Verstandeswelt im Sinne des Kalokagathia-Ideals (d.h. der Vorstellung einer zugleich körperlichen und geistigen Vollkommenheit) verfeinert.

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Rokoko

Bei allen individuellen Variationen ist dieser Literatur gemeinsam, daß sie Normen der Zeit witzig, scherzhaft oder graziös umspielt (ohne sie — wie in Frankreich zuweilen — grundsätzlich anzuzweifeln), sie ihrer gravitätisch präsentierten Verbindlichkeit beraubt und statt dessen eine lebensfreudige Geselligkeit zelebriert, die im Kontrast zur herrschenden Feudalkultur steht. Die Literatur eröffnet sich einen Freiraum, legitimiert durch die antiken Vorbilder eines Anakreon oder Horaz, deren weltzugeneigtem (wenn auch fiktiven) Arkadien sie in literarischen Formen huldigt, welche die tradierten Gattungsbegrenzungen durchbrechen: Entscheidend ist nun — ob im volkstümlichen ? Lied2, in der Schäferidylle (y Bukolik), im ^ Singspiel, dem geselligen Epyllion, der / Verserzählung, dem Epigramm oder der f Prosa —, daß die Autoren eine Mitteilungsform wählen, welche die Sprache an die Alltagserfahrung (wenn auch im Rollenspiel) bindet und ihr eine .Naivität' ( / Naiv) verleiht, in der Schlichtheit Gegenwartsnähe vermitteln soll. In der Entwicklung der deutschen Literatursprache (besonders der Prosa) zur Natürlichkeit' des Ausdrucks stellt diese Literatur eine wesentliche Etappe dar. Die .Munterkeit' als Äquivalent zur optimistischen Fortschrittsgläubigkeit der Aufklärung befreit die Rokoko-Literatur aus dem Dienst moraldidaktischer Unterweisung und verweist auf ästhetische ? Autonomie, wie sie sich in G. F. Meiers ,Gedancken von Schertzen' (1744) und vor allem in A. G. Baumgartens ,Aesthetica' (1750) erstmals andeutet. Zugleich ist sie als Aufhebung der hierarchisierten Repräsentationskultur des Barock zu verstehen und damit als Gegengewicht zu den politischen und moralischen Machtinstanzen der Zeit, deren feudale Relikte sie ,ins Spiel' bringt und damit ihrer absoluten Verbindlichkeit entkleidet. ForschG: In den Literaturgeschichten von J. Wiegand (1922), H. Cysarz (1924), F. J. Schneider (1924), E. Ermatinger (1926) oder H. H. Borcherdt (1926) erscheint die Literatur zwischen /" Barock und s Klassik2 (mit unterschiedlicher Ausdehnung und

variierender begrifflicher Bewußtheit) als ,Rokokodichtung' rubriziert, wobei zwar eine historische Kontinuität herausgearbeitet wird, durch die Anlehnung an die Kulturgeschichte jedoch zugleich Unschärfen in Kauf genommen werden. Was seitdem literaturgeschichtliches Gemeingut geworden war, forderte in der Folge zu wachsender begrifflicher Präzisierung heraus: Vor allem Heckel (1933; bevor der Begriff nationalsozialistischem Kulturverdikt zum Opfer fiel), nach dem Kriege Anger (1962 u. ö.) und Dieckmann (1972) bestimmten den Begriff im Sinne eines Zeitstils, der die witzige, graziöse oder scherzhafte Poesie des 18. Jhs. in deutscher Sprache zu anderen kulturellen Erscheinungen der Epoche in Beziehung setzen konnte. Mit Böckmanns ,Formprinzip des Witzes' (1932/33) hat sich nahezu zeitgleich mit der Übertragung des kulturgeschichtlichen Rokoko-Begriffs auf die Literatur ein Erklärungsangebot durchgesetzt, das aus dem poetologischen Kernbegriff der Zeit entwickelt wurde und das ästhetische Imaginationsverfahren einer Poesie zu bestimmen suchte, die sich innerhalb des aufklärerischen Begriffskorsetts einen die Sinnlichkeit' neu bewertenden Freiraum schuf. Neben der stiltypologischen Kategorisierung (vor allem Angers) hat sich die formstrukturelle Herleitung dieser Literatur aus dem ,Witz'-Prinzip weitgehend behauptet (u.a. Preisendanz, Bohnen, Verweyen); Differenzen bestehen nicht so sehr in der Bewertung ihres Gegenstandes als vielmehr in der unterschiedlichen Gewichtung von (stilistischer) Erscheinungsform und ästhetischer, Geisteshaltung und Formsignatur verbindender Einordnung in eine Formgeschichte der Literatur. Als Belastung wurde dabei überwiegend die Angleichung an den kunstgeschichtlichen Terminus verstanden. Schüsseler (1990) sucht gegenüber diesen beiden Erklärungsversuchen in funktionaler und kommunikationsästhetischer Sicht (mit Vorläufern bei Pereis, Zeman u.a.) den Scherz-Begriff als umfassendes ,Kernwort' einer auf geselligen Dialog angelegten, experimentier- und spielfreudig die Normen der Zeit ins Gleiten bringende Literatur zu inthronisieren und gelangt dabei zu (auch

Rolle sprachlichen) Differenzierungen, die das ,Formprinzip des Witzes' zeitlich und thematisch ausweiten und der Rokoko-Konzeption eine anthropologische und soziale Fundierung geben. Lit: Alfred Anger: Literarisches Rokoko. Stuttgart 1962, 21968. - A.A.: Deutsche RokokoDichtung. Stuttgart 1963, 21968. - Α. Α.: Rokokodichtung und Anakreontik. In: Europäische Aufklärung 1. Hg. v. Walter Hinck. Frankfurt 1974, S. 91-118. - Paul Böckmann: Das Formprinzip des Witzes in der Frühzeit der deutschen Aufklärung. In: JbFDH 1932/33, S. 52-130. Klaus Bohnen: ,Literarisches Rokoko'. In: Text & Kontext 1 (1973), S. 3-30. - Κ. B.: Eine „Critik der Schertze". In: Georg Friedrich Meier: Gedancken von Schertzen [1744]. Kopenhagen 1977, S. VIII-XXXIV. - Κ. B.: Nachwort. In: Deutsche Gedichte des 18. Jhs. Hg. ν. Κ. B. Stuttgart 1987, S. 433-443. - Herbert Dieckmann: Überlegungen zur Verwendung von .Rokoko' als Epochenbegriff. In: H. D.: Diderot und die Aufklärung. Stuttgart 1972, S. 80-97. - Helmut Hatzfeld: Rokoko als literarischer Epochenstil in Frankreich. In: Studies in Philology 35 (1938), S. 532-565. - H. H.: The rococo. New York 1972. - Hans Heckel: Zu Begriff und Wesen des literarischen Rokoko in Deutschland. In: Fs. Theodor Siebs [1933]. Hg. v. Walther Steller. Repr. Hildesheim u.a. 1977, S. 213-250. - Ulrich Im Hof: Das gesellige Jahrhundert. München 1982. - Hella Jäger: Naivität. Kronberg 1975. - Matthias Luserke u.a. (Hg.): Literatur und Kultur des Rokoko. Göttingen 2001. - Anselm Maler: Der Held im Salon. Zum antiheroischen Programm deutscher Rokokoepik. Tübingen 1973. - Wolfram Mauser: Anakreon als Therapie? Zur medizinisch-diätetischen Begründung der Rokokodichtung. In: Lessing Yearbook 20 (1988), S. 87-120. - Christoph Pereis: Studien zur Aufnahme und Kritik der Rokokolyrik zwischen 1740 und 1760. Göttingen 1974. - Wolfgang Preisendanz: Wieland und die Verserzählung des 18. Jhs. In: GRM 43 (1962), S. 17—31. - Wolfdietrich Rasch: Freundschaftskult und Freundschaftsdichtung im deutschen Schrifttum des 18. Jhs. Halle 1936. - Karl Richter: Geselligkeit und Gesellschaft in Gedichten des Rokoko. In: Schiller-Jb. 18 (1974), S. 245267. - Heinz Schlaffer: Musa iocosa. Stuttgart 1971. - Matti Schüsseler: Unbeschwert aufgeklärt. Tübingen 1990. - Bengt A. Serensen: Das deutsche Rokoko und die Verserzählung im 18. Jh. In: Euphorion 48 (1954), S. 125-152. Theodor Verweyen: Emanzipation der Sinnlich-

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keit im Rokoko? In: GRM NF 25 (1975), S. 276-306. — Herbert Zeman: Die deutsche anakreontische Dichtung. Stuttgart 1972. Klaus Bohnen

Rolle Vornehmlich die im Dramentext für Darstellung durch Schauspieler konzipierte Figur. Expl: Der Rollen-Begriff, der außerhalb des Theaters das gesellschaftlich geregelte Verhalten von Individuen bezeichnet, ist literarisch eng mit der Bühnenrealisierung eines ? Dramas verbunden. Die dramatische ? Figur3 stellt einen Entwurf dar, der unterschiedlich interpretiert werden kann (/" Inszenierung). Indem der / Schauspieler die Figur verkörpert, verleiht er ihr sowohl reale (d.h.: seine eigene) wie auch fiktive (d.h.: durch Verstellung vorgespiegelte) Wirklichkeit. Die Beziehung von Rolle und Schauspieler bewegt sich im Spannungsfeld von völliger / Identifikation einerseits und professioneller Distanz andererseits. Nach lange gültigen Theater-Traditionen wird der Schauspieler-Beruf kategorial untergliedert nach .Rollenfächern', unter denen es neben typischen HAUPTROLLEN (wie JugendlichNaive', ,Salondame', .Schwerer Held') auch notorische NEBENROLLEN gibt, die sog. ,Würzen' oder CHARGEN, die etwa als bloße Confidentes (S Figurenkonstellation) oder auch als reine Funktionsträger des Handlungsablaufs dienen. Rollenspiel wird innerliterarisch selber thematisiert z. B. in der Verwechslungs-Komödie (/" Bühnenkomik). Durch Verkleidung oder spielerischen Geschlechtertausch — z. B. die besonders in der Oper beliebten HOSENROLLEN — kann es sogar handlungsbestimmende Dominanz gewinnen. Bühnenkonventionen wie das ? Spiel im Spiel, eine Rahmenhandlung, ? Prolog und /" Epilog sowie einige Formen der Bühnenrede (s Monolog, Α-parte- und Ad-spectatores-Sprechen) verweisen häufig demonstrativ auf den Spielcharakter der Theaterhandlung und des Rollenspiels.

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Rolle

Die vom Theater ausgehende Erweiterung des Rollenbegriffs hatte zur Folge, daß literarische Figuren aller Art, insofern ihr sozial geregeltes Verhalten in Rede steht, häufig als Rollen bezeichnet werden — zumal im Rahmen epischer Fiktion. Wo Lyrik an eine identifizierbare Sprecherfigur gebunden ist, spricht man vom /" Rollengedicht. WortG: Das im Dt. seit dem 15. Jh. gebräuchliche Wort (mhd. rolle) ist dem frz. rôle entlehnt und geht auf lat. rotulus, rotula ,Rädchen' zurück (DWb 14, 1137-1140). Es bezeichnete zunächst ein Schriftstück, das auf ein rundes Holz aufgerollt wurde (/" Rotulus). Nach mittelalterlichen Vorläufern wurde es im 16. Jh. üblich, den Schauspieler-Part auf einer Papierrolle festzuhalten; das Begriffswort Rolle wurde dann auf die vom Schauspieler zu realisierende dramatische Figur selbst übertragen (KlugeSeebold23, 691; Paul-Betz, 516). Wohl ausgehend von der Theater-Metapher für die Welt (/" Theater, s Welttheater) und von der Auffassung des Lebens als Schauspiel, wird Rolle besonders im 20. Jh. auf vorgeprägtes gesellschaftliches Verhalten insgesamt übertragen — zunächst vor allem in der Soziologie, über die /" Literatursoziologie dann aber auch rückübertragen auf literarische Texte. BegrG: Die teilweise leidenschaftlich geführten Auseinandersetzungen um theatergerechte Rollen-Konzeptionen begannen mit R. de Sainte-Albines Diskurs ,Le comédien' (1747), der die totale Identifikation mit der Rolle und eine illusionistische Wirkung des Spiels forderte. Heftigen Widerspruch erfuhren diese Vorstellungen durch den jüngeren F. Riccoboni in ,L'art du théâtre' (1750) ebenso wie durch Diderot in,Paradoxe sur le comédien' (1769). Lessing (,Hamburgische Dramaturgie', 2 . - 5 . Stück) teilte Riccobonis Auffassung von der Notwendigkeit der Distanz zwischen Schauspieler und Rolle, anders als Goethe in seinen ,Regeln für Schauspieler' von 1803. Solche konträren Positionen bestimmten die theoretischen Reflexionen über die Schauspielkunst auch im 19. und 20. Jh.,

mit H. Irving und J. Copeau als konsequenten Befürwortern der Rollen-Identifikation, C. Coquelin sowie Brecht (v. a. im 4. Nachtrag zur Theorie des ,Messingkaufs') als engagierten Verfechtern der Rollendistanz. Die Theaterpraxis hat den „schroffen Dualismus zwischen emotionaler Rollen-Identifikation einerseits und rationaler Rollendistanz andererseits" entschärft (Lazarowicz/Balme, 136 f.). Der erweiterte Rollen-Begriff ist vor allem von der soziologischen Rollentheorie beeinflußt worden, in der die Diskussion um das Verhältnis von Individualität und gesellschaftlicher Prägung kreist (vgl. z.B. Plessner, Dreitzel). SachG: Das antike Theater kennzeichnete die Rollen durch /" Masken, eine Konvention, die noch in der / Commedia dell'arte und ihren Wiederaufnahmen, z.B. im Drama des Expressionismus, Verwendung fand. Der Topos vom Welttheater mit Gott als Spielleiter und den Menschen als Rollenspielern fand vom späten Mittelalter (/" Moralität) bis ins 20. Jh. vielfältige Gestaltung. Während die Dramatiker des / Naturalismus die Verwandlung des Schauspielers in die fiktive Figur forderten und besonders der russische Theater-Reformator Stanislawski die erlebnismäßig fundierte Einfühlung des Schauspielers in die Rolle propagierte, erfolgte im ? Epischen Theater wie im S Absurden Theater die Dissoziation von Rolle und dramatischer Figur (vgl. Typus, ? Charakter). Das Theater der Moderne (Pirandello, Brecht, Pinter, Beckett) thematisiert verstärkt die Rollendistanz — sei es durch explizites Rollenspiel, um Erzeugung von ? Illusion zu verhindern, sei es als Ausdruck von Entfremdung, Desorientierung, fehlender personaler Identität in einer nicht mehr bestimmbaren Wirklichkeit. ForschG: Eine sozialwissenschaftliche Diskussion des aus der Theaterwelt bezogenen Rollen-Begriffs entwickelte sich seit den 1930er Jahren in den USA (J. L. Moreno 1924, engl. 1947 u. ö.; Mead 1934; Goffman 1956 u. ö.), später auch wieder in dt. Sprache (z. B. Dahrendorf, Popitz). Die Anwen-

Rollengedicht dung der soziologischen Rollentheorie auf die Literatur erfolgte zuerst durch Soziologen wie L. v. Wiese oder F. E. Merrill selbst; in den 1970er und 1980er Jahren übernahm dann die Literaturwissenschaft die sozialwissenschaftliche Rollentheorie als begriffliche Schablone für die Handlungs- und Figuren-Analyse (ζ. B. bei Karnick auch über den traditionellen Anwendungsbereich des Theaters auf die Epik ausgreifend) — nach dem Leitgedanken, daß es in Drama (Mengel, Schwanitz) und Roman (K. Müller) um die Gestaltung von gesellschaftlicher Wirklichkeit und Interaktionen von Menschen gehe. Jauß hat 1979 Affinitäten und Unterschiede von soziologischem und ästhetischem Rollenbegriff aufgedeckt. Der Rückgriff auf sozialpsychologische Untersuchungen zum Identitäts- und Rollenbegriff ermöglichte eine entwicklungsgeschichtliche Theorie der Autobiographie (B. Neumann) und einen neuen Ansatz für die Analyse der Beziehung zwischen Autor und Werk (K. Müller). Lit: Ralf Dahrendorf: Homo Sociologicus: Versuch zur Geschichte, Bedeutung und Kritik der Kategorie der sozialen Rolle [1963], In: R. D.: Pfade aus Utopia. München 31974, S. 128-194, 383-386. - Hans Peter Dreitzel: Die gesellschaftlichen Leiden und das Leiden an der Gesellschaft. Vorstudien zu einer Pathologie des Rollenverhaltens. Stuttgart 1968. - Erving Goffman: Wir alle spielen TTieater: Die Selbstdarstellung im Alltag [1956], München 1969 u. ö. Hans Robert Jauß: Soziologischer und ästhetischer Rollenbegriff. In: Identität. Hg. v. Odo Marquard und Karlheinz Stierle. München 1979, S. 599-607. - Manfred Karnick: Rollenspiel und Welttheater. München 1980. - Klaus Lazarowicz, Christopher Balme (Hg.): Texte zur Theorie des Theaters. Stuttgart 1991, bes. S. 135-301. - George Herbert Mead: Geist, Identität und Gesellschaft aus der Sicht des Sozialbehaviorismus [1934]. Frankfurt 1968 u. ö., S. 177-271. - Ewald Mengel: Harold Pinters Dramen im Spiegel der soziologischen Rollentheorie. Frankfurt u.a. 1978. - Jacob Levy Moreno: Das Stegreiftheater. Potsdam 1924. - Kurt Müller: Identität und Rolle bei Theodore Dreiser. Paderborn 1991, bes. S. 30-48. - Bernd Neumann: Identität und Rollenzwang. Frankfurt 1970, S. 166-192. - Helmut Plessner: Soziale Rollen und menschliche Natur. Düsseldorf, Köln 1966, S. 23-35. - Heinrich Popitz: Der Begriff

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der sozialen Rolle als Element der soziologischen Theorie. Tübingen 1967. — Dietrich Schwanitz: Die Wirklichkeit der Inszenierung und die Inszenierung der Wirklichkeit. Meisenheim 1977. Elke Platz- Waury

Rollengedicht Gedicht, dessen Sprecher-Ich eine fiktive Figur ist. Expl: Im Gegensatz zur Idee des /" Gedichts als einer unmittelbaren Selbstaussprache des Dichters meint der Begriff des Rollengedichts ein lyrisches Gedicht in Ich-Form, dessen Sprecherinstanz als eine dramatisch-fiktionale Rolle erscheint (/* Fiktion). Zu unterscheiden sind .explizite Rollengedichte', die ihren Status durch ihren Titel, durch andere Hinweise in /" Paratexten oder durch Indizien im Gedicht selbst ausdrücklich kenntlich machen (z. B. ,Das Lied des Blinden' von Rilke; viele Gedichteinlagen in romantischen Romanen), von .impliziten Rollengedichten', die ihren Status womöglich nur durch Vergleich mit anderen, im Typus identischen Gedichten zu erkennen geben und deshalb immer wieder zur Verwechslung mit autobiographischer Bekenntnislyrik Anlaß geboten haben — z. B. Lieder des f Minnesangs (vgl. dazu aber Haferland) oder Liebeslyrik des s Petrarkismus. Zumindest die ersteren lassen sich weiter differenzieren in .individualisierende' Rollengedichte, die sich als Aussprache eines bestimmten historischen oder erfundenen Individuums ausgeben (z. B. Goethes Mignon-Lieder oder C. F. Meyers .Cäsar Borjas Ohnmacht'), und in typisierende' Rollengedichte, in denen der Repräsentant eines Standes, Berufes oder einer allgemeinen körperlichen oder seelischen Verfassung spricht — z. B. barocke Schäferpoesie (s Bukolik) oder Gedichte von Eichendorff mit so charakteristischen Titeln wie .Der Glückliche', ,Der Kranke',,Der junge Ehemann'. Die Kategorie des Rollengedichts bezeichnet weniger eine eigenständige literarische Gattung als eine literaturwissenschaftliche Abstraktion. Abgrenzungsprobleme

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Rollengedicht

bestehen sowohl zu anderen Formen rollenhaften Sprechens, wie sie für das Drama kennzeichnend sind, als auch zum Erlebnisgedicht als einem vermeintlich nicht-rollenhaften Sprechen. So muß die Markierung einer Rollenfigur eine Selbstaussprache des Dichters durchaus nicht ausschließen, so wie umgekehrt noch der persönlichste IchAusdruck als eine Rolle begreifbar ist. WortG: Nach zunächst weitläufigeren Umschreibungen des Begriffs wird das Kompositum Rollengedicht wohl von der Germanistik des späten 19. Jhs. geprägt. Vermutlich als erster spricht in den 1880er Jahren W. Scherer von „Rollenliedern" (Scherer, 166), einer seiner Schüler von „Rollengedichten" (v. Waldberg 1885, 132). Als belegbarer Fachterminus durchsetzen kann sich das Wort erst im 20. Jh. (ζ. B. Forstreuter 1928; besonders wohl ab 1948 durch Kayser, 191 f. u. ö., sowie Hamburger, 233-245). Im Frz. begegnet als ungefähre Entsprechung chanson dramatique, im Engl. dramatic

monologue

(zur terminologischen

Differenzierung vgl. Fricke 1982, zur historischen Sonderentwicklung Loehndorf). BegrG: Ein eigener Begriff des Rollengedichts konnte sich erst bilden, nachdem sich im Laufe des 18. Jhs. (u.a. durch Eberts deutsche Rezeption Edward Youngs) mit der Vorstellung des Gedichts als unmittelbaren Empfindungsausdrucks des Subjekts (y Lyrisch) eine Auffassung konsolidiert hatte, die das Moment der Rollenhaftigkeit als etwas dem Gedicht eigentlich Fremdes ausschloß. Solange das lyrische Sprechen in Rollen selbstverständlich war, blieb es ohne eigenen Begriff. Hegel, der „die innere Subjektivität" des Dichters als den „eigentlichen Quell der Lyrik" bestimmt, konzediert in den 1820er Jahren dem Dichter von Gesellschaftslyrik: „er gibt nicht sich, sondern etwas zum besten und ist gleichsam ein Schauspieler, der unendlich viele Rollen durchspielt" (Hegel, 429). Daß auch die moderne Individuallyrik vom Moment der Rollenhaftigkeit nicht frei ist, erkennt zur selben Zeit Wilhelm Müller, der in bezug auf Uhland von einer Lyrik der „Maske" und „objectiven Einkleidung des Gemüths" spricht (Müller, 113).

Terminologischen Rang gewinnt der Begriff bei W. Scherer und seiner Schule; seine postume ,Poetik' von 1888 differenziert die Rede „a) im eigenen Namen; b) in einer Maske; c) in einer Rolle" (Scherer, 161 f.). Die „Rollenlieder der Lyrik" erscheinen dabei als eine „halbdramatische Gattung" (ebd., 166). Aufgrund der Orientierung am herrschenden Paradigma der /" Erlebnislyrik vollzieht sich die Anerkennung des Rollengedichts nur zögernd. So ist dieser Gedichttyp noch für K. Hamburger ein „struktureller Fremdling im lyrischen Raum" (Hamburger, 245). Ein zumindest impliziter Ansatz, das lyrische Sprechen in Ich-Form generell als ein Rollensprechen zu begreifen, liegt dagegen in M. Susmans strenger Unterscheidung von / Lyrischem Ich und „persönlichem Ich des Dichters" (Susman, 16). Im Unterschied sowohl zu Hamburger als auch zu Susman tendiert die Forschung heute dahin, das Rollengedicht als eine Möglichkeit der Lyrik zu akzeptieren, an der nicht unproblematischen Differenz von Erlebnis- und Rollengedicht indes festzuhalten. Johann A. Ebert: Einige Werke von Dr. Ed. Young. 3 Bde. Braunschweig 1777. - Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke [Theorie-Werkausgabe]. Bd. 15. Frankfurt 1970. - Wilhelm Müller: Vermischte Schriften. Hg. v. Gustav Schwab. Bd. 4. Leipzig 1830. - Margarete Susman: Das Wesen der modernen deutschen Lyrik. Stuttgart 1910.

SachG: Von der Antike bis zur Romantik ist das Rollengedicht der dominierende Typus der Lyrik in Ich-Form gewesen. Der normative Charakter der einzelnen lyrischen Gattungen Schloß bis ins Barockzeitalter die ungebrochene Artikulation einer individuellen Befindlichkeit des Dichters (ungeachtet suggestiver bzw. exemplarischer Ich-Gestaltungen; vgl. Hahn) von vornherein aus. Dabei mußte der Rollenstatus keineswegs immer explizit gemacht werden. Das ändert sich erst mit dem 18. Jh. Eine ausdrückliche Markierung der lyrischen Rollen wird nun erforderlich, soll eine Verwechslung des Lyrischen Ichs mit dem Ich des Lyrikers ausgeschlossen werden.

Roman Zugleich ändert sich der Charakter der Rollen selbst. Waren sie zuvor immer auch Elemente in einem öffentlichen Spiel, in d e m sie der ? Unterhaltung¡

und

Reprä-

sentation der Gemeinschaft dienten, so werden sie nun zu mehr oder weniger privaten Imaginationen des Lyrikers, dessen soziale Vereinzelung sie kompensieren, indem sie seine Ausdrucksmöglichkeiten erweitern. Daß die Romantik auf die Konjunktur des Erlebnisgedichts in der frühen Goethezeit mit einer massiven Produktion expliziter Rollengedichte reagiert, dürfte deshalb kein Zufall sein. Der Abstand zur älteren Rollenlyrik vom /" Minnesang über den Petrarkismus u n d die b a r o c k e Kasualpoesie (/" Gelegenheitsgedicht) bis hin z u r /" Anakreontik

ist dabei gleichwohl nicht zu übersehen. Im 20. Jh. tritt der Typus des expliziten Rollengedichtes zurück. ForschG: Abgesehen von gattungspoetischen Diskussionen zur s Lyriktheorie (besonders Killy, 129-153; Fricke 1981, 120126; Lamping, 101-110; Burdorf, 163201) und von Spezialuntersuchungen zu einzelnen Epochen und Autoren (besonders zum Mittelalter: Wehrli, Grubmüller, Händl, Hahn, Haferland) ist eine umfassende Darstellung zur Typologie und Geschichte des Rollengedichts noch ein Desiderat. Insbesondere mangelt es an Studien, die in übergreifender historischer Perspektive die Wahl lyrischer Sprecherrollen in Bezug setzen zum jeweils zeitgenössischen Repertoire sozialer Rollen, sowie an Studien, die darüber hinaus auch den theoretischen Diskurs der betreffenden Epoche über das Prinzip der Rolle miteinbeziehen. Lit: Wolfgang Becker: Das Rollengedicht als Ausdrucksform der romantischen Lyrik. Diss. Leipzig 1950 (masch.). - Dieter Burdorf: Einführung in die Gedichtanalyse. Stuttgart 1995. Kurt Forstreuter: Das Rollengedicht. In: Zs. für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft 22 (1928), S. 17-45. - Harald Fricke: Norm und Abweichung. München 1981. — H. F.: Semantics or pragmatics of fictionality? In: Poetics 11 (1982), S. 439-452. - Klaus Grubmüller: Ich als Rolle. In: Höfische Literatur — Hofgesellschaft - Höfische Lebensformen um 1200. Hg. v. Gert Kaiser und Jan-Dirk Müller. Düsseldorf 1986, S. 387-408. - Claudia Händl: Rollen und prag-

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matische Einbindung. Göppingen 1987. - Harald Haferland: Hohe Minne. Berlin 2000. — Gerhard Hahn: Zu den ,ich'-Aussagen in Walthers Minnesang. In: Müller/Worstbrock 1989, S. 95-104. - Käte Hamburger: Die Logik der Dichtung. Stuttgart 21968 [bes. S. 233-245: Die Ballade und ihr Verhältnis zu Bild- und Rollengedicht]. - Andreas Höfele: Rollen-Ich und lyrisches Ich. Zur Poetik des ,dramatic monologue'. In: LitJb 26 (1985), S. 185-204. - Christoph Irmscher: Masken der Moderne. Würzburg 1992. - Walther Killy: Elemente der Lyrik. München 1972. - Dieter Lamping: Das lyrische Gedicht. Göttingen 1989. — Esther Loehndorf: The master's voices. Robert Browning, the dramatic monologue, and modern poetry. Tübingen 1997. — Jan-Dirk Müller, Franz Josef Worstbrock (Hg.): Waither von der Vogelweide. Fs. Karl-Heinz Borck. Stuttgart 1989. - Wilhelm Scherer: Poetik [1888], Hg. v. Gunter Reiß. Tübingen 1977. Max v. Waldberg: Die galante Lyrik. Straßburg 1885. - Max Wehrli: Rollenlyrik und Selbsterfahrung in Walthers Weltklageliedern. In: Müller/ Worstbrock 1989, S. 105-114. Winfried

Eckel

Roman Sammelbegriff für umfangreiche, selbständig veröffentlichte fiktionale Erzähltexte. Expl: Der Roman ist so vielgestaltig, daß den unterschiedlichen Definitionen nur noch die allgemeinen Merkmale der Form und des Umfangs gemeinsam sind. Selbst diese bedürfen der Einschränkung: (1) Prosaform: Für das Mittelalter und bis in das 16. Jh. werden auch Werke in Versen als Romane bezeichnet. Erst seit dem 17. Jh. gilt die Prosaform weitgehend als konstitutiv für den Roman (was nicht ausschließt, daß er z. B. auch Verseinlagen als Textteile in sich aufnehmen kann). (2) Umfang: Der Roman ist die umfangreichste Gattung der erzählenden Prosa, das setzt ihn von kürzeren, oft als Sammlung publizierten Formen (wie /" Erzählung2, ? Novelle, s Kurzgeschichte)

ab. Es ist aber u m -

stritten, wo die Grenzlinie verläuft — ob man sie pragmatisch z.B. bei einer bestimmten Wörterzahl setzt (Forster, 14) oder ob man den Roman als komplexere

318

Roman

Erzählform strukturell gegenüber den meist einsträngigen kürzeren Formen abgrenzen kann (vgl. ? Komposition).

der / Prosa mit dem Anspruch auf Faktizität oder zumindest Wahrscheinlichkeit auf. Seit dem späten Mittelalter finden sich Versuche, solchen Erzählungen, die durch ihre WortG: Seit dem 12. Jh. wurde in der RoProsaform die „Teilhabe an einer autoritatimania Dichtung in der Volkssprache (lingua ven Schriftkultur" (J.-D. Müller 1985, 20) romana) von Texten in der dominierenden anzeigen, größere Glaubwürdigkeit zuzuGelehrtensprache (lingua latina) abgegrenzt. sprechen und sie zugleich an den Bereich der Von romanicus bzw. dem Adverb romanice Geschichtsschreibung anzubinden (ebd., werden die Namen der Volkssprachen abge65-71; J.-D. Müller 1990, 993-999). Dies leitet: afrz. romanz, span, romance, ital. roerklärt Bezeichnungen wie Hystorij (ebd., manzo. Volkssprachliche Werke in diesen 179), Geschiehtgedieht, Gedichtgeschicht Sprachen — zunächst vor allem Übersetund Gedichtgeschicht-Schriften (S. v. Birken zungen aus dem Lat. — hießen romanz, ro1669; zit. n. Steinecke/Wahrenburg, 62). mani, roman, romance, romanzo. Schon seit Im Kontext dieser Entwicklung wird in dem 12. Jh. ist in Frankreich romanz als Beenglischen und französischen Romanen seit zeichnung für Erzählungen in der Volksdem 17. Jh. die Nähe zur ,Wirklichkeit' ansprache geläufig (vor 1150: ,Alexander'; gestrebt. Um die unpassenden KonnotatioChrétien de Troyes bezeichnet seine Versnen des Begriffs ,Roman' zu meiden, wird epen ausdrücklich als romanz-, vgl. ,Erec et Enide', nach 1170, Schluß/,Explicit'-For- der realitätsnähere Kurzroman in Frankmel; ,Yvain\ ca. 1180, v. 6814f.; vgl. Cur- reich häufiger als nouvelle, in England als tius, 41 f.). Bereits in der Konstituierungs- novel bezeichnet. Diese terminologische phase des volkssprachlichen Erzählens ver- Trennung setzt sich im Laufe des 18. Jhs. bindet sich dieses also mit dem Romanbe- nur hier durch. Das alte Genre wird weitergriff; und im Frz. und Ital. wird damit aus hin als romance bezeichnet (C. Reeve: ,The der Bezeichnung für die Sprache ein Gat- Progress of Romance', 1785). Ähnliche Bemühungen in Deutschland, tungsbegriff. Zugleich zeigt die Wortgeden Wahrheitsanspruch des Romans durch schichte, warum auch Verserzählungen als Romane bezeichnet werden können. In dessen Bezeichnung als .Geschichte' aufzuDeutschland sind zunächst andere Bezeich- werten (Wieland:,Geschichte des Agathon', nungen (Helden- und Liebes-Geschichte, zuerst 1766/67), haben den Romanbegriff nicht verdrängt, zumal sich Ende des Wundergeschichte, Geschiehtgedieht, s Historie) gängig. Für die neue Prosagattung 18. Jhs. hier der Begriff der Novelle für eine bürgert sich Roman erst im 17. Jh. als Über- kürzere Prosaerzählung mit bestimmten setzung aus dem Frz. ein (bis ins 18. Jh. strukturellen Merkmalen durchzusetzen beauch: der Romain, die Romaine; Plural: Ro- ginnt. Seit der Spätaufklärung finden sich mans, Romanen, Romainen): Seit der Über- gehäuft Romanexperimente, durch welche setzung von P.-D. Huets ,Traité de l'origine der Romanbegriff auf andere Gattungsbedes romans' (1670) durch E . G . H a p p e l reiche ausgreift (etwa: F. T. Hase: ,Gustav 1682 (,Der Insulanische MandorelF, darin Aldermann. Ein dramatischer Roman', 1779; vgl. zum Dialogroman /* Dialog2). als Exkurs ,Discours von dem Uhrsprunge Insgesamt erfolgt in Deutschland in der der Romanen') wird Roman gebräuchlich 2. Hälfte des 18. Jhs. eine tiefgreifende Neu(vgl. s Romantheorie). positionierung der Gattung, in deren VerBegrG: Für die Begriffsgeschichte des Ro- lauf die bis dahin überwiegend negativen mans sind vor allem zwei divergierende Konnotationen abgelegt werden, bis der Tendenzen kennzeichnend: Einerseits wird Roman in der Romantik schließlich zur mit dem Begriff lange Zeit (in Deutschland höchsten Dichtgattung erklärt wird (F. etwa bis Ende des 18. Jhs.) das Wortfeld Schlegel: 116.,Athenäums-Fragment' u. ö., phantastisch, lügenhaft, übertrieben, wunder- ,Brief über den Roman', in:,Gespräch über bar verbunden. Andererseits tritt der Ro- die Poesie', 1800; Novalis). Eine Reihe von man seit seiner Konstituierung als Gattung jungen Schriftstellern wählt in dieser Zeit

Roman zur Bezeichnung ihrer Schreibweise das vom Gattungsbegriff abgeleitete Adjektiv romantisch. Die Epochenbezeichnung / Romantik geht ursprünglich auf dieses Verständnis von Roman und romantisch zurück. Als nach der Blütezeit der Romantik auch in Deutschland die Forderung nach Wirklichkeitsnähe stärker wird, suchen einige Kritiker (Tieck, Alexis) nach englischem Vorbild für das inhaltlich neue Genre den Begriff Novelle durchzusetzen (Belege bei Steinecke 1, 51). Noch im gesamten 19. Jh. bezeichnen Schriftsteller auch umfangreiche Werke als Novellen (Mörike: ,Maler Nolten'; Fontane vielfach). Allerdings wurde das eher negativ besetzte Adjektiv romanhaft immer seltener zur Kennzeichnung des Romans verwendet, und auch das Adjektiv romantisch wurde kaum noch als zu der Gattung ,Roman' gehörig betrachtet. So verlor die Bezeichnung Roman immer mehr die negativen Konnotationen und setzte sich seit Ende des 19. Jhs. vollständig durch. Jan-Dirk Müller (Hg.): Romane des 15. und 16. Jhs. Frankfurt 1990. - Hartmut Steinecke, Fritz Wahrenburg (Hg.): Romantheorie. Texte vom Barock bis zur Gegenwart. Stuttgart 1999.

SachG: Da der Roman in antiken Poetiken nicht behandelt wird und das Wort Roman im Griechischen oder Lateinischen keine Entsprechung besitzt, kann die Bezeichnung nur sekundär auf Texte mit Merkmalen der späteren Gattung übertragen werden. Ausgegangen wird in der Forschung von einem Korpus fiktiver Prosaerzählungen größeren Umfangs (mit den thematischen Konstanten Liebe und Abenteuer) aus der hellenistischen Zeit, welche die Prosaform mit der Geschichtsschreibung, den fiktiven Charakter mit dem Epos gemeinsam haben, von dem sie auch strukturell und inhaltlich beeinflußt sind. So hat insbesondere die ,Odyssee' mit ihren Abenteuern, den Trennungs- und Wiederfindungsgeschichten, ein vielbenutztes Modell geliefert. Der Beginn des Romans als einer unreglementiert-hybriden Prosagattung, die andere literarische Formen integrieren kann, wird etwa im 2. bis 1. vorchristlichen Jh.

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angesetzt. Zu den wichtigsten Werken werden gerechnet: Petronius, ,Satyricon' (lat., ca. 50 n. Chr.); Apuleius, .Metamorphoses' (lat., 2. Jh. n. Chr.) — auch bekannt als ,Asinus aureus' (,Der goldene Esel'); Longos von Lesbos, ,Daphnis und Chloë' (vermutlich Wende vom 2. zum 3. Jh.); Heliodor schließlich schuf mit dem Werk ,Aithiopiká' (3. oder 4 Jh.) das komplexeste griechische Beispiel. Wenn vom Roman des Mittelalters die Rede ist, sind damit überwiegend Versromane gemeint (/" Höfischer Roman, ? Artusepik), wobei die verwendete Begrifflichkeit literaturtheoretische Modelle impliziert: ,Versepik' betont im Gefolge von Hegels Konzeption des /" Epos „die Bindung des Helden in eine Lebenstotalität mit festen Ordnungen" (Haug, 91; vgl. auch Heldendichtung), während die Verwendung des Begriffs ,Roman' auf die Offenheit des Sinns und die Funktion der Dichtung als „Medium der Sinnerschließung" (Haug, 92) zielt. Im späten Mittelalter werden einige der Versromane in Prosa aufgelöst. Hinzu treten Prosaerzählungen unterschiedlichen Typs, die sich häufig an historiographischen Darstellungsformen orientieren (/* Prosaromari). In Frankreich setzt dieser Prozeß schon im 13. Jh. ein, in Deutschland im wesentlichen erst im 15. Jh. Seit dem frühen 16. Jh. erscheinen auch ,Originalromane' (von denen keine Vorlagen bekannt sind), darunter vor allem bedeutend: der ,Fortunatus' (1509), die Werke von G. Wickram und das ,Faustbuch' (1587). Noch längere Zeit dominieren jedoch eindeutig Adaptationen und Nachahmungen ausländischer Muster: J. Fischarts ,Geschichtklitterung' (1575, erst 21582 unter diesem Titel; nach Rabelais' Pantagruel', 1533), Werke im Gefolge des ,Don Quijote' (1605/15) von Cervantes und der spanischen Picaroromane, Adaptationen von Heliodors ,Aithiopiká' und insbesondere der ,Amadis'-Romane ( / Höfisch-historischer Roman). Auch in der Ausprägung des Romans in drei Unterarten, den hohen (höfisch-heroischen), mittleren (Schäferroman) und niederen Roman (Picaro- oder /" Schelmenroman), werden ausländische Traditionen aufgegriffen. In Deutschland

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Roman

ist ein wichtiger Anstoß für die Geschichte des Höfisch-historischen Romans die als Muster gedachte Übersetzung von J. Barclays ,Argenis' (1621) durch M. Opitz (1626). Die Traditionen des Schelmenromans hingegen nimmt im 17. Jh. — wie nach ihm J. Beer — vor allem Grimmelshausen auf (u. a. im ,Simplicissimus', 1668, auf dem Titelblatt vordatiert auf 1669, dem wohl bedeutendsten deutschen Roman der Epoche) und kombiniert sie mit allegorischen Formen. Die Spätformen des hohen Romans im 17. Jh. verbinden sich in Deutschland mit dem Konzept der ? Galanten Literatur (/" Heroisch-galanter Roman). Die Fähigkeit des Romans zur Integration anderer Gattungen, vor allem von epischen Kleinformen, aber auch von lyrischen oder didaktischen Texten, stellt ein permanentes innovatives Potential bereit, das nicht zuletzt durch die Weiterentwicklung und Variation der Erzählerposition im Laufe des 18. Jhs. einen erheblichen Formenreichtum hervorbringt. Extremformen sind hier etwa der durch >" Digressionen vielfach das Geschehen zudeckende Erzähler bei Sterne (,Tristram Shandy', 1759— 1767) oder Jean Paul, auf der anderen Seite der aus dem Text weitgehend verschwundene Erzähler des /" Briefromans. Die Anregungen des englischen und französischen (empfindsamen bzw. komischen) Romans werden in Deutschland nach der Mitte des 18. Jhs. aufgenommen, u.a. von Wieland — etwa im ,Don Sylvio von Rosalva' (1764) — oder von S. v. La Roche in der ,Geschichte des Fräuleins von Sternheim' (1771), dem ersten bedeutenden deutschen Roman einer Frau (vgl. ^ Empfindsamkeit). In der ,Geschichte des Agathon' (1766/67; dritte, stark veränderte Fassung 1794) spielt Wieland nicht nur die Subjektivitäts- und Gesellschaftsmodelle sowie die Ethiken der Aufklärung exemplarisch durch, sondern liefert zugleich das Muster der Romantheorie, welche als Gegenstand der Gattung die ,innere Geschichte' (Blanckenburg) eines Helden bestimmt. Goethes ,Die Leiden des jungen Werthers' (1774) steht in der Tradition des Briefromans und macht aus dem Muster Richardsons durch

Konzentration auf einen einzelnen Schreiber eine dichte, betont subjektiv angelegte empfindsame Studie. Moritz liefert mit dem psychologischen Roman' (,Anton Reiser', 1785 — 1790) seine Version der ,inneren Geschichte' im Zeichen der neuen Anthropologie und ,Erfahrungsseelenkunde'. Goethes ,Wilhelm Meisters Lehrjahre' (1795/96) begründet eine neue Gattungstradition und wird zum Prätext für viele Entwicklungsbzw. /" Bildungsromane (Novalis, Stifter, Keller u. a.). Daneben genießen weiterhin Romane großen Leserzuspruch, welche frühere Erfolgsmuster ausbauen und aktualisieren. Von England aus treten im Anschluß an Defoes .Robinson Crusoe' die /" Robinsonaden und an Walpoles ,The Castle of Otranto' der /" Schauerroman (,Gothic novel'), sodann der ? Abenteuerroman und der sentimentale Familienroman (in der Nachfolge von Goldsmith und Richardson) ihren Siegeszug auch in Deutschland an. Im letzten Drittel des 18. Jhs. nimmt die Romanproduktion sprunghaft zu, wird jedoch — nicht zuletzt im Zusammenhang der Dichotomisierung in ,hohe' und,niedere' Literatur — in weiten Teilen aus der literaturkritischen Diskussion und damit für lange Zeit aus der Literaturgeschichte ausgeschlossen (vgl. Eke/Olasz-Eke; ? Trivialliteratur, ? Unterhaltungi). Von den Romantikern wird die Gattung dadurch aufgewertet, daß sie in deren Literaturbegriff zum Paradigma erhoben wird. Allerdings werden die Werke selbst — sowohl in der Realisierung der Theoriepostulate als auch in der tatsächlichen Wirkung — diesem Anspruch nur teilweise gerecht (F. Schlegel: ,Lucinde'; Brentano: ,Godwi'; Arnim: ,Gräfin Dolores'). E. T. A. Hoffmann erzielt mit seinem Romanwerk, das die traditionellen Gattungsmuster ironisiert und destruiert und zugleich unterhaltsam bleibt, europäische Resonanz (,Die Elixiere des Teufels', ,Kater Murr'). Mit W. Scott (,Waverley', 1814) rückt ein neues Paradigma in den Mittelpunkt der europäischen Entwicklung: der ? Historische Roman. Er macht ein neues Ethos der anschaulichen Darstellung (historischer) Realität geltend, das — in modifizierter Form — auch für den

Roman Gesellschafts- und ? Zeitroman gilt (Balzac, Stendhal, Flaubert, Dickens, Tolstoj, Dostoevsky): Dies sind die Genres, die das 19. Jh. weitgehend prägen. Der deutsche Roman folgt diesen Entwicklungen (Geschichtsroman: Alexis, Fontane; Zeit- und Gesellschaftsroman: Immermann, Gutzkow, Sealsfield, Freytag, Fontane), ohne sich allerdings in Europa durchsetzen zu können. Da gleichzeitig das Genre des Entwicklungs- bzw. Bildungsromans in Deutschland weiterentwickelt und teilweise auch als Künstlerroman realisiert wird (Mörike:,Maler Nolten'; Keller: ,Der grüne Heinrich'; Stifter: ,Der Nachsommer'; Raabe: ,Der Hungerpastor'; vgl. Meuthen), kam in der Romanforschung die historisch nicht haltbare These von einem deutschen ,Sonderweg' des Romans im 19. Jh. auf, der auf die politische Rückständigkeit der deutschen Gesellschaft zurückzuführen sei. Im Verlauf des 19. Jhs. treten einerseits die politischen Zielsetzungen des Sozialromans oder Tendenzromans im /" Realismus2 und ? Naturalismus (Zola) deutlicher hervor, auf der anderen Seite wird die Psychologisierung weiter vorangetrieben. H. und Th. Mann verbinden gesellschaftsbezogenen Realismus und Psychologisierung; in den folgenden Jahrzehnten — in den Romanen von Kafka, Döblin, Musil, Broch (gleichzeitig bei Proust und Joyce) — lösen sich die Gattungskonventionen tendenziell auf: Der Roman der klassischen / Moderne strebt nach enzyklopädischer Welterfassung, treibt die Selbstreferentialität weiter, experimentiert mit verschiedenen Gattungen und Formen, integriert die modernen Wissenschaften — und zwar, anders als der Roman des Realismus (vgl. Thomé), demonstrativ und auch auf der Ebene der Formensprache — und verwendet insbesondere den ? Inneren Monolog und Bewußtseinsstrom sowie Techniken der Montage und Collage. Der Roman hat im 20. Jh. teil am Krisenbewußtsein der Literatur der Moderne, besonders auch an der literarischen Inszenierung der Sprachkrise und der ,Krise des Erzählens'. Nach den großen Experimenten der ersten Jahrhunderthälfte sind die Erben der Moderne teilweise wieder konventionel-

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ler in den Schreibweisen, haben jedoch zeitdiagnostische Qualitäten; und in der 2. Hälfte des 20. Jhs. findet sich ein äußerst breites Spektrum der Romangenres und -formen, zwischen einerseits experimentellhermetischen und andererseits durchaus auch unterhaltsamen Texten (Jahnn, Koeppen, Niebelschütz, Frisch, Arno Schmidt, Boll, Lenz, Bachmann, Grass, Walser, Chr. Wolf, Johnson, J. Becker, Handke, Bernhard). Viele der Texte widmen sich stofflich gesehen der Diskussion der jüngsten Vergangenheit. Die internationale Verflechtung der Romanproduktion trägt dazu bei, daß sich Neuansätze des Romanschreibens (z. B. Nouveau Roman, S Postmoderne) rasch auch im deutschen Sprachraum finden. Obwohl der Roman nach wie vor periodisch totgesagt wird (,Ende des Erzählens'), erfreut er sich auch um die Wende zum 21. Jh. der größten Beliebtheit. Angesichts der großen Verbreitung übersetzter fremdsprachiger Romane nimmt der deutschsprachige Roman (wie in den meisten Phasen seiner Geschichte) allerdings nur einen kleinen Raum in der Rezeption durch Leser und Kritik ein. ForschG: Die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Roman ist eng mit der s Romantheorie verbunden. Nach dem Vorbild Huets enthalten diese Theorien häufig umfangreiche Geschichten der Gattung. Geschichten des Romans im engeren Sinn finden sich seit dem 19. Jh. (O. L. B. Wolff: ,Allgemeine Geschichte des Romans', 1841) allerdings überwiegend für Teilabschnitte, einzelne Epochen, erstaunlich selten für den gesamten Zeitraum. Seit den fünfziger Jahren des 20. Jhs. tritt der Roman vor allem unter drei Perspektiven ins Zentrum der literaturwissenschaftlichen Forschung: (1) im Zuge der intensivierten narratologischen Diskussion (vgl. /" Erzähltheorie)·, (2) im Zusammenhang der Aufarbeitung historischer (Gattungs-) Poetik; (3) als paradigmatisch ,moderne' Gattung (vgl. Schärf)· — Neuere Forschung hat sich zudem auf die Aspekte der Institutionen- und /" Mentalitätsgeschichte verlegt, mit dem Ergebnis, daß die lange nicht adäquat überblickte Romanproduktion in ihrer ganzen

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Romantheorie

Breite bis hin zum populären Roman erstmals stärker in das Blickfeld der Gattungsgeschichtsforschung tritt. Lit: Marion Beaujean: Der Trivialroman in der zweiten Hälfte des 18. Jhs. Bonn 1964. - Eva D. Becker: Der deutsche Roman um 1780. Stuttgart 1974. - Günter Blamberger: Versuch über den deutschen Gegenwartsroman. Stuttgart 1985. Peter J. Brenner: Die Krise der Selbstbehauptung. Subjekt und Wirklichkeit im Roman der Aufklärung. Tübingen 1981. - Richard Brinkmann: Wirklichkeit und Illusion. Tübingen 1957, 3 1977. - Horst Denkler (Hg.): Romane und Erzählungen des bürgerlichen Realismus. Stuttgart 1980. - Manfred Durzak (Hg.): Der deutsche Roman der Gegenwart. Stuttgart 1971, 31979. Ulf Eisele: Die Struktur des modernen deutschen Romans. Tübingen 1984. - Norbert Otto Eke, Dagmar Olasz-Eke: Bibliographie: Der deutsche Roman 1815-1830. Standortnachweise, Rezensionen, Forschungsüberblick. München 1994. Hildegard Emmel: Geschichte des deutschen Romans. 3 Bde. Bern, München 1972-1978. Manfred Engel: Der Roman der Goethezeit. Bd. 1. Stuttgart, Weimar 1993. - Walter Erhart: Entzweiung und Selbstaufklärung. Christoph Martin Wielands ,Agathon'-Projekt. Tübingen 1991. - Markus Fauser: Intertextualität als Poetik des Epigonalen. Immermann-Studien. München 1999. - Edward M. Forster: Ansichten des Romans [1927], Frankfurt 1949. - Werner Frick: Providenz und Kontingenz. Untersuchungen zur Schicksalssemantik im deutschen und europäischen Roman des 17. und 18. Jhs. 2 Bde. Tübingen 1988. - Helga Gallas, Magdalene Heuser (Hg.): Untersuchungen zum Roman von Frauen um 1800. Tübingen 1990. - Walter Haug: Literaturtheorie im deutschen Mittelalter. Darmstadt 2 1992. - Manfred Heiderich: The German novel of 1800. Frankfurt, Bern 1982. - Arnold Hirsch: Bürgertum und Barock im deutschen Roman [1934], Köln, Wien 31979. - Walther Killy: Romane des 19. Jhs. Göttingen 1963, 21967. - Dieter Kimpel: Der Roman der Aufklärung. Stuttgart 1967. - Jürgen Kolbe: Goethes Wahlverwandtschaften' und der Roman des 19. Jhs. Stuttgart u.a. 1968. - Todd Kontje: Women, the novel, and the German nation 1771 — 1871. Cambridge 1998. - Helmut Koopmann (Hg.): Hb. des deutschen Romans. Düsseldorf 1983. Η. Κ: Der klassisch-moderne Roman in Deutschland. Stuttgart u. a. 1983. - Paul Michael Lützeler (Hg.): Romane und Erzählungen zwischen Romantik und Realismus. Stuttgart 1983. P. M. L. (Hg.): Deutsche Romane des 20. Jhs. Königstein/Ts. 1983. — Clemens Lugowski: Die Form der Individualität im Roman [1932].

Frankfurt 1976, 21994. - Dennis F. Mahoney: Der Roman der Goethezeit (1774-1829). Stuttgart 1988. - Rudolf Majut: Der deutsche Roman vom Biedermeier bis zur Gegenwart. In: Stammler1 2, Sp. 2197-2478. - Helga Meise: Die Unschuld und die Schrift. Deutsche Frauenromane im 18. Jh. Frankfurt 21992. - Erich Meuthen: Eins und doppelt oder Vom Anderssein des Selbst. Struktur und Tradition des Künstlerromans. Tübingen 2001. - Jan-Dirk Müller: Volksbuch/Prosaroman im 15./16. Jh. In: IASL, Sonderh. 1 (1985), S. 1-128. - Klaus-Detlef Müller: Autobiographie und Roman. Studien zur literarischen Autobiographie der Goethezeit. Tübingen 1976. — Hanns-Josef Ortheil: Der poetische Widerstand im Roman. Geschichte und Auslegung des Romans im 17. und 18. Jh. Königstein/Ts. 1980. - Roy Pascal: The German novel. Manchester 1956, 21968. - Jürgen H. Petersen: Der deutsche Roman der Moderne. Stuttgart 1991. Walter Rehm: Geschichte des deutschen Romans. 2 Bde. Berlin, Leipzig 1927. - Christian Schärf: Der Roman im 20. Jh. Stuttgart, Weimar 2001. - Herbert Singer: Der deutsche Roman zwischen Barock und Rokoko. Köln, Graz 1963. - Hartmut Steinecke: Romantheorie und Romankritik in Deutschland. 2 Bde. Stuttgart 1975 f. - Horst Thomé: Autonomes Ich und .Inneres Ausland'. Studien über Realismus, Tiefenpsychologie und Psychiatrie in deutschen Erzähltexten (18481914). Tübingen 1993. - Mechthilde Vahsen: Die Politisierung des weiblichen Subjekts. Deutsche Romanautorinnen und die Französische Revolution 1790-1820. Berlin 2000. - Hartmut Vollmer: Der deutschsprachige Roman 1815—1820. München 1992. - Dieter Wellershoff: Der Roman und die Erfahrbarkeit der Welt. Köln 1988. — Werner Welzig: Der deutsche Roman im 20. Jh. Stuttgart 21970. - Günther Weydt: Der deutsche Roman von der Renaissance und Reformation bis zu Goethes Tod. In: Stammler' 2, Sp. 2063-2196. - Peter V. Zima: Roman und Ideologie. Zur Sozialgeschichte des modernen Romans. München 1986. - Harro Zimmermann (Hg.): Der deutsche Roman der Spätaufklärung. Heidelberg 1990. Hartmut Steinecke

Romantheorie Poetologische Reflexion auf die Gattung Roman. Expl: Im engeren Sinn die theoretische, d. h. ästhetisch-philosophische, systematische Be-

Romantheorie schäftigung mit dem /" Roman (y Gattungstheorie). Im (seit den 1970er Jahren üblicher gewordenen) weiteren Sinn die Poetik des Romans, also das .Sprechen über' die Gattung in seiner gesamten Spannweite, das sich auch in Vorreden, Literaturkritiken usw. findet. WortG/BegrG: Der Begriff .Theorie' (von griech. θεωρία [theoría] ,Anschauen', Betrachtung'; dt. seit dem 18. Jh. belegt; Kluge-Seebold23, 823) tritt in Kombination mit der Gattungsbezeichnung Roman in Deutschland erst spät auf. Üblich sind im 18. und noch im 19. Jh. Wendungen wie Versuch, Gedanken, Brief über den Roman; auch Ästhetiker und Philosophen benutzen den Begriff nur selten und nicht demonstrativ. Werke, die programmatisch eine Theorie des Romans ankündigen — Carl Nicolai: .Versuch einer Theorie des Romans' (1819); Heinrich Keiter: ,Versuch einer Theorie des Romans und der Erzählkunst' (1876); Friedrich Spielhagen: .Beiträge zur Theorie und Technik des Romans' (1883) — stehen meistens auf weit geringerem Reflexionsniveau als die avancierte Romanpoetik ihrer Zeit. Erst im 20. Jh. bürgert sich die Bezeichnung Romantheorie (neben: Romanpoetik) ein (Lukács, Koskimies), meistens für Arbeiten aus dem akademischen Bereich. SachG: Bis zum 17. Jh. finden sich auch in der Romania, wo sich der Roman früher als in Deutschland entwickelte, nur punktuell Überlegungen allgemeinerer Art zu seiner Poetik (entsprechende Ansätze in der deutschsprachigen Literatur gibt es in den Prologen des /" Höfischen Romans, vgl. Haug; für den f Prosaroman ζ. B. in Wickrams ,Dialog' zum ,Knabenspiegel', vgl. Müller, 1281-1284). Erst im 17. Jh. wird der Roman Gegenstand kritischer oder theoretischer Behandlung, die erste größere Schrift ist P.-D. Huets ,Traité de l'origine des romans' (1670); die erste eigenständige und umfassende Theorie in deutscher Sprache (nach der Übersetzung Huets durch E. G. Happel: ,Discours von dem Uhrsprunge der Romanen', in seinem Werk ,Der Insulanische Mandorell', 1682, und nach G. Heideggers Polemik ,Mythoscopia

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Romantica oder Discours von den so benanten Romans', 1698) ist F. v. Blankenburgs ,Versuch über den Roman' (1774). In Poetiken und Ästhetiken des 18. Jhs. wird der Roman meistens nur kurz, erst im 19. Jh. allmählich ausführlicher behandelt. Während sich also die traditionelle' Ästhetik der neuen Gattung lange Zeit weitgehend verweigert, spielt sich die Beschäftigung mit ihr in einem breiten Spektrum anderer Formen ab: zunächst vor allem in Vorworten (J. G. Schnabel: .Insel Felsenburg'; Wieland: .Geschichte des Agathon'; sowie in S. v. La Roche: .Geschichte des Fräuleins von Sternheim') und Einschüben in Romanen (Goethe: .Wilhelm Meisters Lehrjahre'), sodann in Literaturkritiken (in hohem Maße: ausländischer Romane), feuilletonistischen Arbeiten, Briefen, Lexikonartikeln u.a.m. Erst seit man — um 1970 — diese Textsorten, die meistens einen engen Bezug zur Romanpraxis haben, als wesentliche Teile des Romandiskurses erkannt hat, wird die Geschichte dieser Gattungstheorie sehr viel differenzierter gesehen. Die Vernachlässigung des Romans in normativen Poetiken hat eine weitere gravierende Folge: Er gilt lange Zeit als eine Gattung ohne Tradition und Regeln, der Willkür offen. Zu diesem Argument tritt ein formales und ein inhaltlich-moralisches: Als Prosaform ist dem Roman die Zugehörigkeit zur Poesie nach traditionellem Verständnis verwehrt, allenfalls nimmt er eine untere Stufe in der Gattungshierarchie ein. Seine Bindung an die Themen ,Liebe' und .Abenteuer' wird zudem zum Anlaß moralisierender Attacken. Mit der quantitativen Zunahme der Romane innerhalb der belletristischen Produktion verschärfen sich die Angriffe gegen diese .Sündflut'. Daher wird der Roman lange Zeit, trotz oft hohen künstlerischen Niveaus, von (konservativen bzw. klassizistischen) Theoretikern wenig beachtet, häufig verachtet (vielzitiert wird Schillers Wort vom Romanschreiber als .Halbbruder' des wahren Dichters). .Poetik des Romans' heißt daher bis weit in das 19. Jh. vorrangig: Apologie des Romans. Durch die so geprägte Geschichte der Romantheorie bedingt, die lange Zeit eng

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Romantheorie

mit der Romanpraxis verbunden war, wurden systematische oder deduktiv angelegte Versuche, das weite Feld der Gattung zu ordnen, erst spät unternommen. Bis heute dominiert eine Vielzahl von Bezeichnungen für Untergattungen des Romans, die aber auf keiner Ebene zugleich die historische Vielfalt abdecken. Selten sind formale Bestimmungen (/" Briefroman, Dialogroman), häufiger Zusammenstellungen mit Adjektiven und Komposita mit Substantiven, die inhaltliche Momente betonen (historischer, sozialer, philosophischer Roman', Liebes-, Künstler-, s Bildungs-, s Zeit-, Gesellschafts-Roman) oder Darstellungsweisen bezeichnen (humoristischer, komischer Roman). Die Ausdifferenzierung, aber auch Neubewertung solcher Untergattungen wird von der Romantheorie zunehmend in den Mittelpunkt des Interesses gerückt. Seit Blanckenburg wird überwiegend die Konzentration auf die ,innere Geschichte', die Darstellung des Menschen als Individuum, die ,innere Handlung' (Schopenhauer) statt der äußeren der Taten, der Gesellschaftsdarstellung als konstitutiv für den eigentlichen' Roman angesehen. Die langsam wachsende Anerkennung des Romans im 18. Jh. wird in den Poetiken und Literaturprogrammen begleitet von einer zunehmenden Orientierung an der (angesehenen) Geschichtsschreibung und von der Forderung nach Wirklichkeitstreue (gegen das Odium der Abenteuerlichkeit und Fiktion) sowie dem Versuch, seinen Rang durch eine adäquate Stelle im Gattungssystem abzusichern. Am folgenreichsten wird die Einfügung an der Systemstelle des /" Epos, als dessen Nachfolger in der /" Moderne, in einer Zeit der ? Prosa und des Bürgertums. Diesen geschichtsphilosophischen Ansätzen des 18. Jhs. (Herder; J. K. Wezel: Vorrede zu ,Herrmann und Ulrike') verhalf Hegel in seiner .Vorlesung über die Ästhetik' mit der Definition des Romans als der ,modernen bürgerlichen Epopöe' zu breiter Geltung; sie wurde von seinen Schülern (Vischer) bis in das 20. Jh. immer mehr ausdifferenziert (Lukács' ,Theorie des Romans' mit dem Entwurf der .transzendentalen Obdachlosigkeit' der Gattung, Walter Benjamin mit der medien-

theoretischen Unterscheidung von epischer Mündlichkeit und .modernem' reflexiven Roman des vereinsamten Subjekts). Wie Hegel haben sich bedeutende Philosophen und Ästhetiker im 19. Jh. nur selten und eher beiläufig (Schelling, Solger, Schopenhauer, Nietzsche) zum Roman geäußert, obwohl dieser zur wichtigsten Literaturgattung wurde; die ,akademische' Romantheorie blieb weitgehend unoriginell. So stammen die bedeutendsten Beiträge weiterhin von Romanautoren (Sealsfield, Keller, Spielhagen, Freytag, v. a. Fontane) und Kritikern, v. a. der modernen europäischen Romanliteratur. Damit treten praktische Fragen des Romanschreibens (.Technik') in den Vordergrund. Bis Anfang des 20. Jhs. dominiert die Sicht des Romans als realistischer Prosaform; entsprechend wird vor allem sein Verhältnis zur Wirklichkeit untersucht (S Widerspiegelung, Verklärung, ? Versöhnung). Eine dieser Sichtweise entgegengesetzte Position hatten bereits um 1800 einige Romantiker — vor allem F. Schlegel, Novalis, A. W. Schlegel und auch Jean Paul in seiner .Vorschule der Ästhetik' — entwickelt, die den Roman in den Mittelpunkt ihrer Kunstlehre stellten: „Ein Roman ist ein romantisches Buch" (F. Schlegel: ,Brief über den Roman'). Als „progressive Universalpoesie" (,Athenäums-Fragment' 116) ist der Roman ein werdendes, kein vollendetes Kunstwerk, er vereint und vermischt alle Gattungen der Poesie, er verbindet Heterogenes; Ironie und Selbstreflexion sind für ihn konstitutiv. Diese auf hohem Reflexionsniveau entwickelten Vorstellungen wurden erst im frühen 20. Jh. in ihrer Bedeutung erkannt und für die Theoriediskussion fruchtbar gemacht. Selbstreflexion, Universalitätsanspruch und Prozeßcharakter des Schreibens werden zu Hauptzügen des .modernen' Romans; die proklamierte Einheit von Werk und Theorie führt nach 1900 dazu, daß der Roman selbst zunehmend zum Ort der Theorie wird (Musil, Broch), daß in begleitenden Schriften sowie in Essays, Aufsätzen über den Roman reflektiert wird, meistens ansetzend bei und orientiert an eigenen Schreiberfahrungen (Th. Mann, Döblin). Dabei werden nun erstmals theoretische Vor-

Romantheorie Stellungen entwickelt, die dem Rang des eigenen Schreibens entsprechen (Musil: Möglichkeitsstil; Broch: polyhistorischer Roman). In der zweiten Jahrhunderthälfte vermehren sich zwar die romanpoetologischen Aussagen, sie führen jedoch nur selten über die Grundpositionen der ,klassischen Moderne' hinaus (ζ. B. bei Johnson, Hildesheimer, WellershofT). In der Geschichte der Romantheorie in Deutschland spielte die Rezeption der Poetik fremdsprachiger Romanciers, v. a. aus Frankreich (Diderot, Flaubert, Zola, Proust, Robbe-Grillet; ? Nouveau Roman) und Ländern englischer

Sprache (Sterne, Scott, H. James, Joyce, Woolf), häufig vermittelt durch Literaturkritiken, eine wesentliche Rolle. Das gilt bis in die Gegenwart, besonders für ,gelehrte' Romanschreiber (Kundera, Borges, Eco; /"

Postmoderne).

Jan-Dirk Müller: Kommentar. In: Romane des 15. und 16. Jhs. Hg. v. J.-D. M. Frankfurt 1990, S. 987-1457.

ForschG: Erst seit dem frühen 20. Jh. entstanden wissenschaftliche Romantheorien, die Gesamtentwürfe versuchen (Lukács, Koskimies) oder zentrale Fragestellungen (Bauformen, Zeitstruktur, Erzählperspektive, Fiktionsbegriff, Verhältnis zu Geschichte und Mythos) behandeln (Friedemann, Lugowski, Hamburger, Lämmert, Stanzel, Petersen). Sie werden Teil allgemeiner f Erzähltheorien (Narratologie), de-

ren Beiträge systematisch angelegt sind und die international rezipiert werden (Lubbock, Booth, Bachtin, Eco). Historische Romantheorien blieben bis in die sechziger Jahre des 20. Jhs. weitgehend unbeachtet. Mit der Ausweitung des Theoriebegriffs auf poetologische Zeugnisse verschiedenster Formen um 1970 wurde die Diskussion vor Blanckenburg und zwischen Romantik und Jahrhundertwende in ihrer Vielfalt und Differenziertheit im Grunde erst entdeckt und die gesamte Geschichte der Romantheorie sowie ihre zentralen Fragestellungen intensiv erforscht. Umfangreiche Textsammlungen erschienen seit den frühen 1970er Jahren, meistens als Vor- und Begleitarbeiten differenzierter und detailrei-

325

cher Darstellungen der Theorieentwicklung einzelner Epochen. Lit: Romantheorie. Dokumentation ihrer Geschichte in Deutschland [1971-1975]. Hg. v. Eberhard Lämmert u. a. 2 Bde. Köln, Berlin 3 1992. — Romantheorie. Texte vom Barock bis zur Gegenwart. Hg. v. Hartmut Steinecke und Fritz Wahrenburg. Stuttgart 1999 [mit ausführlicher Bibliographie], — Texte zur Romantheorie. Hg. v. Ernst Weber. 2 Bde. München 1974-1981. — Theorie und Technik des Romans im 17. und 18. Jh. Hg. v. Dieter Kimpel und Conrad Wiedemann. 2 Bde. Tübingen 1970. - Theorie und Technik des Romans im 19. Jh. Hg. v. Hartmut Steinecke. Tübingen 1970. - Theorie und Technik des Romans im 20. Jh. Hg. v. H. S. Tübingen 1972, 21979. Michail M. Bachtin: Formen der Zeit im Roman. Frankfurt 1989. - M. M. B.: Literatur und Karneval. Zu Romantheorie und Lachkultur [1969]. Frankfurt u.a. 1996. - M.M.B.: Das Wort im Roman. In: M. M. B.: Die Ästhetik des Wortes. Hg. v. Rainer Grübel. Frankfurt 1979, S. 154-300. - Matthias Bauer: Romantheorie. Stuttgart, Weimar 1997. - Wayne C. Booth: Die Rhetorik der Erzählkunst [1961], 2 Bde. Heidelberg 1974. - Umberto Eco: Lector in fabula. München 1987. - Käte Friedemann: Die Rolle des Erzählers in der Epik [1910]. Repr. Darmstadt 1965. - Reinhold Grimm (Hg.): Deutsche Romantheorien. 2 Bde. Frankfurt 1968, 21974. Käte Hamburger: Die Logik der Dichtung. Stuttgart 1957. — Walter Haug: Literaturtheorie im deutschen Mittelalter. Darmstadt 21992. — Bruno Hillebrand: Theorie des Romans [1972]. Frankfurt 31996 [mit ausführlicher Bibliographie]. Rafael Koskimies: Theorie des Romans [1935]. Repr. Darmstadt 1966. - Milan Kundera: Die Kunst des Romans [1986], München, Wien 1987. - Eberhard Lämmert: Bauformen des Erzählens [1955], Stuttgart 81993. - Percy Lubbock: The craft of fiction [1921]. New York 121976. - Clemens Lugowski: Die Form der Individualität im Roman [1932]. Frankfurt 1976. - Georg Lukács: Die Theorie des Romans [1916]. München 1994. - Karl Migner: Theorie des modernen Romans. Stuttgart 1970. - Jürgen H. Petersen: Erzählsysteme. Stuttgart, Weimar 1993. — Franz Rhöse: Konflikt und Versöhnung. Untersuchungen zur Theorie des Romans von Hegel bis zum Naturalismus. Stuttgart 1978. - Alain Robbe-Grillet: Argumente für einen neuen Roman [1955]. München 1965. - Dietrich Scheunemann: Romankrise. Die Entstehungsgeschichte der modernen Romanpoetik in Deutschland. Heidelberg 1978. — Angelika Schlimmer: Romanpoetik und Weiblichkeitsdiskurs. Königstein/Ts. 2001. - Joa-

326

Romantik

chim Scholl: In der Gemeinschaft des Erzählers. Studien zur Restitution des Epischen im deutschen Gegenwartsroman. Heidelberg 1990. Jürgen Schramke: Zur Theorie des modernen Romans. München 1974. - Franz K. Stanzel: Typische Formen des Romans [1964]. Göttingen 12 1993. - Hartmut Steinecke: Romantheorie und Romankritik in Deutschland. 2 Bde. Stuttgart 1975 f. - H. S.: Romanpoetik von Goethe bis Thomas Mann. München 1987. - Wilhelm Voßkamp: Romantheorie in Deutschland. Von Martin Opitz bis Friedrich von Blanckenburg. Stuttgart 1973. - Fritz Wahrenburg: Funktionswandel des Romans und ästhetische Norm. Die Entwicklung seiner Theorie in Deutschland bis zur Mitte des 18. Jhs. Stuttgart 1976. - Victor Zmegac: Der europäische Roman. Geschichte seiner Poetik. Tübingen 1990, 21991. Hartmut

Steinecke

Romantik Eine unter mehreren Hauptströmungen der europäischen Kulturgeschichte für die Zeit von ca. 1795 bis zur Mitte des 19. Jhs. Expl: Mindestens drei Verwendungsweisen des Begriffs müssen unterschieden werden: (1) Jenseits einer historischen Spezifik bezeichnet Romantik eine Haltung, die eine Perspektive der Idealisierung und Vermittlung einnimmt, die Grenzen zwischen Traum und Wirklichkeit verwischt und sich selbst auf eine dynamische, prinzipiell unabschließbare Beziehung zur Unendlichkeit verpflichtet. In philosophischer Hinsicht markiert Romantik vor allem einen Kontrast zu allen Spielarten des empirisch-materialistischen Rationalismus; auf literaturwissenschaftlichem Feld grenzt sie sich von realistischen und klassizistischen Tendenzen ab. (2) In einem gesamteuropäischen Verständnis wird .romantische' Kunst und Literatur mit moderner, wesentlich durch Christentum und historische Reflexion bestimmter Kultur identifiziert und von der klassischen der Antike abgegrenzt. Als Vorläufer einer romantischen Programmatik werden häufig Shakespeare, Calderón, Cervantes, Boccaccio, Petrarca, Ariost und andere Schriftsteller der Frühen Neuzeit ge-

nannt. Auch in der Ästhetik des Deutschen Idealismus (Schelling, Hegel) werden unter ,romantischer' Kunst die moderne, seit dem christlichen Spätmittelalter datierende Kunst und Dichtung begriffen, die wesentlich durch die christlichen Kategorien von Innerlichkeit und Unendlichkeit ausgezeichnet sind. (3) Der bis heute gebräuchliche literaturgeschichtliche Begriff für eine Epoche der deutschen Literatur zeichnet sich demgegenüber durch einen erheblichen Zugewinn an historischer Präzision aus. Er schließt die Texte jener Autoren zwischen ca. 1795 und 1830 (mit letzten Ausläufern bis etwa 1850) ein, die sich mit einer Poetik des Phantastischen und einer Theorie der Imagination scharf von den Abbild-Konzepten des 18. Jhs. abgrenzen (s Mimesis2). Die Behauptung ästhetischer ? Autonomie innerhalb der Romantik ist gekoppelt an die Forderung Fr. Schlegels, „progressive Universalpoesie", d. h. gleichermaßen Enzyklopädie wie Fragment, und „Transzendentalpoesie" (Schlegel, 182, 204), d.h. poetischphilosophische Selbstreflexion zu sein. Der germanistische Epochenbegriff der Romantik umfaßt, um nur die Eckdaten zu nennen, die Schriften Tiecks, Schlegels und Novalis' aus den 1790er Jahren bis hin zu den späten Texten Hoffmanns und Arnims aus den 1820er Jahren und weiter bis hin zu Eichendorffs, Brentanos und Tiecks Erzählungen, Gedichten und Dramen aus den 1830/40er Jahren, die ihre romantische Kontur zunehmend zugunsten einer biedermeierlichen und frührealistischen Färbung verlieren. WortG:

Die

Etymologie

von

Romantik

überlagert sich mit derjenigen von ? Roman (vgl. auch /" Romanze). Bereits G. Heidegger spricht in seiner ,Mythoscopia romantica oder Discours von den so benannten Romans' (1698) kritisch von „Romantische[n] Galantereyen" (Heidegger, 116). Mit der Emanzipation der Romanform zu einer gleichberechtigten Gattung in der f Poetik und s Ästhetik des ausgehenden 18. Jhs. mußte die zunächst negativ gemeinte Gleichsetzung v o n romantisch

haft aufgegeben werden.

und

roman-

Romantik Das Adjektiv romantisch war zudem keineswegs auf literarische Gegenstände beschränkt. In einem durchaus positiven Sinne konnte es im 18. Jh. alle die Gegenstände bezeichnen, an denen Merkmale des Wunderbaren, / Phantastischen und Unendlichen einen Abstand zum Alltäglichen einerseits und zu klassizistischen Ordnungen in der Kunst andererseits markierten. Das Substantiv Romantik setzt sich im Dt. demgegenüber erst Ende des 18. Jhs. bei Autoren wie Itzehoe, Novalis oder Jean Paul durch (vgl. Schulz-Basler 3, 474; DWb 14, 1155 f.). Gotthard Heidegger: Mythoscopia romantica oder Discours von den so benannten Romans [1698], Repr. hg. v. Walter E. Schäfer. Bad Homburg u. a. 1969.

BegrG: Über den Inhalt des Begriffs .Romantik' bestand bei den Autoren, die später unter den Epochenbegriff subsumiert wurden, keineswegs Einvernehmen. In den frühen Schriften Fr. Schlegels beinhaltet er eine stilkritische Bestimmung und eine revolutionäre Reflexionsfigur gleichermaßen, die die Grenzen der Literatur überschreitet, auf eine Ästhetisierung der Welt und des Lebens gerichtet ist und alles Partikulare in einen ganzheitlichen Zusammenhang bringen soll. Novalis begreift den Akt des „Romantisiren[s]" als „qualitative] Potenzirung" (Novalis, 334). In ästhetiktheoretischer Hinsicht ergibt sich die Einheit der .Romantik' als Theorie der Imagination und Phantastik durch eine Abgrenzung von den aufklärerischen Konzepten der Naturnachahmung und moralischen Ausbildung des Menschen. Gegenüber der zeitgleichen Weimarer s Klassik2 hält die Romantik als „fantastische[ ] Form" (Schlegel, 333) Distanz, indem sie klassizistische Ausgewogenheit durch eine Aktualisierung manieristischer Figuren unterläuft. Zu Beginn des 19. Jhs. konzentrierte sich die Kritik an der Romantik vornehmlich auf den Vorwurf eines rückwärtsgewandten, ein christliches Mittelalter verherrlichenden Katholizismus. Ironischerweise waren es anfanglich die Gegner, die den heterogenen Strömungen innerhalb der Romantik zu einem einheitlichen, wenn auch negativ ge-

327

meinten Bild in der Öffentlichkeit verhalfen. Besonders hat sich in dieser Hinsicht der Altphilologe und Homer-Übersetzer J. H. Voß profiliert, der zum Wortführer in einem Streit mit Brentano, Arnim, Görres und Creuzer, zu dieser Zeit allesamt in Heidelberg weilend, avancierte und das Etikett .romantisch' in etlichen Streitschriften mit christlich-katholischer Reaktion gleichsetzte (HWbPh 8, 1081 f.). Goethes scharfe Kontrastierung von / Symbol2 und / Allegorie2 bzw. .klassischer Gesundheit' und .romantischer Krankheit' ist eher an einer kulturpolitischen Profilierung der .Klassik' interessiert als an einer sachlichen und überprüfbaren Unterscheidung (vgl. FA 11.12, 324; FA 1.13, 368). Zwar hat die Hinwendung einiger Romantiker zum Katholizismus ebenso wie ein nationales Pathos im Zusammenhang der napoleonischen Eroberungen und des Befreiungskrieges diesem Begriff von .Romantik' einige Argumente geliefert, insgesamt aber beruht er auf einem stark verzerrten Bild. Weitergeführt wird es durch Heine, der in seiner .Romantischen Schule' (1835) die Romantik im Umkreis und in der Nachfolge Fr. Schlegels in Bausch und Bogen als „Wiedererweckung der Poesie des Mittelalters" (Heine, 361) und als Handlanger der katholischen und aristokratischen Reaktion verwirft (vgl. Heine, 381). Eine eigene Entwicklung erfahrt der Begriff im Ausgang von der romantischen Musikästhetik (Wackenroder, Tieck, Fr. Schlegel, Novalis, E. T. A. Hoffmann). Zwar werden in der ,musikalischen Romantik' des 19. Jhs. (Schumann, Wagner) Elemente der romantischen Literarästhetik tradiert, schon ihre zeitliche Ausdehnung bis an die Schwelle des 20. Jhs. zeigt jedoch, daß sie kaum mehr mit dem Begriff der Romantik im engeren Sinne vermittelbar ist. Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke [Frankfurter Ausgabe, FA]. Frankfurt 1985 ff.

SachG: Da die Literatur der deutschen Romantik einen großen Zeitraum umspannt und darin unterschiedliche Richtungen genommen hat, drängt sich eine zeitliche Phasen-Differenzierung der Romantik auf. So

328

Romantik

läßt sich zwischen 1789 und 1801 eine Phase der Konstitution der romantischen Literatur beobachten. Sie beginnt sehr zögernd mit etlichen Texten des kaum zwanzigjährigen Tieck, die zunächst noch stark einer spätaufklärerischen Unterhaltungsliteratur verpflichtet sind, aber bereits Spuren einer Poetik des Wunderbaren und Imaginativen enthalten. Bestimmend für diese Phase der gewöhnlich so genannten ,Frühromantik' ist die poetologische Grundlegung im Jenaer Kreis um die Zeitschrift,Athenäum'. Eine Phase der ,Hochromantik' läßt sich um die zwei städtischen Zentren Heidelberg und Berlin konstruieren. Kennzeichnend für die Heidelberger Gruppe, die zwischen 1805 und 1808 bestand und dann andernorts fortwirkte, ist eine historisch-philologische Ausrichtung, die sich etwa in der Volksliedsammlung Arnims und Brentanos - ,Des Knaben Wunderhorn' (1805/06; 1808) —, in Görres' ,Die Teutschen Volksbücher' (1807) oder in den ,Kinder- und Hausmärchen' (1812/15) der Grimms manifestiert und die um eine mythengeschichtliche Orientierung bei Fr. Creuzer (1771 — 1858) und eine etymologische bei den Grimms und J. A. Kanne (1773 — 1824) zu ergänzen wäre. Ein sehr viel stärkerer Akzent auf genuin literarische Publikationen zeichnet die Berliner Hochromantik aus (Arnim, Brentano, Fouqué, Chamisso). Sie läßt sich zwischen 1809 und 1822, dem Todesjahr Ε. T. A. Hoffmanns, datieren. Zwar schreiben und publizieren sowohl Eichendorff als auch Brentano weit über diesen zeitlichen Rahmen hinaus, sie geraten allerdings seit den zwanziger und dreißiger Jahren des 19. Jhs. verstärkt in einen Zusammenhang, der sich als , Spätromantik' bezeichnen läßt. Neben Wien, wo Fr. Schlegel bis 1829 politisch im Sinne der Restauration publiziert, ist München Zentrum einer v. a. katholischen Spätromantik. In akademischer und publizistischer Hinsicht ist diese äußerst einflußreich; die avancierten literarischen und programmatischen Innovationen der ,Früh-' und .Hochromantik', die traditionsbildend für die Moderne wurden, werden hier kaum mehr erreicht. Die Autonomisierung des romantischen Textes läuft über eine explizite Selbstreflexi-

vität und über eine weitreichende allegorische Durchformung und Verrätselung. So wird eine semiotische Komplexität erreicht, die sich begrifflicher Reduktion versperrt. Den prägnantesten Ausdruck hat romantische Selbstreflexivität in der /" Ironie gefunden. Schlegels Konzept der Ironie geht über die rhetorische Tradition insofern hinaus, als es die ästhetische Funktion des paradoxen Kontrastes von Universalität, Unabschließbarkeit und fragmentarischer Begrenzung umfaßt. Romantische Ironie bezeichnet in Schlegels Verständnis keine spezifische Aussage in uneigentlicher Präsentation, sondern das Verhältnis der Schwebe oder der Verschiebung zwischen Aussagen in einer Darstellungsform, die poetisch-assoziative Bildlichkeit mit philosophischer Diskursivität verbindet (/" Potenzierung). Das Universalitätspostulat führt zu einer Tendenz der Gattungsvermischung und der Stilhybridität. Schlegel und Novalis favorisieren den Roman, weil er als offene prozessuale Form in der Lage ist, alle übrigen Formen zu integrieren, „alle getrennte[n] Gattungen der Poesie wieder zu vereinigen" (Schlegel, 182), ohne eine restriktive Gattungshierarchie zu etablieren. Die Prosaformen und vor allem der Roman kommen als Konstrukte in den Blick, mit Hilfe derer sich Gattungsdifferenzierungen einebnen lassen. Neben der Aufnahme von Liedern, Märchen und dialogischen Sequenzen zeichnet den romantischen Roman eine enzyklopädische Tendenz aus, die zu einer Integration von poetologischen und allgemein philosophischen und/oder wissenschaftlichen Diskursen führt. In semantischer und motivischer Hinsicht bedeutet die fragmentarische Universalität der romantischen Romane, daß sich hypothetisch zwar Künstler- und ? Bildungsromane (Tieck, Novalis, Eichendorff, Hoffmann), Liebesromane (Schlegel, Brentano, Arnim), Schauerromane (Hoffmann) und Historische Romane (Tieck, Arnim, Hauff) unterscheiden lassen, daß sie eigentlich aber alles das zugleich sind. Was für die Großform gilt, trifft auch auf die kürzeren Prosaformen wie Novellen oder Erzählungszyklen zu. In der Option auf Phantastik gründet

Romantik eine starke Affinität der romantischen Poetik zur Form des f Kunstmärchens. Unter der Perspektive der Gattungsmischung ist es ebenfalls von Bedeutung, daß zahlreiche der wichtigen romantischen Gedichte Brentanos, Tiecks und Eichendorffs zuerst als integrale Bestandteile von Romanen publiziert wurden, um im Text die Präsenz von Mündlichkeit zu simulieren. Ein Merkmal romantischer Lyrik ist die Oszillation zwischen einer ausgeprägten Artifizialität und der Simulation von Stimme und unmittelbarer Präsenz. Neben einer vielfaltigen Rezeption romanischer Gedichtformen wie Sonett, ? Kanzone, /" Terzine, /" Romanze usw. stehen gänzlich offene Gedichtund freie Versformen. Die Option auf Stimme und Unmittelbarkeit favorisiert das Lied2, immer als Zitation des ^ Volksliedes, sowie /" Ballade und Romanze als zentrale lyrische Formen. Von den frühen Gedichten Tiecks geht eine Tendenz zur Stimmungslyrik aus, die vor allem bei Eichendorff zu einer umfassenden synästhetischen Vermittlung von Kosmos, Natur und Individuum ausgebaut wird (/" Synästhesie), die jedoch auch von einer melancholischen Spur durchzogen ist. Für die Vereinigungsvisionen romantischer Lyrik ist von Tiecks frühen Gedichten und Novalis' freirhythmischen .Hymnen an die Nacht' (1800) an eine mystische und natur- und sprachmagische Traditionsbildung charakteristisch. Im Zuge der Befreiungskriege kommt es zur Herausbildung von patriotischen Gesängen, an denen neben Eichendorff, Körner und Arndt auch Kleist partizipiert. Einen Schlußpunkt unter die romantische Lyrik, noch bevor sie ganz verstummt, setzt Heines Desillusionslyrik, die romantische Themen und Stimmungen einerseits fortführt und sie andererseits ironisch auflöst. Einen Zug zu epischer Breite und enzyklopädischer Summenbildung, versetzt mit einer vertrackten Stil- und Formenheterogenität, zeichnet weite Bereiche der romantischen Dramatik aus — um den Preis einer prekären Beziehung zur Theaterbühne. Von dem angedeuteten Interesse an einer Simulation von Mündlichkeit her läßt sich unter Umständen begreifen, warum in der Romantik Dramen geschrieben werden, die

329

ganz offensichtlich nicht für das Theater konzipiert sind (/" Lesedrama). Die Ausnahmen von dieser Beobachtung, sowohl im Hinblick auf ihre dramatische Pointierung wie ihre Beziehung zur Bühne, stellen das /" Schicksalsdrama und die romantische Komödie dar. Das Schicksalsdrama bezieht seine dramatische Anschaulichkeit von der Dynamik schicksalhafter Daten und fataler Requisiten, die sich gegen Willen und Bewußtsein der Akteure behaupten (Tieck, Kleist, Werner, Grillparzer). Für die romantische Komödie kommt Tiecks frühen literatursatirischen Märchenkomödien eine Initialfunktion zu. Sie haben das Bild der romantischen Komödie wesentlich geprägt, das durch die Komödien Brentanos, Arnims und Eichendorffs in Nuancen, etwa durch Elemente des karnevalesken Maskenspiels und ein anderes Gewicht illusionärer Handlungselemente, differenziert wird. Von der deutschen Romantik geht eine starke Wirkung auf andere europäische Länder aus, so daß man für die dreißiger und vierziger Jahre des 19. Jhs. von einer europäischen Romantik sprechen kann, die ihre Schwerpunkte in Frankreich, Italien, Rußland, Polen und England hat. Darüber hinaus ist eine Traditionsbildung der deutschen Romantik über den f Symbolismus und bis zum /" Àsthetizismus des /" Fin de siècle zu beobachten. Friedrich Schlegel: Kritische Ausgabe. Hg. v. Ernst Behler. Bd. 2. Paderborn u.a. 1967.

ForschG: In einem sehr vereinfachenden Überblick läßt sich die germanistische Forschung zur Romantik in vier Phasen gliedern. Im 19. Jh. ist sie weitgehend durch eine zum Teil schroffe Ablehnung durch Linkshegelianer (A. Ruge, Th. Echtermeyer) und liberaldemokratische Literarhistoriker (G. G. Gervinus, H. Hettner) geprägt. Die Kritik ist durchweg politisch motiviert und bezieht sich auf die vermeintlich gegenaufklärerische, vernunftfeindliche Tendenz der Romantik. Seit der Reichsgründung gegen Ende des Jhs. beginnt mit Dilthey und Haym eine Umwertung der Romantik, die sich nach dem 1. Weltkrieg zu einer paradigmatischen

330

Romantik

Stellung der Romantik in der Germanistik verstärkt. Die romantische Literatur wird als irrationale, gefühlsbesetzte Geist- und Lebensphilosophie gefeiert. Ihre Einschätzung als Muster einer kulturellen deutschen Identität wird von der nationalsozialistischen Literaturwissenschaft für den völkischen Kulturbegriff und die Blut-und-Boden-Ideologie aufbereitet (J. Petersen: ,Wesensbestimmung der deutschen Romantik', 1926). Als germanistische Randphänomene müssen H. Bahrs Essay ,Die Überwindung des Naturalismus' (1891), R. Huchs .Blütezeit der Romantik' (1899) und W. Benjamins Dissertation ,Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik' (1920) bedacht werden, die ebenso wie die sogenannte literarische Neuromantik auf dem Umweg über Wagner und über den französischen Symbolismus auf die romantische Literatur als Begründung einer Tradition der Moderne aufmerksam werden. Abgesehen von den deutschtümelnden Ausläufern des Nationalsozialismus nach dem 2. Weltkrieg kommt es seit den 1950er Jahren, stärker dann in den 1960er und 1970er Jahren, zu einer Neuorientierung der Romantikforschung, die ihre Hauptaufgabe zunächst darin sieht, die Romantik von jeder Konnotation des Obskurantismus oder Irrationalismus zu befreien. Diese Neuorientierung läuft über unterschiedliche Anschlußpunkte für die Romantik: Aufklärung, Philosophie des Deutschen Idealismus, Geschichtsphilosophie. Aufschlußreich sind die Schwierigkeiten der D D R Germanistik, die sich in ihrer Erbe-Diskussion (S Erbetheorie) von ihrem Referenzpunkt Lukács bis Träger unter den ideologischen Vorgaben des Sozialismus nur bedingt der westdeutschen Neuorientierung anschließen mochte. In einem Punkt besteht jedoch zumeist Einigkeit: in der starken Gewichtung der Frühromantik Schlegels und Novalis' und einer Trennung von Früh- und Spätromantik (Behler, Peter, Schanze). In den 1980er und 1990er Jahren ist eine breite und deshalb nicht leicht zu systematisierende germanistische Auseinandersetzung mit der Literatur der Romantik zu beobachten, die, befreit von dem historischen Zwang, .Romantik' zu rehabilitieren, den

Weg für neue theoretische Beschreibungsmodelle (/" Psychoanalytische Literaturwissenschaft, S Strukturalismus, Diskursanalyse (s Diskurstheorie) und Dekonstruktion, ? New Historicism, S Feministische Literaturwissenschaft, s Kulturwissenschaft) öffnet und dennoch die literarische Differenz der Texte berücksichtigt. Lit: Albert Béguin: Traumwelt und Romantik [1937], Bern, München 1972. - Ernst Behler: Studien zur Romantik und zur idealistischen Philosophie. Bd. 1. Paderborn u.a. 1988, S. 86-115. - E. B.: Frühromantik. Berlin, New York 1992. - E. B., Jochen Hörisch (Hg.): Die Aktualität der Frühromantik. Paderborn u.a. 1987. - Walter Benjamin: Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik [1920], In: W. B.: Gesammelte Schriften. Hg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Bd. 1/1. Frankfurt 1974, S. 7-122. — Richard Benz: Die deutsche Romantik. Leipzig 1937. - Volker Bohn (Hg.): Romantik. Literatur und Philosophie. Frankfurt 1987. - Karl Heinz Bohrer: Die Kritik der Romantik. Frankfurt 1989. - Richard Brinkmann (Hg.): Romantik in Deutschland. Stuttgart 1978. — Manfred Frank: Einführung in die frühromantische Ästhetik. Frankfurt 1989. - Rudolf Haym: Die romantische Schule. Berlin 1870. — Heinrich Heine: Sämtliche Schriften. Hg. v. Klaus Briegleb. Bd 3. München 1971. - Gerhart Hoffmeister: Deutsche und europäische Romantik. Stuttgart 21990. - Ricarda Huch: Die Romantik [1899/1902]. Reinbek 1985. - Uwe Japp: Die Komödie der Romantik. Tübingen 1999. - Paul Kluckhohn: Die deutsche Romantik. Bielefeld u.a. 1924. — Hermann August Korff: Geist der Goethezeit. Bde. 3 und 4 [1940/1953], Leipzig 6 1964. - Detlef Kremer: Prosa der Romantik. Stuttgart, Weimar 1997. - D. K : Romantik. Stuttgart, Weimar 2001. - Georg Lukács: Die Zerstörung der Vernunft. Berlin/DDR 1954. Winfried Menninghaus: Unendliche Verdopplung. Die frühromantische Grundlegung der Kunsttheorie im Begriff absoluter Selbstreflexion. Frankfurt 1987. - Gerhard Neumann (Hg.): Romantisches Erzählen. Würzburg 1995. - Novalis: Werke, Tagebücher und Briefe. Hg. v. Hans-Joachim Mähl und Richard Samuel. Bd. 2. München 1978. - Klaus Peter (Hg.): Romantikforschung seit 1945. Königstein 1980. - Helmut Prang: Begriffsbestimmung der Romantik. Darmstadt 1968. - Ernst Ribbat (Hg.): Romantik. Königstein 1979. — Helmut Schanze (Hg.): RomantikHandbuch. Stuttgart 1998. - Carl Schmitt: Politische Romantik [1919]. Berlin 41982. - Gerhard Schulz: Die deutsche Literatur zwischen Franzo-

Romanze sischer Revolution und Restauration. 2 Bde. München 1983-1989. - Hans Steffen (Hg.): Die deutsche Romantik. Göttingen 2 1970. - Fritz Strich: Deutsche Klassik und Romantik oder Vollendung und Unendlichkeit. München 1922. - Ingrid Strohschneider-Kohrs: Die romantische Ironie in Theorie und Gestaltung. Tübingen 1960. - Marianne Thalmann: Romantik und Manierismus. Stuttgart 1963. — Claus Träger: Historische Dialektik der Romantik und Romantikforschung. In: WB 24 (1978), H. 4, S. 4 7 - 7 3 . - Gert Ueding: Klassik und Romantik. München 1987. - Benno v. Wiese (Hg.): Deutsche Dichter der Romantik. Berlin 2 1983. — Theodore Ziolkowski: Das Amt der Poeten. Stuttgart 1992.

Detlef Kremer

Romanze Volksliedartige Gattung der schen Kurzformen.

lyrisch-epi-

331

Gedichte cancioneros de romances oder romanceros, im 17. Jh. treten die geistliche Romanze und burleske Spielarten hinzu. In Frankreich ist die Situation noch im 18. Jh. ähnlich, wie die wichtige Sammlung .Recueil de romances historiques, tendres et burlesques, tant anciennes que modernes' (Paris 1767-1774) belegt. In Italien bezeichnet romanzo längere epische ,Rittergedichte' (Ariost, Tasso), während das Wort romance im Engl, vorrealistische Romantypen bezeichnet. Die Volkssprachlichkeit, das Epische und die (zum großen Teil) mittelalterliche Herkunft bilden den Ausgangspunkt für den auch im Dt. wechselnden Sprachgebrauch (vgl. DWb 14, 1167). Bodmer versucht noch im Vorwort zu seinen ,Altenglischen und altschwäbischen Balladen' (1781) terminologisch zwischen der epischen Großform Romanze und der Kleinform Ballade zu unterscheiden.

Expl: Romanze und Ballade wurden als Formen des Erzählgedichts seit dem 18. Jh. oft, im 20. Jh. jedoch kaum mehr synonym gebraucht; eine klare Abgrenzung nach inhaltlichen oder formalen Kriterien wird dadurch erschwert. Der Sprachentwicklung am besten entspricht die terminologische Beschränkung von Romanze auf (1) ein historisch institutionalisiertes Genre der Ballade in den Jahrzehnten um 1800 — falls man den Begriff nicht ganz auf (2) die in Trochäen geschriebene und assonierende .Spanische Romanze' beschränkt, die auch Teil eines Romanzenepos sein kann. Die Romanze im weiteren Sinn (1) erzählt in geregelter Versform (in aller Regel: strophisch geordnet) eine emotional stark geladene Geschichte, kann dies ernst, ironisch-distanziert oder — in Relation zur älteren Volksromanze — travestierend tun.

Die moderne Bedeutung „kleinere singbare abenteuerliche Geschichte im Volkstone" (Adelung2 3, 1155) konstituiert sich erst in der 2. Hälfte des 18. Jhs., wurde aber sehr bald die herrschende. Den Namen Romanze gibt man nunmehr /" Liedern2, die „von leidenschaftlichem, tragischem, verliebtem, oder auch blos belustigendem Inhalt" sind (Sulzer 4, 110 f.). Nach A.W. Schlegel ist die Romanze eine .romantische' epische Kurzform, die von modernen Dichtern wiederhergestellt worden ist (Schlegel, 80-83). Musikwissenschaftlich bezeichnet Romanze teils die Vertonung spanischer (weltlicher und geistlicher) Romanzen des 17. Jhs., teils schon im 18. Jh. eine einfache, harmonische und ländliche Melodie für ein kleineres, oft tragisches Liebesgedicht (auch als Einlage in Dramen und Prosaerzählungen). Die deutsche Vokalromanze des 19. Jhs. erweiterte diese musikalischen Grenzen.

WortG: Romanze, aus vulgärlat. romanice ,in der romanischen (Volks-) Sprache'. Im frühen 15. Jh. ist das Wort in Spanien als Bezeichnung für kürzere, von Spielleuten dem Volk vorgetragenen Versdichtungen belegt, die insbesondere Stoffe aus den Karlssagen und der Rückeroberung Spaniens von den Mauren verwenden; seit Mitte des 16. Jhs. heißen Sammlungen solcher

BegrG: Die Überlegungen zum Begriff der Romanze im heute gebräuchlichen Sinn setzen mit dem Erscheinen der von W. L. Gleim dem Franzosen F.-A. Paradis de Moncrif nachgedichteten,Romanzen' (1756) ein und beziehen bald auch die Ballade und den Bänkelsang als weitere neu zu beschreibende bzw. zu entdeckende volkstüm-

332

Romanze

liehe Gattungen ein. Dabei werden für Volkslieder wie Thomas Percys .Reliques of ancient English poetry' (1765) von Sulzer bis J. J. Eschenburg (,Entwurf einer Theorie und Literatur der schönen Wissenschaften', 1783) fast unterschiedslos die Bezeichnungen Romanzen und Balladen benutzt; Goethe versieht eine Abteilung seiner Gedichte mit der Überschrift .Romanzen und Balladen', seit 1815 nur noch mit,Balladen'. Hegel will in der Romanze „eine gewisse Helligkeit", in der Ballade „die Tiefe des Herzens" finden (Hegel 2, 475); nach der Feststellung A.W. Schlegels gibt es in der dominant romantisch geprägten Romanze keine „Gespenster[ ]" oder „Schreckbilder[ ] der Phantasie" wie in der nordischen Ballade (Schlegel, 81 f.). Diese inhaltlichen Definitionen können die Romanze von der Ballade nicht klar abgrenzen, deuten jedoch traditionelle, für die Einordnung maßgebende Stoff- und Motivstränge an; Ballade wird im Laufe des 19. Jhs. die häufigere Bezeichnung, Romanze dient nun als Bezeichnung für kürzere, stärker lyrisch und weniger episch ausgeprägte Gedichte, ζ. B. für Goethes ,Heidenröslein' und Eichendorffs ,Das zerbrochene Ringlein'. Die .Spanische Romanze' wird rund fünfzig Jahre später als Gleims .Romanzen' durch Herders ,Der Cid. Nach spanischen Romanzen besungen' (1805) in Deutschland bekannt und bald beliebt. Aus den ursprünglichen, silbenzählenden spanischen Langversen (16 Silben mit Zäsur nach der Mitte und Assonanz der zweiten Vershälfte) entwickelte sich das Romanzenversmaß: (meistens) vierzeilige, trochäische Achtsilbler mit Assonanz der geraden Verse. Die Romantiker A. W. und Fr. Schlegel, Brentano und später Heine schrieben Romanzen und Romanzenzyklen mit assonierenden, reimenden oder reimlosen Trochäen. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Ästhetik. Hg. v. Friedrich Bassenge. 2 Bde. Frankfurt o. J. [1965]. - August Wilhelm Schlegel: Sämmtliche Werke. Hg. v. Eduard Böcking. Bd. 8. Leipzig 1846.

SachG: Nach dem Vorbild von Gleims R o manzen' (1756) hatten die .Romanzen' (1762) von J. Fr. Loewen, ,Romanzen mit

Melodien' (1767) von D. Schiebeier sowie die Romanzen Höltys (,Adelstan und Röschen', 1774; ,Die Nonne', 1775) und Bürgers (,Lenore', 1774; ,Des Pfarrers Tochter von Taubenhain', 1782) meist ein gefühlvoll-sentimentalisches oder ironisches, mit parodistischen oder travestierenden Elementen durchsetztes Verhältnis zur alten volkstümlichen Form. Sulzer meint, daß dieser „scherzhafte" Ton dem „wahren Charakter" der wahren Volksdichtung widerspreche (Sulzer 4. 110 f.). Herders .Alte Volkslieder' (1774) und .Des Knaben Wunderhorn. Alte deutsche Lieder' (1806-1808) von Arnim und Brentano schufen die Grundlage für eine volkstümliche und volksliedhafte Romanzendichtung scheinbar naiverer Art, und es gibt von Brentanos ,Romanzen und Legenden' über Eichendorffs ,Romanzen' und Uhlands .Balladen und Romanzen' bis zu Heines ,Romanzen und Fabeln' und seinem ,Romanzerò' kaum eine Sammlung, die keine Romanzen aufweisen konnte. Gedichte wie Eichendorffs ,Das zerbrochene Ringlein' und Heines ,Loreley' wurden bald als Volkslieder rezipiert, und die zahlreichen Vertonungen trugen zur Popularität dieser romantisch-volkstümlichen Form bei. Sie wurde in der Biedermeierzeit trivialisiert und spielte in den folgenden Perioden nur eine geringe Rolle. Im ersten Dezennium des 19. Jhs. entwikkelten die Romantiker auch alle Möglichkeiten der Spanischen Romanze, die im ,Aufzug der Romanze', dem allegorisierenden Prolog zu Tiecks Drama ,Kaiser Octavianus' (1804). dem Dichter als die Tochter von Glaube und Liebe, als Inbegriff der romantischen Poesie begegnet. Stoff aus den Karlssagen verwendeten Fr. Schlegel in seinem .Roland' (1805) und Fouqué in seinen .Romanzen vom Thale Ronceval' (1805); den künstlerischen Höhepunkt bilden Brentanos .Romanzen vom Rosenkranz' (entstanden 1803 — 1812), in welchen mythischlegendenhaft von Fluch und Sühne in Versen voller klanglicher Schönheit und artistisch abgewandelten Reimen bzw. Assonanzen erzählt wird. Rund 25 Jahre nach dieser Blüte persifliert Immermann in ,Tulifántchen' (1830)

Rondeau seine epigonale Gegenwart in einem parodischen (,mock-heroic') Romanzenepos, während Heines kürzere Gedichte ,Jehuda ben Halevy' und ,Bimini' (1851), vor allem aber sein Romanzenepos ,Atta Troll' (1843/ 1847), den Höhepunkt der Romanzendichtung der Biedermeierzeit bilden und sich vielschichtiger zur Romantik verhalten. Letzte Ausläufer der Gattung waren Scheffels epigonaler ,Trompeter von Säckingen' (1854) und Kellers ironischer .Apotheker von Chamounix' (1851). Auch an den spanischen Vorbildern war das Interesse des Publikums nicht erloschen. Geibel publizierte 1843 .Volkslieder und Romanzen der Spanier. Im Versmaß des Originals verdeutscht' und — mit Paul Heyse — 1852 das vielvertonte .Spanische Liederbuch'. ForschG: Die poetologische Reflexion setzt kurz nach der Einführung der Romanze in die deutsche Literatur ein und verbindet sich mit einem literaturgeschichtlichen Interesse an der volkstümlichen Gattung. Die späteren Versuche,,Romanze' von .Ballade' eindeutig zu unterscheiden, mißlingen zwar, spielen aber für die Begriffsbildung bis zu den Arbeiten von Kayser (1936) und Hinck eine Rolle; Laufhütte hingegen will erstens die ,Ballade/Romanze' als episch-fiktionale Gattung definieren und zweitens jede Festlegung von Inhalt und Darbietungsweise ablehnen. Zum Romanzenepos in Deutschland gibt es nur wenige Monographien; Auskunft über die Entwicklung der Gattung nach der kurzen Blütezeit findet man deshalb am bequemsten bei Sengle und Martini. Die jüngere Forschung resümiert Zimmermann (1997), der gattungsgeschichtliche Fragen in einem weiteren kulturgeschichtlichen Rahmen erörtert. Lit: Beatriz Brinkmann Scheihing: Spanische Romanzen in der Übersetzung von Diez, Geibel und v. Schack. Marburg 1975. — Olaf Deutschmann: Spanische Romanzen. Frankfurt u. a. 1989. - Theodor Echtermeyer: Unsere Balladenund Romanzenpoesie. In: Hallische Jbb. für deutsche Wissenschaft und Kunst 1839, Nr. 9 6 99, S. 761-800. - Adalbert Eischenbroich: Die Romanze in der Dichtungstheorie des 18. Jhs. und der Frühromantik. In: JbFDH 1975, S. 124-152. - Rainer Gstrein: Die vokale Romanze in der Zeit von 1750 bis 1850. Innsbruck

333

1989. - Walter Hinck: Die deutsche Ballade von Bürger bis Brecht. Göttingen 1968. - Paul Holzhausen: Ballade und Romanze von ihrem ersten Auftreten in der deutschen Kunstdichtung bis zu ihrer Ausbildung durch Bürger. Halle 1882. — Wolfgang Kayser: Geschichte der deutschen Ballade. Berlin 1936, 2 1943. - Camillo v. Klenze: Die komischen Romanzen der Deutschen im 18. Jh. Marburg 1891. - Hartmut Laufhütte: Die deutsche Kunstballade. Grundlegung einer Gattungsgeschichte. Heidelberg 1979. — Fritz Martini: Deutsche Literatur im bürgerlichen Realismus. Stuttgart 1962, S. 355-390. - Ramón Menéndez Pidal: Romancero hispánico. Madrid 1953, 2 1968. - Joachim Müller: Romanze und Ballade. In: GRM 40 (1959), S. 140-156. Margret Ohlischläger: Die spanische Romanze in Deutschland. Freiburg i. Br. 1926. - Hanne Gabriele Reck: Die spanische Romanze im Werke Heinrich Heines. Frankfurt u.a. 1971. - Friedrich Sengle: Biedermeierzeit. Bd. 2. Stuttgart 1972, S. 626-743, bes. 682-685. - Christian v. Zimmermann: Reiseberichte und Romanzen. Tübingen 1997.

Sven-Aage Jorgensen

Rondeau Gedicht mit zweimaliger Wiederkehr des Eingangs. Expl: Das Rondeau ist eine aus der französischen Literatur stammende ein- oder mehrstrophige Gedichtform aus meist 13 vieroder fünfhebigen (acht- oder zehnsilbigen) Versen mit nur zwei Reimen, bei der die Anfangsworte (zweihebig) nach der achten Verszeile und als Schlußzeile als ungereimter, metrisch verkürzter ? Refrain wiederholt werden, so daß sich insgesamt 15 heterometrische Zeilen (s Isometrie) ergeben. Traditionell ist das Gedicht in drei ungleiche ,Versgruppen' (der Terminus erscheint hier angemessener als / Strophe) mit dem Reimschema aabba aabX aabbaX (X für den ungereimten Refrain) untergliedert; andere Reimstellungen und Verszahlen kommen vor. WortG: Mittelfrz. rondeau als jüngere Form von afrz. rondiau (Obliquus rondel) ist wie die Nebenform rondet Diminutivbildung zu rond (aus vulgärlat. *retundum für klassisch

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Rondeau

lat. rotundum) ,runder Gegenstand', .Geldstück' bzw. ronde ,Rundtanz', ,Rundgesang', ,Reigenlied'; seit 1228 (im ,Roman de la Rose ou de Guillaume de Dole' von Jehan Renart) als Bezeichnung einer lyrischen Gattung belegt. Im 17./18. Jh. bezeichnet Rondeau auch die seit Lully und Couperin in der frz. Clavecin-, Opern- und Ballettmusik entwickelte Reihenkomposition, bei der Refrains und Zwischenteile nach dem Schema ab ac ad [...] a gereiht werden; daraus entwickelt sich durch sprachliche Vermittlung des Ital. die Bezeichnung der musikalischen Reihungsform Rondo (vgl. MGG 2 8, 537-559). Im Mhd. ist rúndate im .Tristan' Gottfrieds von Straßburg (v. 8079) als Fremdwort erwähnt. BegrG: Rondel (afrz., mittelfrz. auch chanson à carole und ditié genannt) und Rondeau (im engeren Sinn der Expl) werden heute, obwohl sprachgeschichtlich aus einander entwickelt und in der spätmittelalterlichen Gattungstheorie begrifflich nicht geschieden, idealtypisch als zwei Realisierungsformen des Rondeau-Typus aufgefaßt, die sich historisch wiederum weiter aufgefächert haben. Das Rondel als ältere Variante ist ursprünglich (die erhaltenen Dokumente weisen bis ins 12. Jh. zurück) ein zum Rundtanz gesungenes Lied, das dem Virelai-Typus (einem dreistrophigen Tanzlied) nahesteht und im Unterschied zum modernen Rondeau meist isometrisch ist. Nach anfanglich größeren Lizenzen (noch kein obligatorischer Eingangsrefrain) bildet sich eine achtzeilige Normalform mit zweizeiligem Eingangsrefrain heraus, dessen erste Zeile als vierte Zeile und dessen Gesamttext am Schluß wiederholt wird; dabei wurden in der Praxis als Reigenlied die Refrainzeilen wohl vom Chor der Tanzenden, die Zusatzverse von einem Vorsänger gesungen (Reimschema: AB aA ab AB — Majuskeln für Refrainzeilen, Melodie-Schema: aß aa aß aß). Diese Form, das ,Rondel simple', hat als s Triolett eine relativ eigenständige Sondertradition entwickelt. Seit dem 13. Jh. zeigen sich Tendenzen zur Erweiterung dieser Grundform (Drei-, Vier- und Fünfzeiler-Refrain, Gesamtumfang von 11—24 Zeilen, Vielfalt von Reim-

stellungen). Zugleich emanzipiert sich der Gattungsbegriff, der lange unter dem Primat der Musik und des Tanzes steht, zum Konzept eines eigenständigen (und nur sekundär auch vertonbaren) Sprachkunstwerks. Durch Verkürzung der zweimaligen Wiederholung des Refrains auf das ,Rentrement', d. h. auf die Anfangsworte der ersten Zeile, entsteht aus dem .Rondel' das,Rondeau' im explizierten Sinne — vermutlich aufgrund der mißverstandenen Schreiber-Praxis, bei den Refrain-Wiederholungen des Rondels nur die ersten Wörter zu notieren. Eine Kurzform des Rondeau ist das siebenzeilige .Rondelet' (Reimschema: abX abbX); eine spätere Variante von einigem historischem Gewicht das von Swinburne 1883 nach frz. Muster geschaffene elfzeilige engl. ,Roundel', bei dem die Anfangsworte der ersten Zeile, die hier mit der zweiten Zeile reimen, als vierte und als Schlußzeile wieder erscheinen (Reimschema: abaB bab abaB). Individuell geprägte deutsche Lehnbildungen wie Rundreim (Fischart), Rundum (Weckherlin), Ringellied (Zesen) oder Ringelgedicht (Götz) bezeichnen nicht systematisch bestimmte Formvarianten und haben sich nicht durchgesetzt. SachG: Die Rondel-Rondeau-Grundform, die wohl aus volkstümlichen Quellen stammt, aber auch Parallelen in /" Liturgischen Texten hat, ist sowohl in ihrer innerfranzösischen Entwicklung als auch in der außerfranzösischen Rezeptionsgeschichte starken Schwankungen ausgesetzt gewesen. Besonders beliebt ist die Gattung in Frankreich vom 13. bis 15. Jh., als sich zahlreiche Dichter und Komponisten ihrer als Ausdrucksmittel bedienen; im 13. Jh. wurde sie auch im kirchlichen Bereich, im 15. Jh. besonders bei den ,Grand Rhétoriqueurs' gepflegt. Zahlreiche Rondel-Formen sind — oft als Einleitungs- und Schlußgedicht, aber auch dialogisiert als Teil des dramatischen Texts — in die großen Mystères des 15. Jhs. (y Mysterienspiel), in ? Moralitäten, Farcen und Sottien integriert. Auch in mhd. Dichtung ist die Gattung seit ca. 1300 als lyrische Form nachzuweisen. Erhalten sind aus dem 14. und frühen 15. Jh. insgesamt zehn Rondel texte (mit bis

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Rotulus zu 41 Zeilen!) aus dem mittelfränkischen und westnd. Raum, was frz. Einfluß nahelegt; dazu aus dem Ostschwäbischen vier Texte vor 1400 (vgl. Petzsch, Frings/Linke). Ungeachtet poetologischer Kritik wird auch das Rondeau aus der frz. RenaissanceDichtung schon im 16. und 17. Jh. in der dt. Dichtung rezipiert (ζ. B. bei Fischart, Weckherlin, Philipp v. Zesen). Eine zweite Welle der Neubelebung erfährt die Gattung — bezeichnenderweise oft in der älteren Rondel-Variante, ein deutliches Indiz für den historisierenden Anschluß an ein literarisches Modell — im Zusammenhang mit der /" Anakreontik und dem aufkommenden /" Historismus (etwa bei J . N . G ö t z , der im späten 18. Jh. u.a. frz. Modelle des 14. Jhs. nachbildet). Für Frankreich zu erwähnen sind im 19. Jh. u.a. Musset, Banville, Giraud (,Pierrot lunaire') und Mallarmé; für England Swinburne, Dobson, R. L. Stevenson; für Deutschland Ο. E. Hartleben mit einer ungereimten Übertragung des ,Pierrot lunaire' und Liliencron mit seinem dreistrophigen daktylischen ,Rondel'. Borchardts ,Rondell' („Wüßt ich von dir"), Trakls ,Rondel' („Verflossen ist das Gold der Tage") und Weinhebers .Rondell' weisen zwar auch neben ihrem Titel noch Berührungen mit der Rondeau- bzw. Rondel-Form auf, aber nur mehr im Sinn einer freien Variation. ForschG: In der deutschen Romanistik spielte naturgemäß die Frage nach dem Grund für den geringen Aneignungsgrad des Rondeau im Deutschen eine beträchtliche Rolle („frz. Formgefühl" und somit Wesensferne zu ,deutschem Geist' nach Voßler, 146; „Fehlen von geeigneten Refrains" im Mhd. nach Gennrich 1950, 134). Die inzwischen aufgetauchten Belege für frühe Adaptation mahnen indessen zur Vorsicht gegenüber solchen Argumenten e nihilo. Nicht entschieden ist der Streit um den Ursprung aus folkloristischen, arabischen oder liturgischen Quellen; Beeinflussung der verschiedenen Traditionsstränge ist wahrscheinlich. Auch die Angabe des Herkunftsgebiets (Gennrich 1963: die Normandie; Fernandez: das südfrz.-span. Grenzgebiet) ist angesichts des Fehlens direkter Frühbelege unsicher.

Heftig diskutiert wird in jüngster Zeit die für die Editionspraxis nicht unerhebliche Frage nach der Vortragsweise des Rondels (gesungen oder gesprochen) und, damit zusammenhängend, nach der Art der RefrainWiederholung in beiden Fällen (Wilkins, Champion, Poirion: vgl. Defaux bzw. Cerquiglini, dagegen Jodogne). Für die spätere Rezeption u.a. in der dt. Literatur spielen diese Fragen jedoch eine untergeordnete Rolle, da sie bestimmten, wenn auch nicht immer richtig verstandenen Modellen folgt. Lit: Jacqueline Cerquiglini: Le rondeau. In: La littérature française aux XIV e et XV e siècles. Hg. v. Daniel Poirion. Bd. 1. Heidelberg 1988, S. 4 5 - 5 8 . - Gérard Defaux: Charles d'Orléans ou la poétique du secret. A propos du Rondeau XXXIII de l'édition Champion. In: Romania 93 (1972), S. 194-243. - Marie-Henriette Fernandez: Notes sur les origines du rondeau. In: Cahiers de civilisation médiévale 19(1976), S. 265-275. Theodor Frings, Elisabeth Linke: Drei rheinische Rondeaux, die ältesten in deutscher Sprache. In: PBB (Halle) 85 (1963), S. 1 - 2 1 . - Friedrich Gennrich: Deutsche Rondeaux. In: PBB 72 (1950), S. 130-141. - F. G.: Das altfranzösische Rondeau und Virelai im 12. und 13. Jh. Langen 1963. - Omer Jodogne: Le rondeau du XV e siècle mal compris. In: Mélanges de langue et de littérature médiévales, offerts à Pierre Le Gentil. Paris 1973, S. 399-408. - Christoph Petzsch: Ostschwäbische Rondeaux vor 1400. In: PBB 98 (1976), S. 384-394. - Karl Voßler: Die Dichtungsformen der Romanen. Stuttgart 1951. — Nigel Wilkins: The structure of ballades, rondeaux, and virelais in Froissart and in Christine de Pisan. In: French Studies 23 (1969), S. 337-348.

Werner Helmich

Rota Virgil«

Genera dicendi

Rotulus Buchrolle. Expl: Aneinandergenähte Pergament- oder Papierstreifen, auf einer Seite in Längsrichtung beschrieben, im geschlossenen' Zustand um einen Holzstab gewickelt. WortG/BegrG: Rotulus, Diminutiv zu lat. rota ,Rad', ,Rolle', kommt erst in der Spät-

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Rotulus

antike (5. Jh.) in Gebrauch, zu einer Zeit also, in der die Rollenform des Buches nicht mehr die gewöhnliche war; im Mittelalter ist es geläufige Bezeichnung (Wattenbach, 166—174). Rotulus setzt die Buchrolle terminologisch vom moderneren Typ des Codex ab und präzisiert die hergebrachten unspezifischen Bezeichnungen für ,Buch' wie βιβλίον [biblíon], liber und auch volumen, das ebenfalls nach dem Vorgang des Aufrollens (volvere ,rollen',,wälzen') benannt ist, aber früh (Plinius d. J.) für jede Art von Buch stehen kann. Die zunehmende Beschränkung dieser Aufzeichnungsform auf bestimmte, vor allem urkundliche und aufführungsgebundene Texttypen schlägt sich im Lehnwort Rodel .Verzeichnis', ,Register' (DWb 14, 1107) ebenso nieder wie in der Ausweitung der Lehnübersetzung / Rolle auf die darzustellende Person. SachG: Der Rotulus setzt die bis in die Spätantike übliche Papyrusrolle fort, deren Form sich aus der natürlichen Beschaffenheit dieses ? Beschreibstoffes ergeben hatte. Nach der Einführung und Durchsetzung des Pergaments als Beschreibstoff (4. Jh. n. Chr.), das die praktischere Form des aus Lagen zusammengebundenen Buches (Codex) ermöglichte, blieb die Rolle in Einzelfallen weiter in Gebrauch (Überblick bei Studt), obgleich das Pergament dafür eher ungünstige Voraussetzungen bot. Verwendung findet der Rotulus v. a. für Urkundenund Geschäftsaufzeichnungen, als Totenregister (Totenrotuli), für Pilgerführer, Wappenverzeichnisse und listenartige historische Abrisse (Beispiele bei Brandis und Michael). Häufiger tritt er auch in liturgischen Zusammenhängen auf (ζ. B. beneventanische Exultet-Rollen, ,Lorscher Litanei'). Es wird mit den liturgischen Wurzeln des Geistlichen Spiels zusammenhängen, daß sich das Auftreten von Rotuli in volkssprachlicher Überlieferung auf diesen Bereich konzentriert (Osterspiel von Muri, Frankfurter Dirigierrolle u. a.), es hat aber sicherlich auch mit der jeweils gesonderten Aufzeichnung der den einzelnen Personen zugeordneten Redeanteile (Rolle) zu tun. Auf die besondere Eignung des Rotulus für

Vortragsdichtung weisen auch die erhaltenen Rollen lyrischer Texte hin: ,Münchener Liebesbrief', .Helena und Ganymed', Reinmar von Zweter (Bäuml/Rouse), Konrad von Würzburg/Kanzler/Marner/Gotfrid von Neifen (Steinmann). Umstritten ist, ob die Spruchbänder in den Illustrationen der mhd. Lyrikhandschriften Rotuli darstellen (Curschmann); es ist die Meinung vertreten worden, daß lyrische Texte vor ihrer Sammlung in Codices gewöhnlich überhaupt auf Rotuli überliefert wurden (Bäuml/Rouse). ForschG: Die Beschäftigung mit dem Rotulus hatte ihren Ort in der klassischen Altertumskunde und war vor allem auf die Rekonstruktion der materiellen Überlieferungsbedingungen und die Wiedergewinnung der Texte gerichtet. Zuerst mit der Verselbständigung von Paläographie und Kodikologie (Birt, Wattenbach), dann mit der neuen Aufmerksamkeit auf Status und Folgen von Schriftlichkeit (Hunger, Bäuml/ Rouse) sind zunehmend Fragen nach Gebrauchssituation (Vortrag, Vorlesung) und Verbindlichkeitsstufen (Konzept, Privataufzeichnung, Rechtskodifizierung) in den Blick gerückt. Lit: Franz H. Bäuml, Richard H. Rouse: Roll and codex. In: PB Β 105 (1983), S. 192-231, 317-330. - Theodor Birt: Die Buchrolle in der Kunst. Leipzig 1907. - Bernhard Bischoff: Paläographie des römischen Altertums und des abendländischen Mittelalters. Berlin 1979, S. 4 8 51. - Tilo Brandis: Ein mittelhochdeutscher Papst-Kaiser-Rotulus des 15. Jhs. In: Fs. Albi Rosenthal. Hg. v. Rudolf Elvers. Tutzing 1984, S. 67 — 80. — Michael Curschmann: Pictura laicorum litteratura? In: Pragmatische Schriftlichkeit im Mittelalter. Hg. v. Hagen Keller u.a. München 1992, S. 211-229. - Herbert Hunger: ,Buch'. In: Lexikon der Alten Welt. Zürich, Stuttgart 1965, S. 510-513. - Karin Kranich-Hofbauer: Der Starkenbergische Rotulus. Innsbruck 1994. - Bernd Michael: Rolle und Codex. In: Jb. Preußischer Kulturbesitz 28 (1991), S. 391-405. - Leo Santifaller: Über Papierrollen als Beschreibstoff. In: Mélanges Eugène Tisserant. Bd. 5/2. Vatikanstadt 1964, S. 361-371. - Karin Schneider: Paläographie und Handschriftenkunde für Germanisten. Tübingen 1999, S. 185 f. Martin Steinmann: Das Basler Fragment einer Rolle mit mhd. Spruchdichtung. In: ZfdA 117 (1988), S. 296-310. - Birgit Studt: Gebrauchs-

Rührendes Lustspiel formen mittelalterlicher Rotuli. In: Vestigia Monasteriensia. Hg. v. Ellen Widder u.a. Bielefeld 1995, S. 325-350. - Wilhelm Wattenbach: Das Schriftwesen im Mittelalter. Leipzig 31896, S. 150-174. Klaus

Grubmüller

Routine / Ritual Rubai

Ghasel

Rückblende

Vorausdeutung

Rührendes Lustspiel Lustspieltyp der Aufklärung, in dem die komischen Elemente zugunsten von empfindsamen zurücktreten. Expl: Das Rührende Lustspiel konstituiert sich als eine ,Komödie ohne Komik' durch Figuren, die (1) in einer Ähnlichkeitsbeziehung zum Zuschauer stehen (der also seine Lebensverhältnisse in ihnen wiedererkennen kann), (2) Repräsentanten von positiven, gefühlsorientierten Werten wie Freundschaft, Selbstlosigkeit, Mitleid, Nachsichtigkeit usw. sind, (3) in der Welt des Privaten, vornehmlich der Familie, agieren, (4) von Zwistigkeiten, Unglücksfällen und Liebeskummer betroffen sind, (5) im Finale allerdings überwiegend wieder durch die Integration in die gesellschaftliche Ordnung versöhnt werden. Wirkungsästhetischer Zweck des Rührenden Lustspiels ist es, daß die Zuschauer mittels Identifikation vom traurigen, aber nicht tragischen Schicksal der Bühnenfiguren ,gerührt' werden. WortG: Das Bestimmungswort geht zurück auf a h d . ruoren, m h d . riieren im Sinne v o n

,etwas in Bewegung setzen'; seit dem 18. Jh. verstärkt in übertragener Bedeutung von,innerlich bewegen', häufig verengt „zu sanften empfindungen, zur trauer, wehmuth, mitgefühl bewegen, erweichen, erschüttern" (DWb 14, 1468). „Rührung, in seiner strengen Bedeutung, bezeichnet die gemischte Empfindung des Leidens und der Lust an dem Leiden" (Schiller 8,239).

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Lustspiel findet sich „auf Büchertiteln schon 1536", wurde „aber als deutsche Bezeichnung für Komödie erst von Gottsched durchgesetzt" (Paul-Betz, 408). Lessing übersetzt 1754 Chassirons,Réflexions sur le comique-larmoyant' (1749) als „Abhandlungen von dem weinerlichen oder rührenden Lustspiele". Ch. F. Weißes ,Die Freundschaft auf der Probe' (1767) ist wohl das älteste deutsche Schauspiel, das die Bezeichnung Rührendes Lustspiel explizit im Untertitel führt. BegrG: Der Begriff folgt der Sache und wird in der Ende der vierziger Jahre des 18. Jhs. ausgetragenen Kontroverse um die neue Form der / Komödie verwendet. Vom Standpunkt klassizistischer Ästhetik (/" Klassizismus) kritisiert Chassiron in seinen R é flexions sur le comique-larmoyant' (1749) die neue Komödienform, ähnlich wie Voltaire, der in der Vorrede zu seiner ,Nanine' (1749) die Bezeichnung COMÉDIE LARMOYANTE pejorativ benutzt. Geliert hingegen verwendet den Begriff in seiner lateinischen Antrittsrede ,Pro comoedia commovente' (1751), die Lessing 1754 als ,Abhandlung für das rührende Lustspiel' übersetzt, positiv (Lessing, 32—49). Gottsched reagiert in der 4. Auflage seiner ,Critischen Dichtkunst' (1751) auf die aktuelle Entwicklung und schlägt für die neue „bewegliche[ ] und traurige[] Komödie" die Bezeichnung Tragikomödie vor (Gottsched, 643 f.), die dann jedoch eine andere Bedeutung annimmt (/ Tragikomödie). Schon vorher hatte J. E. Schlegel in seinem Aufsatz .Gedanken zur Aufnahme des dänischen Theaters' (entstanden 1747) fünf Arten von Schauspielen unterschieden, von denen die letzte auf das Rührende Lustspiel anspielt (J. E. Schlegel, 276). J. A. Schlegel differenziert in seinem Aufsatz ,Von der Eintheilung der Poesie' (1751) die neue Form des Dramas, die den Schematismus der s Ständeklausel unterläuft, im Hinblick auf den jeweiligen dramatischen Ausgang: „Man hätte die eine das bürgerliche Trauerspiel, eine andre das rührende oder das zärtliche Schauspiel nennen können" (J. A. Schlegel, 269). Goethe und Schiller verspotten in ihren ,Xenien' (Schillerl, 628f.) die immer noch neue

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Rührendes Lustspiel

Form, die Schiller auch in seiner Parodie .Shakespeare Schatten' (1796) aufgreift (Schiller 1,159 f.). Launig thematisiert Goethe das Rührende Lustspiel als Familienschauspiel im ,Prolog zu Eröffnung des Berliner Theaters' (1821) (FA I. 6, 909). Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke [Frankfurter Ausgabe, FA]. Frankfurt 1985 ff. Friedrich Schiller: Werke und Briefe. Hg. v. Otto Dann u.a. 12 Bde. Frankfurt 1988ff. - Johann Adolf Schlegel (Hg.): Charles Batteux: Einschränkung der Schönen Künste auf einen einzigen Grundsatz. Bd. 1 [1751]. Leipzig 31770, Repr. Hildesheim, New York 1976. - Johann Elias Schlegel: Werke. Hg. v. Johann Heinrich Schlegel [1764-1773]. Bd. 3 [1764], Repr. Frankfurt 1971. SachG: Gegen Mitte des 18. Jhs. verstärkt sich generell die Tendenz zum GattungsSynkretismus. Vor dem Hintergrund der / Empfindsamkeit mit ihrer Positivierung des Gefühls als Quelle der Sittlichkeit nähern sich die von den klassizistischen Poetiken in Figurenbestand, Sprachgestaltung und Handlungsverlauf strikt getrennten Gattungen /" Komödie und Tragödie an. Lessing erläutert 1754 diese aktuelle Entwicklung in seiner Einleitung zu den von ihm übersetzten Abhandlungen zum Rührenden Lustspiel von de Chassiron und Geliert als „den Einfall, die Welt endlich einmal auch darinne weinen und an stillen Tugenden ein edles Vergnügen finden zu lassen" (Lessing, 6). Literaturgeschichtlicher Ausgangspunkt der von Lessing beschriebenen Entwicklung zu Rührendem Lustspiel und ? Bürgerlichem Trauerspiel ist die englische sentimental comedy', die in den Werken von Richard Steele ihre bestimmende Prägung erfahrt. Wichtiger für Deutschland ist allerdings der französische Einfluß, der von Destouches und Pierre de Marivaux, vor allem aber von Nivelle de La Chaussée ausgeht; dessen Drama ,Mélanide' (1741) stellt alle Merkmale der neuen Gattung auf prononcierte Weise aus. In Deutschland beginnt das Rührende Lustspiel mit Geliert. Insbesondere seine Komödie ,Die zärtlichen Schwestern' (1747) erfüllt die neue Gattungsnorm auf vorbildliche Weise: Tugend und Ernsthaftigkeit auf der Bühne, statt tragischem Scheitern ein

glückliches Ende; Erbauung und Rührung im Parkett, statt Schrecken und Erschütterung gerührte Erleichterung. Unter dem Einfluß von Diderot und seinem Konzept des , genre sérieux' verstärkt sich seit den 1760er Jahren die Tendenz zum rührenden Familienschauspiel, das einem festen Ablaufschema folgt: intakte Familienordnung, die durch nichtkonformes Verhalten einzelner Familienmitglieder in Unordnung gebracht wird, Wiederherstellen der Ordnung durch patriarchale Instanzen, Präsentation der restaurierten Familienordnung im abschließenden ? Tableau. Wirkungsästhetisches Ziel ist die moralische Erbauung der Zuschauer durch die dramatisch inszenierte moralische Läuterung des Helden, der sich nach allerlei Verfehlungen wieder in die sittliche Ordnung des Bürgertums integriert. Von Weiße und Gemmingen-Hornberg über Schröder und Iffland bis hin (mit Einschränkungen) zu Kotzebue folgen viele Dramatiker diesem Muster, das entsprechend seiner Automatisierung und Trivialisierung beim zeitgenössischen Publikum großen Anklang findet. Gotthold Ephraim Lessing: Sämtliche Schriften. Hg. v. Karl Lachmann und Franz Muncker. Bd. 6. Stuttgart 31890. ForschG: Das Rührende Lustspiel kommt gattungsgeschichtlich als Vorläufer des Bürgerlichen Trauerspiels oder als Spielart der Tragikomödie in den Blick (Eloesser, Daunicht, Wierlacher, Guthke, Arntzen). Epochengeschichtlich wird es im Zusammenhang mit der Empfindsamkeit thematisch (Birk, Pikulik), und geschmacksästhetisch wird es unter dem Aspekt der Trivialisierung (Glaser, Krause) abgehandelt (>" Trivialliteratur). Lit: Helmut Arntzen: Die ernste Komödie. München 1968. - Heinz Birk: Bürgerliche und empfindsame Moral im Familiendrama des 18. Jhs. Diss. Bonn 1967. — Eckehard Catholy: Das deutsche Lustspiel. Stuttgart, Berlin 1982. — Richard Daunicht: Die Entstehung des bürgerlichen Trauerspiels in Deutschland. Berlin 1963. — Arthur Eloesser: Das bürgerliche Drama. Berlin 1898. — Horst Albert Glaser: Das bürgerliche Rührstück. Stuttgart 1969. - Karl S. Guthke: Die moderne Tragikomödie. Göttingen 1968. Markus Krause: Das Trivialdrama der Goethe-

Rührung zeit. 1780-1805. Bonn 1982. - Lothar Pikulik: bürgerliches Trauerspiel' und Empfindsamkeit. Köln, Graz 1966. - Günter Säße: Die Ordnung der Gefühle. Darmstadt 1996. — Alois Wierlacher: Das Bürgerliche Drama. München 1968.

Günter Säße

Rührung Auf Emotionen des Publikums zielende Funktion von Texten, Theaterstücken oder medialen Produkten. Expl: Rührung ergibt sich als eine mögliche z1 Wirkung eines Kunstwerkes auf den Rezipienten und ist damit eine Kategorie der s Wirkungsästhetik. Nach den Gesetzen der Affektenlehre wird sie besonders für die aufführenden Künste, also die s Rede2 und das Drama, genau kalkuliert. Das / Bürgerliche Trauerspiel und das /" Rührende Lustspiel zielen gattungsbildend auf sie ab, theoretisch erörtert wird sie besonders in Lessings Mitleidspoetik bzw. im Zusammenhang der tragödientheoretischen Diskussion über / Furcht und Mitleid. WortG: Die von Adelung (s.v.) für das 18. Jh. festgehaltene psychologische Bedeutung von Rührung als Affizierung des Herzens und des Geistes im Sinne einer sanften Gemütsbewegung geht auf das frz. toucher le cœur zurück, wie es ζ. B. bei Boileau (,L'art poétique', 1674, 3,15—26) vorkommt. Von hier läßt sich eine Spur zu Horaz' ,De arte poetica' zurück verfolgen, wo die seltene lat. Fügung cor tangere (ν. 98: „cor spectantis tetigisse" — ,des Zuschauers Herz [be]rühren') in unmittelbarer Nähe des Affekttopos „si vis me fiere, dolendum est primum ipsi tibi" (v. 102f.: .willst du mich zu Tränen nötigen, so mußt du selbst zuvor das Leid empfinden'; vgl. Stenzel) steht. Die historisch vielfältige Diskussion um diesen Locus classicus gilt der Frage, wie das MOVERE, das dritte rhetorische Gebot neben ,docere' (y" Belehrung) und .delectare' (/" Unterhaltung!), praktisch zu verwirklichen ist, wie also affektive Rührung künstlich so vorgestellt und beim Betrachter er-

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zeugt werden kann, daß sie möglichst natürlich zu sein scheint. Da die authentisch scheinende Darstellung des Menschen als Mensch in der Aufklärung zum wichtigsten Thema der Literatur und Ästhetik wird (s Empfindsamkeit), erlangt der Begriff .Rührung' zu dieser Zeit zentrale Bedeutung. Sulzer faßt in seiner Kunstenzyklopädie unter .rührend' alles zusammen, „was sanft eindringende und stillere Leidenschaften, Zärtlichkeit, stille Traurigkeit, sanfte Freude u. d. gl. erweket", wobei das .Rührende' „sich bis zum hohen Pathetischen erheben, oder auch blos bey dem gemeinen Zärtlichen stehen bleiben" kann (Sulzer 4, 121 f.). Im Sinne einer /" Literarischen Anthropologie fordert er vom .rührenden Redner' und damit auch von den Schöpfern rührender Kunst „eine genaue Kenntniß des Menschen, aller Leidenschaften und der Tiefen des Herzens" (ebd., 125). Erst durch eine solche Liaison des Künstlers mit dem Psychologen kann sich im 18. Jh. ein ästhetisches Konzept der Rührung ausbilden. Ernst Günther Schmidt: Antiker Ursprung und nachantike Verwendung der Begriffe .Rührung' und .Erschütterung'. In: Antiquitas Graeco-Romana ac tempora nostra. Hg. ν. Jan Burian und Ladislav Vidman. Prag 1968, S. 2 8 3 - 2 8 9 . - Jürgen Stenzel: ,Si vis me fiere ...' — .Musa iocosa mea'. In: DVjs 48 (1974), S. 650-671.

BegrG: Rührung ist wie Mitleid eine gemischte Empfindung, die sich angesichts eines Gefühlswechsels beim Publikum oder auch beim fiktiven Personal einstellen kann, z. B. beim tragischen Umschlag von Glück in Unglück oder beim befreienden Sieg der Tugend über das Laster. Häufig wird der höchste Glücksmoment als ein Auslöser inszeniert und auf der Bühne als Tableau gestaltet. Im Streit um die richtige Auslegung der Aristotelischen Tragödiendefinition lenkt Nicolai mit seiner .Abhandlung vom Trauerspiele' (1757) das Interesse auf die Affekte, wobei er die Rührung als den „vornehmsten Zweck" der Tragödie einführt (Nicolai, 174). Noch während der Drucklegung führt er mit Lessing und Mendelssohn einen .Briefwechsel über das Trauerspiel' (1756/57), in dem seine Profilierung der theatralischen Leidenschaft differenziert

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Rührung

wird. Lessing grenzt darin den intuitiven Affekt der Rührung strikt gegen Mendelssohns verstandesgeleitete Bewunderung ab und weist sie als eine Spielart des von ihm favorisierten Mitleids aus (an Nicolai, 29.11.1756). Rührung ist für ihn die unmittelbarste Form der Anteilnahme am Unglück anderer; sie dient so zur Differenzierung des alle anderen Affekte integrierenden Mitleids, das im Gegensatz zur Bewunderung an die unteren Seelenvermögen adressiert ist (Lessing an Mendelssohn, 28.11.1756). Daraus ergibt sich das Zentralargument von Lessings Mitleidspoetik: „Der mitleidigste Mensch ist der beste Mensch, zu allen gesellschaftlichen Tugenden, zu allen Arten der Großmuth der aufgelegteste. Wer uns also mitleidig macht, macht uns besser und tugendhafter" (an Nicolai, 13.11.1756). Während Lessing eine moralische Besserung durch intuitive Rührung des Zuschauers für möglich hält, stellt Schiller in seinem dramaturgischen Programm der sinnlichen Identifikation eine distanzierende Verstandesleistung gegenüber. Nur so ist in seiner Theorie des ? Erhabenen der plötzliche Aufschwung aus dem physischen ins intelligible Reich denkbar. Bereits im Aufsatz ,Ueber den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen' (1792) erfolgt die später grundlegende Unterscheidung in die „schönen Künste (Künste des Geschmacks, Künste des Verstandes)" und die „Rührenden Künste (Künste des Gefühls, des Herzens)". Zu letzteren zählen das Rührende und das Erhabene, die auch bei Kant verwandt sind (,Kritik der Urteilskraft', § 14). Als gemischte Empfindungen bringen beide „Lust durch Unlust" hervor, sie vereinigen „Schmerz und Vergnügen" (NA 20, 136— 138). Distanzierung — z.B. mittels des Chors — soll geistige Freiheit gewährleisten, das Gemüt des Zuschauers soll „sich immer klar und heiter von den Rührungen scheiden, die es erleidet" (NA 10, 14). Mit der Einbeziehung in Schillers dramaturgisches Katastrophentraining im Zeichen des Erhabenen hat sich das Konzept der Rührung indes weit vom /" Bürgerlichen Trauerspiel und den bis ins 19. Jh. erfolgreichen unterhaltenden Rührstücken à la Iñland

und Kotzebue entfernt (weitere Belege bei Sauder 3). Friedrich Nicolai: Sämtliche Werke, Briefe, Dokumente. Bd. 3. Hg. v. P. M. Mitchell. Bern u.a. 1991. - Friedrich Schiller: Werke. Nationalausgabe [NA]. Hg. v. Julius Petersen u.a. Weimar 1943 ff.

ForschG: Als ein Teil der Mitleidspoetik ist das wirkungsästhetische Phänomen besonders von Michelsen (1966) im psychologiegeschichtlichen Kontext von Baumgarten, Dubos und Mendelssohn rekonstruiert worden; eine Opposition Lessings gegenüber dem vermeintlich starren Rationalismus Gottscheds, wie sie Schulte-Sasse (1972) annimmt, weist er in einem späteren Post-Scriptum (1990) ebenso zurück wie den Versuch von Schings (1980), Rousseaus Mitleidsbegriff als Quelle Lessings auszuweisen. Die relativ kurze Erfolgsgeschichte des Konzeptes läßt sich aus der Geschichtsdeutung etwa R. Kosellecks erklären, insofern Rührung sich lediglich in dem gegenüber der Öffentlichkeit noch abgeschlossenen privaten, bürgerlichen, familiären Innenraum ereignet, bevor sich dieser selbst kritisch auflädt und in der daraus hervorgehenden politischen Krise allmählich an Integrationskraft verliert (,Kritik und Krise', 1959). Ähnlich schließt Szondi: „Das Aufbegehren des Bürgers bedeutet für das Drama das Ende der Empfindsamkeit, das Ende von Mitleid und Rührung als Intention des Trauerspiels" (Szondi, 167). Lit: Willy R. Berger: Das Tableau. Rührende Schluß-Szenen im Drama. In: Arcadia 24 (1989), S. 131-147. - Monika Fick: Verworrene Perzeptionen. In: Schiller-Jb. 37 (1993), S. 139-163. Gotthold Ephraim Lessing, Moses Mendelssohn, Friedrich Nicolai: Briefwechsel über das Trauerspiel. Hg. v. Jochen Schulte-Sasse. München 1972. - Alberto Martino: Geschichte der dramatischen Theorien in Deutschland im 18. Jh. Bd. 1. Tübingen 1972. - Peter Michelsen: Die Erregung des Mitleids durch die Tragödie. In: DVjs 40 (1966), S. 548-566 [mit Post-Scriptum wieder in: P. M.: Der unruhige Bürger. Würzburg 1990, S. 107-136]. — Gerhard Sauder: Empfindsamkeit. Bde. 1 und 3. Stuttgart 1974, 1980. - HansJürgen Schings: Der mitleidigste Mensch ist der beste Mensch. München 1980. - Peter Szondi: Die Theorie des bürgerlichen Trauerspiels im 18. Jh. Hg. v. Gert Mattenklott. Frankfurt 1973.

Russischer Formalismus — Caroline Torra-Mattenklott: Metaphorologie der Rührung. München 2002. - Das weinende Saeculum. Heidelberg 1983. Alexander Kosenina

Rune

Schrift

Running G a g

Bühnenkomik

Russischer Formalismus Rundfunk

Medien

Formalismus

s Säkularisierung Bedeutungsverlust bzw. Transformation des Religiösen im Prozeß der gesellschaftlichen, dann auch literarischen Modernisierung. Expl: Das ideengeschichtliche Deutungsschema der .Säkularisierung', das sich mit den Stichworten ,Glaubensverlust', Profanierung des Sakralen' und Selbstbehauptung (bzw. ,Selbstermächtigung') des modernen Subjekts' umschreiben läßt, wird in der Literaturwissenschaft mit größerer Regelmäßigkeit als die Begriffe ,Verweltlichung', ,Dechristianisierung', Entzauberung' etc. verwendet, obwohl es in seiner Bedeutung diffus bleibt und eher der „gegenwärtigen Selbstauslegung der Gesellschaft" (Rendtorff, 61) als einer von geschichtsphilosophischen oder ideenpolitischen Implikationen befreiten historischen Analyse dient. Unter .Säkularisierung' faßt man (1) Phänomene der Übertragung: Religiöse Sprach- und Denkformen werden weltlich interpretiert, auf Profanes übertragen oder durch dieses ersetzt bzw. parodistisch gestaltet; umgekehrt dienen religiöse Motive einer Sakralisierung oder Remythisierung des Weltlichen; (2) eine methodische Perspektive zur Erschließung und Ordnung literarischer Quellen vornehmlich der Frühen Neuzeit, die Formen einer autonomen Weltdeutung etablieren (Kemper 1987— 1997 1, 22); (3) eine Fortschritts- oder Verlustgeschichte im Blick auf die .Legitimität' (Blumenberg) einer säkularen Neuzeit und der von ihr negierten bzw. zur Privatangelegenheit erklärten (christlichen) Glaubensgehalte. Der rechtlich-politische Begriff SÄKULAbezieht sich auf die Einziehung kirchlicher Güter durch weltliche Herrscher bzw. die Entlassung von Ordensgeistlichen in den Stand von Weltgeistlichen (vgl. Heckel). RISATION

Martin Heckel: Säkularisierung. Staatskirchenrechtliche Aspekte einer umstrittenen Kategorie. In: Zs. der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte (Kanonische Abteilung) 97 (1980), S. 1 - 1 6 3 . Hans-Georg Kemper: Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit. 6 Bde. Tübingen 1987-1997. - Trutz Rendtorff: Zur Säkularisierungsproblematik. In: Internationales Jb. für Religionssoziologie 2 (1966), S. 5 1 - 7 2 .

WortG: Aus dem spätantiken lat. Rechtsterminus saecularis abgeleitet und in der christlichen Tradition allgemein den ,weltlichen' Bereich im Gegensatz zum geistlichen bzw. kirchlichen bezeichnend, läßt sich das Substantiv saecularisatio (sécularisation), wie auch das entsprechende Verbum (séculariser), seit der 2. Hälfte des 16. Jhs. in frz. Quellen nachweisen (vgl. Wartburg, 45). Der in Deutschland seit Mitte des 17. Jhs. in das juristische und politische Vokabular aufgenommene Wortgebrauch (vgl. u. a. E. Mauritius: ,De secularisatione bonorum ecclesiasticorum', Diss. Kiel 1666) verliert sehr bald seine zuerst 1679 lexikalisch bearbeitete juridische Präzision (Fritsch) im Sinne einer ausschließlichen Anwendung auf die , Übernahme von Kirchengütern durch weltliche Obrigkeiten': Schottel erläutert bereits 1663 die eingedeutschte Form verweltlicht als .weltlichen Dingen hingegeben' (vgl. DWb 25,2204) in dieser übertragenen, auf geistes- und kulturgeschichtliche Zusammenhänge ausgeweiteten Form (vgl. auch Adelung2 4,1483), obwohl bis ins frühe 20. Jh. die juristische und politische Definition vorherrscht. Ahasver Fritsch: ,Secularisatio bonorum eccesiasticorum'. In: Christoph Ludwig Dietherr v. Anwanden, A. F.: Orbis novus literatorum, praeprimis iurisconsultorum, detectus, sive continuatio Thesauri practici Besoldiani [...]. Nürnberg 1679, S. 819. — Justus Georg Schottelius: Ausführliche Arbeit Von der Teutschen HaubtSprache. 2 Bde. [1663], Repr. Tübingen 1967. - Walther v. Wart-

Säkularisierung burg: Frz. Etymologisches Wb. Bd. 11. Basel 1964.

BegrG: Erste Belege für den Gebrauch von .Säkularisation' bzw. Säkularisierung' als geistesgeschichtlicher Interpretationskategorie finden sich seit Beginn des 20. Jhs. R. Fester spricht in einem 1908 gehaltenen Vortrag von der „Säkularisation des Staates, der Politik, der Rechtsprechung, der Gesellschaft" (Fester, 448); W. Dilthey und Max Weber verwenden den Begriff sporadisch, E. Troeltsch häufiger, aber auch mehr en passant (vgl. Ruh 1980, 138-164). Seit den 1920er Jahren findet sich die Kategorie Säkularisierung' in der literaturwissenschaftlichen Aufklärungsforschung (Dainat, 24; Geistesgeschichte), an die sich nach 1945 anknüpfen ließ. K. Ziegler vermerkt in einer Rezension die „schlechthin zentrale Rolle", die der Begriff in v. Wieses erfolgreichem Tragödien-Buch (1948, 2 1952, 81973: ,Die deutsche Tragödie von Lessing bis Hebbel') spielt, und bestreitet, daß die „Transponierung christlicher Motive ins Innerweltliche" für die „Dichtungsgeschichte zwischen 1750 und 1850" entscheidender gewesen sei als die „realgeschichtlichen Hintergründe" (Ziegler, 245 f.). Eine auf den Strukturwandel des Gesellschaftssystems bezogene historische Festlegung fehlte auch dem von A. Schöne in den 1950er Jahren geprägten Begriff der .Säkularisation als sprachbildender Kraft' (1958, 2 1968). Der literarische Wandel wurde hier auf Phänomene der Sprachübertragung (1) bezogen und eingeschränkt; Unterscheidungen in der s Typologie2 ermöglichten deren systematische Beschreibung, wobei die Deutung des am einzelnen Werk beobachteten Sachverhaltes der Frage nach dem Ursachenzusammenhang oder dem Richtungssinn der Entwicklung übergeordnet wurde. Diese Analysen hielten zwar den von H. Blumenberg in der Zwischenzeit entwickelten „Begriffskriterien" (Schöne 2 1968, 26) stand — womit eine Abgrenzung von ideengeschichtlichen Spekulationen möglich wurde —, allerdings unter Beibehaltung eines von allen „vordichterischen Bedingungen" (ebd., 32) abstrahierten Werkbegriffs. Ein solches Verständnis der

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Dichtung (/" Autonomie) ließ sich nicht ohne weiteres mit dem von Blumenberg formulierten Anspruch vereinbaren, zur „Konstitution der Neuzeit vertretbare, auf Begründungen zumindest hinführende Aussagen zu machen" (Blumenberg, 34). Gegen die von Blumenberg vorgetragene Kritik der Säkularisierungsthese — das „historische Verstehen tritt mit dem Gebrauch dieser Kategorie in die Selbstdeutung der Religion als eines Wahrheitsprivilegs ein" (ebd., 85) — hat G. Kaiser eingewandt, daß der Wissenschaft ein Denken in „rechtlichen Kategorien" fremd sei, „denn nicht an der Legitimität, sondern an der Wahrheit hat sie ihren Begriff" (Kaiser 21973, XXXII). Der von Kaiser beibehaltene ,Deskriptionsbegriff von Säkularisation' erschien wie der von ihm zur Bezeichnung der Sprachübertragungen gewählte Begriff der ,Funktion' (Kaiser 1976) aus der Sicht einer sozialgeschichtlich bzw. systemtheoretisch orientierten Literaturforschung problematisch, da er kaum auf gesellschaftliche Prozesse zu beziehen war. Die Literaturwissenschaft der 1980er Jahre hat nach der ,Blumenberg-Debatte' (vgl. Sparn) auf umfassende Deutungsmuster zugunsten eingrenzbarer wissensgeschichtlicher Untersuchungen verzichtet. Die seltenere Verwendung des Begriffs Säkularisierung wurde nicht wiederum eigens theoretisch reflektiert, was darauf hindeutet, daß der Literaturgeschichtsschreibung zunächst keine adäquaten Instrumente zur Beschreibung der in der Literatur des / Barock und der s Aufklärung omnipräsenten religiösen Denkmotive und theologischen Kontroversen zur Verfügung standen. Der Begriff .Säkularisierung' wurde daher reformuliert, von H.-G. Kemper (1981) etwa mit Vorgaben aus der Luhmannschen /" Systemtheorie. Im Spektrum der sozialwissenschaftlichen Theorieansätze wird jedoch nach wie vor eine die „diversen Zugänge" integrierende Konzeption vermißt, die den aus dem „Theorem der Säkularisierung" hervorgegangenen Problembestand aufnehmen könnte (Frick, 3 f.). Richard Fester: Die Säkularisation der Historie. In: Historische Vierteljahrsschrift 11 (1908), S. 441-459. - Werner Frick: Providenz und

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Sänger

Kontingenz. Bd. 1. Tübingen 1988. - Klaus Ziegler: [Rezension] Zu Benno v. Wiese. In: Euphorion 50 (1956), S. 240-246. ForschG: Die Erforschung des Säkularisierungsphänomens in seinen verschiedenen Erscheinungformen geschieht oft indirekt, d.h. ohne ausdrückliche Bezugnahme auf das Stichwort oder seine Äquivalente. In diesem Sinn gehören etwa Diltheys Untersuchungen zur neuzeitlichen Geistesgeschichte, Max Webers Religionssoziologie oder Luhmanns gesellschaftsgeschichtliche Analysen in die Forschungsgeschichte. Große Bedeutung für die Säkularisierungsdiskussion gewann Löwiths .Weltgeschichte und Heilsgeschehen' (1953), das dem theologischen Ursprung der modernen Geschichtsphilosophie nachging, und danach Blumenbergs Untersuchung zur .Legitimität der Neuzeit' (1966), deren Titel bereits eine fundamentale Kritik der Interpretationskategorie andeutet. An die begriffsgeschichtliche Studie von Lübbe (1965) konnten weitere Untersuchungen anschließen (Ruh 1980, 1982). In der Geschichtswissenschaft (vgl. Hamm) und der Rechtsgeschichte (Dilcher/Staff; Stolleis) wird der Begriff bei der Deutung der modernen Staatsbildung und der zunehmend nicht-religiös bestimmten Lebensverhältnisse unterschiedlich verwendet. In der Germanistik haben Schöne, Kaiser und Kemper (1981) den Versuch unternommen, das Konzept der Säkularisierung für die Analyse von Werken und Epochen fruchtbar zu machen; die nachfolgende Entwicklung und den gegenwärtigen Forschungsstand dokumentieren die von Danneberg u. a. herausgegebenen Abhandlungen (2002). Lit: Elke Axmacher: Säkularisierung und Kontingenzbewältigung in der frühneuzeitlichen Lyrik? In: Theologische Rundschau 55 (1990), S. 357-372. - Hans Blumenberg: Die Legitimität der Neuzeit [1966], Frankfurt 21988. Holger Dainat: Die wichtigste aller Epochen: Geistesgeschichtliche Aufklärungsforschung. In: Aufklärungsforschung in Deutschland. Hg. v. H. D. und Wilhelm Voßkamp. Heidelberg 1999, S. 21-37. - Lutz Danneberg u.a. (Hg.): Säkularisierung in den Wissenschaften seit der Frühen Neuzeit. Bd. 2: Zwischen christlicher Apologetik und methodologischem Atheismus. Berlin, New

York 2002. - Gerhard Dilcher, Ilse Staff (Hg.): Christentum und modernes Recht. Frankfurt 1984. - Berndt Hamm: Das Gewicht von Religion, Glaube, Frömmigkeit und Theologie innerhalb der Verdichtungsvorgänge des ausgehenden Mittelalters und der frühen Neuzeit. In: Krisenbewußtsein und Krisenbewältigung in der Frühen Neuzeit. Hg. v. Monika Hagenmaier und Sabine Holtz. Frankfurt 1992, S. 163-196. - Gerhard Kaiser: Pietismus und Patriotismus im literarischen Deutschland [1961]. Frankfurt 21973. G. K.: Erscheinungsformen der Säkularisierung in der deutschen Literatur des 18. Jhs. In: Säkularisierung und Säkularisation vor 1800. Hg. v. Anton Rauscher. München u.a. 1976, S. 91-120. Hans-Georg Kemper: Gottebenbildlichkeit und Naturnachahmung im Säkularisierungsprozeß. 2 Bde. Tübingen 1981. — Hermann Lübbe: Säkularisierung. Geschichte eines ideenpolitischen Begriffs [1965], Freiburg i.Br., München 21975. David Martin: A general theory of secularization. Oxford 1978. — Ulrich Ruh: Säkularisierung als Interpretationskategorie. Freiburg 1980. U. R.: Säkularisierung. In: Christlicher Glaube in moderner Gesellschaft. Hg. v. Franz Böckle. Bd. 18. Freiburg i.Br. 21982, S. 60-100. Albrecht Schöne: Säkularisation als sprachbildende Kraft [1958]. Göttingen 21968. - Walter Spara: Hans Blumenbergs Herausforderung der Theologie. In: Theologische Rundschau 49 (1984), S. 170-207. - Michael Stolleis: Religion und Politik im Zeitalter des Barock. In: Religion und Religiosität im Zeitalter des Barock. Teil 1. Hg. v. Dieter Breuer. Wiesbaden 1995, S. 23-41. - Wolfgang Strätz: Säkularisation, Säkularisierung II'. In: Geschichtliche Grundbegriffe. Hg. v. Otto Brunner u.a. Bd. 5. Stuttgart 1984, S. 792-809. - Hermann Zabel: Säkularisation, Säkularisierung III—IV'. In: Geschichtliche Grundbegriffe. Hg. v. Otto Brunner u. a. Bd. 5. Stuttgart 1984, S. 809-829. Ulrich Ruh ! Friedrich Vollhardt

Sänger Vokalkünstler, literarhistorisch dere Interpret oraler Dichtung.

insbeson-

Expl: Entgegen dem heutigen engen Wortverständnis (der/die Vortragende einer Gesangsnummer') beschränkt sich die Tätigkeit des Sängers und der Sängerin in einem weltweit zu beobachtenden oder historisch rekonstruierbaren, traditionalen oder popu-

Sänger lären Verständnis nicht auf das Interpretieren von Musikkompositionen, welche für Stimme geschrieben sind. Der traditionelle oder populäre Sänger kann in unterschiedlichen Kombinationen die Rollen des Textsammlers oder oralen bzw. schreibenden Textdichters, des Komponisten, des Vortragenden und des begleitenden Instrumentalisten einnehmen (so etwa der LIEDERMACHER; ? Song). Dabei kann der ruhige oder durch Gestik, Mimik bzw. Tanz unterstützte Vortrag die ganze Spannbreite von Deklamieren und rhythmischem Sprechen bis zum Singen und zur Vokalise umfassen. Diese Rollen können aber auch von verschiedenen Personen oder Personengruppen übernommen werden. Die Vielfalt der hieraus resultierenden Kombinationsmöglichkeiten ist einer der Hauptgründe für die extreme Variationsbreite der traditionellen und der populären, vor allem auch oralen Dichtkunst (/" Oralitât), die kurze bis sehr lange Formen (z. B. / Lied2, ? Ballade, /* Epos) bzw. Formenzyklen umfaßt (Zumthor, 209-227). [Terminologisches Feld:] Neben Sänger sind Begriffe wie Barde, Rhapsode, Spielmann oder auf begrenztere kulturelle Zusammenhänge bezogene Bezeichnungen wie Skalde, Skop (Nordeuropa), Skomoroche (Rußland), Griot (Afrika) u. a. im Gebrauch. BARDE: Hofsänger der Kelten (Helden-, Fürstenpreis- und Spottlieder), seit dem 1. Jh. n. Chr. bei Lukan bezeugt, Angehörige einer speziellen sozialen Klasse mit erblichen Privilegien. Während sie in Frankreich mit der Romanisierung verschwanden, lebten sie in Irland und Schottland, im Mittelalter in Zünften organisiert, bis ins 18. Jh. fort, in Wales in gewisser Weise bis heute, da als ,Barde' gilt, wer an einem der jährlichen Dichterwettstreite (Eisteddfod) teilgenommen hat. Im Zuge der ,Ossian'Begeisterung und in der sog. Bardendichtung des 18. Jhs. (Gerstenberg, Klopstock, Kretschmann) wurde der Ausdruck verallgemeinert für ,Sänger der Germanen' gebraucht, später, eher spöttisch, für ,Dichter' (Kluge-Seebold 23 , 80). RHAPSODE: Im antiken Griechenland epische Dichtung rezitierender Wandersänger

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oder Hofdichter, der Stücke verschiedener Herkunft zusammenfügte (griech. ράπτειν [rháptein] ,zusammenfügen', »zusammennähen') und mit eigenen Versatzstücken versah. Ab ca. 500 v. Chr. bis in nachchristliche Zeit Berufsbezeichnung für die Rezitatoren der homerischen Epen. Im 19. Jh. verstand man darunter die großen Rezitatoren (ζ. B. W. Jordan, Türschmann, Wüllner), die eigene Dichtungen vortrugen. SKALDE: Altnordisch skâld bezeichnet einen Dichter im Gefolge der skandinavischen Fürsten, der mit improvisierten Versen die Taten eines Herrn zu loben oder Tagesereignisse zu kommentieren hatte. Vom 9 . - 1 4 . Jh. sind etwa 250 Skalden bekannt, nach dem 11. Jh. ausschließlich Isländer. SKOP: In der ae. Literatur tritt der Skop (ae. scop ,Sänger', ,Dichter'; bei ¿Elfric Ubersetzung von lat. poeta, vates ,Seher', ioculator ,Spielmann'; ähnlich ahd. scophare) z.B. im ,Beowulf und im ,Widsith' als Gefolgschaftssänger auf, der über ein breites Repertoire (Preis- und Heldenlieder, eventuell heidnisch-religiöse Lieder) verfügt und seinen Vortrag mit der Harfe begleitet. Stand und Wort sterben um 1200 aus. SPIELMANN: Bezeichnung für den fahrenden Sänger des Mittelalters, dessen Lebensumstände und künstlerische Leistung schwer zu fassen sind. In den Quellen tauchen die ständisch nicht situierbaren Spielleute als Recht- und Ehrlose auf. Sie trugen literarisch-musikalische Kleinkunst (Balladen, Tanz- und Gelegenheitslyrik) vor und traten als Artisten und Musikanten auf. Die moderne Forschung lehnt die Zuweisung der sog. Spielmannsdichtung an Spielleute als Urheber ab. WortG: Das Wort Sänger ist aus ahd. sangari, mhd. sengeere, -er nach lat. cantor gebildet (DWb 14, 1790 f.). Daneben entwikkelte sich aus mhd. singœre, -er auch frnhd. Singer, das bereits 1801 bei Adelung als veraltet gilt (Adelung 4, 103), aber in verschiedenen Mundarten bis in die Gegenwart erhalten geblieben ist (DWb 16, 1090 f.). Beide Nomina haben sich über Beinamen, z. B. „Ich Cuonratt Holzrütiner, den man nempt Singer, der zyt müller zuo Flawil" (1451; Schweizerisches Idiotikon' 7, 1206),

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Sänger

zu Familiennamen entwickelt. Als Träger oraler Dichtung seit der Antike, dt. seit dem frühen Mittelalter bezeugt, terminologisch durch die Oralitätsforschung eingeführt (Lord: ,The singer of tales', dt. ,Der Sänger erzählt'). Als literaturwissenschaftlicher Terminus ist Sänger also klar vom umgangssprachlichen Gebrauch unterschieden. Schweizerisches Idiotikon. Bd. 7. Frauenfeld 1913.

BegrG: Während Sänger zuerst einen kirchlichen Sänger oder Beamten (lat. cantor, psalmista, regens chori) und erst in der neueren Sprache allgemein jemanden, der singt oder Musik macht, bezeichnet — z. B. „Senger/ Der singt oder singen leert. Musicus, Aulcedus, Cantor, Psaltes, Cantator" (Maaler, 370r) - , scheint Singer bis ins Frnhd. primär für den weltlichen Dichter und Sänger (z. B. mhd. minnesinger) zu stehen. Oft bezeichnen die beiden Wörter jedoch dasselbe. Der moderne Fachterminus Sänger für den oralen Dichter ist eine Lehnübersetzung aus engl, singer (of tales). Josua Maaler: Die Teiitsch Spraach. Zürich 1561.

SachG: Im Gegensatz zum anonymen, meist in Gruppen rezipierenden Hörer nimmt der produzierende Sänger innerhalb einer Kultur- oder Kultusgemeinschaft eine sanktionierte Sonderstellung ein, für die er sich durch besondere Befähigung, Schulung oder auch Initiation legitimieren muß (/" Inspiration). In traditionalen Gesellschaften ist der Sänger Überlieferungsträger; was er vorträgt, geht ins kollektive Gedächtnis ein (/" Memoria)·, er trägt Festakt und Ritus mit und beeinflußt durch Herrschaftslegitimation oder -kritik nicht selten herrschende Machtstrukturen. In der Gegenwart muß er sich zunehmend an den Moden und Bedürfnissen eines vielfach international agierenden Tonträger-, Medien- und Konzertmarktes orientieren. Die in den verschiedenen Kulturen ausgebildeten Sängertypen lassen sich weder mittels eines festen Rollenmusters noch eines allgemeingültigen, im Lauf der Geschichte vollzogenen Funktionswandels beschreiben. Sie fügen sich auf sehr unterschiedliche Weise in die sozialen, ökonomi-

schen und politischen Strukturen einer Gemeinschaft ein. Der Sänger kann der gesellschaftlichen Elite angehören oder von ihr getragen werden (so z.B. der keltische Barde), eine ambivalente oder marginale Position einnehmen (so z. B. gar eine — vielfach geächtete — Außenseiterexistenz führen), wie viele vagierende Spielleute im mittelalterlichen Europa oder frühe schwarze Blues-Sänger in den Südstaaten der USA. Davon abzuheben ist die Geschichte des Sängers im Sinne von ,Stimmkünstler'. In der westlichen Kultur hat sich der seit dem 9. Jh. schriftlich fixierte Gregorianische Choral vom organischen Wandel der Formen, Stile und Moden der ihn umgebenden Musik abgehoben. Von ihm nimmt die Entwicklung der abendländischen Musik zur ,Hochkunst' ihren Ausgang, die als Sondertyp den klassisch .kultivierten' Sänger mit besonderer Stimmqualität hervorgebracht hat, und zwar über die Tradition des italienischen Belcanto, die französische Gesangsästhetik und die auf Lautbildung (frz. phonation) beruhende Gesangsmethode von G. Duprez (,L'art du chant', 1845) bis zu den auf systematischer Schulung der Stimme beruhenden Gesangsmethoden, die ab 1855 durch die Erfindung des Laryngoskops (M. Garcia) möglich wurden. ForschG: Der Erforschung antiker und mittelalterlicher Sängertypen wendet sich die Philologie seit dem 19. Jh. in der Folge des oft idealistisch verklärten romantischen Interesses für die /" Volkskultur zu. Die Romantik sah im Spielmann das mittelalterliche Pendant des germanischen Skalden und Skop, der oft mit dem keltischen Barden gleichgesetzt wurde, und damit zugleich den Träger, ja Schöpfer der Volkspoesie. Die Professionalisierung des Lied- oder Opernsängers wurde von der Musikwissenschaft untersucht. Das seit Ende des 19. Jhs. erwachende ethnologische Interesse für den Sänger in traditionalen Gesellschaften in verschiedenen Kulturen bzw. Zivilisationsstufen erfuhr nach den bahnbrechenden Arbeiten von Murko und Parry einen ersten Höhepunkt mit der Arbeit ,The singer of tales' (I960) von Lord. Im Rahmen der auf diesen

Sage Arbeiten aufbauenden Forschungen zur / Oral poetry wie auch der Untersuchungen traditioneller und populärer Musikkulturen sind bis heute zahlreiche monographische Arbeiten über Sänger in verschiedensten Kulturen entstanden; eine übergreifende systematisierende und theoretische Verarbeitung dieses gewaltigen Materials liegt jedoch erst in Ansätzen vor. Lit: Heinz Bergner (Hg.): Lyrik des Mittelalters. 2 Bde. Stuttgart 1983. - Petr Bogatyrev, Roman Jakobson: Die Folklore als eine besondere Form des Schaffens [1929]. In: Strukturalismus in der Literaturwissenschaft. Hg. v. Heinz Blumensath. Köln 1972, S. 13-24. - Cecil M. Bowra: Heroic poetry. London 1952. - Viv Edwards, Thomas J. Sienkewicz: Oral cultures past and present. Oxford u. a. 1990. - Ruth Finnegan: Oral poetry. Bloomington/Ind. 2 1992. - Reinhold Grimm u.a.: Deutsche Liedermacher 1970-1996. Frankfurt u.a. 1996. - Patrick Guelpa: Der Skalde hörör Kolbeinsson. In: Mediaevistik 8 (1995), S. 125-160. - Wolfgang Härtung: Die Spielleute. Wiesbaden 1982. - Albert B. Lord: Der Sänger erzählt [I960], München 1965. - Robert Lug: Minnesang und Spielmannskunst. In: Neues Hb. der Musikwissenschaften. Bd. 2. Hg. v. Hartmut Möller und Rudolf Stephan. Laaber 1991, S. 294-317, 322-324. - Edith Marold: Der Skalde und sein Publikum. In: Studien zum Altgermanischen. Fs. Heinrich Beck. Hg. v. Heiko Uecker. Berlin, New York 1994, S. 462-476. Matthias Murko: La poésie populaire épique en Yougoslavie au début du XX e siècle. Paris 1929. — Hans Oesch: Außereuropäische Musik. 2 Bde. Laaber 1984, 1987. - Milman Parry: The making of Homeric verse. Hg. v. Adam Parry. Oxford 1971. - Walter Salmen: Der Spielmann im Mittelalter. Innsbruck 1983. - Klaus v. See: Skop und Skald. In: GRM N F 14 (1964), S. 1 - 1 4 . Doris Stockmann (Hg.): Volks- und Popularmusik in Europa. Laaber 1992. — Egon Werlich: Der westgermanische Skop. In: ZfdPh 86 (1967), S. 352—375. — Paul Zumthor: Introduction à la poésie orale. Paris 1983 [dt.: Einführung in die mündliche Dichtung. Berlin 1990].

Christian

Schmid-Cadalbert

Sage Anfangs mündlich, später schriftlich überlieferter Bericht von außergewöhnlichen Ereignissen.

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Expl: Die Sage berichtet in meist ungebundener Rede von außergewöhnlichen, jedoch als zumindest im Kern wahr geglaubten Ereignissen, wobei mündliche Verbreitung durch schriftliche Fixierung ergänzt werden kann. Sobald die Sage eine feste Form bekommt, mündlich in gebundener Rede (/ Oral poetry) oder schriftlich in Vers oder Prosa, wird sie zu Dichtung. Im Gegensatz zur mittelalterlichen ? Heldendichtung, die unmittelbar aus der mündlichen Tradition schöpft, benutzen neuzeitliche Dichtungen zumeist schon schriftliche Fixierungen der Sagen. Auch bekannte Sagensammlungen, wie die der Brüder Grimm, enthalten im allgemeinen schon stark in den Quellentext eingreifende Bearbeitungen. Die Sage unterscheidet sich vom s Märchen vor allem durch den Wahrheitsanspruch, von der /* Legende durch das profane Personal: Gegenüber der Sage vom Teufelsbündner (,Faust') steht die Legende von der Rettung des Teufelsbündners durch Maria (,Theophilus'). Für Erzählungen, die in der Götterwelt spielen oder in denen Götter als handelnde Personen auftreten (,Göttersagen'), wird auch der Terminus s Mythos verwendet. Die Sage hat nicht wie Märchen, s Anekdote und f Witz in erster Linie unterhaltende Funktion, sondern erzählt vorgeblich wahre Begebenheiten mit dem Ziel der Orientierung in der Welt. Sagen bringen die Ängste des Menschen vor ihn bedrohenden Mächten zum Ausdruck und befriedigen sein Bedürfnis nach Sicherheit und Halt im Leben. Das gilt nicht nur für die Volkssagen, in denen böse Mächte, z. B. Tod, Teufel oder übernatürliche Wesen, sich als ansprechbar, manchmal sogar als manipulierbar erweisen, sondern auch für die Heldensagen, in denen eine Gemeinschaft im Bild des Helden ihre Werte wiedererkennt, und sogar für die modernen ,Großstadtsagen' (,urban legends'), in denen die Ängste des modernen Menschen (Einsamkeit, Kriminalität, geheimnisvolle Krankheiten) aufgegriffen werden. Weder Heldensagen noch Volkssagen sind als historische Quellen verwendbar, da sie an historische Ereignisse nur zur Steigerung ihres Wahrheitsanspruchs anknüpfen. Ihre Funktion ist eine

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Sage

psychologische oder eine soziale. Sie haben denn auch eher Wert als historische Quellen für die Erforschung der Mentalität der Zeit, in der sie erzählt bzw. gesammelt werden, denn als Quellen für die Zeit, von der sie berichten.

Klaus Düwel: Werkbezeichnungen der mittelhochdeutschen Erzählliteratur (1050—1250). Göttingen 1983. — Kurt Schier: Sagaliteratur. Stuttgart 1970.

BegrG: Unter ,Sage' versteht man jeden Bericht, der über ein Ereignis weitererzählt WortG: Ahd. saga (von sagari) bezeichnete wird, und zwar nicht von einem unmittelbaebenso wie reda (von redôri) allgemein das ren Augenzeugen, sondern von Personen, Gesagte (d. h. ,Aussage',,Meinung', ,Rede') die den Bericht von einer anderen Person und ist seit dem 9. Jh. auch für die zusam- gehört haben. Seit der Romantik wird der menhängende Erzählung von bestimmten Begriff für eine bestimmte, in mündlicher Ereignissen belegt, so bei Otfrid von Wei- Überlieferung wurzelnde Erzählgattung geßenburg für sein Evangelienbuch („Thaz ih, braucht. Ähnliche begriffliche Prägungen drúhtin, thanne in theru ságu ni firspírne" gibt es auch in anderen Nationalphilologien — ,Gib Herr, daß ich mich mit meinen Aus- (wobei dort der Umstand der schriftlichen sagen nicht von der Wahrheit entferne'; Aufzeichnung des mündlich Erzählten stär1,2,15). In mhd. Quellen hat sage manch- ker in den Vordergrund rückt: engl, legend·, mal bereits die Konnotation des Unsicheren frz. légende). In ihrer Vorrede zum ersten (,Das Leben des heiligen Ludwig', v. 15: Band der ,Deutschen Sagen' (1816) bestim„wän unde sage"; zit. n. BMZ 2/2, 14), des men J. und W. Grimm die Sage in Abgrenweit Zurückliegenden (Hartmann von Aue, zung zum Märchen: „Das Märchen ist poe,Erec', v. 1622f.: „wände er nach sage nie/ tischer, die Sage historischer; [...] die Sage deheine bösheit begie") oder der üblen [...] hat noch das Besondere, daß sie an etNachrede (Hartmann von Aue, ,Das zweite was Bekanntem und Bewußtem hafte, an eiBüchlein', v. 485 f.: „zewäre ich vorhte ouch nem Ort oder einem durch die Geschichte noch ir sage/ daz ich des lîbes waere ein gesicherten Namen" (Grimm [1816/18], 7). zage"; vgl. auch BMZ 2/2, 14 f.). Als Gat- Das schließt nicht aus, daß in Sagen auch tungsbezeichnung findet sich sage im Mhd. übernatürliche Wesen auftreten. noch nicht; nur vereinzelt bezeichnet das Sagen werden häufig nach ihren ProtWort den Erzählstoff. Die ursprüngliche, agonisten und Gegenständen unterschieneutrale Bedeutung kommt gelegentlich den. (1) Göttersagen enthalten die ? Mynoch im 18. Jh. vor (Goethe,,Briefe aus der thologie (/" Mythos) einer GlaubensgemeinSchweiz', 27.10.1779: „nach der Sage des schaft. (2) Heldensagen erzählen von der Landes, neun kleine, nach unsrer ungefähVorgeschichte eines Volks anhand der ren Reiserechnung aber sechs starke Stunden"), im allgemeinen bedeutete Sage da- ruhmreichen Taten der Vorfahren, wobei sie mals jedoch schon „künde von ereignissen in schriftloser Zeit die Funktion der Geder Vergangenheit, welche einer historischen schichtsüberlieferung hatten. (3) Volkssabeglaubigung entbehrt" (DWb 14, 1647), gen berichten von merkwürdigen oder wunund zwar besonders deren schriftliche Fixie- derbaren Ereignissen meist lokaler Bedeurung. Seit den ersten Sammlungen im tung, erklären sonderbare Erscheinungen in 19. Jh. ist Sage zu einer Gattungsbezeich- der Natur (Felsformen, Höhlen) oder Überreste menschlicher Tätigkeit (Feldkreuze, nung geworden. Ruinen). Die beiden letzten Typen bemühen Das entsprechende altnordische saga sich um Einbettung in einen historischen wird im Deutschen ebenso wie in anderen Kontext. modernen Sprachen zur Bezeichnung mehDie drei Typen unterscheiden sich durch rerer Gruppen sehr verschiedenartiger alt- ihr Alter. Göttersagen entstanden vor der nordischer Prosawerke verwendet, insbe- christlichen Missionierung. Heldensagen sondere solcher, die die Geschichte norwe- stammen meist aus einer vorgeschichtlichen gischer Könige (Konungasögur) und isländi- Zeit, in der sich ein Volk im Kampf gegen scher Familien (Islendingasögur) zum Inhalt seine Feinde als Volk konstituiert, dem hehaben (Schier, 1 - 4 ) . roic age' (Chadwick; also für die germani-

Sage sehen Stämme in der Zeit der Völkerwanderung). Volkssagen sind zumeist erheblich jünger, wobei ein früherer und ein späterer Typus unterschieden werden (Seidenspinner, 19). Häufig sind Heldensagen nur nachträglich aus Heldendichtung rekonstruierbar. Heldensagen, die nicht als Dichtung, sondern nur als Sage bezeugt sind (ζ. B. die Iringsage), werden ,verlorene Heldensagen' genannt (Uecker, 129; Schneider 2/2, 136). Sagen können auf persönlicher Erinnerung beruhen (Sydow, 78) oder auf Berichten, die der Erzähler oft aus erster Hand erfahren zu haben vorgibt (,Mein Großvater hat es mir erzählt')· Wird ein solcher Bericht weitererzählt, wird er zum ,Fabulat'; ist er an verschiedenen Orten nachweisbar, ist er zur Sage geworden (Tillhagen, 309). Bei Sagen, deren Stoffe sich aus hochliterarischen Quellen ableiten, spricht man von .gesunkenem Kulturgut'. Hinzu tritt im 20. Jh. der Typus der sog. ,urban legend': Großstadtsagen, die auf Gerüchten basieren und häufig von den Medien unter Vermischtes' verbreitet werden. SachG: Sagen gibt es, seitdem der Mensch sich der Sprache bedient. Ursprünglich mündlich überliefert, sind uns Sagen nur zugänglich, wenn sie schriftlich fixiert wurden oder Künstler zur Anfertigung von Abbildungen angeregt haben (z.B. germanische Bildsteine). Seit der Antike sind Sagenstoffe in Dichtung und bildender Kunst überliefert. Im Mittelalter gehen Sagen häufig in die offizielle Historiographie ein, oft mit Hinweis auf ihre geringe (da bloß mündliche) Verbürgtheit. Ihre Stoffe werden in der Heldenepik, aber auch in Predigten, Lehrdichtungen, naturkundlichen Schriften usw. verbreitet. Im 16./17. Jh. finden sie sich in der Prodigienliteratur (/" Flugblatt). Planmäßige Sammlung und Aufzeichnung von Sagen hat es vor dem Beginn des 19. Jhs. nicht gegeben. Sie setzen etwa gleichzeitig in den europäischen Nationalliteraturen ein. In Deutschland schöpfen die von den Brüdern Grimm herausgegebenen .Deutschen Sagen' (1816 und 1818) zu einem großen Teil aus älteren schriftlichen Quellen. Große Verbreitung fanden die —

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ebenfalls auf schriftlicher Überlieferung beruhenden — ,Schönsten Sagen des klassischen Altertums' (3 Bde., 1838-1840) von Gustav Schwab. Seit dem späten 18. Jh. haben Autoren die schriftlich fixierten Sagen wieder als Stoffquelle für ihre Dichtungen benutzt, wobei hier fast alle Gattungen vertreten sind: Ballade (Bürger: ,Lenore'), Drama (Schiller: .Wilhelm Teil'), Kurzgeschichte (Kleist: .Das Bettelweib von Locarno'), Novelle (Gotthelf: ,Die schwarze Spinne'), Hörspiel (Frisch: ,Rip van Winkle') usw. Viele Sagen verdanken ihre Bekanntheit erst solchen dichterischen Gestaltungen. Die in der ganzen Welt erzählten modernen .Großstadtsagen' beanspruchen wie ihre älteren Vorgänger, wahre Begebenheiten zu berichten, ζ. B. über die merkwürdigen Eigenschaften von Coca-Cola, worin Münzen oder Tiere sich angeblich restlos auflösen (Bell). ForschG: Das wissenschaftliche Interesse an Sagen geht auf die Romantik und die aus ihr hervorgehenden Nationalphilologien zurück. An der frühen Sagenforschung sind die meisten Vertreter der entstehenden Germanistik beteiligt (J. und W. Grimm, L. Uhland, K. Simrock u. a.). Sie schließen zunächst an Dichtungen an, die von der Vorgeschichte berichten (.Nibelungenlied'). Deren Anonymität, die Existenz von verwandten Dichtungen (,Hürnen Seyfrid', Edda-Lieder) und historische Quellen, die Elemente des Stoffes enthalten, lösten eine Diskussion aus über die vorausliegende Sagenüberlieferung. Dabei setzte sich die von J. Grimm formulierte Auffassung durch, nach der solche Dichtungen im Volke entstanden, sozusagen vom Volk als Kollektiv gedichtet worden seien. Nach dieser — inzwischen aufgegebenen — Vorstellung enthält die Sage das stoffliche Repertoire der (epischen) ,Volkspoesie'. J. und W. Grimms Sammlungen von Sagen regten in verschiedenen Gegenden des deutschen Sprachraums ähnliche Bemühungen an. Die Auffassung der Sage als Produkt kollektiver Arbeit herrschte während des ganzen 19. Jhs. vor, bis Heusler (1913), ausgehend von Heldendichtung, die Entstehung von Heldensagen individuellen Dichterpersönlich-

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Sage

keiten zuschrieb. H. Schneider (1928) hat diese Auffassung weiter zugespitzt: „außerhalb des Liedes gibt es keine ,Heldensage', Heldensage wird erst im Lied und durch das Lied" (Schneider 1, 10). Den Begriff ,Sage' ließ Schneider nur für die Volkssage „in ihren zwei Erscheinungsformen als Ortssage und als Anekdote" (ebd., 9) gelten. Die Heldensage dagegen sei das Produkt „scharf profilierter Dichterköpfe" (ebd., 11). Gegenüber dieser radikalen Auffassung wiesen Genzmer und Kuhn nach, daß es auch Heldensagen außerhalb von Heldendichtung gegeben hat. Seitdem ist Konsens, daß es Sage vor und außerhalb der Dichtung gibt, aber auch umgekehrt Dichtung Quelle der Sage werden kann. Seit Sagen gesammelt wurden, wurde — u. a. im Anschluß an die Märchenforschung — versucht, Typen zu klassifizieren, mit kontroversem Ergebnis (Peuckert, Röhrich 2 1971 U. a.), sieht man von der Einteilung nach Stoffkreisen ab. Ein Typen- und Motivkatalog, wie ihn die Märchenforschung erarbeitet hat, liegt deshalb noch nicht vor. Von Peuckerts .Handwörterbuch der Sage' sind nur die ersten drei Lieferungen erschienen. Mit Problemen der Katalogisierung beschäftigen sich Beiträge bei Petzoldt (Petzoldt 1969, 307—373). Sagensammlungen vereinigen bis heute zumeist die Sagen einer bestimmten Region (Fränkische Sagen, Harz-Sagen, Sagen des Ahrtals usw.). Sagenforschung wird heute v. a. innerhalb der Volkskunde betrieben. Sagen sind Ausdruck kollektiver Mentalitäten; in ihnen können psychische Prozesse verarbeitet sein (Ranke, 29); sie spiegeln — wie noch die »urban legends' (vgl. Brednich) — kollektive Ängste, ethnische und soziale Stereotypen, .Mythen des Alltags' (Barthes). Lit: Roland Barthes: Mythen des Alltags [1957], Frankfurt 1964. - Hermann Bausinger: Formen der ,Volkspoesie'. Berlin 1968. — Michael Bell: Cokelore. In: Readings in American folklore. Hg. v. Jan H. Brunvand. New York, London 1979, S. 99-105. - Rolf Wilhelm Brednich: Die Spinne in der Yucca-Palme. Sagenhafte Geschichten von heute. München 1990. — Jan H. Brunvand: Too good to be true. The colossal book of urban legends. New York, London 1999. — Hector M. Chadwick: The heroic age. Cambridge 1912. Felix Genzmer: Vorzeitsaga und Heldenlied. In:

Fs. Paul Kluckhohn und Hermann Schneider. Tübingen 1948, S. 1-31. - Helge Gerndt: Sagen und Sagenforschung im Spannungsfeld von Mündlichkeit und Schriftlichkeit. In: Fabula 29 (1988), S. 1-20. - H. G.: Gedanken zur heutigen Sagenforschung. In: Bayerisches Jb. für Volkskunde 1991, S. 137-145. - Klaus Graf: Thesen zur Verabschiedung des Begriffs der .historischen Sage'. In: Fabula 29 (1988), S. 21-47. - Wilhelm Grimm: Die deutsche Heldensage. Gütersloh 3 1889. - W. G., Jacob Grimm: Deutsche Sagen [1816/18, 31891]. Darmstadt 1981. - Andreas Heusler: .Heldensage'. In: Reallexikon der germanischen Altertumskunde. Hg. v. Johannes Hoops. Bd. 2. Straßburg 1913-1915, S. 488-497. - André Jolies: Einfache Formen. Tübingen 61982. — Hans Kuhn: Heldensage vor und außerhalb der Dichtung. In: Edda, Skalden, Saga. Fs. Felix Genzmer. Hg. v. Hermann Schneider. Heidelberg 1952, S. 262-278. - Max Lüthi: Volksmärchen und Volkssage. Bern, München 1961. — M. L. u.a.: Sagen und ihre Deutung. Göttingen 1965. - Leander Petzoldt (Hg.): Vergleichende Sagenforschung. Darmstadt 1969. — L. P.: Deutsche Volkssagen. München 1970. L. P. (Hg.): Folk narrative and world view. 2 Bde. Frankfurt 1996. - Will-Erich Peuckert: Handwb. der Sage. 3 Bde. Göttingen 1961-1963. - W.E. P.: Europäische Sagen. 4 Bde. Berlin 1961-1965. - W.-E.P.: Sagen. Berlin 1965. Ethel Portnoy: Broodje aap. De folklore van de post-industriële samenleving. Amsterdam 1978. - Friedrich Ranke: Volkssagenforschung. Breslau 1935. - Lutz Röhrich: Sage. Stuttgart 21971. — L. R.: Sage und Märchen. Freiburg i. Br., Basel 1976. - Rudolf Schenda: Die deutschen Prodigiensammlungen des 16. und 17. Jhs. In: AGB 4 (1962), Sp. 637-710. - R. S. (Hg.): Sagenerzähler und Sagensammler der Schweiz. Bern, Stuttgart 1988. - Susanne Schmidt-Knaebel: Textlinguistik der einfachen Form. Die Abgrenzung von Märchen, Sage und Legende zur literarischen Kunstform der Novelle. Frankfurt 1999. - Wolfgang Seidenspinner: Sage und Geschichte. In: Fabula 33 (1992), S. 14-38. - Hermann Schneider: Germanische Heldensage. 3 Bde. Berlin, Leipzig 1928-1934. - Carl Wilhelm v. Sydow: Kategorien der Prosa-Volksdichtung [1934/1948], In: Petzoldt 1969, S. 66-89. - Heinrich Tiefenbach u. a.: ,Held, Heldendichtung und Heldensage'. In: Reallexikon der germanischen Altertumskunde. Hg. v. Heinrich Beck u. a. Bd. 14. Berlin, New York 21999, S. 260-282. - Carl-Herman Tillhagen: Was ist eine Sage [1964]? In: Petzoldt 1969, S. 307-318. - Heiko Uecker: Germanische Heldensage. Stuttgart 1972. Norbert

Voorwinden

Salon

Salon Kommunikationsort bzw. Geselligkeitsformation. Expl: Am Schnittpunkt von Öffentlichkeit und Privatheit, meist um eine Frau (Salonnière) sich bildender geselliger Kreis. Im Prinzip offener, d. h. auch sozial heterogener, aber situativ der Idee nach egalisierter Teilnehmerkreis, der sich im Gegensatz zur Etikette der Adelswelt (s Höfische Verhaltenslehre) einem Ideal der Geselligkeit und geistig-künstlerischer Kreativität verpflichtet, das gesellschaftliche Hierarchien und Benachteiligungen (z.B. gegenüber Frauen und Juden) aufhebt. Die Kontinuität des Salongesprächs über literarische, künstlerische, philosophische, auch politische Themen wird gewährleistet durch regelmäßige Besucher (Habitués). WortG: In Zedlers ,Universal-Lexicon' (1742) wird Salon als frz. Lehnwort der höfischen Repräsentativ-Architektur in der Bedeutung ,Hauptsaal' aufgeführt (Zedier 33, s. v.). Ebenso wie span, salón geht das frz. salon zurück auf ital. salone, Vergrößerungsform zu sala (Saal). Durch Orientierung an der Adelskultur Frankreichs wird Salon als Raumbezeichnung bei deutschen Schloßbauten (z.B. Wittumspalais in Weimar), von dort im Lauf des 19. Jhs. auch in die großbürgerliche Wohnkultur übernommen. Anders als Zedier gebrauchen ältere frz. und span. Quellen das Wort bereits zur Bezeichnung der im ,Salon' stattfindenden Veranstaltungen bzw. der sich hierzu versammelnden Gesellschaften. Ab 1759 entscheidende Erweiterung im frz. Wortgebrauch und Aufnahme in das terminologische Repertoire der kritisch-räsonierenden Öffentlichkeit durch Diderots Betitelung seiner Kunstkritiken als salons. Diesem Wortgebrauch folgen in Frankreich u. a. Baudelaire, Zola, in der deutschen Literatur Heine. BegrG: Als Begriff literarischer Geselligkeit setzt sich ,Salon' auch im Französischen relativ spät durch. Stattdessen herrscht ein Neben- und Nacheinander von z. T. epochensignifikanten Bezeichnungen. Als Syn-

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onym von .société littéraire' ist salon in den Memoiren Marmontels (1800-1806) sowie in Mme de Staëls ,Corinne ou l'Italie' (1807) dokumentiert. Bei den Trägern der zeitgenössischen deutschen Salonkultur stößt eine Übertragung des Begriffs auf die eigenen geselligen Projekte auf Bedenken, da ,Salon' das Interaktionsmodell einer sozialen Oberschicht konnotiert. Während Rahel Levin-Varnhagen noch eine „Begriffsverwirrung" beklagt (Brief an Brinckmann, 30. 11. 1819), kennzeichnet für Karl Varnhagen der Begriff bereits entsprechende gesellige Formationen auch im deutschsprachigen Raum. 1830 wird ,Salon' öffentlich für die Geselligkeit R. LevinVarnhagens reklamiert. Von wenigen Ausnahmen abgesehen kommt es in der Phase Junges Deutschland (s Vormärz) bereits zur Pejorisierung des Begriffs, die vor allem in Komposita (Salonliterat, Salonpoesie) manifest wird. Noch Brechts ,Baal' (1922) bestätigt diese Abwertung. SachG: Trotz vergleichbar strukturierter Formationen an italienischen Höfen der Renaissance beginnt die eigentliche Geschichte des Salons mit dem ,Hôtel de Rambouillet' in Paris Anfang des 17. Jhs. Die hier ausgebildete konversationelle Geselligkeit, bei der literaturproduktives, -distributives und -rezeptives Handeln verschränkt sind, findet ihre Fortsetzung in den literarischen Gesellschaften der ,Preziösen'. Begründet ist diese frühe Kulminationsphase der Salongeschichte u. a. in Veränderungen der Adelsstruktur, aus denen die Notwendigkeit der Kompensation und Sublimierung von Machtverlust resultiert. Der organisatorische Neuansatz im 18. Jh. unter dem Postulat der .vernünftigen Sozialität' verknüpft Salonkultur und s Aufklärung auch personell: Unter den Enzyklopädisten werden die Salons zu einer literaturkritischen Instanz und einer Institution des Ubergangs von der repräsentativen zur räsonierenden Öffentlichkeit, gehen jedoch mit dem Ancien régime unter. Versuche, die Salongeselligkeit nach der Revolution zu restaurieren (Mme de Staël), stoßen auf politischen Widerspruch. Im deutschsprachigen Raum — mit einer Konzentration von Salons

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Sangspruch

auf Berlin und Wien - bilden Aufklärung und Revolution gleichermaßen Entstehungsvoraussetzungen. Unter den Trägerinnen von Salons in diesen beiden Städten gewinnen jüdische Frauen eine herausragende Bedeutung (Henriette Herz, Rahel LevinVarnhagen, Fanny v. Arnstein u. a.). Die erste Phase der Berliner Salongründungen, in der die Geselligkeit mit klassisch-romantischen Kunstkonzeptionen in Zusammenhang gesetzt wird, endet durch die Auflösung der salonspezifischen Kommunikationsstrukturen in der Folge der Niederlage Preußens 1806. Bei der Reorganisierung der Salons in der ? Restauration gelingt es zwar, sie als begrenzte Freiräume in einem von der Zensur bedrängten Literaturbetrieb zu sichern, als ständeübergreifendes, auf Harmonie angelegtes Interaktionsmodell verlieren sie aber bei der Zuspitzung der gesellschaftlichen Auseinandersetzungen rasch auch an literarischer Reputation. In der Folge läßt sich neben der Tendenz, den Salon in die repräsentative Sphäre einzubinden, eine stärkere Funktionalisierung im Hinblick auf den Buchmarkt konstatieren. ForschG: Die Erforschung des Salons beginnt sich in der Germanistik erst seit der Erweiterung des Literaturbegriffs Ende der 1960er Jahre zu etablieren. Dabei werden ältere kulturgeschichtliche und biographistische Ansätze aufgegriffen. Bei diesem Forschungsgegenstand, der sich von Struktur und Quellenlage her als interdisziplinäres Paradigma anbietet (/" Boheme), ist es vor allem die Soziologie, die sich mit ihren Beiträgen (von institutionsgeschichtlichen bis zu systemtheoretischen) auf die Auseinandersetzung mit dem Salon auch in der Literaturwissenschaft auswirkt. Während feministisch orientierte Ansätze in unterschiedlichen Wissenschaftsdisziplinen seit den 1980er Jahren den Salon als singuläre Möglichkeit der temporären Außerkraftsetzung der Zuweisung von Geschlechterrollen beschreiben (s Gender studies), wird er durch eine sozialgeschichtlich interessierte Literaturwissenschaft in seinen Leistungen für die Herausbildung literarischer Handlungsmuster und Konventionen skizziert. Lit: Norbert Altenhofen Geselligkeit als Utopie. In: Berlin zwischen 1789 und 1848. Hg. v. Bar-

bara Volkmann. Berlin 1981, S. 37-42. - Hannah Arendt: Berliner Salons. In: Deutscher Almanach für das Jahr 1932, S. 173-184. - Renate Baader: Dames de lettres. Autorinnen des preziösen, hocharistokratischen und ,modernen' Salons (1649-1698). Stuttgart 1986. - Ingeborg Drewitz: Berliner Salons. Berlin 21979. - Konrad Feilchenfeldt: ,Berliner Salon' und Briefkultur um 1800. In: D U 36 (1984), H. 4, S. 77-99. Deborah Hertz: Die jüdischen Salons im alten Berlin. Frankfurt 1991. - Verena von der Heyden-Rynsch: Europäische Salons. Darmstadt 1992. - Nicola Ivanoff: La Marquise de Sablé et son salon. Paris 1927. - Irene Himburg-Krawehl: Marquisen, Literaten, Revolutionäre. Zeitkommunikation im französischen Salon des 18. Jhs. Osnabrück 1970. - Albert Kaltenthaler: Die Pariser Salons als europäische Kulturzentren unter besonderer Berücksichtigung der deutschen Besucher während der Zeit von 1815-1948. Diss. Nürnberg 1960 (masch.). - Helmut Kreuzer: Die Boheme [1968], Repr. Stuttgart, Weimar 2000. Carolyn C. Lougee: Le paradis des femmes. Women, salons, and social stratification in seventeenth-century France. Princeton 1976. — Norbert Miller: Literarisches Leben in Berlin im Anfang des 19. Jhs. Aspekte einer preußischen Salon-Kultur. In: Kleist-Jb. 1981/1982, S. 13-32. Emanuel Peter: Geselligkeiten. Tübingen 1999, Kap. 7. - Fred E. Schräder: Soziabilitätsgeschichte der Aufklärung. In: Francia 19.2 (1992), S. 177-194. - Peter Seibert: Der Literarische Salon. Stuttgart u.a. 1993. - P. S.: Der Literarische Salon - ein Forschungsüberblick. In: IASL, 3. Sonderh. (1993), S. 159-220. - Valerian Tornius: Salons. 2 Bde. Leipzig 1913. - Petra Wilhelmy: Der Berliner Salon im 19. Jh. (1780-1914). Berlin, New York 1989. Peter

Seibert

Salutatio /" Dispositio

Sangspruch Zum gesungenen Vortrag bestimmte Strophe, Untergattung der mittelalterlichen Lyrik. Expl: Sangsprüche behandeln in relativ geschlossenen, metrisch-musikalisch zumeist gleichförmigen Einzelstrophen mit didaktischer und werbender Absicht vielfaltige Themen. Sie nehmen dabei v. a. allgemeines

Sangspruch Wissensgut und gesellschaftlich sanktionierte Lehrinhalte auf (S Lehrdichtung), beziehen sich aber auch auf aktuelle Ereignisse. Durch wiederkehrende thematische Aspekte können sich zusammenhängende, im Vortrag nutzbare Strophenreihen ergeben, ohne daß die Kohärenz der anderen lyrischen Gattungen Lied (y Minnesang) und ? Leich erreicht würde. Eine strenge inhaltliche Abgrenzung zu diesen ist nicht möglich. Das thematisch an der Sangspruchdichtung orientierte f Bar der Meistersinger etabliert einen neuen mehrstrophigen Liedtyp. Die Vortragsweise unterscheidet den ,Sangspruch' vom , Sprechspruch' (auch Reimrede genannt; ? Gnomik), der verwandte Themen in lehrhaften, paargereimten Versfolgen umfaßt; der Begriff SPRUCHDICHTUNG übergreift beides. Als Terminus verdient Sangspruch den Vorzug vor anderen in der Forschung verwendeten Bezeichnungen: Sangverslyrik enthält kein Signal zur Absetzung vom Minnelied; Spruchlied ignoriert die Selbständigkeit der Einzelstrophe und trifft außerdem nur auf die Spätzeit zu; Gebrauchslyrik unterscheidet nicht hinlänglich von der auch sonst gebrauchsgebundenen mittelalterlichen Lyrik und gibt keinen an der Textgestalt ablesbaren Verständnishinweis. WortG: Sangspruch, eine wissenschaftliche Wortprägung des 20. Jhs. (H. Schneider in RL 1 3 [1928/29], 287-293), fügt der von Simrock (1833) eingeführten Gattungsbezeichnung Spruch verdeutlichend den Aufführungsaspekt hinzu. Simrocks Terminus, für einen Teilbereich der Lyrik Walthers von der Vogelweide geprägt, schließt sich an Formulierungen des Dichters an („alte[ ] spräche", L. 26,27), die aber, wie Wendungen bei späteren Sangspruchdichtern, nicht eine bestimmte Gattung, sondern die prägnante, kunstvolle Rede allgemein bezeichnen und auf Sprichwörter, Minnesang u. a. bezogen wurden. Die von Simrock aus dem Wort Spruch extrapolierte Vortragsweise „mehr recitativ oder parlando" (Simrock 1833, 175) hat sich durch die erst spät zutage getretene Überlieferung von Melodien als unzutreffend erwiesen.

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BegrG: Trotz des Fehlens einer differenzierenden Terminologie (lief, sane, rede werden für verschiedene lyrische und epische Texte verwendet) läßt sich im Mittelalter ein Bewußtsein für die Unterscheidung von Sangspruchdichtung und Minnesang erkennen: Aufteilung auf unterschiedliche Textgruppen in der Weingartner Liederhandschrift Β (Anfang 14. Jh.) bei Walther von der Vogelweide; Konzentration auf die Sammlung von Sangsprüchen in der Jenaer Liederhandschrift J (Mitte 14. Jh.) auch bei Verfassern von Minnesang; Beschränkung auf die Rezeption von Sangspruchdichtung bei den Meistersingern; Aufscheinen inhaltlicher und soziologischer Unterscheidungskriterien bei Walther von der Vogelweide durch seine Zuordnung der Minnethematik zu Sängern in gesicherten Existenzverhältnissen einerseits, provokanter Themen (Lohnbitte, Schelte) zu fahrenden Sängern andererseits (L. 28,1-30). Expliziert wird der Begriff erst in der Philologie des 19. Jhs. Die Spruch-Definition Simrocks ist durch formale, inhaltliche und vortragsbezogene Merkmale bestimmt, von denen die ersten beiden heute noch relative Gültigkeit besitzen: (1) die Einstrophigkeit, (2) die politischen, geistlichen, gelegentlich auch minnebezogenen Themen. Aus der strophischen Geschlossenheit resultiert als weiterer definitorischer Aspekt die Tendenz zu einer pointierten Argumentationsstruktur. Die Formierung der Sprecherrolle mit biographisch wirkenden Elementen gilt heute als weiteres Gattungsmerkmal. Da die genannten Kriterien in den sich wandelnden Sangsprüchen vom 12.—14. Jh. unterschiedlich zur Geltung kommen, ergibt sich eine relative Offenheit des Begriffs. SachG: Unter Voraussetzung einer vorliterarischen Phase läßt sich der Beginn der Sangspruchdichtung auf Grund von Gönnernamen in die 2. Hälfte des 12. Jhs. datieren, während die Textüberlieferung in den großen lyrischen Sammelhandschriften erst Ende des 13. Jhs. einsetzt. Die Aufnahme mündlicher Sprichworttradition und Anregungen aus der lateinischen Literatur wirken zusammen. Spervogel, wohl ein Sammelname in den Handschriften für zwei

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Sangspruch

oder drei Sangspruch-Corpora, gilt als erster namentlich bekannter, an Adelshöfen auftretender Dichter. Walther von der Vogelweide (ca. 1190—1230) wird durch verbale Prägnanz, Formen- und Themenreichtum zum Muster für die nachfolgenden Dichter. Analog zum Minnesang, wo jedes Lied seinen eigenen ? Ton besitzt, erscheinen bei Walther die Sangsprüche in insgesamt 13 verschiedenen ,Tönen' mit 3 bis 18 Strophen. In der Folgezeit operieren die einzelnen Dichter wieder mit einer geringeren Zahl an ,Tönen' (extrem die Beschränkung Reinmars von Zweier, 1. Hälfte 13. Jh., auf einen Ton für über 200 Strophen). Verbindlich wird die von Walther aus dem Minnesang übertragene ? Kanzonen-Form. Spätere Sänger benutzen z.T. ,Töne' von Vorgängern, erstmals der Marner (Mitte 13. Jh.). Mit Bezug auf Erfinder, Stropheninhalte und Formen kommen Namen für Töne auf (ζ. Β. ,Frau-Ehren-Ton', ,Kurzer Ton'). Thematisch umfassen die SpervogelStrophen fast schon das für die Gattung insgesamt typische Spektrum: religiöse und allgemeine Lebenslehre, Existenzprobleme des fahrenden Sängers, Dienst und Lohn. Durch Bezugnahme auf konkrete Zeitereignisse (Königswahl, Aktionen von Papst und Fürsten, Kreuzzug) gibt Walther von der Vogelweide der Gattung aktuelle politische Dimensionen. Eine verallgemeinernde Aussagetendenz fördert die Wiederaufführung über den primären Entstehungs- und Rezeptionsanlaß hinaus. Von den späteren Sängern (über 50 namentlich bekannt, davon 10 mit größerer Strophenzahl und ausgeprägterem Personalstil) haben nur wenige Minnesang und Sangsprüche nebeneinander verfaßt. Die Aufbereitung gelehrten Wissensstoffes für Laien, Gesellschaftslehre und -kritik, Reflexionen über Dichtung und Sprache, verbunden mit didaktischem Autoritätsanspruch, machen die Sangspruchdichter zu einer breitenwirksamen, laikalen Lehrinstanz. Steigerung oder Verunglimpfung herrscherlichen Ansehens durch Lobund Tadelstrophen verleihen ihnen eine gewisse publizistische Macht, die sie zu ihrer Existenzsicherung auszumünzen versuchen. Literarisierter Wettstreit (,Wartburgkrieg',

2. Hälfte 13. Jh.) und Polemik gegen Berufsgenossen eignen dem Konkurrenzkampf unter den Sängern. Um 1300 markiert Heinrich von Meißen, genannt Frauenlob, den artifiziellen Kulminationspunkt der Gattung. Danach geht die Sangspruchproduktion zurück (bedeutend noch Heinrich von Mügeln, etwa 1345—1370), und die Gattung verändert sich hin zum ,Spruchlied', als berufsmäßige Kunst zuletzt von Michel Beheim (1420-1479) vertreten. Im s Meistergesang erfolgt eine produktive Rezeption in verändertem sozialen Rahmen: Nebenberuflich dichtende Handwerker verehren eine Reihe von Spruchdichtern als ,alte Meister', deren Töne sie bis ins 18. Jh. weiterverwenden. ForschG: Die Diskussion über die Gattung Sangspruch wurde seit Simrock bis in die Gegenwart weitergeführt (zusammenfassender Rückblick: Moser 1972). Simrocks eher vorsichtige Beurteilung von Vortragsweise und Strophenverbindung (1870, 7 f. u. ö., spricht er von ,Spruchlied' und ,Liederspruch' bei Walther u. a.) hat W. Wackernagel (1851-1855 2, 236 f.) dogmatisierend verkürzt und mit künstlerischer Abwertung der Gattung belastet. In die Abfolge von pragmatischer Benutzung der Gattungsgliederung und wechselnden Begründungen hat Fr. Maurer (1954) Bewegung gebracht durch seine Qualifizierung der Sangsprüche Walthers von der Vogelweide als politische Lieder': in einem bestimmten Ton zusammenhängend konzipierte und verwendete Einheiten. Zwar konnte sich seine extreme Lied-Vorstellung nicht durchsetzen (Kritik von de Boor 1956, Kracher 1956 u.a.), sie lenkte aber den Blick auf veränderliche Aufführungseinheiten (Kuhn 1952) und die besondere Art der Mehrstrophigkeit des Sangspruchs gegenüber dem Lied (Ruh 1968). Nach der Aufarbeitung der Forschung durch Tervooren (1972 und 1995) wird die Sangspruchdichtung besonders unter Gesichtspunkten der Performanz und textlichen Inkonstanz erörtert. Die Betonung der Rollenhaftigkeit des Sänger-Ichs (ζ. B. Wenzel 1983, J.-D. Müller 1994) rückt die Sangsprüche stärker an den Minnesang heran. Handschriftennahe Editionen bedeu-

Satire tender Spruchcorpora des 13. —15. Jhs. (z. B. Walther von der Vogelweide, Bruder Wernher, Frauenlob, Heinrich von Mügeln), eine Anthologie politischer Lyrik und die zusammenfassende Überschau des Bestandes im ,Repertorium der Sangsprüche und Meisterlieder des 12. bis 18. Jhs.' (1980—1996) schaffen zunehmend die Arbeitsgrundlage für überlieferungsgerechte Untersuchungen. Die schwierige Rekonstruktion historisch-situativer Kontexte für die Entstehung und Rezeption der Sangsprüche (oft mit divergierenden Ergebnissen) wird weitergeführt. Lit: Bruder Wernher. Hg. v. Franz Viktor Spechtler. 2 Bde. Göppingen 1982, 1984. Frauenlob (Heinrich von Meißen): Leichs, Sangsprüche, Lieder. Hg. v. Karl Bertau und Karl Stackmann. 2 Bde. Göttingen 1981. - Heinrich von Mügeln: Die kleineren Dichtungen. Hg. v. Karl Stackmann. 3 Bde. Berlin 1959. - Politische Lyrik des deutschen Mittelalters. Hg. v. Ulrich Müller. 2 Bde. Göppingen 1972, 1974. - Walther von der Vogelweide: Leich. Lieder. Sangsprüche. Hg. v. Christoph Cormeau. Berlin, New York 1996. Helmut de Boor: Rezension zu Maurer 1954. In: PBB 78 (Tübingen 1956), S. 160-166. Horst Brunner: Die alten Meister. Studien zu Überlieferung und Rezeption der mittelhochdeutschen Sangspruchdichter im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit. München 1975. Gerhard Hahn: Möglichkeiten und Grenzen der politischen Aussage in der Spruchdichtung Walthers von der Vogelweide. In: Deutsche Literatur im Mittelalter. Hg. v. Christoph Cormeau. Stuttgart 1979, S. 338-355. - Gisela Kornrumpf, Burghart Wachinger: Aiment. Formentlehnung und Tönegebrauch in der mittelhochdeutschen Spruchdichtung. In: Cormeau 1979, S. 356-411. - Alfred Kracher: Rezension zu Maurer 1954. In: PBB 78 (Tübingen 1956), S. 195-208. - Hugo Kuhn: Die Klassik des Rittertums in der Stauferzeit. In: Annalen der deutschen Literatur. Hg. v. Heinz Otto Burger. Stuttgart 1952, S. 138. Friedrich Maurer: Die politischen Lieder Waithers von der Vogelweide. Tübingen 1954, 31972. — Hugo Moser (Hg.): Mittelhochdeutsche Spruchdichtung. Darmstadt 1972. - Jan-Dirk Müller: „Ir suit sprechen willekomen". Sänger, Sprecherrolle und die Anfänge volkssprachiger Lyrik. In: IASL 19 (1994), S. 1-21. - Ulrich Müller: Sangspruchdichtung. In: Aus der Mündlichkeit in die Schriftlichkeit. Hg. v. Ursula Liebertz-Grün. Reinbek 1988, S. 185-192. - U. M.:

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Sangverslyrik. In: Von der Handschrift zum Buchdruck. Hg. v. Ingrid Bennewitz und U. M. Reinbeck 1991, S. 46-69. - Repertorium der Sangsprüche und Meisterlieder des 12. bis 18. Jhs. Hg. v. Horst Brunner und Burghart Wachinger. 16 Bde. Tübingen 1980-1996. - Kurt Ruh: Mittelhochdeutsche Spruchdichtung als gattungsgeschichtliches Problem. In: DVjs 42 (1968), S. 309-324. - Frieder Schanze: Meisterliche Liedkunst zwischen Heinrich von Mügeln und Hans Sachs. 2 Bde. München, Zürich 1983 f. - Karl Simrock (Hg.): Gedichte Walthers von der Vogelweide. Bd. 1. Berlin 1833, S. 175-177. - K. S.: Walther von der Vogelweide. Bonn 1870, S. 7-9. — Helmut Tervooren: ,Spruch' und ,Lied'. In: Moser 1972, S. 1-25. - H.T.: Sangspruchdichtung. Stuttgart, Weimar 1995. Burghart Wachinger: Sängerkrieg. Untersuchungen zur Spruchdichtung des 13. Jhs. München 1973. — Wilhelm Wackernagel: Geschichte der deutschen Literatur. 3 Bde. Basel 1851-1855, 2 1879. — Horst Wenzel: Typus und Individualität. Zur literarischen Selbstdeutung Walthers von der Vogelweide. In: IASL 8 (1983), S. 1-34. Franz Josef Worstbrock: Politische Sangsprüche Waithers im Umfeld lateinischer Dichtung seiner Zeit. In: Walther von der Vogelweide. Hg. v. JanDirk Müller und F. J. W. Stuttgart 1989, S. 61-80. Ursula Schulze

Sapphisch /" Ode, Odenstrophe Sardonismus S Zynismus Sarkasmus

Zynismus

Satire Angriffsliteratur mit einem Spektrum vom scherzhaften Spott bis zur pathetischen Schärfe. Expl: Satire kann eine Gattungstradition (/" Genre) und ein gattungsübergreifendes Verfahren (y Schreibweise2) bezeichnen (das auch außerhalb der Literatur angewendet wird; vgl. etwa ^ Karikatur, ? Kabarett). Ihr hervorstechendes Merkmal ist die Negativität, mit der sie eine Wirklichkeit als Mangel, als Mißstand und Lüge, kenntlich macht. Die traditionelle Berufung auf

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Satire

Wahrheit und Tugend kann zwar als bloße Maske erkennbar sein, verweist aber trotzdem auf eine grundsätzlich (und, zumal in der Moderne, problematisch) zur Satire gehörende Normbindung (was nicht ausschließt, daß auch die Bedingtheit und Ohnmacht ethischer Postulate und die Fragwürdigkeit ihrer Durchsetzung zur Darstellung kommen). In satirischer Kunst sind somit die Momente der Negativität und des Ethischen mit dem des Ästhetischen vermittelt. Ein einzelnes Werk kann als Satire bezeichnet werden, wenn es vom satirischen Geist geprägt ist oder in irgendeinem Zusammenhang mit der antiken Satire steht. Von der Polemik unterscheidet sich die Satire durch ihren Anspruch, am Einzelnen Allgemeines darzustellen; vom /" Pasquill durch den Anspruch, einer Wahrheit oder einem Wert verpflichtet zu sein. WortG: Das Wort geht auf lat. satura zurück, das, seinerseits eine Ableitung von satur ,satt', ,νοΙΓ, als Ausdruck für ein Mischgericht oder eine Füllung in Gebrauch war. Literarisch wird es bei Ennius (um 200 v. Chr.), der es als Titel für eine Sammlung verschiedenartiger Gedichte verwendet (etwa ,Vermisch tes', .Allerlei'). Zum Gattungsnamen ist es durch Lucilius (2. Jh. v.Chr.) und dann durch Varrò (1. Jh. v. Chr.) geworden. Die Herleitung von Satyr und / Satyrspiel gilt heute als falsch, hat die Auffassung der Sache aber jahrhundertelang beeinflußt und sogar in der heutigen Orthographie ihre Spur hinterlassen. In der Spätantike pflegt man (neben satura) bereits satyra und satira zu schreiben (van Rooy, 155 ff. und passim). Diese Form ist im Lat. des Mittelalters und der Frühen Neuzeit dominant (vgl. Kindermann, Hess) und dringt von da aus in alle europäischen Nationalsprachen ein. Im Dt. beginnt die Aneignung im 16. Jh. Man sagt nun statt Schimpf-, Stachel-, Straf-, Scherzgedicht und dergleichen auch Satyra (typographisch meist als Fremdwort kenntlich gemacht). Erster Beleg ist eine humanistische Horaz-Übersetzung von 1502 (Henkel, 464), erste Verwendung als Titel: Hieronymus Emser, ,Eyn deutsche Satyra vnd straffe des Eebruchs' (1505). Noch Opitz

(1624), Harsdörffer (1653), Rachel (1664), Buchner (1665) gebrauchen diese Form. Im späteren 17. Jh. setzt sich unter dem Einfluß des Frz. dann Satyre durch. So findet man: „Satyren oder Spottschriften" (Neumark, 217); „Eine Satyre ist ein Gedichte [...]" (Morhof, 677; vgl. 159, 166, 679). Im 18. Jh. ist die Eindeutschung abgeschlossen, die heutige Schreibung gilt seit dem 19. Jh. Nikolaus Henkel: Anmerkungen zur Rezeption der römischen Satiriker in Deutschland um 1500. In: Befund und Deutung. Fs. Hans Fromm. Hg. v. Klaus Grubmüller u.a. Tübingen 1979, S. 4 5 1 - 4 6 9 . - Daniel Georg Morhof: Unterricht von der Teutschen Sprache und Poesie [1682, 2 1700], Repr. Bad Homburg 1969. - Georg Neumark: Poetische Tafeln oder Gründliche Anweisung zur Teutschen Verskunst [1667], Repr. Frankfurt 1971.

BegrG: ,Satura' als Gattungsbegriff meint zunächst die Verssatire in der Tradition des Lucilius, der als ihr Begründer gilt; Quintilian kann sie deshalb als genuin römische Literaturform (ohne griechisches Muster) in Anspruch nehmen (10,1,93—95). Die Autoren artikulieren ihr Gattungsbewußtsein in eigenen Programm-Satiren (Horaz: Satiren' 1,4, 1,10, 2,1; Persius: ,Satiren' 1; Juvenal: ,Satiren' 1), bestimmen ihre Position im Verhältnis zu den Vorgängern und erkennen ein Gattungsgesetz an, das ihnen Grenzen setzt (,lex operis'; Horaz: ,Satiren' 2,1,1—4; Juvenal: ,Satiren' 6,634—637). Die hier erörterten Fragen gelten der Sache nach aber gar nicht nur für die Gattung der Verssatire, sie sind auch für die Satire als Schreibart relevant, weshalb die .Apologie des Satirikers' über die Gattungsgrenzen hinaus in der europäischen Literatur traditionsbildend werden konnte (vgl. Pagrot, 335—342, 431-437). Eine zweite Gattungsbezeichnung, satura Menippea (MENIPPEISCHE SATIRE), ist von Varrò eingeführt worden, mit Bezug auf den Kyniker Menipp von Gadara, den er nachahmt. Merkmale der Gattung sind die Mischung von Prosa und Vers und ein kritisch-polemischer Geist. Die wichtigsten Vertreter sind Lukian, Seneca (.Apocolocyntosis'), Petron (,Satyricon') und Apuleius (.Metamorphoses'). Der Gattungsumriß ist eher unscharf.

Satire Eine Erweiterung des Begriffs bereitet sich vor, als spätantike Grammatiker und Kompilatoren die Gattung mit dem Satyrspiel und den Formen der Komödie in historischen Zusammenhang zu bringen versuchen. Dabei scheint das später so genannte ,Satirische' unbegriffen (und durch die neue Schreibung angezeigt) als Tertium comparationis zu wirken: Das Adjektiv satyricus kann jetzt schon ,satirisch' bedeuten. Mittelalterliche Autoren klassifizieren die Satire als ,carmen reprehensorium' oder als ,carmen derisionibus plenum' (Kindermann, 48, 65, 110). Die Bindung des Begriffs an die römische Satire bleibt aber erhalten. Die Frühe Neuzeit erarbeitet an den klassischen Modellen Kategorien und Fragestellungen, die wiederum auch für den weiteren Bereich der satirischen Literatur gelten können. Vor allem geht es um den Zweck der Satire (Strafe; Heilung; Abschreckung), ihre Form (Indirektheit; Mischung; Sprunghaftigkeit), Einteilung (strafende und scherzende Satire), ihr Objekt (Laster und Torheit), den Wert von persönlicher und allgemeiner Satire, das Verhältnis der Satire zur Dichtung und das Problem ihrer Zulässigkeit. Vom Humanismus an werden auch volkssprachige Texte als Satiren betitelt (frühestes Beispiel: Cino da Pistoia, 1331) oder nachträglich so bezeichnet. Das 18. Jh. hat nicht mehr primär die Gattung im Blick, sondern die Satire als eine Schreibweise, als einen „Proteus, der sich in alle Gestalten verwandelt" (Flögel 1, 294). Schiller, der diese Entwicklung voraussetzt, versteht ,Satire' als eine der „drey einzig möglichen Arten sentimentalischer Poesie" (466; ^ Sentimentalisch) und betont ausdrücklich, daß er sich ohne Rücksicht auf die Gattungsgrenzen bloß an der in der jeweiligen Dichtungsart herrschenden Empfindungsweise orientiert (449). Statt der Gattungspoetik wird nun die allgemeine Literaturtheorie und Ästhetik zuständig. Allerdings verliert die Satire seit der Romantik an Kredit, tritt hinter f IViiz. ? Humor, s Ironie zurück oder soll in sie verwandelt werden (Herder:,Kritik und Satyre' im 9. Stück der ,Adrastea', 1803). Eine eigentliche Theorie der Satire als Schreibart

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und Grundform ist deshalb erst im 20. Jh. ausgearbeitet worden. Carl Friedrich Flögel: Geschichte der komischen Litteratur. 4 Bde. [1784-1787], Repr. Hildesheim, New York 1976. - Friedrich Schiller: Über naive und sentimentalische Dichtung [1795]. In: Schillers Werke. Nationalausgabe Bd. 20. Hg. v. Benno v. Wiese. Weimar 1962, S. 413-503.

SachG: Da die Satire ein Proteus ist, kann sie sich in alle Formen verwandeln oder in ihnen erscheinen, besondere Affinität besteht im Mittelalter zu ? Schwank2 und s Lehrdichtung, später etwa zu ^ Epigramm, / Komödie und niederem Roman. Es bilden sich Sonderformen mit eigener Tradition — z. B. satirische Briefe, Lobreden, Abhandlungen, Wörterbücher, Traumsatiren, phantastische Reisen. Schließlich pflegen geschichtliche Umbrüche und Krisen von (überwiegend ephemerer) Satire begleitet zu sein, besonders ausgeprägt die Reformation. Literarische Satire setzt, da zu ihr die Indienstnahme vorgegebener Muster und Stile gehört, einen gewissen Stand der Schriftkultur voraus. Im Deutschen erscheint sie nicht vor dem 12. Jh. Frühe Beispiele von Rang sind die .Erinnerung an den Tod' des sog. ,Heinrich von Melk' und der .Reinhart Fuchs' von Heinrich dem Gleißner (Ende 12. Jh.). Epochenspezifisch ist die Form der Ständesatire. Sie entwickelt im späten Mittelalter Großformen von enzyklopädischem Zuschnitt (,Buch der Rügen', 1270; ,Des Teufels Netz', Anfang 15. Jh.). Spezifisch ist ferner der parodistische Bezug satirischer Texte zur hohen Literatur etwa im Tierepos oder in Wittenwilers ,Ring'. Seit dem 16. Jh. bildet in der Folge des Humanismus auch die volkssprachige Satire ein Gattungsbewußtsein aus. Es entsteht die Narrensatire. Im 16. Jh. (vgl. Könneker, Hess) erscheinen so bedeutende Werke wie das ,Lob der Torheit' (Erasmus: ,Laus stultitiae', 1511) und die ,Dunkelmännerbriefe' (,Epistolae obscurorum virorum', 1515/17), beide mit reicher Nachfolge auch in der volkssprachigen Literatur (vgl. Hauffen, Rogge); später Fischarts ,Geschichtklitterung' (nach Rabelais, 1575) und das ,Lalebuch' (1597). Ein über die Frühe Neuzeit hinaus wirkender Vorgang ist die

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Satire

Aneignung und Neubildung der Menippeischen Satire. Nach Fischarts ,Geschichtklitterung' (vgl. v. Koppenfels) gehören im 17. Jh. Moscherosch, Schupp, zum Teil auch Grimmelshausen in diese Tradition (vgl. Trappen; zur Kritik dieser Position: De Smet). Die Nachahmung der Verssatire ist ein enger begrenztes Phänomen, das im wesentlichen von Lauremberg (,Veer Schertz Gedichte', 1652), Rachel (.Teutsche satyrische Gedichte', 1664) und Canitz (,Gedieh te', postum 1727) bis zu Neukirch (,Satyren und poetische Briefe', 1732) und Haller (,Die verdorbenen Sitten', ,Der Mann nach der Welt', 1731/33) reicht. Wielands Übersetzung der Satiren des Horaz (1786) bedeutet einen Abschluß. In der Aufklärung wird die Satire vor allem als soziales Korrektiv verstanden. Charakteristisch ist die lebhafte Diskussion über ihre Zulässigkeit (vgl. Lazarowicz), ein Komplement zu der Herausbildung des neuzeitlichen Staats- und Gesellschaftsbegriffs (vgl. Deupmann). Als Kleinform hat die Satire einen Ort in den Moralischen Wochenschriften. Repräsentativ sind in der Frühaufklärung Liscow und Rabener, später etwa Lichtenberg, Wezel, Knigge, Jean Paul. Zur differenziertesten und umfassendsten Form der Satire wird der Roman (vgl. Schönert), mit Wielands ,Abderiten' als dem bedeutendsten Beispiel. In der Romantik treten Sach- und Begriffsgeschichte auseinander. Denn während die Satire, die nicht „zur Versöhnung fortgeht" (Hegel, 126), den Zeitgenossen weithin als partikular und kunstfremd gilt, entwickeln Jean Paul, Tieck, Hoffmann, EichendorfT und andere eine Form der satirischen Dichtung, deren kritisches Moment durch ihr poetisches zu Zeit- und Weltsatire erweitert wird. Ein Aspekt ist dabei immer die Selbstverteidigung der Kunst. Epochenspezifisches Objekt ist der Philister, der bei Brentano (,Der Philister vor, in und nach der Geschichte', 1811) und Eichendorff (,Krieg den Philistern', 1824) auch im Titel erscheint. In der Restaurationszeit (/" Restauration, s Vormärz) wird die Satire politisch, sie richtet sich als Literatur der ,Bewegung' gegen die ,erstarrten Verhältnisse' (Börne: ,Monographie der deutschen Postschnecke',

1821; Heine: ,Reisebilder', 1824-1831) und gegen die staatliche s Zensur, die bis 1848 Objekt, aber auch Formans der Satire ist — eine Erfahrung, die Heine und Nestroy teilen. Letzterer, einer der bedeutendsten Autoren satirischer Komödien, wird von Karl Kraus, des Sprachwitzes wegen, hoch geschätzt. Im Zuge der Entwicklung von der Frühaufklärung bis zu Heine greift das Prinzip .Kritik', das anfangs auf Gelehrtenwelt und bürgerliche Moral beschränkt war, schließlich auf Staatsform und Lebensordnung aus. Als der maßstabsetzende Satiriker des 20. Jhs. gilt Karl Kraus, auf den die SatireDiskussion vielfach auch unausgesprochen bezogen ist. Er macht die Sprache der Zeitung zum Material seiner Gegen-Zeitung, der ,Fackel'. ,Die letzten Tage der Menschheit' (1922) und die ,Dritte Walpurgisnacht' (1934/52) bezeugen den „Aufbruch der Phrase zur Tat" (,Die Fackel', Nr. 890-905, 96). H. Mann (,1m Schlaraffenland', 1900; ,Der Untertan', 1918) und Sternheim (,Aus dem bürgerlichen Heldenleben'; 1911 ff.) stellen den Erfolg des wilhelminischen Bürgers und Untertans dar. Die große Zeit der satirischen Zeitschrift, die seit dem 19. Jh. einen Markt hat (,Kladderadatsch', ab 1848; ,Simplicissimus', ab 1896), sind die 1920er Jahre (Tucholsky, W. Mehring, E. Kästner). Nach der Machtergreifung des Nationalsozialismus ist Satire von Rang nur noch im Exil möglich (vgl. Tauscher, Braese; ? Exilliteratur). Brecht ist hier der bedeutendste Autor. Die Wiederanknüpfung an die abgerissene Tradition nach Kriegsende war schwierig. Adorno hatte in einem einflußreichen Aphorismus (,Minima moralia', Nr. 134) die Frage gestellt, ob nicht unter den Bedingungen der ,totalen Gesellschaft' die Satire bereits als Form in Widerspruch zur Wahrheit geraten sei. In der DDR unterliegt sie enger Reglementierung (vgl. Wilhelm), entwickelt aber vor allem seit den 1970er Jahren eine versteckte und immer offenere Machtkritik. Am spektakulärsten ist der Fall Biermann. Repräsentative Beispiele sind Heym (,Die Schmähschrift oder Königin gegen Defoe', 1970), Schädlich (.Versuchte Nähe', 1977), Fühmann (,Drei

Satire nackte Männer', 1978). Die in der Bundesrepublik neu entstehende Gesellschaftssatire ist, verglichen mit dem ersten Drittel des Jhs., zunächst erkennbar enger (M. Walser: ,Ehen in Philippsburg', 1957). Ähnliches gilt für das Thema der Kulturindustrie (Boll: ,Dr. Murkes gesammeltes Schweigen', 1958). A. Kluge (,Lebensläufe', 1962) und Schädlich (,Tallhover', 1986) erzählen im dokumentarischen Stil vom angepaßten Agenten des Systems bzw. vom Funktionär des vergotteten Staates in der deutschen Geschichte. An der Publikationsgeschichte von Hilsenraths ,Der Nazi & der Friseur' (1977) läßt sich die Begrenzung der satirischen Freiheit durch ein Tabu ablesen: Es hat Jahre gedauert, bis sich für diesen Text in Deutschland ein Verleger fand. Für die Relevanz des von Adorno gesehenen Problems spricht vielleicht, daß die literarische Sprachreflexion seit den 1980er Jahren zwischen Satire (wie bei E. Jelinek oder Th. Meinecke: ,Tomboy', 1998) und dem f Pastiche von Redeweisen und Sprachwelten changiert (informativ über die jüngste Produktion von Gernhardt und Henscheid bis zur /" Pop-Literatur: Vancea; über Satire im Fernsehen: Hickethier). Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Aesthetik. Bd. 2 = G. W. F. H.: Werke. Hg. v. Eva Moldenhauer und Karl Markus Michael. Bd. 14. Frankfurt 1986.

ForschG: Die Diskussion der Satire als Schreibart hat mit energischem Neuansatz in der englischsprachigen Literaturwissenschaft der 1940er Jahre begonnen: Im / New Criticism sind vor allem die Verfahrensweisen und das Formenspektrum analysiert worden. In diesem Zusammenhang sind auch die theoretisch und komparatistisch bedeutenden Beiträge von Elliott, Frye, Highet, Paulson entstanden. Schon vorher (1932) hatte Lukács einen Essay publiziert, der dann für die ? Marxistische Literaturwissenschaft wegweisende Bedeutung gewonnen hat. Die Germanistik hat sich dem Phänomen in den 1960er Jahren zugewendet. Sie hat die Satire unter ästhetische Gesichtspunkte gestellt (Arntzen, Lazarowicz), ein Analysemodell entwickelt (Schönert) und eine am Wirklichkeitsverhältnis

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orientierte Theorie entworfen (Gaier). Die ältere Forschung ist in Brummacks Forschungsbericht (1971) referiert und bei Paulson, Fabian und Weiß (1982) zusammengestellt. Im Zuge der Theoriediskussion und ? Methoden-Reflexion (vgl. Mahler, Griffin) wurden vor allem die Begriffe der ,Norm' (des ,Positiven') und der Wirklichkeit' neu beleuchtet. Hinzu kommen Spezial-Untersuchungen. So läßt sich z. B. die juristische Fachdiskussion als Bearbeitung der alten Zulässigkeitsfrage (Senn, Wolf) oder als Fortführung des ebenfalls alten Nachdenkens über die Verwandtschaft von Strafgerichtsbarkeit und Satire auffassen (Merkel). Lit: Joachim Adamietz (Hg.): Die römische Satire. Darmstadt 1986. - Helmut Arntzen: Literatur im Zeitalter der Information. Frankfurt 1971. - Η. Α.: Satire in der deutschen Literatur. Bd. 1: Vom 12. bis zum 17. Jh. Darmstadt 1989. Michail Bachtin: Probleme der Poetik Dostoevskijs [1929]. München 1971. - Georgina Baum: Humor und Satire in der bürgerlichen Ästhetik. Berlin 1959. - Stephan Braese: Das teure Experiment. Satire und NS-Faschismus. Opladen 1996. - Jürgen Brummack: Zu Begriff und Theorie der Satire. In: DVjs 45 (1971), Sonderh., S.*275*377. - J. B.: Satirische Dichtung. München 1979. - Ingrid A. R. De Smet: Menippean satire and the republic of letters 1581-1655. Genf 1996. - Christoph Deupmann: ,Furor satiricus'. Verhandlungen über literarische Aggression im 17. und 18. Jh. Tübingen 2002. - Björn Ekmann (Hg.): Die Schwierigkeit, Satire (noch) zu schreiben. Kopenhagen, München 1996. - Robert C. Elliott: The power of satire. Princeton 1960. Bernhard Fabian (Hg.): Satvra. Hildesheim, New York 1975. - Winfried Freund: Die deutsche Verssatire im Zeitalter des Barock. Düsseldorf 1972. - Northrop Frye: Anatomy of criticism. Princeton 1957. - Ulrich Gaier: Satire. Tübingen 1967. - Dustin Griffin: Satire. Lexington 1994. - Adolf Hauffen: Zur Literatur der ironischen Enkomien. In: Vierteljahrschrift für Litteraturgeschichte 6 (1893), S. 161-185. - Klaus W. Hempfer: Tendenz und Ästhetik. Studien zur französischen Verssatire des 18. Jhs. München 1972. Günter Hess: Deutsch-lateinische Narrenzunft. München 1971. - Knut Hickethier: Fernsehen und Satire — unvereinbar? In: Ekmann 1996, S. 107-137. - Gilbert Highet: The anatomy of satire. Princeton 1962. - Harald Kämmerer: „Nur um Himmels willen keine Satyren ...". Heidelberg 1999. - Udo Kindermann: Satyra. Nürn-

Satyrspiel

360

berg 1978. — Heinz Klamroth: Beiträge zur Entwicklungsgeschichte der Traumsatire im 17. und 18. Jh. Diss. Bonn 1912. - Ulrich Knoche: Die römische Satire. Göttingen 41982. - Barbara Könneker: Satire im 16. Jh. München 1991. Werner v. Koppenfels: ,Mundus alter et idem'. Utopiefiktion und menippeische Satire. In: Poetica 13 (1981), S. 16-66. - Klaus Lazarowicz: Verkehrte Welt. Tübingen 1963. - Georg Lukács: Zur Frage der Satire. In: Internationale Literatur 2 (1932), H. 4—5, S. 136-153. - Andreas Mahler: Moderne Satireforschung und elisabethanische Verssatire. München 1992. - Reinhard Merkel: Strafrecht und Satire im Werk von Karl Kraus [1994], Frankfurt 1998. - Lennart Pagrot: Den klassiska verssatirens teori. Stockholm 1961. - Ronald Paulson (Hg.): Satire. Englewood Cliffs 1971. - Hermann Josef Real: An introduction to satire. In: Teaching satire. Hg. v. H. J. R. Heidelberg 1992, S. 7 - 1 9 . - Helmuth Rogge: Fingierte Briefe als Mittel politischer Satire. München 1966. — Walter E. Schäfer: Moral und Satire. Tübingen 1992. — Jörg Schönert: Roman und Satire im 18. Jh. Stuttgart 1969. - Mischa Charles Senn: Satire und Persönlichkeitsschutz. Bern 1998. - Rolf Tauscher: Literarische Satire des Exils gegen Nationalsozialismus und Hitlerdeutschland. Hamburg 1992. - Stefan Trappen: Grimmelshausen und die menippeische Satire. Tübingen 1994. - Georgeta Vancea: Humor und Komik in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. In: LiLi 30 (2000), H. 119, S. 133-145. C. A. van Rooy: Studies in classical satire and related literary theory. Leiden 1965. - Otto Weinreich (Hg.): Römische Satiren. Zürich, Stuttgart 21962. - Wolfgang Weiß (Hg.): Die englische Satire. Darmstadt 1982. - W. W.: Swift und die Satire des 18. Jhs. München 1992. — Frank Wilhelm: Literarische Satire in der SBZ/ DDR 1945-1961. Hamburg 1998. - Uwe Wolf: Spötter vor Gericht. Frankfurt, Berlin 1996. Jürgen

Brummack

Satyrspiel Aus der griechischen Antike fortwirkende Tradition des heiteren Nachspiels nach Tragödien. Expl: Das Satyrspiel nimmt als .scherzende Tragödie' eine Mittelstellung zwischen ? Tragödie und /" Komödie ein. Einerseits ist es mit der Tragödie verwandt: (a) Autoren, Schauspieler und Chortänzer sowie

(b) Kostüme und Requisiten, Sprache und Metrik, Bauformen und dramatische Struktur sind ganz oder weitgehend identisch; ihre Stoffe entnehmen beide traditionell der Mythologie. Andererseits ist es in Atmosphäre und Ton, typischem Handlungsverlauf (mit Poetischer Gerechtigkeit und Happy-End), propagierter Lebensphilosophie und angestrebter emotionaler Wirkung eindeutig eine komische Gattung. Anders als der attischen Komödie sind dem Satyrspiel allerdings politischer Angriff und soziale Satire ebenso fremd wie die Parodie oder Travestie von Tragödie oder Mythos. Die wichtigsten Charakteristika des Satyrspiels sind: der geringe Umfang der Stücke und die Einfachheit der dramatischen Handlung sowie eine ausgeprägte Vorliebe für bestimmte Figuren (im antiken Satyrspiel neben den obligatorischen Satyrn und ihrem alten Vater Silenos vor allem Unholde, starke Männer wie Herakles, Götter und schöne Frauen; in der Neuzeit aus dem Arsenal der Typenkomik, /" Bühnenkomik).

WortG/BegrG: Als Gattungsbezeichnung wurde zunächst neben σατυρικόν δράμα [satyrikón dráma] ,Satyrdrama' auch einfach öi σάτυροι [hói sátyroi] ,Die Satyrn' verwendet. Der Aristoteles-Schüler Demetrios (,De elocutione') bestimmt die Gattung als .scherzende Tragödie'. Dt. Satyr findet sich schon bei Adelung (23, 1288); zum übertragenen Gebrauch bloßes Satyrspiel vgl. Klappenbach/Steinitz (3137). Dies findet dann etwa bei dem Klassischen Philologen Nietzsche Verwendung (.Jenseits von Gut und Böse', § 25: „nur ein Satyrspiel, nur eine Nachspiel-Farce"): Es verhalte „sich der Satyr, das fingierte Naturwesen, zu dem Culturmenschen in gleicher Weise [...], wie die dionysische Musik zur Civilisation" (,Die Geburt der Tragödie', §7). Ruth Klappenbach, Wolfgang Steinitz (Hg.): Wb. der deutschen Gegenwartssprache. Bd. 4. Berlin/ DDR 1974.

SachG: In der Blütezeit des attischen Dramas mußte jeder der drei Tragiker, der an den Großen Dionysien, dem bedeutendsten der Dionysosfeste Athens, um den Sieg im

Satyrspiel Tragödienwettbewerb stritt, nicht nur drei Tragödien, sondern als heiteres Nachspiel auch ein Satyrspiel produzieren. Von den ca. 300 Satyrspielen des 5. Jhs. v. Chr. ist nur ein einziges vollständig erhalten: der ,Kyklops' des Euripides. Insgesamt kennen wir Autor, Titel und/oder Fragmente von ca. 75 Satyrspielen; in etwa 25 weiteren Fällen ist die Satyrspiel-Qualität wahrscheinlich oder doch möglich. Der Höhepunkt der Gattung lag in der 1. Hälfte des 5. Jhs., im 4. Jh. hat das Satyrspiel offenbar zunehmend an Bedeutung verloren, und auch eine kurze Blüte im 3. Jh. hat seinen Niedergang nicht verhindern können. Die Römer haben das Satyrspiel im Gegensatz zu Tragödie und Komödie nicht übernommen. Horaz' Anregung zu einer Erneuerung der Gattung (,Ars poetica', v. 220—239) blieb ohne Wirkung, und auch in der Neuzeit erlebte das Satyrspiel keine Renaissance. Die Metaphorisierung des Begriffs und die immer weiter gehende Ablösung von seinem mythologischen Substrat hatte in der Neuzeit zur Folge, daß Theaterstücke, die sich als grotesker Widerpart zum ernsthaften Drama verstehen, von ihren Autoren den Titel ,Satyrspiel' erhielten (z. B. R Claudel: ,Protée. Drame satyrique en deux actes', 1927; Th. Wilder: ,The Alcestiad [...] with a satyr play: The drunken sisters', 1957; H. Eulenburg: ,Simson: Eine Tragödie nebst einem Satyrspiel', 1910; G. Hauptmann: ,Hexenritt. Ein Satyrspiel', 1930). In einigen Fällen wurde dabei Bezug auf die antike Gattung genommen — etwa in Wagners Verknüpfung der heiteren Meistersinger' „als beziehungsreiches Satyrspiel" mit dem tragischen ,Tannhäuser' (Wagner 6, 259).

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saubons Arbeit an Umfang und Qualität übertraf. In der Folge war es zunächst die systematische Sammlung der Buchfragmente (19. Jh.) und dann die Serie der bedeutenden Papyrusfunde (20. Jh.), die der Satyrspiel-Forschung neue Impulse gaben. Zusammenfassende, eher literarisch oder generisch orientierte Studien sind erst das Ergebnis des in den letzten Jahrzehnten erheblich gewachsenen Interesses am antiken Satyrspiel; eine zusammenfassende Untersuchung zur neuzeitlichen Tradition fehlt bislang.

Richard Wagner: Dichtungen und Schriften. 10 Bde. Hg. v. Dieter Borchmeyer. Frankfurt 1983.

Lit: Frank Brommer: Satyrspiele. Bilder griechischer Vasen. Berlin 2 1959. — Isaac Casaubon: De satyrica Graecorum poesi & Romanorum satira libri duo. Paris 1605. - Nikos C. Churmuziades: Satyrika. Athen 1974. - Gerhild Conrad: Der Silen. Wandlungen einer Gestalt des griechischen Satyrspiels. Trier 1997. — Euripides: Cyclops. Hg. v. Richard Seaford. Oxford 1984. - Italo Gallo: Ricerche sul teatro greco. Neapel 1992. Ralf Krumeich u. a. (Hg.): Das griechische Satyrspiel. Darmstadt 1999. — François Lasserre: Le drame satyrique. In: Rivista di filologia e di istruzione classica 101 (1973), S. 273-301. François Lissarague: De la sexualité des satyres. In: Metis 2 (1987), S. 6 3 - 9 0 . - F. L.: Pourquois les satyres sont-ils bons a montrer. In: Anthropologie et théâtre antique. Hg. v. Paulette GhironBistagne. Montpellier 1987, S. 93-106. - F. L.: On the wildness of satyrs. In: Masks of Dionysus. Hg. v. Thomas H. Carpenter und Christopher A. Faraone. Ithaca, London 1993, S. 207-220. Leonardo Paganelli: Il dramma satiresco. In: Dioniso 59 (1989), S. 213-282. - Nikolaus Pechstein: Euripides' Satyrographos. Ein Kommentar zu den Euripideischen Satyrspielfragmenten. Stuttgart 1998. - Arthur W. Pickard-Cambridge, Thomas B. L. Webster: Dithyramb, tragedy and comedy. Oxford 2 1962. - Max Pohlenz: Das Satyrspiel und Pratinas von Pleius. In: Nachrichten von der Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen 1927, S. 298-321. - Luigi E. Rossi: Il dramma satiresco attico. In: Dialoghi di archeologia 6 (1972), S. 248-301. - Bernd Seidensticker: Das Satyrspiel. In: Das griechische Drama. Hg. v. Gustav Adolf Seeck. Darmstadt

ForschG: Zusammenfassung und Krönung der intensiven Renaissance-Diskussion bildet Casaubons umfangreiche Untersuchung ,De satyrica Graeca poesi & Romanorum satira libri duo' (1605). Erst mehr als 200 Jahre später erschien mit Welckers Studie ,Über das Satyrspiel' ein Werk, das Ca-

1979, S. 204-257. - B. S. (Hg.): Satyrspiel. Darmstadt 1989. — Erika Simon: Satyrspielbilder aus der Zeit des Aischylos. In: Seidensticker 1989, S. 362-403. - E. S.: ,Silenoi'. In: Lexicon Iconographicum Mythologiae Classicae. Bd. 8.1. Zürich, Düsseldorf 1997, S. 1108-1133. - Dana F. Sutton: The Greek satyr play. Meisenheim 1980. - Friedrich G. Welcker: Nachtrag zu der

362

Satz

Schrift über die Aeschylische Trilogie, nebst einer Abhandlung über das Satyrspiel. Frankfurt 1826.

Bernd Seidensticker

Satz Grammatisch vollständige, selbständig äußerbare Einheit der Sprache. Expl: Sätze haben Ausdrucks- und Bedeutungs-Eigenschaften. Sie bilden die Hauptform sprachlicher Äußerungen, d. h. sie sind typische Mittel sprachlicher Handlungen (/* Sprechakt). Bei der genaueren Bestimmung des Satzbegriffs sind somit zwei Dimensionen zu berücksichtigen: (1) Sätze sind durch Regeln determinierte komplexe ? Zeichen; und (2) sind sie elementare Mittel der sprachlichen ^ Kommunikation. Die Grammatik einer Sprache legt fest, welches sprachliche Gebilde ein möglicher Satz dieser Sprache ist. Sie ordnet Sätzen Eigenschaften verschiedener Ebenen zu: Laut- bzw. Graphem-Eigenschaften, lexikalische und wortstrukturelle Eigenschaften sowie solche der hierarchischen und seriellen Ordnung ( / Periode). Sätze können selbst Konstituenten anderer Sätze sein (Satzgefüge). Die Grammatik charakterisiert auf diese Weise die größten, nach bestimmten Regeln aus elementaren Zeichen (Wortstämmen u. a. Einheiten) zu bildenden komplexen Zeichen. Eine zentrale Rolle kommt dem Lexikon bei der Bildung von Sätzen zu. Es umfaßt als elementare Zeichen ausgewiesene Einheiten (WORTSCHATZ). Jede Lexikoneintragung enthält Informationen über die Lautbzw. Graphemstruktur und über die Bedeutung der betreffenden Einheit sowie über deren morphologische, syntaktische und semantische Verknüpfbarkeit (Valenz) mit anderen Wörtern in Sätzen. Das Lexikon kann durch Wortbildungsregeln erweitert werden. Die durch die Grammatik bestimmte Struktur eines Satzes wird durch satzsemantische Prinzipien und Regeln ergänzt, die Sätzen eine von spezifischen Kontexten unabhängige konstante Bedeutung zuord-

nen (s Proposition). Satzbedeutungen werden logisch als Funktor-Argument-Strukturen aus ungesättigtem ,Funktor' und mindestens einem einzusetzenden ,Argument' (/" Leerstelle) dargestellt, die zusammen zu Sachverhalten in der Welt, über die gesprochen wird, in Bezug gesetzt werden. Sachverhalte werden auf diese Weise zerlegt. Die Art und Weise des Bezugs von Satzbedeutungen auf Sachverhalte wird durch Satzmodi bestimmt (Assertiv, Interrogativ und Imperativ). Zwischen Syntax und Morphologie einerseits und Satzsemantik andererseits besteht eine enge Beziehung. Die Satzbedeutung korrespondiert in systematischer Weise der Bedeutung der lexikalischen Elemente eines Satzes sowie mit einer Teilmenge seiner syntaktischen und morphologischen Eigenschaften. Sätze mit Satzbedeutungen werden typischerweise für kommunikative Handlungen verwendet. Als solche werden sie in der Pragmatik bzw. in /" Kommunikationstheorien untersucht. Ein in einer Redesituation (s Kontext) gebildeter, satzsemantisch und kommunikativ interpretierter Satz heißt Äußerung. Äußerungen (zu denen auch elliptische Ausdrücke, Formeln und Interjektionen zählen) sind elementare Einheiten der Textstruktur. Sie können durch besondere, über die Grammatik hinausreichende Verknüpfungsprinzipien zu f Texten verbunden werden (y Textlinguistik). WortG: Satz, von mhd. saz .Stellung', ,Lage' (BMZ 2/2, 343; Kluge-Seebold23, 705) bedeutet ,was man festsetzt, einsetzt, anordnet, zusammenstellt'. Speziellere Bedeutung: ,Form der Verknüpfung von Redeteilen, welche dem Ausdruck von Gedanken dient' (DWb 14, 1837), in dieser terminologischen Bedeutung zuerst bei Adelung (1781) und Meiner (1781) belegt (PaulHenne, 714). BegrG/ForschG: Satz-Begriffe wurden bis zur Entstehung der modernen Sprachwissenschaft im 19. Jh. vor allem aus philosophischer Sicht entwickelt. Die Anfange reichen bis in die Antike zurück. Im Mittelpunkt standen erkenntnistheoretische, logische und rhetorische Aspekte. Sätze wurden

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Schattenspiel vorwiegend als sprachliche Formen für Urteile - später allgemeiner für den Ausdruck von Gedanken — verstanden, die in Subjekt, Kopula und Prädikat gegliedert sind und zur Realität in Bezug gesetzt werden können. Die Sprachwissenschaft entwikkelte sowohl Satz-Begriffe, die die grammatische, semantische oder lautliche Form betonen (ζ. B. der amerikanische Strukturalismus (Bloomfield), die Generative Grammatik), als auch solche, die den kommunikativen Verwendungszweck der als Satz bezeichneten sprachlichen Ausdrücke unterstreichen (ζ. B. Funktionale Grammatik (Halliday), Discourse Grammar; vgl. /" Diskurstheorie). Als ein Versuch, alle mit Sätzen verbundenen Aspekte in einer Definition zu erfassen, kann der Vorschlag von J. Ries angesehen werden: „Ein Satz ist eine grammatisch geformte kleinste Redeeinheit, die ihren Inhalt auf sein Verhältnis zur Wirklichkeit zum Ausdruck bringt" (Ries, 99). Diese Definition verweist auf die grammatische Struktur von Sätzen, auf ihre kommunikative Funktion und auf ihre semantische Rolle. Sie enthält jedoch hochgradig erklärungsbedürftige Begriffe wie ,grammatisch geformt', ,Redeeinheit', ,Inhalt' und Verhältnis des Inhalts zur Wirklichkeit'. Die Definitionsvorschläge sind so verschieden wie die konkurrierenden Theorien. Für Vertreter der Generativen Grammatik sind Sätze nur aus grammatischer Warte von Interesse (Chomsky 1957; 1986). Sie betrachten die Grammatik als ein Kenntnissystem, das durch spezifische, universelle Prinzipien determiniert ist, die der Organisation und Arbeitsweise des menschlichen Gehirns entsprechen. Sätze sind dann mögliche sprachliche Formen für komplexe Konzepte. Vertreter funktionaler Theorien lehnen eine vollständige Autonomie der Grammatik ab. Sie heben die grammatischen Reflexe der /" Funktionen von Sätzen in der sprachlichen Kommunikation und der sozialen Unterschiede der Sprachnutzer hervor. Erst in jüngster Zeit wurden Versuche unternommen, diese aus verschiedenen theoretischen Perspektiven zu bestimmenden Begriffe systematisch aufeinander zu bezie-

hen. Diese Versuche verdeutlichen, daß es zweckmäßig ist, Sätze zunächst grammatisch zu definieren und zu zeigen, welche Rolle Sätze als Äußerungen und Äußerungen als s· Sprechakte spielen (vgl. dazu Mötsch 1996, Peyer 1997). Lit: Hans Arens: Sprachwissenschaft. Freiburg i. Br. u. a. 21969. — Leonard Bloomfield: Language. New York 1933. - Karl Bühler: Kritische Musterung der neueren Theorien des Satzes. In: Indogermanisches Jb. 6 (1919), S. 1 -20. - Noam Chomsky: Syntactic structures. Den Haag 1957. — N. C.: Knowledge of language. New York 1986. — Michael A. Halliday: Beiträge zur funktionalen Sprachbetrachtung. Hannover u. a. 1975. - John Lyons: Einführung in die moderne Linguistik. München 1971. — Wolfgang Mötsch (Hg.): Satz, Text, sprachliche Handlung. Berlin 1987. - W. M. (Hg.): Ebenen der Textstruktur. Tübingen 1996. - Beat Louis Müller: Der Satz. Tübingen 1985. - Ann Peyer: Satzverknüpfung. Tübingen 1997. - John Ries: Was ist ein Satz? Prag 1931. - Inger Rosengren (Hg.): Satz und Illokution. 2 Bde. Tübingen 1992/93. - Eugen Seidel: Geschichte und Kritik der wichtigsten Satzdefinitionen. Jena 1935. — Heiman Steinthal: Geschichte der Sprachwissenschaft bei den Griechen und Römern. 2 Bde. 21890. Wolfgang Mötsch

Schachbuch /" Allegories Schachtelsatz

Periode

Schachtelwort ? Wortspiel Schäferpoesie s Bukolik Scharade ? Rätsel Schattenspiel Zweidimensionale Sonderform des Figurentheaters. Expl: Das Schattenspiel/Schattentheater gehört als technischer Spezialfall von /* Puppenspiel zu den ältesten dramatischen Kunstformen. Es arbeitet mit schwarzen oder farbigen zweidimensionalen Figuren, wobei

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Schattenspiel

mittels einer Lichtquelle bei opaken Figuren ein Schattenbild, bei diaphanen eine Projektion auf eine als Spielfläche dienende Leinwand erzeugt wird. Die Figuren werden von einem oder mehreren Spielern zwischen einer Leinwand und der Lichtquelle so bewegt, daß ihre Projektionen auf der dem Zuschauer zugewandten Seite des Bildschirmes sichtbar werden. Es werden sowohl große Bildtafeln als auch kleine Figuren mit beweglichen Gliedmaßen oder austauschbaren Köpfen und Attributen sowie Requisiten eingesetzt. Der vor dem Bildschirm sitzende Zuschauer sieht entweder die Projektionen der Figuren oder, wenn sie dicht an die Leinwand gepreßt werden, deren scharfumrissene Silhouette. Wort/BegrG: Schattenspiel ist seit dem späten 18. Jh. belegt: als „eine Art Pantomime, wo Figuren und Handlungen durch den an die Wand geworfenen Schatten vorgestellet werden" (Adelung 2 3, 1373; vgl. schon Lindner 1772, 372). Das Wort wird seit dem 19. Jh. auch metaphorisch verwendet (das Schattenspiel des Lebens, der Liebe usw.; vgl. im 20. Jh. ζ. B. Vierordt, Scheibelreiter). Die Bezeichnung ombres chinoises für ,Schattentheater' setzte sich etwa Mitte des 18. Jhs. zuerst in Frankreich, später in Deutschland durch. Sie bezeugt mehr das modische Interesse des 18. Jhs. an .Chinesischem' als das Wissen um die Herkunft des Schattentheaters aus Asien, dort heißt es Chayanataka (Indien), pi ying xi (China), wayang kulit (Indonesien und Malaysia), nang yai, nang talung (Thailand), karagöz (Türkei). Johann Gotthelf Lindner: Kurzer Inbegriff der Aesthetik, Redekunst und Dichtkunst. Bd. 2 [1772], Repr. Frankfurt 1971. - Ernst Scheibelreiter: Der Liebe Schattenspiel. Wien 1936. — Heinrich Vierordt: Aus dem Schattenspiel meines Lebens. Heidelberg 1935.

SachG: Die Ursprünge des Schattenspiels, das vermutlich mit dem Totenkult verbunden ist, liegen in Indien, wo es seit dem 2. Jh. v. Chr. belegt ist. Von dort hat sich das Schattenspiel im gesamten süd- und ostasiatischen Raum verbreitet und wird in ungebrochener Tradition dort bis heute gepflegt. In fast allen asiatischen Ländern

sind die Spielinhalte gleich; in Indien werden Stoffe aus den Epen ,Mahabharata' und ,Ramayana' behandelt. In China paßte man diese Inhalte der chinesischen Geschichte und Mythenwelt an. In der Türkei sind sie profanisiert und zeigen die Abenteuer der beiden Hauptakteure Karagöz und Hacivad. Die Herstellung der Figuren geschah ursprünglich unter Beachtung ritueller Reinigungszeremonien. Die Spielhandlung selbst wurde eingeleitet mit Opferungen an die Götter und Ahnen. Die Aufführungen begannen traditionell mit Sonnenuntergang und endeten mit Sonnenaufgang. Gespielt wird teils mit Bildtafeln, teils mit Einzelfiguren unterschiedlicher Beweglichkeit. Die Figuren werden meist aus durchscheinendem Pergament gestanzt, geschnitten und bemalt. In allen Ländern bis auf China und die Türkei werden sie über einen senkrechten, starr mit der Figur verbundenen Zentralstab aus Holz, Bambus oder Metall von unten wie Stockpuppen geführt; an deren Handgelenken sind weitere Führungsstäbe befestigt, mit denen die mit Gelenken versehenen Arme bewegt werden können. Bei den chinesischen Figuren ist der Führungsstab beweglich befestigt; die Figuren verfügen über eine Vielzahl an Gelenken. Diese besondere Gelenkigkeit entspricht der Betonung der Akrobatik im chinesischen Schattenspiel. Die traditionellen Spielinhalte werden durch die Auftritte von Clowns und Spaßmachern aufgelockert und durch Kommentare und Anspielungen auf Politik und lokale Begebenheiten für den zeitgenössischen Zuschauer aktualisiert. Bis in das 17. Jh. waren Vorführungen mit Schattenfiguren in Europa unbekannt. Aus dem Osmanischen Reich gelangte die Kenntnis des Schattentheaters zuerst nach Süditalien und drang von dort weiter nach Norden vor. Aus der Mitte des 17. Jhs. liegen Berichte von Schattenspiel-AufFührungen aus Rom und Neapel vor, bei denen man im Licht von Fackeln .Gespenster' auftreten ließ. Aus den Berichten geht nicht hervor, ob die Schatten durch Spielfiguren oder Schauspieler produziert wurden. Erstmals nachweisbar für Deutschland bittet eine Komödiantengesellschaft in Danzig

Schauerroman um die Erlaubnis, .italienische Schatten' aufzuführen. Derart werden Schattentheater-Aufführungen bis ins 18. Jh. bezeichnet, was auf die italienische Provenienz hindeutet. Gespielt wurde mit schwarzen Silhouettenfiguren, die im Unterschied zu den transparenten asiatischen echte Schatten erzeugten. Schattenspiel-Aufführungen erfreuten sich im 18. Jh. in allen Gesellschaftsschichten großer Beliebtheit. Goethe verarbeitete seine Eindrücke von Vorführungen, die er im März 1773 gesehen hatte, im Jahrmarktfest zu Plundersweiler', Schiller ähnliches in ,Körners Vormittag'. Gegen Ende des 18. Jhs. war das Schatten theater neben Puppenspiel und Laterna-magica-Vorführungen eine der populärsten Unterhaltungen für Kinder und Erwachsene. In den Auseinandersetzungen mit dem napoleonischen Frankreich wurde es sogar zur Kritik an den Herrschenden eingesetzt. Viele deutsche Romantiker waren begeisterte Anhänger des Schattentheaters und schrieben Textbücher (u. a. Mörike, Grillparzer, Kerner, Brentano, Uhland, Arnim). Franz Graf Pocci entwarf Schattenfiguren, die durch die ,Münchner Bilderbogen' eine massenhafte Verbreitung erfuhren. Im Überbrettl (s Kabarett) hatte seit 1901 für etwa zwei Jahrzehnte das Schattenspiel seinen Platz (Vogel, 166 f. u. ö.). Die Erfindung sich bewegender Filmbilder und des Kinematographen bedeuteten das Ende des Schattentheaters. 1907 versuchte Alexander v. Bernus in Schwabing nach dem Vorbild des sehr erfolgreichen Pariser ,Chat noir' dem Schattentheater neue Impulse zu geben. Weitere Versuche in den 1930er Jahren von Leo Weismantel, Margarethe Cordes, Annemarie Blockmann und Alois Raab konnten das Schattentheater nicht zu neuem Leben erwecken. In den 1920er Jahren verband Lotte Reiniger das Schattentheater mit dem neuen Medium Film. Sie ließ die Figuren als Silhouetten mit beweglichen Gliedern schneiden und fotografierte ihre Positionsveränderungen. Ihr Spielfilm ,Die Abenteuer des Prinzen Achmed' (1926) bildete den glanzvollen Schlußpunkt des Schattentheaters in Deutschland. ForschG: Die Forschung ist bislang auf das süd- und ostasiatische Schattenspiel kon-

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zentriert. Mit den europäischen Adaptationen hat sich Strasser beschäftigt; zur Rolle innerhalb der Geschichte des Puppentheaters vgl. RL 2 3, 289—315. Einen internationalen Überblick über die Formen und Techniken aus Sicht zeitgenössischer Schattenspiel-Künstler bietet Reusch. Lit: Mulk Raj Anand (Hg.): Indian puppets. Bombay 1968. — Metin And: A history of theatre and popular entertainment in Turkey. Ankara 1963 f. - James R. Brandon: Brandon's guide of theatre in Asia. Honolulu 1976. - Meher Contractor: The shadow puppets of India. Ahmedabad 1984. - Iris Dittrich: Wayang kulit. Mythos und Provokation im indonesischen Schattentheater. Frankfurt u.a. 2001. - Peter F. Dunkel: Schattenfiguren — Schattenspiel. Köln 1984. Sangsri Götzfried: Das thailändische Schattentheater. Offenbach 1991. - Wilhelm Hoenerbach: Das nordafrikanische Schattentheater. Mainz 1959. — Thomas Immoos: Schattentheater. Zürich 1979. - Yuxiang Jiang: Zhongguo yin xi [Chinese shadow theatre]. Chengdu 1991. — Gerd Kaminski, Else Unterrieder: Der Zauber des bunten Schattens. Chinesisches Schattenspiel einst und jetzt. Klagenfurt 1988. - Otto Kraemer: Das Schatten theater. Karlsruhe 1994. - Jilin Liu: Das Geheimnis des chinesischen Schattenspiels. Peking 1988. - Marionettes et ombres d'Asie. Hg. v. Le Louvre des Antiquaires. Paris 1985. - Hetty Paërl: Schattenspiel und das Spiel mit Silhouetten. Frankfurt, Wien 1981. - Clara B. Pink-Wilpert: Das indonesische Schattentheater. Baden-Baden 1976. - Rainer Reusch (Hg.): Schattentheater. 2 Bde. Schwäbisch Gmünd 1997, 2001. - Mattani Rutnin: The Siamese theatre. Bangkok 1975. - Rainald Simon: Das chinesische Schattentheater. Offenbach 1986. - Günter Spitzing: Das indonesische Schattenspiel. Köln 1981. - René Strasser: Das literarische Schattenspiel. In: Rorschacher Neujahrsblatt 73 (1983), S. 3 - 5 0 . - Amin Sweeny: Malay shadow puppets. London 1972. - Benedikt Vogel: Fiktionskulisse. Poetik und Geschichte des Kabaretts. Paderborn 1993. — Helga Werle-Burger: Asiatische Lederschattenfiguren. In: Figurentheater 19 (1987), S. 4 0 - 4 2 . - Clara B. Wilpert: Schattentheater. Hamburg 1973. Peter F. Dunkel

Schauerroman Genre der Spätaufklärung, das die Erregung von Angst und Grauen durch wiederholte Begegnungen mit dem (vermeintlich) Übernatürlichen anstrebt.

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Schauerroman

Im weiten Feld der HORRORLITERATUR, die zu allen Zeiten, in allen Kulturen und in allen Medien aus dem Entsetzen fiktionalen Lustgewinn zu ziehen versucht, bildet der Schauerroman einen historisch eng gebundenen Gattungsbegriff: Er ist aufklärerischem Denken verpflichtet. Denn er nimmt das fiktional dargestellte Übernatürliche (.wunderbare' Vorkommnisse, Geistererscheinungen und dergleichen) nicht — wie die voraufklärerische Gespenstergeschichte, wie das /" Märchen, wie reine Fantasy (y Phantastische Literatur) — als fraglos geltende Wirklichkeit hin, sondern gestaltet es immer — wie allgemein die ζ" Phantastische Literatur — als unerwarteten Einbruch in eine als erklärbar eingeschätzte Wirklichkeit. Das Übernatürliche interessiert dabei nicht als solches, sondern vorrangig in seiner Wirkung auf die Psyche der dargestellten Figuren wie der Leser. Daran orientiert sich auch die Erzählstrategie: Sie zielt auf die (häufig durch die Form der Ich-Erzählung erreichte) emotionale Identifikation der Leser mit den Protagonisten der Romane, auf ein Miterleben der Angst und des Grauens, das zugleich eine lustvolle Erfahrung ist. ΕΧΡΙ:

WortG: Das Wort Schauer bezeichnet bereits nach Zedier (1742, s.v.; vgl. DWb 14, 2319—2338) sowohl eine körperliche Erschütterung (lat. rigor: ,Erstarrung der Muskeln und der Haut', ζ. B. bei Kälte oder Fieber) als auch eine seelische (lat. horror. ,Angst',,Entsetzen'). Die Zusammensetzung Schauerroman ist eine Neuschöpfung des späten 18. Jhs., die mit der Gattung selbst aufkommt: ζ. B. „Schauer- und Grausromane" (Arnold 2, 238); so dann auch in Roman-Rezensionen der ,Neuen allgemeinen deutschen Bibliothek': NadB 93,2 (1804), 346 („Schauer- und Grausromane"); NadB 96,2 (1805), 332 („des englischen Schauerromans"). Ignaz Ferdinand Arnold: Der Mann mit dem rothen Ermel. 2 Bde. Gotha 1797-1799.

BegrG: Der Schauerroman wird als Gattung in den 1790er Jahren von deutschen Rezensenten der zeitgenössischen Romanproduktion wahrgenommen, ohne daß der Terminus bereits etabliert und die Gattung

klar definiert wäre. Geläufig sind Sammelbegriffe wie „Geister- und Rittermärchen" (NadB 9,1 (1794), 198), „Ritter- und Wundergeschichten" (NadB 23,2 (1796), 330), „Geistergeschichten, Zaubermärchen, Gespensterhistörchen" (Journal des Luxus und der Moden' 13 (1798), 621), mit denen eine als „unglückliche Mode" (NadB 9,1 (1794), 198) eingeschätzte Massenproduktion von Romanen bezeichnet wird. Der neben diesen Bezeichnungen zunächst nur sporadisch und auch verhältnismäßig spät begegnende Begriff ,Schauerroman' wird zuerst durch J. W. Appell (1859) stärker in den Vordergrund gerückt, ohne daß ihm aber eine spezifische Bedeutung zuerkannt würde. Eine Präzisierung erfahrt der bis dahin (und ζ. T. bis heute) diffuse Begriff erst bei Garte (1935) durch enge Orientierung an der englischen Entsprechung des deutschen Schauerromans, der Gothic novel·, sowie bei Rommel (1939), der die Masse der deutschen ,Geister-Romane' des ausgehenden 18. Jhs. (meist im Mittelalter spielend und deshalb zugleich ,Ritter'-Romane) von der Gothic novel und dem deutschem Schauerroman durch die grundlegende Bestimmung unterscheidet, daß im Schauerroman „alles Interesse auf der Psychologie des Grauens und nicht auf der Metaphysik des Geisterwesens" liege (Rommel, 187). Darauf aufbauend hat Zacharias-Langhans (1968) als wichtigstes Kriterium für die Bestimmung der Eigenart des Schauerromans „das Unheimliche" herausgestellt und dieses definiert als „verborgene Gefahr, die selbst keine erkennbare Gestalt annimmt" (Zacharias-Langhans, 65; im Anschluß an Alewyn, 34, der „das Unheimliche" als „Verbindung von Geheimnis und Gefahr" bestimmt). Die ,Schauer'-Wirkung wird verstanden als Angst ohne adäquate Ursache: Sie gründet wesentlich im Subjekt, nicht in den äußeren Vorkommnissen. Diesen wird Geheimnischarakter zuerkannt, woraus sich das den Schauerroman kennzeichnende Moment der ? Spannung ergibt (und die spätere Weiterentwicklung zum /" Kriminalroman). Die Verbindung von unheimlicher Stimmung, gegenstandsloser Angst und Geheimnis-Charakter der Wirklichkeit wird

Schauerroman

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Die im letzten Jahrzehnt des 18. Jhs. ausgebildete Form des Schauerromans kann sich auf der Ebene der Trivialliteratur in nahezu ungebrochener Tradition bis zur Mitte des 19. Jhs. halten; die Gattung stellt den höchsten Anteil der Leihbibliotheks-Romane (Schönert). Tiefgreifende Veränderungen sind dagegen bei der Fortführung der Gattung auf der Ebene der ,hohen' Literatur in der Frühromantik zu beobachten. SachG: Der Entstehung der deutschen Gat- Tiecks ,William Lovell' (1795/96) kennt tung Schauerroman geht ein Mentalitäts- noch die Geistermaschinerie des Schauerrowandel voraus: Ab ca. 1775 wird in Zeit- mans, durch eine sehr weitgehende Autonoschriften und anderen Publikationen eine misierung des Psychischen ist diese jedoch breite Diskussion darüber geführt, daß vor- ganz belanglos geworden. In E. T. A. Hoffgebliche Wundertäter und Geisterbeschwö- manns ,Die Elixiere des Teufels' (1815/16) rer (wie Gaßner, Mesmer, Schröpfer, Ca- ist die rationale Psychologie des Schauerrogliostro) paradoxerweise gerade in Kreisen mans zur Psychologie des Unbewußten erdes aufgeklärten Bürgertums und Adels An- weitert. Aus den äußeren Machenschaften hänger finden — und daß auch Geheim- sind überpersönliche (,fremde', ,böse', bünde mit z.T. okkultistischen Tendenzen .dunkle') Mächte geworden, bei denen un(Freimaurer, Illuminaten, Rosenkreuzer) gewiß bleibt, ob ihnen eine außerpsychische aus diesen Kreisen ihre Anhänger rekrutie- Realität zuerkannt werden muß (Nehring). ren. Schillers ,Geisterseher', Prototyp des In England setzt die Entwicklung des deutschen Schauerromans, geht aus dieser Schauerromans mit ,The Castle of Otranto' Diskussion hervor (Hanstein) und kann (1764) von H. Walpole früher als in Deutschselbst als Beitrag zu ihr begriffen werden (Voges). Seinen sensationellen Erfolg ver- land ein. Der Untertitel „A Gothic Story" dankt der Roman (zuerst 1787—1789 in der gibt der Gattung ihren Namen, auch wenn Zeitschrift ,Thalia', als selbständige Buch- ,gothic' später nicht mehr das mittelalterliveröffentlichung 1789, 1792,1798) nicht sei- che Sujet des Romans, sondern davon losnem aufklärerischen Impuls, sondern — ge- gelöst allgemein das Element des Schauergen die Intention des Verfassers — der Tat- lich-Übernatürlichen bezeichnet. Gegensache, daß er der neu aufgekommenen über Walpole findet bei Ann Radcliffe eine ,Wundersucht' eines breiten Lesepublikums Psychologisierung statt. Ihre Unterscheidung (vorbereitet durch Clara Reeve, aufgeNahrung bot. Von der Spekulation auf dieses Lesebe- geben bei M. G. Lewis; vgl. Brittnacher) dürfnis läßt sich die große Zahl der Nachah- zwischen terror (durch ,obscurity' des Obmer leiten, auch wenn dies in aller Regel da- jekts und uncertainty' gekennzeichnete durch kaschiert wird, daß am Romanende Angst) und horror (durch handgreifliche alle wunderbaren Vorkommnisse als bloß Gefahr ausgelöster Schrecken) sowie die ranatürliche Veranstaltungen aufgeklärt wer- tionale Auflösung alles vermeintlich Wunden. Die wichtigsten Autoren sind: derbaren haben ihre genaue Entsprechung C. Tschink (,Geschichte eines Geistersehers', (unter wechselseitiger Beeinflussung) im 1790-1793), K.Grosse (,Der Genius', deutschen Schauerroman der 1790er Jahre. 1791-1795), L. Flammenberg, d.i. K. F. Elemente der späteren Science Fiction-hiKahlert (,Der Geisterbanner', 1792), teratur weist demgegenüber der Roman C. A. Vulpius (,Aurora', 1794/95), E. F. Fol- .Frankenstein' (1820) von Mary Shelley auf. Das Ende der Gattung Schauerroman ist lenius (Fortsetzung von Schillers Geisterseher', 1796), I. F. Arnold (,Der Mann mit dem schwer zu bestimmen. In der englischsprarothen Ermel', 1797-1799), C . H . S p i e ß chigen Literatur stehen E. A. Poe (1809— 1849), J. S. L e F a n u (1814-1873), H. P. (,Die Geheimnisse der alten Egipzier', 1798/ Lovecraft (1890-1937), in der deutschspra99). als konstitutiv für die Gattung Schauerroman bekräftigt von Hadley (1978, 143 — 150). Dessen Benennung der deutschen Schauerromane als ,tales of mystery and terror' stellt erneut die enge Verbindung zu den englischen Gothic novels her, für die bereits Walter Scott „obscurity and suspense" als kennzeichnend ansah (zit. n. Alewyn, 32).

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Schauspieler

chigen Α. Kubin (,Die andere Seite', 1909), G. Meyrink (,Der Golem', 1920), H . H . Ewers (u. a. Fortsetzung von Schillers G e i sterseher', 1922), W. Hohlbein (,Der Inquisitor', 1990) in seiner Tradition. Als Konstante erweist sich dabei die Kategorie des Unheimlichen (1839 ζ. B. E. A. Poe, ,The Fall of the House of Usher', 283: „I shuddered knowing not why"). Edgar Allan Poe: The complete works. Hg. v. James A. Harrison. Bd. 3. New York 1965. ForschG: Gegenüber der (methodisch von Jolies beeinflußten) morphologischen Begriffsbestimmuung' des Schauerromans durch Garte, die erstmals eine wertungsneutral verfahrende typologische Beschreibung der Gattung bietet, hat sich eine an der intendierten ,Schauer'-Wirkung orientierte Auffassung durchgesetzt (Conrad, Trautwein). Damit einher geht ein literaturgeschichtliches Verständnis der Gattung von den Voraussetzungen der / Empfindsamkeit her: Die ,Schauer'-Wirkung wird in Entsprechung zur Wirkung des Erhabenen als ,vermischte Empfindung' interpretiert, die Funktion des Wunderbaren (/" Phantastisch) in der Steigerung und Uberbietung empfindsamen Gefühlsgenusses gesehen (zuerst Alewyn, zuletzt Trotha; für den englischen Schauerroman Wolf). Das vorrangige Interesse der Forschung gilt dem Aufkommen der Gattung als eines Massenphänomens im Ubergang vom 18. zum 19. Jh. (Überblick bei Schönert, 30—45). Von einer aufklärungskritischen Position her wird der Schauerroman in neueren Arbeiten als Dokument einer phantastischen Angst' begriffen, die die aufklärerische Vernunft in dialektischer Umkehrung ihrer eigenen Absichten selbst hervorgebracht hat (Begemann). Lit: Richard Alewyn: Die Literarische Angst. In: Aspekte der Angst. Hg. v. Hoimar v. Ditfurth. Stuttgart 1965, S. 24-37. - Johann Wilhelm Appell: Die Ritter-, Räuber- und Schauerromantik. Leipzig 1859. - Susanne Becker: Gothic forms of feminine fictions. Manchester 1999. — Christian Begemann: Furcht und Angst im Prozeß der Aufklärung. Frankfurt 1987. - Hans Richard Brittnacher: Ästhetik des Horrors. Frankfurt 1994. — Horst Conrad: Die literarische Angst. Das Schreckliche in Schauerromantik und De-

tektivgeschichte. Düsseldorf 1974. - Michael Gamer: Romanticism and the gothic. Cambridge 2000. - Hansjörg Garte: Kunstform Schauerroman. Leipzig 1935. - Michael Hadley: The undiscovered genre. A search for the German gothic novel. Bern 1978. - Adalbert v. Hanstein: Wie entstand Schillers Geisterseher? Berlin 1903. — Jürgen Klein: Der Gotische Roman und die Ästhetik des Bösen. Darmstadt 1975. - Inge Kleine: Dread and exultation. Symbolische Männlichkeit und Weiblichkeit im klassischen englischen Schauerroman. Frankfurt 2001. — Wolfgang Nehring: Gothic Novel und Schauerroman. In: E. T. A. Hoffmann-Jb. 1 (1993), S. 3 6 47. - Otto Rommel: Rationalistische Dämonie. Die Geister-Romane des ausgehenden 18. Jhs. In: DVjs 17 (1939), S. 183-220. - Jens Saathoff: Motive krisenhafter Subjektivität. Eine vergleichende Studie zu deutscher und englischer Schauerliteratur des 18. und 19. Jhs. Bern u.a. 2001. — Jörg Schönert: Schauriges Behagen und distanzierter Schrecken. Zur Situation von Schauerroman und Schauererzählung im literarischen Leben der Biedermeierzeit. In: Literatur in der sozialen Bewegung. Hg. v. Alberto Martino. Tübingen 1977, S. 27-92. - Ellen Schwarz: Der phantastische Kriminalroman. Untersuchungen zu Parallelen zwischen roman policier, conte fantastique und gothic novel. Marburg 2001. Wolfgang Trautwein: Erlesene Angst. Schauerliteratur im 18. und 19. Jh. München 1980. Hans v. Trotha: Angenehme Empfindungen. Medien einer populären Wirkungsästhetik im 18. Jh. Vom Landschaftsgarten zum Schauerroman. München 1999. - Michael Voges: Aufklärung und Geheimnis. Tübingen 1987. - Ingeborg Weber: Der englische Schauerroman. München 1983. — Werner Wolf: Schauerroman und Empfindsamkeit. In: Anglia 107 (1989), S. 1-33. Garleff Zacharias-Langhans: Der unheimliche Roman um 1800. Diss. Bonn 1968. - Hans Dieter Zimmermann: Die Entstehung eines Systems: Der Schauerroman. In: H. D. Z.: Schemaliteratur. Stuttgart 1979, S. 96-108. Jürgen Viering

Schauspiel

Drama

Schauspieler Darsteller fiktiver Rollen bzw. Figuren im Theater oder in anderen Medien. Expl: Zwei Begriffsfelder haben sich herausgebildet. Dominant ist (1) die wörtliche Be-

Schauspieler deutung, eine Berufsbezeichnung für Personen, die in den darstellenden Medien (Theater, Hörfunk, Film, Fernsehen) Rollen verkörpern und/oder Texte vortragen. In Ableitung davon entstand (2) die übertragene und häufig pejorative Bezeichnung für jemanden, der im Leben Rollen spielt bzw. sich verstellt. WortG: Die Wortbildung Schauspieler ist im 16. Jh. erstmals belegt (ζ. B. schauwspiler 1561 bei J. Maaler; vgl. DWb 14, 2376). Sie steht im engen Zusammenhang mit Schauspiel (/" Drama), das sich bereits im 15. Jh. als Begriff etabliert (Paul-Betz, 536 f.). Beide Termini entwickeln sich aus den semantischen Feldern ,Schau(en)' und ,Spiel(en)'. Während Schauspieler seit der Frühen Neuzeit meist den professionellen Darsteller auf dem ? Theater bezeichnet, scheinen unter verwandten Bezeichnungen alle Arten von Künstlern, die etwas vorführen, subsumiert worden zu sein. Voraufgingen ζ. B. spiloman (ahd.,Spielmann', Spaßmacher'; Schützeichel, 238), spilman (mhd. ,Spielmann', fahrender Sänger', .Musikant', ,Gaukler', ,Mimus'; BMZ 2/1, 46), spilwîp (mhd. ,Gauklerin'; BMZ 3, 720). Rudolf Schützeichel: Ahd. Wb. Tübingen 4 1989.

BegrG: Schauspieler ist eine Prägung der Frühen Neuzeit, die mit dem Aufkommen und der Professionalisierung des Theaters in Zusammenhang steht. Ältere lat. Bezeichnungen wie ioculatores, mimici, scenici, histriones werden im Mittelalter unter dem Oberbegriff ,Spielleute' zusammengefaßt. Die Darbietungen dieser Spielleute waren artistisch geprägt und konnten somit eher zirzensischen als dramatischen Aufführungen zugerechnet werden. Der eigentliche, enge Begriff des Schauspielers konnte sich erst verbreiten, als das Berufsschauspielertum als Stand mit präzisen Aufgaben entstand (Mehlin, 222 f.). Der entscheidende Begriffswandel vollzog sich zwischen dem 16. Jh., als die Bezeichnung Schauspieler Mitwirkende in szenischen Aufführungen jeglicher Art umfaßte, und dem 18. Jh., als sich das heutige Begriffsverständnis durchsetzte. In demselben Zeitraum löste Schauspieler die pejorative Bezeichnung Komödi-

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ant ab. Bis ins 18. Jh. war die Kurzform Spieler ebenfalls gebräuchlich. Die Differenz zwischen Darsteller und Rolle förderte die Übertragung auf andere Bereiche (vgl. DWb 14, 2376) insgesamt, zunächst im Kontext des Hofes, an dem sich der einzelne verstellen und seine Absichten und Gefühle verbergen muß (Dissimulatio, s Ironie), dann in allen Lebensbereichen: Schauspielerei als bewußte Verstellung im Gegensatz zur unbewußt übernommenen sozialen Rolle. .Schauspieler' hat insofern teil an der durchgängigen Metaphorisierung der Theatersemantik (S Theater, s Ritual). Urs Hans Mehlin: Die Fachsprache des Theaters. Düsseldorf 1969.

SachG: Das Aufkommen einer berufsmäßigen Schauspielkunst im nachantiken Europa steht im engen Zusammenhang mit der Commedia dell'arte in Italien und ist in die Mitte des 16. Jhs. zu datieren. Bald folgten ähnliche Entwicklungen in England, Frankreich und Spanien. In Deutschland vollzog sich die Professionalisierung langsamer: Im Anfang dominierten englische Wandertruppen (die sogenannten Englischen Komödianten)·, erst nach dem Dreißigjährigen Krieg gab es die ersten rein deutschen Truppen, die in Konkurrenz zu englischen, französischen und italienischen Ensembles traten. Bis Mitte des 18. Jhs. genoß der Schauspielerstand in ganz Europa gemeinhin einen schlechten Ruf — stand er doch außerhalb akzeptierter berufsständischer Organisation. Erst in der 2. Hälfte des 18. Jhs. vollzog sich ein grundlegender sozialer, ästhetischer und funktionaler Wandel. Dank herausragenden SchauspielerPersönlichkeiten wie David Garrick in England, Mlle. Clairon in Frankreich, Caroline Neuber und Konrad Ekhof in Deutschland wurden die gesetzlichen Diskriminierungen und gesellschaftlichen Vorurteile sukzessive abgebaut. In Texten wie Diderots,Paradoxe sur le comédien' (ca. 1770), Lessings .Hamburgischer Dramaturgie' (1768) oder Goethes »Regeln für Schauspieler' (1803) wurde das Schauspielen als Kunstform entdeckt und in das System der Künste integriert. Gleichzeitig läßt sich ein zunehmender

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Schein

Grad der Spezialisierung beobachten: Die einstigen Prinzipale, vorher meist Schauspieler, Dramatiker und Spielleiter in Personalunion, konzentrierten sich ab jetzt auf eine dieser Funktionen. Das 19. Jh. wird als Epoche der Schauspiel-Virtuosen betrachtet, die dem Theater mehr als die Dramatiker oder Spielleiter ihren Stempel aufdrückten. Klassizismus, Romantik, Naturalismus und andere literarische Strömungen beeinflußten auch den Stil des Schauspiels. Im 20. Jh. wurde die Schauspielerei Gegenstand theaterpädagogischer Bemühungen, die mit den Namen ihrer Urheber verknüpft werden: Stanislawskij (psychologische), Grotowski (selbstexpressive), Brecht (,epische' Schauspielkunst; /" Episches Theater). Neuere Tendenzen im Theater und in der Gegenwartsdramatik (Heiner Müller, E. Jelinek), die auf klar definierte dramatische Figuren verzichten, stellen die am Rollenstudium geschulten Schauspieler vor neue Herausforderungen. Körperbetonte Ansätze, wie die des Pantomimen Jacques Lecoq, gewinnen an Bedeutung. Heute muß der Schauspieler ein flexibler ,Multimedia'-Künstler sein, der sein Können in allen verfügbaren Medien, die jeweils andere Fertigkeiten verlangen, feilbietet. ForschG: Grundsätzlich lassen sich in der Erforschung der Schauspielkunst seit dem 19. Jh. biographische, stilgeschichtliche, sozial- und kulturgeschichtliche Aspekte und Ansätze identifizieren. Eine erste umfassende Dokumentation im deutschsprachigen Raum bietet Devrients ,Geschichte der deutschen Schauspielkunst' (1848-1874). Ausgehend von Devrient bestand die erste Forschungsphase in der Aufarbeitung von biographischem Material zu berühmten Schauspieler-Persönlichkeiten. Seit Ende der 1960er Jahre kamen in Deutschland, im Gegensatz zur anglo-amerikanischen Forschung (Woods 1989), biographische Studien in Verruf. M. Herrmann und seine Schule befaßten sich ab den 1910er Jahren darüber hinaus mit stilgeschichtlichen Fragen. Herrmann selbst (1962) versuchte auf der Basis einer genauen Lektüre dramatischer Texte Auf-

schluß über den Schauspielstil einer Epoche (Antike, Mittelalter, Schultheater des 16. Jhs.) zu gewinnen. Das zentrale Gebiet stilistischer Untersuchungen bildet mit seinen fundamentalen Umbrüchen und seinen komplexen schauspieltheoretischen Diskussionen das 18. Jh. Neuere Untersuchungen zu dieser Epoche beschäftigen sich mit schauspielstilistischen Veränderungen aus semiotischer (Fischer-Lichte), anthropologischer (Kosenina), ikonographischer (West, Aliverti, Heeg) und gendertheoretischer (Wiens) Perspektive. Im Arbeitsbereich der Literaturwissenschaft liegt die Erforschung der Verbindungen zwischen Dramatik und Schauspielkunst, die bereits im 19. Jh. (Rötscher) mit normativ-interpretatorischen Ansätzen beginnt und bis heute (Goodden, Kosenina, Worthen) fortgesetzt wird. Eigene Forschungsgegenstände sind Gestik und Mimik 2, Kostüm u n d

Maske,

s

Proxemik.

Lit: Maria Ines Aliverti: La naissance de l'acteur moderne: l'acteur et son portrait au XVIIIe siècle. Paris 1998. - Eduard Devrient: Geschichte der deutschen Schauspielkunst [1848-1874], 2 Bde. Berlin 1967. - Erika Fischer-Lichte: Semiotik des Theaters. Bd. 2. Tübingen 21989. — Angelica Goodden: Actio and persuasion. Oxford 1986. — Günther Heeg: Das Phantasma der natürlichen Gestalt. Körper, Sprache und Bild im Theater des 18. Jhs. Frankfurt 2000. - Max Herrmann: Die Entstehung der berufsmäßigen Schauspielkunst im Altertum und in der Neuzeit. Berlin 1962. — Alexander Kosenina: Anthropologie und Schauspielkunst. Tübingen 1995. - Renate Möhrmann (Hg.): Die Schauspielerin. Frankfurt 2000. — Joseph R. Roach: The player's passion. Newark 1985. — Heinrich Theodor Rötscher: Die Kunst der dramatischen Darstellung. 3 Bde. Berlin 1841-1846. - Shearer West: The image of the actor. London 1991. — Birgit Wiens: Grammatik' der Schauspielkunst. Die Inszenierung der Geschlechter in Goethes klassischem Theater. Tübingen 2000. — Leigh Woods: Actor's biography and mythmaking. In: Interpreting the theatrical past. Hg. v. Thomas Postlewait und Bruce A. McConachie. Iowa City 1989, S. 230-247. William B. Worthen: The idea of the actor. Princeton 1984. Christopher

Schein

Fiktion, /" Illusion

Balme

Schelmenroman

Schelmenroman Mitte des 16. Jhs. auftretender Romantypus mit satirisch-kritischer Tendenz. Expl: Erzählerische Darstellung der Lebensgeschichte eines vagabundierenden Außenseiters (des , Schelms' oder PICARO), der meist aus niedrigem oder dubiosem Milieu stammt und mit moralisch nicht unbedenklichen, ja kriminellen Mitteln, aber auch mit Zähigkeit und Witz in einer korrupten und feindlichen Welt abenteuerliche Gefahren überlebt. Die relativ selbständigen Episoden seiner Lebensgeschichte fügen sich zu einem satirisch akzentuierten Bild der Gesellschaft. Die in der Regel autobiographische Erzählform hat die Funktion, die Authentizität der Geschichte zu beglaubigen und eine distanzierte Bewertung des erzählten Lebenslaufs zu ermöglichen. Typischer Bestandteil ist ein schockartiges Initiationserlebnis, das dem Protagonisten die moralische Fragwürdigkeit und die Bosheit seiner Mitmenschen vor Augen führt und das dadurch zum Ausgangspunkt der pikaresken Laufbahn wird. In ihrer Ausgestaltung bezieht sich diese oft in komisch-verkehrender Weise auf tradierte narrative Lebenslaufmuster (Hagiographie, Autobiographie). Eine typische Schlußkonstellation der Schelmengeschichten gibt es nicht. Viele pikareske Romane, so schon Mateo Alemáns ,Guzmán de Alfarache' (1599/ 1604; dt. 1615), aber auch Grimmelshausens ,Simplicissimus' (1669), sind durch eine fundamentale Ambivalenz der Erzählhaltung geprägt: Einerseits werden die pikaresken Streiche und Abenteuer mit Lust an der Wendigkeit des Schelms und an der Farbigkeit der Welt vorgetragen. Andererseits setzt sich jedoch der Erzähler in kritische Distanz zur moralischen Bedenkenlosigkeit des pikaresken Lebenswandels. WortG: Das Wort Schelm meint ursprünglich so viel wie ,Aas', ,Kadaver' und .Pestilenz', ,ansteckende Krankheit'. Im späteren Mhd. entwickelt sich die Bedeutung .verworfener Mensch', ,Betrüger', ,Dieb'. Zugleich wird das Wort als Bezeichnung für die Angehörigen .unehrlicher' Berufe wie

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des Henkers und Schinders benutzt (DWb 14, 2506-2510). Wenn sich der Protagonist des ersten gedruckten pikaresken Texts in deutscher Sprache „Störtzer, Landtlauffer und nichtiger Schelm" nennt (Albertinus, 335), so heißt das so viel wie ,vagabundieren der Spitzbube'. — Das Kompositum Schelmenroman wird als literaturwissenschaftlicher Terminus seit der 2. Hälfte des 19. Jhs. in der uns heute geläufigen Bedeutung verwendet (s. RL 1 3, 167). Das span. Wort picaro, das durch Schelm wiedergegeben wurde, hat eine ungeklärte Herkunft. Es ist wahrscheinlich abzuleiten von picar ,hacken', .stechen'. Picaro tritt zunächst in der Bedeutung .Küchenjunge' auf, ist aber schon 1548 im Sinne von niederträchtiger Mensch von übler Lebensführung' nachzuweisen („sujeto ruin y de mala vida"; Corominas, 768). Unsicher ist, ob das frz. picard .Pikarde' auf die span. Wortgeschichte eingewirkt hat. Im .Lazarillo de Tormes' kommt picaro nicht vor, im ,Guzmán' dient das Wort bereits zur Charakterisierung des Helden. Aegidius Albertinus [dt. Bearbeiter]: Der Landstörtzer Gusman von Alfarche oder Picaro genannt. München 1615. — Joan Corominas: Diccionario crítico etimológico de la lengua castellana. Bd. 3. Bern 1954, S. 768-771.

BegrG: So wie das span. Wort picaro schon im 17. Jh. mit Schelm übersetzt wird, so werden auch die Bezeichnungen Picaround Schelmenroman von den Literaturhistorikern synonym gebraucht. Allerdings sind gelegentlich Einwände gegen eine solche Begriffsverwendung erhoben worden. Man hat beispielsweise vorgeschlagen, als ,pikaresk' nur die spanischen Romane aus der Zeit zwischen 1554 und 1650 und allenfalls noch jene Werke aus anderen Literaturen zu bezeichnen, die unter dem unmittelbaren Einfluß der spanischen Muster stehen. Die bislang als ,Schelmenromane' rubrizierten deutschen Werke des 17. Jhs. sollen dagegen in einer umfassenden Kategorie des ,niederen Romans' aufgehen (Rötzer 1979, 76). Dieser Vorschlag wird sich jedoch gegen den eingebürgerten Sprachgebrauch kaum durchsetzen, da er sinnvolle und historisch gut begründbare Unterscheidungs-

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Schelmenroman

möglichkeiten verdecken würde (van Genieri). Im Gegensatz zu einer restriktiven Begriffsverwendung steht die Neigung, dem Terminus Schelmenroman eine weite Bedeutung zu geben und ihm Romane von den spanischen Anfangen bis zum 20. Jh. zu subsumieren. Dabei droht die Gefahr einer Verwässerung des Begriffs, der etwa Lewis mit seinem Begriff des,pikaresken Heiligen' erlegen ist. Nicht selten werden ein engerer und ein weiterer Gattungsbegriff nebeneinander verwendet: PICAROROMANE i. e. S. sollen einen festen Bestand gattungstypischer Merkmale aufweisen, während die im weiteren Sinn der Gattung zuzurechnenden Werke nur jeweils einzelne dieser Charakteristika besitzen (Guillén). Die Durchführung dieses Ansatzes zeigt jedoch, daß er die Konturen des Gattungsbegriffs aufzulösen droht. Es erscheint daher notwendig, durch vergleichende Untersuchungen eine Reihe von thematischen und strukturellen Zügen zu ermitteln, die zur Abgrenzung der Gattung dienen können. Dies darf jedoch nicht auf ein starres Schema hinauslaufen, da Texte aus verschiedenen Epochen und mit unterschiedlichen Darstellungsabsichten erfaßt werden sollen. Bjornson faßt die Forderungen an eine brauchbare Gattungsbestimmung in die Formulierung: „What is needed is not an inductively established list of picaresque elements, but a dynamic model sufficiently flexible to encompass the unique individual works and their historical context while clearly identifying the shared elements which justify their inclusion in the same category" (Bjornson, 5). Guillaume van Gemert: Gibt es einen deutschen Picaro-Roman im 17. Jh.? In: Kontroversen, alte und neue. Hg. v. Albrecht Schöne. Bd. 9. Tübingen 1986, S. 103-109.

SachG: In Deutschland setzt der Schelmenroman erst im 17. Jh. ein. Schon 1615 erschien eine deutsche Bearbeitung des ,Guzmán' aus der Feder des Aegidius Albertinus unter dem Titel ,Der Landstörtzer Gusman von Alfarche oder Picaro genannt'. Zwei Jahre später wurde die erste deutsche Version des ,Lazarillo' gedruckt, 1627 folgte eine Übertragung der ,Pícara Justina'.

Als erster originaler Schelmenroman in deutscher Sprache gilt Hieronymus Dürers ,Lauf der Welt und Spiel des Glücks' von 1668. Die bedeutendsten pikaresken Texte des 17. Jhs. stammen von Grimmelshausen. In seinem Abenteuerlichen Simplicissimus' (1669), der ,Courasche' (1670) und dem ,Springinsfeld' (1670) variiert er die Muster des pikaresken Erzählens und verknüpft sie mit allegorisch-erbaulichen Absichten. Deutliche Affinitäten zum Schelmenroman zeigen die Erzählwerke Johann Beers, besonders die als Einlagen gestalteten Lebensläufe in ,Iucundi Iucundissimi Wunderbarlicher Lebens-Beschreibung' (1680) und in den ,Teutschen Winter-Nächten' und ,Kurzweiligen Sommer-Tägen' (1682/83). Die Entwicklung des deutschen Schelmenromans gegen Ende des 17. Jhs ist gekennzeichnet durch eine Verbürgerlichung' des Picaro (Hirsch; dagegen neuerdings Martino 1997 und 2001). Ablesbar ist das an den Adaptationen des ,Buscón' von Quevedo, der über französische Zwischenstufen nach Deutschland kam und den AventurierRoman beeinflußte, der sich von etwa 1715 an ausbreitete. Allerdings blieb hier oft die Verwandtschaft zum älteren Schelmenroman nur in der episodischen Anlage und in der nicht selten benutzten Ich-Form der Erzählung sichtbar. Die Protagonisten dieser Romane dagegen verlieren den für den Picaro typischen Status des von der Gesellschaft abgewiesenen Außenseiters. Im Zeitalter der Aufklärung entstehen in den westeuropäischen Literaturen noch bedeutende pikareske Werke wie Le Sages ,Gil Blas' (1715-1735), Defoes ,ΜοΙΙ Flanders' (1722) und Smolletts ,Ferdinand Count Fathom' (1753). In Deutschland werden noch Übersetzungen publiziert, aber eine originäre deutsche Produktion im pikaresken Genre gibt es nicht mehr. Offenbar erscheinen die Geschichten vom Überleben mit Hilfe mehr oder weniger krimineller Praktiken einem veränderten Publikum moralisch fragwürdig. An die Stelle des Schelmenromans tritt unter diesen Voraussetzungen der / Bildungsroman, der seine Protagonisten zu tätiger Integration in die gesellschaftliche Ordnung führt. Eine gewisse Nähe zur pikaresken Erzählweise zeigt sich noch in

Schelmenroman den Autobiographien von Vertretern der Unterschicht, in Büchern wie ,Leben und Ereignisse des Peter Prosch' (1789), ,Leben und Schicksale' Friedrich Christian Laukhards (1791-1802) oder ,Der deutsche Gil Blas' von Johann Christian Sachse (1822). Aus dem 19. Jh. läßt sich für eine Geschichte des deutschen Schelmenromans wenig gewinnen. Immerhin veröffentlichte Tieck 1827 eine Übersetzung des ,Marcos de Obregón', und es läßt sich auf Heines Romanfragment ,Aus den Memoiren des Herren von Schnabelewopski' (1834) oder auf W. Raabes Erzählung ,Aus dem Leben des Schulmeisterleins Michel Haas' (1859) verweisen. Zu einem Aufleben der Gattung kommt es jedoch erst im 20. Jh., selbstverständlich unter Fortbildung und Umfunktionierung der überlieferten Muster. Die prominentesten Beispiele sind Thomas Manns ,Felix Knill' (1911/1954), Α. V. Thelens ,Insel des zweiten Gesichts' (1953), Grass' ,Blechtrommel' (1956) und G. Späths ,Stimmgänge' (1972). Offenbar tritt der Schelmenroman wieder ans Licht, nachdem jene optimistische, Ich und Welt aussöhnende Weltanschauung in eine Krise geraten war, die den Bildungsroman getragen hatte. Arnold Hirsch: Bürgertum und Barock im deutschen Roman. Köln, Wien 1979, S. 5 - 2 2 .

ForschG: Da der Schelmenroman sich schnell in ganz Europa verbreitete und daher eine historische Würdigung der einzelnen Werke nur unter Berücksichtigung der Bezüge zu anderen Nationalliteraturen möglich ist, verlangt die Beschäftigung mit der Gattung eine komparatistische Vorgehensweise. Diese ist in der älteren Forschungsliteratur oft nicht mit der erforderlichen Intensität befolgt worden. Erst in neuerer Zeit, etwa in den Arbeiten Bjornsons, Guilléns oder Rötzers, wird die Gattung entschieden als ein Phänomen der europäischen Literaturentwicklung insgesamt aufgefaßt. Verstärktes Interesse hat sich auch den geistes- und sozialgeschichtlichen Hintergründen der Gattung zugewendet. Hier ist man jedoch für den deutschen Schelmenroman noch nicht zu Resultaten gelangt, die mit den entsprechenden Er-

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kenntnissen über die frühen spanischen Vorbilder vergleichbar wären. Zusammenfassungen der in den letzten Jahrzehnten sehr lebhaft gewordenen wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Gattungsproblematik und der Geschichte des Schelmenromans bieten die Sammelwerke Heidenreichs (1969) und Hoffmeisters (1985/86; 1987). Einen wichtigen Neuansatz der Rezeptionsforschung hat die Quellenforschung von Martino (1997) erbracht. Lit: Robert Alter: Rogue's progress. Studies in the picaresque novel. Cambridge/Mass. 1964. — Italo Michele Battafarano, Pietro Taravacci (Hg.): Il picaro nella cultura europea. Gárdolo 1989. - Matthias Bauer: Der Schelmenroman. Stuttgart 1994. - Werner Beck: Die Anfänge des deutschen Schelmenromans. Zürich 1957. - Richard Bjornson: The picaresque hero in European fiction. Madison/Wisc. 1977. - Dieter Breuer: Grimmelshausen-Hb. München 1999. — Ansgar M. Cordie. Raum und Zeit des Vaganten. Formen der Weltaneignung im deutschen Schelmenroman des 17. Jhs. Berlin, New York 2001. Manuel Criado de Val (Hg.): La picaresca. Madrid 1979. - Heinrich Detering: Der Landstörzer Michel Haas. Picarisches Erzählen im bürgerlichen Realismus. In: Jb. der Raabe-Gesellschaft 1986, S. 83-106. - Claudio Guillén: Toward a definition of the picaresque. In: C. G.: Literature as system. Princeton 1971, S. 71-106. - Helmut Heidenreich (Hg.): Pikarische Welt. Schriften zum europäischen Schelmenroman. Darmstadt 1969. - Klaus Hermsdorf: Thomas Manns Schelme. Berlin 1968. - Gerhart Hoffmeister: Grimmelshausens ,Simplicissimus' und der spanisch-deutsche Schelmenroman. In: Daphnis 5 (1976), S. 275-295. - G. H. (Hg.): Der moderne deutsche Schelmenroman. Amsterdamer Beiträge zur Neueren Germanistik 20 (1985/86). - G. H. (Hg.): Der deutsche Schelmenroman im europäischen Kontext. Amsterdam 1987. - Jürgen Jacobs: Der deutsche Schelmenroman. München, Zürich 1983. - J. J.: Der Weg des Picaro. Untersuchungen zum europäischen Schelmenroman. Trier 1998. - Jean-Daniel Krebs: La picara, l'aventurière, la pionnière. Fonctions de l'héroïne picaresque à travers les figures de Justina, Courage et Moll. In: Arcadia 24 (1989), S. 239-252. - Manfred Kremer: Günter Grass' ,Die Blechtrommel' und die pikarische Tradition. In: German Quarterly 46 (1973), S. 381-392. - Richard W. B. Lewis: The picaresque saint. New York 1959. - José Antonio Maravall: La literatura picaresca desde la historia social. Madrid 2 1987. -

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Scherzrede

Alberto Martino: Die Rezeption des .Lazarillo de Tormes' im deutschen Sprachraum (1555/621750). In: Daphnis 26 (1997), S. 301-399. A. M.: Der deutsche ,Buscón' (1671) und der literatursoziologische Mythos von der Verbürgerlichung des Picaro. In: Daphnis 30 (2001), S. 2 1 9 332. - Dieter Reichardt: Von Quevedos ,Buscón' zum deutschen ,Avanturier'. Bonn 1970. - Antonio Rey Hazas: La novela picaresca. Madrid 1990. - Hans Gerd Rötzer: Picaro - Landstörtzer - Simplicius. Studien zum niederen Roman in Spanien und Deutschland. Darmstadt 1972. H. G. R.: ,Novela picaresca' und Schelmenroman'. In: Literatur und Gesellschaft im deutschen Barock. Hg. v. Conrad Wiedemann. Heidelberg 1979, S. 3 0 - 7 6 . - Willy Schumann: Wiederkehr der Schelme. In: PMLA 81 (1966), S. 467-474. — Harry Sieber: The picaresque. London 1977. - Ellen Turner Gutierrez: The reception of the picaresque in the French, English and German traditions. New York u. a. 1995. Jean-Marie Valentin: Französischer .Roman comique' und deutscher Schelmenroman. Opladen 1992. — Hans Wagener: Simplex, Felix, Oskar und andere. Zur barocken Tradition im zeitgenössischen Schelmenroman. In: Amsterdamer Beiträge zur Neueren Germanistik 24 (1988), S. 117-158.

Jürgen Jacobs

Schemaliteratur /" Trivialliteratur Scherzrede Geistreiche Äußerung innerhalb eines gegebenen situativen Rahmens. Expl: Die Scherzrede wird gewöhnlich einer historisch faßbaren oder typisierten Person in den Mund gelegt, die auf eine bestimmte Situation oder Äußerung reagiert. Durch ihren pointierten Charakter kann sie der Distanzierung des Sprechers, der höflichhintergründigen Entkrampfung einer Situation oder der überlegen-ironischen Kommentierung eines sozialen oder politischen Sachverhalts dienen. Die Scherzrede bildet eine Untergruppe des ? Apophthegmas, anders als dieses aber bleibt sie auf einen scherzhaften Charakter festgelegt. Sie ist didaktischer und weniger aggressiv als der Witz, weniger narrativ als /" Fazetie und f Schwank2, jedoch stärker auf einen ? Kontext bezogen als der ^ Aphorismus.

WortG: Nhd. Scherz ist aus mhd. schercz entstanden und bezeichnet zunächst allgemein das ,Spiel' und das .Vergnügen'; im Nhd. wird es zunehmend zur Bezeichnung von unterhaltsamen Kommunikationsformen verwendet. Die Konnotation des .Springens' (verwandt mit mhd. scharz .Sprung des Wildes'; DWb 14. 2595) verweist dabei auf die geistige .Volte', die ein Scherz innerhalb der Kommunikation bedeutet (Drosdowski, s.v.; Kluge-Seebold, 630); dies entspricht modernen Inkongruenz-Theorien (/" ScriptTheorie), die das Wesen der /" Pointe als plötzlichen Kontextwechsel beschreiben. Bis zum 19. Jh. hat Scherz auch den Bedeutungsumfang von .Witz' im heutigen Sinne. Das Kompositum Scherzrede (zuerst bei Stieler, S. 1541) wird als Terminus besonders ab dem 17. Jh. im Sinne der Explikation verwendet; allgemeiner auch für jede Rede, in der ein Scherz vorkommt (DWb 14, 2602), oder in der Soziolinguistik übergreifend für verschiedene Formen scherzhafter Kommunikation (Kotthoff, 353). Günther Drosdowski (Hg.): Duden Etymologie. Mannheim u.a. 2 1989. — Kaspar Stieler: Der Teutschen Sprache Stammbaum und Fortwachs oder Teutscher Sprachschatz [1691], Repr. Hildesheim 1968.

BegrG: Scherzrede taucht im 17. und 18. Jh. verstärkt als eigene Gattungsbezeichnung auf (Zedier34, 1337-1341; Adelung, s.v.). Der Sache nach hat es sie aber auch schon vorher unter anderen Gattungsbezeichnungen gegeben, namentlich unter Apophthegma bzw. der apophthegmatischen /" Anekdote. Zu den sich dann begrifflich ausdifferenzierenden Vorläufern des Begriffs ,Scherzrede' gehören ferner Schwank, Fazetie und Scomma (,Derbrede'). Wo diese Formen durchaus auch Derb-Frivoles oder zweckfrei Unterhaltendes boten (und oft als Schimpffrede firmierten, nach älterem Schimpf für ,Scherz'), umfaßte die Scherz-, Hof- oder .Klugrede' gewöhnlich einen gepflegten Witz mit belehrender Note (vgl. Adelung, s.v.), der bestehende Ordnungen eher bestätigt als unterläuft (/" Höfische Verhaltenslehre). SachG: Da Anekdote und Apophthegma häufig berühmte Persönlichkeiten exemplarisch charakterisieren sollen, ist das Scherz-

Schicksalsdrama hafte als Medium des Geistreichen diesen Gattungen seit Plutarch inhärent. Vorbildfunktion haben dann besonders Panormitas ,Facta et dicta Alphonsi regis' (1455, gedruckt Basel 1538); die Blüte der Scherzrede im 17. und 18. Jh. erklärt sich aus Veränderungen in der Lachkultur (s Karneval) gegen Ende des 16. Jhs. J. W. Zincgref (Vorrede zu ,Der Teutschen Scharpfsinnige kluge Sprüch', 1626) hebt das didaktische Moment der Scherzrede ausdrücklich hervor und versteht diesen Anspruch — anders als die Fazetien- und Schwankautoren des 15. und 16. Jhs. — nicht apologetisch, sondern programmatisch. ForschG: Eine eigenständige Forschungsgeschichte zur Scherzrede gibt es bislang nicht. Grundlegend ist nach wie vor die Arbeit von Verweyen 1969, an die sich neuere Studien anschließen (zu speziellen Aspekten vgl. Barner, Röcke, Wittchow). Lit: Wilfried Barner: Legitimierung des Anstößigen. In: Sinnlichkeit in Bild und Klang. Fs. Paul Hoffmann. Hg. v. Hansgerd Delbrück. Stuttgart 1987, S. 101-137. - W. B.: Nicodemus Frischlins „satirische Freiheit". In: Nicodemus Frischlin. Hg. v. Sabine Holtz und Dieter Mertens. Stuttgart-Bad Cannstatt 1999, S. 397-422. Helga Kotthoff Spaß Verstehen. Tübingen 1998. — Georg Friedrich Meier: Gedancken von Schertzen [1744], Hg. v. Klaus Bohnen. Kopenhagen 1977. - Norbert Neumann: Vom Schwank zum Witz. Frankfurt 1986. — Werner Röcke: Lizenzen des Witzes. In: Komische Gegenwelten. Hg. v. Helga Neumann und W. R. Paderborn u.a. 1999, S. 79-101. - Hauke Stroszek: Pointe und poetische Dominante. Frankfurt 1970. Theodor Verweyen: Apophthegma und Scherzrede. Bad Homburg v.d.H. u.a. 1969. - Peter Wenzel: Von der Struktur des Witzes zum Witz der Struktur. Heidelberg 1989. - Frank Wittchow: Eine Frage der Ehre. Das Problem des aggressiven Sprechakts in den Facetien Bebels, Mulings, Frischlins und Melanders. In: ZfG N F 2 (2001), S. 336-360.

Frank Wittchow

Schicksalsdrama Schauspiel, in dessen Zentrum die Aufdekkung schicksalhafter Verstrickungen der Figuren steht.

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Expl: Schicksalsdrama (auch Schicksalstragödie) bezeichnet im weiteren Sinne dramatische Werke, in denen sich die Tragik in der Schicksalsgebundenheit der Personen entfaltet. Im engeren Sinne ist damit ein Genre hauptsächlich spät- und nachromantischer Dramen mit vergleichbarer Grundstruktur gemeint: Ein zunächst unbegriffenes Geschehen wird als schicksalhaft vorgeführt, wobei die nur angedeuteten Ausmaße und kausalen Zusammenhänge erst retrospektiv von den Beteiligten auf dem Höhepunkt des Dramas erkannt werden. Als ,schicksalbegründende' Ursache kommt ein der ferneren Vergangenheit angehörendes, schweres Vergehen ans Licht, das unausweichlich zur Katastrophe führt. Die gängigsten Motive sind verschiedene Varianten des Verwandtenmords und des Inzest. In der Regel werden auch die zahlreichen Parodien des Schicksalsdramas und die Gespensterstücke des Wiener Volkstheaters (/" Volksstück) dem Genre zugerechnet. WortG: Während das Wort Schicksal erstmals 1599 als Schicksei in Kiliaans ,Etymologicum Teutonicae linguae' erwähnt und als „Apparatus, ordo, dispositio & Fatum" (Kiliaan, 464; vgl. Paul-Henne, 730) erklärt wird, scheint das Wort Schicksalstragödie zuerst 1814 bei Blümner belegt zu sein. Blümner verwendet die Termini Schicksalstragödie und Leidenschaftstragödie im Sinne von wirkungspoetisch gegenläufigen, aber „einander wesentlich durchdringenden Prinzipien" (Blümner, 162). Als spezifisch auf das romantische Genre bezogener Gattungsterminus hat sich die Bezeichnung Schicksalstragödie seit Gervinus' Literaturgeschichte (1835—1842) eingebürgert (Gervinus, 670). Goethe verwendet bereits 1808 Schicksalstücke (FA I. 17, 381). Das Wort Schicksalsdrama selbst scheint auf Minor (1883b; s. BegrG) zurückzugehen. Heinrich Blümner: Über die Idee des Schicksals in den Tragödien des Aischylos. Leipzig 1814. Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke [Frankfurter Ausgabe, FA], Frankfurt 1985 ff. Cornelius Kiliaan (Cornells van Kiel): Etymologicum Teutonicae linguae. Antwerpen 1599.

BegrG: Mit dem Verblassen religiöser Sinndeutungen des Weltlaufs entwickelte sich

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Schicksalsdrama

unter Rückgriff auf Fatalismus-Konzeptionen bei Spinoza und Leibniz in der 2. Hälfte des 18. Jhs. eine Diskussion um den Schicksalsbegriff in der Tragödie, der von der Kontroverse über die Bedeutung der Bestimmung von Freiheit und Notwendigkeit für die dramenpoetische Praxis geprägt war (/" Tragisch). Mit dem wachsenden Interesse an der antiken Tragödie im Kontext der Orientierung am französischen Klassizismus stellte sich die Frage nach der Rolle des Schicksals als einer handlungsbestimmenden, äußeren Instanz, der die Charaktere unterworfen sind. Für das Drama der /" Aufklärung bedeutete .Schicksal' allenfalls die zwingende Kausalität innerhalb der gesellschaftlichen und politischen Ordnung oder eine in der Natur des Menschen liegende Schwäche — und nicht mehr eine übermenschliche, .blinde und unentrinnbare Macht', wie man sie für die griechische Tragödie annahm. Mit der Forderung nach unbedingter Freiheit und Selbstverwirklichung des Subjekts wandten sich die Dramatiker des s Sturm und Drang (Klinger, Leisewitz, Lenz u.a.) gegen die aufklärerische Dramentheorie, in der sie eine Vorherrschaft der Handlung über den .Charakter' und damit einen lediglich modernisierten, aber immer noch totalisierenden Schicksalsbegriff erkannten. Gervinus subsumiert unter Schicksalstragödien eine Reihe von fatalistischen Dramen (Adolf Müllner, F. Grillparzer und Ernst v. Houwald) im Anschluß an Zacharias Werners ,Der 24. Februar' (1815, Uraufführung 1810; Gervinus, 670). Die von J. Minor eingeführte Eingrenzung auf romantische und einige nachromantische Schauspiele blieb im wesentlichen unumstritten. Seine Anthologie ,Das Schicksalsdrama' (1883b) stellt die auch bei Gervinus genannten Hauptvertreter zusammen. Die inhaltlich-motivische Definition des Schicksalsdramas wird durch formale Aspekte (S Versdrama) ergänzt. Während Schicksalstragödie und Schicksalsdrama zunächst häufig synonym gebraucht wurden, setzt sich im 20. Jh. der Terminus Schicksalsdrama durch, der dem Umstand gerecht

werden soll, daß die Stücke der Regelpoetik der ^ Tragödie nicht entsprechen. SachG: Das Schicksalsdrama knüpft an die dramaturgischen Konventionen des /" Bürgerlichen Trauerspiels an und wird bei dem Versuch einer Annäherung an die antike Tragödie zum schaurig-gruseligen Schauspiel. Klingers ,Die Zwillinge' (1776) und Leisewitz' Julius von Tarent' (1776) bringen Verwandtenmord-Szenarien auf die Bühne, die zum paradigmatischen Stoff für das romantische Schicksalsdrama werden. Bereits in George Lillos ,Fatal curiosity' (1737) liegt mit der Ermordung des heimkehrenden, verkannten Sohnes durch die eigenen Eltern eine Variante vor, die auch in K. Ph. Moritz',Blunt oder der Gast' (1781) aufgegriffen wird. Zudem weisen die frühen Schicksalsdramen v. a. in der Metrik Einflüsse romanischer Formen auf, die mit A. W. Schlegels Calderón-Übersetzungen .Spanisches Theater' (1803/1809) und F. Schlegels Drama ,Alarcos' (1802) bekannt und zu einer Modeerscheinung wurden. Als Vorläufer gelten auch Tiecks Dramen ,Der Abschied' (1798) und ,Karl von Berneck' (1795) sowie Schillers ,Braut von Messina' (1803). Werners ,24. Februar' war zunächst als dramenpoetisches Experiment angelegt, dessen Erfolg sich bereits bei der Uraufführung am schaurig-lustvollen Entsetzen des Publikums abgezeichnet und „an die Wirkung der Aeschyleischen Eumeniden in Athen" erinnert habe (Minor 1883a, 75). Die auf die Affekte zielende Dramaturgie entsprach den Erwartungen des bürgerlichen Publikums; das Schicksalsdrama entwickelte sich zu einer „Modegattung" (Rösch, 406) der frühen Restaurationszeit. Als sozialgeschichtliche Problemreferenz läßt sich eine Krise des selbstbestimmten Subjekts ausmachen, das die Idee von der Vernünftigkeit der Welt nicht mit den eigenen Fremdbestimmungserlebnissen in Einklang zu bringen vermag. Während die Figuren ihre Welt als düster und feindlich wahrnehmen und theatralische Effekte die unheilschwangere Atmosphäre noch intensivieren, wird für die Zuschauer die Heteronomie als finale Sinngebung aufgedeckt:

Schlager Der zunächst als kontingent empfundene Zufall tritt als Notwendigkeit einer über die Satzungen der Gesellschaft wachenden Macht in Erscheinung, während „das Subjekt des Schicksals [...] unbestimmbar" bleibt (Benjamin 1974, 308). Die Notwendigkeit wird zum handlungsbestimmenden Moment, ihr scheint die „Rolle eines Exekutors des schicksalbestimmenden Ablaufs" (Wertheimer, 97) zuzukommen. Kleists ,Die Familie Schroffenstein' (1803), Grillparzers ,Die Ahnfrau' (1817) und Grabbes ,Herzog Theodor von Gothland' (1822) weisen in der Vielschichtigkeit der dramatischen Struktur und der Reflektiertheit des Schicksalskonzepts über die Strukturen des Genres hinaus. Motivgeschichtliche Parallelen (u.a. Verwandtenmord, Inzest) zwischen dem deutschsprachigen Schicksalsdrama und Dramen der englischen und französischen Romantik sind zahlreich. Der bis zur Austauschbarkeit ähnliche Aufbau und die Verwendung typischer Motive führten zu zahlreichen Parodien, zu deren bekanntesten Castellis und Jeitteles' ,Der Schicksalsstrumpf' (1818), Platens ,Die verhängnisvolle Gabel' (1826) und Nestroys ,Der Talisman' (1840) zählen. ForschG: Die ältere Forschung deutet die Schicksalsdramen meist abwertend als Modeerscheinung, als „gesunkensten Begriff von Welt und Kunst in den Dichtern" (Gervinus, 687). Mit der komparatistischen Ausrichtung der neueren Forschung verschiebt sich das Interesse zu einer Einordnung des Genres in seine europäischen literarischen und funktionalen Kontexte. Lit: Roger Bauer (Hg.): Inevitabilis vis fatorum. Der Triumph des Schicksalsdramas auf der europäischen Bühne um 1800. Bern 1990. - Walter Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels. In: W. B.: Gesammelte Schriften. Hg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhausen Bd. 1/ 1. Frankfurt 1974, S. 203-430. - W. B.: Schicksal und Charakter. In: ebd. Bd. 2/1. Frankfurt 1977, S. 171-179. - Moriz Enzinger: Das deutsche Schicksalsdrama. Innsbruck 1922. - Georg Gottfried Gervinus: Geschichte der poetischen National-Literatur der Deutschen. Bd. 5. Leipzig 1842. - Gerhart HofTmeister: The romantic tragedy of fate. In: Romantic drama. Hg. v. Gerald

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Gillespie. Amsterdam u.a. 1994, S. 167-179. Herbert Kraft: Das Schicksalsdrama. Tübingen 1974. - Jakob Minor: Die Schicksals-Tragödie in ihren Hauptvertretern. Frankfurt 1883[a]. — J. M.: Das Schicksalsdrama. Berlin 1883[b]. Monika Ritzer: Not und Schuld. Zur Funktion des ,antiken' Schicksalsbegriffs in Schillers ,Braut von Messina'. In: Schiller heute. Hg. v. HansJörg Knobloch und Helmut Koopmann. Tübingen 1996, S. 131-150. - Gertrud Maria Rösch: Geschichte und Gesellschaft im Drama. In: Zwischen Restauration und Revolution (18151848). Hg. v. Gert Sautermeister und Ulrich Schmid. München, Wien 1998, S. 378-420, bes. 406-410. - Saskia Schottelius: Fatum, Fluch und Ironie. Frankfurt 1995. - Rudolf Werner: Die Schicksalstragödie und das Theater der Romantik. Diss. München 1963. — Jürgen Wertheimer: .Zufall und Notwendigkeit'. In: Bauer 1990, S. 90-100.

Sebastian Wogenstein

Schlager Gattungsbezeichnung für populäre, saisonale, meist der Zerstreuung dienende LiedWaren in deutscher Sprache. Expl: Schlager als soziologisch weitgehend indifferente Bestandteile der Alltagskultur sind muttersprachliche Unterhaltungs-, Stimmungs-, Film- oder Tanzlieder. Neben übergreifenden historisch-kulturellen Entwicklungen sind bestimmend für sie (a) semiotisch: mediale Mehrdimensionalität; (b) strukturell: Übersichtlichkeit, Einprägsamkeit, relative thematische und musikalische Konstanz; (c) historisch: modische Aktualität, Kurzlebigkeit; (d) warenästhetisch: Profitinteressen, industrielle Planung, Fertigung und Veräußerung, massenmediale Präsentation, Image-Konstruktionen der Interpreten, Massenwirksamkeit und „breites kulturelles Nutzungspotential" (Wicke, 1065). Auf textlicher Ebene folgen Schlager nahezu ausnahmslos dem Refrain-Prinzip (Vers- bzw. Strophen-/" Refrain) und halten sich in der Regel an schlichte Formen, wenige bewährte Sujets, leichtverständliche Geschehensabläufe und klare Aussagen. Wiederholungsstrukturen durch Ähnlich-

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Schlager

keit bzw. Identität der Komponenten, Unkompliziertheit und Eingängigkeit kennzeichnen auch die Musik (Melodie, Rhythmus, Harmonik) des Schlagers. Unbeschadet der sehr unterschiedlichen Ausprägung in verschiedenen Zeiträumen ist doch allen Schlagern gemeinsam, daß sie als Ware hinsichtlich Rezeption und Konsumption auf „Akzeptanzgewinnung durch Distanzvermeidung" (Wicke, 1064) hin konzipiert sind. Das macht es einerseits erforderlich, auf allen Ebenen mit Standardisierungen zu arbeiten. Andererseits muß ein Schlager solche gängigen Grundmuster jeweils in Maßen variieren, um neu wirken und erfolgreich sein zu können. Von daher zeichnen sich erfolgreiche Schlager (,Knüller', ,Hits') durch die Balance zwischen „Konstanten und Variablen, von Standardisierung und Innovation" aus (ebd., 1065).

tungsmusik" (Mühe 1968, 32) der sozialistischen Unterhaltungskunst' zugeschlagen. Mit der verstärkten Rezeption anglo-amerikanischer Unterhaltungsmusik und deren Ausdrücken im Westen (Rock, Beat, Blues, Pop, Folk, Hit, Evergreen·, Charts statt Schlagerparade) sowie mit der Herausbildung neuer Genres (Liedermacher, /" Sänger, Protestsong, ? Song) seit 1950 verengt sich zunächst der Bezeichnungsraum des Ausdrucks auf das „deutschsprachige [...] sentimentale Strophenlied" (Bandur, 11); im Kontext von ,Neuer deutscher Welle' und Volkstümlicher Musik' läßt sich seit den 1980er Jahren wieder eine Erweiterung feststellen. Anonym [gezeichnet ,,-r-"]: Die Faschingsliedertafel des Männergesangvereins. In: Neues Fremdenblatt. Wien 17.2.1867, Beilage II. - Hansgeorg Mühe: Zur Intonation des deutschen Schlagers. Habil. Leipzig 1968 (masch.).

WortG: Dt. Schlager (zum Verbum schlagen; DWb 15, 350-412) entsteht vermutlich BegrG: Wurde ursprünglich Schlager als reum 1860 in der Wiener Umgangssprache, zeptionsbezogener Wirkungsbegriff für semantisch angelehnt an Präfixverben wie beim Publikum besonders erfolgreiche muein-, an- und durchschlagen. Nachweisbar ist sikalische Produkte verwendet, so kommt der Ausdruck Schlager seit 1867: Im Wiener es im Zuge der Kommerzialisierung des ,Neuen Fremden-Blatt' desselben Jahres be- Musikmarktes am Ausgang des 19. Jhs. zu zeichnet er höchst erfolgreiche Kompositio- einer verwertungsbezogenen Begriffsvernen von Johann Strauß (Sohn); daneben schiebung (vgl. analog ? Bestseller). Als wird er auch noch für einen .Treffer' im Schlager wird jetzt dasjenige Lied bezeichSinne von S Pointe gebraucht. Um 1900 net, das auf kalkulierten Publikumserfolg geht der Ausdruck zudem als Synonym des hin komponiert und um sofortigen peku.Erfolgreichen' in die politische, die Han- niären Ertrags willen vervielfältigt bzw. verdels- und die Werbesprache (u. a. Musikver- trieben wird. Seit den 1920er Jahren wird Schlager als lage) ein. Im musikalischen Bereich bezeichnet der — häufiger als Gassenhauer, später Gattungs-, d.h. als Sammel- oder Typenals Schnulze abqualifizierte (Kluge-Seebold, Bezeichnung verwendet: „das aktuelle, ge246 bzw. 649) — Schlager einzelne Titel, werblich vermittelte, in technischer MassenTanzmelodien, Sammlungen von /" Cou- produktion hergestellte, kurzlebige, modiplets, Lieder aus / Revue und ^ Kabarett, sche Tanz und Stimmungslied" (Bandur, 1). analog dann auch Teile aus ? Opern, Diese Begriffsbestimmung führt u. a. zu einer Differenzierung zwischen Schlager und f Operetten und sogar sinfonischen Werken. GASSENHAUER. Während sich dieser gewisDer fachsprachliche, meist mit Abwer- sen (vermittelten) Auswahl-Entscheidungen tung einhergehende Gebrauch des Aus- des Publikums verdankt, ist jener das okdrucks (/" Trivialliteratur) verstärkt die Be- troyierte Produkt einer verzweigten, u.a. mühungen um Abgrenzung gegen s Chan- durch einen neuen /" /Íwíor-Typus gekennson und / Volkslied. Im Nationalsozialis- zeichneten Unterhaltungsindustrie. mus diente Schlager pauschal zur Bezeichnung sogenannter ,volksfremder' Musik. In SachG: Von Anbeginn dominieren im der DDR wurde der Schlager „als Oberbe- Schlager — in historisch wechselnder Gegriff [...] für [...] alle Arten der Unterhal- wichtung — Themen wie Liebe, Natur, Hei-

Schlager mat oder Ferne. Bis zum 1. Weltkrieg, vereinzelt auch darüber hinaus werden vor allem Produktionen der ,Wiener Operette', des ,Wienerlieds' und der ,Berliner Operette' zu Schlagern (gemacht). Seit 1900 entwickeln sich darüber hinaus die Formen des Kabarett-, Revue- und Tanzschlagers. Mit dem Siegeszug des Tonfilms und unter dem Einfluß US-amerikanischer Produktionen kommt Ende der 1920er Jahre der Filmschlager hinzu. Der (ungern so benannte) Schlager im Nationalsozialismus ist charakterisiert durch eine „ausgeprägte Wirklichkeitsferne" und eine „Mischung aus Pathos und Sentimentalität" (Wicke, 1068). Während für den Schlager in der DDR und seine „ideologisch-ästhetische Erziehungsfunktion" (ebd., 1070) andere Entwicklungen gelten, läßt sich der deutsche Schlager im Westen in fünf Phasen (Helmes, 71—76) einteilen: (l)bis in die späten 1950er Jahre musikalisch im wesentlichen durch Traditionsbestände bestimmt, textlich durch existentielle Grundstimmungen der Zeit und durch das Zeitgeschehen; (2) bis ca. 1966 immer häufiger an der Lebenswelt der Jugend und musikalisch an europäischen und überseeischen Produkten orientiert; (3) 1967—1979 charakterisiert durch Reaktionen auf gesellschaftliche Umbrüche, durch Abwehrhaltung gegen den allerorts aufbrechenden Protest der Jugendlichen, in den 1970er Jahren durch ,sozialkritische' Schlager und durch Schlager im Spektrum zwischen Emanzipations-Debatte und ,Blödel-Song'; (4) seit Anfang der 1980er Jahre aufs Ganze gesehen durch ein .anything goes' gekennzeichnet, insbesondere durch den Oberflächenwitz der ,Neuen Deutschen Welle' einerseits, die PseudoFolklore der Volkstümlichen Musik' andererseits — als gleichermaßen auf Enthistorisierung, Polarisierung und Fragmentarisierung hinwirkende Tendenzen; (5) in den 1990er Jahren in wechselnden Revival-Moden durch zeitgemäße Aufbereitung, CoverVersionen und Disco-Remixes von Schlagern der 1950er bis 1970er Jahre — mit unerwarteter Popularität gerade in der Comedy· und Fun-Kultur von Jugendlichen. ForschG: Sieht man von wenigen mehr um Beschreibung als um ? Wertung bemühten

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Arbeiten wie denjenigen Müllers und Worbs' ab, läßt sich die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Schlager von Anbeginn (1920er Jahre), verstärkt im Nationalsozialismus und bis in die AdenauerZeit, als der Versuch beschreiben, mit unterschiedlichen Akzenten entschiedene Vorbehalte gegenüber dieser Form der Unterhaltungsmusik zu formulieren (vgl. u. a. Kienecker, Koitzsch, Sydow und Wiora). Von diesem Ton sind auch die gesellschaftskritischen, im Detail scharfsichtigen Arbeiten von Adorno und Horkheimer nicht frei. Im Rahmen der verstärkt (sozial- bzw. massen)psychologisch und soziologischfunktional argumentierenden Forschung jüngeren Datums laufen Vorbehalte gegen den Schlager günstigstenfalls auf die These hinaus, daß das Publikum diese Form der ,Tagträumerei' (Berghahn, 247) angesichts unzuträglicher gesellschaftlicher Verhältnisse mit einer gewissen Zwangsläufigkeit konsumiere. Im Umfeld kommunikationstheoretisch und empirisch-systematisch ausgerichteter Forschung steht der neuerdings geforderte „weitgreifende interdisziplinäre Ansatz" (Rösing, 9), der bei der SchlagerAnalyse kontingente Wertung vermeidet und statt dessen das Ensemble produktkonstitutiver Faktoren, den musikkulturellen Hintergrund, den Präsentations- und Rezeptionskontext sowie Ergebnisse der Wirkungs-

und

/"

Rezeptionsforschung

berücksichtigt (Helmes, 64-69). Lit: Theodor W. Adorno: Einleitung in die Musiksoziologie. Frankfurt 1962. — T. W. Α., Max Horkheimer: Dialektik der Aufklärung [1947], Frankfurt 1969. - Markus Bandur: .Schlager'. In: Handwb. der musikalischen Terminologie. Hg. v. Hans Heinrich Eggebrecht. Ordner V: S - Z. Stuttgart 1991, S. 1 - 1 2 . - Wilfried Berghahn: In der Fremde. Sozialpsychologische Anmerkungen zum deutschen Schlager. In: Trivialliteratur. Hg. v. Horst Enders u. a. Berlin 1964, S. 246-259. - Burkhard Busse: Der deutsche Schlager. Wiesbaden 1976. - Günter Helmes: Popularmusik und Gefühle. In: D U 48.2 (1996), S. 62-84. - Siegmund Helms (Hg.): Schlager in Deutschland. Wiesbaden 1972. — Dietrich Kayser: Schlager - Das Lied als Ware. Stuttgart 1975. - Friedrich Kienecker: Der Schlager. Sein Weltbild und seine Gefahr. In: Die Kirche in der Welt 7 (1954), H. 1, S. 123-126. -

380

Schliissellìteratur

Hans Krah, Jörg Wiesel: Musik fürs Volk — Erfolg durch Volksmusik. In: Kodikas/Code 19 (1996), S. 259-279. - Hans Koitzsch: Das neue Volkslied. Ein Blick auf den modernen Schlager. In: Neue Zs. für Musik 92 (1925), B. 426. - Elmar Kraushaar: Rote Lippen. Die ganze Welt des deutschen Schlagers. Reinbek 1983. — Mechthild Mäsker: „Das schöne Mädchen von Seite eins": Frauen im deutschen Schlager 1970-1985. Rheinfelden, Berlin 1990. - Bernd Matheja: 1000 Nadelstiche [Bibliographien, Discographien etc.]. Hambergen 2000. - Werner Mezger: Schlager. Tübingen 1975. — Rainer Moritz: Schlager — Kleine Philosophie der Passionen. München 2000. - Hansgeorg Mühe: Unterhaltungsmusik: Hamburg 1996. - Günther Müller: Geschichte des deutschen Liedes vom Zeitalter des Barock bis zur Gegenwart. München 1925, Kap. X. — Helmut Rösing (Hg.): Ist Pop die Volksmusik von heute? Hamburg 1987, S. 3 - 1 3 . - Wolfgang Sieber: Die Hit-Parade. Freising 1982. - Elke Stölting: Deutsche Schlager und englische Popmusik in Deutschland. Bonn 1975. — Alexander Sydow: Das Lied. Göttingen 1962. - Peter Wicke: ,Schlager'. In: MGG 2 8, Sp. 1063-1070. - Walter Wiora: Das echte Volkslied. Heidelberg 1950. - Hans-Christoph Worbs: Der Schlager. Bremen 1963. Günter

Helmes

erkennung relativiert den fiktionalen Charakter solcher Werke und erhebt sie zu einer justiziablen Meinungsäußerung, so daß Verschlüsselung und Persönlichkeitsschutz miteinander in Konflikt geraten können. Das literarische Werk, für das das Grundrecht auf Kunstfreiheit gilt, wird dann vielfach zu einem möglichen Objekt von /" Zensur. Da Verschlüsseltes jeweils an aktuelle Kommunikationssituationen gebunden ist, fallt dem Leser das Entschlüsseln zeitgenössischer Werke leichter als älterer, deren ,Schlüssel' erst gefunden oder rekonstruiert werden müssen ( / Code)·, vielen Werken, die oft nur einen Privat-Code enthalten, ist heute nicht mehr zu entnehmen, daß sie dechiffriert werden sollten. ,Schlüssel' können manchmal ohne Schaden für die Rezeption eines Werkes verloren gehen. Das Kriterium einer intendierten Verschlüsselung bedingt Textkonstellationen, deren konketer Realitätsbezug nicht erlöschen darf. Werke der Schlüsselliteratur unterscheiden sich damit von jenen Werken, in denen punktuell bestimmte Personen (oder Einzelzüge) versteckte außerliterarische Vorbilder haben, auf die angespielt wird (z. B. positiv im Panegyrikus) oder die attackiert werd e n ( y Pasquill,

Schlagwort /" Redensart Schlesische Dichterschule

Barock

Schlüsselliteratur Literarische Werke fiktionalen Charakters, in denen ,wirkliche' Personen und Begebenheiten mittels spezifischer Kodierungsverfahren verborgen und zugleich erkennbar gemacht sind. Expl: Literarische Verschlüsselung erlaubt, Sachverhalte zur Sprache zu bringen und Personen in Erinnerung zu rufen, über die eigentlich' nicht gesprochen werden soll (oder darf). Ihr besonderer Reiz liegt im Kalkül des vom Leser zu leistenden Rückbezugs auf den eigentlich gemeinten Sachverhalt. Gegenüber dem mehr defensiven Charakter der /" Camouflage ist dieses Verfahren primär kommunikativ. Die Wieder-

S Satire, S Kabarett).

Dar-

über geht die Schlüsselliteratur dadurch hinaus, daß sie in verfremdeter, doch transparenter Form über Fakten informieren will, d. h. unbekannte Daten, indiskrete Details und Insiderwissen preisgibt. Ein Kriterium für die Abgrenzung zu verwandten Gattungen wäre darin zu sehen, daß der Enthüllungseffekt andere Funktionen (z. B. Selbststilisierung oder verfremdende Darstellung politischer oder literarischer Programmatik) überwiegt. WortG: Die Grundbedeutung des Wortes Schlüssel (Werkzeug zum Öffnen oder Zuschließen eines Schlosses), analog zum frz. Wort clef, und die abgeleitete Bedeutung (,Zugang zu einer Geheimschrift, Geheimwissenschaft'; Paul-Betz, 555) prägten die Verben verschlüsseln

u n d entschlüsseln.

An-

fangs suchte man „Schlüssel zu den Episoden" eines Textes (,Allgemeiner litterarischer Anzeiger' 1797, 1214). Als nach dem deutschen Strafgesetzbuch vom 15.5.1871

Schlüsselliteratur die ersten Prozesse gegen Romanschreiber auf Grund des § 185 StGB geführt wurden, kam der Terminus Schlüsselroman in Umlauf. Daneben wurden Schlüsseldarstellung und Schlüsselschrift gebraucht (Ullstein, 57); nicht durchgesetzt hat sich Maskenroman (Kirchbach, 244). Wolfgang Kirchbach: Schlüssel-Romane. In: Das literarische Echo 8 (1905/06), Sp. 237-245.

BegrG: Da die stilbildende Verschlüsselungstradition in der frz. Literatur des 17. und 18. Jhs. aus der neuen Gattung des /" Höflsch-historischen Romans erwuchs, avancierte .Schlüsselroman' (frz. roman à clef) in Deutschland zum Leitbegriff (so noch in RL 1 3, 187-189, und Wilpert, 827 f.). Doch ist vom übergeordneten Begriff,Schlüsselliteratur' und von der Definition Drujons auszugehen, die jedes Buch, das in mehr oder weniger verdeckter Form (anders als der Historische Roman, das Historische Drama oder das Dokumentartheater) reale Ereignisse und Personen darstellt oder auf sie anspielt, dazu zählt (,livre à clef). In dieser Definition wird das ,plus ou moins transparent' zum Kriterium, das auch für die Neuformulierung aus informationstheoretischer, semiotischer und kommunikationswissenschaftlicher Sicht maßgebend ist: Die Bedingungen für den Typus ,Schlüsselliteratur' gelten als erfüllt, wenn kommunikative Performanz und bestehende Kompetenz (/* Linguistische Poetik) auf .wirkliche Personen und Zustände' ausgerichtet sind. Unter der Prämisse einer /* Autonomie der Literatur gilt die Schlüsselliteratur aufgrund eines solchen Realitätsbezugs als minderwertig. Fernand Drujon: Les livres à clef. 2 Bde. Paris 1888. - Kurt Ullstein: Der Schutz des Lebensbildes, insbes. Rechtsschutz gegen Schlüsselromane. Leipzig 1931.

SachG: Der von Kaiser Maximilian I. entworfene ,Theuerdank' (1517), eine rühmende Zusammenstellung seiner ,Rittertaten', der ein ,Schlüssel' (,Clavis') beigegeben wurde, ist einer der ersten deutschen Schlüsselromane. Im 16./17. Jh. waren mehr oder minder decouvrierende Schlüsselromane (etwa John Barclay: ,Argenis', 1621) besonders beliebt und fanden mit der

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Rezeption des historisch-galanten Romans (y Höfisch-historischer Roman) auch Eingang in die deutsche Literatur (Anton Ulrich v. Braunschweig: ,Aramena', Nürnberg 1669-1673; ,Octavia', Nürnberg 16851707; 1712 unter dem Titel ,Die römische Octavia', wobei Anton Ulrich für die .Geschichte der Printzessin Solane' — im letzten Band der .Octavia' — selbst den Schlüssel lieferte). Gleichwohl müssen diese Romane nicht als .Schlüsselromane' angesehen werden; wie für viele Barockromane gilt, daß einzelne verschlüsselte Episoden allein noch nicht den Schlüsselroman als Gattung konstituieren, ebensowenig wie die Wahl verdeckter Namen. .Schlüssel' sind relativ selten zentrales Strukturelement, wohl aber Impulse für den Leser, nach Verstecktem zu suchen. In der Geschichte der Schlüsselliteratur zeichnen sich drei Interessenbereiche ab: (1) Verschlüsselungen sind für die literarische Praxis von Künstler- und Literatenzirkeln charakteristisch. So wandte sich Goethe in den verschlüsselten Werken seiner vor- und frühweimarer Zeit, wie im Jahrmarktsfest zu Plundersweilern' (1773) und im ,Satyros' (1773), nur an die Freunde des Darmstädter Kreises, die das Ziel der /" Parodie identifizieren sollten. Auch die wirklichen Namen der Gesprächsteilnehmer in der Rahmenerzählung von E. T. A. Hoffmanns Zyklus ,Die Serapionsbrüder' (1819—1821) waren nur den nächsten Freunden bekannt. In der Knarrpanti-Episode seines Märchens ,Meister Floh' (1822) suchte Hoffmann den ,Demagogenverfolger' K. C. Α. Η. v. Kamptz der öffentlichen Lächerlichkeit preiszugeben. An Tiecks ,Der gestiefelte Kater' (1797) ist heute nur noch das ,Spiel im Spiel' als Musterbeispiel werkimmanenter Poetik reizvoll, nicht aber mehr der Anlaß (die verschlüsselte Polemik gegen C. A. Böttiger, A. W. Ifïland und Zacharias Werner). Gegenüber dgl. parodistischen oder satirischen Texten spielte die Schlüsselliteratur i. e. S. in der klassischen und nachklassischen Literatur eine Nebenrolle, doch ist die Grenze in Selbstdarstellungen literarischer Zirkel des 19. und 20. Jhs. (mit oft nur begrenztem dokumentarischen Wert) nicht immer leicht zu zie-

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Schlüsselliteratur

hen. Hierher gehören u. a. E. v. Wolzogens Liszt-Roman ,Der Kraft-Mayr' (1897), Wedekinds Komödie ,Oaha' (1908), M. Halbes Komödie ,Die Insel der Seligen' (1906) und F. v. Reventlows Roman , Herrn Dames Aufzeichnungen' (1913), ein Nachschlagewerk' für die Münchner Bohème. Nur unter Vorbehalt zur Schlüsselliteratur zu rechnen sind die unterhaltsamen Indiskretionen aus Schwabinger Ateliers in Th. Manns Roman ,Doktor Faustus' (1947) und die Anspielungen auf Mitglieder der Gruppe 47 in der Erzählung ,Das Treffen in Telgte' (1979) von Grass. (2) Im Gesellschaftsroman dominiert seit dem 17. Jh. die ,Lust am Skandal'. Goethe nutzte die sog. ,Halsbandaffare' am Hofe Ludwigs XVI. und die Gestalt Cagliostros für sein Lustspiel ,Der Groß-Cophta' (1792). Schiller verwendete den gleichen Stoff im ,Geisterseher' (1787/89) zur Verschlüsselung der in Württemberg aktuellen Probleme der protestantischen Erbnachfolge. In K. Gutzkows Roman ,Wally, die Zweiflerin' (1835, 2. Fassung 1852) wurde an den Freitod der Charlotte Stieglitz erinnert. Als einen ,Racheakt' las man die satirische Erzählung ,Diogena' (1847), in der Fanny Lewald ihre literarische und erotische Nebenbuhlerin, die exzentrische Gräfin Hahn-Hahn, verspottete. Als klassischer Schlüsselroman' gilt O. J. Bierbaums .Abrechnung' mit seinem früheren Weggefahrten und Mitherausgeber der ,Insel', Alfred Walter Heymel, in ,Prinz Kuckuck' (1906/07, gekürzte Fassung 1918). Th. Manns Figuren wurden gelegentlich als Verschlüsselungen bekannter Persönlichkeiten gelesen; 1906 zog er aus diesem Grunde die bereits in Druck gegangene (und erst 1921 als Privatdruck erschienene) Novelle ,Wälsungenblut' zurück, weil er fürchtete, mit ihr die Familie seiner Frau, das Haus Pringsheim, zu kompromittieren, doch verteidigte er in ,Bilse und ich' das Recht des weniger ,erfindenden' als ,findenden' Dichters, sich auf reale Personen zu beziehen. (3) Verschlüsselungen politischer Ereignisse und Akteure sind Mittel politischer Agitation. Der preußische König Friedrich Wilhelm IV. war in Eichendorffs Puppenspiel ,Das Incognito' (1841/43) leicht wie-

derzuerkennen. Feuchtwanger verschlüsselte in seinem Roman ,Erfolg' (1930) den Aufstieg Hitlers und die Anfange des Faschismus in Deutschland. Weniger enthüllende als satirisch verfremdete Darstellung des gleichen Vorgangs praktizierte Brecht in ,Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui' (1941) durch die Transformation der Ereignisse in ,the gangster play we know'. Aufsehen erregte Koeppens Roman ,Das Treibhaus' (1953) wegen seiner erkennbaren Bezüge auf führende Persönlichkeiten der deutschen Nachkriegszeit. Zum exemplarischen Fall' der Schlüsselliteratur wurde Kl. Manns 1936 im Exil erschienener, 1966 vom Bundesverfassungsgericht verbotener Roman .Mephisto', da er die Persönlichkeitsrechte des im Intendanten Hendrik Höfgen portraitierten Gustaf Gründgens verletze; darin finde die Lizenz des satirischen Zeitromans ihre Grenze. ForschG: 1928/29 bot Gramsch eine vorläufige Skizze für den Stoff-und Problembereich (RL 1 3, 187-189). Das 1951-1953 von Schneider vorgelegte nützliche Kompendium blieb bis heute die einzige umfassende Darstellung der Geschichte der deutschen Schlüsselliteratur. Kanzog (RL 2 3, 646—665) erörterte die Kriterien differenzierter. Methodisch neue Wege, Verschlüsselung als kreatives Kommunikationsmittel aufzuzuzeigen, wies Steggle mit seiner Studie zur professionellen satirischen Komödie der englischen Renaissance. G. M. Rösch steckt mit der Erörterung verschiedener Konstitutionsformen des .Prinzips Schlüssel' einen breiteren Interpretationsrahmen ab. Charakteristisch für die wissenschaftliche Behandlung des Gegenstandes ist die Fülle von Einzelstudien zu Werken, die man der Schlüsselliteratur zurechnet. Lit: Heinz Ludwig Arnold (Hg.): Blech getrommelt. Günter Grass in der Kritik. Göttingen 1997, S. 54-66. - Hans Georg Beyer: Ludwig Tiecks Theatersatire ,Der Gestiefelte Kater' und ihre Stellung in der Literatur- und Theatergeschichte. Diss. München 1960. — Heinrich Düntzer: Graf Cagliostro und Goethes .Großcophta'. In: H.D.: Neue Goethe-Studien. Nürnberg 1861, S. 136-219. - Georg Ellinger: Das Disziplinarverfahren gegen E. T. A. Hoffmann. In: Deutsche Rundschau Jg. 32, Bd. 128 (1906), S. 79-103. -

Schön Wolfgang Ferchl: Zwischen ,Schlüsselroman', Kolportage und Artistik. Amsterdam, Atlanta 1991. - Johannes Goldhahn: Das Parabelstück Bertolt Brechts als Beitrag zum Kampf gegen den deutschen Faschismus. Rudolstadt 1961. — Raymond Immerwahr: Iffland in the role of Tieck's ,Kater'. In: MLN 70 (1955), S. 195 f. - HannoWalter Kruft: Alfred Pringsheim, Hans Thoma, Thomas Mann. München 1993, S. 3 - 2 2 . - Thomas Mann: Bilse und ich. In: Τ. M.: Altes und Neues. Berlin 1956, S. 7 - 1 8 . - .Mephisto'. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts und die abweichende Richter-Meinung. München 1971. - Gertrud Maria Rösch: Clavis seientiae. Studien zum Verhältnis von Faktizität und Fiktionalität am Fall der Schlüsselliteratur. Hábil. Regensburg 2000. — Friedrich Schnapp: Der Seraphinenorden und die Serapionsbrüder Ε. T. A. Hoffmanns. In: LitJb N F 3 (1962), S. 99-112. - Georg Schneider: Die Schlüsselliteratur. 3 Bde. Stuttgart 1951-1953. - Herbert Singer: Die Prinzessin von Ahlden. In: Euphorion 49 (1955), S. 305-334. - Blake L. Spahr: Anton Ulrich und ,Aramena'. Berkeley, Los Angeles 1966. - Matthew Steggle: Wars of the theatres. The poetics of personation in the age of Jonson. Victoria 1998. — Rainer Stollmann: Asthetisierung der Politik. Stuttgart 1978 [zu Brecht S. 12-27, 123-143, 163-175], - Lieselotte Voss: Die Entstehung von Th. Manns Roman ,Doktor Faustus'. Tübingen 1975. — Wilhelm Wilmanns: Goethe's ,Jahrmarktsfest zu Plundersweilern'. In: Preußische Jbb. 42 (1878), S. 4 2 - 7 4 . - Ruprecht Wimmer: „Ich jederzeit". Zur Gestaltung der Perspektiven in Günter Grass' .Treffen in Telgte'. In: Simpliciana 6/7 (1985), S. 139-150. - Lutz Winckler: Klaus Mann: ,Mephisto'. Schlüsselroman und Gesellschaftssatire. In: Exilforschung 1 (1983), S. 322-342. - Paul Zimmermann: Zu Herzog Anton Ulrich's .Römischer Octavia'. In: Braunschweigisches Magazin 7 (1901), S. 105-110, 121-126.

Klaus Kanzog

Schön Ästhetischer Wertbegriff. Expl: (I) Der Begriff des Schönen ist in der Geschichte der s Ästhetik nach zwei Seiten hin entfaltet worden. Einerseits als bestimmte Qualität, die Dingen z. B. wegen ihrer Regelmäßigkeit, Zweckmäßigkeit, Harmonie oder Vollkommenheit zukommt. Maß-

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geblich ist dann die Existenz einer objektiven Idee des Schönen, aus der sich Normen schöner Gegenstände oder schöner Darstellung ableiten lassen ( / Ideal, s Norm). Andererseits kann das Schöne als Ergebnis eines ästhetischen Urteils aufgefaßt werden, das seinen Grund im urteilenden Subjekt hat: „Schön ist, was [...] gefällt" (Kant, ,Kritik der Urteilskraft', § 9). Organ des Schönen ist hier die Einbildungskraft (S Phantasie) bzw. der ästhetische s Geschmack. (2) Charakteristisch für den Begriff des Schönen ist außerdem, daß er sich nicht einfach durch Oppositionsbegriffe wie s Häßlich oder s Erhaben profilieren läßt, insofern die Geschichte der Ästhetik zahlreiche Versuche kennt, diese widerstreitenden Phänomene in einen umfassenden Begriff des Schönen, der etwa das ,Erhabene' als höchstes Schönes benennt, zu integrieren. (3) Seit dem Streit um die zeitlose Vorbildlichkeit bzw. absolute Verschiedenheit der Antike gegenüber der Moderne in der französischen / Querelle des anciens et des modernes (seit 1687) ist das Schöne zudem nicht nur als ,beau universel', sondern auch als ,beau relatif': als ein geschichtlichem und kulturellem Wandel unterliegendes Phänomen ins Bewußtsein getreten. Die ästhetische Norm des Schönen muß demnach immer auch einer geschichtlichen Reflexion unterworfen werden. (4) Daß schließlich in der Kunst im allgemeinen und in der Literatur im besonderen Schönheit zur Darstellung kommt, ist keineswegs selbstverständlich, sondern im Hinblick auf die Sprachgebundenheit der literarischen Ästhetik ein Problem, dessen Diskussion sich seit der Renaissance und bis in die Gegenwart hinein verfolgen läßt und die Frage offen hält, ob ,schön' ein sinnvoll verwendbares Prädikat für literarische Texte sein kann. WortG: Das Adjektiv schön (mhd. schœnel schœn) geht auf ahd. scôni zurück. Zugrunde liegt die germanische Wurzel skauni, ,schön', ,anmutig'. Etymologisch eng verwandt ist ,schauen' (ahd. scouwön), wozu schön als Verbaladjektiv die Bedeutung ,anschaubar', .ansehnlich' erhält (Kress), im „eigentlichsten Verstände glänzend, hell,

384

Schön

wie auch rein" (Campe 4, 252). Neben dieser findet sich auch schon im Ahd. die übertragene Bedeutung ,Wohlgefallen erregend' (Belege s. DWb 15, 1464-1486). BegrG: In der abendländischen Poetik ist der Begriff des ,Schönen', τό καλόν [tó kalón], zuerst bei Aristoteles diskutiert, der darunter die angemessene Ordnung der Teile einer Handlung und ihren überschaubaren Umfang faßt (.Poetik', Kap. 7). Die antike Rhetorik versteht die .Schönheit' einer Rede (,pulchritudo',,venustas'; Ornatus) als Ausdruck ihrer Zweckmäßigkeit, insofern das, ,was den größten Nutzen in sich trägt [...] oft auch Schönheit zeigt' (Cicero, ,De oratore' 3,178; vgl. Quintilian 8,3,11). Sowohl mit der klassisch-antiken Vorstellung der ausgewogenen Proportion wie auch der rhetorischen ,utilitas' (.Nützlichkeit') des Schönen bricht der spätantike Traktat ,Vom Erhabenen' des Pseudo-Longinus, demzufolge das ,Ungemeine, Große und Schöne [kalón]' gerade nicht wegen seiner Nützlichkeit, sondern als ein ,Außerordentliche^]' bewundert werde (,Vom Erhabenen' 35,3-5). Diese Wendung nimmt eine latente Kritik am ,nur' Schönen auf, die sich als Geringschätzung eines wirkungslosen ,pulchrum' schon in Horaz' ,Ars poetica' findet (v. 99), und weist auf die emotionalistische Kritik des Schönen im 17. und 18. Jh. voraus, die in Longinus ihren wichtigsten Gewährsmann hatte. Wie der antike, so ist auch der mittelalterliche Begriff des Schönen ein umfassender, der vor allem auf die Verkörperung sittlicher Vollkommenheit bezogen ist (Cizek). So als ,bel semblant' in der provençalischen Liebesdichtung (Stierle) wie auch in der deutschen höfischen Literatur. Die etymologisch naheliegende und begriffsgeschichtlich zunächst dominierende Ausrichtung des Schönen auf den Sehsinn führt dazu, daß in der Renaissance, mit der sich der spezifische Bezug des Schönen auf die Kunst durchsetzt, Schönheit vornehmlich der bildenden Kunst zugeschrieben wird, gegenüber der die Dichtung im .Wettstreit der Künste' unterliegen muß, insofern sie die Schönheit nicht zeigen kann, sondern in nacheinander folgende Worte zer-

stückeln' muß (Leonardo, 142 f.). So spielt auch der Begriff des Schönen in den zeitgenössischen Poetiken (Scaliger, Vida) keine besondere Rolle (s. Leinkauf). Zu einem spezifisch ästhetischen Begriff wird ,schön' im Deutschen erst im Laufe des 18. Jhs., wobei zunächst wiederum vor allem die sinnlich wahrnehmbare, wohlgefällige äußere Gestalt gemeint ist. Den Bezug auf die Dichtkunst stellt dann die Begriffsbildung ,schöne Literatur' her, die sich als Übersetzung von frz. belles lettres seit der Mitte des 18. Jhs. allgemein durchsetzt und die Vorstellung der / Autonomie des Schönen vorbereitet (Belletristik, Literatur). — In der Poetik der Aufklärung erscheint der Begriff des Schönen zum einen im normativen Sinne vorbildlich gelungener .schöner Stellen' einzelner Dichtungen (Gottsched, 131; vgl. noch Adorno, 449), zum anderen als Ausdruck der,schönen' rationalen Harmonie der ,Na tur der Dinge', die als Vorbild dem Werk der dichterischen Mimesis2 seine objektive ,Schönheit' sichert und die allgemeine Verbindlichkeit des Geschmacksurteils garantiert (Gottsched, 132-141). Wenn demgegenüber J. J. Breitinger aus einem wirkungsästhetischen Kalkül das Schöne dem „Neuen, als der Urquelle aller poetischen Schönheit" (Breitinger 1, 129), unterordnet, deutet sich ein Vorbehalt gegenüber dem Schönen an, der im europäischen Kontext bei J. Dennis und J. B. Du Bos vorgeprägt ist. Er belegt den kontemplativen Aspekt des Schönen mit dem Verdacht der Langeweile, der zugunsten einer lustvollen Bewegung durch .angenehmes Grauen' abgewertet wird (/" Erhaben; vgl. Zelle). .Schön' als systematischen Leitbegriff der Ästhetik etablieren G. F. Meiers ,Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften' (1748—1750), die lateinische Terminologie ihres eigentlichen Begründers A. G. Baumgarten übertragend (.Aesthetica', publiziert 1750). Zur .Schönheit' (.pulchritudo') als .Vollkommenheit der sinnlichen Erkenntnis' treten hier zahlreiche z. T. auch früher schon gebräuchliche Analogiebildungen, die nun eine spezifisch ästhetische Ausrichtung erfahren, wie ,schöner Geist' (,ingenium venustum', ,bel esprit'; vgl. Thoma-

Schön sius 1687) oder ,schönes Denken'. Der Bereich des sprachlich-poetischen Ausdrucks ist hier nicht nur ausdrücklich eingeschlossen; vielmehr wird, wie die Anlehnung der Baumgartenschen ,Aesthetica' an die rhetorische Systematik nahelegt, auf diesen besonders abgestellt (s. Bender). — Neben dieser objektivistischen Auffassung des Schönen entwickelt sich seit dem 17. Jh. in der europäischen Geschmacksdiskussion eine subjektivistische, psychologische Auffassung des Schönen (J. P. Crousaz, D. Hume, E. Burke), die in Deutschland in unterschiedlichen Ansätzen bei Meier, Sulzer (s. v. ,Schönes, Schönheit') und schließlich in kritizistischer Wendung von Kant vertreten wird. Der Begriff des Schönen wird damit zu einer Kategorie des Geschmacks und Gegenstand einer Urteilsanalyse (/" Wertung). Eine bedeutende Neuausrichtung der Reflexion des Problems literarisch vermittelbarer Schönheit — von K. Ph. Moritz dann am Ende des 18. Jhs. in der Frage formuliert, ob vor dem ,,wesentliche[n] Schöne[n]" die Rede „verstummt" oder ob „Worte [...] selbst wieder zum Schönen werden" können (Moritz, 584) — nimmt G. E. Lessing in ,Laokoon oder über die Grenzen der Malerei und Poesie' (1766) vor, worin er die Auswirkungen des sprachlichen Mediums für die literarische Darstellung des ,Schönen' eigens analysiert. Das Ergebnis seiner Untersuchung, daß der Dichtkunst die Abbildung körperlicher Schönheit aufgrund ihrer notwendig sukzessiv verfahrenden sprachlichen Darbietungsweise verwehrt sei (,Laokoon', Kap. 20), mündet in die Forderung, poetische Schönheit vermittelt über ihre Wirkung darzustellen und in „Reiz" als „Schönheit in Bewegung" zu verwandeln (ebd., Kap. 21). Diese Überführung des Schönen in ,Anmut' (vgl. Göttert) nimmt Schiller in seiner Abhandlung über ,Anmut und Würde' (1793) auf, die jedoch eine genauere Applikation des Schönen auf die Dichtkunst vermeidet. So enden schon die vorhergehenden und gerade mit diesem Problem abbrechenden ,Kallias-Briefe': „Die Schönheit der poetischen Darstellung ist,freie Selbsthandlung der Natur in den Fesseln der Sprache' " (Schiller, 433). - Im Kontext der

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idealistischen Ästhetik stellt sich diese Gessel' der Sprachförmigkeit des Schönen im poetischen Kunstwerk als Befreiung der Phantasie vom Zwang des .äußeren Materials' dar (Hegel 1, 123) und damit nun gerade als Auszeichnung der Dichtung vor den anderen Kunstformen. Gleichwohl sieht Hegel auch, daß die Poesie so die „schöne Mitte" zwischen Sinnlichkeit und Geistigkeit verfehle und darum als die Kunst anzusehen sei, „an welcher zugleich die Kunst selbst sich aufzulösen beginnt" (Hegel 3, 234 f.). Damit ist zu den sprachästhetischen Erwägungen das Moment einer Historisierung des Schönen getreten, die im Prozeß einer kritischen .Revision des Schönen' (Zelle) seit dem ausgehenden 18. Jh. zunehmend an Dynamik gewinnt. Gehörte das „mildernde Schönheitsprinzip" (Goethe, FAI. 18, 708) einerseits zum Grundinventar der Weimarer >* Klassik2 und des frühen deutschen Idealismus, der das Schöne zum Ort der /" Versöhnung von Wahrheit und Moral, Kunst und Natur erhoben hatte, so ist es neben der elegisch-geschichtsphilosophischen Reflexion des Schönen als Vergangenem bei Hölderlin (vgl. .Hyperion', 1797/99) vor allem der in F. Schlegels .Studium'-Aufsatz entwickelte Begriff des .Interessanten', der neben dem der /" Allegorie2 und / Ironie auf eine neue Weise das Schöne unter den Bedingungen einer historisch fortgeschrittenen Moderne reflektiert (Mennemeier). Dem entspricht eine verstärkte Hinwendung der Literatur zur ,Kehrseite des Schönen' (y Häßlich\ s Grotesk), vor allem in der Bewegung der ,Schwarzen Romantik' (Praz), u. a. bei Baudelaire, V. Hugo, Byron oder E. T. A. Hoffmann. Mit dem .Ende der Kunstperiode' (Heine; /" Goethezeit) zur Mitte des 19. Jhs. trifft das Schöne der Vorwurf der .falschen Versöhnung' (s Ideologiekritik) wie der Lebensferne: eine Tendenz, die im f Naturalismus schließlich als „völlig unhaltbaren Grundsatz" erscheinen läßt, „daß die Kunst, mithin auch Poesie, Darstellung des Schönen sei" (Julius Hart 1889; zit. n. Meyer, 141). Als gleichwohl notwendigen Schein (s Illusion) rehabilitiert Nietzsche das Schöne am Beispiel der attischen Tragödie (,Die

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Schön

Geburt der Tragödie', 1872), das dort als .apollinische Illusion' das Schreckliche des Daseins verhülle. Bleibt das Schöne damit im Horizont der Nietzscheanischen ,Artisten-Metaphysik' gegenwärtig, auch wenn es nur, wie für die moderne Erfahrung des Schönen insgesamt charakteristisch (Bohrer), in seltenen Augenblicken erfahrbar ist (vgl. ,Die Fröhliche Wissenschaft', 1882/87, § 339), wird es im / Àsthetizismus am Ende des 19. Jhs. noch einmal zum absoluten Ziel der Dichtung: „Schönheit ist nicht am anfang und nicht am ende · sie ist höhepunkt" (George, 531). Im 20. Jh. verschärft sich diese Vorstellung wenn nicht zu einer „Krisis des Schönen" selbst, daß „um des Schönen willen [...] kein Schönes mehr" sei (Adorno, 85), so doch zu der seiner Unverfügbarkeit. So verpflichtet W. Benjamin die Kunstkritik auf die „Anschauung des Schönen als Geheimnis" (Benjamin, 195). Rilke verlangt eine neue Demut vor dem Schönen, das man „nicht,machen' ", sondern nur vorbereiten könne, die dem Künstler verbiete, „an die Schönheit zu denken" (Rilke, 457). Und ähnlich argumentiert auch H. Broch, für den der „Wille zur Schönheit" zwangsläufig auf ? Kitsch hinausläuft (Broch, 303 f.), eine bis in die / Postmoderne-Diskussion hinein bezeichnende Assoziation. Schreibt M. Heidegger, „Schönheit" als Geschehen der „Unverborgenheit" verstehend (Heidegger, 42), dem „Sprachwerk" der Dichtung in solcher ,Öffnung' des Seins noch einmal eine ausgezeichnete Funktion zu, insofern sich durch die Sprache dem Menschen „jeweils Seiendes als Seiendes erst erschließt" (ebd., 59 f.; vgl. Staiger), zielt schließlich M. Benses Programmierung des Schönen' (1960) auf eine ,nachklassische' Textästhetik (s Computertext), deren Schönheit die „pure Innovation" und „statistische Novität" spielerischer Häufigkeitsverteilungen ist (Bense, 90; ? Information). In den ,visuellen Texten' der /" Konkreten Poesie aktualisiert sie den alten Zusammenhang von ,schön' und ,anschaubar', der sich nun auf schönen Textoberflächen abzeichnet. Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie. Hg. v. Gretel Adorno und Rolf Tiedemann. Frankfurt

1973. — Walter Benjamin: Gesammelte Schriften. Hg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhausen Bd. 1/1. Frankfurt 1974. - Max Bense: Programmierung des Schönen. Baden-Baden, Krefeld 1960. - Johann Jakob Breitinger: Critische Dichtkunst [1740], Hg. v. Wolfgang Bender. 2 Bde. Stuttgart 1966. - Hermann Broch: Dichten und Erkennen. Bd. 1. Zürich 1955, S. 295-309. - Stefan George: Werke. Hg. v. Robert Boehringer. Bd. 1. München 42000. Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke [Frankfurter Ausgabe, FA]. Frankfurt 1985 ff. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik. Hg. v. Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel. 3 Bde. Frankfurt 1986. Martin Heidegger: Holzwege. Frankfurt 61980. Leonardo da Vinci: Sämtliche Gemälde und die Schriften zur Malerei. Hg. v. André Chastel. München 1990. - Theo Meyer (Hg.): Theorie des Naturalismus. Stuttgart 1973. - Karl Philipp Moritz: Die Signatur des Schönen [1788/89]. In: K. P. M.: Werke. Hg. v. Horst Günther. Bd. 2. Frankfurt 1981, S. 579-588. - Rainer Maria Rilke: Werke. Hg. v. Manfred Engel u. a. Bd. 4. Frankfurt 1996. - Friedrich Schiller: Kallias oder über die Schönheit. In: F. S.: Sämtliche Werke. Hg. v. Gerhard Fricke und Herbert G. Göpfert. Bd. 5. München 1959, S. 394-433. Friedrich Schlegel: Über das Studium der griechischen Poesie [1795-1797], Hg. v. Ernst Behler. Paderborn 1982. — Christian Thomasius: Welcher Gestalt man denen Frantzosen in gemeinem Leben und Wandel nachahmen solle? [1687] In: C. T.: Kleine deutsche Schriften. Hg. v. Julius Otto Opel [1894], Repr. Frankfurt 1983, S. 79-122.

ForschG: Neben verstreuten, meist autorenbezogenen Einzeluntersuchungen zum Problem des Schönen existiert eine auf das Schöne als literarästhetisches Problem gerichtete eigene Forschungstradition bislang höchstens in Ansätzen (Willems). Vielmehr dominieren seit den 1960er Jahren die modernen Vorbehalte gegenüber dem Begriff. So galt das Interesse bislang eher den ,nicht mehr schönen Künsten' (Jauß 1968), wie auch der Sammelband von Schmidt (1976) eher Skepsis hinsichtlich einer Rehabilitation des Schönen formuliert. Eine disziplinenübergreifende Bestandsaufnahme versuchen Kamper/Wulf (1989). Lit: Jan A. Aertsen u.a.: ,Schöne (das)'. In: HWbPh 8, Sp. 1343-1385. - Wolfgang Bender: Rhetorische Tradition und Ästhetik im 18. Jh. In: ZfdPh 99 (1980), S. 481-506. - Karl-Heinz Boh-

Schreiben rer: Plötzlichkeit. Zum Augenblick des ästhetischen Scheins [1981], Frankfurt 1998. - Alexandru Cizek: Das Bild von der idealen Schönheit in der lateinischen Dichtung des Frühmittelalters. In: MittellatJb 26 (1991), S. 5 - 3 5 . - Karl-Heinz Göttert: ,Anmut'. In: HWbRh 1, Sp. 610-632. Hans Robert Jauß: Ästhetische Normen und geschichtliche Reflexion in der .Querelle des Anciens et des Modernes'. In: Charles Perrault: Parallèle des anciens et des modernes en ce qui regarde les arts et les sciences [1688-1697], München 1964, S. 8 - 6 4 . - H. R. J. (Hg.): Die nicht mehr schönen Künste. München 1968. - Dietmar Kamper, Christoph Wulf (Hg.): Der Schein des Schönen. Göttingen 1989. - Ralf Konersmann: Die schöne Seele. In: Archiv für Begriffsgeschichte 36 (1993), S. 144-173. - Axel Kress: Wortgeschichtliches zu Inhalt und Umfeld von ,schön'. Bonn 1972. — Thomas Leinkauf: Der Begriff des Schönen im 15. und 16. Jh. In: Renaissance-Poetik. Hg. v. Heinrich F. Plett. Berlin, New York 1994, S. 5 3 - 7 4 . - Franz Norbert Mennemeier: Unendliche Fortschreitung und absolutes Gesetz. Das Schöne und das Häßliche in der Kunstauffassung des jungen F. Schlegel. In: Friedrich Schlegel und die Kunsttheorie seiner Zeit. Hg. v. Helmut Schanze. Darmstadt 1985, S. 342-369. - Mario Praz: Liebe, Tod und Teufel. Die schwarze Romantik. München 1970. — Siegfried J. Schmidt (Hg.): ,Schön'. Zur Diskussion eines umstrittenen Begriffs. München 1976. — Emil Staiger: Ein Briefwechsel mit Martin Heidegger. In: E. S.: Die Kunst der Interpretation. München 1971, S. 2 8 - 4 2 . - Theo Stemmler (Hg.): Schöne Männer - schöne Frauen. Literarische Schönheitsbeschreibungen. Tübingen 1988. - Karlheinz Stierle: Bemerkungen zur Geschichte des schönen Scheins. In: Kolloquium Kunst und Philosophie. Hg. v. Willi Oelmüller. Bd. 2. München, Paderborn 1982, S. 208-232. Gottfried Willems: Anschaulichkeit. Tübingen 1989. — Carsten Zelle: Die doppelte Ästhetik der Moderne. Revisionen des Schönen von Boileau bis Nietzsche. Stuttgart, Weimar 1995.

Joachim Jacob

Schöne Literatur ? Literatur

Schreiben Kulturtechnik, die Gedanken durch Schriftzeichen sichtbar macht; literarische Tätigkeit.

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Expl: Eine für unseren Kulturraum wichtige Grundvoraussetzung des Schreibens ist die / Alphabetisierung, doch die dabei eingeübte (1) psycho-motorische Technik des Aneinanderreihens von Buchstaben zu Wörtern und von Wörtern zu Sätzen mit Hilfe von Schreibwerkzeugen ist nur die engste Bedeutung des Nomen actionis. Bei der (2) Produktion von / Texten ist diese Technik eingebettet in einen größeren Handlungszusammenhang, der von der Konzeption bis zur Publikation reicht. Als Nomen acti bedeutet Schreiben (3) ein Schriftstück, vor allem einen Brief. Die literaturwissenschaftliche Verwendung des Begriffs ,Schreiben' betont das produktionsästhetische Moment des Arbeitsprozesses (s Produktionsästhetik), der vom Einfall, der Organisation, der Formulierung, der Aufzeichnung, der Überarbeitung und der Korrektur bis zur Veröffentlichung verschiedene Phasen umfaßt. Er dokumentiert sich in handschriftlichen oder typographischen Spuren wie Vorarbeiten (Exzerpten, Notizen und ? Fragmenten2, Plänen), Entwürfen, verschiedenen /* Fassungen, Arbeitshandschriften, Druckmanuskripten und Korrekturfahnen und kann in den vier rhetorischen Änderungskategorien des Hinzufügens, Streichens, Ersetzens und Umstellens systematisiert werden. Von den zu Gebote stehenden Schreibwerkzeugen, den Beschreibstoffen, den Schreibgewohnheiten, den Stimulantien und Surrogaten der Inspiration zur Überwindung der oft beklagten Schreibblockaden (Ott) bis hin zur sozialen Situation, zur biographischen Lebenslage und zum ästhetischen und politischen Selbstverständnis umfaßt das Schreiben eine Reihe von , Begleitumständen' (Johnson), aus denen sich bei jedem Schriftsteller, /" Autor oder / Dichter die sowohl historisch wie individuell letztlich singuläre ,Schreibszene' (Gasché, Campe) zusammensetzt. In diesem Sinn kann die Praxis des Schreibens nur historisch und philologisch im Einzelfall rekonstruiert werden. Gegenüber dem emphatischeren Dichten steht dabei der handwerkliche Aspekt der literarischen Tätigkeit im Vordergrund, der im Synonym Verfassen weniger deutlich zum Ausdruck kommt.

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Schreiben

Uwe Johnson: Begleitumstände. Frankfurt 1980.

WortG/BegrG: Im Ahd. bezeichnet scrîban (8. Jh.; von lat. scribere) — wie später mhd. schriben — das schriftliche Aufzeichnen, Anordnen und Verordnen (S Schrift). Als Bezeichnung der literarischen Tätigkeit haben lat. scribere und dictare (,wiederholt sagen', ,diktieren'), mhd. schriben und t ih ten (S Dichter, WortG) in der römischen Antike und im Mittelalter eine wechselhafte Geschichte: Bedeutete scribere dort den gesamten Prozeß der Abfassung eines Textes von der Idee bis zur Reinschrift, mit Ausnahme des oft vom Autor selbst vorgenommenen Diktats (S Schreiber), fangt t ih ten hier schließlich das schöpferische Moment auf, während schriben sich auf die Technik beschränkt (Kluge-Seebold 23 , 742; BMZ 2/ 2, 205-207; BMZ 3, 35f.; Georges 2, 2139 und 2541-2543; Walde 2, 499 f.). Dies ändert sich auch nicht, als beide Arbeitsvorgänge zusammenfallen. Die Entwicklung eines Systems von Abkürzungen und im 14. Jh. das Aufkommen der gotischen Kursive beschleunigen das Schreiben, ohne das Diktieren überflüssig zu machen. Als Spiegel der Entwicklung auktorialen Selbstbewußtseins setzt die Begriffsgeschichte des Schreibens erst in der literarischen /" Moderne ein und erreicht ihren frühen Höhepunkt im deutschsprachigen Raum bei Kafka: „Ich glaube, Du hast es nicht genug begriffen, daß Schreiben meine einzige innere Daseinsmöglichkeit ist" (am 20.4.1913 an Feiice Bauer). Diese Anverwandlung der Schriftsteller-Existenz an die literarische Tätigkeit ist Ausdruck der Intransivierung des Schreibens, das sich in der /* Avantgarde autoreferentiell auf sich selbst zu beziehen und die eigene Materialität und Performativität zu akzentuieren beginnt. Alois Walde: Lateinisches etymologisches Wb. 2 Bde. Heidelberg 3 1938, 1954.

SachG: Die Geschichte des Schreibens im engeren Sinn der Technik ist in bezug auf die /" Literatur vor allem aus zwei Perspektiven von Interesse. (1) Aus der Perspektive des Schreibunterrichts: So haben die pädagogischen Reformen im letzten Drittel des 18. Jhs. (vorschulische Alphabetisierung des Kindes durch das mütterliche Vorsprechen,

Ablösung der Buchstabier- durch die Lautiermethode, frühes Üben des Schreibens auf der Schiefertafel) auch weitreichende Konsequenzen für die Konzeption von Literatur und das Selbstverständnis der Autoren und Leser gehabt (Kittler, 9—179; Bosse 1978 und 1985; vgl. auch Kalligraphie,). (2) Aus der Perspektive einer Technikgeschichte der Schreibwerkzeuge: Wenn der von Nietzsche Ende Februar 1882 auf einer Schreibmaschine getippte Satz „unser Schreibzeug arbeitet mit an unseren Gedanken" (Nietzsche, 172) einen zutreffenden Sachverhalt formuliert, kann es nicht verwundern, daß Schriftsteller von allen technischen Veränderungen diejenigen am sensibelsten verzeichnen, die „Schrift/Druck/ Post" (Hiebel u.a., 29-279; vgl. auch /" Handschrift) betreffen, historisch allen voran die Mechanisierung des Schreibens durch den s Druck im 15. Jh., die Schreibmaschine am Ende des 19. Jhs. und die Digitalisierung des Schreibens durch den Computer im letzten Viertel des 20. Jhs. Friedrich Nietzsche: Sämtliche Briefe. Kritische Studienausgabe in 8 Bdn. Bd. 6. Hg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari. München u. a. 1986.

ForschG: Ein Interesse für das Schreiben im Sinne des konkreten Entstehungs- und Arbeitsprozesses als „dritte Dimension der Literatur" (Hay) ist erst gegen Ende der 1960er Jahre erwacht, geweckt durch den handschriftlichen Befund, daß der linear lesbare Text und seine oft chaotische, nicht linear erschließ- und darstellbare Hervorbringung sich folgenreich unterscheiden (Groddeck). Die editionsphilologischen Konsequenzen aus diesem Befund (Hurlebusch, Neumann; /" Textkritik) erforscht vor allem die französische Schule der .critique génétique' (Grésillon); ihr Begriff des Schreibens als Produktion ohne das Produkt, als Strukturierung ohne die Struktur ist Barthes' Begriff der Ecriture (s Lecture) verpflichtet. Wichtige, bibliographisch gut erschlossene Impulse (Ehlich u. a., Antos/Pogner) kamen und kommen aus der sprachwissenschaftlichen Schreibprozeß-Forschung (Krings, Ludwig, Ortner, Günther/Ludwig); literarische Schreibprozesse fügen sich aber nicht

Schreiber u m s t a n d s l o s d e m a u s der Kognitionspsychologie i m p o r t i e r t e n , a m S c h u l a u f s a t z orientierten ,Problemlösemodell' (Antos/Beetz), weil ihre Ziele, Z w e c k e u n d Mittel nicht verallgemeinerbar sind. Die historische Abhängigkeit des literarischen Schreibens v o m jeweiligen Stand der Medientechnik-Geschichte h a t im Anschluß a n M c L u h a n u n d O n g die poststrukturalistische Diskursanalyse (S Diskurstheorie) untersucht (Kittler, Siegert). Lit: Gerd Antos, Manfred Beetz: Die nachgespielte Partie. Vorschläge zu einer Theorie der literarischen Produktion. In: Analytische Literaturwissenschaft. Hg. v. Peter Finke und Siegfried J. Schmidt. Braunschweig, Wiesbaden 1984, S. 90-141. - G. Α., Karl-Heinz Pogner: Schreiben. Heidelberg 1995. - Roland Barthes: Variations sur l'écriture [1973]. In: R. Β.: Œuvres complètes. Bd. 2. Hg. v. Eric Marty. Paris 1994, S. 1535—1572. - Heinrich Bosse: Dichter kann man nicht bilden. Zur Veränderung der Schulrhetorik nach 1770. In: JbIG 10 (1978), S. 80-125. - H. B.: ,Die Schüler müßen selbst schreiben lernen' oder Die Einrichtung der Schiefertafel. In: Schreiben - Schreiben lernen. Hg. v. Dietrich Boueke und Norbert Hopster. Tübingen 1985, S. 164-199. - Rüdiger Campe: Die Schreibszene, Schreiben. In: Paradoxien, Dissonanzen, Zusammenbrüche. Hg. v. Hans Ulrich Gumbrecht und K. Ludwig Pfeiffer. Frankfurt 1991, S. 759-772. - Roger Chartier: Die Praktiken des Schreibens [1986]. In: Geschichte des privaten Lebens. Bd. 3. Hg. v. Philippe Ariès und R. C. Frankfurt 1991, S. 115-165. - Konrad Ehlich u. a. (Hg.): A bibliography on writing and written language. 3 Bde. Berlin, New York 1996. — Bernhard Fetz, Klaus Kastberger (Hg.): Der literarische Einfall. Über das Entstehen von Texten. Wien 1998. - Rodolphe Gasché: The scene of writing. In: Glyph 1 (1977), S. 150-171. - Paul Goetsch (Hg.): Lesen und Schreiben im 17. und 18. Jh. Tübingen 1994. - Almuth Grésillon: Eléments de critique génétique. Lire les manuscrits modernes. Paris 1994. - Wolfram Groddeck: Textgenese und Schriftverlauf. In: Im Zug der Schrift. Hg. v. Norbert Haas u.a. München 1994, S. 37-58. - Hartmut Günther, Otto Ludwig (Hg.): Schrift und Schriftlichkeit/Writing and its use. 2 Bde. Berlin, New York 1994. — Louis Hay: Die dritte Dimension der Literatur. Notizen zu einer .critique génétique'. In: Poetica 16 (1984), S. 307-323. - Hans H. Hiebel u. a.: Große Medienchronik. München 1999. - Klaus Hurlebusch: Deutungen literarischer Arbeitsweise. In: ZfdPh 105 (1986), Sonderh., S. 4 - 4 2 . - Fried-

389

rich A. Kittler: Aufschreibesysteme 1800/1900. München 1985. — Erich Kleinschmidt: Autorschaft. Tübingen, Basel 1998. - Detlef Kremer: Kafka. Die Erotik des Schreibens. Bodenheim 2 1998. - Hans P. Krings: Schwarze Spuren auf weißem Grund — Fragen, Methoden und Ergebnisse der Schreibprozeßforschung im Überblick. In: Textproduktion. Hg. v. H. P. K. und Gerd Antos. Trier 1992, S. 45-110. - Otto Ludwig: Geschichte des Schreibens. In: Günther/Ludwig 1994 1, S. 4 8 - 6 5 . - Marshall McLuhan: Die Gutenberg-Galaxis [1962], Bonn, Paris 1995. - Walter Müller-Seidel: Kafkas Begriff des Schreibens und die moderne Literatur. In: LiLi 68 (1987), S. 104-121. - Gerhard Neumann: Schreiben und Edieren. In: Literaturwissenschaft. Hg. v. Heinrich Bosse und Ursula Renner. Freiburg i. Br. 1999, S. 401-426. - Walter J. Ong: Oralität und Literalität [1982], Opladen 1987. - Hanspeter Ortner: Auf dem Weg zu einer realistischen Theorie des Schreibens. In: Methodenfragen der Geisteswissenschaften. Hg. v. Philip Herdina. Innsbruck 1992, S. 15-65. - Ulrich Ott (Hg.): Vom Schreiben. 4 Bde. Marbach 1994-1997. Bernhard Siegert: Relais. Geschicke der Literatur als Epoche der Post 1751-1913. Berlin 1993. Martin Stingelin: Kugeläußerungen. Nietzsches Spiel auf der Schreibmaschine. In: Materialität der Kommunikation. Hg. v. Hans Ulrich Gumbrecht und K. Ludwig Pfeiffer. Frankfurt 1988, S. 326—341. — M. S.: ,Unser Schreibzeug arbeitet mit an unseren Gedanken'. Die poetologische Reflexion der Schreibwerkzeuge bei Georg Christoph Lichtenberg und Friedrich Nietzsche. In: Lichtenberg-Jb. 1999, S. 81-98. - Klaus Weimar: Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft bis zum Ende des 19. Jhs. München 1989. Martin

Stingelin

Schreiber Verfertiger Sinn.

von

Schriftgut

im

weitesten

Expl: Vor E r f i n d u n g des B u c h d r u c k s u n d n o c h bis ins 16. Jh. w a r e n die Schreiber die alleinigen Vervielfältiger (KOPISTEN) v o n literarischem, wissenschaftlichem u n d Verw a l t u n g s s c h r i f t t u m aller Art. In nachmittelalterlicher Zeit wird einerseits ihr Arbeitsfeld eingeengt auf kunstvolle /" Kalligraphie] (Schreibmeister) o d e r die private A u f zeichnung, andererseits r ü c k t ihr Anteil a n der E n t s t e h u n g literarischer Werke deutli-

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Schreiber

cher in den Vordergrund. Unter den öffentlichen Aufgaben wurde nur der Kanzleiund Geschäftsbetrieb bis in die Neuzeit handschriftlich geführt (Stadt-, Kanzlei-, Gerichtsschreiber). WortG: Entlehnt aus lat. scriptor, bereits ahd. scribari, mhd. schribaere, schriber, schreiber. Die anfangliche Trennung zwischen ,Bücherschreiber' (scriptor, scriba, antiquarius, librarius) und .Urkundenschreiber' (notarius) verwischt sich in der Spätantike. Im Mittelalter werden, auch volkssprachig, die von scribere abgeleiteten Bezeichnungen üblich (/" Schreiben, Schrift). DWb 15, Sp. 1698-1700. - Wilhelm Wattenbach: Das Schriftwesen im Mittelalter [1871, 3 1896], Repr. Graz 1958, S. 416-428.

BegrG: In erster Linie Bezeichnung für jeden, der den Vorgang des Schreibens ausübt. Seit dem Mittelalter und bis in die Neuzeit hinein wird der Begriff außerdem auch als Amts- oder Berufsbezeichnung gebraucht, einerseits für niedere Angestellte z. B. bei Behörden oder Juristen (Gerichts-, Advokatenschreiber), andererseits für höhere und leitende Verwaltungsbeamte einer herrschaftlichen oder städtischen Kanzlei {notarius, cancellarius; Stadt-, Regierungs-, Staatsschreiber). Der biblische scriba der Vulgata erscheint in mittelalterlichen Bibelübersetzungen als schriber, schreiber, erst seit Luther als ,Schriftgelehrter'. Im späten 15. Jh. wird der Schreiblehrer vereinzelt als schreiber bezeichnet; , Schreiber' kann auch für den Autor, Schriftsteller stehen (Roman-, Verse-, Bücherschreiber). Als Bezeichnung für den (nach Diktat schreibenden) Mitarbeiter eines Schriftstellers wird das Wort vom 16. Jh. an durch Sekretär (dt. seit dem 15. Jh.; ursprünglich: ,Vertrauter', ,Geheimer Rat') verdrängt. DWb 15, Sp. 1698-1700; 16, Sp. 405 f.

SachG: Gegenüber den antiken gewerblichen Buchkopisten waren die Schreiber im frühen und hohen Mittelalter fast ausschließlich Ordens- oder Weltgeistliche, ein Skriptorium fehlte in keinem der bedeutenderen Klöster. Bis zur Mitte des 12. Jhs. lag auch die innerhalb des lateinischen Schrift-

wesens spärliche Aufzeichnung deutscher Texte meist in klerikaler Hand. Erst im 13. Jh. sind vereinzelt Schreiber, zunächst wohl ebenfalls Kleriker, in den Kanzleien weltlicher Herren nachweisbar, die in deren Auftrag Handschriften deutscher höfischer und Fachliteratur kopierten. Im Spätmittelalter, vor allem nach Durchführung der Ordensreformen, stieg die Schriftproduktion deutlich an, in den Windesheimer und Bursfelder Reformkonventen wurde noch bis um 1500 geschrieben; ebenso wurde in vielen Frauenklöstern deutsche Erbauungsliteratur für den Eigenbedarf kopiert. Daß in Klöstern Handschriften für laikale Auftraggeber angefertigt wurden, ist mit Ausnahme der niederländischen und nordwestdeutschen ,Brüder vom gemeinsamen Leben' kaum zu belegen, vielmehr ließen im 15. Jh. viele Konvente Standardwerke von weltlichen Berufsschreibern kopieren. Mit dem Aufkommen der Universitäten und der stark zunehmenden Buchproduktion mehrte sich der Stand der laikalen Berufsschreiber. Schreiberwerkstätten lassen sich seit dem 13. Jh. aus ihrer Produktion erschließen, namentlich faßbar ist bisher nur die Werkstatt des Diebold Lauber in Hagenau, die zwischen 1425 und 1467 deutsche Handschriften gewerbsmäßig zum Verkauf produzierte. Die bürgerlichen Lohnschreiber in den deutschen Städten des 15. Jhs. waren selten ausschließlich Bücherschreiber, sondern meist gleichzeitig im Kanzlei- und Verwaltungs-Schreibbetrieb beschäftigt, oder sie fertigten als ,Stuhlschreiber' (kathedrales) gewerbsmäßig neben Handschriften auch ^ Briefe und geschäftliche Schriftstücke (/" Formularbuch, Urkunde) für Illiteraten an. Mit zunehmender Verbreitung von Schreib- und Lesefahigkeit in weiteren Kreisen betätigten sich auch Privatpersonen als Amateur-Bücherschreiber. Zu Ende des 15. Jhs. wechselten manche Schreiber in den Druckerberuf über. Schreiber nennen ihre Namen in den Handschriften anfangs selten, im Spätmittelalter häufiger; im s Kolophon geben sie, neben gebräuchlichen formelhaften Schreiberversen, gelegentlich zusätzliche Informationen über Entstehungszeit, -ort oder auch

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Schreibweise2 Auftraggeber der Handschrift. Die sprachliche Modernisierung und Veränderung der regionalen Schreibsprachen ist Werk der Schreiber. Auf die Schreiber gehen auch bestimmte Textvarianten in der Überlieferung zurück (/" Lesart). Fehler und Lücken entstehen durch Verlesen der Vorlage; literarisch gewandte Schreiber verändern den Text und stellen redigierte Fassungen her. Besonders im Mittelalter wird so die Grenze zum Autor fließend, aber auch in der Neuzeit nahmen Schreiber (zumeist in der Rolle von Sekretären) Einfluß auf die Gestalt literarischer Werke (ζ. B. Riemer und Eckermann bei Goethe u.a.). Doch werden seit der Frühen Neuzeit in der Regel mit , Schreiber' subalterne Tätigkeiten des Niederschreibens von Texten assoziiert. Die Berufsgruppen, die Schreiber im Titel tragen, werden dagegen meist nicht mehr mit dem manuellen Vorgang in Verbindung gebracht. ForschG: Die Paläographie konzentrierte sich zunächst vor allem auf die früh- und hochmittelalterlichen Schriften und deren namentlich bekannte monastische Kalligraphen. In jüngerer Zeit richtet sich das Interesse auf Überlieferungs- und Rezeptionsgeschichte und damit verstärkt auch auf die spätmittelalterlichen Schreiber. Schreibernamen und -verse wurden von den Benediktinern von Bouveret gesammelt und werden auch mit der fortschreitenden Handschriften-Erschließung weiter erfaßt. Auf die literarische Bedeutung der Schreiber fallt neues Licht durch die Überlegungen zum Status von ? Autor und >" Werk. Lit: Bernhard Bischoff: Paläographie des römischen Altertums und des abendländischen Mittelalters. Berlin 2 1986, S. 5 9 - 6 9 , 248-309. - Colophons de manuscrits occidentaux des origines au XVI e siècle. 6 Bde. Hg. ν. den Bénédictins du Bouveret. Freiburg/Schweiz 1965-1982. - Fridolin Dressler: Schreibermönche am Werk. In: F.D.: Scriptorum opus. Wiesbaden 1971, S. 5 14. - Otto Mazal: Lehrbuch der Handschriftenkunde. Wiesbaden 1986, S. 7 2 - 7 9 , 277 f. - Wolfgang Oeser: Die Brüder vom gemeinsamen Leben als Bücherschreiber. In: AGB 5 (1964), Sp. 197-216. - Joachim Prochno: Das Schreiber· und Dedikationsbild in der deutschen Buchmalerei. Bd. 1: Bis zum Ende des ll.Jhs. (800-1100). Leipzig, Berlin 1929. - Ludwig

Rockinger: Zum baierischen Schriftwesen im Mittelalter. Bd. 2. München 1874, S. 3 - 2 4 . Paul Gerhard Schmidt: Probleme der Schreiber - Der Schreiber als Problem. Stuttgart 1994. Karin Schneider: Berufs- und Amateurschreiber. In: Literarisches Leben in Augsburg während des 15. Jhs. Hg. v. Johannes Janota und Werner Williams-Krapp. Tübingen 1995, S. 8 - 2 6 .

Karin Schneider

Schreibfähigkeit

Alphabetisierung

Schreibweisei S Lecture

Schreibweise2 Invarianten der Textkonstitution wie das Narrative, das Dramatische, das Satirische, das Komische usw. Expl: Der Terminus technicus Schreibweise bezeichnet eine — historische Textgruppen oder ,Familien' (wie s Genres) übergreifende — gruppenbildende Struktur, die das Gemeinsame an sonst unterschiedlichen historischen Gattungen meint: epischer Gattungen wie ? Novelle, ? Roman, Versepik (/" Epos); s dramatischer wie ^ Komödie, / Tragödie, / Performance; f komischer wie wiederum Komödie oder auch komischer Roman, ^ Komisches Epos, Burleske (y Humoreske). Ahnlich wie der Begriff der Textsorte ist Schreibweise2 terminologisch somit zunächst als (relative oder absolute) transhistorische Invariante konstruiert. Primäre Schreibweisen wie ,das Narrative' oder ,das Dramatische' basieren dabei unmittelbar auf spezifischen Typen von Sprech- bzw. Kommunikations-Situationen (Redekonstellationen, ? Kontext); sekundäre Schreibweisen wie ,das Komische', ,das Satirische' (/" Satire), ,das Parodistische' (s Parodie) sind hiervon unabhängig und können primäre überlagern. WortG: Schreibweise ist in dieser Verwendung (zuvor nur als .Schreibung' eines Wortes oder — im Sinne von Schreibweise¡, s Lecture — als ,Art und Weise des schriftlichen Ausdrucks'; Paul-Henne, 766; Brock-

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Schreibweise2

haus-Wahrig 5, 640) ein Terminus technicus der / Gattungstheorie, von Hempfer 1972/ 1973 als formierter Prädikator' zur Unterscheidung transhistorischer Invarianten von historischen Textgruppen im Anschluß an den ζ. B. in Gaier 1967 verwendeten historischen Terminus Schreibart eingeführt und — ζ. T. mit begrifflichen Modifikationen — aufgenommen ζ. B. von Verweyen/Witting, Teuber, Lamping, Warning, Zymner, Fricke 2000, Steen u. a. Brockhaus-Wahrig: Deutsches Wb. in 6 Bdn. Stuttgart 1982.

BegrG/ForschG: Die Unterscheidbarkeit der zwei primären Schreibweisen dramatisch' und ,narrativ' ist bereits im Platonischen und Aristotelischen Redekriterium (/" Gattung) impliziert (während dies für mögliche Vorformen von .lyrisch' umstritten ist; vgl. /" Lyrik, anders Behrens sowie Hempfer 1973, 156-158). Doch wird bei Aristoteles (vgl. v. a. ,Poetik' 1448a) keine Unterscheidung zwischen historischen und transhistorischen Begriffen vorgenommen; das Redekriterium fungiert vielmehr als eines der Merkmale zur Differenzierung von Einzelgattungen, die teilweise klassifikatorisch zu Sammelbegriffen zusammengefaßt und in der späteren, auf der Antike beruhenden Regelpoetik von der Renaissance bis zum ausgehenden 18. Jh. (/" Gattung) als durch Musterautoren fixierte überzeitliche Invarianten begriffen werden. Auch in den verschiedenen ? Querelles des anciens et des modernes seit dem ,romanzo'-Streit im Italien des 16. Jhs. kommt es zu keiner Historisierung der Gattungsbegriffe; es werden nur die Normbildungs-Instanzen ausgetauscht bzw. neue Gattungen mit neuen Musterautoren zugelassen. Erst mit Goethes Unterscheidung der drei „Naturformen" Epos, Lyrik und Drama als universalen Formprinzipien gegenüber den „Dichtarten" als unter bestimmten geschichtlichen Gegebenheiten sich ausprägenden Formen (FA I. 3, 206-208) wird eine Differenzierung von transhistorischen Invarianten und historischen Variablen konzipiert. Dabei führt freilich die weitergehende Festlegung, daß es „nur drey ächte Naturformen der Poesie" gebe (ebd.), zur

Etablierung einer normativen Trias — besonders im deutschsprachigen Raum. Bis in die 2. Hälfte des 20. Jhs. dominiert dabei eine ontologisch ,begriffsrealistische' und ästhetisch normierende Bestimmung der transhistorischen Invarianten, die in letzter Konsequenz in E. Staigers fundamentalontologische Reformulierung der Goetheschen Trias mündet. Daneben konzipieren bereits Jolies (y Einfache Formen) und die ,Morphologische Poetik' (G. Müller, E. Lämmert) Modelle der deskriptiven Vermittlung von überzeitlichen Prinzipien und deren je historischer Aktualisierung. Die eigentliche Gegenreaktion gegen die spekulative Poetik setzt in den 1960er und 1970er Jahren mit zwei unterschiedlichen Tendenzen ein: zum einen an ? Sozialgeschichte und/oder /" Hermeneutik2 orientierte Ansätze, die die Annahme transhistorischer Invarianten grundsätzlich negieren; und zum anderen unterschiedlich ausgerichtete Ansätze im Umfeld des Strukturalismus, die sowohl die Konstruktion transhistorischer Invarianten verfolgen wie Vermittlungsmodelle von Invarianten und Variablen entwickeln (/* Diachronie). Das stärkste Argument für die durchaus unterschiedlich theoretisierte Annahme solcher überzeitlichen Invarianten ist dabei die Tatsache, daß rein historisch orientierte Ansätze implizit auf systematische Kategorien rekurrieren, wenn sie etwa erzählende von dramatischen Gattungen unterscheiden oder Komik nicht nur in der Komödie suchen und finden. Auf dieser Linie definiert Hempfer 1972 und 1973 .Schreibweise' eindeutig als systematischen Begriff, dem der historische der .Gattung' gegenübergestellt wird. Die notwendige Vermittlung beider leistet er im Rahmen des dynamischen Strukturbegriffs Piagets (näher dazu Hempfer 1973, 139—142). Die Schreibweisen werden dabei als invariante Relationen zwischen variablen Elementen verstanden. Das Modell setzt weder voraus, daß Gattungen stets auf Schreibweisen zurückgeführt werden können, noch daß sich historische Gattungen mittels logischer Deduktion aus den Schreibweisen ableiten lassen (dies ein zentraler Einwand von Warning 1976). Viel-

Schrift mehr sind die Ausführungen in Hempfer 1973 dahingehend zu präzisieren, daß Gattungen auf einer oder mehreren Schreibweisen basieren können (wie die Komödie), dies aber nicht müssen (wie das Sonett und alle metrisch bestimmten Gattungen). Wenn historische Gattungen nicht notwendig auf für sie spezifischen Schreibweisen beruhen, dann sind sie auch nicht generell als historische Transformationen von Schreibweisen zu definieren. Umgekehrt gilt, daß Transformationen der Schreibweisen sich notwendig in Gattungen als historischen Diskurstraditionen realisieren. Andere Positionen haben demgegenüber die mögliche historische Bedingtheit auch von Schreibweisen stärker betont. In expliziter Ergänzung der goethezeitlichen Trias konzipierte schon Gaier 1967 die „Schreibart" der Satire, wobei er nunmehr in den Begriff der Schreibart selbst „eine Zweigliederung [···] nach unhistorisch konstanten und historisch variablen Gesichtspunkten" (Gaier, 422) einführt. In Fortführung und Ausdifferenzierung von Hempfers Konzept haben später Lamping (1990, 18—24) wie Zymner (1995, 59—85) vorgeschlagen, .Systematische Schreibweisen' (ζ. B. Manierismus') und .Historische Schreibweisen' (ζ. B. ,Preziosität' im frz. 16./17. Jh.) zu unterscheiden. Im Anschluß daran faßt dann Fricke (2000, 37—42) diese Zweipoligkeit, analog zu seiner Differenzierung zwischen systematischer Textsorte und historischem Genre (Fricke 1981, 132-146), terminologisch als Abstufung von überzeitlichen Schreibweisen und deren historisch-sozialer Institutionalisierung zu ,Schreibgenres' und erweitert den Anwendungsbereich von Hempfers Konzept über die Literatur hinaus als ,Gestaltungsweisen' bzw. historische ,Gestaltungs-Genres' auf andere Künste. In ähnlich erweiterndem Sinne haben Verweyen/Witting (1987, 126-137) für einzelne medienübergreifende Schreibweisen wie die Kontrafaktur den Terminus Verfahren vorgeschlagen (zu methodisch-terminologischen Problemen dabei erhellend Witting 1989). Innerhalb der traditionellen Grenzen literaturwissenschaftlicher Forschung ist die Untersuchung universaler Bedingungen am weitesten in der Erzählfor-

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schung gediehen, wobei eine Entsprechung zwischen der allmählichen Genese logischer und narrativer Strukturen beim Kind nachgewiesen werden konnte (Maranda/Maranda). Lit: Irene Behrens: Die Lehre von der Einteilung der Dichtkunst vornehmlich vom 16. bis 19. Jh. Halle 1940. — Harald Fricke: Norm und Abweichung. Eine Philosophie der Literatur. München 1981. - H. F.: Gesetz und Freiheit. Eine Philosophie der Kunst. München 2000. - Ulrich Gaier: Satire. Studien zu Neidhart, Wittenwiler, Brant und zur satirischen Schreibart. Tübingen 1967. Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke [Frankfurter Ausgabe, FA]. Frankfurt 1985 ff. Klaus W. Hempfer: Tendenz und Ästhetik. München 1972. - K. W. H.: Gattungstheorie. München 1973. - André Jolies: Einfache Formen [1930], Repr. Darmstadt 1969. - Eberhard Lämmert: Bauformen des Erzählens. Stuttgart 1955, 8 1993. — Dieter Lamping: Probleme der neueren Gattungstheorie. In: Gattungstheorie und Gattungsgeschichte. Hg. v. D. L. und Dietrich Weber. Wuppertal 1990, S. 9 - 4 3 . - Elli Köngäs Maranda, Pierre Maranda: Structural models in folklore and transformational essays. Den Haag 1971. - Günther Müller: Morphologische Poetik. Darmstadt 1968. - Emil Staiger: Grundbegriffe der Poetik. Zürich 1946. - Inken Steen: Parodie und parodistische Schreibweise in Thomas Manns ,Doktor Faustus'. Tübingen 2001. Bernhard Teuber: Sprache — Körper — Traum. Tübingen 1989, bes. S. II f. - Theodor Verweyen, Gunther Witting: Die Parodie in der neueren deutschen Literatur. Darmstadt 1979. Th.V., G. W.: Die Kontrafaktur. Konstanz 1987. — Rainer Warning: Elemente einer Pragmasemiotik der Komödie. In: Das Komische. Hg. v. Wolfgang Preisendanz und R. W. München 1976, S. 279-333. - Gunther Witting: Über einige Schwierigkeiten beim Isolieren einer Schreibweise. In: Zur Terminologie der Literaturwissenschaft. Hg. v. Christian Wagenknecht. Stuttgart 1989, S. 274-288. - Rüdiger Zymner: Manierismus. Paderborn u.a. 1995. Klaus W.

Hempfer

Schrift Konservierende Form der Repräsentation von Sachverhalten, insbesondere von gesprochener Sprache.

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Schrift

Expl: Anders als in den meisten anderen Sprachen bezeichnet das deutsche Wort Schrift zugleich das Produkt und die Technik des Schreibens. Schrift bedeutet sowohl etwas Geschriebenes (wie frz. écrit, engl. writing, scripture) als auch das Schreiben, und zwar im Sinne verschiedener f Codes zur visuellen Repräsentation von Bewußtseinsinhalten, gesprochener Sprache, Handlungen, Musik und abstrakten Kalkülen (frz. écriture, engl, script). Schrift-Codes umfassen neben den unterschiedlichen Sprach-Schriften (hebräisch, griechisch, lateinisch usw.) also auch Bild-Schriften, musikalische, choreographische, filmische Partituren, Diagramme sowie logische und mathematische Zeichen. Schrift ist eine Universalie menschlicher Kultur. In ihrer Geschichte haben sich Schriftsysteme wiederholt fundamental verändert. Die Geschichte der Schrift läßt sich in drei Phasen einteilen. Zur ersten Phase gehören Begriffs- und Bildschriften, die den Gedächtniskulturen (s Memoria) als Notationssysteme dienten, zur zweiten die Wort-, Silben- und Alphabetschriften der sog. Schriftkulturen und zur dritten die technische Digitalschrift des elektronischen Zeitalters, die neben Sprache auch Bild und Ton kodiert. Mit den Systemen haben sich auch die Träger von Schrift grundlegend verändert: von den Petroglyphen (Felszeichnungen) der afrikanischen und indianischen Nomaden über Steininschriften, Papyrusrollen, Kodizes, Manuskripte, Bücher bis hin zu Disketten und CD-ROMs. Schrift hat die Geschichte der Menschen begleitet, deren Denk-, Handlungs- und Ausdrucksvermögen gestützt, geformt, erweitert. Ein markantes Beispiel für die kreativen, konstruktiven und evolutiven Möglichkeiten der Schrift ist die Noten-Schrift, deren Einführung den Sonderweg der abendländischen Musikgeschichte begründet hat. Im Medium der Schrift kann Sprache in Einheiten von ungeahnter Komplexität kommuniziert werden, die ihre Bezogenheit auf das menschliche Gedächtnis überschreitet und außer Kraft setzt. Es ist ein Merkmal der Schrift, daß sie mehr Wissen speichern kann, als aktuell gebraucht wird. Ein Teil dieses nicht mehr genutzten Wis-

sens, das seine Relevanz und Lebensdienlichkeit verloren hat, wird in Archiven gespeichert. Dieses Wissen bildet ein .Speichergedächtnis', das den Hintergrund des ,Funktionsgedächtnisses' und die Bedingung seiner Kritik und Erneuerung darstellt (A. Assmann). Aus seiner Latenz, in der es sich dank seiner Materialisierung und Konservierung erhält, kann es wieder reaktiviert werden. Kulturelle Renaissancen, in denen Texte und Autoren nach einer Zwischenzeit des Vergessens wiederentdeckt werden, sind nur in Schrift-Kulturen möglich. Wie in der Sprache öffnet sich im Schriftzeichen der Spalt zwischen einem Zeichenträger und seiner Bedeutung, zwischen Signifikanten und Signifikat (s Zeichen). Während aber in der gesprochenen Sprache die Zeichenträger, die Laute, gleich wieder verfliegen, nehmen sie in der Schrift eine dauerhafte Gestalt an. Die Schrift kodiert lediglich Lautzeichen, Worte, deren Bedeutungen lesend hinzugefügt werden müssen. Während die Verständigung in einer Faceto-face-Interaktion auf vielfaltige Weise kontextuell gestützt ist, kann das Verstehen einer zeitlich und kulturell fernen Signifikantenkette zum Problem werden. Erst unter den Bedingungen schriftlicher Texte kommt ein Bedürfnis nach Techniken der Erhaltung von Lesbarkeit auf. Indem die Schrift die Sprache vom lebendigen Körper abtrennt, verleiht sie ihm eine künstliche Stimme, die ihn zeitlich überdauern kann. Schrift ist ,exkarnierte Rede' (A. Assmann). In Schriftkulturen können privilegierte einzelne von der Möglichkeit Gebrauch machen, sich im Medium ihrer eigenen Schriften zu verewigen. Mit der Erfindung der Schrift geht deshalb die Utopie der Unsterblichkeit einher und der Wunsch, im Gedächtnis der Nachwelt einen Platz zu behalten. Die Schrift macht nicht nur den Autor unsterblich, sondern auch den Helden, über den er schreibt. So ist Achill durch Homer, Aeneas durch Vergil, Beatrice durch Dante und Laura durch Petrarca unsterblich geworden. Schrift erlaubt die Rekonstruktion vergangener Lebenswelten. Sie fundiert ein kulturelles Gedächtnis, in dessen Rahmen Schreibende und Lesende über Jahrtau-

Schrift sende hinweg sich als Teilnehmer an einem ,Geistergespräch' fühlen können. WortG: Schrift ist Substantiv-Abstraktum zu schreiben, das in ahd. Zeit aus lat. scribere entlehnt wurde (ahd. s criban, mhd. schrîben; Kluge-Seebold 23 , 742). Ahd. scrift bedeutet „Schrift, Zeichen, Buchstabe, Aufzeichnung, geschriebenes Gesetz" (Schützeichel, 259) und die Bibel als ,Heilige Schrift'. Mhd. schrift kann darüber hinaus auch .Inschrift', (schriftliche) f Quelle2, (literarisches) ? Werk oder ,Buch' meinen und deckt damit bereits weite Teile des heutigen Bedeutungsspektrums ab. Im typographischen Sinne (unterschiedliche ,Schrifttypen') und im Sinne je kulturell unterschiedlicher Aufzeichnungssysteme (z. B. griechische vs. lateinische Schrift) ist das Wort erst frnhd. belegt (DWb 15, 1736-1741). Rudolf Schützeichel: Althochdeutsches Wb. Tübingen 51995.

BegrG: Die kulturelle Bedeutung der Schrift ist bereits von Piaton diskutiert worden (,Phaidros' 274-276). Gegen die Behauptung des Theut, seine Erfindung der Buchstaben sei ein Heilmittel für das Gedächtnis, wendet der ägyptische König Thammus ein, daß Schrift im Gegenteil das Gedächtnis zerstöre: (1) aufgrund des Autoritätsverlusts gegenüber dem gesprochenen Wort und der Streuung in alle Welt sowie (2) aufgrund der Fixierung und Externalisierung, die das Wissen der lebendigen Kommunikation entziehe. Sie sei deshalb kein zuverlässiger Wissensspeicher, sie ermögliche nur eine Schein-Kommunikation, die das Wesentliche, die lebendige Wahrheit, verfehle. Gegenüber der Aufzeichnung von Sprache als primärem Zeichensystem, das anzeigt, was in der Seele ist (Aristoteles, ,De interpretatione' 1,16a), wurde ,Schrift' in der abendländischen Tradition als ein sekundäres Kommunikationsmedium verstanden, das aufzeichnet, was in der Sprache ist. Wenn man Sprache und Schrift auf diese Weise als (1) Artikulation und (2) Transkription von etwas je Vorgängigem definiert, entsteht notwendig ein Verhältnis von Ableitungen, die sich von diesem imagi-

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nären Ursprung immer weiter entfernen. Das gebrochene Verhältnis der Philosophie des Abendlands zur Repräsentation resultiert aus dieser Kluft zwischen Ursprung und Darstellung, die mit immer neuen wertenden Dichotomien wie »Innerlichkeit und Äußerlichkeit', ,Wahrheit und Verstellung', ,Leben und Erstarrung', ,Authentizität und Konvention' einherging. Unter solchen kulturellen Voraussetzungen wurde .Schrift' in der westlichen Philosophie zum negativen Gegenpol eines positiven Werts. Dies steht in Widerspruch zur beispiellosen Erfolgsgeschichte der Schrift als einer Produktivkraft des Geistes. Derrida (1967) hat in seiner /• Grammatologie die verborgene Metaphysik der Schriftkritik von Piaton bis Rousseau und Saussure herausgearbeitet. Schrift ist in dieser Tradition der Inbegriff des Supplementären und muß stets erneut als Gegenpol eines Wertes wie .Wahrheit', ,Leben' oder ,Präsenz' herhalten. In Auseinandersetzung mit diesem abendländischen ,Logo-Phonozentrismus', der sich an der Aura des lebendigen und selbstpräsenten Wortes orientiert, entwikkelte Derrida seine möglicherweise auf Impulse jüdischer Schrifttheologie zurückgehende Philosophie der Schrift. Seine These ist, daß .Schrift' (.écriture') jeglicher Artikulation immer schon vorausliegt und allererst den Spielraum öffnet, der menschliche Zeichen, Bewußtsein und Gedächtnis möglich macht. Dabei verbindet sich der Begriff der Schrift mit dem der ,Spur'. Die Priorität der ,Spur' als einer immer schon vorfindlichen Prägung durchkreuzt das Phantasma eines reinen und absoluten Ursprungs. Eine ähnliche Einschätzung der Schrift als eines der Sprache nicht nur gleichrangigen, sondern vorgeordneten Ausdrucks- und Erkenntnismediums vertrat bereits Vico (vgl. Trabant). SachG: Schrifttypen: Schon aus der Vorgeschichte sind stark symbolisierende, piktographische Repräsentationen von Gegenständen und Sachverhalten überliefert (Höhlenmalereien etc.). Die eigentliche Geschichte der Schrift beginnt um 3300 v. Chr. mit der Keilschrift der Sumerer und Akkader. Symbole für Zahlen, Worte und Silben wurden mit einem Griffel in feuchten Ton

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Schrift

geritzt. Zunächst diente die Schrift ausschließlich zur mnemotechnischen Entlastung des Gedächtnisses in Verwaltung und Handel und hatte kaum Bezug zur gesprochenen Sprache. Erst allmählich wurden neue Schriftzeichen und eine spezifische räumliche Organisation der Notation auf dem Schriftträger entwickelt, die auch das Vorlesen von Texten erlaubten; schließlich wurden auch religiöse und literarische Texte in Keilschrift festgehalten. Etwa um 3000 v. Chr. erscheinen bei den Ägyptern die ersten Aufzeichnungen von Namen und Listen. Aus den ? Hieroglyphen, einer Bilderschrift, die Worte und Silben repräsentierte und für steinerne Inschriften der ägyptischen Gedächtniskultur verwendet wurde, entwickelte sich für den alltäglichen Gebrauch die hieratische Schrift, in der die Zeichen ihren Bildcharakter verloren. Sie wurde mit Tinte auf Papyrusrollen notiert. Zeilenschreibung löste die ursprüngliche Anordnung der Zeichen in Kolumnen (von oben nach unten) ab. Angeregt von der ägyptischen und der akkadischen Schrift entwickelten die Phönizier eine Alphabetschrift, die nur Konsonanten notierte. Spätestens im 8. Jh. v. Chr. übernahmen diese die Griechen und paßten sie den Erfordernissen ihrer Sprache an (Zuordnung nicht benötigter Konsonantenzeichen zu Vokalen, neue Zeichen für spezifisch griechische Konsonanten, Schreibung von links nach rechts). Seit dem 7. Jh. v. Chr. entwickelte sich hieraus bei den Römern die lateinische Schrift, die zur Grundlage der heute in der westlichen Welt verwendeten Schriften wurde. Die in ihr sich ausbildende Differenzierung zwischen Buchschrift und handschriftlicher Kursive wurde für das europäische Schriftsystem maßgeblich. Die Kapitalis, eine Majuskelschrift, ist die Basis der heutigen Antiqua-Großbuchstaben; die römische Kursivschrift lebt, vermittelt über die karolingische Minuskel, in den heutigen AntiquaKleinbuchstaben fort. Die hoch- und spätmittelalterlichen Buchschriften sind aus der karolingischen Minuskel abgeleitet. Aus der zunächst als Prunk- und Auszeichnungsschrift (y Kalligraphie¡) verwendeten Buchschrift entstand die in Deutschland bis zur

Mitte des 20. Jhs. gebräuchliche Fraktur, auf der auch die deutsche Schreibschrift beruhte. Der /" Humanismus2 glaubte in der karolingischen Minuskel die klassische römische Schrift wiederzuentdecken. Sie wurde als Antiqua die gebräuchlichste Druckschrift, aus der sich die in der westlichen Welt üblichen Kursiven ableiten (weiteres s. /" Beschreibstoff, ? Paläographie, Typographie, s Schreiber, f Schreiben). Auch RUNEN basieren vermutlich auf der lateinischen Schrift oder anderen Alphabeten des Mittelmeerraums. Vom 2. bis ins 14. Jh. n. Chr wurden sie in germanischen Ländern für knappe Inschriften auf Knochen, Holz, Metall oder Steinmonumenten gebraucht, standen dabei aber nie im Dienste einer umfassenden Schriftkultur. Kulturgeschichte: Die Geschichte der Schrift ist kaum alleine in ihren materiellen Ausprägungen zu fassen. Von zentraler Bedeutung sind die kulturellen Implikationen des Schriftgebrauchs: (1) Schrift und Gedächtnis: Die Entwicklung der Schrift griff grundlegend in die Ökonomie der Überlieferung und ? Tradition ein. In schriftlosen Gesellschaften konnte nur soviel Wissen gespeichert werden, wie von der Gruppe gebraucht und tradiert wurde. Notationssysteme standen hier im Dienste eines Gedächtnisses, das Identität, Kontinuität und Zusammenhang der Gruppe stützte. Beispiele für solche ,Gedächtnisschriften' sind die Knotenschnüre, die den Gedächtnisvirtuosen der Inkas für ihre Genealogien als Memorierhilfe dienten, sowie die ,song-lines', die für die australischen Ureinwohner den ,Text' ihrer Stammesmythen in der Landschaft lesbar machten. Der für Gedächtniskulturen charakteristische Zustand der Homöostase', des beständigen Ausgleichs zwischen Speicherkapazität und Gebrauchsfunktion des Gedächtnisses wurde durch die Schrift zerstört, die auch Neues aufzeichnet und nicht mehr Gebrauchtes konserviert. Mit der Verwendung der Schrift für die Zwecke des kulturellen Gedächtnisses änderte sich deshalb dessen Organisationsform; die zuvor in Formen ritueller Wiederholung und festlicher, multimedialer Inszenierung periodisch erneuerte Uberlieferung wich einer

Schrift abstrakten, unsinnlichen Kodifizierung in .schwarz auf weiß'. Was durch periodische Wiederholung gesichert worden war, wurde durch den Akt der .Verschriftlichung' (P. Koch/W. Oesterreicher) in die Sicherungsform der materiellen Dauer überführt. Argumenten, wie sie Piatons Schrift-Kritik enthält, wurde von vielen Kulturen Rechnung getragen, indem sie der Evolutionsdynamik der Schrift verschiedene Institutionen der Mündlichkeit und des Gedächtnisses entgegensetzten. Solche halbierten' Schrift-Kulturen stellen eine enge Allianz zwischen Schrift und Gedächtnis her. Durch Verschriftlichung des heiligen Textes der Thora ζ. B. konnte im Judentum der Traditionsbruch der babylonischen Gefangenschaft und jedes weiteren Exils überbrückt werden. Die Schließung, Fixierung und Materialisierung der schriftlichen Thora wurde jedoch durch regelmäßige Rezitation, Memorierung und vor allem die Öffnung ihres Sinns in Gestalt einer .mündlichen Thora' beantwortet, die sich erst im offenen zeitlichen Verlauf ihrer mündlichen Deutungsgeschichte erschließt. Dieses Beispiel zeigt, daß sich schriftliche Bewahrung und mündliche Erneuerung der Tradition keineswegs ausschließen müssen. Im Christentum gibt es ähnliche Beispiele für eine Koppelung von Schrift und Gedächtnis, etwa im katholischen Begriff der Tradition als Autoritätssicherung durch eine Tradentenkette, die durch mündliche Überlieferung verbunden ist. Solange ,Wissen' mit,Auswendigwissen' gleichgesetzt wird und der kulturelle Wert des Gedächtnisses unumstritten ist, bleibt die Verwendung von Schrift dem Gedächtnis untergeordnet. (2) Schrift und Archiv: Erst mit dem Eintritt ins Zeitalter des ? Drucks entstand in Europa eine ,vollständige' Schrift-Kultur, in der an die Stelle der Allianz zwischen Schrift und Gedächtnis ein Verhältnis der Rivalität und Verdrängung trat. Gleichzeitig mit dem enormen Anwachsen der Speicherkapazität durch die neue Technologie des Buchdrucks kam es zu einer kritischen Revision des Wissens und einer Umstellung der Kultur auf Innovation. Begleitet wurde diese Entwicklung durch einen kulturellen Relevanzverlust des Gedächtnisses (Wein-

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rich, 58—105), dem überbietende Gegenbegriffe wie ,Geist' oder ,Vernunft' gegenübergestellt wurden. Es entstanden die historischen Wissenschaften, die eine Fülle an nicht mehr unmittelbar brauchbaren und verarbeitbaren Informationen generierten und archivierten. Angesichts dieser Entwicklung konstatierte Nietzsche 1874 einen Dammbruch durch Überflutung mit .antiquarischem' Wissen und in deren Folge eine schwere Krise des kulturellen Gedächtnisses (,Unzeitgemäße Betrachtungen', 2. Stück). Wenig später sprach G. Simmel angesichts eines „ins Unabsehbare wachsende[n] Vorrats] des objektivierten Geistes" (Simmel, 143), der nicht mehr in Subjektivität rückverwandelt werden kann, gar von einer „Tragödie der Kultur" (ebd., 142). Während mit der digitalen Schrift die Speicherkapazität noch einmal radikal ausgedehnt wurde, ist die Langzeitstabilität und dauerhafte Lesbarkeit der neuen Datenträger in Frage gestellt. Die Kommunikationsräume, die sich über die neuen Netzwerke öffnen, stimulieren flüchtige Aufmerksamkeit, aber kein langfristiges Gedächtnis. Während die beschleunigten Datenströme des Informationszeitalters keine wahrnehmbare Gestalt mehr haben (/" Hypertext), sind ihre Daten partiell über Suchmaschinen gleichmäßig zugänglich. Damit entfallen die das Funktionsgedächtnis kennzeichnenden sozial verbindlichen Selektionskriterien und Relevanzperspektiven (/" Mnemonik). In diesem virtuellen Raum des globalen Hier und Jetzt, in dem es keine Überlagerungen und keine Formen von Latenz mehr gibt, ist das kulturelle Gedächtnis vollends externalisiert. (3) Schrift und Herrschaft: Die Schrift hat die Strukturen von Herrschaft verändert. Schriftkulturen unterscheiden sich von schriftlosen Gesellschaftsformen durch großflächige Integration und interne Hierarchisierung. Die Schrift ermöglichte neue Formen der Verwaltung durch Kodierung und Speicherung von Information sowie neue Formen der symbolischen Repräsentation von Herrschaft. Diese frühe Allianz von Schrift und Herrschaft setzte sich fort über Kirche und Klerikerstand im Mittelalter bis hin zur Bürokratie der Massengesellschaft

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Schrift

mit ihren Techniken zur vollständigen Registrierung der Bevölkerung zu Zwecken der Mobilisierung, Vertreibung oder Vernichtung. Wer exklusiv über Schrift verfügte, monopolisierte auch das Geschichtsbild. Hegel ließ die Weltgeschichte erst dort beginnen, wo schriftliche Quellen vorliegen. Schriftlose Gesellschaften sah er in ihren ewig selbigen mythischen Strukturen rotieren, unfähig zum Eintritt in den universalen linearen Prozeß der ,Geschichte'. LéviStrauss hat diese Bewertung der Geschichtslosigkeit schriftloser Gesellschaften umgewertet, indem er den ,kalten' (d.h. schriftlosen) Kulturen eine besondere Weisheit attestierte angesichts des ungeheuerlichen Zerstörungspotentials in der Mitte Europas nach dem 2. Weltkrieg. (4) Schrift und Bild: Die Schrift konkurriert von jeher mit anderen Zeichensystemen. Die Frontstellung zwischen Schrift und Bild beginnt mit dem Bilderverbot im jüdischen Dekalog. Wenn das Heilige in der Schrift wohnte, konnte es nicht zugleich in Bildern oder in Naturerscheinungen und bestimmten Orten sein. Dieser Impuls, die Schrift zum ausschließlichen Offenbarungsträger zu machen, schuf einen neuen Begriff von Transzendenz, der es ermöglichte, sich von externen Bedingungen freizumachen und mit der Bibel als ,portativem Vaterland' (H. Heine) ins Exil zu ziehen; andererseits führte er zu einer gesteigerten Abgrenzung von anderen Religionen und einer Verfemung von Bildlichkeit, Sinnlichkeit, Körperlichkeit, Weltlichkeit. Die Grenze, die hier zwischen den Medien ,Schrift' und ,Bild' gezogen wird, verläuft nicht zwischen .heilig' und ,profan', sondern zwischen dem .Eigenen' und dem feindlichen .Anderen', das die kulturelle Existenz in Frage stellt. Im Christentum, das die Bibel zwar als Heilige Schrift bezeichnet, aber keine materielle Heiligsprechung der Schrift kennt, ist diese Grenze so nicht gezogen worden. Im Mittelalter existieren Schrift- und Bildkultur in engem Verbund neben- und miteinander. Dem Bild waren im religiösen Kontext des Mittelalters spezifische Aufgaben zugewiesen: als Form der Laienlektüre, als Veranschaulichung narrativer Episoden, als

Schmuck in illuminierten Handschriften (/" Illustration). Diese enge pragmatische Verflechtung von Bild und Schrift ist erst im 18. Jh. gesprengt worden, als die Produktion textloser Bilder und bildloser Texte immer mehr zur Norm wurde (Wenzel, Curschmann). Spätestens seit der Entwicklung technischer Bilder (Photographie, Film, Fernsehen) hat sich die pragmatische Interferenz von Bild und Schrift wiederhergestellt. ForschG: Die problematische These, daß erst die (griechische) Alphabetschrift ein kulturrevolutionäres Potential freigesetzt und eine neue weltgeschichtliche Dynamik angestoßen hätte, impliziert einen MedienDeterminismus, der die Schrift selbst und nicht die Menschen in ihren spezifischen kulturellen Rahmenbedingungen zum Subjekt solchen Wandels macht (Goody). Diese These hat nicht den Status einer bloßen Beschreibung, sondern eines wirkmächtigen Arguments, das den europäischen Sonderweg zu einer universalen Norm erhebt (Havelock). Hier setzen neuere Untersuchungen zur kulturellen Bedeutung von Schrift an. In der aktuellen post-kolonialen Theorie geht es um die gesellschaftlich oder ideologisch Marginalisierten, um Restitution verdrängter Kulturen und um Rückgewinnung der Stimme derer, die mit Hilfe der Herrschaftsgewalt von Schrift zum Schweigen gebracht worden sind (Richter). Die Vielfalt mündlicher Stimmen unter der homogenisierenden Decke der Schrift hat etwa M. Bachtin im Modell einer mündlichen Lach- und Gegenkultur erfaßt, die unter und neben der offiziellen klerikalen Tradition existiert habe. Der Übergang aus dem Gutenberg-Zeitalter in eine von visuellen Medien dominierte Kultur hat das Interesse an Fragen der Intermedialität von Text und Bild erneuert (vgl. die Zeitschrift ,Word and Image'). Nach dem von W. J. T. Mitchell konstatierten ,pictorial turn' ist die kulturelle Priorität von Schrift in Frage gestellt worden. Lit: Aleida Assmann: Exkarnation. Gedanken zur Grenze zwischen Körper und Schrift. In:

Schriftstellerverbaiid Raum und Verfahren. Hg. v. Jörg Huber und Alois M. Müller. Basel, Frankfurt 1993, S. 133155. — A.A., Jan Assmann: .Schrift'. In: HWbPh 8, Sp. 1417-1429. - J. Α.: Das kulturelle Gedächtnis. München 1992. - Michail Bachtin: Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur [1940]. Hg. v. Renate Lachmann. Frankfurt 1987. - Michael Curschmann: Pictura laicorum litteratura? Überlegungen zum Verhältnis von Bild und volkssprachlicher Schriftlichkeit im Hoch- und Spätmittelalter bis zum Codex Manesse. In: Pragmatische Schriftlichkeit im Mittelalter. Hg. v. Hagen Keller u. a. München 1992, S. 211-229. - Jacques Derrida: De la grammatologie. Paris 1967. — Konrad Ehlich: Text und sprachliches Handeln. In: Schrift und Gedächtnis. Hg. v. Aleida Assmann u.a. München 1983, S. 2 4 - 4 3 . - Vilém Flusser: Die Schrift. Göttingen 1987. - Jack Goody (Hg.): Literacy in traditional societies. Cambridge 1968. - Hartmut Günther, Otto Ludwig (Hg.): Schrift und Schriftlichkeit. 2 Bde. Berlin, New York 1994, 1996. - Harald Haarmann: Universalgeschichte der Schrift. Frankfurt, New York 21991. - Eric Havelock: Schriftlichkeit. Das griechische Alphabet als kulturelle Revolution. Weinheim 1990. — Friedrich A. Kittler: Aufschreibesysteme 1800, 1900. München 21987. - Claude LéviStrauss: La pensée sauvage. Paris 1962. - W. J. T. Mitchell: Picture theory. Essay on verbal and visual representation. Chicago 1994. - Jan-Dirk Müller: Buchstabe, Geist, Subjekt: Zu einer frühneuzeitlichen Problemfigur bei Sebastian Franck. In: MLN 106 (1991), S. 648-674. - Michael Richter: The formation of the medieval west. Studies in the oral culture of the barbarians. Dublin 1994. - Georg Simmel: Der Begriff und die Tragödie der Kultur [1911], In: G. S.: Das individuelle Gesetz. Frankfurt 1987, S. 116-147. - Jürgen Trabant: Vicos Welt-Schrift. In: Schrift, Medien, Kognition. Hg. v. Peter Koch und Sibylle Krämer. Tübingen 1997, S. 149-166. - Harald Weinrich: Lethe. Kunst und Kritik des Vergessens. München 1997. — Horst Wenzel: Hören und Sehen, Schrift und Bild. München 1995. Michael Wetzel: Die Enden des Buches oder die Wiederkehr der Schrift. Weinheim 1991.

Aleida Assmann / Jan Assmann

Schriftsinn

Sensus litter alisi spiritualis

Schriftsteller

Autor

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Schriftstellerverband Organisation von Autoren zur Wahrung ihrer Standes- und Berufsinteressen. Expl: Im Unterschied zur z1 Autorengruppe und zu (Schriftsteller-) s Akademien, die sich eher der Pflege von Sprache und Literatur widmen, handelt es sich hier um eine Berufsorganisation von Schriftstellern, die als ,Zweckverein' primär das Ziel verfolgt, die kulturellen, beruflichen und sozialen Interessen ihrer Mitglieder zu fördern und zu vertreten. In Zeiten der Verfolgung und im Exil können Schriftstellerverbände die Isolation des Autors in der Exilsituation verhindern, Austausch garantieren und die kulturelle Identität zu bewahren helfen. Spezielle Verbände haben besondere Sparten zum Gegenstand oder verfolgen besondere Zielsetzungen (z. B. der Wiener ,Verein der Schriftstellerinnen und Künstlerinnen', seit 1885; der ,Verband der Gemeinschaften der Künstlerinnen und Kunstfreunde GEDOK', seit 1926; das,Kartell lyrischer Autoren (K1A)', seit 1902). Daneben gibt es auch Verbände, die vorwiegend oder ausschließlich ideelle Ziele verfolgen und sich für Schriftsteller einsetzen, die aus politischen, ideologischen oder rassistischen Gründen verfolgt werden, wie der .International P.E.N. A World Association of Writers' (P.E.N. = ,Poets/Playwrights. Editors/Essayists. Novelists'), gegründet 1921, mit seinen nationalen Zentren und Subzentren. WortG/BegrG: Schriftsteller (s Autor) wurde zu Beginn des 17. Jhs. erstmals verwendet zur Bezeichnung von Personen, die für andere ein juristisches Schreiben aufsetzen. Erst im 18. Jh. findet sich die Bedeutung .berufsmäßige Ausübung einer literarischen Tätigkeit' (DWb 15, 1748), wobei das Wort noch am Jahrhundertende als relativ neu empfunden wurde (vgl. Ricklefs, 358-363). Das Kompositum Schriftstellerverband wird in der 2. Hälfte des 19. Jhs gebildet (das DWb 15 von 1899 bucht das Wort noch nicht) und setzt sich gegen Literatenverein und Schriftstellerverein durch. Die Organisationsform ist bei einem Verband, der vornehmlich aus Individualisten be-

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Schriftstellerverband

steht, allerdings nicht so straff, daß man von .pressure group' oder ,Lobby' sprechen könnte. Albrecht Maas: Die nhd. Bezeichnungen für .Verfasser literarischer Werke'. In: Zs. für dt. Wortforschung 9 (1907), S. 185-205. - Ulfert Ricklefs (Hg.): Fischer Lexikon Literatur. Bd. 1. Frankfurt 1996, S. 356-374.

SachG: Erste Ansätze zu einem Gruppenverständnis von Schriftstellern zeigen sich in den humanistischen Sodalitates, in gewissem Maße auch in den / Sprachgesellschaften des 17. Jhs. und in Vereinigungen wie der Straßburger ,Tannengesellschaft' oder lockeren Gruppierungen wie dem Göttinger Hain (S Empfindsamkeit).

Erst 1842, als die

Erkenntnis sich immer mehr durchzusetzen begann, daß geistige Emanzipation wirtschaftliche Sicherung und finanzielle Unabhängigkeit voraussetzt, erfolgte die Gründung der ersten schriftstellerischen Berufsvereinigung, die im Sinne einer wirtschaftlichen Interessenvertretung wirksam werden wollte: des auf Initiative Robert Blums ins Leben gerufenen .Leipziger Literatenvereins' (seit 1846 .Leipziger Schriftstellerverein'), der sich ausdrücklich den Problemen des Nachdrucks, dem gesetzlichen und ungesetzlichen Zustand der Presse und der Handhabung der Zensur widmen wollte (§ 1 der Satzung). Bedeutender wurde der 1878 gegründete .Allgemeine Deutsche Schriftsteller-Verband' (ADSV), der insbesondere auf dem Gebiet des f Urheberrechts und der Nachdrucksbekämpfung tätig war und Maßnahmen zur wirtschaftlichen Sicherung von Schriftstellern im Krankheitsfall und im Alter anregte. Aufgrund geringer Wirksamkeit dieses Verbandes wurde 1885 der .Deutsche Schriftsteller-Verein' (DSchV) gegründet (u. a. von Joseph Kürschner). Bereits 1887 wurden beide zum .Deutschen Schriftsteller-Verband' (DSV) zusammengeschlossen, dessen Zweck ,,a) die Wahrung und Förderung der Berufsinteressen seiner Mitglieder; b) die Unterstützung der letzteren in Fällen der Not und im Alter, sowie die Fürsorge für ihre Hinterbliebenen" (§ 1 der Satzung) war. Zum größten Verband entwickelte sich der 1909 gegründete ,Schutzverband deut-

scher Schriftsteller (SDS)' (ab 1920: G e werkschaft Deutscher Schriftsteller'), der sich als Autorengewerkschaft verstand und dem später fast alle bedeutenden Autoren der Weimarer Republik angehörten. 1933 wurde er als ,Reichsverband Deutscher Schriftsteller' in der ,Reichsschrifttumskammer' gleichgeschaltet (wie alle übrigen Schriftstellerverbände auch) und 1935 aufgelöst. Emigrierte Schriftsteller gründeten 1933 in Paris einen neuen ,Schutzverband Deutscher Schriftsteller (SDS)', dem weitere Gründungen in anderen Ländern folgten, z.B. die der .Liga Pro-cultura Alemana' in Mexiko. Nach 1945 sind zahlreiche Neugründungen in den Besatzungszonen zu beobachten. Versuche, einen Dachverband ins Leben zu rufen, scheiterten — wie schon im Kaiserreich und in der Weimarer Republik. Auf Anregung des Bundespräsidenten Th. Heuss, der schon 1909 an der Gründung des SDS beteiligt gewesen war, wurde 1952 die .Vereinigung der deutschen Schriftstellerverbände' gegründet, die — mit einigen Namensänderungen — bis 1969 existierte, aber aufgrund der satzungsmäßigen Selbständigkeit der Einzelverbände wenig Schlagkraft hatte. Ein entscheidendes und einschneidendes Ereignis in der Geschichte der Schriftstellerverbände war 1969 die Gründung des Verbandes deutscher Schriftsteller (VS)', bei der H. Boll in Fragen der Honorierung schriftstellerischer Leistung das ,Ende der Bescheidenheit' verkündete. Der Verband, der anstelle der Vielheit die Einheit setzen wollte, strebte eine gewerkschaftliche Organisation an. Daß die von Boll beschworene .Einigkeit der Einzelgänger' nicht zu erreichen war, zeigt die Tatsache, daß viele Schriftsteller nach dem Beitritt des VS zur Gewerkschaft ,IG Druck und Papier' den Verband verließen. Neugründungen wie etwa der .Freie deutsche Autoren verband. Schutzverband deutscher Schriftsteller e.V. (FDA)' bildeten ein Auffangbecken für die mit der Politik des VS unzufriedenen Autoren. Die Umwandlung der ,IG Druck und Papier' in die ,IG Medien' (1989) und der Verbleib des VS in dieser noch größeren Gewerkschaft führten zu heftigen Diskussio-

Schule

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nen. Sie wurden durch Auseinandersetzungen um das Verhalten des VS-Vorstandes gegenüber DDR-Dissidenten und verdeckte Zusammenarbeit mit dem (1952 gegründeten und eng an die SED angeschlossenen) ,Schriftstellerverband (SV)' der D D R (s DDR-Literatur) verschärft. In dem Kampf um Politisierung' und ,Reliterarisierung' verließen namhafte Autoren den VS. Nach der Auflösung des SV zum 1. Januar 1991 durch Mitgliederentscheid fand im Mai 1991 der erste gesamtdeutsche Kongreß des VS in Travemünde statt. Größter Schriftstellerverband Österreichs ist die ,IG Autoren', gegründet 1971, bedeutendster Verband der deutschsprachigen Schweiz der .Schweizerische Schriftstellerinnen- und Schriftsteller-Verband (SSV)', gegründet 1912.

sche PEN-Club im Exil 1933-1948 [Ausstellungskatalog]. Frankfurt 1980. - Ernst Fischer: „Organisitis chronica"? Aspekte einer Funktionsund Wirkungsgeschichte schriftstellerischer Zusammenschlüsse im deutschsprachigen Exil 1933 bis 1945. In: Die Erfahrung der Fremde. Hg. v. Manfred Briegel und Wolfgang Frühwald. Weinheim u.a. 1988, S. 163-175. - Karla Fohrbeck, Andreas J. Wiesand: Der Autorenreport. Reinbek 1972. - Jost Hermand: Die deutschen Dichterbünde. Köln 1998. - Friedhelm Krön: Schriftsteller und Schriftstellerverbände. Stuttgart 1976. — Christine Malende: Die Wiedererrichtung' und Trennung des P.E.N.-Zentrums Deutschland, 1946/48 bis 1951/53. In: ZfG N F 5 (1995), H. 1, S. 8 2 - 9 5 . - Ulrich Niederer: Geschichte des Schweizerischen Schriftsteller-Verbandes. Tübingen, Basel 1994. - Klaus Schröter: Der Dichter, der Schriftsteller. In: Akzente 20 (1973), S. 168-188. - Joseph Wulf: Literatur und Dichtung im Dritten Reich. Gütersloh 1963.

ForschG: Die Verbandsorganisationen von Schriftstellern wurden bislang nur im Rahmen (literatur)soziologischer bzw. sozialliterarischer Fragestellungen untersucht (/" Literarisches Leben). Eine systematische Aufarbeitung der Entstehung und Entwicklung von Schriftstellerverbänden und eine Analyse von deren Selbstverständnis liegt für den Zeitraum von 1842 bis 1973 vor (Krön). Einzeluntersuchungen beschäftigen sich vornehmlich mit den Organisationsformen während des Exils und der frühen Nachkriegszeit. Eine zusammenfassende Darstellung der Zeit ab 1972/73, die die Entwicklung der verschiedenen Verbände in der Bundesrepublik und der D D R sowie die Turbulenzen nach der Wiedervereinigung aufarbeitet, steht noch aus.

Hansjürgen Blinn

Lit: Verzeichnung von Schriftstellerverbänden: Hansjürgen Blinn: Informationshb. Deutsche Literaturwissenschaft. Frankfurt 4 2001, S. 415— 429. — Kürschners Deutscher Literatur-Kalender. Berlin 1897, "2000f. - Sandra Uschtrin u.a. (Hg.): Schreiben. Hb. für Autorinnen und Autoren. München 5 2000, S. 5 3 7 - 5 7 0 . Fritz Beer, Uwe Westphal (Hg.): Exil ohne Ende. Das PEN-Zentrum deutschsprachiger Autoren im Ausland. Gerlingen 1994. — Heinrich Bosse: Autorschaft ist Werkherrschaft. Über die Entstehung des Urheberrechts aus dem Geist der Goethezeit. Paderborn u.a. 1981. - Otto Brunner u.a. (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Bd. 6. Stuttgart 1990, S. 7 8 9 - 8 2 9 . - Der deut-

Schule Vereinigung von Künstlern, Kritikern und/ oder Wissenschaftlern um eine zentrale Person und/oder eine Leitidee, eine Theorie, ein Programm. Expl: Als literatur- und wissenschaftsgeschichtlicher Terminus bezeichnet Schule eine Gruppe von Anhängern einer bestimmten künstlerischen oder wissenschaftlichen Ausrichtung, die auch von einer zentralen Person verkörpert werden kann, die dann als ,Lehrer', ,Meister' oder ,Gründer' eine dominante Position erhält. Die Diffusität in der literaturwissenschaftlichen Verwendung des Begriffs rührt daher, daß Schule und s Autorengruppe nur selten präzise unterschieden werden. Die wichtigste Differenz liegt in den jeweiligen Binnenstrukturen. Während die Autorengruppe prinzipiell gleichberechtigte Mitglieder umfaßt, herrschen in der Schule asymmetrische Kommunikationsformen vor, die von der Autorität der Zentralfigur oder einem (theoretischen) Leitgedanken vorgegeben werden. WortG: Schule geht auf das lat. schola (griech. σχολή [scholé]) zurück (ahd. scuola,

402

Schule

scuala; m h d . schuole, schuol; D W b 15,1927),

das in der späten römischen Republik sowohl eine Einrichtung geistiger Unterweisung bezeichnet als auch die Anhänger eines Lehrers. Im frühen Mittelalter wird das Wort vom klösterlichen Bereich als Lehnwort übernommen (Trübner 6, 230). Diese Ebenen des Wortgebrauchs haben sich erhalten. Neben der Verwendung als Terminus für eine Institutionalisierungsform von Unterricht kennt bereits das 18. Jh. bis heute geläufige Spezifizierungen. Kant spricht mit Blick auf die Konstruktionsbedingungen ästhetischer Urteile vom Genie, dessen „Beispiel für andere gute Köpfe eine Schule, d.i. eine methodische Unterweisung nach Regeln", hervorbringe (Kant, 198). „In den bildenden Künsten, besonders der Mahlerey", konstatiert Adelung, „werden nicht nur die sämmtlichen Schüler eines großen Meisters dessen Schule genannt", sondern „auch die Folge der sämmtlichen Mahler eines Landes oder einer Provinz" (Adelung2 3, 1678). Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft [1790], = I. K.: Werke. Hg. v. Wilhelm Weischedel. Bd. 10. Frankfurt 1968.

BegrG: In der angeführten terminologischen Verwendung als Bezeichnung für eine Personengruppe ist Schule stabil geblieben. Nach Heines Polemik (1836) faßt Haym „Die Romantische Schule" als „eine engere Parteigenossenschaft" innerhalb einer s Generation (Haym, 3). Der Begriff wird aber auch für eine völlig anders organisierte Assoziation wie den George-Kreis verwendet, der hermetisches Wissen fordert und Popularisierung ablehnt (Kluncker). Rudolf Haym: Die Romantische Schule [1870]. Repr. Darmstadt 1977. - Karlhans Kluncker: Blätter für die Kunst. Zs. der Dichterschule Stefan Georges. Frankfurt 1974.

SachG: Die Bildung von Schulen ist, zumal in der Philosophie, seit der Antike zu beobachten. Entscheidend für ihre stabile Existenz ist ein institutionalisierter „Konkurrenzraum" (Eßbach, 90), in dem Lehrmeinungen, Deutungsmuster oder Dichtungen und Dichtungstheorien rivalisieren. In der Literatur der Frühen Neuzeit treten Schulen (im Sinne einer literaturgeschichtlichen Rei-

h e n b i l d u n g ) a u f (Schlesische Dichterschule, ? Barock', , G o t t s c h e d - S c h u l e n ' , Aufklä-

rung), die sich um eine handwerklich solide Ausübung lehrbarer literarischer Techniken bemühen; die Verpflichtung auf derartige Modelle wurde von der Forschung nachträglich als ,Schulenbildung' bezeichnet. Mit der Durchsetzung genie- und autonomieästhetischer Literaturkonzepte beginnt die Konjunktur von Autorengruppen, denen es nicht um regelgeleitete Kunstproduktion, sondern um eine gemeinsame Durchsetzung je individueller Ambitionen auf dem literarischen Markt geht. Hiergegen opponiert dann wiederum ein streng hierarchisierter Zirkel wie der GeorgeKreis. Im sich ausdifferenzierenden Wissenschaftssystem des 19. Jhs. nimmt die Bedeutung von Schulen um führende Wissenschaftler zu (Ranke-Schule in der Geschichtswissenschaft, Lachmann-Schule in der Deutschen Philologie). Das explizite Bekenntnis zu einer gemeinschaftlich vertretenen Lehrmeinung oder einem bestimmten wissenschaftlichen Verfahren erleichtert die Behauptung gegenüber wissenschaftlicher Konkurrenz, fördert die Etablierung in Institutionen und begünstigt die Kanonisierung der Position in der Disziplin. Wolfgang Eßbach: Die Junghegelianer. Soziologie einer Intellektuellengruppe. München 1988.

ForschG: Die Frage nach der Struktur von literarischen Schulen und ihrer Stellung im Literatursystem ist bislang kaum gestellt worden und findet sich eher am Rande in der Erforschung einzelner Autoren mitbehandelt. Wissenschaftliche Schulen sind seit einigen Jahrzehnten Thema wissenschaftssoziologischer Untersuchungen (Kuhn, Merton). In der f Wissenschaftsgeschichte2

der G e r -

manistik werden Schulen als Element der disziplinären Sozialstruktur seit jeher registriert und in den letzten Jahren systematisch untersucht (Kolk). Lit: Rainer Kolk: Berlin oder Leipzig? Eine Studie zur sozialen Organisation der Germanistik im ,Nibelungenstreit'. Tübingen 1990. - Thomas S. Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Frankfurt 21979. - Wolf Lepenies (Hg.): Geschichte der Soziologie. Bd. 2. Frankfurt 1981

Schultheater [darin Clark, Karady, Szacki, Tiryakian]. - Karl Mannheim: Die Bedeutung der Konkurrenz im Gebiete des Geistigen. In: Κ. M.: Wissenssoziologie. Neuwied, Berlin 1964, S. 566-613. - Robert K. Merton: Entwicklung und Wandel von Forschungsinteressen. Frankfurt 1985. - Wolfgang Weber: Priester der Klio. Historisch-sozialwissenschaftliche Studien zur Herkunft und Karriere deutscher Historiker und zur Geschichte der Geschichtswissenschaft 1800-1970. Frankfurt, Bern 2 1987. - Wissenschaft und Schulenbildung. Jena 1991.

Rainer Kolk

Schultheater Latein- und deutschsprachige Dramen des frühneuzeitlichen schulischen Laientheaters. Expl: Schultheater ist die zusammenfassende Bezeichnung für die Aufführungen von lateinsprachigen Dramen im Kontext der humanistischen Schule mit dem Zweck der Einübung des Lateins, allgemein der Eloquenz, aber auch konfessioneller Positionen, moralischer Normen und sozialer Verhaltensregeln, ursprünglich in Anlehnung an römisch-antike Vorbilder (Terenz). Hinzu kommen deutschsprachige Theaterstücke, entweder im Dienst der lutherischen / Reformation (/ Reformationsdrama) oder der katholischen ? Gegenreformation (s Jesuitendrama). Später dient es hauptsächlich als pädagogisches Mittel zum Erlernen einer gesellschaftspolitisch erfolgversprechenden Redegewandtheit und Verhaltensweise. Das (literar)geschichtliche Phänomen wird häufig auch Schuldrama genannt; es wird also statt auf die Institution auf die Texte abgehoben (vgl. Könneker, 345). Gegenwärtig handelt es sich um eine Spielart des ^ Laienspiels. WortG: Die Bezeichnung Schultheater ist offenbar erst in den 1930er Jahren in der Forschung gängig geworden; mindestens drei wichtige Studien des Jahrzehnts führen den Terminus im Titel (Hoffmann, Skopnik, Stumpfl). Während das DWb das Wort nicht aufnimmt, wird Schuldrama verzeichnet (DWb 15, 1924), belegt zuerst mit Ha-

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manns ,Fünf Hirtenbriefe das Schuldrama betreffend' (1763). Darin ruft dieser auf „zur Aufrichtung einer dramatischen Stiftshütte: so wird Ihre Schulbühne zum Grundrisse künftiger Musentempel dienen" (Hamann, 356). Johann Georg Hamann: Fünf Hirtenbriefe das Schuldrama betreffend [1763]. In: J. G. H.: Sämtliche Werke. Hg. v. Josef Nadler. Bd. 2. Wien 1950, S. 351-368.

BegrG: Im 16. und 17. Jh. fand die Bezeichnung Schultheater soweit ersichtlich keine Verwendung. Schuldramatiker kennzeichneten ihre Werke als /" Geistliches oder ? Weltliches Spiel, als /" Komödie, s Tragödie oder z1 Tragikomödie, wobei der (un-) glückliche Ausgang gattungsbestimmend war. Der Bezug zum Schulwesen wird nicht terminologisch gefaßt, sondern auf Titelblättern, in Vorreden und im Dramentext selbst expliziert. Dadurch wird de facto eine Abgrenzung des Theaters als Teil des Rhetorikbetriebs vom Hoftheater vorgenommen. Sie ist auch Bühnenanweisungen, Titelgraphiken und anderen Illustrationen, die idealtypisch Aufführungspraktiken widerspiegeln, zu entnehmen. Comenius' Schulbuch ,Orbis Sensualium Pictus' (1658) zeigt eine Schulbühne der Zeit (Comenius, 264). Erst ab etwa 1700 finden sich Ansätze zur terminologischen Fixierung: „Drama scholasticum" (Lani), „Schul-Spiel" (Frisch), „Schulkomoedie" und „Schultragoedie" (Gottsched, 613 und 615). Sie werden von der literaturgeschichtlichen Forschung seit dem 19. Jh. aufgenommen: „Schulstücke" (Gervinus, 91), „Schulkomödien" und „Schuldramen" (Goedeke, 329), „Schuldrama" (Scherer, 303), „Schulbühne" (Flemming) sowie — mit Ablösung vom historischen Entstehungskontext — „Jugendtheater" (Schultze). Wie problematisch die terminologische Lage geblieben ist, wird durch die Verwendung von Schultheater (Kaiser) bzw. Schulcomödie (Zeller) in den Titeln von neueren Monographien zum Thema deutlich. Zeller kommentiert präzisierend: „Der Begriff ,Schulcomödie' wird in der Forschung in dreifacher Bedeutung auf die Institution

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Schultheater

Schultheater, das Schulspiel und den einzelnen Dramentext angewandt" (Zeller, 20). Johann Comenius: Orbis Sensualium Pictus [1658], Repr. Dortmund 1978. - Johann Leonhard Frisch: Die entdeckte und verworffenen Unsauberkeit der falschen Dicht- und Reim-Kunst. [...] In einem einfaltigen Schul-Spiel vorgestellet [...]. Berlin 1700. - Georgius Lani: Agapetus scholasticus et reductus, seu Drama scholasticum de Agapeto. Leipzig 1685. - Wilhelm Scherer: Geschichte der Deutschen Literatur. Berlin 5 1889.

SachG: Institutionengeschichtlich betrachtet, gehen die Anfange des Schultheaters im deutschen Sprachraum auf das Aufkommen des humanistischen Schulwesens um 1500 zurück. Literarhistorisch wesentlich ist die Entdeckung von Donats Terenz-Kommentar: Lateinische und deutsche Schulausgaben sowie Inszenierungen der Komödien folgen rasch (vgl. Dittrich, Francke, Schade 1988). Melanchthon veröffentlicht die erste metrisch korrekte Terenz-Ausgabe (1516). In späteren Jahren übt er maßgebend Einfluß auf Luthers Sanktionierung des biblischen Schuldramas aus („Comedien [Dramen] zu spielen / sol man vmb der Knaben in der Schule willen nicht wehren / Sondern gestatten vnd zulassen"; Aurifaber, 584r). Die lokalen Schulordnungen bis etwa 1700 zeugen von einer regen Aufführungspraxis (vgl. Paulsen, Vormbaum; besonders wichtig das Akademietheater in Straßburg, vgl. Skopnik, Sohm, Sommerfeld). Im Zuge der Institutionalisierung der Reformation erscheint eine Flut von Schuldramen überwiegend zu biblischen Themen (vgl. Goedeke). Thematisch und formal besonders richtungweisend sind Anfang des 16. Jhs. die Werke von Gnapheus (,Acolastus') und Rebhun (.Susanna'), später die lateinischen Dramen N. Frischlins (vgl. Price). Das katholische Schultheater entwickelt sich fast gleichzeitig zum protestantischen (vgl. Valentin). Das literarisch eher biedere lutherische Schuldrama findet auch Anfang des 17. Jhs. Fortsetzer (Martin Böhme; vgl. Schade 1976). Einen Höhepunkt erreicht das deutschsprachige Schultheater an den konkurrierenden Gymnasien in Breslau in der Mitte des Jahrhunderts: Dort werden u.a.

die anspruchsvollen Werke von Gryphius, Hallmann und Lohenstein von Gymnasiasten aufgeführt (vgl. Speilerberg). In den zahlreichen Dramen des Zittauer Schulrektors Christian Weise endet die literarisch produktive Phase des deutschen Schultheaters (vgl. Zeller). Weises Klugheitslehre im Dienste einer gesellschaftspolitischen Stilbildung weist bereits auf die Bestrebungen der Aufklärung hin. Im 18. Jh. verflacht das Schuldrama bald in Spielen für Kinder im häuslichen Kreis. Das offizielle Hamburger Schultheater z. B. schließt 1781 mit Werken wie ,Die Mädchenschule, ein Spiel für kleine Schöne' (Schultze, 89). Theaterspielen in der Schule wird zwar auch im 19. und 20. Jh. weiter gepflegt, doch hat das Schultheater seine aus dem Rhetorik-Unterricht erwachsenen gesellschaftlichen Funktionen überwiegend eingebüßt; das Schuldrama ist als literarische Gattung kaum noch produktiv, wenn aber, dann in wachsender Distanz zum hochliterarischen Schaffen. Johannes Aurifaber (Hg.): [Luthers] Tischreden [1566], Repr. Wiesbaden 1981.

ForschG: Bereits 1700 wird das Phänomen Schultheater kurz kommentiert (Morhof, 348 f.). Gottscheds ,Nöthiger Vorrath zur Geschichte der deutschen Dramatischen Dichtkunst' (2 Bde., Leipzig 1757-1765), eine Bibliographie, dient Gervinus und vor allem Goedeke im 19. Jh. als Quelle für seine Literaturgeschichte bzw. seinen ,Grundriß'. Seit dem Positivismus erscheinen häufig aus (Lokal-) Patriotismus Ausgaben von Schuldramen (z. B. Froning), dazu Aufsätze (z. B. Gillet) und Monographien (z. B. Skopnik; vgl. für die jüngere Zeit Senger, Brown, Parente). Aufgrund des reichen Quellenbestandes an Schuldramen ist vieles noch unerschlossen. Während Tarot noch 1980 von einem „unbefriedigenden gegenwärtigen Forschungsstand" (Tarot, 35) sprach, ist seit den 1970er Jahren selbst an vergleichsweise anspruchslosen Dramentexten der Frühen Neuzeit der Zusammenhang mit der Rhetorik-Rezeption herausgearbeitet worden (Zeller, Grimm). Ohne notwendigen Bezug zum historischen Phänomen diskutiert die

Schwankt schulpädagogische Forschung die Zweckmäßigkeit vom ,Drama im Unterricht' (vgl. Göbel). Schultheater ist aktuell geblieben und als Forschungsgegenstand weiterhin von Wichtigkeit. Lit: Thomas Bacon: Martin Luther and the drama. Amsterdam 1976. - Wilfried Barner: Barockrhetorik. Tübingen 1970. - Cheri Brown: The ,Susanna' of Johannes Placentius. In: Humanística Lovaniensia 36 (1987), S. 239-251. Paul Dittrich: Plautus und Terenz in Pädagogik und Schulwesen der deutschen Humanisten. Diss. Leipzig 1915. — Willi Flemming: Die barocke Schulbühne. In: Pädagogische Provinz 10 (1956), S. 537-544. - Otto Francke: Terenz und die lateinische Schulcomoedie in Deutschland. Weimar 1877. - Richard Froning (Hg.): Das Drama der Reformationszeit [1894]. Repr. Darmstadt 1964. - Georg Gottfried Gervinus: Geschichte der poetischen Nationalliteratur der Deutschen. Bd. 3. Leipzig 21842. - Joseph Gillet: Über den Zweck des Dramas in Deutschland im 16. und 17. Jh. In: PMLA 32 (1917), S. 430-467. Klaus Göbel: Das Drama im Unterricht. In: Hb. des deutschen Dramas. Hg. v. Walter Hinck. Düsseldorf 1980, S. 515-524, 584-587. - Karl Goedeke: Grundrisz zur Geschichte der deutschen Dichtung aus den Quellen. Bd. 2. Dresden 2 1886. - Gunter Grimm: Literatur und Gelehrtentum in Deutschland. Tübingen 1983. - Herbert Hoffmann: Das Görlitzer barocke Schultheater. Königsberg 1932. - Marianne Kaiser: Mitternacht - Zeidler - Weise. Das protestantische Schultheater nach 1648 im Kampf gegen höfische Kultur und absolutistisches Regiment. Göttingen 1972. - Barbara Könneker: Schuldrama. In: Literatur Lexikon. Bd. 14. Hg. v. Volker Meid. Gütersloh, München 1993, S. 345348. - Wolfgang F. Michael: Das deutsche Drama der Reformationszeit. Bern 1984, S. 401432. - Daniel G. Morhof: Unterricht von der Teutschen Sprache und Poesie [1700]. Hg. v. Henning Boetius. Bad Homburg u.a. 1969. - James A. Parente: Religious drama and the humanist tradition. Leiden 1987. - Friedrich Paulsen: Geschichte des gelehrten Unterrichts. Bd. 1. Leipzig 2 1896. — David Price: The political dramaturgy of Nicodemus Frischlin. Chapel Hill 1990. - Richard E. Schade: Martin Böhme (1557-1622). The Lutheran pastor as writer. Diss. Yale 1976. - R. E. S.: Studies in early German comedy 1500-1650. Columbia/SC 1988, v.a. S. 15-45. - Hermann Schultze: Das deutsche Jugendtheater [1941]. Emsdetten 1960. - Matthias Senger (Hg.): Leonard Culmann. A literary biography and an edition of five plays. Nieuwkoop 1982. -

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Günter Skopnik: Das Straßburger Schultheater. Frankfurt 1935. - Walter Sohm: Die Schule Johann Sturms und die Kirche Straßburgs in ihrem gegenseitigen Verhältnis. München 1912. - Martin Sommerfeld: Das Straßburger Akademietheater und die Wende von der Renaissance zum Barock. In: Elsaß-Lothringisches Jb. 12 (1933), S. 109-134. - Gerhard Speilerberg: Das schlesische Barockdrama und das Breslauer Schultheater. In: Die Welt des Daniel Casper von Lohenstein. Hg. v. Peter Kleinschmidt u.a. Köln 1977, S. 58-68. - Robert Stumpfl: Das alte Schultheater in Steyr im Zeitalter der Reformation und Gegenreformation. Linz 1933. - Rolf Tarot: Schuldrama und Jesuitentheater. In: Hb. des deutschen Dramas. Hg. v. Walter Hinck. Düsseldorf 1980, S. 35-47, 532-534. - Jean-Marie Valentin: Le théâtre des jésuites dans les pays de langue allemande. 3 Bde. Bern 1978. — Reinhold Vormbaum (Hg.): Evangelische Schulordnungen. 3 Bde. Gütersloh 1860-1864. - Konradin Zeller: Pädagogik und Drama. Untersuchungen zur Schulcomödie Christian Weises. Tübingen 1980. Richard Erich Schade

Schwankj Auf Lachwirkung abzielendes Theaterstück. £xpl: Der deutsche Bühnenschwank und seine französisch orientierte Spielart, die FARCE, entstammen denselben Traditionen wie die ? Posse, lösen sich jedoch seit der Mitte des 19. Jhs. von dieser ab und ersetzen sie weitgehend. Im Gegensatz zur regional und sozial begrenzten Posse appelliert der Schwank an ein breiteres Publikum und tendiert zu einer geschlossenen Dramaturgie {S Offenes Drama). WortG: Schwank stammt von mhd. swanc ,schwingende Bewegung', ,Fechterstreich', im übertragenen Sinne: ,Streich', ,lustiger Einfair (vgl. BMZ 212, 805 f.). Ab dem 15. Jh. bezeichnet das Wort die Erzählung eines lustigen Einfalles oder Streiches in Vers oder Prosa ( / Schwank2). Im 19. Jh. bezeichnet es immer öfter auch komische Theaterstücke (DWb 15, 2245: „eine niedrigere abart des lustspiels, aber feiner als die posse"). Ab dem Ende des 19. Jhs. ist die Gattungsbezeichung Schwank fest eingebürgert, z. B. bei G. v. Moser, F. v. Schön-

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Schwank!

than, M. Neal, L. Thoma. Auch Wedekind nennt sein Stück ,Der Liebestrank' (1899) einen „Schwank" (vgl. noch 1976 ,Hilfe, ich werde geheiratet! Ein Bauernschwank' von F. X. Kroetz). Die Farce kommt von frz. farce und bedeutet ursprünglich ,(Fleisch-) Füllsel'. Bereits im 14. Jh. steht der Ausdruck in Frankreich auch für ein komisches Zwischenspiel (y Intermezzo) in Mysterienund Mirakel-Spielen (Kluge-Seebold, 202), ab dem 15. Jh. für ein selbständiges komisches Stück. Bekanntestes Beispiel ist die , Farce de Maistre Pierre Pathelin' (um 1470; vgl. Straßner, 103). Seit dem 18. Jh. bezeichnet das Wort in Deutschland ein Theaterstück literatursatirischen Inhalts: z. B. Goethes ,Götter, Helden und Wieland. Eine Farce' (1774). Im 20. Jh. findet es im dt. Sprachraum gelegentlich erneut Verwendung als Gattungsbezeichnung - z. B. M. Frisch: ,Die chinesische Mauer. Eine Farce' (1947); B. Strauß: ,Kalldewey Farce' (1981). BegrG: Als literarischer Begriff bezieht sich .Schwank' für Mittelalter und Barock auf erzählerische Formen in Vers und Prosa (/" Schwank2). In den Comediae der mittellateinischen Literatur gibt es aber bereits sowohl erzählende als auch dramatisierte Schwänke (vgl. Suchomski) oder doch Hinweise zur Aufführbarkeit (vgl. Straßner, 27, zum ,Unibos'). Mehrere Schwänke aus dem Umkreis der ^ Neidhartiana sind als ,Neidhartspiele' wie als ,Historien' überliefert. Im 16. Jh. dramatisieren Hans Sachs und Jakob Ayrer Schwankstoffe; allerdings nennen sie ihre Stücke entweder Possenspiel oder /" Fastnachtspiel. Für volkssprachliche dramatische Schwankdichtung bürgert sich ab dem 14. Jh., zunächst in Frankreich, der Begriff der Farce ein. Im 17. Jh. setzt sich für komische Stücke solcher Art die kürzere, bis ins 2. Drittel des 19. Jhs. vorherrschende Bezeichnung Posse durch; wenn gelegentlich in der 1. Hälfte des 19. Jhs. die Bezeichnung Schwank auftaucht, wird sie synonym mit Posse verwendet (z.B. Bäuerle, XI). Gegen Ende des 19. Jhs. ersetzt der Begriffsname Schwank schrittweise den der Posse. Aller-

dings verwenden Autoren wie F. Schönthan, O. Blumenthal, L. Thoma oder G. v. Moser für die von der Forschung als Schwank eingestuften Stücke (vgl. Straßner, 103; Klotz, 151 — 184) auch die Gattungsbezeichnungen Lustspiel und /" Komödie. Indem der Schwank „alle komischen Elemente in eine spannungsreiche, in sich gerundete Handlung ein[ordnet], [...] bildet [er] strukturell den Gegentypus zur P[osse]" (RL 2 3, 222) mit seinen locker verknüpften Einlagen und Improvisationen. Gewiß ist, daß der Schwank zu einer geschlossenen Dramaturgie tendiert; auch das in der Posse vorherrschende lokale Vorstadt-Element tritt zugunsten großstädtischer Internationalität zurück (vgl. Klotz, 151 f.). Adolf Bäuerle: Ausgewählte Werke. Hg. v. Otto Rommel. Bd. 1/2. Wien u.a. o. J. [1903],

SachG: Der dramatische Schwank geht auf komische Theaterformen wie /" Fastnachtspiel, s Neidhartiana, s Commedia dell' arte, f Intermezzo, auf englische und deutsche Komödianten des 17. Jhs. und die Hanswurstiaden des 18. Jhs. zurück (s Komische Person). Die im 19. Jh. institutionalisierte Theatergattung ,Posse' wird im letzten Drittel des 19. Jhs. vom lokal und sozial weniger eng beschränkten Schwank verdrängt. Vorbild ist die französische Farce, deren Hauptvertreter Eugène Labiche (1815-1888) und Georges Feydeau (18621921) sind (vgl. Klotz, 152-154). Die von Bausinger anhand des erzählenden Schwankes festgestellten Formtypen ,Ausgleichstyp' (die anfangliche Überlegenheit einer Partei wird durch die List der Gegenpartei neutralisiert) und,Steigerungstyp' (die Überlegenheit einer Partei vergrößert sich im Verlauf der Handlung) und ihre Varianten erweisen sich auch für den Theaterschwank als bestimmend. Im Gegensatz zur Posse wird im Theaterschwank das politisch-sozialkritische Element zurückgedrängt und die Opposition auf den Kampf der Geschlechter innerhalb des bürgerlichen bis prätendiert weltmännischen' Milieus reduziert. Die mit dieser „Entpolitisierung" (Klotz, 183 sowie 156-158) Hand in Hand gehende Straffung der Handlungselemente ist Teil des formalen Wandels in Richtung

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Schwankj einer geschlossenen Dramaturgie, deren Ursachen man in der neuen, „realistischefn] und naturalistische[n] Ästhetik" geortet hat (RL 2 3, 222). Die offene Dramaturgie (ζ. B. Multimedialität) der Posse lebt in der sich gleichzeitig mit dem Schwank etablierenden /" Operette weiter. In der 2. Hälfte des 20. Jhs. greifen gelegentlich Autoren kritischer /" Volksstücke (ζ. Β. M. Sperr, F. X. Kroetz, F. Mitterer) auf Elemente des Schwankes zurück, stellen sie jedoch nun wieder in den Dienst verschärfter Gesellschaftskritik. In Mitterers ,Kein Platz für Idioten' (1979) kommen, wie der Autor sagt, „alle die Figuren wieder vor, die im Bauernschwank auch vorkommen [...] Nur werden sie halt bei mir anders eingesetzt" (zit. n. Palm, 253). Aus der Tradition der bis in die siebziger Jahre des 20. Jhs. populären Fernsehschwänke nährt sich Mitterers TV-Serie ,Piefke Saga' (geschrieben 1980). Auf Laienbühnen, besonders in Bayern und Tirol, ist bis heute der Bauernschwank beliebt. Aber auch an städtischen Traditionsbühnen (ζ. B. Millowitsch-Theater Köln, Volkstheater München, Löwinger-Bühne Wien, RodererTheater ,Fauteuil' in Basel) hält sich, oft mundartlich eingefärbt und kaum beeinträchtigt vom Erfolg modern-angelsächsischer ? Boulevardstücke, das traditionelle Schwank-Repertoire um Klassiker wie ,Der Raub der Sabinerinnen' (F. und P. ν. Schönthan), ,Charleys Tante' (B. Thomas), ,Die spanische Fliege' (Arnold und Bach) oder ,Pension Schöller' (Laufs und Jacoby). ForschG: Der Theaterschwank wird bis heute von der einschlägigen Forschung vernachlässigt (vgl. ζ. B. Prang, Greiner, Straßner). Die bisher ausführlichste Behandlung erfährt er durch Klotz, der ihn neben Posse und Operette zu den wichtigsten Spielarten des bürgerlichen Lach theaters' zählt und sich auch um definitorische Abgrenzung des Schwankes von der Posse bemüht. Desiderata der Forschung sind die sozialgeschichtliche Einordnung der Gattungsentwicklung im Kontext von Realismus, Naturalismus, früher Moderne und Zwischenkriegszeit; die Erforschung der Interaktion des Schwankes mit Vaudeville, Boulevard, Ope-

rette und /" Musical; sowie die Erforschung seines modifizierten Weiterlebens bis in die medial bestimmte Gegenwart (Soap operas, S Serie). Lit: Hermann Bausinger: Bemerkungen zum Schwank und seinen Formtypen [1967]. In: Theiß 1985, S. 74-82. - Bernhard Greiner: Die Komödie. Tübingen 1992. - Herbert Herzmann: The relevance of the tradition: The ,Volksstücke' of Felix Mitterer. In: Modern Austrian Literature 24 (1991), H. 3/4, S. 173-182. - Volker Klotz: Bürgerliches Lachtheater. Komödie - Posse Schwank - Operette. Reinbek 1987. - V. K., Helmut Schmiedt (Hg.): Bühnenschwänke. Würzburg 2000. - Jessica Milner Davis: Farce. London 1978. - Kurt Palm (Hg.): Vier österreichische Stücke. Berlin 1986. - Helmut Prang: Geschichte des Lustspiels. Stuttgart 1968. - James Redmond (Hg.): Farce. Cambridge 1988. - Bernadette ReyFlaud: La farce, ou la machine à rire. Genf 1984. - Erich Straßner: Schwank. Stuttgart 21978 Joachim Suchomski (Hg.): Lateinische Comediae des 12. Jhs. Darmstadt 1979. - Winfried Theiß (Hg.): Schwank. Bamberg 1985. Herbert

Herzmann

Schwank^ Kurze, komische Erzählung in Reimpaaren oder Prosa. Expl: ,Schwank' wird sowohl „als eine Möglichkeit jeder Gattung" (Lüthi, 13) als auch als eigenständiges literarisches Genre verstanden. Im einen Fall wird damit die narrative Basis, das erzählerische Substrat, der ? ,Plot' eines Textes bezeichnet, der im übrigen als / Exempel,

? Fabel2,

? Lied2

oder Meisterlied (y Meistergesang), / Märchen, ? Novelle,

? Predigtmärlein

oder auch

in dramatischer Form (/" Schwank¡) realisiert sein kann. Außerdem heißt Schwank eine zumeist kurze Erzählung komischen Inhalts in Reimpaaren oder Prosa. Schwänke beziehen ihren Stoff oder ihre Erzählmuster aus oft interkulturell verbreiteten, mündlichen oder schriftlichen Traditionen. Der Schwank weist Affinitäten zu anderen Typen von Kurzerzählungen auf und ist für verschiedene Intentionen oder Funktionen instrumentalisierbar.

408

Schwank2

Der einfachste Typus basiert auf dem Konflikt weniger, zumeist nur zweier (menschlicher) Figuren mit jeweils möglichen Verbündeten, deren Auseinandersetzung motiviert ist durch die Besetzung mit Angehörigen unterschiedlicher ethnischer, intellektueller, physischer, geschlechtlicher oder sozialer (im Mittelalter meist ständischer) Zugehörigkeit; es ergeben sich diverse kombinatorische Möglichkeiten und eine Zuspitzung auf ethische, moralische, rechtliche Normen gesellschaftlich definierter Gruppierungen (Adel, Bauern, Kleriker, Städter, Berufe, Ehe etc.). Die Auseinandersetzung ist nach typischen Verlaufsformen geregelt; dominant ist der Versuch der einen Figur, die andere in ihren Rechten durch Lüge, Betrug, Täuschung zu schädigen, worauf eine Gegenaktion der geschädigten Figur erfolgen kann (Bausinger 1967). Die erzählerische ? Perspektive und die Verteilung von Wissen steuern die Sympathieverteilung des Rezipienten zugunsten der siegreichen Figur. Der in der Regel komische Ausgang lizensiert die sonst unter f Tabu oder Strafe gestellten Normverletzungen. Der Schwank erlaubt, Segmente von Realität zu formulieren, die in anderen literarischen Typen ausgespart bleiben. Diese haben ihm fälschlich den Ruf größerer Wirklichkeitsnähe eingetragen. Je nach Figurenbesetzungen, Motivierungsmöglichkeiten, Zuspitzungen, Perspektivierungen und Pointierungen ergibt sich eine Nähe zum /* Witz oder zur s Satire, durch die Legitimierung, Sanktionierung oder auch Umkehrung von Normen auch ein Nähe zum Exempel und zur Didaxe (y Lehrdichtung). Die ? Fazetie hat schwankhafte Züge, ist jedoch eher, insbesondere im Typus des ,facete dictum', auf die witzige, geschliffene f Pointe angelegt. Der /" Schwankroman reiht Schwänke nach einem — meist auf eine Figur ausgerichteten — Plot. Schwänke treten häufig nicht isoliert auf, sondern als Teile einer Schwanksammlung oder eines SCHWANKBUCHS. WortG: Das starke Maskulinum swanc (ablautende Nominalbildung zu swingen schwingen') ist im Mhd. als Konkretum im Sinne von ,Schwung', ,Hieb'/,Stoß'/,Wurf', ,Drehung' belegt (frühester Beleg:,Straßbur-

ger Alexander', v. 1820, 2150; vgl. BMZ 2/2, 805 f.). Erste Belege für .(komische) Erzählung' in Verbindung mit Verben des Hörens oder Sprechens begegnen ab der Mitte des 15. Jhs. („ich hört den schwencken / gern zu"; ,Das Minneturnier', v. 1218 f.). Neben und mit anderen, zumeist synonym verwendeten Termini wie bosse, schertz, schimpf und diversen sonstigen Metaphern etabliert sich schwencke seit dem 16. Jh. als Bezeichnung für Sammlungen von Erzählungen, übertragen später auf komisches Theater im Sinne von ? Schwank,. BegrG: Literaturwissenschaftlich-terminologische Bemühungen gelten dem Begriff ,Schwank' seit den 1930er Jahren. Die Schwierigkeiten, die zu einem „Begriffschaos" (Straßner, 3) geführt haben, sind bis hin zu Lüthi in den Diskussionen über die .Eigenständigkeit' einer Gattung ,Schwank' und ihrem Verhältnis zu anderen Gattungen begründet. Diese Diskussion setzt sich, für die volkssprachliche Literatur des Mittelalters, fort im Ansatz einer eigenständigen' Gattung /" Maere. Dem Maere entspricht das afrz. Fabliau (definiert als ,conte à rire') in der romanistischen Literaturwissenschaft nur bedingt, insofern das ,schwankhafte Maere' zwar als Haupt- oder gar Urtyp begriffen wurde, jedoch daneben andere Stoffoder Funktionstypen (,moralisch-exemplarisch',,höfisch-galant') stehen, die von anderen Konventionen als von Schwank-Traditionen geprägt erscheinen. Die Kritik am Maeren-Begriff ist immer auch eine am Verständnis des Schwank(-Maere)s und dessen Position im Verbund der kleineren literarischen Genera des Mittelalters. Als Bezeichnung für komische Kurzerzählungen setzt sich Schwank im Spätmittelalter durch und greift auch auf verwandte komische Erzählformen über (eine Übersetzung der f Fazetien Heinrich Bebels erscheint unter dem Titel ,geschwenck'). Gegenwärtig wird Schwank sowohl für narrative wie dramatische komische Darbietungsformen, sowohl als selbständiger Text wie im Rahmen übergreifender Textmuster, gebraucht. Definitorische Bemühungen gelten insbesondere der Unterscheidung vom ? Witz und den Interferenzen zu anderen Erzählformen.

Schwank2

409

SachG: In größerem Umfang schriftlitera- Sammlungen des 17. (u.a. Grimmelshaurisch wird der Schwank in deutscher Spra- sen), 18. und 19. Jhs. (u.a. J. P. Hebel), die che zum ersten Mal in dem Œuvre kleinerer den im 16. Jh. entworfenen Typus tradieren, Reimpaardichtung, das dem Stricker zuge- je nach literarischem Markt, politischer Sischrieben wird (1. Hälfte/Mitte 13. Jh.). Die tuation oder auch pädagogischem Interesse strikte Funktionalisierung auf die Legitima- eher Anekdotisches betonen, die Toleranzen tion spezifischer Normen durch den Sieg für Obszönes, Satirisches oder Polemisches von norm- und situationsgerechter Klugheit nutzen oder purgierend eingreifen. Seit dem (,kündekeit': vgl. Ragotzky) mag darin be- 19. Jh. treten die unterschiedlich inspiriergründet sein, daß ,delectado' (Delectare, ten wissenschaftlichen Bemühungen um die s Unterhaltung!), Lachen, nur toleriert wur- Aufzeichnung und Sammlung von angebde, wenn es dem Nutzen (,utilitas') diente. licher oder tatsächlicher oraler Tradition, Der Typus bewegt sich zwischen Versuchen insbesondere der ,Volksliteratur' bestimmeiner didaktischen Funktionalisierung im ter sprachlich oder landschaftlich definierSinne religiöser oder alltagspraktischer ter Regionen hinzu. Normen und der unterschiedlich intensiven Präsentation einer subversiven Gegenwelt. ForschG: Die Erforschung der älteren Zuspitzungen auf das /" Groteske hin, ver- Schwankliteratur ist von ihrem Beginn im bunden mit einer Differenzierung der Moti- 19. Jh. an durch editorische, nicht allein auf vierung und mit Tendenzen zur Individuali- die Schwank-Erzählungen konzentrierte Arsierung der Figuren, zeigen sich wie in der beiten, durch moralische Vorbehalte und AbGeschichte des Maere insgesamt Ende des lehnungen und durch motivgeschichtliche 14./Anfang des 15. Jhs. bei Heinrich Kauf- Untersuchungen gekennzeichnet. Volkskundringer. Gegenüber älteren Maerensammlun- liche Bemühungen galten regional der Sammgen beginnt man sich im Spätmittelalter auf lung von Schwänken und international der Produktion und Sammlungen von Erzählun- Katalogisierung ihrer Motive. Literaturgegen eines bestimmten Typs zu konzentrieren schichten betonten in der Regel den .realisti(schon Hans Folz, Hans Rosenplüt). So schen' Zug der Schwänke. In Zusammenentstehen Vorläufer der großen Prosa- hang mit der sog. ^ Formgeschichte gelang Schwanksammlungen des 16. Jhs., die wie es Ranke und insbesondere Bausinger Johannes Paulis ,Schimpf und Ernst' schon (1967), Modelle und Verlaufsschemata zu dem Titel zufolge dezidiert auf ,delectatio' bestimmen. Das für die Texte konstitutive und Zeitverkürzung abzielen. Sie situieren Verhältnis von ,utilitas' und ,delectado' im sich noch in einem Kontext gesellig-mündli- ,moralisierten Schwank' haben Schirmer chen Erzählens, für das sie Stoffe bereitstel- und nach ihm Suchomski zu klären verlen wollen (G. Wickram, J. Frey, M. Linde- sucht. ner, V. Schumann, H.-W. Kirchhof). Angesichts dieser Stoffbezogenheit wird auf gat- Lit: Deutsche Schwankliteratur. Hg. v. Werner tungsmäßige Differenzierung, etwa die Ab- Wunderlich. 2 Bde. Frankfurt 1992 [mit Hinweis grenzung zur Fazetie, nicht geachtet. Die auf weitere Textausgaben]. Hermann Bausinger: Bemerkungen zum Sammlungen öffnen sich zunehmend auch Schwank und seinen Formtypen. In: Fabula 9 für Kuriosa aller Art. (1967), S. 118-136. - Η. Β.: Formen der .VolksBis heute ist der Schwank weithin noch ein subliterarisches Genre geblieben, das oft in der Form der Alltagserzählung auftritt. Der literarische Typus wurde in verschiedenen Gattungen wie ? Anekdote oder Humoreske weiterverarbeitet. Literarisierte Schwänke treten noch meist als plurale tantum, d. h. in Schwanksammlungen auf. Auch sind Schwänke oft in s Chroniken integriert. Nur oberflächlich gesichtet sind die

poesie'. Berlin 1968, 21980, S. 150-162. - Peter C. M. Dieckow: Um jetzt der .Katzenborischen art Rollwagenbücher' zu gedenken - Zur Erforschung deutschsprachiger Prosaerzählsammlungen aus der zweiten Hälfte des 16. Jhs. In: Euphorion 90 (1996), S. 76-133. - Hanns Fischer: Studien zur deutschen Märendichtung. Tübingen 1968, 21983. - Klaus Grubmüller: Deutsche Tierschwänke im 13. Jh. In: Werk - Typ - Situation. Fs. Hugo Kuhn. Hg. v. Ingeborg Glier u.a. Stuttgart 1969, S. 99-117. - Walter Haug:

Schwankroman

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Poetologische Universalien und Literaturgeschichte. In: W. H.: Strukturen als Schlüssel zur Welt. Tübingen 1989, S. 3 - 2 0 . - W. H„ Burghart Wachinger (Hg.): Kleinere Erzählformen des 15. und 16. Jhs. Tübingen 1993 [darin Barner, Glier, Kartschoke, Röcke]. - Hans Robert Jauß: Alterität und Modernität der mittelalterlichen Literatur. München 1977, S. 9 - 4 7 . - Gerhard Kuttner: Wesen und Formen der deutschen Schwankliteratur des 16. Jhs. [1934], Repr. Nendeln 1967. - Max Lüthi: Märchen. Stuttgart 1962, 7 1979. - Irmgard Meiners: Schelm und Dümmling in Erzählungen des deutschen Mittelalters. München 1967. Elfriede Moser-Rath: „Lustige Gesellschaft". Schwank und Witz des 17. und 18. Jhs. in kulturund sozialgeschichtlichem Kontext. Stuttgart 1984. — Norbert Neumann: Vom Schwank zum Witz. Frankfurt, New York 1986. - Hedda Ragotzky: Gattungserneuerung und Laienunterweisung in Texten des Strickers. Tübingen 1981. — Kurt Ranke: Schwank und Witz als Schwundstufe. In: Fs. Will-Erich Peuckert. Hg. v. Helmut Dölker. Berlin u.a. 1955, S. 4 1 - 5 9 . - Daniel Rocher: Inwiefern sind Strickers ,maeren' echte ,contes à rire'? In: Wolfram-Studien 7 (1982), S. 132-143. - Werner Röcke: Die Freude am Bösen. Studien zu einer Poetik des deutschen Schwankromans im Spätmittelalter. München 1987. - Karl-Heinz Schirmer: Stil- und Motivuntersuchungen zur mittelhochdeutschen Versnovelle. Tübingen 1969. - Ingrid Strasser: Vornovellistisches Erzählen. Wien 1989. — Erich Straßner: Schwank. Stuttgart 1968, 2 1978. Hauke Stroszeck: Pointe und poetische Dominante. Deutsche Kurzprosa im 16. Jh. Frankfurt 1970. - Joachim Suchomski: ,Delectatio' und .Utilitas'. Bern, München 1975. - Gerhard Wolf: „Allhie mueß ich ain gueten schwank einmischen". Zur Funktion kleinerer Erzählungen in der Zimmerischen Chronik. In: Kleinere Erzählformen im Mittelalter. Hg. v. Klaus Grubmüller u.a. Paderborn u.a. 1988, S. 173-186. - HansJoachim Ziegeler: Erzählen im Spätmittelalter. München 1985.

Hans-Joachim

Schwankbuch

Ziegeler

Schwank2

Schwankroman Biographisch lung.

geordnete

Schwanksamm-

Expl: Schwankroman heißt eine Sammlung von häufig auch anderwärts überlieferten

Schwänken, die durch die Anbindung an einen Helden in eine zumeist chronologischbiographische Ordnung gebracht sind. Einzelne Schwänke können dabei immer wieder in unterschiedliche ,Schwankbiographien' eingefügt werden. Schwankromane zeichnen sich durch eine weitgehende Mobilität der Schwankhelden, die Dialogisierung vorliegender Denkmuster und Überzeugungen sowie durch eine Gattungsmischung von Schwank (y Maere, ? Schwank2) und Exempel, S Sprichwort und Rätsel, komischem Roman (/" Schelmenroman) und Narrendichtung (/* Narrensatire) aus. Sie folgen häufig der Form des ,listig-betrügerischen Besitzerwerbs' sowie der Opposition von Lebensklugheit und Dummheit. Es gibt Ansätze zu einer Individualisierung des Schwankhelden. Schwankromane zeigen eine Vorliebe für die verschiedensten Bereiche der ,Nicht mehr schönen Künste' (H. R. Jauß), wie Übervorteilung und Betrug, Häßlichkeit und Obszönität, Gewalt, und ein signifikantes Interesse an den Öffnungen und Funktionen des ,grotesken Körpers' (Bachtin; /" Grotesk, Karneval). Viele Schwankhelden dieses Romantyps sind dauernd unterwegs, ihre Lebensform ist die Reise. Erst in späten Ausformungen des Gattungstyps, wie dem ,Lalebuch' (1597), werden sie seßhaft. Schwankhelden finden ihre soziale Identität in der Aufhebung, nicht in der Stiftung von Gemeinschaft. Demgegenüber liegt die ,Dummheit' ihrer Kontrahenten zumeist weniger in intellektuellen Defiziten als in der Eindeutigkeit und Regelgebundenheit ihres Denkens, Sprechens und Handelns. Während für sie Handlung und Zweck, Wesen und Erscheinung weitgehend identisch sind, wird deren Einheit von den Schwankhelden erfolgreich unterlaufen: Sie passen sich formal den Regeln ihrer Gegner an, verfolgen damit aber ausschließlich ihre eigenen Zwecke und Interessen. Schein und Sein, Inneres und Äußeres des Menschen bilden keine Einheit, sondern werden Spielmaterial einer Individualität, die ausschließlich dem eigenen Vorteil verpflichtet ist. Dabei ermöglicht die Komik, mit Ausnahme des ,Lalebuchs', kein befreiendes Gelächter, sondern zeigt eine aggressive ,Freude am

Schwankroman Bösen', die in der deutschen Schwanktradition des Spätmittelalters — ähnlich wie in den französischen Fabliaux — die Möglichkeit eröffnet, „dem Niedrigen, Häßlichen und Gemeinen im irdischen Dasein, kurz: dem Nicht-Darstellungswürdigen den Zugang zur Kunst zu öffnen, es zu ,poetisieren' " (Beyer, 9). WortG/BegrG: Ihre erste zusammenfassende Erwähnung finden die Schwankromane in K. F. Floegels ,Geschichte der Hofnarren' (1789). Er beschreibt sie als Sammlungen „poßierlicher Schwänke [...] allgemeiner Lustigmacher oder Volksnarren" (Floegel, 458) und legt damit die Deutungsgeschichte der Schwankromane bis ins 20. Jh. fest. Noch F. Bobertag hat seine Neubearbeitung und Edition von Schwankromanen als Narrenbuch bezeichnet (1884). Die von H.Fischer (1957/58) für Strickers ,Pfaffe Amis' vorgeschlagene Gattungsbezeichnung Schwankroman ist inzwischen anerkannt und hat die ältere Bezeichnung Narrenbücher ersetzt. Karl Friedrich Floegel: Geschichte der Hofnarren. Liegnitz, Leipzig 1789.

SachG: Die Anfange des Schwankromans liegen in der lateinischen Unterhaltungsliteratur, die sich seit dem 11. Jh. größter Beliebtheit erfreut und wohl klösterlichen Kontexten entstammt. Das gilt insbesondere für die Erzählung vom Einochsbauer, der zur Durchsetzung seines Interesses buchstäblich über Leichen geht (,Unibos', 11. Jh.), oder für den ,Ysengrimus' des Genter Magisters Nivardus, ein satirisches Tierepos des 12. Jhs. mit schärfsten Angriffen auf Mönchtum und Ordensleben u.a. An diese Tradition schließt im Deutschen unmittelbar — ebenfalls mit deutlicher satirischer Tendenz — der ,Reinhart Fuchs' (y Tierepik) an. Der erste deutsche Schwankroman, Strickers ,Pfaffe Amis', erweitert den satirischen Blick auf den ,mundus perversus' aller Stände und Gruppen. Dieses Erzählmodell wird bis ins Spätmittelalter (Philipp Frankfurter: ,Geschieht des Pfarrers vom Kalenberg'; ,Ein kurtzweilig Lesen von Dil Ulenspiegel') weiter ausdifferenziert; einzelne Texte hingegen beschränken sich auf die geschlossene Welt des Klosters

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(,Bruder Rausch') oder zeigen die Brüchigkeit bestimmter gesellschaftlicher Institutionen, ζ. B. des Hofes (,Salomon und Markolf'). Mit den protestantischen Adaptationen des Gattungstyps (Wolfgang Büttner: ,Claus Narr'; Bartholomäus Krüger: ,Hans Ciawert') sowie mit seiner Erweiterung zur Geschichte der Lalen in Laleburg (,Lalebuch') endet die Gattungsgeschichte des Schwankromans; im dritten Teil der ,Historia von D. Johann Fausten' (1587) wird der Teufelsbündner Faust zum Schwankhelden stilisiert. Mit dem f Schelmenroman des 16./17. Jhs. (.Lazarillo von Tormes'; Mateo Alemán: ,Guzmán de Alfarache', 1599— 1604; Grimmelshausen: ,Abentheurlicher Simplicissimus Teutsch') gibt es einige Übereinstimmungen, doch ist der Schelmenroman wegen seiner konsequenteren Ausrichtung auf komplexere narrative Muster als eigenständige Ausformung des komischen Romans anzusehen. Das Ende des Schwankromans wird darin begründet sein, daß er mit solchen differenzierteren Erzählformen nicht Schritt halten kann. ForschG: Zwar hatten bereits K. Rosenkranz und G. G. Gervinus in ihren Literaturgeschichten versucht, die Schwankromane vom Vorwurf närrischer Possenhaftigkeit zu befreien, und statt dessen ihre Gegenbildlichkeit zum Höfischen Roman betont: „Natur soll die Unnatur ersetzen, das Thierische das Heroische, die Caricatur das Ideal [...]" (Gervinus, 355). Dennoch hat sich die These von der programmatischen Negativität der Schwankhelden in der Schwankforschung des 19. und frühen 20. Jhs. nicht durchgesetzt. Erst der rasche Fortschritt der Maeren- und Fabliaux-Forschung (Fischer, Beyer, Nykrog u. a.) führte dazu, daß Bauform und Poetik auch der Schwankromane präziser gefaßt werden konnten (Röcke). Lit: Felix Bobertag (Hg.): Narrenbuch. Kalenberger - Peter Leu - Neithart Fuchs — Markolf - Bruder Rausch. Berlin, Stuttgart 1884. Wolfgang Büttner: Von Claus Narren [1572]. Frankfurt 1602. - Viktor Dollmayr (Hg.): Die Geschichte des Pfarrers vom Kalenberg. Halle 1906. - Frag und antwort Salomonis vnd marcolfij. Nürnberg 1483. - Friedrich Heinrich von der Hagen (Hg.): Narrenbuch. Halle 1811. -

412

Science Fiction

Walter Hartmann (Hg.): Salomon und Markolf. Halle 1934. — Bartholomäus Krüger: Hans Ciawerts Werckliche Historien. Hg. v. Theodor Raehse. Halle 1882. - Wolfgang Lindow (Hg.): Ein kurtzweilig Lesen von Dil Ulenspiegel [1515]. Stuttgart 1966. - Der Stricker: Der Pfaffe Amis. Hg. v. Michael Schilling. Stuttgart 1994. - [Umbos:] Karl Langosch (Hg.): Waltharius. Ruodlieb. Märchenepen. Darmstadt 1960. Michail Bachtin: Rabelais und seine Welt. Hg. v. Renate Lachmann. Frankfurt 1987. - Jürgen Beyer: Schwank und Moral. Untersuchungen zum altfranzösischen Fabliau und verwandten Formen. Heidelberg 1969. — Hanns Fischer: Zur Gattungsform des ,Pfaffen Amis'. In: ZfdA 88 (1957/ 58), S. 291-299. - H. F.: Studien zur deutschen Märendichtung. Tübingen 1968, 2 1983. - Georg Gottfried Gervinus: Geschichte der poetischen National-Litteratur der Deutschen. Bd. 2. Leipzig 2 1842. - Sabine Griese: Salomon und Markolf. Tübingen 1999. - Volker Honemann: Unibosund Amis. In: Kleinere Erzählformen im Mittelalter. Hg. v. Klaus Grubmüller u.a. Paderborn u.a. 1988, S. 5 7 - 8 2 . - Erhard Jost: Bauernfeindlichkeit. Die Historien des Ritters Neidhart Fuchs. Göppingen 1976. — Odo Marquard: ,Malum'. In: HWbPh 5, Sp. 6 5 2 - 6 5 6 . - Per Nykrog: Les fabliaux. Kopenhagen 1957. - Werner Röcke: Die Freude am Bösen. Studien zu einer Poetik des deutschen Schwankromans im Spätmittelalter. München 1987. — Karl Rosenkranz: Geschichte der deutschen Poesie im Mittelalter. Halle 1830. - Hans-Günter Schmitz: Wolfgang Büttners Volksbuch von Claus Narr. Hildesheim, New York 1990.

Werner Röcke

Schwulst

Manierismus

Science Fiction Naturwissenschaftlich-technisch akzentuierte Sonderform der utopischen bzw. zukunftsphantastischen Erzählprosa und ihrer audiovisuellen Umsetzungen. Expl: (1) Fiktionale Erzählprosa, die (2) das Bild einer sich von der realen Gegenwart des Autors in zumindest einem Punkt fundamental unterscheidenden Welt entwirft, wobei (3) solche Abweichungen u. a. technischer, naturwissenschaftlicher, medizinischer, sozialer Natur sein können und (4) die

Texte entweder in einer Zukunftswelt oder aber in einer .verfremdeten' Gegenwart spielen. Von anderen, verwandten Prosa-Formen unterscheidet sich die Science Fiction durch folgende Kriterien: von der Phantastischen Literatur durch das Überwiegen empirisch-logisch nachvollziehbarer Abweichungen; von der reinen ? Utopie durch die Möglichkeit, auch irrationale, übersinnliche, anti-empirische Momente einzubeziehen; vom /" Abenteuerroman durch den generell erkenntnisbezogenen Charakter. In den letzten Jahrzehnten ist das Etikett Science Fiction (oder SF) über diesen terminologischen Gebrauch hinaus zunehmend zu einem bloß verkaufsfördernden Sammelbegriff geworden, der oft auch rein phantastische Texte einschließt, die mit der ursprünglichen Konzeption von Science Fiction nichts mehr zu tun haben. Oft mit der Science-Fiction-Literatur verwechselt wird insbesondere die sogenannte Fantasy (/* Phantastische Literatur), die im Unterschied zu Science Fiction abgesunkene' Motive des Ritterromans bzw. der ^ Artusepik mit märchenhaften, mythischen und romanzenhaften Zügen mischt und der ,science', der,Wissenschaftlichkeit', ganz abhold ist. WortG/BegrG: Abgeleitet von engl, science ,(Natur-) Wissenschaft' aus lat. scientia über afrz. science (Kluge-Seebold23, 752) und engl, fiction ,Fiktion',,fiktive Erzähl-Literatur' ( / Fiktion), bezeichnet die junge Wortverbindung Science Fiction (vereinzelt seit 1851, regelmäßig erst im 20. Jh. nachweisbar; OED 18,649 f.) ursprünglich eine Kombination aus naturwissenschaftlichen Fakten und phantastischer Spekulation. Ende des 19. Jhs. nannte H. G. Wells seine Romane scientific romances. Als feste Genre-Bezeichnung ist Science Fiction dann wohl zum ersten Mal von Hugo Gernsback im Titel eines amerikanischen ,pulp-magazine' aus dem Jahre 1929 benutzt worden. Die Benennung Science Fiction sollte sich von da an weltweit durchsetzen; nur im dt. Sprachraum hielt sich bis in die 1960er Jahre das leicht irreführende Etikett des ZUKUNFTSROMANS, das durch die so benannten Romane Hans Dominiks Verbreitung erhalten hatte. Parallel zur Bedeutungserweiterung des Wortes

Science Fiction science im Engl., das seit den 1920er Jahren zunehmend auch auf die Humanwissenschaften angewandt wird (etwa social science oder human sciences), hat sich auch der Begriff der Science-Fiction-Literatur seitdem verstärkt auf sozial oder ökologisch akzentuierte Beiträge ausgeweitet. SachG: Trotz aller Versuche, die Entstehung der Science Fiction auf den Einfluß einer bestimmten literarischen Gattung oder Epoche oder gar eines einzelnen Literaturwerks (wie Mary Shelleys Frankenstein') zurückzuführen, läßt sich dieses Genre am besten als literarische Mischform verstehen, die Momente aus unterschiedlichen, einander zum Teil diametral entgegengesetzten literarischen Strömungen miteinander verschmolzen und in sich aufgenommen hat: der ? Lügendichtung, der ins ? Phantastische tendierenden Reisebeschreibung (/" Reiseliteratur), der Utopie und des S Schauerromans. Der entscheidende Schritt zur Entstehung der Science-Fiction-Literatur vollzog sich um die Mitte des 19. Jhs. unter Einfluß immer revolutionärerer technischer Erfindungen und der Erforschung der letzten ,weißen Flecken' auf der irdischen Landkarte. Die Romane des Franzosen Jules Verne (1828-1905) spielen nicht in der Zukunft, sondern in einer durch phantastische Extrapolationen (Unterseeboot, Mondrakete, Superbombe) erweiterten und veränderten Gegenwart. Anders in den Büchern seines englischen Zeitgenossen H. G. Wells: Er wendet sich weniger technisch-naturwissenschaftlichen Themen zu als philosophischen, historischen und sozialen Fragestellungen. So ist in ,The First Men in the Moon' (1901) das soziale Ethos der Wissenschaftler wichtiger als die Technik der Mondlandung, so stellt ,The Time Machine' (1895) die Darwinsche Evolutionstheorie als fragwürdig dar, und so erweisen sich die Mars-Bewohner in ,The War of the Worlds' (1898) als blutrünstige Imperialisten. Die kritischen und warnenden Züge der Werke von Wells haben später vor allem bei Huxley (,Brave New World', 1932) und Orwell (,1984', publiziert 1948) ihren Niederschlag gefunden. Schon früh erkannten auch die Machthaber der jungen Sowjetunion die Möglichkei-

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ten des neuen Genres Science Fiction für eine Popularisierung technisch-wissenschaftlicher Innovationen ebenso wie ihre Nutzbarkeit für Propaganda (z. B. Alexei Tolstois ,Aelita', 1922; später die Romane von Ivan Jefremow wie 1957 ,Tumannost Andromedy' mit ihrer Verbindung von Weltraum-Idylle und kommunistischer Ideologie). Allerdings wurde auch die Möglichkeit erkannt, in Form von Science-Fiction-Texten regimekritische Meinungen versteckt zu verbreiten (etwa der anti-stalinistische Roman ,Es ist nicht leicht, ein Gott zu sein' von A. und B. Strugazkij, 1964). Eine intrikate Mischung aus Dialektik, Logik, bizarren und phantastischen Momenten, wissenschaftlicher Theorie und Ironie zeichnet dann die Werke des wohl bekanntesten polnischen Science-Fiction-Autors, Stanislaw Lem, aus: Die skeptischen Züge überwiegen besonders im Welterfolg .Solaris' (1961). Das erste bedeutende Werk deutscher Science Fiction ist wohl ,Auf zwei Planeten' von Kurd Laßwitz (1897); ganz anders als ein Jahr später bei Wells sind hier die MarsBewohner humaner, kultivierter, begabter und ethisch hochstehender als die Erdenmenschen. Auch im Werk des Unterhaltungsschriftstellers Robert Kraft finden sich technische Utopien (,1m Aeroplan um die Erde', 1908), Dystopien (,Die Nihilit-Expedition', 1908; /" Utopie) und KatastrophenRomane (,Die neue Erde', 1910). Dagegen treten in B. Kellermanns ,Der Tunnel' (1913) technische Phantasien in den Hintergrund zugunsten der sozialen Implikationen des Romangeschehens, der Erbauung eines Tunnels unter dem Atlantik, der Europa und Amerika verbinden soll (wie viele SFRomane 1933 durch K. Bernhardt mit G. Gründgens erfolgreich verfilmt). Pseudowissenschaftliche Theorien und nationalistische Tendenzen finden sich nicht nur bei Autoren wie O. W. Gail (,Schuß ins All', 1925), sondern auch in den Werken des Zwickauer Ingenieurs Hans Dominik, dessen ,Atlantis' (1925) Weltruhm erlangte. Nach 1945 kam es in West- und Ostdeutschland zu getrennten Entwicklungen: Während bei Autoren der DDR nach sowjetischem Vorbild die technischen Utopien und Weltraum-Romane vorherrschten (K. Frühauf,

414

Script-Theorie

W. Weitbrecht, K.-H. Tuschel; vgl. Spittel), orientierten sich ihre westdeutschen und österreichischen Kollegen (W. Jeschke, H. J. Alpers, Herbert W. Franke) mehr an amerikanischer Science-Fiction. Doppelbödigen Charakter haben die SF-Anspielungen im avantgardistischen Erzählwerk von Arno Schmidt: ,Die Gelehrtenrepublik' (1957) kreuzt Klopstocks ästhetisches Programm von der deutschen Gelehrtenrepublik mit Jules Vernes gescheiterter Utopie der ,Propellerinsel' zu einem satirisch-kritischen Panorama bundesdeutscher Befindlichkeiten der 1950er Jahre. Doch sind hier, wie verstärkt in seinem Roman ,KAFF auch Mare Crisium' (1960), die betreffenden Passagen weniger Science-Fiction-Parodie als vielmehr eine Montage-Kette literarischer Zitate vom ,Nibelungenlied' bis zur avancierten Moderne. Durch die sich ständig erweiternden Möglichkeiten filmischer bzw. digitaler , special effects' wurde Science Fiction jenseits des gedruckten Buches oder selbst des /" Comics (,Superman', ,Perry Rhodan' etc.) in den letzten Jahrzehnten zunehmend zu einem Genre aufwendiger Großproduktionen des Films (mit Klassikern wie Stanley Kubricks ,2001: A Space Odyssey' 1968; der noch anwachsenden ,Star Wars'-Trilogie von George Lucas ab 1977 im Grenzbereich zur Fantasy; oder Steven Spielbergs ,Jurassic Park', 1993) und der /" Serien aus Fernsehstudios (zwischen R. W. Fassbinders kritisch-anspruchsvoller /" Potenzierung des Mediums im Vierteiler ,Welt am Draht' von 1973 und der seit 1966 nahezu weltweit zum Kult avancierten ,Star Trek'-Serie .Raumschiff Enterprise'). ForschG: Die Literaturwissenschaft hat sich der Science Fiction nur zögerlich und praktisch erst nach 1945 zugewendet (Bibliographie bei Illmer; Forschungsberichte bei Barmeyer, Schulz und Friedrich). Das bis dahin in Frankreich verbreitete Bild vom naiven Utopisten und miserablen Stilisten Verne korrigierten unabhängig voneinander Barthes (1964) und Butor (1965); parallel dazu machte Bergonzi (1969) auf die Frühwerke H.G. Wells' aufmerksam. In zahlreichen Arbeiten seit 1970 hat der Kroate

D. Suvin bedeutende Verdienste um die theoretische Erforschung der Science Fiction erworben, die er (im Anschluß an Theorien Sklovskijs) zur Literatur der f Verfremdung2 zählt und der .realistischen' (/" Realismusj) Erzählliteratur entgegensetzt. Ist für Suvin besonders Verne mit seinen ,Privatwelten' beispielgebend, erkennt der Engländer B. W. Aldiss die Wurzeln der Science Fiction vor allem in Mary Shelleys .Frankenstein', in Traditionen der phantastischen Literatur und in der englischen .romance' des Mittelalters. Lit: Brian W. Aldiss: Billion year spree. London 1975. - Eike Barmeyer (Hg.): Science Fiction. Theorie und Geschichte. München 1972. — Roland Barthes: Mythen des Alltags. Frankfurt 1964. — Bernard Bergonzi: The early H. G. Wells. Manchester 1969. - Michel Butor: Repertoire. Bd. 3: Aufsätze zur modernen Literatur und Musik. München 1965. - Umberto Eco: Apokalyptiker und Integrierte. Zur kritischen Kritik der Massenkultur [1973], Frankfurt 1984. - Henning Franke: Der politisch-militärische Zukunftsroman in Deutschland 1904-14. Frankfurt u. a. 1985. — Hans-Edwin Friedrich: Science fiction in der deutschsprachigen Literatur. Tübingen 1995. - Jörg Hienger: Literarische Zukunftsphantastik. Göttingen 1972. - Horst Illmer: Bibliographie Science-fiction & Fantasy. Wiesbaden 1998. - Hans-Joachim Schulz: Science Fiction. Stuttgart 1986. - Olaf R. Spittel: Science fiction in der DDR. Barnstorf 2000. - Darko Suvin: Poetik der Science Fiction. Frankfurt 1979. Christoph

F. Lorenz

Script-Theorie Konzept der kognitivistischen Forschung und seine Anwendung auf literarische Phänomene. Expl: Wann immer wir einen Satz bilden, ein Buch lesen, einen Witz verstehen, laufen dabei in unserem Gehirn komplizierte Prozesse ab. Die Regeln, denen diese ,kognitiv' genannten Vorgänge folgen, versucht die neuere Forschung u. a. mit der Analyse von ,Scripts' zu erhellen. Ein Script ist ein mentales ,Schema': ein Bündel von gespeichertem Wissen in unserem Gedächtnis, das

Script-Theorie schon durch ein einzelnes Wort wie „Frühling" (oder den Ausruf „Klopstock!" in Goethes .Werther') blitzartig abgerufen wird. Dabei analysieren Script-Theorien das ? Verstehen als eine Wechselbeziehung zwischen dem Text, der die Prozesse auslöst, und denjenigen mentalen Strukturen, die den prozessualen Ablauf steuern. Die in den Scripts gespeicherten Informationen unterschiedlicher Komplexität (von den Bestandteilen eines Stuhls bis zu historischen Schachpartien) gelten als individuell erworben und deshalb individuell veränderbar; ihr Inhalt allerdings wird oft als allgemein bekanntes .gegenseitig unterstelltes Wissen' vorausgesetzt. [Terminologisches Feld:] FRAME (dt. ζ. T. auch RAHMEN): Als Begriff aus der Forschung zur Künstlichen Intelligenz repräsentiert ein ,Frame' eine stereotype Situation als Datenstruktur (Minsky, 212), etwa den mehrere Scripts versammelnden Rahmen ,Besuch im Restaurant'; Eco adaptiert den Begriff passend als „Szenographie" (Eco, 98). MAPPING: Mit der Vorstellung einer geistigen Landkarte', die sich aus dem persönlichen Ensemble von ,Scripts' und den sie situierenden ,Frames' zusammensetzt (vgl. Downs/Stea, Kitchin/Freundschuh), haben Lakoff und Turner nicht nur den /* Bedeutungsaußau von Gedichten als mentalen Prozeß des ,Verortens' rekonstruiert (vgl. bes. Lakoff/Turner, 59 f.); das Konzept des .Mapping' bzw. ,Re-Mapping', das Überlagern und individuelle Anpassen mentaler Schemata beim Verstehen von /" Metaphern oder / Metonymien, liefert auch eine kognitivistische Entsprechung zu Blacks und Weinrichs ,Interaktions-Theorie' der Metapher und allgemeiner jeder literarischen /" Uneigentlichkeit (vgl. Lakoff/Johnson). WortG/BegrG: Script (dt. auch Skript) ist übernommen von engl, script (aus lat. scriptum ,das Geschriebene'), das neben akademischen Textentwürfen aller Art besonders .Drehbuch' für Film und Radio bedeutet (OED 14, 740 f.; Schulz-Basler, 4, 230). Zur terminologischen Differenzierung sind eine Vielzahl von Begriffen und terminologischen Benennungen entstanden (vgl. Konerding,

415

20-80). Bartlett verwendet 1932 zunächst Schema zur Erklärung seiner Experimente über Erinnerungsfähigkeit (Bartlett, 199 f.). Für die Karriere des Terminus script (zuerst expliziert bei Schank/Abelson 1977, 36—68; dt. 1980 bei Aebli 1, 189) war seine Einführung in die Artificial-Intelligence-Forschung (vgl. Schwarz, 91 f.) und seine Übernahme in die Linguistik (durch Fillmore u. a.) von Bedeutung. Script wird dabei teils speziell verstanden als standardisierter Ablauf von Ereignissen in einem bestimmten Kontext (Schank/Abelson, 41), teils aber auch als allgemeiner Terminus für mentale Schemata (vgl. Attardo, 2 - 8 ) . SachG/ForschG: Die Script-Theorie ist eng verbunden mit dem Aufstieg des Kognitivismus als interdiszplinäre Forschungsrichtung zwischen neurobiologischer Hirnforschung, empirischer Psychologie, .Philosophy of mind' und theoretischer Linguistik. Er hat seinen Ausgangspunkt seit den 1920er Jahren v. a. bei den Arbeiten von Piaget und Bartlett genommen; der ,cognitive turn', die sogenannte .Kognitive Wende' vieler beteiligter Fächer (vgl. Figge), vollzog sich in den 1960er bis 1990er Jahren (Einführung des Begriffs der .Kognitiven Psychologie' durch Neisser u. a.; zur .Kognitiven Linguistik' vgl. Lakoff u. a., Langacker, Schwarz). Die Script-Theorie war von Anfang an eng verbunden mit dem Blick auf literarische Phänomene (vgl. Hobbs, Turner, Winko) — insbesondere der Erforschung der Prozesse, die sich beim Verstehen von Erzähltexten ereignen (Bartlett, Emmott). Seitdem die Bedeutung der Scripts für das Ergänzen von Informationen, die nicht explizit im Text enthalten sind, erkannt wurde (dazu Kintsch/ van Dijk, 365 f.), gehören sie zu den Instrumenten der Textlinguistik (z. B. Müske; vgl. de Beaugrande/Dressler, 96) und der Empirischen Literaturwissenschaft (z. B. Viehoff, László/Viehoff). Neben der angeführten Bedeutung für die Metaphern-Analyse haben sich kognitivistische Konzepte wie ,Script' und .Frame' besonders in der neueren / Humor-Theorie bewährt (Attardo), etwa in der Rekonstruktion mentaler Abläufe beim Erzeugen und Verstehen von f Pointen als blitzschnelle Ersetzung eines

416

Selektion

erwarteten Scripts durch ein anderes (Wenzel, Müller). Lit: Hans Aebli: Denken: das Ordnen des Tuns. 2 Bde. Stuttgart 1980 f. - Salvatore Attardo: Humorous texts. Berlin 2001. - Frederick C. Bartlett: Remembering. Cambridge 1932, Repr. 1977. Robert-Alain de Beaugrande, Wolfgang U. Dressier: Einführung in die Textlinguistik. Tübingen 1981. - Roger M. Downs, David Stea: Maps in minds. Reflections on cognitive mapping. New York 1977. — Umberto Eco: Lector in fabula. München 21994. - Catherine Emmott: Narrative comprehension. Oxford 1997. — Udo L. Figge: Die kognitive Wende in der Textlinguistik. In: Text- und Gesprächslinguistik. Hg. ν. Klaus Brinker u. a. Berlin 2000, S. 96-104. - Charles J. Fillmore: Topics in lexical semantics. In: Current issues in linguistic theory. Hg. v. Roger W. Cole. Bloomington 1977, S. 76-138. - Joanna Gavins, Gerard Steen (Hg.): Cognitive poetics in practice. London 2003. - Jerry R. Hobbs: Literature and cognition. Stanford 1990. - Walter Kintsch, Teun A. van Dijk: Toward a model of text comprehension and production. In: Psychological Review 85 (1978), S. 363-394. - Rob Kitchin, Scott Freundschuh (Hg.): Cognitive mapping. London 2000. — Klaus-Peter Konerding: Frames und lexikalisches Bedeutungswissen. Tübingen 1993. — George Lakoff, Mark Johnson: Metaphors we live by. Chicago 1980. - G. L., Mark Turner: More than cool reason. A field guide to poetic metaphor. Chicago 1989. - Roland W. Langacker: Foundations of cognitive grammar. 2 Bde. Stanford 1987,1991. János László, Reinhold Viehoff: Literarische Gattungen als kognitive Schemata. In: SPIEL (Siegener Periodicum zur internationalen empirischen Literaturwissenschaft) 12.1 (1993), S. 230-251. Marvin Minsky: A framework for representing knowledge. In: The psychology of computer vision. Hg. v. Patrick Henry Winston. New York 1975, S. 211-277. - Ralph Müller: Theorie der Pointe. Paderborn 2003. - Eberhard Müske: Diskurssemiotik. Zur funktionellen Integration des Frame-Konzepts in ein dynamisches Modell literarisch-künstlerischer Texte. Stuttgart 1992. - Ulric Neisser: Kognitive Psychologie [1967]. Stuttgart 1974. - Roger C. Schänk, Robert P. Abelson: Scripts, plans, goals and understanding. Hillsdale 1977. - Monika Schwarz: Einführung in die kognitive Linguistik. Tübingen 21996. - Elena Semino, Jonathan Culpepper (Hg.): Cognitive stylistics. Language and cognition in text analysis. Amsterdam u. a. 2002. - Peter Stockwell: Cognitive poetics. London u. a. 2002. — Mark Turner: The literary mind. New York 1996. - Reinhold Viehoff: Literarisches Verstehen. In: IASL 13 (1988), S. 1 - 3 9 . - Peter Wenzel: Von der Struktur des Witzes zum Witz der Struktur. Heidelberg

1989. — Simone Winko: Verstehen literarischer Texte versus literarisches Verstehen von Texten? Zur Relevanz kognitionspsychologischer Verstehensforschung für das hermeneutische Paradigma der Literaturwissenschaft. In: DVjs 69 (1995), S. 1-27. Ralph Müller

Sekundenstil ? Naturalismus Selbstreferenz

Potenzierung S Systemtheorie

Selbstverlag S Verlag Selektion Auswahl aus einem System, literarisch besonders: aus sprachlichen Alternativen. Expl: In den Literaturwissenschaften spielt der Begriff der Selektion überall dort eine Rolle, wo Auswahl und ihre Kriterien wichtig werden: bei Fragen der poetischen Lexik und in der Gattungstheorie ebenso wie z.B. in der literarischen Gruppenbildung (Gruppenstil, ? Stil) und bei Auswahlfragen eines /" Kanons. Eine spezifische Bedeutung erhält der Begriff durch den Prager /" Strukturalismus. In einem mittlerweile grundlegenden Modell der Kommunikationstheorie, das Jakobson 1960 formulierte, beschreibt »Selektion' eine wichtige Relation von Text und REPERTOIRE (also dem Zeichensystem, aus dem er gebildet ist): Aus einer Àquiva/enz-Klasse von Größen, die füreinander stehen können (Paradigma), wird mit der konkreten Äußerung jeweils eines ausgewählt (,selegiert'). Im Modell stellt diese Klasse die vertikale ,Achse der Selektion' oder ,paradigmatische Achse' dar. Eine zweite, horizontale ,Achse der KOMBINATION' oder ,syntagmatische Achse' regelt dagegen die Verknüpfung der gewählten Elemente (Syntagmata) neben- bzw. nacheinander (s Äquivalenzprinzip). WortG: Selektion (lat. selectio ,Auswahl', ,Auslese') ist im Dt. seit dem 19. Jh. belegt (Kluge-Seebold 23 , 756; Schulz-Bas-

Semantik 1er 4, 112—114) und gelangt meist über das gleichbedeutende engl, selection in die wissenschaftliche Terminologie. Im allgemeinen Sprachgebrauch sowie von zahlreichen Wissenschaften und Institutionen wird Selektion als Fremdwort im Sinne der dt. ,Auswahl' verwendet; über die jeweiligen Fachbereiche hinaus bekannt sind vor allem Darwins Titelprägung ,On the origin of species by means of natural selection [.natürliche Auslese']' (1859); besonders in dt. Verwendung aber auch die nationalsozialistische Sprachregelung als Euphemismus für die Bestimmung der Gaskammer-Opfer. Für die sprach- und kulturwissenschaftliche Verwendung ist neben dem linguistisch fundierten vor allem der Selektions-Begriff der Wissenssoziologie für die Grundoperation der handlungsrelevanten Auswahl von Weltwissen bedeutsam geworden (vgl. zusammenfassend dazu M. Schmid 1998). BegrG/ForschG: In seiner grundlegenden Version sollte das Achsenmodell der Selektion, auf sprachliche Zeichenketten bezogen, die /" Poetische

Funktion v o n S p r a c h e

aufzeigen, wie dies in der vielzitierten Kernstelle Jakobsons formuliert ist: „Die poetische Funktion überträgt das Prinzip der Äquivalenz von der Achse der Selektion auf die Achse der Kombination" (Jakobson 1971, 153). Aus dieser .Überlagerung' resultiert demnach die eigentümliche Polysemie bzw. f Ambiguität poetischer Texte, welche auch nicht an die ,Selektionsbeschränkungen' (Chomsky 1969; vgl. Titzmann 1977, 62) in der Kombinierbarkeit von Ausdrükken in grammatisch korrekten Äußerungen gebunden sind (Lotman 1972, 123; s Abweichung).

Von der Semiotik und anderen Einzeldisziplinen aufgenommen und z. T. aktualisiert, hat diese Achsen-Formulierung zunehmend den Charakter eines universalen semiotischen Modells erhalten. Fachspezifischere Anwendungen, die selbst oft methodisch-beispielhaften Charakter haben, reichen daher von der Ethnologie (LéviStrauss 1968) bis zur Kunstwissenschaft (Thürlemann 1990) und sind zentral für die /" Linguistische Poetik. Methodisch problematisch bleibt dabei allerdings die Semanti-

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sierung rein struktureller Beobachtungen, deren kulturabhängige oder gar willkürliche Ergebnisse wiederholt Anlaß zur Kritik gaben (z.B. Posner 1971 zu Jakobson/LéviStrauss, Culler 1975 zu Barthes). Direkt auf Darwins erstmaligen Gebrauch als subjektlose Selektion „ohne Autor" beruft sich Luhmann für seine S Systemtheorie (1987, 589). .Selektion' wird hier als die systemeigene Auswahl von Umwelt-Ereignissen für die Aktualisierung im System begriffen, entsteht also zunächst in der Differenzqualität von Umwelt und System, dessen eigene Komplexität .Selektion' erfordert. Besondere Bedeutung erlangt der Begriff dabei im Bezug auf ,Sinn' und ,Kommunikation', wofür er unmittelbar konstitutiv ist: „Sinn läßt keine andere Wahl als zu wählen. [...] Kommunikation ist Prozessieren von Selektion" (ebd., 194). Dadurch, daß in realisierte Selektionen wiederum andere Selektions-Zusammenhänge eingehen, wirken sie nicht zuletzt strukturbildend (y Bedeutungsaufbaü). Lit: nzeptionen bis in die Gegenwart (ζ. B. Gadamer) beeinflußt. [Johann Jacob Bodmer, Johann Jacob Breitinger:] Anklagung des verderbten Geschmackes. Frankfurt, Leipzig 1728. - [,Brockhaus':] Allgemeine deutsche Real=Encyklopädie für die gebildeten Stände (Conversations=Lexikon). Bd. 2. Leipzig 81833. - Georg Philipp Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele [1641-1649], 8 Bde. Repr. hg. v. Irmgard Böttcher. Tübingen 1968 f.

gart: Hofberedsamkeit. Tübingen 1988. — Wolfgang Braungart: Ritual und Literatur. Tübingen 1996. — Peter Burke: The art of conversation. Ithaca 1993. — Karin Ehler: Konversation. München 1996. — Markus Fauser: Das Gespräch im 18. Jh. Stuttgart 1991. - Karl-Heinz Göttert: Kommunikationsideale. Untersuchungen zur europäischen Konversationstheorie. München 1988. - K.-H. G.: .Konversation'. In: HWbRh4, Sp. 1322-1333. - Claudia Henn-Schmölders: Ars conversationis. In: Arcadia 10 (1975), S. 16— 33. - Rudolf Hirzel: Der Dialog. 2 Bde. [1895], Repr. Hildesheim 1963. - Gabriele Kalmbach: Der Dialog im Spannungsfeld von Schriftlichkeit und Mündlichkeit. Tübingen 1996. - Maurice Magendie: La politesse mondaine et les théories de l'honnêteté, en France au XVII e siècle, de 1600 à 1660 [1925], Repr. Genf 1993. - Herbert Neumaier: Der Konversationston in der frühen Biedermeierzeit 1815-1830. Diss. München 1974. Peter Philipp Riedl: Öffentliche Rede in der Zeitenwende. Tübingen 1997. — Brigitte SchliebenLange: Vom Glück der Konversation. In: LiLi 50 (1983), S. 141-156. - Claudia Schmölders (Hg.): Die Kunst des Gesprächs. München 1979, 21986. - Christoph Strosetzki: Konversation. Frankfurt u. a. 1978. - Friedrich Vollhardt: Selbstliebe und Geselligkeit. Tübingen 2001. - Rosmarie Zeller: Spiel und Konversation im Barock. Berlin, New York 1974.

Dietmar Till

Unterhaltungsliteratur Trivialliteratur

Urheberrecht

ForschG: Die Erforschung der Unterhaltung wurde lange Zeit zugunsten des vermeintlich ,emsthafteren' Dialogs vernachlässigt (vgl. Hirzel 1, 2—7). Erst seit den 1960er Jahren tritt sie im Kontext der »Wiederentdeckung' der Rhetorik als wichtiges kulturhistorisches Phänomen stärker in den Blick der Forschung (Henn-Schmölders 1976, Schmölders 1979, Göttert 1988, G. Braungart, Beetz, Fauser).

Expl: Aus juristischer Sicht wird das Urheberrecht wie folgt definiert: „Einerseits die Summe aller Rechtsnormen, die den sozialen Tatbestand der Werkherrschaft regeln, zum anderen das subjektive Recht des Autors an seinem Werk" (Rehbinder 2001,

Lit: Eugen Bader: Rede-Rhetorik, Schreib-Rhetorik, Konversationsrhetorik. Tübingen 1994. Manfred Beetz: Frühmoderne Höflichkeit. Stuttgart 1990. - Otto F. Best: Der Dialog. In: Prosakunst ohne Erzählen. Hg. v. Klaus Weissenberger. Tübingen 1985, S. 89-104. - Georg Braun-

So gilt z. B. für die Bundesrepublik Deutschland aktuell das Gesetz vom 9.9.1965 (BGBl I, 1273), zuletzt geändert durch Gesetz vom 1.7.2002 (BGBl I, 1155; die maßgeblichen juristischen Kommentare

Gesetzliche Regelung und individueller Anspruch in bezug auf Fragen des Copyright.

1).

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Urheberrecht

sind im Anschluß an diese Explikation zusammengestellt). Das Urheberrecht schützt weder die Idee noch die schöpferische Tätigkeit und ihre materielle Festlegung in einem Überlieferungsträger (Werkexemplar), sondern sichert die .Herrschaft eines Schöpfers' über sein .Geisteswerk' (als .Immaterialgut'). Es gewährt ihm ein .Monopolrecht an seinem Geistesgut' und verhilft ihm zu einem .angemessenen Lohn'. Gegenüber der dualistischen Theorie (Kohler 1907), die Urheberrecht (Schutz für das Werk) und Persönlichkeitsrecht (Schutz für die Persönlichkeit) als ,Doppelrecht' ansieht, versteht die monistische Theorie (die sog. ,Baumtheorie'; Ulmer, 114) beide als einheitliches Recht in doppelter Funktion; der Schöpfer des Werkes (§ 7 UrhG.) ist also nur mittelbar geschützt. Das Urhebervertragssrecht ist ein aus dem Urheberrecht abgeleitetes Recht; es muß die Nichtübertragbarkeit der Stammrechte und den Verfassungsrang des Urheberrechts (gemäß Art. 14 GG) respektieren und die Beteiligung an den aus dem Werk gezogenen Erträgen garantieren. Da die technische Entwicklung neuer Überlieferungsträger das Schutzbedürfnis der Urheber zu überholen droht, war es ein Ziel der Novellierung des bundesdeutschen Urheber-Vertragsrechts von 2002, die Verhandlungsposition der ,Werk- und Leistungsschaffenden' zu verbessern. Friedrich Karl Fromm, Wilhelm Nordemann: Urheberrecht. Stuttgart u.a. '1998. - Josef Kohler: Urheberrecht an Schriftwerken und Verlagsrecht. Stuttgart 1907. - Ernst-Joachim Mestmäcker, Erich Schulze: Kommentar zum deutschen Urheberrecht unter Berücksichtigung des internationalen Rechts und des Gemeinschaftsrechts in den Mitgliedstaaten der EU. Neuwied u. a. 1962 ff. — Philipp Möhring u. a.: Quellen des Urheberrechts. Neuwied u.a. 1960ff. - [P.M.:] Möhring/Nicolini: Urheberrechtssgesetz. Kommentar. Hg. v. Käte Nicolini und Hartwig Alberg. München 2 2000. — Manfred Rehbinder: Urheberrecht. München "2001. - Gerhard Schricker (Hg.): Urheberrecht. Kommentar. München 2 1999. — Eugen Ulmer: Urheber- und Verlagsrecht. Berlin u. a. 31980.

WortG: Urheber (jemand, der etwas verursacht, veranlaßt oder geschaffen hat') geht auf das frnhd. Wort urheber, urhaber zu-

rück, dem ahd./mhd. urhablurhap (,Anfang', .Ursache', .Ursprung') zugrunde liegt. Die Wortbildung Urheber erfolgte in Anlehnung an den im 15. Jh. rezipierten lat. Begriff Autor. Seit dem 17. Jh. treten die Worte Urheber und Verfasser nebeneinander auf. Im letzten Drittel des 19. Jhs. löste das Wort Urheberrecht das bis dahin übliche Wort Autorenrecht ab. Die Entsprechung im englischsprachigen Raum ist COPYRIGHT ( © ) . DWb 24, Sp. 2435-2439. - EWbD 2, S. 1491.

BegrG: Die Auffassung vom Rechtsschutz als PRIVILEG (obrigkeitlich garantierter Anspruch, z.B. auf die wirtschaftliche Nutzung eines Druck-Erzeugnisses durch ein DRUCKPRIVILEG) wurde von der Idee des .geistigen Eigentums' abgelöst, die in John Lockes Theorie vom angeborenen Recht an den von jemandem geschaffenen Gütern (Locke, 305 f.) wurzelt und erstmals 1710 in England im ,Statute of Queen Anne' durch die Anerkennung eines auf 14 Jahre befristeten ausschließlichen Verfügungsrechts des Autors über sein Werk ihren Niederschlag fand. Das erste moderne, strafrechtlich konzipierte deutsche Urhebergesetz war 1837 das preußische Gesetz zum .Schutz des Eigentums an Werken der Wissenschaft und Kunst gegen Nachdruck und Nachbildung'. In den Mittelpunkt rückte der .Autor' als .Persönlichkeit'. Kant war mit seiner Schrift .Von der Unrechtmäßigkeit des Büchernachdrucks' (1785) ein Vorläufer der späteren Persönlichkeitsrechtstheorie (zuerst J. C. Bluntschli 1844). J. Kohler lehnte 1894 die Auffassung vom .geistigen Eigentum' ab und polemisierte gegen die Theorie vom .Persönlichkeitsrecht'; sein Begriff .Kunstwerkrecht' setzte sich nicht durch. O. Gierke definierte 1895 das Urheberrecht als ein „Persönlichkeitsrecht, dessen Gegenstand ein Geisteswerk als Bestandteil der eigenen Persönlichkeitssphäre bildet" (Gierke, 109). E. Pouillet sah 1879 im Urheberrecht ein moralisches Recht des Autors (Pouillet, 256). Heute stehen dagegen eher .persönliche Interessen' im Mittelpunkt urheberrechtlicher Überlegungen. Otto Gierke: Urheberrecht [1895], In: UFITA 125 (1994), S. 103-200. - John Locke: Two treatises of government [1690]. Hg. v. Peter Laslett.

Urheberrecht Cambridge 1960. — Eugène Pouillet: Traité théorique et pratique de la propriété littéraire et artistique et du droit de représentation [1879]. Paris 3 1908.

SachG: In der Antike war nur der Überlieferungsträger eines Werkes Gegenstand des Eigentumserwerbs. Erst nach der Erfindung des Drucks mit beweglichen Lettern erstarkte das Bewußtsein der Autoren vom Buch als schutzwürdigem Rechtsgut, während die Buchdrucker das finanzielle Risiko der Herstellung und Verbreitung eines Druckes durch Erlangen eines Verbots von NACHDRUCKEN (im Sinne illegaler/nicht autorisierter RAUBDRUCKE) gering zu halten suchten; geschützt waren damit nur die Überlieferungsträger; die Gewährung von Privilegien war mit einer Bücheraufsicht (Zensur) verbunden. Nur sporadisch wurden auch Autorenprivilegien gewährt (erstmals 1486 durch die Republik Venedig für die Geschichte Venedigs von Marcus Antonius Sabellus); 1561 garantierte eine Verordnung der Stadt Nürnberg nicht nur Verlegern, sondern auch Autoren und bildenden Künstlern Schutz vor Nachdruck. Seit dem 16. Jh. erhoben Autoren Ansprüche auf das Recht an ihren Werken, um mit der Forderung nach ? Honoraren das Monopol der Buchhändlergilden zu brechen. Gegenüber der Vorstellung vom ,Verlagseigentum' (seit dem 17. Jh.) bewirkte im 18. Jh. die Idee vom .geistigen Eigentum' ein neues Bewußtsein für dessen Schutzwürdigkeit, die rechtlich in Territorialgesetzen zur Geltung kam. Eine einheitliche Regelung für das Reichsgebiet wurde erst durch die Gesetze vom 19.6.1901 (Werke der Literatur und der Tonkunst) und 9.1.1907 (Werke der Bildenden Kunst und Photographie) erreicht. Vorangegangen war 1886 die zunächst von 10 Staaten geschlossene ,Berner Übereinkunft zum Schutze der Werke von Literatur und Kunst'. Nach der Revisionskonferenz von Paris (1896) führten die zweite Revisionskonferenz (Berlin 1908) und das Zusatzprotokoll (1914) zur Neufassung des Konventionstextes, der sog. ,Revidierten Berner Übereinkunft' unter Berücksichtigung neuerer technischer Entwicklungen (Photographie, Kinematographie, Gram-

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mophon, Schallplatte). Auf der Revisionskonferenz in Rom (1928) wurde der Grundstein für die Vergabe von Nutzungsrechten im Rundfunk gelegt und erstmals der Persönlichkeitsschutz (= Schutz vor Entstellung und Eingriffen) anerkannt (1948 in Brüssel verbessert, 1950 von der Bundesrepublik, 1955 von der D D R anerkannt). Die Konferenz von Stockholm (1967) bewirkte die Neufassung der materialrechtlichen Bestimmungen und das Übereinkommen zur Errichtung der .Weltorganisation für das geistige Eigentum'. Erst die Pariser Revisionskonferenz (1971) ermöglichte auch den Entwicklungsländern einen Kompromiß. Das 1952 auf Initiative der UNESCO in Genf geschlossene ,Welturheberrechtsabkommen' überbrückte die Verschiedenheit der europäischen und amerikanischen Urhebersysteme. 1961 führte eine Staatenkonferenz in Rom zu einem .Internationalen Abkommen zum Schutz der ausübenden Künstler, der Hersteller von Tonträgern und der Sendeunternehmen', dem 1971 ein besonderes Übereinkommen zum Schutz der Hersteller von Tonträgern folgte (.Genfer Tonträger-Abkommen'). Die ständige Ausweitung von Nutzungsarten und Nutzungsinteressen auf dem internationalen Markt führte seither zu einer Zunahme an zwischenstaatlichen Verträgen und internationalen Abkommen und zu Entscheidungen des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaft. ForschG: Die Forschung verlief vor allem auf drei Bahnen: (1) der Buch- und Verlagsgeschichte mit einer Fülle von Einzelstudien zu Problemen des Privilegienwesens, des Verlagseigentums und zu den Veränderungen der Buchhandelspraxis; (2) des Interesses an einzelnen Autoren und Werken (ζ. B. Luther, Goethe, Schiller); (3) der Geschichte der Gesetzgebung, die für Deutschland anhand zahlreicher kommentierter Nachdrucke in der UFITA (= ,Archiv für Urheber-, Film-, Funk- und Theaterrecht': 106 (1987), 137-154 [Kant 1785]; 107 (1988), 163-226 [J. E. Hitzig 1839 zum preußischen Gesetz von 1837]; 99 — 167 [Kohler 1894]; 125 (1994), 103-200 [Gierke 1895]), in Kolloquiums- und Festschriften-

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Urkunde

beiträgen zu verfolgen ist. Eine Leitfunktion haben die historischen Darstellungen von Bappert (1962), Dölemeyer (1986; 1993), Gieseke (1995) und Vogel (1978; 1988) sowie die gesammelten Studien von Wadle (1996). Umstritten war die Bewertung der Privilegien gegen den Nachdruck: ob diese ausschließlich dem gewerblichen Schutz der kontrollierten Verbreitung dienten (Bappert) oder ob die Autorenprivilegien gegenüber den Druck- und Bücherprivilegien bereits ein Gewohnheitsrecht zum Schutz des Urhebers etablierten (Pohlmann 1961) und damit nicht der Vor-, sondern der Frühgeschichte des Urheberrechts zuzuordnen seien. Von der Erforschung des Urheberrechts ist die von /" Plagiat und /" Zensur nicht ablösbar. Lit: Walter Bappert: Wege zum Urheberrecht. Frankfurt 1962. - Friedrich-Karl Beier u.a.: Urhebervertragsrecht. Fs. Gerhard Schricker. München 1995. - Die Berner Übereinkunft und die Schweiz. Hg. v. d. Schweizerischen Vereinigung für Urheberrecht. Bern 1986. — Heinrich Bosse: Autorschaft ist Werkherrschaft. Über die Entstehung des Urheberrechts aus dem Geist der Goethezeit. Paderborn, München 1981. — Congrès du centenaire de la Convention de Berne (8.— 12. Sept, 1986). Bern 1987. - Ludwig Delp: Das Recht des geistigen Schaffens. München 1993. — Robert Dittrich (Hg.): Woher kommt das Urheberrecht und wohin geht es? Wien 1988. - R. D. (Hg.): Die Notwendigkeit des Urheberrechtsschutzes im Lichte seiner Geschichte. Wien 1991. — Barbara Dölemeyer: Urheber- und Verlagsrecht. In: Hb. der Quellen und Literatur der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte. Hg. v. Helmut Coing. Bd. 3/3. München 1986, S. 3955-4066. - B. D.: Der .internationale Standard' des Urheberschutzes. Internationale Urheberrechtsverträge im 19. Jh. In: UFITA 123 (1993), S. 53-67. - Hermann Josef Fischer, Steven A. Reich: Urhebervertragsrecht. München 1993. — Norbert P. Flechsig: Der Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der vertragsrechtlichen Stellung von Urhebern und ausübenden Künstlern. In: Zs. für Urheber- und Medienrecht (ZUM) 44 (2000), S. 484-499; 736-739. - Renate Frohne: Wider die papierene Weisheit, oder: das Gespür für so etwas wie .geistiges Eigentum'. Urheberrecht im Griechenland der Antike? In: UFITA 129 (1995), S. 53-68. - Ludwig Gieseke: Vom Privileg zum Urheberrecht. Göttingen 1995. - Horst-Peter Gotting (Hg.): Multimedia, Inter-

net und Urheberrecht. Dresden 1998. - Fritz Hodeige (Hg.): Das Recht am Geistesgut. Fs. Walter Bappert. Freiburg i. Br. 1964. — Heinrich Hubmann: Der Rechtsschutz der Idee. In: UFITA 24 (1957), S. 1-15. - Internationales Urheberrechts-Symposium (Heidelberg 1986). Hg. v. Börsenverein des deutschen Buchhandels. München 1986. - Albrecht Götz v. Olenhusen: Der Gesetzentwurf für ein Urhebervertragsrecht. In: Zs. für Urheber- und Medienrecht (ZUM) 44 (2000), S. 736-739. - Hansjörg Pohlmann: Das neue Geschichtsbild der deutschen Urheberrechtsentwicklung. Baden-Baden 1961. — Nikolaus Reber: Das neue Urhebervertragsrecht. In: Zs. für Urheber· und Medienrecht (ZUM) 44 (2000), S. 729736. - Manfred Rehbinder: Johann Caspar Bluntschlis Beitrag zur Theorie des Urheberrechts. In: UFITA 123 (1993), S. 29-51. - Gerhard Schricker (Hg.): Urheberrecht auf dem Weg zur Informationsgesellschaft. Baden-Baden 1997. - Martin Vogel: Deutsche Urheber- und Verlagsrechtsgeschichte zwischen 1450 und 1850. In: AGB 19 (1978), Sp. 1-190. - M. V.: Die Geschichte des Urheberrechts im Kaiserreich. In: AGB 31 (1988), S. 203-219. - Elmar Wadle (Hg.): Historische Studien zum Urheberrecht in Europa. Berlin 1993. - E. W.: Geistiges Eigentum. Weinheim u.a. 1996. Klaus

Kanzog

Urkunde Rechtsgültige schriftliche Aufzeichnung. Expl: Im terminologischen Sprachgebrauch der Geschichtswissenschaft ist Urkunde ein Schriftstück von begrenztem Umfang, das unter Berücksichtigung eines sich historisch wandelnden Formulars Rechts- und Geschäftsvorgänge sowie Rechtsetzungen aufzeichnet und dem jeweils beigefügte Beglaubigungsmittel (Unterschrift, Monogramm, Vollziehungsstrich, Zeugennamen, Siegel) zum Gebrauch im Rechtsstreit, im Prozeß und in der Rechtsprechung Beweiskraft verleihen. Namensnennung verantwortlicher Personen oder Institutionen sowie Datums-, oft auch Ortsangabe fixieren die Aufzeichnung historisch genau. Als formalisiertes Rechtsdokument hebt sich Urkunde aus dem allgemeinen Sprachgebrauch heraus, in dem das Wort ein schriftliches und nichtschriftliches Zeugnis unterschiedlicher Art

Urkunde bezeichnet. Urkunden sind als Einzel- oder Mehrfachexemplare (Parallelurkunden und Teilurkunden) ausgefertigt; dem Original kann eine Erneuerung (Transsumpt) und eine beglaubigte Kopie (Vidimus) folgen. In Kopial- oder Registerbüchern gesammelte Abschriften stellen formal meist Reduktionsformen dar, sie bilden einen Übergang zu den Akten als realexistierender oder potentieller Zusammenfassung von Verwaltungs- und Geschäftsdokumenten in verschiedensten Bereichen. Die Gestaltung der dt. Schriftstücke folgt einem in lat. Papst-, Kaiser- und Königsurkunden entwickelten idealtypischen Formular, dessen Teile frei adaptiert werden. Der eigentliche Rechtsinhalt, ,Text' oder ,Kontext', umfaßt die ,publicatio' (Veröffentlichungsbekundung des Ausstellers), ,narratio' (Bericht über die Beurkundungsgründe), ,dispositio' (zentraler materieller Rechtsinhalt), ,sanctio' (Ankündigung von Belohnung oder Strafe), ,corroborado' (Nennung der Beglaubigungsmittel). Er wird eingerahmt von dem ,Anfangsprotokoir, bestehend aus ,invocatio' (Anrufung Gottes), ,intitulado' (Namens- und Titelnennung des Ausstellers), ,inscriptio' (Namensnennung des Adressaten),,arenga' (topische Begründung der Beurkundung) und dem ,Eschatokoir mit ,subscriptio' (Unterschrift), Datierung (Zeit- und Ortsangabe), ,apprecatio' (religiösem Schlußwunsch). Das Formular wird je nach den sachlichen und sozialen Gegebenheiten in beiden Sprachen abgewandelt und reduziert. Variable Formelhaftigkeit kennzeichnet die Urkundensprache insgesamt, am freiesten ist die ,dispositio' formuliert. WortG: Ahd. urkundi (Neutrum und Femininum), mhd. urkünde bedeutet ,Zeugnis', ,Beweis', ,Gebot' (zu erkennen ,erkennen', ,zur Kenntnis geben', Kluge-Seebold, 753; oder zu irkunden ,bezeugen', ,kundtun', Freudenthal, 43). Um 800 übersetzt das Wort im .Althochdeutschen Isidor' (15,9 f.) das lat. testimonium, im ,Tatian' (13,4 = Joh 1,7; 9. Jh.) bezeichnet es eine offenbarmachende Verkündung durch einen Menschen, entsprechend ahd. urkundo ,Zeuge', ,testis'. Der ,Schwabenspiegel' (um 1275)

Til

enthält den als frühesten geltenden Beleg für den Aspekt der Schriftlichkeit des Zeugnisses (III, 323a), während das Schriftstück selbst brief genannt wird. Die Wortgruppe prieff und urkiind (,Die Chroniken der schwäbischen Städte', 100) zeigt die semantische Annäherung der beiden Wörter. Beweiskräftiges Schriftstück bedeutet Urkunde im Doppelausdruck einer ,publicado' des Jahres 1448 (,Weisthümer', 60). Durchgesetzt hat sich der terminologische Gebrauch erst im 16. Jh. Daneben bleibt die allgemeine Bedeutung ,Zeugnis', ,Kennzeichen' erhalten, z. B. bei Herder (,Über die ersten Urkunden des menschlichen Geschlechtes', 1774) auf das Alte Testament, bei Schiller auf einen antiken Torso bezogen (Schiller, 106). Der althochdeutsche Isidor. Hg. v. Hans Eggers. Tübingen 1964. - Die Chroniken der schwäbischen Städte. Augsburg. Hg. v. der Historischen Kommission bei der Königlichen Akademie der Wissenschaften. Bd. 1 [1865]. Repr. Göttingen 1965. — Karl Fredrik Freudenthal: Arnulfingisch-Karolingische Rechtswörter. Göteborg 1949. - Friedrich v. Schiller: Werke. Nationalausgabe. Bd. 20/1. Hg. v. Benno v.Wiese und Helmut Koopmann. Weimar 1962. - Tatian. Hg. v. Eduard Sievers [21892], Repr. Paderborn 1960. — Weisthümer. Gesammelt v. Jacob Grimm. 6. Teil. Bearbeitet v. Richard Schröder [1840], Repr. Darmstadt 1957.

BegrG: Der Urkundenbegriff beruht auf der Voraussetzung, daß ? Schrift auf einem transportablen /" Beschreibstoff (Papyrus, Pergament, Papier) in Verbindung mit besonderen Beglaubigungszeichen und Daten rechtsverbindlichen Zeugniswert für Vorgänge der Vergangenheit und Gegenwart sowie für Vorschriften über Zukünftiges besitzt; er ist Teil der schriftlichen Rechtskultur, die im Mittelalter zunächst in Teilbereichen lat., seit der 1. Hälfte des 13. Jhs. daneben auch dt. praktiziert wird. Entsprechend begründet der Topos, daß ein Schriftstück über das Menschenleben hinaus Erinnerung (/" Memoria) gewährleistet, einleitend die Urkundenausstellung (,arenga', s.o.). Der ,Schwabenspiegel' befürwortet damit eine schriftliche Rechtspraxis: „wir sprechen das brieffe beßer sint danne gezuge. wände die gezuge sterbent so blibent

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Urkunde

brieffe ymmer stete" (I, 36a). Durchgängig gehören zu den Konstituenten des Urkundenbegriffs die rechtsrelevante Aufzeichnungsabsicht und die juristische Verwendungsmöglichkeit. In der neuzeitlichen Geschichtsforschung (seit dem 19. Jh.) kommt bei der Quellenauswertung der objektive Charakter der Aufzeichnung (Dokumentation ohne subjektive narrative Vermittlung) im Unterschied zu historiographischen Zeugnissen als Definitionsaspekt hinzu. Der Begriff wird durch eine Reihe mlat. Wörter wiedergegeben, die semantisch nicht auf den Urkundenterminus beschränkt sind: charta, diploma, documentum, instrumentum, notitia, pagina, Privilegium u . a .

Von der Forschung aufgenommene Spezifizierungen inhaltlicher und formaler Urkundentypen (notitia für eine Beweisurkunde, charta für eine rechtsetzende, dispositive Urkunde) kommen im Mittelalter zwar vor, aber ohne terminologische Verbindlichkeit. Als dt. Äquivalente für den Urkundenbegriff werden seit ahd. Zeit brief und hantveste verwendet (im 13. Jh. im Verhältnis 18,5:1). Schwabenspiegel. Normalform. Hg. v. Karl August Eckhart und Irmgard Eckhart. Aalen 1972.

SachG: Nach dem Vorbild des aus der Spätantike übernommenen lat. Urkundenwesens beginnt die deutschsprachige Beurkundung mit dem Mainzer Reichslandfrieden (1235 lat. und dt. abgefaßt). Die weitere Entwicklung wird nicht von der Zentralgewalt, sondern von Städten, adligen Herren und Klöstern bestimmt, mit einem ersten Schwerpunkt am Oberrhein (Konstanz, Zürich, Basel, Freiburg, Straßburg) und weiterer Ausbreitung in Bayern und Österreich, im mitteldeutschen Raum zunehmend erst im 14. Jh., in der königlichen Kanzlei unter Ludwig dem Bayern (1314-1347). Trotz ständiger Zunahme der dt. Urkunden bleibt ihre Zahl noch im 16. Jh. weit hinter den lat. zurück. ForschG: Die systematische Beschäftigung mit Urkunden beginnt im 17. Jh. unter rechtswissenschaftlichem Forschungsinteresse zur Ermittlung von Fälschungen (Mabillon 1681 u. ö.). Im 19. Jh. werden die Urkunden zum Gegenstand einer historischen Hilfswissen-

schaft (Diplomatik, vorher juristische Teildisziplin) und zu einer Quellengrundlage der Geschichtsforschung. Es entstehen neben umfangreichen Editionen Handbücher der Urkundenlehre (Ficker 1877/78, Bresslau 1889, Redlich 1907 und 1911), die Herstellungsnormen und Kanzleigepflogenheiten zur Echtheitsbestimmung ermitteln. Bei der Urkundenbeschreibung werden seit Mabillon (1) äußere Merkmale (Beschreibstoff, Schrift, Faltung, Verschluß, Siegel), (2) innere Merkmale (Inhalt, Sprache, Zeit- und Ortsangaben, Formular) ausgewertet und Urkundengruppen nach verschiedenen Kriterien gebildet (Aussteller, beurkundete Fakten, Gültigkeitsdauer, objektive oder subjektive Fassung u. a.). Der Übergang zur dt. Beurkundung wird seit Vanesa (1895) unterschiedlich begründet, überwiegend gilt er heute als polykausaler Prozeß, der auf der allgemein zunehmenden Schriftlichkeit und bestimmten rechtlichen Verfahren (Verlesen der Urkunden) beruht. Für die sprachgeschichtliche Forschung hat Wilhelm mit dem ,Corpus der altdeutschen Originalurkunden bis zum Jahr 1300' (1932 ff.) editorisch nicht überformtes Material bereitgestellt. Der gebrauchssprachlich weit gestreute Wortschatz wird im ,Wb. der mhd. Urkundensprache' (1986 ff.) graphematisch, morphologisch und semantisch erfaßt. Für die Geschichte der dt. Syntax ist die vom Lat. weitgehend unabhängige Urkundensprache (Schulze 1975) aufschlußreich. Die Erforschung der mittelalterlichen Urkundenprosa mit dem Wechsel von Formelhaftigkeit und freier Formulierung stellt eine wichtige Aufgabe dar. Untersuchungen zu Form und Verwendung von Urkunden in der Neuzeit fehlen generell. Lit: Bruno Boesch: Deutsche Urkunden des 13. Jhs. Bern 1957. — Helmut de Boor: Actum et Datum. Eine Untersuchung zur Formelsprache der deutschen Urkunden im 13. Jh. München 1975. - Ahasver v. Brandt: Werkzeug des Historikers. Stuttgart u.a. 151998, S. 81-118. - Harry Bresslau: Hb. der Urkundenlehre für Deutschland und Italien [1889], 2 Bde. Berlin 41968 f. - Corpus der altdeutschen Originalurkunden bis zum Jahr 1300. Hg. v. Friedrich Wilhelm u.a. 5 Bde. Lahr 1932-1986. — Heinrich Fichtenau: Arenga. Spätantike und Mittelalter im Spiegel der Urkundenformeln. Graz u. a. 1957. — Julius Ficker: Beiträge

Utopie zur Urkundenlehre. 2 Bde. Innsbruck 1877 f. Th. Frenz, R. Schmidt-Wiegand: .Urkunde'; ,Urkundenlehre'; ,Urkundensprache'. In: HRG 5, Sp. 574-577; 584-591; 593-602. - HansHirsch: Zur Frage des Auftretens der deutschen Sprache in den Urkunden und der Ausgabe deutscher Urkundentexte. In: MIÖG 52 (1938), S. 227-242. Hans Georg Kirchhoff: Zur deutschsprachigen Urkunde des 13. Jhs. In: Archiv für Diplomatik 3 (1957), S. 287-327. - Jean Mabillon: De re diplomatica libri VI. Paris 1681. — Felix Merkel: Das Aufkommen der deutschen Sprache in den städtischen Kanzleien des ausgehenden Mittelalters. Leipzig 1930. - Oswald Redlich: Die Privaturkunden des Mittelalters [1911]. Repr. München 1967. - O. R.: Allgemeine Einleitung zur Urkundenlehre. In: Die Kaiser- und Königsurkunden des Mittelalters in Deutschland, Frankreich und Italien [1907], Hg. v. Wilhelm Erben. Repr. München 1967, S. 1 - 3 6 . - Ingo Reiffenstein: Deutschsprachige Arengen des 13. Jhs. In: Fs. Max Spindler. Hg. v. Diether Albrecht u. a. München 1969, S. 177-192. - Leo Santifaller: Urkundenforschung. Köln, Wien 41986. — Ursula Schulze: Lateinisch-deutsche Parallelurkunden des 13. Jhs. München 1975. - Max Vanesa: Das erste Auftreten der deutschen Sprache in den Urkunden [1895]. Repr. Leipzig 1963. - Wb. der mhd. Urkundensprache. Unter Leitung v. Bettina Kirschstein und Ursula Schulze erarbeitet v. Sibylle Ohly und Peter Schmitt. Berlin 1986 ff. Ursula

Schulze

Urszene ? Psychoanalytische Literaturwissenschaft

Utopie Narrative Entfaltung eines idealen funktionierenden Gesellschaftsmodells; im weiteren Sinn auf Wirklichkeitsveränderung zum Idealzustand zielendes Denken. Expl: Die Extension des Begriffs ist seit seiner Prägung durch Thomas More ausgeweitet worden. Es lassen sich sechs Verwendungsweisen unterscheiden: (1) Zuerst bezeichnet Utopie (a) das literarische Werk von Thomas More bzw. (b) das von ihm konzipierte Gemeinwesen. (2) Im Anschluß an More wird das Wort im 16. und 17. Jh. zur Bezeichnung für ei-

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nen fiktiven Ort und damit zu einer geographischen Metapher. (3) Utopie ist inzwischen allgemein die Bezeichnung für das Modell einer idealen Gesellschaft. (4) Die literarische Gattung wird erstmals 1845 (von Mohl) als solche identifiziert und als Staatsroman bezeichnet. Utopie, obwohl bereits 1846 als Synonym belegt (Hölscher, 748), setzt sich erst zu Beginn des 20. Jhs. durch. Der Umschlag des idealen Modells in sein Gegenteil wird als Anti- Utopie, Dystopie

o d e r negative

bzw.

schwarze

Utopie bezeichnet. Vorschläge zur weiteren Differenzierung dieser Terminologie (AntiUtopie als grundlegende Kritik an der Utopie; Dystopie als negativer Entwurf) haben sich nicht durchgesetzt. In der angloamerikanischen Diskussion wird gelegentlich die positive Utopie zu Eutopie (bei gleicher Aussprache) vereindeutigt. (5) Gustav Landauer bestimmt 1907 erstmals ,Utopie' als wirklichkeitsüberschreitende und auf ein ideales Telos ausgerichtete Denkhaltung. Dieser erweiterte Utopiebegriff wurde von E. Bloch und K. Mannheim ausgearbeitet und prägt die sozialphilosophische Diskussion. (6) Bereits im 18. Jh. ist Utopie unter Schlaraffenland' lexikalisiert (Zedier 34, 1828 f.). — Der Streit um die utopischen Konzeptionen des 19. Jhs. führt zu einer Sonderbedeutung: Frühsozialistische Entwürfe werden polemisch als ,unrealisierbare Vorstellungen' angegriffen. Diese Bedeutung von Utopie als .Hirngespinst' sowie stoffliche Überschneidungen zum sich ab 1870 herausbildenden Zukunftsroman führen dazu, daß auch Zukunftsliteratur (/" Science Fiction) zuweilen als .utopische Literatur' klassifiziert wird. [Terminologisches Feld:] UCHRONIE: bislang terminologisch noch nicht festgelegter Begriff. Zum einen (a) in einzelnen frz. Untersuchungen Bezeichnung für die Zeitutopie (Hudde/Kuon); zum zweiten (b) Bezeichnung für die kontrafaktische Extrapolation eines alternativen Geschichtsverlaufs (Rodiek). WortG/BegrG: Der von Thomas More (1516) gebildete Neologismus Utopia ist

740

Utopie

eine Zusammensetzung von griech. οΰ [ou] ,nicht' und τόπος [topos] ,Ort', also wörtlich ein ,Nicht-Ort'. Im Engl, ergibt sich aufgrund der identischen Aussprache von eu (griech. εύ [eu] ,gut', ,schön') und u ein Wortspiel, so daß die Konnotation .schöner/guter Ort' hinzutritt (OED 2 5, 444). Im Dt. erscheint das Wort erstmals 1524 (More-Übersetzung durch C. Cantiuncula). Erst ab 1847 avanciert es zum politischen Gesinnungsbegriff bzw. literarischen Gattungsbegriff (Affeldt-Schmidt, 56-96). Utopismus ist bereits 1796 (Schulz-Basler 6, 81 f.) belegt, während Utopist in der Bedeutung .Träumer', ,Schwärmer' als Lehnübertragung aus dem Frz. erstmals 1847 nachweisbar ist (ebd., 82 f.). Ab 1850 geht der Fortschrittsgedanke in das Utopiekonzept ein. Utopist wird zum Schimpfwort für den Sozialreformer, Utopie bezeichnet pejorativ unausführbare Reformpläne. Da es als Schimpfwort des bürgerlichen Lagers gegen den Sozialismus fungiert, sehen sich Marx und Engels genötigt, sich von den utopischen als wissenschaftliche Sozialisten abzugrenzen. An der Wende zum 20. Jh. wird der Utopiebegriff positiv umgewertet. Die begriffliche Extension wird radikal ausgedehnt: G. Landauer bestimmt 1907, jede geltende Ordnung sei eine (reaktionäre) ,Topie', jede umwälzende Funktion eine (revolutionäre) ,U-Topie'. E. Bloch knüpft mit seiner Philosophie daran an (S Vorschein). Die paradigmatische Definition formuliert K. Mannheim: „Utopisch ist ein Bewußtsein, das sich mit dem es umgebenden ,Sein' nicht in Deckung befindet" (Mannheim, 169). Dieser erweiterte Utopiebegriff bestimmt die Utopie-Forschung bis indie 1980er Jahre(HWbPh 11, 510-526). SachG: 1516 erschien ,De optimo reipublicae statu, deque nova insula Utopia' von Thomas More; eine auf den 2. Teil konzentrierte deutsche Übersetzung wurde 1524 publiziert. More knüpfte an Piatons .Politela' an (vgl. dort das Referat von Solons ägyptischem Atlantis-Bericht) und gestaltete ein staatsphilosophisches wie literarisches Modell, das zum Prototyp einer Gattung wurde. Konstanten der primär inhaltlich definierten Utopie sind der Reisende,

der in Utopia war und als Berichterstatter fungiert, die Beschreibung des Gemeinwesens, die rationale Anlage und die anthropozentrische Ausrichtung. Im frühen 17. Jh. entsteht eine Reihe von Texten, die als ,Klassiker' gelten: J. V. Andreaes ,Reipublicae Christianopolitanae Descriptio' (1619), T. Campanellas ,Civitas Solis' (1623) und F. Bacons ,Nova Atlantis' (1627). Neben dieser direkten More-Nachfolge werden in einer Reihe von Romanen utopische Modelle integriert und reflektiert (z. B. Cyrano de Bergerac: .Histoire comique contenant les estais et empires de la lune', 1657; Grimmelshausen: ,Der Abentheurliche Simplicissimus Teutsch', 1668; J. Swift: [Gulliver's] ,Travels into Several Remote Nations of the World', 1726; Voltaire: ,Micromégas', 1752). Bereits in der 2. Hälfte des 17. Jhs. sprengt die Akzeleration der Wissenschaften das geschlossene utopische System (vgl. D. Veiras: .Histoire des Sévarambes', 1677/ 79, dt. 1689). J. G. Schnabel integriert das utopische Modell in die s Robinsonade (.Wunderliche Fata einiger Seefahrer', 1731 — 1743). Die Utopie wird fiktionalisiert und subjektiviert; sie erhält eine dynamisierende Geschichte. Bis ins 18. Jh. ist die Utopie ein geschlossenes System auf einer Insel (Raumutopie). Die Verzeitlichung der Utopie wird von L. S. Mercier in ,L'An 2440' (1771) realisiert (Zeitutopie). Das statische utopische System wird in eine Abfolge einzelner Fortschritte zerlegt, und das Ideal steht an ihrem Ende. Die ,perfectio', die vormalige Leitidee der Utopie, wird abgelöst von der .perfectibilité' (Rousseau). Rousseaus Projektion des Naturzustandes führt zur Entfaltung von Naturzustands-Utopien. Daraus ergibt sich eine Politisierung des Utopischen, indem zunehmend die Frage nach der Möglichkeit ihrer Realisierung gestellt wird. Diese Tendenzen dominieren den Utopiediskurs des 19. Jhs., der auf die neuen industriellen Produktionsweisen, deren gesellschaftstransformierende Folgen und negative Begleiterscheinungen wie Klassenauseinandersetzungen und Verelendung großer Bevölkerungskreise reagiert. Die Nähe von

Utopie Utopie und Kolonie prägt die Fortschrittsutopie (F. Amersin: ,Das Land der Freiheit', 1874; Th. Hertzka: ,Freiland', 1890; Th. Herzl: ,Altneuland', 1902). Von den frühsozialistischen Modellen distanziert sich F. Engels mit Folgen bis weit ins 20. Jh. hinein (,Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft', 1882). Zeitlich parallel zu den Fortschrittsutopien entsteht als Gattung sui generis der Zukunftsroman, der zwar in Einzelfallen Elemente der Utopie adaptiert und gestaltet, Bilder von Zukunftswelten entwirft, jedoch keinem sozialphilosophischen Impetus verpflichtet ist (vgl. auch ? Phantastische

Literatur).

Um die Wende zum 20. Jh. kommt die positive Utopie mit ,A Modern Utopia' (1905) von H. G. Wells an einen vorläufigen Endpunkt. Wells verbindet die beiden Gattungen der Utopie und des Zukunftsromans miteinander und zieht in ,The Time Machine' (1895) Konsequenzen aus der biologischen Veränderbarkeit des Menschen. Es kommt zu einer Transformation der Tradition. Das positive Ideal der Utopie erscheint als totalitäre Ordnung. Das dystopische Schreckbild, die negative Utopie, rückt das Individuum in den Vordergrund, das sich dem totalitären Übergriff ausgesetzt sieht (vgl. J. Samjatin: ,My'/,Wir', 1920; A. Huxley: ,Brave New World', 1932; G.Orwell: ,1984', 1948). Eine Reihe von utopischen Romanen, die Elemente des technischen Zukunftsromans mit UtopieReflexion verbindet, ist als Meta-Utopie angelegt (G. Hauptmann: ,Die Insel der Großen Mutter', 1924; Th. v. Harbou: Metropolis', 1926; F. Werfel: ,Stern der Ungeborenen', postum 1946; E. Jünger: ,Heliopolis', 1949). Da die Utopie im marxistischen Umfeld seit Engels mit einem Verdikt belegt ist, sind Beispiele aus dem sozialistischen Umfeld eher selten (A. Bogdanov: ,Krasnaja Zvezda'/,Der rote Stern', 1908; W. Illing: ,Utopolis', 1930). Erst nach 1945 werden wieder positive Utopien entworfen, die auf die neuen Problemfelder der Ökologie und Konsumgesellschaft antworten (B. F. Skinner: ,Waiden Two', 1948; E. Callenbach: ,Ecotopia', 1975). Im Gefolge der Emanzipationsbewegungen entsteht die feministische Utopie

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der 1970er und 1980er Jahre. Diese Romane kommen nahezu zur Gänze aus dem Traditionszusammenhang der Science Fiction und beziehen ihre Konzepte aus der feministischen Theoriebildung (U. K. LeGuin: ,The Dispossessed', 1974; J. Russ: ,The Female Man', 1975; M. Piercy: ,Woman on the Edge of Time', 1976 u.a.). Das Gemeinsame der Nachkriegsutopien liegt darin, daß sie die Möglichkeiten des modernen Romans nutzen und ihre Sozialmodelle als ,autopoietische' Systeme (y Systemtheorie) ambivalent und realisierungsoffen entworfen sind. - Seit den späten 1980er Jahren ist die Konjunktur der Utopie abgeflaut. ForschG: Bereits seit dem 19. Jh. sind Utopien Gegenstand staatswissenschaftlicher Untersuchungen (Mohl, Kleinwächter, Kirchenheim, Schmitt, Voigt), die ausschließlich auf die Analyse der utopischen Gesellschaftsmodelle abzielen. Mit K. Mannheim und H. Freyer wird die Utopie zum Thema der Soziologie. Der kommerzielle Erfolg der Science Fiction in den 1950er Jahren stimuliert die Utopie-Forschung (z. B. Schwonke). In den 1960er Jahren setzt eine intensive interdisziplinäre Utopie-Forschung ein. Zwar ist der erweiterte sozialphilosophische Utopiebegriff Movens des Interesses, die Detailforschung aber konzentriert sich auf die Gattung im engeren Sinn. Neben dem Interesse an der Genese der Utopie und speziell den Texten der Klassiker (Süssmuth, Kenyon) gilt die Aufmerksamkeit dem Umschlag zur Anti-Utopie (umfassende Gesamtdarstellung: Kumar; zur franzöischen Entwicklung: Hudde/Kuon). Intensiv wird die deutschsprachige Utopie in einer Reihe von Studien zu einzelnen Zeiträumen erforscht (bis zum 18. Jh.: Bersier, Braungart, Baudach; 19. Jh.: AffeldtSchmidt; nach 1945: Jablkowska). Eine Kernfrage gilt der Umstellung zur Roman-Utopie (Stockinger). Eine Überblicksdarstellung hat G. Müller vorgelegt. Infolge der breiten Rezeption von Blochs .Prinzip Hoffnung' nimmt eine Reihe von Untersuchungen dessen Utopiebegriff auf, um nach utopischen Impulsen in nahezu allen Formen kultureller Äußerungen zu

742

Utopie

suchen (Gnüg 1982, Hermand, Grimm/ Hermand, Ueding, Neusüss, Schmidt, Schwendter). Einen vorläufigen Schlußpunkt setzt die Arbeit der Bielefelder Forschergruppe, die eine umfassende Bestandsaufnahme der Utopie-Forschung präsentiert (vgl. Voßkamp). Seither konzentriert diese sich auf einige Schwerpunkte: die politologische und staatsphilosophische Seite der Gattung (Saage); den utopischen Diskurs innerhalb der modernen angloamerikanischen Gattungsausprägung (Dietz, Fehlner, Heller u. a.); die feministische Utopie (Barnouw, Holland-Cunz, Groeben, Klarer); die Verbindung der modernen Science Fiction zur Utopie (Friedrich). Der Untergang des real existierenden Sozialismus seit 1989 bildete für die UtopieForschung einen Einschnitt. Neben generellen Absagen an die Utopie (Fest) traten Versuche einer Zwischenbilanz (Calließ, Spies, Jucker) und Untersuchungen, die das totalitär-barbarische Element der Sozialutopien herausarbeiten (Jenkis). Lit: Birgit Affeldt-Schmidt: Fortschrittsutopien. Stuttgart 1991. — Dagmar Barnouw: Die versuchte Realität oder von der Möglichkeit, glücklichere Welten zu denken. Meitingen 1985. — Frank Baudach: Planeten der Unschuld - Kinder der Natur. Tübingen 1993. — Gabrielle Bersier: Wunschbild und Wirklichkeit. Heidelberg 1981. — Wolfgang Biesterfeld: Die literarische Utopie. Stuttgart 21982. - Ernst Bloch: Werkausgabe. Frankfurt 1985 (Bd. 3: Geist der Utopie. Zweite Fassung [1923]; Bd. 5: Das Prinzip Hoffnung [1954-1959]; Bd. 16: Geist der Utopie. Erste Fassung [1918]). - Bernhard Braun: Die Utopie des Geistes. Idstein 1991. — Wolfgang Braungart: Die Kunst der Utopie. Stuttgart 1989. - Jörg Calließ (Hg.): Die Wahrheit des Nirgendwo. Rehburg-Loccum 1994. — Frank Dietz: Kritische Träume. Ambivalenz in der amerikanischen literarischen Utopie nach 1945. Meitingen 1987. — Friedrich Engels: Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft [1882], Berlin 211980. - Gert Fehlner: Literarische Utopien als Reflexion und Kritik amerikanischer Wirklichkeit. Meitingen 1989. — Joachim Fest: Der zerstörte Traum. Berlin 1991. - Vita Fortunati, Raymond Trousson (Hg.): Dictionary of literary utopias. Paris 2000. - Hans Freyer: Die politische Insel. Leipzig 1936. - Hans-Edwin Friedrich: Science Fiction in der deutschsprachigen Literatur. Tübingen 1995. — Hiltrud Gnüg

(Hg.): Literarische Utopie-Entwürfe. Frankfurt 1982. - H. G.: Utopie und utopischer Roman. Stuttgart 1999. - Barbara Goodwin: Social science and utopia. Hassocks 1978. — Reinhold Grimm, Jost Hermand (Hg.): Deutsches utopisches Denken im 20. Jh. Stuttgart u.a. 1974. Norbert Groeben: Frauen - Science Fiction — Utopie. In: IASL 19.2 (1994), S. 173-206. Arno Heller u. a. (Hg.): Utopian thought in American literature. Tübingen 1988. — Jost Hermand: Grüne Utopien in Deutschland. Frankfurt 1991. — Barbara Holland-Cunz (Hg.): Feministische Utopien. Aufbruch in die postpatriarchale Gesellschaft. Meitingen 1986. - B. H.-C: Utopien der neuen Frauenbewegung. Meitingen 1988. — Lucian Hölscher: .Utopie'. In: Geschichtliche Grundbegriffe. Hg. v. Otto Brunner u. a. Bd. 6. Stuttgart 1990, S. 733-788. - Hinrich Hudde, Peter Kuon (Hg.): De l'utopie à l'uchronie. Tübingen 1988. — Joanna Jablkowska: Literatur ohne Hoffnung. Die Krise der Utopie in der deutschen Gegenwartsliteratur. Wiesbaden 1993. — Helmut Jenkis: Sozialutopien - barbarische Glücksverheißungen? Berlin 1992. - Rolf Jucker (Hg.): Zeitgenössische Utopieentwürfe in Literatur und Gesellschaft. Amsterdam, Atlanta 1997. — Timothy Kenyon: Utopia communism and political thought in early modern England. London 1989. - Arthur v. Kirchenheim: Schiaratila politica. Leipzig 1892. - Mario Klarer: Frau und Utopie. Darmstadt 1993. — Friedrich Kleinwächter: Die Staatsromane. Wien 1891. - HannoWalter Kruft: Städte in Utopia. München 1989. — Krishan Kumar: Utopia and anti-utopia in modern times. Oxford, New York 1987. - Peter Kuon: Utopischer Entwurf und fiktionale Vermittlung. Heidelberg 1986. - P. K.: Gattung als Zitat. Das Paradigma der literarischen Utopie. In: Zur Terminologie der Literaturwissenschaft. Hg. v. Christian Wagenknecht. Stuttgart 1988, S. 309-325. - Gustav Landauer: Die Revolution. Frankfurt 1907. - Karl Mannheim: Ideologie und Utopie. Frankfurt 71985. — Robert Mohl: Die Staats-Romane. In: Zs. für die gesammte Staatswissenschaft 1845, H. 1, S. 24-74. — Götz Müller: Gegenwelten. Stuttgart 1989. Dietrich Naumann: Politik und Moral. Heidelberg 1977. — Monika Neugebauer-Wölk, Richard Saage (Hg.): Die Politisierung des Utopischen im 18. Jh. Tübingen 1996. - Arnhelm Neusüss (Hg.): Utopie. Frankfurt, New York 31986. — Karl Reichert: Utopie und Staatsroman. Ein Forschungsbericht. In: DVjs 39 (1965), S. 259287. - Christoph Rodiek: Erfundene Vergangenheit. Frankfurt 1997. - Richard Saage: Politische Utopien der Neuzeit. Darmstadt 1991. - R. S.: Vermessungen des Nirgendwo. Begriffe, Wirkungsgeschichte und Lernprozesse der neuzeitli-

Ut pictura poesis chen Utopien. Darmstadt 1995. - R. S.: Utopieforschung. Eine Bilanz. Darmstadt 1997. Burghart Schmidt: Kritik der reinen Utopie. Stuttgart 1988. - Eugen Heinrich Schmitt: Der Idealstaat. Berlin 1904. - Rolf Schwendter: Utopie. Berlin, Amsterdam 1994. - Martin Schwonke: Vom Staatsroman zur Science Fiction. Stuttgart 1957. - Hans Ulrich Seeber: Wandlungen der Form in der literarischen Utopie. Göppingen 1970. - Bernhard Spies (Hg.): Ideologie und Utopie in der deutschen Literatur der Neuzeit. Würzburg 1995. - Ludwig Stockinger: Ficta Respublica. Tübingen 1981. - Hans Süssmuth: Studien zur Utopia des Thomas Morus. Münster 1967. - Gert Ueding (Hg.): Literatur ist Utopie.

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Friedrich

Ut pictura poesis Pictura

poesis

ν Vagantendichtung Eingebürgerte, aber irreleitende Sammelbezeichnung für den Großteil der weltlichen lateinischen Lyrik des 12. und frühen 13. Jhs. Expl: Der sog. Vagantendichtung (engl, goliardie poetry, frz. poésie goliardique, ital. canti goliardici), die im gesamten lateinischen Europa des hohen und späten Mittelalters verbreitet war, werden zugerechnet: Liebes-, Zech- und Spielerlieder, in denen sich ungehemmter Lebensgenuß äußern kann, aber auch satirische Gedichte, welche Mißstände der Zeit anprangern (den Handel mit geistlichen Ämtern, die Habgier der Kurie, die Sittenlosigkeit vor allem des höheren Klerus), schließlich Gedichte mit vagantischem Ambiente und der Figur des armen, um eine Gabe bettelnden Vaganten selbst. Der Form nach handelt es sich seltener um metrische, vorwiegend um rhythmische und reimende Dichtungen (/" Vagantenzeile), sowohl strophische als auch unstrophische {/'Sequenz, / Leich u.a.), die sangbar sind. Die Verfasser der meist anonym überlieferten Lieder und Gedichte hat man — mit gelegentlichen Ausnahmen — unter Magistern und Scholaren großer ,Schulen' zu suchen. Soweit sie mit Namen bezeugt oder mit einiger Sicherheit identifiziert sind (Hugo Primas, Hilarius von Orléans, Archipoeta, Walther von Châtillon, Petrus von Blois, Philipp der Kanzler u. a.), handelt es sich um bedeutende Literaten, die renommierte Lehrer waren und häufig auch in Kanzlei und Hofdienst Karriere machten, in keinem Falle aber um herumziehende Betteldichter. Die langlebige Vorstellung vom dichtenden Vaganten geht auf einschlägige ,Vagantenlieder' selber zurück, auf solche, deren Sänger in der Tat die Rolle leibhaftiger Vaganten spielen, sogar

einen förmlichen Vagantenstand (ordo vagorum) in Szene setzen. Doch wurden hier fiktive Texte gern als Mitteilungen aus dem Leben gelesen. Es ist nicht die sozialgeschichtliche Tatsache zu bestreiten, daß es im Mittelalter fahrende Scholaren und Kleriker, auch in großer Zahl und auch um Brot dichtende, gegeben hat - ohne sie wäre die literarische Figur des Vaganten nicht denkbar —, wohl aber ist der Ansicht zu wehren, daß Vagant sein müsse, wer ,Vagantenlieder' dichte. WortG: Das dem lat. vagans ^umherschweifend') entlehnte Wort Vagant ist im Deutschen in der Bedeutung ,Vagabund', .Landstreicher' seit dem 16. Jh. nachweisbar, in der engeren Bedeutung fahrender Student oder Schüler' im 17. Jh. geläufig (DWb 25, 5f.). Zuerst von J.Grimm (1843) wurden Vagant und Vagantenpoesie für fahrende Scholaren des 12. Jhs. und ihre lat. Lieder verwendet, als förmliche und seither usuelle Termini 1853 von W. Giesebrecht. Synonym mit Vagant gebrauchten bereits Grimm und Giesebrecht die Bezeichnung Goliarde, ein schon mlat. Wort (goliardus), das im 13./14. Jh. auch ins Frz. und Ital. entlehnt wurde (im Frz. auch chansons gaillardes); es meint ursprünglich ,Verfasser von satirischen, auch spielerischen Gedichten nach Art des (legendären) Golias', konnotiert aber auch Züge vagantischer Lebensart. BegrG: J. Grimm hatte seine Vorstellung vom Vagantendichter, dem „wandernden, armen sänger[ ]", dem er die Attribute „lustig, verschwenderisch, ausschweifend, lumpig, bettelhaft" verlieh, den Gedichten des Archipoeta, denen er im übrigen höchste Kunst zusprach, abgelesen, dann aber auch „beinahe sämtliche[ ]" ,Carmina Burana' der Vagantenpoesie zugewiesen (Grimm, 16

Vagantendichtung und 35). Ähnlich wurde im 19. Jh. und noch bis 1930 jede weitere wiederentdeckte mlat. Liedersammlung der nie genauer umrissenen, aber wie eine Gattung behandelten .Vagantendichtung' subsumiert. Zuerst W. Meyer brach 1907 mit der Ansicht, ihre Autoren, damals doch „die geistige Blüthe Deutschlands, Frankreichs und Englands", seien den „verlumpten Vaganten" zuzuordnen (Meyer, 88 (14)). O. Schumann plädierte 1930 dafür, den Umfang des Begriffs entschieden zu reduzieren, ihn strikt auf Lieder spezifisch vagantischen Inhalts zu beschränken, jedenfalls die gesamte Liebesdichtung ihm auszugliedern; zum anderen wollte er die Literarität der Texte von biographischen Aussagen unterschieden wissen. Er legte daher die Ersetzung von Begriff und Bezeichnung durch „weltliche lateinische Lyrik" oder „weltliche Klerikerlyrik" nahe (Hilka/Schumann, 87*). Über die historische Triftigkeit des Begriffs ist danach von H. Naumann (1969), P. Klopsch (1983) u.a. noch mit unterschiedlichen Voten befunden worden. Doch hat er durch die Beiträge R. Schleifers (1990) und J. Frieds (1991) zum Archipoeta weiter und entscheidend an Terrain verloren. Heute wird er allenfalls noch für eine Nische vielleicht ,echter' vagantischer Anonyma verwendet. Mangels eines anderen griffigen Terminus dient das Wort sonst nur als veraltet-provisorisches Sammeletikett für weltliche lat. Lyrik des 12. und frühen 13. Jhs. SachG: Zentrum der sog. Vagantendichtung war von Anbeginn (um 1130) Frankreich mit seinen in allen sprachlichen Artes (y Artes liberales) dominierenden Kathedralschulen. Ihre Dichter, Repräsentanten des Bildungsaufschwungs des Jahrhunderts, treten demonstrativ gelehrt — versiert in den antiken Autoren, vertraut mit rhetorischen und dialektischen Künsten - in Erscheinung. In der Gesamtheit zeichnen sich ihre Lieder durch eine Vielfalt der Formerfindung aus, die in der lat. Dichtung bis dahin nicht ihresgleichen hat. Unter den Neuerungen in Vers und Strophe sind ? Vagantenzeile

u n d -strophe

die mit Abstand

verbreitetsten.,Diesseitsstimmung' hat man zu Recht den beherrschenden Habitus die-

745

ser Kleriker-Lyrik genannt. Das Spektrum ihrer Liebesdichtung, die viel Ovidianisches aufgenommen hat, ist denkbar weit, enthält derbe Erotik wie nahezu Minnesängerisches, kennt Passionen und Träume· aller Liebeszustände. Es differiert indes erheblich von Autor zu Autor; die Lieder des Petrus von Blois ragen heraus. Verbreitung hatte die sog. Vagantenlyrik über das akademische Milieu hinaus an geistlichen und weltlichen Höfen. Zu ihren letzten Zeugnissen zählen die Lieder der ,deutschen Gruppe' der ,Carmina Burana' (bis um 1220/25). Schon früh, im 12. Jh., entstanden Autor- wie auch Mischsammlungen, nicht wenige mit Melodieüberlieferung. Auseinandersetzungen mit ihnen sind im deutschen f Minnesang vor allem bei Walther von der Vogelweide (39,11; 53,25; 94,11 u. a.), aber auch bei Heinrich von Morungen (Figur der mythologischen Hypothese M F 139,9f. u.a.), Burkhart von Hohenfels und Gottfried von Neifen zu beobachten. Kontinuierliche Überlieferung bis zu Drucken des 17. Jhs. hatte anscheinend nur die ,Beichte' des Archipoeta, das schon in den Handschriften am meisten verbreitete aller lat. Lieder des Mittelalters. Sie war G. A. Bürger bekannt, der 1778 als Nachahmung' sein ,Zechlied' dichtete, und Schillers Freund J. C. F. Haug, den sie zu einem lat. Trinklied in Vagantenstrophen inspirierte. Seit dem 19. Jh. ist Vagantendichtung' durch Übersetzungen und Nachdichtungen besonders der ,Carmina Burana' auch einem breiteren Publikum zugänglich geworden. Den wirkungsvollsten Beitrag zu ihrer Bekanntheit lieferte die Vertonung einer Auswahl der ,Carmina Burana' durch Carl Orff (1937). ForschG: Die Voraussetzungen für eine zusammenhängende und kritische Forschungsgeschichte schufen die Editionen W. Meyers (Hugo Primas 1907, Arundelsammlung 1908), K. Streckers (Walther von Châtillon 1925 und 1929), O.Schumanns (.Carmina Burana' 1930, 1941), N. Härings (Hilarius von Orléans 1976) u.a. Die wichtigsten literarhistorischen Leistungen erbrachten die Analysen der überlieferten Sammlungen und die auf sie gestützten Re-

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Vagantenzeile/Vagantenstrophe

konstruktionen verschiedener Œuvres, zuletzt, seit den 1970er Jahren, die der Lieder des Petrus von Blois (R. W. Lenzen 1973, P. Dronke 1976). Notwendig und methodisch orientierend war die von W. Meyer angestoßene Reflexion des Begriffs Vagantendichtung' und seine fortschreitende Begrenzung. Als Gegenstände der Interpretation haben mit weitem Abstand vor anderen stets die ,Carmina Burana' gereizt. Lit: Anne Betten: Lateinische Bettellyrik. In: MittellatJb 11 (1976), S. 143-150. - Peter Dronke: Medieval Latin and the rise of European love-lyric. 2 Bde. Oxford 2 1968. — Johannes Fried: Der Archipoeta — ein Kölner Scholaster? In: Ex ipsis rerum documentis. Fs. Harald Zimmermann. Hg. v. Klaus Herbers u.a. Sigmaringen 1991, S. 8 5 - 9 0 . - Wilhelm Giesebrecht: Die Vaganten oder Goliarden und ihre Lieder. In: Allgemeine Monatsschrift für Wissenschaft und Literatur 1853, S. 10-43, 344-381. - Jacob Grimm: Gedichte des mittelalters auf könig Friedrich I den Staufer und aus seiner so wie der nächstfolgenden zeit [1843], In: J. G.: Kleinere Schriften. Bd. 3. Berlin 1866, S. 1 - 1 0 2 , bes. 1 3 40. - Alfons Hilka, Otto Schumann (Hg.): Carmina Burana. Bd. 2/1. Heidelberg 1930, bes. S. 82*-87*. - Paul Klopsch: Die mittellateinische Lyrik. In: Lyrik des Mittelalters. Bd. 1. Hg. v. Heinz Bergner. Stuttgart 1983, S. 19-196, bes. 168-189. - Paul Lehmann: Die lat. Vagantendichtung [1923]. In: Mittellateinische Dichtung. Hg. v. Karl Langosch. Darmstadt 1969, S. 3 8 2 410. - Jill Mann: Satiric subject and satiric object in goliardie literature. In: MittellatJb 15 (1980), S. 6 3 - 8 6 . - Wilhelm Meyer: Die Oxforder Gedichte des Primas [1907]. Repr. Darmstadt 1970. — Heinrich Naumann: Gab es eine Vaganten-Dichtung? In: Der altsprachliche Unterricht 12.4 (1969), S. 69-105. - Rudolf Schieffer: Bleibt der Archipoeta anonym? In: MIÖG 98 (1990), S. 5 9 - 7 9 . - Karl Strecker: Walter von Chatillon und seine Schule. In: ZfdA 64 (1927), S. 97-125, 161-189. - Helen Waddell: The wandering scholars. London 1927, 2 1932.

Franz Josef Worstbrock

Vagantenzeile/Vagantenstrophe Akzentrhythmischer Reimvers der mittellateinischen Dichtung/ Strophe aus Vagantenzeilen.

Expl: Die Vagantenzeile ist ein silbenzählender Langvers. Sie gliedert sich in einen vierhebigen Siebensilber mit männlicher und einen dreihebigen Sechssilber mit weiblicher Kadenz: „Méum èst propósitúm in tabérna mòri" (Archipoeta 10,12,1). Bei Verfassern deutschsprachiger Herkunft können anomaler Auftakt und andere Fälle von Silbenzusatz begegnen. Vier Vagantenzeilen mit gleichem Endreim bilden eine Vagantenstrophe. Eine von Walther von Chätillon geschaffene Sonderform ist die ,Vagantenstrophe mit Auctoritas', in der an die Stelle der vierten Vagantenzeile ein ? Hexameter (seltener Pentameter; ? Distichon) eines (vornehmlich) antiken Dichters tritt. Strukturell gleiche oder verwandte nhd. Strophenformen wurden ebenfalls Vagantenstrophen (s Volksliedstrophe) genannt. WortG/BegrG: Ihr frühes und häufiges Auftreten in sog. Vagantendichtung hat die Vagantenzeile als ursprüngliche und spezifische ,vagantische' Versform erscheinen lassen und ihr den Namen gegeben. Synonym sind, bezogen auf die als Vaganten verstandenen goliardi, die frz. und engl. Bezeichnungen vers goliardique und goliardie vers (Norberg; O E D 6, 661 f.). In den lat. Poetiken, soweit sie Rhythmik als Lehrstoff einbeziehen, wurden Vagantenzeile und -strophe zuerst von Johannes de Garlandia (,Parisiana poetria', um 1225) und Eberhard dem Deutschen (,Laborintus', 1. Hälfte 13. Jh.) beschrieben. SachG: .Rhythmische' Verse, die sich als Vagantenzeilen beschreiben lassen, begegnen vereinzelt in Refrains christlicher Dichtungen des frühen Mittelalters, eine aus solchen Versen gebildete Strophe (gereimter Doppelversikel) in Abaelards ,Planctus Iacob super filios suos'. Als Vers ganzer Gedichte, vorherrschend strophisch gebunden, kam die Vagantenzeile jedoch erst nach 1150 auf, nun aber sogleich mit lebhaftem Erfolg: bei Walther von Chätillon (um 1135 — um 1179) und seinen Schülern; vor 1160 bei Rahewin von Freising; um 1162—1164 beim Archipoeta; die Zuweisung einiger Vagantenzeilen an Hugo Primas von Orléans (1093/94 - um 1160) bleibt unsicher. Erst

Vaterländisches Schauspiel seit der Mitte des 12. Jhs. datiert sie als spezifische versgeschichtliche Erscheinung. Bis weit ins 15. Jh. hatten Vagantenzeile und -Strophe in der lateinischen Dichtung, geistlicher wie weltlicher, eine unvergleichliche, alle Gattungsgrenzen überschreitende Verbreitung (Satire, Zeitklage, Nachruf, Liebeslied, geistliches Lied, Lehrgedicht, Fabelsammlung, Streitgedicht, Vita, Geschichtsdichtung u. a.). Das umfangreichste unter den zahllosen Gedichten in Vagantenzeilen, die ,Vita beatae virginis Mariae et Salvatoris rhythmica' (13. Jh.), zählt mehr als 8000 Verse. Nach einzelnen Beispielen deutscher Vagantenstrophen in den ,Carmina Burana' (136a, 138a, 142a, 170a), die aber Eigengut der Sammlung blieben und nicht über sie hinaus wirkten, hat zuerst Konrad von Würzburg mit der ,Klage der Kunst' und Lied 29 die Vagantenstrophe ins Deutsche übernommen; er machte damit aber ebenfalls keine Schule. Dagegen zog die Verwendung der Vagantenstrophe in lateinischen Hymnen (z. B. ,Ave vivens hostia') seit dem 15. bis ins 17. Jh. ihre Übernahme auch ins deutsche geistliche Lied — zunächst durch Übersetzung — nach sich. Ihre Neurezeption bei G. A. Bürger (,Zechlied', 1778) und Goethe (,Tischlied', 1802) knüpfte unmittelbar an die .Beichte' des Archipoeta an, die im 18. Jh. noch vielfach bekannt war. Seit dem 12. bis ins 19. Jh. treten in der deutschen Lyrik Vers- und Strophenformen auf, die der Vagantenzeile/-strophe formgleich oder ähnlich sind, ohne daß jedoch ein genetischer Zusammenhang mit ihr zu erweisen oder auch nur wahrscheinlich zu machen wäre (z. B. der Aufgesang der sog. ,Lutherstrophe': „Ein feste Burg", „Aus tiefer Not" u.a.). Gleichwohl wird häufig auch für sie der Terminus Vagantenstrophe bemüht. ForschG: In der Forschung haben lange Zeit Versuche eine Rolle gespielt, die Vagantenzeile/-strophe als Vorbild für verschiedene frühe deutsche Vers- oder Strophenformen zu beanspruchen, so für die langen Verse des mhd. Gedichts ,Daz himelrîche' und für die Kürenberger-(Nibelungen-)Strophe (zuletzt Kabell). Keiner dieser Versuche hat überzeugen können.

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Lit: Horst J. Frank: Hb. der deutschen Strophenformen. München 1980, S. 590-592. - Andreas Heusler: Deutsche Versgeschichte. Bd. 2. Berlin 2 1956, § 599, 743. - Aage Kabell: Metrische Studien 2. Uppsala 1960, S. 94-96. - Dieter Kartschoke: Die Metrik des Gedichts ,Vom Himmelreich' im Urteil der Forschung. In: Triuwe. Gedächtnisbuch für Elfriede Stutz. Hg. v. KarlFriedrich Kraft u.a. Heidelberg 1992, S. 159174. - Paul Klopsch: Einführung in die mittellateinische Verslehre. Darmstadt 1972, S. 33 f., 38. - Heinrich Krefeld (Hg.): Die Gedichte des Archipoeta. Heidelberg 1958, S. 39-45. - Karl Langosch: Das ,Registrum Multorum Auctorum' des Hugo von Trimberg. Berlin 1942, S. 91-129. - Dag Norberg: Introduction à l'étude de la versification latine médiévale. Stockholm 1958, S. 151 f., 187-189. - Otto Paul, Ingeborg Glier: Deutsche Metrik. München 91974, S. 84, 105, 114, 118. - Jakob Schreiber: Die Vaganten-Strophe der mittellateinischen Dichtung und das Verhältnis derselben zu mittelhochdeutschen Strophenformen. Straßburg 1894. — Franz Josef Worstbrock: Rhetorische Formtypen der mittelalterlichen Lyrik. In: DVjs 49 (1975), S. 8 - 3 1 , bes. 19-21. Franz Josef

Worstbrock

Variante S Lesart Variatio

Stilprinzip

Vaterländisches Schauspiel Politisches Drama mit nationalem Themenbezug und historisch-legendären Stoffen. Expl: In seinem inhaltlichen Kern bezieht sich das Vaterländische Schauspiel auf das politische Staatsgebilde, dem sich der Verfasser selbst wie sein intendiertes Publikum zurechnet. Mit Rückgriffen auf mustergültige Gestalten und Ereignisse der historischlegendären Vergangenheit sucht es den idealen Standort in einem überzeitlich gültigen Modell der eigenen Nation. Zugleich spiegelt das Vaterländische Schauspiel — bevorzugt in kritischer Beleuchtung — politische, gesellschaftliche und/oder konfessionelle Zustände der nationalen Gegenwart. Obwohl das Vaterländische Schauspiel auf Stoffen der historisch-legendären Ver-

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Vaterländisches Schauspiel

gangenheit basiert, handelt es sich nicht grundsätzlich um eine dramatische Form von Geschichtsdichtung (/" Historisches Drama), verzichtet es doch weitgehend auf das umittelbare Nachspielen von historischem Geschehen und thematisiert dies überwiegend verbal. Allgemeingültige formale Merkmale lassen sich hingegen kaum angeben: Das Besondere des Vaterländischen Schauspiels liegt wohl gerade darin, daß es auf einem Konglomerat lokaler, allmählich herausgebildeter Traditionen von sehr unterschiedlichen Formen, Stoffen und Gehalten beruht. WortG/BegrG: Vaterland wie vaterländisch haben im Verlauf der Jahrhunderte Bedeutungserweiterungen erfahren (vom bloßen Gebiet der väterlichen Herkunft zum Land, als dessen „angehöriger ich mich betrachte" DWb 25, 27). Die emotionalen Intensivierungen besonders des Adjektivs vaterländisch (zuerst verbucht bei Adelung, s. v.) hatten Konsequenzen auch für den Gebrauch der Ausdrücke Vaterländische Dichtung (vgl. RL 1 3, 427-440; RL 2 3, 1 5 7 220) und Vaterländisches Schauspiel (Frühbelege als Dramen-Untertitel in der deutschen, österreichischen und eidgenössischen Tradition des späten 18. Jhs. — z.B. J. A. Törring:,Agnes Bernauerin', 1780; J. F. Primisser: ,M. Sterzinger oder Der bayrische Einfall ins Tirol', 1782; F. R. Crauer: ,Die Mordnacht in Luzern', 1782). Selbst Kleist kündigt Fouqué, als Dank für die Übersendung von dessen Vaterländischen Schauspielen', im Brief vom 15.8.1811 „gleichfalls ein vaterländisches Schauspiel, betitelt: ,Der Prinz von Homburg'", an. Spätestens seit der Gründung der .Bibliothek vaterländischer Schauspiele' (1862) durch den Schweizer F. A. Stocker hat sich der Ausdruck als Genre-Begriff etabliert. Seit Ende des 1., verstärkt des 2. Weltkriegs distanziert sich die Forschung zunehmend von diesem befrachteten Begriffsnamen und greift zu sinnverwandten Ausdrükken wie schweizergeschichtliches Schauspiel (Eberle 1926), nationales und historisches Drama (Lang 1928), historisch-patriotisches Schauspiel (Weiss 1964, 209); die Vaterländische Dichtung in RL 1 (1926 ff.) wird zum

Lemma Politische Dichtung in RL 2 (1954 ff.). Doch als Gattungsname neben anderen findet sich der Terminus Vaterländisches Schauspiel in der Forschungsliteratur nach wie vor (z.B. Sengle 21969, 109; Gut 1996). Oskar Eberle: Querschnitt durch das Schweizerische Drama der Gegenwart. In: Schweizerische Rundschau 1926/27, S. 303-313. - Paul Lang: Von Ott zu Bürer. In: 1. Jb. für Theaterkultur (1928), S. 29-35. - Richard Weiss: Volkskunde der Schweiz. Zürich 1964. SachG: Die Produktion von Vaterländischen Schauspielen war seit jeher abhängig von der zeitgenössischen politischen Situation, insbesondere von nationalen Krisen und historischem Zusammengehörigkeitsgefühl als ,Volk'. Geeignete Voraussetzungen waren offenbar in der Eidgenossenschaft seit Beginn des 16. Jhs. gegeben; das läßt sich an der schweizerischen Entwicklungslinie des Genres ablesen, deren Höhepunkte in folgende Zeitabschnitte fallen: in die Epoche rund um die Reformation (v. a. 1512—1584), Spätaufklärung und Revolutionszeit (v. a. 1775 — 1798), dann erneut die Restauration (v.a. 1810-1830), schließlich das späte 19. Jh. bis zum Ausbruch des 1. Weltkriegs (Titellisten bei Gut, 3 0 9 329). Die deutschen und österreichischen Entwicklungslinien setzen später ein. Nach dem frühen Einzelbeleg des anonym überlieferten Schauspiels ,Die Teutsche Groß-Königin Leoniida' (1673) zeichnet sich in Deutschland eine erste Blütezeit ab: vom Beginn der Aufklärung bis zum Ausbruch der Französischen Revolution. Dabei wurde zur Erweckung eines nationalen Selbstverständnisses gern auf den Cherusker-Fürsten Arminius/Hermann als Befreier Germaniens zurückgegriffen (J. E. Schlegel: ^ e r mann', 1743; J. Moser: ,Arminius', 1749; Klopstock: .Herrmanns Schlacht', 1769, ,Hermann und die Fürsten', 1784, .Hermanns Tod', 1787). Eine neuerliche Welle erlebte das Genre durch napoleonische Besatzung und Befreiungskriege (Kleist: ,Die Hermannsschlacht', 1808; Fouqué: .Waldemar der Pilger, Markgraf von Brandenburg', 1811 — und noch G. Freytag: d e u t sche Geister', 1845; teilweise mit vorrevo-

Verfahren lutionärem Gedankengut dagegen ζ. B. Grabbe: ,Die Hohenstaufen', 1829, N a p o leon oder die hundert Tage', 1831; sowie Immermann: ,Kaiser Friedrich der Zweite', 1828; ,Andreas Hofer', 1833). Demgegenüber stehen die Schauspiele der österreichischen Tradition in derselben Zeitspanne vornehmlich im Dienst der Glorifizierung der Habsburger Dynastie, des Metternich-Regimes und der österreichischungarischen Doppelmonarchie (z. B. L. F. Deinhardstein: ,Erzherzog Maximilians Brautzug', 1822; Caroline Pichler: Ferdinand der Zweyte', 1809; Grillparzer:,König Ottokars Glück und Ende', 1825, ,Ein Bruderzwist in Habsburg', 1848). Trotz mehrfacher Wiederbelebungsversuche besonders im Umfeld der preußischdeutschen Reichsgründung sowie des 1. und 2. Weltkriegs zeichnen sich danach in allen drei Entwicklungslinien Abnützungserscheinungen ab. ForschG: Als Gattungszusammenhang erfaßt und systematisch erforscht wurde bislang fast ausschließlich das Vaterländische Schauspiel der Schweiz (von Weller 1863 über Stocker 3 1893 und Hödel 1915 bis Gut 1996). Andere Untersuchungen sind meist volkskundlich oder theaterwissenschaftlich ausgerichtet und befassen sich in erster Linie mit einzelnen Dramen, Stofftraditionen (z.B. Wilhelm Teil, Bruder Klaus, Hermann/Arminus, Agnes Bernauer, Andreas Hofer). Lit: Rémy Charbon: Vom politischen Theater zum Festspiel. In: Schweizerische Zs. für Geschichte 27 (1977), H. 3, S. 276-323. - Andreas Doerner: Politischer Mythos und symbolische Politik: der Hermannmythos. Reinbek 1996. — Konrad Dussel: Ein neues, ein heroisches Theater? Nationalsozialistische Theaterpolitik und ihre Auswirkungen in der Provinz. Bonn 1988. - Balz Engler, Georg Kreis (Hg.): Das Festspiel. Schweizer Theaterjb. 49 (1988). - Gesa v. Essen: Hermannsschlachten. Göttingen 1998. - Katrin Gut: Das vaterländische Schauspiel der Schweiz. Freiburg (Schweiz) 1996. - Robert Julian Hödel: Vaterländisches Volkstheater und Festspiele der Schweiz. Bern 1915. — Richard Kuhnemund: Arminius or the rise of a national symbol in literature. Chapel Hill 1953. - Reinhart Meyer (Hg.): Das deutsche Theater des 18. Jhs. München 1981 ff. - Dietz-Rüdiger Moser: .Volksschau-

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spiel'. In: RL 2 4, S. 772-786. - Klaus Reichelt (Hg): Historisch-politische Schauspiele. Tübingen 1987. - Leopold Schmidt: Das deutsche Volksspiel in zeitgenössischen Zeugnissen vom Humanismus bis zur Gegenwart. Berlin/DDR 1954. Friedrich Sengle: Das historische Drama in Deutschland. Stuttgart 21969. - Ursula Simek: Das Berufstheater in Innsbruck im 18. Jh. Wien 1992, bes. S. 217-220. - Franz August Stocker: Das Volkstheater in der Schweiz. Aarau 31893. - Elida Maria Szarota: Geschichte, Politik und Gesellschaft im Drama des 17. Jhs. Bern u.a. 1976. - Horst Turk, Jean-Marie Valentin (Hg.): Aspekte des politischen Theaters und Dramas von Calderón bis Georg Seidel. Berlin u.a. 1996. - Emil Weller: Das alte Volkstheater in der Schweiz. Frauenfeld 1863. Rainer Wiegels, Winfried Woesler (Hg.): Arminius und die Varusschlacht. Paderborn u. a. 1995. Katrin

Vaudeville

Gut-Sembill

Boulevardstück

V-Effekt /" Episches Theater Verbalstil S Stilprinzip

Verfahren Kunstgriffe oder Kunstmittel, die einem Text ästhetische Wirkung verleihen; seine literarische Machart. Expl: Gemäß der Auffassung des Russischen / Formalismus ist die Kunst ein System von ,Verfahren'. Statt den Text traditionell als Einheit von Inhalt und ? Form zu sehen, gehen die Formalisten vom außerästhetischen Sprachmaterial der Alltagswelt aus, das auf der Grundlage von .Verfahren' angeordnet bzw. umgearbeitet wird Abweichung). Dadurch verwandeln sich die realen Fakten in ihrer konkreten Dinglichkeit zu poetisch transformierten. So kommt es zu einer antimimetischen .Deformation' der Wahrnehmung, die automatisierte Wahrnehmung bewußt macht und so zu einem .neuen Sehen' führt. Durch die Wiederkehr bestimmter Verfahren entstehen Beziehungen und poetische Strukturebenen im Text

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Verfahren

siker mit den Tönen oder der Maler mit den Farben; den Verfahren kommt hier bereits die nicht selbstbezügliche, außersprachliche Funktion zu, Emotionen zu steuern (Zirmunskij 1972, 159). In der strukturalistischen Weiterentwicklung von Lotman (87, WortG: Der Ausdruck Verfahren ist eine 151 f.) ist ein ,Minusverfahren' (minusÜbersetzung von russ. priëm [prijom] ,Me- priem) der kalkulierte Verzicht auf einen Pol thode', ,Manier', .Machart'. Der dt. Termi- einer semantischen Opposition oder auf nus Verfahren geht auf Striedter (1969, 2— eine bestimmte Form innerhalb einer sy35: Sklovskij s Leittext ,Die Kunst als Ver- stemhaften Gesamtstruktur (also ζ. B. „er fahren' von 1916) zurück und löst ältere war dick und reich, sie dünn ..."). Übersetzungen wie Zirmunskijs Kunstgriff Semantisch verschiebt sich der Begriff im (1925) und Erlichs Kunstmittel (1964) ab Kontext der weiteren Entwicklung der For(Lauer, 176, 183 f.). malen Schule: von der vorrangigen UnterBegrG: Der Begriff steht im Kontext der in suchung wortbezogener .Verfahren' zu einer den Jahren nach 1910 entwickelten Ästhe- zweiten Phase der verstärkten Aufmerksamtik, die ein Kunstwerk als „Summe der keit auf Verfahren der s Komposition, also Kunstgriffe" (Sklovskij, 29), also einzelner beispielsweise auf das Verhältnis von der Verfahren der /" Verfremdung2 versteht. Un- chronologisch geordneten Fabel¡ (y Plot) ter dem Stichwort .Verfahren' subsumieren zum kompositorisch umgearbeiteten /" Sudie Formalisten letztlich unter neuer dyna- jet. In der dritten Phase werden Ende der mischer Perspektive sowohl Elemente der 1920er Jahre .Verfahren' auf ihre werktranantiken Stillehre (S Genera dicendi), s Rhe- szendente kommunikative Position gegentorik und ? To pik als auch beispielsweise über dem Rezipienten untersucht; J. Tynjader Verslehre (/* Vers, ? Versfuß, s Vers- nov analysiert beispielsweise, wie die ? Parmaß) und der ? Gattungstheorie, also jegli- odie einzelner Verfahren ein Epochensystem che Stilisierung von Textualität (/* Text). ,versteinert' erscheinen läßt und so zu literaDurch V. Sklovskij wird der Begriff für den rischen Neuentwicklungen führt (/" EvolutiRussischen Formalismus prägend und domi- on). niert in Rußland die in den Jahren nach 1910 Mit dem Ende der Formalen Schule im außerhalb des konservativen Universitäts- Stalinismus wurde der Begriff in der UdSSR betriebs einsetzende Interpretation von Tex- tabuisiert, fand aber v. a. durch R. Jakobson ten der s Avantgarde. Literaturtheorie und Eingang in den Prager s Strukturalismus. Avantgarde beeinflussen sich dabei gegensei- Hier wurden nicht mehr einzelne Verfahren tig. Durch die verengende Perspektive auf an sich untersucht, sondern ihre ? Funktion diese nicht-affirmativen, vom jeweils herr- innerhalb eines Gesamtsystems. Jakobson schenden System abweichenden Kunsttypen betrachtet Verfahren als „gesetzmäßig aufdefiniert Sklovskij im expliziten Anschluß an einander bezogen", so daß sie „eine kennAristoteles das ,Verfahren'^ der Kunst als zeichnende Hierarchie" bilden (Jakobson, „Verfremdung der Dinge" (Sklovskij, 29). In 549f.; /'Dominanz). J. Mukarovsky (1974, Absetzung von der Suche nach der /" Inten- 46) und Jakobson verbinden die Kategorie tion im biographischen Positivismus gilt .Verfahren' mit der Ästhetischen Funktion der Autor nun als,Summe seiner Verfahren'. (/" Poetische Funktion), in der eine ständige Richtungsweisend werden die exemplari- Spannung zwischen Selbstzweckhaftigkeit schen Analysen in B. Ejchenbaums Aufsatz und Mitteilung herrscht. Später wurde der ,Wie Gogol's Mantel gemacht ist' (zum ko- Begriff vorwiegend in Frankreich (z. B. bei mischen / Skaz) und von Sternes Verfahren Riffaterre als écarts) und in den USA (im im ,Tristram Shandy' durch Sklovskij (beide Rahmen der ? Linguistischen Poetik) aufgedt. bei Striedter 1969). nommen und weiterentwickelt. Für V. Zirmunskij arbeitet der Dichter Implizit haben manche Anhänger der mit sprachlichen Verfahren so, wie der Mu? Dekonstruktion die Fokussierung auf die (/" Äquivalenz). Die Ästhetik eines Verfahrens ergibt sich aus seinem kalkulierten Verhältnis zum Epochensystem, in dessen Rahmen es verfremdend, systemkonform oder merkmallos sein kann.

Verfilmung Verfahren übernommen, wenn sie Texte von der außersprachlichen Realität abzutrennen suchen (ζ. B. de Man, 36; vgl. Stix, 72-85). Sie nivellieren aber gerade die Unterschiede zwischen poetischen Verfahren und gewöhnlicher Alltagssprache. ForschG: ,Verfahren' wurden erstmals von der Formalen Schule in Rußland untersucht. Diese Forschungsrichtung selbst ist nach dem 2. Weltkrieg zum internationalen Untersuchungsgebiet einzelner Vertreter neuerer literaturtheoretischer Gruppierungen geworden. Die prägenden Definitionen des Begriffs jeweils aus einer Außenperspektive stammen von Erlich, Striedter, Lauer, Grübel und Lachmann. Auf Hansen-Löve geht die zeitlich Einteilung der Formalen Schule in drei Phasen (F I—III) zurück; Verfahren werden dieser Einteilung nach zuerst an einzelnen Wortspielen, dann an ganzen Texten und schließlich aus literaturgeschichtlicher Perspektive heraus untersucht. Von einem poststrukturalistischen Standpunkt her beleuchten Meyer, Speck und Stix die Bedeutung von Verfahren innerhalb aktueller neuerer Literaturtheorien.

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Die Kunst als Verfahren [1916], In: Striedter 1969, S. 2 - 3 5 . - Stefan Speck: Von Sklovskij zu de Man. München 1997. - Wolf-Dieter Stempel (Hg.): Texte der russischen Formalisten. Bd. 2. München 1972. — Bettina Stix: Rhetorische Aufmerksamkeit. München 1997. — Jurij Striedter (Hg.): Texte der russischen Formalisten. Bd. 1. München 1969. — Jan van der Eng: Priem. In: Sign, language, culture. Hg. v. Algirdas J. Greimas. Den Haag, Paris 1970, S. 2 9 - 5 8 . - Viktor Zirmunskij: Formprobleme in der russischen Literaturwissenschaft. In: Zs. für slawische Philologie 1 (1925), S. 117-152. - V. Z.: Die Aufgaben der Poetik. In: Stempel 1972, S. 136-161.

Alexander Wöll

Verfilmung Prozeß und Produkt der Umsetzung eines schriftsprachlich fixierten Textes in das audiovisuelle Medium des Films.

Expl: Die Verfilmung stellt einen Medienwechsel dar, der (1) zwei Medien voraussetzt und (2) eine gerichtete Relation zwischen beiden. Dabei wird ein verbaler (vornehmlich literarischer) Ausgangstext in eiLit: Paul de Man: Allegories of reading. New Hanen filmischen (audiovisuellen) Resultattext ven 1979. — Victor Erlich: Russischer Formalisumgesetzt, wobei die Auseinandersetzung mus. München 1964. - Rainer Grübel: Formalismit den technischen Bedingungen des Medimus und Strukturalismus. In: Grundzüge der Liteums Film konstitutiv ist. Anders als der literaturwissenschaft. Hg. v. Heinz Ludwig Arnold rarische Text bündelt der Film verschiedene u. a. München 1996, S. 386-408. - Aage A. HanZeichensysteme in spezifischen medialen sen-Löve: Der russische Formalismus. Diss. Wien Ausprägungen (seit der Erfindung des Ton1978. — Roman Jakobson: Die Arbeit der sogenannten ,Prager Schule'. In: R. J.: Selected wrifilms prinzipiell Ton und Bild). tings. Bd. 2. Den Haag, Paris 1971, S. 547-550. Die Relation wird anhand von VerRenate Lachmann: Zur Frage einer dialogischen gleichsparametern wie Story (S Plot), s SuPoetizitätsbestimmung bei Roman Jakobson. In: Poetica 14(1982), S. 278-293. - Reinhard Lauer: jet, / Thema oder Aussage (/ Botschaft, s Proposition) sowie über fiktionale, narraProbleme der Übertragung literaturwissenschafttive, prädikative und argumentative Elelicher Begriffe des russischen Formalismus. In: mente bestimmt. Die Vergleichsparameter LiLi 30/31 (1978), S. 175-189. - Jurij M. Lotman: Die Struktur des künstlerischen Textes. Hg. können deskriptiv oder normativ eingesetzt v. Rainer Grübel. Frankfurt 1973. - Holt Meyer: werden. Im letzteren Fall liefert der literariSklovskijs Unentscheidbarkeit, Jakobsons .orgasche Text die Vorlage, an der die Verfilmung nizzazione combattiva', Tynjanovs metaphorigemessen wird. In der Forschung zur Verfilscher Nietzscheanismus, und das ,happy end' (in) mung hat sich inzwischen jedoch der deder Semiotik. In: Wiener slawistischer Almanach skriptive Standard durchgesetzt (Renner). 42 (1998), S. 295-322; 43 (1999), S. 261-285; 44 Die Relation wird bestimmt (1) in bezug (1999), S. 253-268. - Jan Mukarovsky: Studien zur strukturalistischen Ästhetik und Poetik. Münauf die Zeichenstruktur ( / Zeichen): so dechen 1974. - Michael Riffaterre: Essais de stylifiniert Schneider die Literaturverfilmung als stique structurale. Paris 1971. - Viktor Sklovskij: „Transformation eines Textsystems [...] in

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Verfilmung

ein anderes Zeichensystem" (Schneider, 17; Code) — dabei wird häufig die Narration als wichtigstes Vergleichsmoment herangezogen; (2) in bezug auf die ,Sprache' (,Filmsprache'): damit wird dem Film ein sprachlicher Status zugewiesen — ein entsprechender Sprachbegriff kann sich aber nicht mehr am Modell der Alltagssprache orientieren, wird metaphorisch und verliert seine deskriptive Funktion; (3) in bezug auf .rhetorische' Verfahren (,Filmrhetorik'): solche Verfahren sind intermedial; (4) in bezug auf den ,Sinn' oder die .Aussage': dieser hermeneutische Ansatz (Lohmeier) steht in Konkurrenz zum semiotischen (Kanzog). Überlagert wird der Vergleich durch normative Bewertungsmaßstäbe, die die Verfilmung an ihrer literarischen Vorlage messen und ihre Qualität in bezug auf sie beurteilen. Die Kategorie der Textadäquatheit hat jedoch in neueren Ansätzen dem Gesichtspunkt medientechnologischer bzw. medienästhetischer Eigenqualitäten Platz gemacht. WortG/BegrG: ^ Film. Kurt Pinthus spricht schon 1913/14 von verfilmen und verfilmbar (Pinthus, 19—21, 28). Terminologisch wird Verfilmung erst im Kontext der beginnenden Medienkomparatistik (Estermann 1965) bzw. im juristischen Kontext des Urheberrechts verwendet (Gesetz über Urheberrecht 1965, § 23 und 88, vgl. Breioer 1973). Der Begriff ,Verfilmung' gibt (analog zum älteren Muster ? Vertonung) eine eindeutige Perspektivierung der Relation vom Ausgangs- zum Resultat-,Text' vor, worin insbesondere die Höherbewertung der Literatur gegenüber dem Film zum Ausdruck kommt. Insofern ist der Begriff eingebunden in die Debatten um die textuelle und ästhetische Gleichrangigkeit des Films. Im Zuge seiner Emanzipation als eigenständiges Kunstmedium wurde der neutralere Begriff der ,Adaption' (Adaptation; ? Intertextualität) eingeführt (z.B. Bazin: „Plädoyer für die Adaption", dt. 1975), der heutzutage prominent neben dem der (Literatur·) Verfilmung bzw. dem Allgemeinbegriff ,Medienwechsel' benutzt wird; nicht als fester Terminus durchsetzen konnten sich Transposition, Transformation, Umwandlung oder Bearbeitung (Schanze 1996).

Bernhard-Dietrich Breioer: Verfilmung, Verfilmungsrecht und Fernsehfilm. Berlin 1973.

SachG: Verfilmungen von Literatur sind (fast) so alt wie das Medium Film selbst (das Kino als Institution gibt es etwa seit 1905; Estermann); denn Literatur stellt bis heute eine der wichtigsten Stoff- und Sujetquellen für den Film dar. Umgekehrt sahen auch Schriftsteller — anders als die frühe Filmkritik (s Theaterkritik) — von Anfang an im Film ein „neues künstlerisches Ausdrucksmittel" (Schaudig, 49). Aus der in der Kinodebatte Anfang der 1920er Jahre diskutierten Konkurrenz von Film und Theater entwickelte sich eine Diskussion um Kunststatus bzw. s Warencharakter des Films, in der auch Literaten zugunsten des Films Partei ergriffen, prominent beginnend mit dem von Pinthus herausgegebenen ,Kinobuch' (1913/14). Dies kam der Bewertung von Verfilmungen zugute, wenn sich auch bis heute die Vorstellung von der .Minderwertigkeit' der Verfilmung gegenüber der Literatur gehalten hat. Ausgenommen wurden nur wenige paradigmatische Literaturverfilmungen (z.B. ,Die Marquise von O' von E. Rohmer, ,Tod in Venedig' von L. Visconti, ,Fontane Effi Briest' von R. W. Fassbinder oder ,Die Blechtrommel' von V. Schlöndorff). Die Kriterien der Beurteilung reichen von ,Werktreue' bis hin zur Interpretation der literarischen Vorlage als Eigenleistung des Films. Daß der Film das Ende der Literatur bedeute, gilt als widerlegt (vgl. die Beiträge in Koebner 1986). Nach dem Vorbild des Films wurden neue Schreibweisen (Döblin) entwickelt und neue Wege der Literaturvermittlung genutzt (was auch heute noch im produktiven Wechselverhältnis von verfilmter Literatur und Literatur zum Film gilt). Im Drehbuch für eine Verfilmung müssen die spezifischen Verfahren der beiden Medien aufeinander abgestimmt werden. ForschG: Die Erforschung der (Literatur-) Verfilmung ist eng mit einer grundlagentheoretischen Diskussion der Literaturwissenschaft seit den 1960er Jahren verknüpft. Wo die formale und die methodische Zuständigkeit der Literaturwissenschaft auch auf Literatur im Medienwechsel (Literatur als

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Verfremdung2 Vorlage, der Film als Erzählung) konstatiert wird, wird auch grundsätzlich (1) die Frage nach einer medienübergreifenden Erweiterung des Textbegriffs und somit (2) nach dem medialen Status von Literatur selbst aufgeworfen. Literaturverfilmung ist somit der Einsatzpunkt einer medienwissenschaftlichen Erweiterung der Literaturwissenschaft, die immer noch grundsätzlich philologisch orientiert bleibt (Kanzog, Schaudig: Filmphilologie). Nach einer Reihe großer filmphilologischer Arbeiten zur Literaturverfilmung zu Anfang der 1980er Jahre, die deskriptive Modelle des Medienwechsels ausgearbeitet hatten (Renner, Schneider, Seitz, Göttler), wandte sich die Filmanalyse in Einzelansätzen von Verfilmungen, d.h. von der Rückführung auf Literatur, und von i. e. S. philologischen Methoden ab (Körte).

Kleist und ein Film von George Moorse. München 1983. - Helmut Schanze: Literatur — Film - Fernsehen. Transformationsprozesse. In: Fernsehgeschichte der Literatur. Hg. v. H. S. München 1996, S. 82-92. - Michael Schaudig: Literatur im Medienwechsel. München 1992. Klaus M. Schmidt, Ingrid Schmidt (Hg.): Lexikon Literaturverfilmungen. Stuttgart 1995. - Irmela Schneider: Der verwandelte Text. Wege zu einer Theorie der Literaturverfilmung. Tübingen 1981. - Gabriele Seitz: Film als Rezeptionsform von Literatur. München 21981. - Gerhard Zaddach: Der literarische Film. Berlin 1929.

Lit: Franz-Josef Albersmeier, Volker Roioff (Hg.): Literaturverfilmungen. Frankfurt 1989. André Bazin: Für ein ,unreines' Kino — Plädoyer für die Adaption. In: A. B.: Was ist Kino? Köln 1975 [frz. 1958-1962], S. 45-67. - Alfred Estermann: Die Verfilmung literarischer Werke. Bonn 1965. - Wolfgang Gast (Hg.): Literaturverfilmung. Bamberg 1993. - Fritz Göttler: Handlungssysteme in Heinrich von Kleists ,Der Findling'. Frankfurt, Bern 1983. - Petra Grimm: Filmnarratologie. München 1996. - Knut Hickethier, Joachim Paech (Hg.): Modelle der Filmund Fernsehanalyse. Stuttgart 1979. — Matthias Hurst: Erzählsituationen in Literatur und Film. Tübingen 1996. - Klaus Kanzog: Einführung in die Filmphilologie. München 21997. - K. K.: Medien-Nachbarwissenschaften IV: Literaturwissenschaft. In: Medienwissenschaft. Hg. v. Joachim-Felix Leonhard u.a. Teilbd. 1. Berlin, New York 1999, S. 310-318. - Thomas Koebner (Hg.): Medium Film - das Ende der Literatur? In: Kontroversen, alte und neue. Hg. v. Albrecht Schöne. Bd. 10. Tübingen 1986, S. 263-375. Helmut Körte: Einführung in die systematische Filmanalyse. Berlin 2000. - Anke-Marie Lohmeier: Hermeneutische Theorie des Films. Tübingen 1996. - Corinna Müller: Frühe deutsche Kinematographie. Stuttgart, Weimar 1994. — Michaela Mündt: Transformationsanalyse. Methodologische Probleme der Literaturverfilmung. Tübingen 1994. - Joachim Paech (Hg.): Methodenprobleme der Analyse verfilmter Literatur. Münster 1984. - J. P.: Literatur und Film. Stuttgart 1988. - Kurt Pinthus (Hg.): Das Kinobuch [1913/14], Frankfurt 1963. - Karl N. Renner: Der Findling. Eine Erzählung von Heinrich von

Verfremdung2

Oliver Jahraus

Verfremdung!

Episches Theater

Künstlerisches Prinzip, das auf die Darstellung des Vertrauten als befremdlich, des alltäglich Gewohnten als ungewöhnlich und erstaunlich abzielt. Expl: Verfremdung hat (1) einen bewußtseinstheoretischen und (2) einen technischpoetischen Aspekt. Zum einen ist sie auf Erkenntnis der Dinge gerichtet, zum anderen bedient sie sich einer Vielfalt künstlerischer Verfahren, die /" Stil, Erzählweise, / Perspektive oder / Komposition eines Textes betreffen können ( / Poetizität). Verfremdung funktioniert in der Regel kritisch, da sie gewohnte Sehweisen in Frage stellt. WortG: Die Einführung des Terminus ist eng mit der künstlerischen Moderne verbunden. Der russische Formalist V. Sklovskij prägte in seinem 1917 erschienenen Artikel ,Die Kunst als Verfahren' den Begriff ostranenie, der, abgeleitet von strannyj ,fremd', ,seltsam' (vgl. frz. étrange, engl. strange), wörtlich als ,Seltsam-Machen' zu übersetzen wäre. Brecht verwendet Verfremdung seit 1936 (Knopf, 378; f Episches Theater). Da der Ausdruck bei ihm zum ersten Mal ein Jahr nach seinem Besuch in Moskau auftritt, wo er mit der Schauspielkunst des Chinesen Mei Lan-fang und mit Sklovskijs Verfremdungs-Konzeption bekannt wurde, kann man annehmen, daß

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Verfremdungî

Brechts Sprachgebrauch sich von den Russischen Formalisten herleitet (Willett, 163, 187). Möglicherweise erfuhr Brecht durch seinen Freund Sergej Tret'jakov von Sklovskijs Denkansatz bereits 1931.

allen Ebenen des literarischen Werks ansetzen (/" Abweichung). Gegenstände können etwa in eine befremdliche Perspektive gerückt werden — wie in die eines Pferdes in Tolstojs ,Leinwandmesser', der Sklovskij als ein Beispiel in der Analyse von VerfremJohn Willett: Das Theater Bertolt Brechts [1959]. dung dient. Reinbek 1970. Ein älteres Beispiel ist etwa die stauBegrG: Wenn auch der Terminus im allge- nende, nicht verstehende Sicht des Kindes meinen auf den Russischen /" Formalismus auf die Dinge, auf die bereits Francis Bacon zurückgeführt wird, sind das Verfahren und aufmerksam macht (Knopf, 380). .Verfremseine Beschreibung weit älter (dazu Fricke dung' hebt insofern Zusammenhänge ins 1981, 2002). Aristoteles spricht vom έξα- Bewußtsein, die in der Kunst seit jeher eine λάττειν [exaláttein] ,fremd machen': ,Ver- Rolle gespielt haben, doch wird sie vor fremdung läßt [die Rede] erhabener erschei- allem zu einem Schlüsselbegriff der Modernen. Denn es geht den Menschen mit den ne. Worten genauso, wie es ihnen mit Fremden ,Verfremdung' kann sehr unterschiedliim Verhältnis zu ihren eigenen Landsleuten che Funktionen haben. Während der frühe ergeht. Deshalb muß man seine Redeweise Sklovskij den wahrnehmungsästhetischen fremdartig machen; denn das Abgelegene Gesichtspunkt akzentuiert (dazu Anz), erzeugt Bewunderung, das Bewunderns- steht bei Brecht die gesellschaftskritische werte aber Wohlgefallen' (.Rhetorik' 1404b Wirkabsicht im Vordergrund. Aus Sklov8 — 12). Von ihm geht die Diskussion des ξε- skijs ,Auferweckung des Wortes' (1914) νικόν [xenikón] in der Rhetorik aus (Laus- geht hervor, daß in erster Linie das Schafberg, § 1235-1241; vgl. etwa Priscian, ,In- fen der russischen Futuristen den Anstoß zu stitutionum grammaticarum' 17,188). Ver- seinen Überlegungen über die Erneuerung fremdende, verzerrende, auf Überraschung der ,toten', d.h. automatisierten alltägzielende Verfahren stehen im Zentrum ma- lichen Sprache gab. Die abgenutzten Wörter nieristischer Literaturtheorien (S Manieris- lassen uns die Dinge nicht mehr ,sehen', mus¡). So waren z.B. Verfahren der ver- sondern nur oberflächlich-pragmatisch fremdenden Spitzfindigkeit und Verblüf- ,wiedererkennen' (AUTOMATISIERUNG) fung (,agudeza', ,far stupir' usw.) in der ba- eine Unterscheidung, die in H. Bergsons in rocken Poetik verbreitet (s Argutia) — bei Rußland seinerzeit viel gelesener AbhandJ. Masen 1687 ausdrücklich zurückgeführt lung über das Lachen vorgeprägt ist (/* Koauf,Quellen der Verfremdung' („Fontes [...] mik). In ,Die Kunst als Verfahren' (1917) Alienatorum": Masen, 62). stellt Sklovskij dem die ENTAUTOMATISIEHinsichtlich des Aspekts der Verfrem- RUNG, die verfremdende Wirkung der dung kann Brecht Hegels Äußerung auf- Kunst, entgegen. Kunst diene dazu, das greifen, daß das Bekannte noch nicht das Empfinden des Lebens wiederherzustellen, Erkannte sei (Brecht 15, 355). Eine platoni- die Dinge zu fühlen, den „Stein steinern zu sche Variante der Verfremdung formuliert machen" (Sklovskij [1917], 15). VerfremSchopenhauer in ,Die Welt als Wille und dung' ist DEFORMATION: .Erschwerung der Vorstellung' (3. Buch, § 34—38; Ergänzun- Form' zum Zweck einer Intensivierung der gen zum 3. Buch, Kap. 30 und 34). Sein Ge- Wahrnehmung (/" Verfahren). danke, die Kunst besitze die Fähigkeit, die Der frühe Sklovskij klammert dabei den Dinge an sich, d.h. außerhalb pragmati- funktionalen Aspekt z. B. von Tolstojs verscher Zusammenhänge zu zeigen und den fremdenden Verfahren, seine gesellschaftsSchleier der Zufälligkeit und des Truges von kritische Absicht, völlig aus. Erst in den ihnen zu nehmen, wurde von so unter1950er Jahren merkt er selbstkritisch (und schiedlichen Autoren wie Tolstoj, Bergson, nunmehr unter Verweis auf Brecht; vgl. Worringer oder Kandinsky aufgegriffen Lachmann, 243—249) an, daß Verfrem(vgl. Botz, Curtis). Verfremdung kann auf dung' auf ein besseres Erkennen des Gegen-

Vergleich standes, ein .neues Sehen' abzielt, der technisch-poetische Aspekt (2) somit dem bewußtseinstheoretischen Ziel (1) dient. Brechts Konzeption von Verfremdung¡ bildete sich bereits vor dem Auftreten des Terminus mit seinen Bemühungen um ein ? Episches Theater heraus. Sklovskijs poetologische Überlegungen werden u.a. von Tynjanov um die historische Dimension erweitert (S Evolution), im Prager /" Strukturalismus vor allem von Havránek und Mukarovsky zum Konzept der sprachlichen AKTUALISIERUNG automatisierter Schemata weiterentwickelt (actualisace, international rezipiert als engl, foregrounding, frz. écart-, vgl. Gueunier, Marcus, van Peer) und von Jakobson sprachtheoretisch präzisiert zum literarischen Grundprinzip der ^ Poetischen Funktion (vgl. /" Linguistische Poetik). Bertolt Brecht: Gesammelte Werke in 20 Bdn. Hg. v. Elisabeth Hauptmann. Frankfurt 1967. Wassily Kandinsky: Über das Geistige in der Kunst. Bern 1952. - W. K.: Über die Formfrage. In: Der Blaue Reiter. Hg. v. W. K. und Franz Marc. Neuausgabe v. Klaus Lankheit. Zürich 6 1987, S. 132-182. - Jacob Masen: Ars nova argutiarum eruditiae et honestae recreationis. Köln 3 1687. ForschG: Die Bemühungen, das von Sklovskij und Brecht thematisierte Verfremdungsprinzip adäquat und im umfassenden Kontext zu beleuchten (vgl. R L 2 4 , 613 — 626), datieren seit dem Bekanntwerden der Theorie des Russischen Formalismus im Westen um 1960 (vgl. bes. Grimm, Lachmann, Hansen-Löve, Knopf, Striedter). Lit: Heinrich Anz: Die Bedeutung poetischer Rede. München 1979, S. 60-78. - Henri Bergson: Das Lachen. Meisenheim 1948. - Thorsten Botz: .Verfremdung' against .Entfremdung'? In: Methods of reading. Hg. ν. Ismo Koskinen u. a. Tampere 1995, S. 223-235. - James M. Curtis: Bergson and Russian Formalism. In: Comparative Literature 28 (1976), S. 109-121. - Harald Fricke: Norm und Abweichung. München 1981, S. 84-110. - H. F.: Das Neue - (K)eine Denkfigur der Moderne. Zur Historizität des Abweichungsprinzips. In: Das Neue. Eine Denkfigur der Moderne. Hg. v. Maria Moog-Grünewald. Heidelberg 2002, S. 311-322. - Reinhold Grimm: Verfremdung. Beiträge zu Wesen und Ursprung eines Begriffs. In: Revue de littérature comparée 35 (1961), S. 207-236. - Hans Gün-

755

ther: Ostranenie - ,snjatie pokrovov' i obnazenie priema. In: Russian Literature 36 (1994), S. 13— 27. - H. G.: Verfremdung: Brecht und Sklovskij. In: Gedächtnis und Phantasma. Fs. Renate Lachmann. Hg. v. Susi K. Frank u. a. München 2001, S. 137-145. — Nicole Gueunier: La pertinence de la notion d'écart en stylistique. In: Langue française 3 (1969), S. 34-45. - Aage A. HansenLöve: Der russische Formalismus. Methodologische Rekonstruktion seiner Entwicklung aus dem Prinzip der Verfremdung. Wien 1978. — Bohuslav Havránek: Die funktionale Schichtung der Literatursprache. In: Grundlagen der Sprachkultur. Hg. v. Jürgen Scharnhorst u. a. Berlin 1976, S. 150-161. - Hermann Helmers (Hg.): Verfremdung in der Literatur. Darmstadt 1984. Roman Jakobson: Poetik. Ausgewählte Aufsätze 1921-1971. Frankfurt 1979. - Jan Knopf: Brecht-Hb. Theater. Stuttgart 1980. - Renate Lachmann: Die Verfremdung' und das ,neue Sehen' bei Viktor Sklovskij. In: Poetica 3 (1970), S. 226-249. - Solomon Marcus: Les écarts dans le langage poétique. In: Revue roumaine de linguistique 13 (1968), S. 461-470. - Jan Mukarovsky: Kapitel aus der Poetik. Frankfurt 1967. - Willie van Peer: Stylistics and psychology. Investigations of foregrounding. London 1986. — Viktor Sklovskij: Die Auferweckung des Wortes [1914]. In: Texte der russischen Formalisten. Bd. 2. Hg. v. Wolf-Dieter Stempel. München 1972, S. 2 17. - V. S.: Die Kunst als Verfahren [1917], In: Texte der russischen Formalisten. Bd. 1. Hg. v. Jurij Striedter. München 1969, S. 3-35. - Jurij Striedter: Literary structure, evolution, and value. Russian formalism and Czech structuralism reconsidered. Cambridge/Mass., London 1989. Wilhelm Worringer: Abstraktion und Einfühlung [1907], München 1976. Hans Günther

Vergleich Sprachliche, meist syntaktisch explizite Verknüpfung zweier mindestens in einem Punkt ähnlicher Vorstellungen aus getrennten Sphären. Expl: Während der bildlose Vergleich („Der Sohn ist klug wie sein Vater") nur eine eindimensionale logische Operation vollzieht, verdankt der ( s uneigentliche) bildhafte Vergleich seine stilistische Funktion gerade der essentiellen Verschiedenheit der nicht aneinandergrenzenden Vorstellungssphä-

756

Vergleich

ren. Grundvorstellung und Vergleichsvorstellung werden entweder mittels einer Vergleichspartikel (dt. „wie", „als", „denn") verbunden (partieller Vergleich: „Der Held kämpfte wie ein Löwe") oder durch ein Verbum/Adjektiv des Scheinens, Gleichens etc. (totaler Vergleich: „ein Held gleicht einem Löwen"). Eine Durchdringung der beiden Sphären deutet sich beim partiellen Vergleich erst an, nimmt beim totalen Vergleich, der gleichwohl die Distanz noch anzeigt, zu, um sich bei der identifizierenden („der Held, ein Löwe in der Schlacht") und substituierenden Metapher („Reue zerfleischte den Helden") zu vollenden. Logisch weniger befriedigend ist die allerdings weithin übliche Einschränkung des Begriffs der Metapher auf die substituierende, wo der uneigentliche Ausdruck allein erscheint. Jedenfalls sind Metapher und Vergleich gleichursprüngliche Sprachbilder. Verglichen werden können Eigenschaften, Zustände, Vorgänge und Handlungen. Der Vergleichsbereich kann ein oder mehrere Wörter, einen oder mehrere (häufig hypothetisch formulierte) Sätze umfassen, welche dann starkes textliches Eigengewicht erlangen können (/" Gleichnis). Die syntaktische Einbindung wird in der Regel zumindest nachträglich geleistet und fehlt nur in seltenen Fällen (z.B. ,Iwein', v. 204—206: „irn suit iuwer gewonheit [d.h. des Spottens]/ durch nieman zebrechen./ der humbel [die Hummel] der soll stechen"). Vergleiche können primär surrogative (d. h. eine ,Lücke' in der bildlosen Sprache füllende), affektive, explikative oder ornative Funktion erfüllen. WortG: In der Gegenwartssprache bezeichnet Vergleich (abgesehen vom juristischen und sportlichen Bereich) sowohl die vergleichende Betrachtung als auch ihren sprachlichen Ausdruck, und hier wiederum sowohl die Verknüpfung der beiden Bereiche als auch den Vergleichsbereich allein. Das Wort ist ab dem 17. Jh. belegt, in dieser Bedeutung bei Adelung verbucht (Adelung 2 4, 1047 f.). Die gewöhnliche Form lautet aber im 18./19. Jh. Vergleichung, das auf die Sprache der Mystik zurückgeht (vergelichunge ,Abbild des göttlichen Urbildes'),

dort aber kein Stilphänomen meint, ebensowenig wie das spätmhd. Verb vergelîchen .ausgleichen'. Dafür steht im Mhd. geliehen u n d gelîchnis(se),

gelîchnus(se),

d a s in der

modernen poetologischen Terminologie meist einem bestimmten Vergleichstypus vorbehalten wird (s Gleichnis). Duden. Das große Wb. der dt. Sprache. Bd. 4. Mannheim u. a. 31999, S. 1534; Bd. 9. Mannheim u. a. 31999, S. 4215. - DWb 7, Sp. 8184-8204. DWb 25, Sp. 448 f. - Franz Pfeiffer (Hg.): Deutsche Mystiker des 14. Jhs. Bd. 2 [1857]. Repr. Aalen 1962, S. 326. - Wb. der dt. Gegenwartssprache. Hg. v. Ruth Klappenbach und Wolfgang Steinitz. Bd. 3. Berlin/DDR 1969, S. 1606; Bd. 6. Berlin/DDR 1976, S. 4052.

BegrG: Die griechische Grammatik nennt die .Darstellung einer unbekannten Sache durch Vergleich mit einer bekannten' όμόιωσις [homóiosis] und die Unterarten des Vergleichs παραβολή [parabolé] Vergleich von Unähnlichem', παράδειγμα [parádeigma] .beispielhaften Bericht eines historischen Geschehens', εικών [eikón] ,Vergleich ähnlicher Personen'. Die lateinische Grammatik übernimmt die Termini einfach in Transliteration, während die lateinische Rhetorik sie durch lateinische ersetzt und teilweise anders definiert: comparabile (simile) mit seinen Unterarten collatio

(comparatio),

exemplum,

imago.

Für

collatio ist auch similitude gebräuchlich, das aber auch den Oberbegriff bezeichnen kann. In der mittelalterlichen Theorie erscheint der Vergleich als wichtiges Mittel der /" Amplifica t io bei Galfred von Vinsauf (,Poetria nova', ν. 241—263). Die verwirrende Vielfalt — noch dazu ohne die nötige Ausgrenzung des bildlosen Vergleichs — setzt sich bis in die Aufklärung fort. Man folgt entweder einem der beiden Traditionsströme oder kombiniert sie, so etwa Fabricius (1,4, § 14; 2,1, § 19k) und Scaliger (3,49/50), der als Oberbegriff assimilatio wählt. Ihm folgt Vossius (5,10,1). Bei Gottsched (1,10,21 f.) gibt es n u r Gleichniß

(simile)

und

Verglei-

chung (comparatio), welche bloß „lebhafter" als jenes sei. Die neueren Handbücher der Rhetorik verzichten überwiegend auf die Unterarten — abgesehen von dem hier nicht weiter darzustellenden exemplum (/" Exempel) — und nennen den Oberbegriff meist

Verlag lat. similitude oder comparatio bzw. dt. Vergleich oder Gleichnis. (Im Engl, entsprechen simile, similitude, comparison, im Frz. comparaison.) Johann Andreas Fabricius: Philosophische Oratorie, Das ist: Vernünftige Anleitung zur gelehrten und galanten Beredsamkeit [1724]. Repr. Kronberg 1974. — Galfred von Vinsauf: Poetria nova. In: Les arts poétiques du XII e et du XIII e siècle [1924]. Hg. v. Edmond Farai. Repr. Genf, Paris 1982, S. 194-262. - Gerhard Johannes Vossius: Commentariorum rhetoricorum sive oratoriarum institutionum libri sex [1630]. Repr. Kronberg 1974.

ForschG: Im 19. und 20. Jh. konnten sich die spärlichen, zumeist altphilologisch inspirierten, z. T. auch bloß repertorienartigen literaturwissenschaftlichen Studien gegenüber der Masse bibelexegetischer Forschungen zu Gleichnis, Beispiel und Parabel wenig Gehör verschaffen. Die Behandlung des Vergleichs in der allgemeinen f Stilistik erfolgte zudem häufig unter ideologisch einseitigen (v. a. völkerpsychologischen und antirationalistischen) Prämissen. Die aus all diesen Bemühungen erwachsenen Ergebnisse scheinen der modernen sprachlogisch, pragmatisch und kommunikationstheoretisch orientierten Forschung kaum noch der Rede wert (richtungsweisend zuletzt P. Michel). Die — für die ästhetische Wirkung durchaus nicht irrelevante — lautsprachliche Oberflächenstruktur interessiert hier gegenüber der Tiefenstruktur (wo Metapher, Vergleich, Gleichnis, selbständige Gleichnisrede etc. weitgehend zusammenfallen) so gut wie gar nicht mehr. Lit: Danielle Bouverot: Comparaison et métaphore. In: Le français moderne 37 (1969), S. 132-147, 224-238, 301-316. Hennig Brinkmann: Zu Wesen und Form mittelalterlicher Dichtung. Halle 1928. - Ernst Elster: Prinzipien der Literaturwissenschaft. Bd. 2. Halle 1911. — Hermann Frankel: Die Homerischen Gleichnisse [1921]. Göttingen 2 1977. — Hermann Henkel: Das Goethesche Gleichnis. Halle 1886. - Adolf Jülicher: Gleichnissreden Jesu [ 2 1899, 1910], Repr. Darmstadt 1969. - Fritz Peter Knapp: Similitudo. Stil- und Erzählfunktion von Vergleich und Exempel in der lateinischen, französischen und deutschen Großepik des Hochmittelalters. Bd. 1. Wien, Stuttgart 1975. - F. P. K.: Zur logischen und grammatischen Struktur des

757

bildhaften Vergleichs in der Sprache der mittelhochdeutschen und neuhochdeutschen Klassik. In: ABÄG 14 (1979), S. 5 9 - 8 6 . - Lausberg, §422-425, 843-847. - Paul Michel: Alieniloquium. Elemente einer Grammatik der Bildrede. Frankfurt, Bern 1987. - Hermann Pongs: Das Bild in der Dichtung. Bd. 1 [1927], Marburg 2 1960. - Herbert Seidler: Allgemeine Stilistik. Göttingen 2 1963. - Gert Ueding, Bernd Steinbrink: Grundriß der Rhetorik. Stuttgart 2 1986. Rüdiger Zymner: Uneigentlichkeit. Paderborn 1991.

Fritz Peter Knapp

Vergleichende Literaturwissenschaft Komparatistik

Verifikation Analytische

Literaturwissenschaft

Verlag Gewerbebetrieb, der vornehmlich Druckerzeugnisse produziert und vermarktet. £xpl: Als Verlag bezeichnet man heute ein Unternehmen, das sich gewerbsmäßig mit der Vervielfältigung und dem Vertrieb von Druckerzeugnissen, u.a. literarischen Werken, Presseartikeln, Landkarten, aber auch Werken der Kunst und Tonkunst sowie elektronischen Medien befaßt. WortG/BegrG: Spätmhd. verlegen (von ahd. farlegan) bedeutete branchenunspezifisch ,Kostenvorlage', ,etwas auf eigene Rechnung nehmen' (Paul-Betz, 733). Hiervon wurden im 15. und 16. Jh. Verleger und Verlag abgeleitet (ebd., 732; Kluge-Seebold 23 , 858). Im wirtschaftshistorischen Kontext handelte es sich beim Verleger um einen Unternehmer, der aufgrund seiner Kreditfähigkeit Handwerker und Heimarbeiter mit der Herstellung verschiedener Produkte beauftragte, den Herstellungsprozeß finanziell bevorschußte, nach der Fertigstellung für den Vertrieb der Erzeugnisse verantwortlich zeichnete und den Gewinn einstrich. Der Verlag war deshalb neben Handwerk, Manufaktur und Industrie ein Produktionsbe-

758

Verlag

reich gewerblicher Betriebe. Verlag und verlegen fanden so als ökonomisches Fachvokabular Verwendung; die Begriffe wurden erst im 17. Jh. als Fachtermini des herstellenden ? Buchhandels gebräuchlich. Das ,Verlagssystem' galt im 17. und 18. Jh. als dominierende Betriebsform in der Kleinwarenproduktion und Textilbranche. Die buchhandelsspezifisch eingeengte Bedeutung korrespondierte der älteren, da der Verleger auf eigene Rechnung Druckkosten und /" Distribution eines Druckerzeugnisses übernahm. Von der Wiedereinführung des Begriffes verlegen in den Sprachgebrauch industrieller Produktionsprozesse im 19. Jh., z.B. im Brauereiwesen {Bierverleger), distanzierte sich der herstellende Bereich des Buchhandels durch die Begriffe Verlagsbuchhandel und Verlagsbuchhändler. Konversationslexika des 19. Jhs. verzichteten in der Folge auf eigenständige Artikel ,Verlag' und ,Verleger' und ordneten diese dem ,Buchhandel' als Gesamtheit literarischer Vermittlungssysteme zu. Neuaufnahme fanden dagegen die Lemmata Verlagsrecht' und ,Verlagsvertrag'.

ker-Verleger zur Einführung und Durchsetzung des währungsunabhängigen und damit grenzüberschreitenden Tauschhandels, bei dem unabhängig von drucktechnischer und literarischer Qualität des Tauschobjekts strikt Bogen gegen Bogen gehandelt wurde. Der Tauschhandel führte jedoch zu einer eklatanten Überproduktion. Erst Philipp Erasmus Reich (1717— 1787), der zu den engagiertesten Gegnern des Tauschhandels zählte, setzte für seine eigene Verlagsproduktion den Barzahlungsverkehr durch. Die Verlagsartikel der Leipziger Verlagsunternehmen, die sich Reichs Vorstoß anschlossen, wurden den Sortimenter-Verlegern (die neben ihrem Verlag einen Buchhandel unterhielten) ausschließlich gegen Barzahlung mit einem Handelsrabatt sowie unter Ausschluß eines Rückgaberechts offeriert. Die Durchsetzung des sog. Nettosystems auf Kosten der SortimenterVerleger forcierte zwei wichtige Entwicklungen des Buchmarktes im 18. Jh., nämlich die Ausbildung des sog. ,reinen Verlegers', der Druck und Verkauf aus seinem Unternehmen ausgliederte, und die inflationäre Herstellung und Verbreitung von unrechtSachG: Mit der praktischen Umsetzung von mäßigen Nachdrucken (/" Urheberrecht). Der Gutenbergs drucktechnischen Innovationen systematische Nachdruck norddeutscher Ver( /* Druck, ? Reproduktionsverfahren) ent- lagsartikel in Süd- und v. a. Mitteldeutschstand in Europa ein literarisches Vermitt- land, der die Verbreitung von Aufklärungslungssystem, in dem die Durchführung der schriften im deutschsprachigen Raum ungedruck- und vertriebstechnischen Tätigkeiten mein förderte, empörte nicht nur die sächin Personalunion — anfangs allerdings noch sischen Nettohändler, sondern auch die keineswegs zwingend — als typisch galt. Die Autoren, die Formen des SELBSTVERLAGS sog. Drucker-Verleger des frühneuzeitlichen (d.h. der Übernahme der Verleger-FunkBuchmarktes, die Herstellung und Vertrieb tion durch die Autoren selbst) erprobten von Druckerzeugnissen betrieben, versorg- (Klopstocks ,Gelehrtenrepublik', 1774; Desten einen gesamteuropäischen Markt, wie sauer Gelehrtenbuchhandlung 1781-1785). ζ. B. das Nürnberger Verlagshaus Anton Mit der ,Nürnberger Schlußnahme' von Koberger um 1500. Der kostenintensive Be- 1788 erwirkten die Sortimenter im Deuttrieb einer modernen Buchdruckerei (einer schen Reich die Einführung des KondiOFFIZIN) erwies sich auf die Dauer als untionsverkehrs, d. h. eine ganzjährige Zusenrentabel. Die ökonomisch nachteilige Un- dung von Verlagsnovitäten mit garantierternehmensstruktur bildete den Ausgangs- tem Remissionsrecht. Damit wurde das Gepunkt für einen fortschreitenden Differen- schäftsrisiko an die Verleger zurückverwiezierungsprozeß von Herstellung, Vertrieb sen. und Verkauf, der jedoch erst im 19. Jh. seiDiese neue buchhändlerische Verkehrsnen Abschluß finden sollte. form führte zur Aufgabe der VerlagsproDie europäische Währungsvielfalt, von der das neuzeitliche merkantilistische Wirtschaftssystem geprägt war, zwang die Druk-

duktion durch die Sortimenter und ermöglichte die endgültige Trennung der Bereiche Herstellung, Vertrieb und Verkauf. Die aus-

Verlag

759

schließliche Übernahme des Verkaufsrisikos scher Verlags; der Malik-Verlag W. Herzfeldurch die Verleger hatte allerdings eine Sta- des). Nach 1945 waren die Neuorganisation gnation des Bücherumsatzes zur Folge, der deutschen Verlagslandschaft und die denn die Sortimenter sahen keine betriebs- Vergabe von Neulizenzierungen von der jewirtschaftliche Notwendigkeit für enga- weiligen Literaturpolitik der einzelnen Begierte Buchwerbung. Diesem Defizit begeg- satzungszonen abhängig. neten seit den 1860er Jahren zunehmend die Buchpolitik und Organisation des BuchKolportageverleger, die sich unter Umge- handels wurden in der DDR von Staats wehung des vertreibenden Buchhandels mit in- gen organisiert; dennoch funktionierte ein novativen Absatzstrategien direkt an den bescheidener, aber wichtiger innerdeutscher Konsumenten wandten ( / Kolportage). Seit Literaturaustausch. Die deutsche Wiederder Jahrhundertwende bemühten sich die vereinigung im Jahr 1990 führte zur grundVerleger zunehmend um mögliche Absatz- legenden Neustrukturierung des nunmehr steigerungen durch eine augenfällige Buch- gesamtdeutschen Verlagswesens. Die 1990er gestaltung und kundenorientierte Buchprä- Jahre waren von zahlreichen Verlagsneusentation. gründungen sowie einer starken KonzentraParallel zur Ausbildung und fortschrei- tionsbewegung von Großkonzernen sowie tenden Spezialisierung des Wissenschafts- einer fortschreitenden Expansion von elekverlags etablierten sich im belletristischen tronischen Medien geprägt. Literaturbetrieb neben dem Klassiker- und Publikumsverlag die Kulturverleger (ζ. B. ForschG: Im 19. Jh. waren auch die BuchSamuel Fischer, Kurt Wolff), die sich — in geschichte und Verlagsgeschichtsschreibung Abgrenzung zur Massenliteratur — durch noch stark von der positivistisch orientierdie Förderung bestimmter Autoren und lite- ten Forschung bestimmt (ζ. B. Goldfriedrarischer Strömungen ein individuelles Ver- rich/Kapp). In der 1. Hälfte des 20. Jhs. lagsprofil erarbeiteten. Diese Aufgabe über- dominierten interdisziplinäre Fragestellunnahm das um die Jahrhundertwende institu- gen und Methodenpluralismus die wissentionalisierte Lektorat (die Tätigkeit des LEK- schaftliche Auseinandersetzung mit dem Medium Buch. In den 1950er Jahren rückten TORS umfaßt daneben u. a. die Prüfung von Manuskripten; KORREKTOREN sind lediglich die Erfindungen Gutenbergs und ihre Wirfür die Fehlerkorrektur beim Schriftsatz zu- kungsgeschichte in den Mittelpunkt; gelten die Wechselwirkungen zwischen Technikständig). Der Literaturbetrieb der 1920er Jahre und Geistesgeschichte für das Zeitalter der stand unter dem Eindruck einer Gründungs- Reformation als relativ gut erforscht, so prowelle von politisch, ideologisch und konfes- fitierte die auf die folgenden Jahrhunderte sionell ausgerichteten Buchgemeinschaften. bezogene Literaturwissenschaft erst in den Die neuen audiovisuellen Medien, ζ. B. letzten Jahren von den Fortschritten in der Hörspiele, Stummfilm und früher Tonfilm, Verlagsgeschichtsschreibung. Wegweisende vermochten das Interesse nach den Buch- Studien legten Ueding für Hamburg (Vervorlagen zu wecken und belebten den Buch- lagshaus Hoffmann & Campe) und Wittmann (1982) für Stuttgart (Metzler'sche Vermarkt beträchtlich. lagshandlung) bereits zu Beginn der 1980er Im ,Dritten Reich' unterstanden der LiteJahre vor; sie waren für spätere Darstellunraturbetrieb und die Buchpolitik der totaligen (ζ. B. Bürger) vorbildhaft. tären Gleichschaltung'. Die zunehmende In den 1960er Jahren galt das Interesse politische Verfolgung von progressiven Verlegern und die systematische Arisierung jü- von sozialhistorisch interessierten Germanidischer Verlagsunternehmen veranlagte sten bevorzugt lesersoziologischen Fragezahlreiche Vertreter des literarischen Lebens stellungen, ζ. B. nach den kulturellen Rahzur Emigration; sie gründeten im europäi- menbedingungen für Autoren und Verleger, schen und außereuropäischen Ausland ein- nach Leserschichten und LektürepräferenDas flußreiche Exilverlage (z. B. G. Bermann Fi- zen (/" Leser, f Literatursoziologie). schers Nachfolge-Unternehmen des S. Fi- Erkenntnisinteresse beschränkte sich jedoch

760

Vers

weitgehend auf die Aufarbeitung der Klassiker- und Publikumsverlage, im Vordergrund stand die Beschäftigung mit Verlegerpersönlichkeiten und ihrer Bedeutung für die literarische Kanonbildung (/" Kanon). Erst in den vergangenen 20 Jahren widmeten sich verschiedene Studien verstärkt dem Autoren-Verleger-Verhältnis sowie den wirtschafts- und sozialhistorischen Rahmenbedingungen des Verlegers. In das Blickfeld der Forschung rückte neuerdings der Prozeß der Institutionalisierung und Professionalisierung des Lektorats im Verlagssystem seit der Wende zum 20. Jh., zumal die Bedeutung des Lektors für die Entstehung und Förderung von literarischen Strömungen (bis hin zur Gegenwartsliteratur) kaum zu unterschätzen ist (Schneider). Die Geschichte des wissenschaftlichen Verlagswesens sowie die Literaturversorgung des gelehrten Publikums durch den Buchhandel ist für die Buch- und Wissenschaftsgeschichte gleichermaßen eine der wichtigsten und dennoch kaum bearbeiteten Fragestellungen (vgl. aber Jäger 1990). Im Kontext einer fortschreitenden Medienkonkurrenz seit dem ausgehenden 20. Jh. richtet sich das Augenmerk der Buch- und Medienwissenschaftler zunehmend auf den Wandel der Wissensvermittlung im Kontext der fortschreitenden Netzkommunikation (Internet) und die zukünftige kulturelle Funktion des Mediums Buch in einem von elektronischen Netzwerken dominierten Informationsprozeß. Lit: Thomas Bürger: Aufklärung in Zürich. Die Verlagsbuchhandlung Orell, Gessner, Füssli & Comp, in der zweiten Hälfte des 18. Jhs. Frankfurt 1997. - Stephan Füssel: Das Buch in der Medienkonkurrenz der zwanziger Jahre. In: Gutenberg-Jb. 1996, S. 322-340. - S. F.: Studien zur Verlagsgeschichte und zur Verlegertypologie der Goethe-Zeit. Berlin, New York 1999. - Johann Goldfriedrich, Friedrich Kapp: Geschichte des Deutschen Buchhandels. 4 Bde. Leipzig 1886-1913. - Frank Holl: Produktion und Distribution wissenschaftlicher Literatur. Der Physiker Max Born und sein Verleger Ferdinand Springer 1913-1970. In: AGB 45 (1996), S. 3 225. - Georg Jäger: Buchhandel und Wissenschaft. Zur Ausdifferenzierung des wissenschaftlichen Buchhandels. Siegen 1990. - G. J.: Keine Kulturtheorie ohne Geldtheorie. Grundlegung ei-

ner Theorie des Buchverlags. In: Empirische Literatur- und Medienforschung. Hg. v. Siegfried J. Schmidt. Siegen 1995, S. 24-40. - Mark Lehmstedt, Siegfried Lokatis (Hg.): Das Loch in der Mauer. Der innerdeutsche Literaturaustausch. Wiesbaden 1997. - W. Robert Müller (Hg.): Elektronisches Publizieren. Wiesbaden 1998. Hazel Rosenstrauch: Buchhandelsmanufaktur und Aufklärung. Die Reformen des Buchhändlers und Verlegers Ph. E. Reich (1717-1787). Frankfurt 1986. - Ute Schneider (Hg.): Das Lektorat - eine Bestandsaufnahme. Wiesbaden 1997. - Eduard Schönstedt: Der Buchverlag. Stuttgart 1991. — Gert Ueding: Hoffmann und Campe. Ein deutscher Verlag. Hamburg 1981. — Reinhard Wittmann: Ein Verlag und seine Geschichte. 300 Jahre J. B. Metzler Stuttgart. Stuttgart 1982. — R. W.: Geschichte des deutschen Buchhandels. München 1991. Christine

Verriß

Haug

Polemik

Vers Formelement von gebundener Rede. Expl: Ein Vers ist eine in Maßverhältnissen geordnete Wortreihe innerhalb eines Verbundes mehrerer gleicher oder anderer Reihen. Als Minimalbestimmung von Vershaltigkeit gilt eine „Beziehung durch Anordnung" (Tynjanov, 72). In historisch-begrifflicher Hinsicht sind im Deutschen bis zum Aufkommen des Freien Verses ein metrisches Schema (/* Versmaß) und dessen Erfüllung, nach R. Jakobson ,verse design' und ,verse instance' (Jakobson, 364), klar zu scheiden, dies auf Grundlage einer je historisch bestimmten Verstypologie. Aber auch wo der Vers sich in der Moderne von der Konventionalität einer Regelmetrik abgewandt hat, bleibt in Abgrenzung zur / Prosa seine formale Auszeichnung als normabweichende Segmentierung eines Textes in nicht graphisch bedingte Zeilen (Fricke, 168—182). Lexikalische und syntaktische Freiheiten und Verwerfungen (S Metaplasmen) sind charakteristisch, aber historisch variabel und bestimmen deshalb nicht den Begriffsinhalt.

Vers Üblicherweise wird der Vers in drei Zonen geschieden: den Beginn (/" Auftakt), die Binnengestaltung (" Schwänke2, ? Maeren, historische Berichte, s Exempel, Sprüche). Die Verfasser sind überwiegend anonym. Die dominierende Form — der in Frankreich die ,farce' und ,sottie' entsprechen — ist das zumeist als Einkehrspiel präsentierte /" Fastnachtspiel. Durch Umfang und Aufführungsform (Marktspiele) profilieren sich daneben die auf Neidhartschwänken (/" Neidhart iana) beruhenden Neidhartspiele als eigenständige Gattung, vergleichbar mit den auf der geistlichen Simultanbühne präsentierten frz. und nl. Spielen. Dagegen konstituieren die .Frühlings-' (Catholy) oder ,Jahreszeitenspiele' (Linke) — der Streit zwischen Winter und Sommer (Arnheim 1404) oder Frühling und Herbst (.Alemannisches Spiel vom Herbst und Mai', Hs. um 1500)

Ruth Schmidt-Wiegand

Wellerismus s Sprichwort Weltgerichtsspiel / Geistliches Spiel

Weltliches Spiel Sammelbezeichnung für theatrale Inszenierungen karnevalesker, schwankhafter, episch-historischer, didaktischer und politischer Stoffe in Mittelalter und Früher Neuzeit.

Weltliches Spiel — keinen eigenen Spieltyp; dieser Streit ist nur einer der dramatisierten KleinepikStoffe. Indem auch religiöse Stoffe verarbeitet werden, ist der Übergang zum Geistlichen Spiel fließend. Unterscheidungskriterium könnte die fehlende liturgische Anbindung an das Kirchenjahr sein. Moralischdidaktische, politische und (nach der Reformation) konfessionspolemische Fragen behandeln die weltlichen ? Moralitäten (Lübeck, Schweiz). Aus den überwiegend indirekten Nachrichten über Aufführungen ist nicht immer sicher zu erschließen, wo es sich um ausgearbeitete Texte, dargestellt auf einem Bühnengerüst, wo um Wagenspiele, wo um Umzüge oder sonstige Festdarbietungen handelte; es gibt vielfaltige Zwischentypen. WortG: Als Gattungstermini sind Nithart spil seit 1432 (Baden, Schweiz) und vasnachtspil seit 1442 (Eger/Cheb) häufig zu belegen. Das ,Neithart spil' (Spieltitel in Hss., Aufführungsbelege) - Variante: ,Neitharts tanz' — wird nie vasnachtspil genannt. Der Nürnberger Schulrektor Leonhard Culmann verwendet Weltliches Spiel erstmals um 1539 („und auch lust und lieb habt / geistliche und weltliche spil zuo hören und lesen"; zit. n. Senger 196, 524). Wie Culmann bezeichnet Hans Sachs (Folioausgabe von 1561) mit weltlich seine historischen Spiele — die „alt histori, auß den poeten und geschichtschreibern" dramatisieren — und unterscheidet sie von „geistlich spiel" und „faßnacht-spiel" (zit. n. Klein, 40). Erst die neuere Forschung hat den Begriff eingeführt, um auf andere Formen des Weltlichen Spiels neben dem in der Textüberlieferung dominierenden Fastnachtspiel zu verweisen. BegrG: Wie Sachs bezieht Creizenach (1911) zeitliches Drama' auf literarischhistorische Spiele (frz. Geschichtsspiele; nl. ,abele speien': ,ernste, kunstvolle Spiele'), die er vom ,komischen Drama' (Possen, Fastnachtspiele, Farcen) unterscheidet (so noch Schoell 1975). In der frz. Forschung gilt der Begriff .théâtre médiéval profane et comique' (Aubailly 1975). Die neuere deutsche Forschung verwendet .weltlich' (Kin-

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dermann: ,das weltliche Theater') als Oppositionsbegriff zu .geistlich'. Nach einem Ansatz bei Bauer (1984) verschaffte Linke (1987) dem Begriff Geltung, verweist jedoch mittlerweile auf seine Problematik (Linke 2001): In der Thematik (geistliche Fastnachtspiele), dem Figurenarsenal und der Inszenierung (Simultanbühne) bestehen Verbindungen zwischen .Geistlichen' und .Weltlichen' Spielen, mit besonders intensivem Austausch in Tirol (Osterspiele — Arztspiele). Simon (2003) hat Aufführungsort und -anlaß als Unterscheidungsmerkmale herausgearbeitet und auf die schwierige Abgrenzung von anderen Aufführungstypen hingewiesen. SachG: Das Weltliche Spiel erscheint zuerst in Frankreich, wo Adam de la Halle in seinem .Jeu de la feuillée' (.Laubenspiel', 1276) seinen Abschied aus Arras karnevalesk inszeniert und im ,Jeu de Robin et Marion' (Neapel, um 1284) die /" Pastourelle zu einem / Singspiel dramatisiert. Die .Estoire de Griseldis' (1395) führt zu umfangreichen historischen Spielen: .Mystère du siège d'Orléans'; Jacques Milet: .Histoire de la destruction de Troye la grant' (1450—1452). Dominante Gattungen sind die auch als Einlagen in Geistlichen Spielen aufgeführten Farcen (seit etwa 1440) und die von Narrenvereinigungen präsentierten ,sotties' (bis etwa 1560). Mit den in der Van Hulthemschen Sammelhs. (1405-1408 in oder bei Brüssel) aufgezeichneten vier ,abele speien' beginnt das nl. Weltliche Spiel. Auf jedes der Liebesund Abenteuerromane dramatisierenden ,ernsten' Spiele folgt eine Posse (,sotternie') zum Thema ,böses Weib'. In England sind Weltliche Spiele nur randläufig vertreten: Interludium ,De clerico et puella' (1300— 1325), Robin-Hood-Spiele (seit 1427 belegt). Zwei etwa gleichzeitig (1370/80) aufgezeichnete Texte (obdt., nd.) markieren die Anfänge des deutschen Weltlichen Spiels: das ,St. Pauler (schwäbische) Neidhartspiel' und das Fastnachtspiel ,Septem mulieres: Sieben Frauen und ein Mann' (Keller, Nr. 122). Der erste dokumentarische Beleg betrifft ein nd. Neidhartspiel (Arnheim, Fastnachtsdienstag 1395: ,her Nyters spil').

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Weltliches Spiel

Neidhartspiele halten sich zwei Jahrhunderte lang im Fastnacht-Repertoire (letzter Aufführungsbeleg: Salzburg 1558). Unter den Stoffen sind die wichtigsten Typen der zeitgenössischen Literatur vertreten. Die bislang ermittelten rund 500 Aufführungsbelege verteilen sich auf ca. 60 Städte; sechs Spiellandschaften zeichnen sich ab (Simon 2003): (1) Arnheim (27 Aufführungsbelege für 1395—1523): Spiele der Gesellen auf dem Marktplatz. (2) Nürnberg (27 Aufführungsbelege für 1474-1532; über 100 Texte): Fastnachtspiele. (3) Lübeck (etwa 130 Aufführungsbelege für 1430—1539; erhalten nur zwei Texte): Veranstalter sind Bruderschaften aus der Oberschicht der Stadt; Aufführung auf Wagenbühnen (,borch')· (4) Eger/Cheb (22 Aufführungsbelege für 1442—1530): Spiele von Handwerkern und Schülern auf dem Markt oder im Rathaus. (5) Sterzing/Bozen: Neidhartspiele; Bearbeitungen von Nürnberger Fastnachtspielen durch Vigil Raber zwischen 1510 und 1535. (6) Schweiz: umfangreiche Fastnachtspiele; Vaterländische Schauspiele; nach 1523 konfessionspolitische Spiele (/" Reformationsdr amò). Darsteller der Weltlichen Spiele waren junge Männer (,gesellen') aller sozialen Schichten, nicht nur Handwerker, daneben unter der Leitung des Schulmeisters auch Schüler der Kirchen- und Stadtschulen. In der Stadt hatte das Weltliche Spiel kommunikative Funktion, weil sich die Gesellschaftsschichten in der Fastnachtsfeier zwangloser begegneten. Durch Inszenierungen auf dem Markt (Forum städtischer Wirtschaft, Macht und Kultur) ehrten Bürgersöhne die Stadt und förderten ihr Ansehen. ForschG: Seit der editorischen Erschließung der Texte (zuletzt Margetts 1982; 1986) war die Forschung auf das Fastnachtspiel konzentriert; insbesondere die interpretatorischen und funktionsgeschichtlichen Aspekte wurden dort herausgearbeitet. Darüber hinaus rückten nur Einzelaspekte in den Blick. Eine das europäische Weltliche Spiel umfassende Forschung gibt es nicht. Die neuere Forschung ist theater- und kul-

turgeschichtlich orientiert, untersucht Texte und Belege als Aufführungen und dokumentiert verschiedene lokalbedingte Anfänge. Sie beobachtet die fastnächtliche Festkultur (Marktturniere, Schauzüge, -läufe, -tänze, mimierte Spiele) als Aufführungskontext (urbane Theatralität) der verbalen Spiele (Simon 2003). Lit: Werner M. Bauer (Hg.): Sterzinger Spiele. Wien 1982. - Adelbert v. Keller (Hg.): Fastnachtspiele aus dem fünfzehnten Jahrhundert. 4 Bde. [1853-1858]. Repr. Darmstadt 1965. John Margetts (Hg.): Neidhartspiele. Graz 1982. - J. M. (Hg.): Die mittelalterlichen NeidhartSpiele, in Abbildungen der Handschriften. Göppingen 1986. Heather Arden: Fools' plays. Cambridge 1980. - Jean-Claude Aubailly: Le théâtre médiéval profane et comique. Paris 1975. - Werner M. Bauer: ,Spiele, Mittelalterliche weltliche (Fastnachtspiel)'. In: RL 2 4 [1984], S. 100-105. Eckehard Catholy: Das Fastnachtspiel des Spätmittelalters. Tübingen 1961. — Wilhelm Creizenach: Geschichte des Neueren Dramas. Bd. 1 [21911], Repr. New York 1965, S. 364-379, 380—460. — Konrad Gusinde: Neidhart mit dem Veilchen [1899]. Repr. Hildesheim 1977. - Heinz Kindermann: Theatergeschichte Europas. Bd. 1. Salzburg 2 1966, S. 393-450. - Dorothea Klein: Bildung und Belehrung. Untersuchungen zum Dramenwerk des Hans Sachs. Stuttgart 1988. Hansjürgen Linke: Vom Sakrament bis zum Exkrement. In: Theaterwesen und dramatische Literatur. Hg. v. Günter Holtus. Bern 1987, S. 1 2 7 164. - H. L.: Weltliche Spiele. In: Die deutsche Literatur im späten Mittelalter, 1250-1370. Hg. v. Ingeborg Glier. München 1987 (= Helmut de Boor, Richard Newald: Geschichte der deutschen Literatur. Bd. 3/2), S. 227-230. - H. L.: Unstimmige Opposition: .geistlich' und .weltlich' als Ordnungskategorien der mittelalterlichen Dramatik. In: Leuvense bijdragen 90 (2001), S. 7 5 126. - Konrad Schoell: Das komische Drama des französischen Mittelalters. München 1975. — Matthias Wilhelm Senger: Leonhard Culmann. Nieuwkoop 1982. — Eckehard Simon: Die Anfänge des weltlichen deutschen Schauspiels, 1370-1530. München, erscheint 2003. - Elsa Strietman: The low countries [abele speien]. In: The theatre of the middle ages. Hg. v. Eckehard Simon. Cambridge 1991, S. 227-237. - David Wiles: The early plays of Robin Hood. Cambridge 1981.

Eckehard Simon

Weltliteratur

Weltliteratur Gegenstandsbereich der ,Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft'. Expl: Die Bezeichnung Weltliteratur wird umgangssprachlich in doppelter Bedeutung gebraucht. (1) Quantitativ meint sie die Gesamtheit der Literaturen bzw. der literarischen Werke der ganzen Welt, und zwar aller Epochen und Gattungen. (2) Qualitativ meint sie die international anerkannten Spitzenwerke unter ihnen. Aus literaturwissenschaftlicher Sicht sind beide Bedeutungen (nach Aldridge, 55 f.: universal literature vs. world literature) gleichermaßen problematisch. Denn soll Weltliteratur den Gegenstandsbereich der Komparatistik ausmachen (wie die deutsche Literatur der letzten Jahrhunderte den der ,Neueren deutschen Literaturwissenschaft'; ? Germanistik), dann darf und kann sie nicht einfach mit der Gesamtheit aller literarischen Werke oder gar (im Sinne des erweiterten Begriffs von /" Literatur) aller Texte überhaupt gleichgesetzt werden. Demgegenüber verspricht ein qualitatives Verständnis von Weltliteratur zwar eine Überschaubarkeit dieses Felds; nur ist faktisch kein weltweiter Konsens über einen solchen supranationalen /" Kanon und die ihm zugrundeliegenden Kriterien in Sicht (S Wertung). Einen Ausweg aus diesem Dilemma (und damit einen terminologisch praktikablen Wortgebrauch) bietet Goethes Verständnis des von ihm geprägten Begriffs der Weltliteratur im Sinne einer tendenziell,weltweiten literarischen Kommunikation'. WortG: Der Ausdruck Weltliteratur geht nicht — wie gelegentlich behauptet (so Lange, 23) - auf A. W. Schlegels Berliner .Vorlesungen über schöne Literatur und Kunst' (1801-1804) zurück. Vielmehr ist dieses Kompositum zuerst um 1810 bei Wieland handschriftlich nachweisbar als Ersatzwort für Gelehrsamkeit, Wohlbelesenheit und Politesse (vgl. Weitz, Bohnenkamp). Weltweit durchgesetzt hat es sich als Begriffsprägung des späten Goethe ab 1827 (WAIII. 11, 8; öffentlich zuerst FA I. 22, 356): „National-Literatur will jetzt nicht viel sagen, die Epoche der Welt-Literatur ist

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an der Zeit und jeder muß jetzt dazu wirken, diese Epoche zu beschleunigen" (FAII. 12, 224 f.; ähnlich FA I. 22, 356). Seine Skepsis hinsichtlich des deutschen Beitrags dazu zeigt eine 1829 veröffentlichte Thesengruppe: „Jetzt, da sich eine Weltliteratur einleitet, hat, genau besehen, der Deutsche am meisten zu verlieren; er wird wohl thun dieser Warnung nachzudenken" (FAI. 13, 2.29.1.-7.). Ausgehend von diesem vielfältig belegten Wortgebrauch des späten Goethe (vgl. Birus 1995b) wurde seine Proklamation einer ,Epoche der Weltliteratur' einerseits von den Jungdeutschen bis hin zu Marx und Engels positiv aufgenommen. So heißt es im kommunistischen Manifest': „Die nationale Einseitigkeit und Beschränktheit wird mehr und mehr unmöglich, und aus den vielen nationalen und lokalen Literaturen bildet sich eine Weltliteratur" (Marx/Engels, 466). Andererseits polemisierte z.B. W. Menzel heftig dagegen, daß man „die bisherige Nationalliteratur vernichten und eine .Weltliteratur' an ihrer Stelle setzen" wolle (Menzel, 344). Wie das Beispiel des linksliberalen russischen Kritikers Belinskij zeigt (vgl. Zirmunskij, 195-257), sind beide Traditionslinien bei der weltweiten Verbreitung der Bezeichnung Weltliteratur wirksam gewesen. Karl Marx, Friedrich Engels: Werke. Bd. 4. Berlin 31974, S. 459-493. - Wolfgang Menzel: Die deutsche Literatur. Bd. 4. Stuttgart 2 1836. Hans-J. Weitz: ,Weltliteratur' zuerst bei Wieland [1987]. In: H.-J. W.: Der einzelne Fall. Weimar 1998, S. 349-352. - V[iktor] M[aksimovic] Zirmunskij: Gete ν russkoj literature [,Goethe in der russischen Literatur', 1936], Leningrad 1981.

BegrG: Der Grundgedanke seiner Konzeption ,Weltliteratur' ist von Goethe bereits 1801 ausgesprochen worden (vgl. Strich, 49): „daß es keine patriotische Kunst und patriotische Wissenschaft gebe. Beide gehören, wie alles Gute, der ganzen Welt an und können nur durch allgemeine, freie Wechselwirkung aller zugleich Lebenden, in steter Rücksicht auf das was uns vom Vergangenen übrig und bekannt ist, gefördert werden" (FAI. 18, 491; leicht abgewandelt in FA I. 13, 1.344.). Goethe ist damit zu einem ,Diskursivitätsbegründer' (vgl. Fou-

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Weltliteratur

cault, 804 f.) der internationalen Literaturkritik wie der Komparatistik geworden. Doch schon seine ursprünglichen Adressaten, erst recht aber ihre Nachkommen, rezipierten ihn mit charakteristischen Verkürzungen. So wurde in ,Le Globe' (1.11.1827) zwar der Begriff „allgemeine Weltliteratur" beifallig aufgenommen, zugleich aber umstandslos übersetzt mit „littérature occidentale ou européenne" (,abendländische oder europäische Literatur'; vgl. FA I. 22, 427 f. und 1238). Wurde in Deutschland einerseits Goethes ,Epoche der Weltliteratur' seit Menzel als flacher Kosmopolitismus bekämpft (s.o.; näher dazu Birus 1995a/b), rühmte andererseits noch Thomas Mann an Goethes Idee deren „Zug ins Große und Weltweite" wie besonders „die Erkenntnis [...], daß die Zeit gekommen sei, wo nur noch das Weltfahige eigentlich an der Tagesordnung sei" (Th. Mann, 174—176). Schließlich wurde Goethes Begriff zunehmend ein ,,normative[r] Sinn" (so Gadamer, 167) unterlegt und .Weltliteratur' nicht mehr als zu befördernder internationaler „Wechseltausch" (FA I. 22, 434) begriffen, sondern vergegenständlicht zu einem „ehrwürdige[n] Bildersaal" und „ungeheuren Schatz [...] der Dichter und Denker vieler Völker" (Hesse, 150 und 147 f.), wenn nicht gar zu einem „Pandämonium [...], in dem sich Cervantes und Rabelais, Dante und Voltaire zunicken" (Krauss, 347 f.). Michel Foucault: Qu'est-ce qu'un auteur? In: M. F.: Dits et écrits. Bd. 1. Paris 1994, S. 7 8 9 821. — Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode. Tübingen 51986. - Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke [Frankfurter Ausgabe, FA], Frankfurt 1985 ff. - J. W. G.: Werke [Weimarer Ausgabe, WA], Weimar 1887-1919. Hermann Hesse: Eine Bibliothek der Weltliteratur. In: H. H.: Über Literatur. Hg. v. Fritz Hofmann. Berlin, Weimar 1978, S. 147-181. - Werner Krauss: Probleme der vergleichenden Literaturgeschichte. In: W. K.: Zur Dichtungsgeschichte der romanischen Völker. Leipzig 1965, S. 100-113, 345-348. - Thomas Mann: Leiden und Größe der Meister. Hg. v. Peter de Mendelssohn. Frankfurt 1982, S. 145-180.

ForschG: Die Erforschung des Weltliteratur-Begriffs fand ihren ersten Höhepunkt in Fritz Strichs umfassender Darstellung

,Goethe und die Weltliteratur' (1946, 1957). Daran anknüpfend konnte einerseits die Goethe-Philologie wie überhaupt die germanistische Forschung zum ausgehenden 18. und zum 19. Jh. die historischen Voraussetzungen, Implikationen und Rezeptionsweisen dieses Begriffs detailliert ans Licht bringen (u.a. Strich, Bender/Melzer, Weber, Birus 1995a/b, Bohnenkamp sowie RL 2 4, 815-827). Andererseits hat die komparatistische s Marxistische Literaturwissenschaft den Goetheschen Begriff der Weltliteratur um so begieriger aufgegriffen, als seine uneingeschränkt positive Verwendung im kommunistischen Manifest' wie auch seine Herkunft aus dem ,klassischen Kulturerbe' (S Erbetheorie) einen Schutzschild gegen den stalinistischen Vorwurf des .wurzellosen Kosmopolitismus' bot (vgl. u. a. Girnus, Träger, Gorskij, Turaev). Doch über diese historische Konstellation hinaus hat sich der Begriff der Weltliteratur dank seiner Unersetzlichkeit für eine systematische Gegenstandsbestimmung der Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft als einer ihrer Schlüsselbegriffe erwiesen (vgl. u.a. Rüdiger, Konstantinovic, Steinmetz, Vajda). 2

Lit: Α. Owen Aldridge: The reemergence of world literature. Newark u. a. 1986. - Erich Auerbach: Philologie der Weltliteratur [1952], In: Ε. Α.: Gesammelte Aufsätze zur romanischen Philologie. Bern, München 1967, S. 301-310. Helmut Bender, Ulrich Melzer: Zur Geschichte des Begriffes .Weltliteratur'. In: Saeculum 9 (1958), S. 113-123. - Hendrik Birus: Am Schnittpunkt von Komparatistik und Germanistik: Die Idee der Weltliteratur heute. In: Germanistik und Komparatistik. Hg. ν. Η. B. Stuttgart, Weimar 1995[a], S. 439-457. - Η. B.: Goethes Idee der Weltliteratur. In: Weltliteratur heute. Hg. v. Manfred Schmeling. Würzburg 1995[b], S. 5—27. - Anne Bohnenkamp: „Den Wechseltausch zu befördern". Goethes Entwurf einer Weltliteratur. In: FA I. 22, S. 937-964. - [René] Etiemble: Faut-il réviser la notion de .Weltliteratur' [1964]? In: R. E.: Essais de littérature (vraiment) générale. Paris 31975, S. 15-36. - R. E.: Ouverture(s) sur un comparatisme planétaire. Paris 1988. — Wilhelm Girnus: Weltgeschichte und Weltliteratur. In: Hegel-Jb. 1971, S. 260-267. I. Κ. Gorskij. Dva ponjatija mirovoj literatury [.Zwei Auffassungen von Weltliteratur']. In: Izvestija Akademii nauk SSSR. Ser. Literatury i ja-

Welttheater zyka 47 (1988), S. 499-511. - Manfred Koch: Weimaraner Weltbewohner. Zur Genese von Goethes Begriff .Weltliteratur'. Tübingen 2002. - Zoran Konstantinovic: Weltliteratur. Strukturen, Modelle, Systeme. Basel u.a. 1979. — Victor Lange: Nationalliteratur und Weltliteratur. In: Goethe-Jb. NF 33 (1971), S. 15-30. - Horst Rüdiger: .Literatur' und ,Weltliteratur' in der modernen Komparatistik. In: Weltliteratur und Volksliteratur. Hg. v. Albert Schaefer. München 1972, S. 3 6 - 5 4 . - H. R.: Europäische Literatur - Weltliteratur. Goethes Konzeption und die Forderungen unserer Epoche [1981]. In: H. R.: Goethe und Europa. Berlin, New York 1990, S. 262—279. — Hans Joachim Schrimpf: Goethes Begriff der Weltliteratur. Stuttgart 1968. George Steiner: A footnote to Weltliteratur. In: Le mythe d'Etiemble. Hg. ν. André Karátson u.a. Paris 1979, S. 261-269. - Horst Steinmetz: Weltliteratur. Umriß eines literaturgeschichtlichen Konzepts [1985]. In: H. S.: Literatur und Geschichte. München 1988, S. 103-126, 136-141. - Fritz Strich: Goethe und die Weltliteratur. Bern 2 1957. - Claus Träger: Weltgeschichte - Nationalliteratur, Nationalgeschichte - Weltliteratur. In: C. T.: Studien zur Erbetheorie und Erbeaneignung. Leipzig 1981, S. 2 2 8 246. — S. V. Turaev: Gete i formirovanie koncepcii mirovoj literatury [,Goethe und die Entwicklung des Weltliteratur-Begriffs']. Moskau 1989. — György M. Vajda: Methodologische Fragen einer Historiographie der Weltliteratur. In: Sensus Communis. Fs. Henry Remak. Hg. v. Janosz Riesz u.a. Tübingen 1986, S. 193-202. - Peter Weber: Die Herausbildung des Begriffs Weltliteratur. In: Literatur im Epochenumbruch. Hg. v. Günther Klotz. Berlin, Weimar 1977, S. 5 3 3 614. - Reiner Wild: Überlegungen zu Goethes Konzept einer Weltliteratur. In: Bausteine zu einem transatlantischen Literaturverständnis. Hg. v. Hans W. Panthel u.a. Frankfurt u.a. 1994, S. 3 - 1 1 .

Hendrik Birus

Welttheater Rede- und Denkfigur, in der die Welt als Bühne, menschliches Handeln als Rollenspiel vorgestellt wird. Expl: Die Vorstellung von der Welt als einem Theater, auf dem die Menschen ihre Rollen spielen, ist Gemeingut des europäischen Denkens seit der griechischen Antike,

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sie findet sich darüber hinaus weltweit in Kulturen, die die Institution des Theaters kennen. Die Denkfigur ,Welttheater' hat fünf Komponenten: Autor, Spielleiter, das Geschehen selbst, die Akteure und die Zuschauer. (1) Als ,Autor' des Welttheaters können Gott oder ,die Menschheit' gedacht werden. (2) Als Spielleiter', der die Rollen vergibt und wieder zurücknimmt, wird in der Regel Gott bestimmt, aber auch die Welt (als allegorische Figur), das Schicksal (Tyche), der Zufall oder Fortuna. (3) Mit dem ,Geschehen' des Welttheaters können unterschiedliche Bereiche und Dimensionen menschlicher Existenz thematisiert sein: (a) der Weltlauf (manchmal verstanden als der öffentliche im Gegensatz zum privaten Daseinsbereich) als ganzer; (b) das Handeln der einzelnen Menschen (als Spiel, kritischsatirisch als Narrenrevue o. ä.); (c) der Zusammenhang der Ereignisse (als Kausalität oder als Zufall, als Objekt der Berechnung oder Manipulation); (d) der Status der Wirklichkeit (als Schein im Sinne der Uneigentlichkeit oder der ? Repräsentation2). (4) Die ,Akteure' des Welttheaters sind immer die Menschen; sie können als unfrei (Puppen, Marionetten) oder als ihr Handeln selbst verantwortend aufgefaßt werden. (5) Als .Zuschauer' (und auch Richter) des Welttheaters können immanent die Spieler selbst fungieren oder transzendent der Weltrichter, d.h. Gott, dem aber noch weitere Zuschauer beigesellt sein können, z. B. Christus als Erlöser (allegorisch die Figur der Gnade) oder Gottes transzendenter Widersacher (z.B. im Buch Hiob oder im .Prolog im Himmel' von Goethes .Faust') oder die Gemeinschaft der Engel und Heiligen. Eine systematische Funktionsbestimmung der Denkfigur .Welttheater' könnte bei dem Gedanken ansetzen, daß sie die logischen Widersprüche, in die sich totalisierende Aussagen über die Welt notwendig verstricken, in der Fiktionalisierung des Gegenstandes ,Welt' auffängt und entschärft. WortG: Welttheater ist eine Übersetzung aus dem lat. THEATRUM MUNDI (erstmals bei Johannes von Salisbury 1159 im ,Policrati-

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Welttheater

cus' 3,9 (= CC 118, 199) bezeugt) bzw. seiner Entsprechungen in den europäischen Nationalsprachen, die allesamt schon vor der Bildung des dt. Wortes gängig waren (frz. théâtre du monde, engl, globe theatre, span, gran teatro del mundo). Die Hybridform Welt-Theatrum findet sich 1698 bei August Bohse (in der unpaginierten ,Anderen Vorrede' zu ,Die Liebenswürdige Europäerin Constantine'). Das dt. Wort ist seit dem 18. Jh. nachweisbar (DWb28, 1704); es setzt sich durch gegenüber Weltentheater (das auf kosmisches Geschehen eingeschränkt wird), Weltbühne, Weltschauplatz („schaw=platz dieser weit" als eine häufige Formulierung im Barock; vgl. Gryphius, 58) und Weltkomödie. August Bohse (Talander): Die Liebenswürdige Europäerin Constantine. Frankfurt, Leipzig 1698. - Andreas Gryphius: Frühe Sonette. Hg. v. Marian Szyrocki. Tübingen 1964.

BegrG: Am Beginn der begriffsgeschichtlichen Entwicklung, die zum Konzept des ,Welttheaters' führt, stehen Bestimmungen des Menschen als Marionette oder Spielzeug der Götter (Piaton, ,Nomoi' l,644d-e). In der Konsequenz dieser Vorstellung liegt der Vergleich des Menschen mit einem Schauspieler („humanae vitae mimus"; Seneca, ,Epistulae morales ad Lucilium' 80,7), D a sein heißt eine Rolle spielen' (Traditionslinie dargestellt bei Burger), sowie die Entstehung des Begriffs der ,Person' aus dem der Maske (,persona'). Die metonymische Verschiebung innerhalb dieses Vorstellungsfeldes vom Menschen auf den Lauf seines Lebens führt zum Begriff .Schauspiel des Lebens' (,scaena vitae'; vgl. Cicero: ,Cato' 18,65; Boethius: ,De consolatione philosophiae' 2,3,45) bzw. — schon bei Piaton — ,Tragödie und Komödie des Lebens' (.Philebos' 50b). Durch Verschiebung des Akzentes von der zeitlichen Erstreckung des Lebensschauspiels auf dessen Raum kann dann der Begriff des Welttheaters (,theatrum mundi') gebildet werden. Er ist seit dem Mittelalter im Gebrauch und wird im 16. und 17. Jh. zur umfassenden Deutungsfigur des menschlichen Daseins. Zusammenhänge, in denen der / Topos ,Welttheater' verwendet wird, sind insbesondere die

argumentierende (wissenschaftliche) Rede (der Philosophie, Theologie), warnendes, mahnendes Schrifttum (z. B. die ? Predigt oder die s Satire), ethische Konzeptbildungen (z. B. im Gedanken des .memento mori', der ,Lebenskunst') und nicht zuletzt ästhetische Praxis, in der die Vorstellung der Welt als Theater zur selbstreflexiven Figur wird (besonders im Drama; f Spiel im Spiel). Mit der bürgerlichen Distanzierung von der höfischen Kultur erhält der Begriff des Welttheaters negative Konnotationen. Er wird nun in die ontologische Entgegensetzung von Uneigentlichkeit und Eigentlichkeit eingebunden, sei es von .Vorstellung' und .Wirklichkeit' (Büchner, 40: „wir stehen immer auf dem Theater, wenn wir auch zuletzt im Ernst erstochen werden"), sei es von .öffentlicher Existenz' (mit negativem Gehalt: den Menschen entfremdend) und privater (als Ort wahren Menschseins), z. B. als Motiv im /" Bürgerlichen Trauerspiel. ,Welttheater' wird so zunehmend zu einem Begriff der Sinnbezweiflung des Weltgeschehens wie des menschlichen Daseins. Eine produktive Aneignung des Begriffs .Welttheater' in der Moderne liegt im soziologischen Begriff des .gesellschaftlichen Rollenspiels' vor (z.B. bei Parsons/ Shils, Dahrendorf, Popitz, Rapp; vgl. dazu explizit Karnick, 11 — 15 u. ö.). Georg Büchner: Sämtliche Werke, Briefe und Dokumente. Hg. v. Henri Poschmann. Bd. 1. Frankfurt 1992.

SachG: In Johannes' von Salisbury ,Policraticus' wird allegorisch dem von der Fortuna bestimmten Welttheater die Beständigkeit des tugendhaften Lebens entgegengestellt. Im späten Mittelalter dominiert der handlungsethische Aspekt des Topos im christlichen Sinn, so in der s Moralität (an deren Tradition Hofmannsthal mit dem .Jedermann' 1911 anknüpft) und im s Geistlichen Spiel (Fronleichnamsspiel, Weltgerichtspiel). Zu der moralisierenden und argumentierenden Funktion tritt im Barock eine selbstreflexive Funktion des Topos; die Kunst reflektiert sich in ihm als Teil des übergreifenden Ordnungsschemas der Repräsentation (vgl. Foucault, 60—91). Die bekanntesten Zeugnisse barocker Auffas-

Welttheater sung des Topos ,Welttheater' sind Beispiele solcher Selbstreflexion (Übersicht bei Barner und Jacquot): der Monolog des Melancholikers Jacques in Shakespeares ,As you like it' (11,7), Calderóns Fronleichnamsspiel ,ΕΙ gran teatro del mundo' (vor 1641 uraufgeführt, erschienen 1655), das Kapitel ,E1 gran teatro del universo' in Baltasar Graciáns ,ΕΙ criticón' (1651 — 1657), entsprechende Formulierungen in Gedichten und Dramen von Gryphius und Lohenstein (vgl. Rusterholz). Auch in der Höfischen Verhaltenslehre ist die Auffassung von der „Unumgänglichkeit des Rollenspiels für das soziale Leben" (Beetz, 151) gängig. Mit der bürgerlichen Distanzierung von der höfischen Kultur und vom Denken nach dem Ordnungsschema der Repräsentation sowie mit der aufklärerischen Zentrierung des Denkens und des Weltbezugs im Subjekt statt in einem transzendenten Schöpfer verliert der Gedanke des theatralischen Daseins und damit des Welttheaters seine daseinsbestimmende und daseinserschließende Kraft. Stattdessen überwiegt nun die deskriptive Funktion; im Gedanken des Welttheaters wird die Position des Menschen im Spannungsfeld von sinnlich-empirischen und sittlich-transzendenten Kräften problematisiert (ζ. B. in Goethes ,Faust' oder Schillers Geschichtsdramen) oder der ideelle Fluchtpunkt der Wirklichkeitserfahrung diskutiert (u. a. bei Wackenroder, Novalis, Jean Paul sowie in den ,Nachtwachen. Von Bonaventura'; vgl. Greiner). Grillparzer knüpft mit der Idee vom Leben als Theater noch einmal an die moralisierende Tradition des Barock (z.B. Calderóns) an, wenn er sie auch dazu benutzt, bestimmte kollektive Wirklichkeitsbilder seiner Epoche als narzißtische Illusion zu kritisieren (,Der Traum ein Leben'). Der radikalen Verneinung eines sinnhaften Geschichtsprozesses dient die Figur bei Büchner (,Dantons Tod' 11,5 und im sog. ,Fatalismusbrief'), der Welttheater- und Schauspiel- bzw. Puppen-Metapher wieder eng verknüpft. Von hier läßt sich ein Bogen bis zu Strindbergs Dramatik spannen (vgl. Karnick). Dem Daseinsgefühl, das die Kunst der Wende zum 20. Jh. (" Literaturwissenschaft), ? Mediävistik und Germanistische Sprachwissenschaft gegenüber sieht. Die Pluralisierung der Verfahrensweisen bewirkt neue Traditionsbildungen, Kategorien werden auf ihre Genese hin befragt, die historisch gewachsene disziplinare Identität wird zum Dauerthema. Mit der Öffnung der Literaturwissenschaft für sozialwissenschaftliche Fragestellungen und / Ideologiekritik seit den 1960er Jahren profiliert sich die Subdisziplin Wissenschaftsgeschichte. In den 1980er Jahren läßt sich eine Intensivierung der Forschung beobachten, die sowohl weitere Archivalien (hauptsächlich aus institutionellen Beständen und Personalnachlässen; /" Literaturarchiv) sichtet als auch neue Untersuchungsverfahren erprobt (Diskursanalyse, ^ Diskurstheorie·, s Sozialgeschichte\ s Systemtheorie). ForschG: Eine Geschichte der Wissenschaftsgeschichtsschreibung existiert in der Literaturwissenschaft nicht. Ein Zugang könnte sich über die Frage eröffnen, wie sich Formen der historischen Selbstreflexion zur Entwicklung der Disziplin verhalten haben, wie also Funktionen und Verfahren der Wissenschaftsgeschichte für sich und in ihrer Relation historisch variierten (Ansätze bei Lempicki, Rosenberg, Kolk, Dainat/ Danneberg). Allgemeine Wissenschaftsforschung und Wissenschaftssoziologie (vgl. Krohn/Küppers) halten hierfür verschiedene Beschreibungsmodelle bereit. Lit: Fortlaufende Auswahlbibliographie: Marbacher Arbeitskreis für Germanistik. Mitteilungen (seit 1991). — Werner Bahner, Werner Neumann (Hg.): Sprachwissenschaftliche Germanistik. Berlin 1985. - Wilfried Barner, Christoph König (Hg.): Zeitenwechsel. Frankfurt 1996. - Petra Boden, Holger Dainat (Hg.): Atta Troll tanzt noch. Berlin 1997. - P. B., Rainer Rosenberg (Hg.): Deutsche Literaturwissenschaft 1945— 1965. Berlin 1997. - Peter Brenner (Hg.): Geist, Geld und Wissenschaft. Arbeits- und Darstellungsformen von Literaturwissenschaft. Frank-

Wissenschaftstheorie furt 1993. - Holger Dainat, Lutz Danneberg (Hg.): Literaturwissenschaft und Nationalsozialismus. Tübingen 2003. - Jürgen Fohrmann: Das Projekt der deutschen Literaturgeschichte. Stuttgart 1989. - J. F., Wilhelm Voßkamp (Hg.): Von der gelehrten zur disziplinären Gemeinschaft. Stuttgart 1987. - J. F., W. V. (Hg.): Wissenschaft und Nation. Studien zur Entstehungsgeschichte der deutschen Literaturwissenschaft. München 1991 [darin Rosenberg, Voßkamp], - J. F., W. V. (Hg.): Wissenschaftsgeschichte der Germanistik im 19. Jh. Stuttgart 1994. - Wolfgang Haubrichs, Gerhard Sauder (Hg.): Wissenschaftsgeschichte der Philologien. Göttingen 1984. — Johannes Janota (Hg.): Eine Wissenschaft etabliert sich. 1810-1870. Tübingen 1980. - Christoph König, Eberhard Lämmert (Hg.): Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 1910 bis 1925. Frankfurt 1993. — Rainer Kolk: Berlin oder Leipzig? Eine Studie zur sozialen Organisation der Germanistik im ,Nibelungenstreit'. Tübingen 1990. — Wolfgang Krohn, Günter Küppers: Die Selbstorganisation der Wissenschaft. Frankfurt 1989. - Eberhard Lämmert: Wissenschaftsgeschichte und Forschungsplanung. In: Historizität in Sprach- und Literaturwissenschaft. Hg. v. Walter Müller-Seidel. München 1974, S. 663-685. Sigmund v. Lempicki: Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft bis zum Ende des 18. Jhs. Göttingen 1920. - Jörg Jochen Müller (Hg.): Germanistik und deutsche Nation 1806-1848. Stuttgart 1974. - Klaus Röther: Die Germanistenverbände und ihre Tagungen. Ein Beitrag zur germanistischen Organisations- und Wissenschaftsgeschichte. Köln 1980. — Rainer Rosenberg: Zehn Kapitel zur Geschichte der Germanistik. Berlin 1981. — R. R.: Literaturwissenschaftliche Germanistik. Zur Geschichte ihrer Probleme und Begriffe. Berlin 1989. — Jörg Schönert (Hg.): Literaturwissenschaft und Wissenschaftsforschung. Stuttgart, Weimar 2000. - Klaus Weimar: Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft bis zum Ende des 19. Jhs. München 1989.

Rainer Kolk

Wissenschaftstheorie Analyse und Normierung der kognitiven Bestandteile (einzel)wissenschaftlicher Aussagen. Expl: Die Wissenschaftstheorie besteht aus der theoretischen Analyse und/oder Normierung kognitiver Elemente und Struktu-

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ren wissenschaftlicher Handlungen. Sie unterscheidet sich von empirischen wie historischen Untersuchungen (Wissenschaftsforschung, -Soziologie, -psychologie, ? Wissenschaftsgeschichte 12), insofern sie den Gegenstand ihrer Analysen und Normierungen in bestimmter Weise entkontextualisiert, also von kontingenten und historisch wandelbaren Forschungsbedingungen abstrahiert. Ihr Gegenstand sind (1) systematische und historische Begriffsbildungen (etwa ? Epochen-Begriffe etc.) und Konzepte (Explikation, Terminologie etc.), Aussagenzusammenhänge und -begründungen (y Textanalyse, ? Literaturtheorie)·, in der Allgemeinen Wissenschaftstheorie erfolgen solche Untersuchungen überdisziplinär, in der speziellen ausgerichtet an einzelnen Disziplinen oder Gruppen von ihnen. Ihr Gegenstand sind in bezug auf die Text- und Sozialwissenschaften (2) Überlegungen zu Normierungen des Selbstverständnisses und zur Fundierung wissenschaftlichen Interpretierens (s Hermeneutik 1, ? Methodologie, s Semiotik etc.) und Bewertens (s Poetik, f Ästhetik, f Wertung). Wissenschaftstheoretische Reflexion soll der Verbesserung wissenschaftlicher Praxis dienen. WortG: Wissenschaft ist seit dem 14. Jh. im allgemeinen Sinne von ,Wissen' belegt; der heutige Gebrauch entwickelt sich seit dem 17. Jh. (Kluge-Seebold 23 , 895). Theorie, über lat. theoria von griech. θεωρία [theoría] ,Anschauen', Betrachtung', ist im Dt. seit dem 18. Jh. nachgewiesen (ebd., 823). Das Kompositum Wissenschaftstheorie wird im späteren 19. Jh. gebräuchlich (Κ. E. Dühring: ,Logik und Wissenschaftstheorie', 1878) und löst in der Philosophie ältere Bildungen wie Wissenschaftslehre ab (J. G. Fichte: ,Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre als Handschrift für seine Zuhörer', 1794). Ein vermehrtes Auftreten des Terminus über den eng philosophischen Bereich hinaus ist erst seit den 1980er Jahren zu beobachten. BegrG/SachG: Die Wissenschaftstheorie der Literaturwissenschaft ist eng verknüpft mit der Geschichte der Hermeneutik. Die Anfänge der wissenschaftstheoretischen Analyse und Normierung des Textinterpretie-

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Wissenschaftstheorie

rens beginnt nach Vorläufern in der mittelalterlichen Accessus-Lehre (vgl. Huygens) im 16. Jh. im Rahmen der .analysis textus', untergliedert nach dem Trivium (/* Artes liberales) in ,analysis grammatica', ,analysis rhetorica' und »analysis logica' mit zahlreichen speziellen Unterteilungen. Ihren systematischen Ort haben solche Erörterungen im Rahmen der ,logica practica'. Das Ziel war immer, mittels der wahren Interpretation (,interpretatio vera') aus dem ,sensus' (kanonischer) Texte Wissensansprüche zu gewinnen oder zu begründen (,Veritas sensu'). Im Anschluß an den ,analyticus' kommt es zur Ausbildung des .hermeneuticus' und der ,hermeneutica generalis'. Das Lesen im ,liber naturalis' (,Buch der Natur') wird dabei weitgehend parallel zum Lesen im,liber supernaturalis' (.offenbarte Schrift') konzeptionalisiert. In beiden Fällen bildet das ,causa-effectus'-Modell, eingebunden in die vierfache ,causa'-Lehre, die Grundlage: der Autor als ,causa efficiens' (nebst der ,circumstantiae'), Themen und Quellen als ,causa materialis'; ,causa formalis' ist als .forma tractandi' die Vorgehensweise des Autors und als .forma tractatus' die Gestalt der Schrift; .causa finalis' ist schließlich der Zweck des Werkes, der sich im Rezipienten erfüllt (oder auch nicht). Drei Probleme sind für die frühe wissenschaftstheoretische Erörterung zentral: (1) die Trennung von .interpretatio vera' und .veritas sensu', also der Wahrheit der Interpretation und der (durch Interpretation) ermittelten Aussage eines Textes; (2) die Gleichbehandlungsmaxime, die besagt, daß jeder Text, insbesondere auch die Heilige Schrift, nach denselben hermeneutischen Grundsätzen zu interpretieren sei; sowie (3) der epistemische Status der Interpretation als .Wahrscheinlichkeit' (.probabilitas hermeneutica') — und in diesem Rahmen die Ausbildung von .aequitas'-Annahmen als prinzipiell korrigierbare Vorab-Annahmen (.praesumptiones'), die den immer unsicheren Schluß auf die .mens auctoris' stabilisieren sollten. Gegen Ende des 17. Jhs. (Locke) sieht man einen Zusammenhang zwischen den Problemen (1) und (3): die Gewißheit (,certitudo') der in einem Text ermittelten Wahr-

heit (,Veritas sensu') kann nicht größer sein als die der Interpretation, mithin nur probabel. Die nicht zuletzt im Rahmen der ^ermeneutica sacra' immer stärker unternommene historische Kontextualisierung des Sinns von Texten führt am Ende des 18. Jhs. zu orientierenden Annahmen über die Absicht des Autors Intention) im Blick auf die Wirkung beim Leser. Parallel werden an (bestimmten) Texten (ästhetische) Makroeigenschaften gesehen, die neue Probleme und Orientierungen bei der Interpretation fordern. Es sind dabei oftmals solche Eigenschaften, welche die ,analysis textus' nicht zu ermitteln vermag oder sogar zerstört. Diese nicht wiederherstellbaren Eigenschaften eines Textes werden unter anderem gedeutet als Ausdruck eines individuellen Gestaltungswillens und konstituieren so seine ? Bedeutung. Erst gegen Ende des 18. Jhs. kommt es aufgrund der veränderten Bedeutungs- und Interpretationskonzeption, die dem Interpretieren zugrunde gelegt werden, zu Konzepten des ,Besserverstehens' eines Autors, als dieser sich selbst verstanden hat. Ein Problem der Begründung interpretatorischer Wissensansprüche, nämlich der sog. ? Hermeneutische Zirkel, findet als ein Charakteristikum bestimmter Disziplinen erst zum Ende des 19. Jhs. seine Formulierung, und das nicht zuletzt im Blick auf die interdisziplinäre Auseinandersetzung um die jeweils typischen oder übergreifend geltenden Ideale der Begründung von Wissen. Hier finden denn auch die wissenschaftstheoretischen Überlegungen zu den textinterpretierenden Diszplinen in der Folgezeit eine lange anhaltende Anschlußmöglichkeit, und zwar im Rahmen der Auseinandersetzung zwischen den Disziplinblöcken Natur- und Geistes- bzw. Kulturwissenschaft. Insbesondere ist es die Frage, inwiefern sich die textinterpretierenden (hermeneutischen) Diszplinen bei der Gewinnung und Begründung von Wissensansprüchen zu ihrem Gegenstand von den anderen Disziplinen, vor allem denen der Naturwissenschaften, unterscheiden und ein Eigenrecht aufgrund von Unvergleichbarkeit beanspruchen können. Verhandelt wird das in

Witz der Regel als die Entgegensetzung von Verstehen und Erklärung. Hier setzen denn auch die Bemühungen der modernen, analytischen Wissenschaftstheorie ein sowie — in deren Folge — die Versuche, die Literaturwissenschaften zu .verwissenschaftlichen' (/" Analytische Literaturwissenschaft, Strukturalismus). Oftmals werden bei den Untersuchungen die normierenden (präskriptiven) nicht deutlich von den analysierenden (deskriptiven) Aspekten getrennt. Es sind im wesentlichen die folgenden Probleme, bei denen die wissenschaftstheoretische Analyse der Interpretation ansetzen kann: (1) die Unterscheidung von Arten des Interpretierens mit ihren Besonderheiten und Leistungen; (2) die Rolle, welche die Gegenstandskonstitierung bei der Interpretation spielt; sowie (3) die bei der Interpretation übertragenen Konzeptionalisierungen des Gegenstandes; (4) die Beliebigkeit der Interpretation; (5) die Relativität und der Relativismus des Interpretierens; (6) die Objektivierbarkeit der Interpretation mit den Formen ihrer Intersubjektivität; (7) die Möglichkeit ihrer Plausibilisierung; (8) die Arten der Relevanz von Informationen oder Kontexten als Argumenten für oder gegen eine Interpretation — die ,Logik der Interpretation'; (9) die Vergleichbarkeit oder Inkompatibilität von Interpretationen hinsichtlich der zugrunde gelegten Bedeutungskonzeption; (10) ihre Evaluation (Bedingungen des Gelingens wie Scheiterns; Falsifizierbarkeit, ? Analytische Literaturwissenschaft) im Blick auf die Interpretationskonzeption; (11) die Beziehungen zwischen Textbeschreibung und Textinterpretation (y Textanalyse)·, schließlich (12) die einzelnen Verfahren des Interpretierens (ζ. B. Parallelstellen-Verfahren). Einige der genannten Problemstellungen münden in allgemeine wissenschaftstheoretische und sprachphilosophische Fragen. Das sind vor allem die beim (gelungenen) interpretieren' vorauszusetzenden Annahmen eines rationalen Verstehens (etwa ,charity'-Prinzipien, d.h. solche der wohlwollenden Interpretation; vgl. Scholz 1999); die Indeterminiertheit der Übersetzung — .indeterminacy of translation' im Sinne von

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Quine; schließlich Überlegungsgleichgewicht im Blick auf die Akzeptanz oder Ablehnung von Wissensansprüchen. Lit: Thomas Anz, Michael Stark: Literaturwissenschaftliches Interpretieren als regelgeleitetes Verhalten. In: DVjs 51 (1977), S. 272-299. Wolfgang Balzer, Heide Göttner: A theory of literature logically reconstructed. In: Poetics 12 (1983), S. 489-510. - Yvonne BaumgardtThomé: Das Problem der Geisteswissenschaft in der analytischen Philosophie und Wissenschaftstheorie. Meisenheim 1978. - Ulrich Charpa: Methodologie der Wissenschaft. Hildesheim u. a. 1983. - Lutz Danneberg: Zum Autorkonstrukt und zu einem methodologischen Konzept der Autorintention. In: Rückkehr des Autors. Hg. v. Fotis Jannidis u.a. Tübingen 1999, S. 77-105. L. D., Hans-Harald Müller: Verwissenschaftlichung der Literaturwissenschaft. In: Zs. für allgemeine Wissenschaftstheorie 10 (1979), S. 1 6 2 191. - L. D„ Friedrich Vollhardt (Hg.): Vom Umgang mit Literatur und Literaturgeschichte. Stuttgart 1992. - Karl Eibl: Kritisch-rationale Literaturwissenschaft. München 1976. - Dagfinn Föllesdal: Hermeneutics and the hypothetico-deductive method. In: Dialéctica 33 (1979), S. 319-336. - Dieter Freundlieb: Zur Wissenschaftstheorie der Literaturwissenschaft. München 1978. - Harald Fricke: Die Sprache der Literaturwissenschaft. München 1977. - Gottfried Gabriel: Zwischen Logik und Literatur. Stuttgart 1991. - Heide Göttner, Joachim Jacobs: Der logische Bau von Literaturtheorien. München 1978. - Robert B. C. Huygens (Hg.): Accessus ad auctores. Leiden 1970. - Karl Ludwig Pfeiffer: Sprachtheorie, Wissenschaftstheorie und das Problem der Textinterpretation. Amsterdam 1974. - Eike v. Savigny: Argumentation in der Literaturwissenschaft. München 1976. - Oliver R. Scholz: Verstehen und Rationalität. Frankfurt 1999. - Wolfgang Stegmüller: Überlegungsgleichgewicht (Reflective Equilibrium). In: Zur Kritik der wissenschaftlichen Rationalität. Hg. v. Hans Lenk. Freiburg i. Br., München 1986, S. 145-167. - Werner Strube: Analytische Philosophie der Literaturwissenschaft. Paderborn u. a. 1993.

Lutz Danneberg

Witz Zunächst eine gesellige Tugend, dann ein geistvolles Kombinationsverfahren, schließlich eine darauf beruhende Erzählform.

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Witz

Expl: Grundsätzlich sind drei historisch gebundene Bedeutungen von Witz zu unterscheiden: (1) in der Vermögenspsychologie des 17. und 18. Jhs. die Fähigkeit, geistreiche und überraschende Konversation zu führen; (2) im 18. Jh. ein für die Dichtungstheorie relevantes Formprinzip der Kombination; (3) seit dem 19. Jh im Zusammenhang mit dem Komischen der Name für eine literarische ? Textsorte. Als aktueller literaturwissenschaftlicher Terminus fungiert Witz heute vornehmlich in dieser dritten Bedeutung. Die episch-fiktionale Textsorte ,Witz' läßt sich durch eine duale Struktur definieren. In der Witzerzählung wird eine Erwartung aufgebaut, die in der f Pointe mit einem zweiten Bedeutungsfeld konfrontiert wird, das eine weitgehende semantische oder phonetische Homologie mit der Erzählung besitzt, aber in der Pointe eine Differenz (Kontextsprung, Bruch von s Isotopien) markiert. Der scherzhafte Doppelsinn eröffnet die spielerische Lizenz für Tabubrüche und Norm verstoße (s Tabu, f Abweichung). Wortspiele mit Doppeldeutigkeiten (klangliche /" Äquivalenz und Homonymie, Synonymie, Amphibolie; Ambiguität) erlauben eine im Lachen vollzogene Regression auf ein semiotisches Niveau, bei dem begriffliche Prägnanz durch vorbegriffliche Ähnlichkeit ersetzt wird. Diese Merkmale bleiben auch im Bilderwitz ( / Karikatur) erhalten und sind ebenfalls im musikalischen wie auch im gestischen bzw. mimischen Witz (Slapstick, s Pantomime) nachweisbar. Die pragmatische Situation des WitzeErzählens wird in der Regel durch die Ankündigung, daß ein Witz erzählt werde, eröffnet und durch ein — das Begreifen der Pointe dokumentierendes — Lachen des Zuhörers beendet. Mindestens zwei Personen sind an der Situation beteiligt, von einer dritten ist meist die Rede. Witze-Erzählen kann unterschiedliche Funktionen haben: ? Unterhaltung¡, Ausdruck kritischer politischer Haltung, Aktualisierung gemeinsamer Wertvorstellungen, Vollzug erotischer Tabubrüche (/* Obszön), psychische Entlastungsfunktion durch Lachen und Entschärfung von Konflikten. Der Witz

kann aber auch chauvinistisch und repressiv sein. Als Textsorte steht der Witz in einem enggestaffelten Begriffsfeld. Ebenso wie der einfache , Scherz' (/" Scherzrede) bezeichnen das geistreiche BONMOT und der vom Doppelsinn lebende KALAUER (bzw., in älterer Wortform: der CALEMBOURG; S Wortspiel) einen spontanen — oder als solchen ausgegebenen — Einfall mit Ereignischarakter, der in den Verlauf der Kommunikation eingebettet ist; dagegen pflegt der wiederholbare Witz als besonderes Erzähl-Ereignis angekündigt zu werden. Gegenüber dem epischeren /" Schwank2 ist der Witz kürzer, im Gegensatz zur ? Anekdote erhebt er nicht den Anspruch, historisch beglaubigt zu sein, vom s Aphorismus und Apophthegma unterscheidet er sich durch seinen Verzicht auf sentenziose Lebensweisheit, vom ? Epigramm zusätzlich durch seine Prosaform. Der /* Sketch ist ein quasi p r o fessioneller' Witz, der auf der Bühne vor einem Publikum erzählt, in aller Regel sogar szenisch gespielt wird. Mit dem s Rätsel ist der Witz durch seine Struktur der doppelten Bedeutungsebene verbunden, die im Rätsel freilich nicht in eine scherzhafte Pointe aufgelöst wird. Die Stilblüte (s Katachrese) ist unfreiwillig witzig. Poetische Formen des Witzes sind u. a.: / Limerick, Schüttelreim (y Reim), Klapphornvers (y* Nonsens). Als Oberbegriffe bezeichnen ? Humor und ? Komik Prinzipien des Lächerlichen, in deren Kontext der Witz je nach Theoriemodell als besondere Form behandelt werden kann. WortG: Das Wort Witz stammt von dem ahd. wizzi (mhd. witze) ab und bedeutet erworbenes oder angeborenes Wissen', ^erstand', .Klugheit', .Weisheit' (so heute noch in Mutterwitz-, Kluge-Seebold23, 895). Schon in frühen Belegen erscheint Witz, wohl unter Einfluß des lat. ingenium, als intellektuelles Vermögen. Es gibt aber auch Hinweise darauf, daß der Begriff ursprünglich einen gewußten Inhalt bezeichnete. Ab dem 17. Jh. kommt durch den Einfluß des frz. esprit die Bedeutung des .sinnreichen und klugen Einfalls' hinzu; und mit dem wortverwandten engl, wit die dem Erkenntnisvermögen zuge-

Witz schriebene Fähigkeit, Ähnlichkeiten zwischen verschiedenen Dingen feststellen zu können. In der Poetik des 18. Jhs. bezeichnet Witz bis zum Aufkommen des Geniebegriffs das kreative dichterische Vermögen. Als Stilmittel schon im 18. Jh., dann seit dem 19. Jh. ist Witz der ,Einfall' selbst, meist schon als scherzhafter. Der Begriff tendiert immer stärker zur Bezeichnung für eine Textsorte (einen Witz erzählen) bzw. für ein Element des mündlichen Sprechens (einen Witz machen). DWb 30, Sp. 861-903. - Jost Trier: Der deutsche Wortschatz im Sinnbezirk des Verstandes. Heidelberg 21973.

BegrG: Der Schritt von der Wortsemantik ,Verstand', .Klugheit', ,List' hin zum Beginn der eigentlichen Begriffsgeschichte findet in der Übernahme des (von der französischen Hofkultur kommenden) Konversationsideals des gebildeten Hofmanns statt (s Höfische Verhaltenslehre). Der Begriff ,bel esprit' (Bouhours) wird zuerst bei Thomasius (1687, v. a. S. 45) mit schöner Geist, später von Christian Wernicke (um 1701, s. DWb 30, 871 f.) mit Witz übersetzt. Der Begriff steht für sinnreiche, überraschend kombinierende und geistvolle Konversation ( /" Unterhaltung2) und wird programmatisch gegen scholastischen Pedantismus (Thomasius), aber auch gegen manieristische Tendenzen des Spätbarock eingesetzt (Schwulstkritik; Manierismus). Bei Chr. Wolff wird er als Vermögen, durch Vergleichung Ähnlichkeiten und Übereinstimmungen zwischen den Dingen festzustellen, definiert (Meissner, 733 f.). Diese für das 18. Jh. dominierende Begriffsbestimmung eröffnet Verbindungen zum Vermögen der Erfindung (Erfindungskunst, /" Inventio)\ zur Urteilskraft als der Beurteilung von neuen Kombinationen; zur Einbildungskraft (S Phantasie), die sinnliche Vorstellungen neu kombiniert, während der Witz ihre begrifflichen Ähnlichkeiten feststellt; und zum Scharfsinn als dem Vermögen, die Verschiedenheit der Dinge zu bemerken (vgl. Gabriel). Grundsätzlich steht der Witz unter der Leitung des Verstandes, dem die logischen Operationen des Trennens und Verknüpfens von Begriffen vorbehalten bleiben. Für die

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Poetik der Aufklärung wird der Witz zu dem Erkenntnismittel, das die Vernünftigkeit und damit die /" Wahrscheinlichkeit der Nachahmung gewährleistet: Gottsched spricht vom Witz als einer Gemütskraft, die neben Scharfsinn und Einbildungskraft derjenige braucht, der „geschickt nachahmen soll" (Gottsched, 102; vgl. Breitinger, 407, sowie /* Mimesis2). Ebenso hat der Witz als Stilprinzip die Funktion, ästhetische Gegenstände auf prägnante Weise zu präsentieren (Sulzer 4, 738). In der 2. Hälfte des 18. Jhs. wird das poetische Prinzip des Witzes vom Geniegedanken abgelöst. In der Begriffskombinatorik Fr. Schlegels ist ,Witz' das vom aufklärerischen Konnex mit dem Verstand losgelöste Prinzip der ,logischen Chemie' (,Athenäums-Fragment' Nr. 220). Die Begriffe werden dabei einer bis zu ihrer Entleerung gehenden Umdeutung unterzogen; der Witz wird folglich zu einem schöpferischen Prinzip der Kombinatorik, wo er der Aufklärung zufolge nur Ähnlichkeiten entdecken konnte, die schon vorhanden sind. Jean Paul erklärt den Witz zum Produktionsprinzip seiner Ästhetik: „Der Witz allein [...] erfindet" (Jean Paul, §43). Im 19. Jh. wird, mit dem Verblassen des vermögenstheoretischen Paradigmas, der Witz als Textsorte bzw. als Form der mündlichen Kommunikation sachgeschichtlich ausdifferenziert (insbesondere gegenüber älteren Schwankerzählungen wie der s Fazetie) und damit auch zum Gegenstand ästhetischer Theorien (z.B. Vischer, §192— 204), die ihn im Zusammenhang mit dem Komischen diskutieren. Damit ist im wesentlichen die heutige Semantik des Begriffs etabliert. Neues bringen im 20. Jh. die psychoanalytisch wie die volkskundlich orientierten Witztheorien, die den Witz in der Regel als über den operationalisierten Textsortenbegriff hinausgehendes Prinzip auffassen. Freud konzipiert den Witz als Arbeit des Unbewußten, Verdrängtes durch einen lustvollen Abbau des Hemmungsaufwandes an die Oberfläche zu bringen. Bei Jolies ist der Witz eine der elementaren Geistesbeschäftigungen, die als /" Einfache Formen wirken. Er bildet das morphologische Prinzip für

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Wortspiel

das /" Komische, die ? Satire und die Ironie. Johann Jacob Breitinger: Critische Dichtkunst. Bd. 1. Zürich 1740. - Heinrich Adam Meissner: Philosophisches Lexikon aus Christian Wolffs Sämtlichen Deutschen Schriften [1737]. Repr. Düsseldorf 1970. — Jean Paul [Friedrich Richter]: Vorschule der Ästhetik. Hamburg 1804 u. ö. Christian Thomasius: Discours Welcher Gestalt man denen Frantzosen in gemeinem Leben und Wandel nachahmen solle [1687], In: C. T.: Kleine Teutsche Schriften. Halle 1701, Repr. Hildesheim 1994, S. 1-70. - Friedrich Theodor Vischer: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen. Leipzig 1846-1857. ForschG: Der Witz ist als vermögenstheoretischer Terminus (bei Baeumler, Best, Böckmann, Grimm, Knabe) und als poetologisches Prinzip (bei Otto, Wiethölter) Gegenstand der Forschungen zur Begriffs- und Geistesgeschichte des 18. Jhs. Die Textsorte ,Witz' wird zuerst im Kontext der ästhetischen Theorien des 19. Jhs. behandelt, dann von der volkskundlichen Witzforschung (Jolies, Bausinger) als Form der Mündlichkeit innerhalb der Alltagskommunikation verstanden. Die Textlinguistik widmet sich dem Witz vorzugsweise, weil er aufgrund seiner Kürze für den textlinguistischen Formalisierungsapparat gut operationabel ist. Marfurt untersucht (auf der Basis der sprachwissenschaftlichen TagmemikTheorie) die Interaktionsmuster des Erzählvorgangs, die Vertextungsmuster und die Techniken der Witzbildung. Klassifikationen entwickeln u.a. Schweizer (.schadenfroher Witz', ,Wertwitz', ,Tabuwitz' etc.) und Röhrich (der Witz orientiert sich an: Witzpersonen, Witzrezipienten, Inhaltsfeldern, Erzählstrukturen, ethnischen Gruppen, Witztendenzen, Geschehnisorten etc.). Die größere Anzahl der Spezialuntersuchungen analysieren bestimmte Formen wie den politischen Witz (Speier), den Irrenund Psychiaterwitz (Peters/Peters) oder das Frauenbild im Männerwitz (Huffzky). Lit: Alfred Baeumler: Das Irrationalitätsproblem in der Ästhetik und Logik des 18. Jhs. bis zur .Kritik der Urteilskraft'. Darmstadt 21967. - Hermann Bausinger: Formen der Volkspoesie. Berlin 2 1980. - Otto F. Best: Der Witz als Erkenntniskraft und Formprinzip. Darmstadt 1989. - Paul

Böckmann: Formgeschichte der deutschen Dichtung. Bd. 1. Hamburg 1949, S. 471-552. - Sigmund Freud: Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten. Wien 1905. - Gottfried Gabriel: Ästhetischer ,Witz' und logischer ,Scharfsinn'. In: G. G.: Logik und Rhetorik der Erkenntnis. Paderborn u.a. 1997, S. 99-115. - Robert Gernhardt: Was gibt's denn da zu lachen? Zürich 1988. Gunter E. Grimm: Literatur und Gelehrtentum in Deutschland. Tübingen 1983. - Karin Huffzky: Wer muß hier lachen? Das Frauenbild im Männerwitz. Darmstadt 1979. - André Jolies: Einfache Formen. Tübingen 1929. - Peter-Eckhard Rnabe: Schlüsselbegriffe des kunsttheoretischen Denkens in Frankreich. Düsseldorf 1972, S. 189-195. Peter Köhler: ,Witz'. In: Kleine literarische Formen in Einzeldarstellungen. Stuttgart 2002, S. 259-269. - Jürgen Macha: Sprache und Witz. Bonn 1992. — Bernhard Marfurt: Textsorte Witz. Tübingen 1977. - Ralph Müller: Theorie der Pointe. Paderborn 2003. - Norbert Neumann: Vom Schwank zum Witz. Frankfurt, New York 1986. - Dirk Otto: Der Witz-Begriff Jean Pauls. München 2000. - Johanne Peters, Uwe W. Peters: Irre und Psychiater. Struktur und Psychologie des Irren- und Psychiaterwitzes. München 1974. — Wolfgang Preisendanz: Über den Witz. Konstanz 1970. - Gert Raeithel: Der ethnische Witz. Frankfurt 1996. - Lutz Röhrich: Der Witz. Stuttgart 1977. - Wolfgang Schmidt-Hidding u.a. (Hg.): Humor und Witz. München 1963. - Werner R. Schweizer: Der Witz. Bern, München 1974. Hans Speier: Witz und Politik. Zürich 1975. - Peter Wenzel: Von der Struktur des Witzes zum Witz der Struktur. Heidelberg 1989. - Waltraud Wiethölter: Witzige Illumination. Tübingen 1979. Ralf

Simon

Wörterbuch /" Lexikon Wortschatz S Satz Wortspiel Stilfigur des Gebrauchs gleich oder ähnlich lautender Wörter. Expl: Anders als im allgemeinen der Reim hebt das Wortspiel das Verhältnis der Bedeutungen gleich oder ähnlich lautender Wörter (Homonyme bzw. Paronyme) hervor; meistens so, daß die damit bezeichneten Begriffe miteinander gleich- oder einan-

Wortspiel der entgegengesetzt werden. Insofern bildet das Wortspiel eine Sinn- und nicht bloß eine Klangfigur. Die beteiligten Wörter (mindestens und meistens zwei) sind entweder nacheinander oder aber gleichzeitig gebraucht: in einer Folge von Textwörtern oder vereint in nur einem. Entsprechend unterscheidet man zwischen .horizontalen' (nebeneinanderstellenden) und .vertikalen' (übereinanderlegenden) Wortspielen. Im Anschluß an die antike Rhetorik können die beiden Typen des .horizontalen' Wortspiels bezeichnet werden als TRADUCTIO (bei Homonymie: gallus ,Hahn'Igallus ,Gallier') und als ANNOMINATIO oder PARONOMASIE (bei Paronymie: nobilis/mobilis); der geläufigste Typus des .vertikalen' Wortspiels als Ambiguität oder auch AMPHIBOLIE (bei Homonymie: l'autelll'hôtel). Der gleichzeitige Gebrauch von Paronymen bewirkt teils eine Überschneidung, teils eine Überlagerung der beteiligten Wörter (Lacancanl Charlacan). Das Resultat wird vielfach PORTMANTEAU-Wort oder SCHACHTELWORT (frz. auch: motvalise) genannt. Nähere Unterscheidungen betreffen zum einen die Art der Homonymie — die auf akustischer .Homophonie' oder auf optischer .Homographie' beruhen kann (Maatl Mahd bzw. modèrni modern)·, zum anderen die Art der Paronymie — die entweder schon phonologisch oder erst morphologisch begründet ist (nomenlomen bzw. Petrus!petra [.Fels']). Bei der Abfolge verschiedener Flexionsformen desselben Wortes spricht man hier von POLYPTOTON (im Herzen des Herzens)·, bei syntaktisch subordinierten, aber stammverwandten Wörtern von FIGURA ETYMOLOGICA (das Nichts nichtet); bei partieller Überschneidung von Κ0ΝΤΑΜΙΝΑΤ10Ν2 (Hakenkreuzotter); bei leichter Abwandlung unter Einfluß eines anderen Wortes von INTERFERENZ (Nazirener) bzw., unter veränderter Buchstabenfolge, von PERMUTATION! (streben!sterben). Das Moment der unvermuteten Zusammenstellung gleich oder ähnlich lautender Wörter läßt die Figur in den Bereich des ,Witzes' (statt des .Scharfsinns'; ^ Argutia) fallen. Darum wird das Wortspiel gern in solchen Schriften gebraucht, die einem der

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komischen Genres der Literatur angehören (etwa dem Epigramm, dem ^ Schwank] 2, der Posse); oder auch in der Schreibweise der s Satire. Es gibt aber, wie den schwarzen Humor, auch das ernste Wortspiel. Als Funktionen des Wortspiels außerhalb der Literatur sind unter anderem zu nennen: Irreführung von Ratsuchenden (mehrdeutige Orakel), persönliche Kränkung (Verunstaltung von Eigennamen), Kundenfang (Werbung), Aktivierung sprachlicher Phantasie (Rätselspiele), bloße Belustigung (TrivialKabarett und TV-Comedy). Auch / Witze und /* Pointen aller Art bedienen sich gern des Wortspiels, etwa in der Gestalt des komischen Mißverständnisses (/" Bühnenkomik) oder des auf Amphibolie beruhenden CALEMBOURGS bzw. KALAUERS (eine Flasche in einem [Schnell- JZuge austrinken). WortG/BegrG: Harsdörffer, in dessen .Gesprächspielen' das Wort 1647 erstmals erscheint (Harsdörffer 7, 427), versteht unter Wortspiel die sinnreiche ^ Anspielung2 („Allusio") auf Eigennamen, während die reimartige Verbindung („Paranomasia" [sie]) als Wortgleichung bezeichnet wird. Schon in Stielers ,Teutschem Sprachschatz' von 1691 ist das Wort lexikalisch gebucht: „Rede- sive Wortspiel, allusio verbor[um]" (Stieler, 2088). Diskussionen der Aufklärung machen Wortspiel für einige Zeit beinahe zum Schimpfwort, das nun ein „spiel mit bloszen Worten" bezeichnet; erst die Romantik bereitet mit der erneuten Schätzung des Wortspiels dem rhetorischen Terminus Wortspiel die Bahn (DWb 30, 1622-1625). Er wird freilich bis heute bald im weiteren und bald im engeren Sinne (etwa: ,Amphibolie und/oder Paronomasie') verwendet. In seinen Ableitungen (Wortspielen, Wortspieler, Wortspielerei, wortspielerisch) behält das dt. Wort — anders als z. B. engl. pun, frz. jeu de mots — fast durchweg noch den pejorativen Sinn. Die öfters in ungefähr gleichem Sinne anzutreffende Redeweise vom „Sprachspiel" (als ,Sprachspielerei' oder ,verbales Spiel') sollte hingegen wegen der anders besetzten philosophischen Kategorie /" Sprachspiel tunlichst vermieden werden.

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Wortspiel

Georg Philipp Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele. Siebender Theil. Nürnberg 1647; sowie: Achter Theil. Nürnberg 1649, S. 60-67. G. P. H.: Poetischer Trichter. Zweyter Theil. Nürnberg 1648, S. 15 f. u n d f . N 8 f . - Kaspar Stieler: Teutscher Sprachschatz. Nürnberg 1691.

SachG: Das Wortspiel ist vielleicht nicht viel jünger als die Wörter selbst. Jedenfalls sind wortspielartige Fügungen bereits in den frühesten Werken der hebräischen und der griechischen Literatur zu finden: so das paronomastische 'ischi'isch-scha (,Mann7 ,Männin') in der ,Genesis' (2,23) oder das amphibolische ,oútis' (niemand!Niemand) in der .Odyssee' (9,366). Seitdem haben die Literaturen Europas sich zu keiner Zeit, trotz schwankender Bewertung, des Gebrauchs dieser Figur völlig enthalten. Hingegen haben ,manieristische' Autoren (in Deutschland etwa Fischart, Jean Paul, Arno Schmidt; / Manierismus) das Wortspiel geradezu gesucht. Unerschöpflich sind auch in dieser Hinsicht Shakespeares Dramen und die Romane von James Joyce. Teils der Sprachmagie und teils der f Sprachkritik gehorcht die Figur im Werk des Satirikers Karl Kraus. ForschG: Nachdem bereits die antike Rhetorik, mit langer Nachwirkung, eine Reihe von Stilfiguren, die heute unter den Begriff des Wortspiels fallen, zu praktischen Zwecken analysiert hat, haben im 19. Jh. Poetik und Ästhetik die Sache theoretisch zu erfassen gesucht: A. Bernhardt, Jean Paul (,Vorschule der Ästhetik', 1804), später Fr. Th. Vischer oder G. Gerber. Dem Grund des Vergnügens an Wortspielen sind Bergson anthropologisch (,Le rire', 1900) und Freud psychoanalytisch (,Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten', 1905) nachgegangen. Derselben Zeit entstammen auch die ersten Spezialuntersuchungen (Wurth zu Shakespeare; Mendelsohn zu Plautus; Eckertz zu Heine). Nach den ausgreifenden Studien von Empson (1930), Mautner (1931) und Klanfer (1936) haben sich seit den 1950er Jahren, meist im Zuge des ,linguistic turn' auch der Literaturwissenschaft (s Linguistische Poetik), allerlei Arbeiten zumal aus der Anglistik, Romanistik und Slavistik mit den im Wortspiel wirksamen

sprachlichen Mechanismen (besonders auch den Problemen seiner Übersetzung) befaßt. Die in diesem Zusammenhang entwickelten Typologien (vgl. Wagenknecht 1965, 9—22; Stingelin 1999) stimmen zumindest in der Auffassung überein, daß es zwischen horizontalen' und ,vertikalen' Wortspielen zu unterscheiden gilt. Eine Theorie des Wortspiels, die zugleich den allgemeinen und den (der jeweiligen Sprache gemäß) besonderen Zügen der Figur Rechnung trüge, steht noch aus. Lit: August F. Bernhardi: Sprachlehre. Berlin 1801 — 1803. - James Brown: Eight types of puns. In: PMLA 71 (1956), S. 14-26. - J. Christoph Bürgel: Lautsymbolik und funktionales Wortspiel bei Rumi. In: Der Islam 51 (1974), S. 261-281. David Crystal: Language play. London 21998. Jonathan Culler (Hg.): On puns. Oxford 1988. Erich Eckertz: Heine und sein Witz. Berlin 1908. — Eduard Eckhardt: Über Wortspiele. In: GRM 1 (1909), S. 674-690. - William Empson: Seven types of ambiguity. London 1930. - Bruno de Foucault: Les structures linguistiques de la genèse des jeux de mots. Bern, Frankfurt 1988. — Gerd Freidhof: Zur Typologisierung von Wortspielen mit Hilfe von oppositiven Merkmalen. In: Slavistische Linguistik 1983. Hg. v. Peter Rehder. München 1984, S. 9 - 3 7 . - Gustav Gerber: Die Sprache als Kunst. Bromberg 1871-1874, 2 1885. - Almuth Grésillon: La règle et le monstre: le mot-valise. Tübingen 1984. - Pierre Guiraud: Les jeux de mots. Paris 1976. — Franz Josef Hausmann: Studien zu einer Linguistik des Wortspiels. Tübingen 1974. - Frank Heibert: Das Wortspiel als Stilmittel und seine Übersetzung. Tübingen 1993. Louis G. Kelly: Punning and the linguistic sign. In: Linguistics 66 (1971), S. 5-11. - Julius Klanfer: Das Wortspiel und die komische Rede. In: ZÄAK 30 (1936), S. 209-234. - Eberhard Kreutzer: Sprache und Spiel im ,Ulysses' von James Joyce. Bonn 1969. — Molly M. Mahood: Shakespeare's wordplay. London 1957. - Franz Heinrich Mautner: Das Wortspiel und seine Bedeutung. In: DVjs 9 (1931), S. 679-710. - Charles Jastrow Mendelsohn: Studies in the word-play in Plautus. Philadelphia 1907. - Walter Redfern: Puns [1984], Repr. London 2000. - Willy Sanders: Wortspiel und Witz, linguistisch betrachtet. In: Gedenkschrift für Jost Trier. Hg. v. Hartmut Beckers und Hans Schwarz. Köln, Wien 1975, S. 211-228. Julius Schultz: Psychologie des Wortspiels. In: ZÄAK 21 (1927), S. 16-37. - Joseph T. Shipley: Word play. New York 1972. - Martin Stingelin: „Au quai?" - „Okay." Zur stilistischen Leistung des Wortspiels. Ein Forschungsbericht. In: Rheto-

Wunderbar rica movet. Hg. ν. Peter L. Oesterreich und Thomas S. Sloane. Leiden u.a. 1999, S. 447-470. Zygmunt Tecza: Das Wortspiel in der Übersetzung. Tübingen 1997. - Ulrike Timkovi: Das Wortspiel und seine Ubersetzung in slavische Sprachen. München 1990. - Friedrich Th. Vischer: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen. Leipzig 1846-1857. - Christian J. Wagenknecht: Das Wortspiel bei Karl Kraus. Göttingen 1965,

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2 1975. - Michael West: Transcendental wordplay. Athens, Ohio 2000. - Leopold Wurth: Das Wortspiel bei Shakspere [sie]. Wien, Leipzig 1895. Rüdiger Zymner: Manierismus. Paderborn 1995.

Christian

Wunderbar /

Wagenknecht

Phantastisch

χ Xenie

Epigramm

Xylographisch /" Blockbuch

Ζ

Zäsur Metrisch geregelter, meist zugleich syntaktischer, rezitatorisch realisierbarer Einschnitt im Versinneren. Expl: (1) Als Kategorie der /* Metrik bezeichnet Zäsur einen im jeweiligen s Versmaß festgelegten Einschnitt zwischen zwei Versfüßen, in der Regel durch obligaten Schluß eines s Kolons, mindestens aber durch obligaten Wortschluß an gleichbleibender Stelle des Verses (Wagenknecht, 139). Die traditionelle Metrik bezeichnet, analog zur s Kadenz, Zäsuren nach betonten Silben als stumpf oder männlich, solche nach unbetonten als klingend oder weiblich. (2) Davon zu unterscheiden ist die Zäsur als Kategorie der Rezitation (/" Deklamation). Der Lektüre- und Rezitationsfluß wird befördert, wenn ein Text in entsprechend begrenzte syntaktische Einheiten wie Satzglieder oder Satzglied-Ketten unterteilt ist (dazu Pöppel u.a. 1988, 1999). Die rhythmische Gliederung versifizierter Texte kann eine solche Unterteilung entweder widerspiegeln oder störend überlagern. Letzteres ist ζ. B. in der Regel bei ,Langzeilen' der Fall: Will ein Autor die sich bei Zeilen mit mehr als fünf Hebungen entstehenden Irritationspotentiale nicht aus übergeordneten künstlerischen Erwägungen heraus wirksam werden lassen, so muß er solche langen Verse erkennbar rhythmisch untergliedern. Diesem Zweck kann die Zäsur im Bereich der Zeilenmitte als punktuelle Parallelführung von rhythmischer und syntaktischer Versgliederung dienen. Wenn zum Beispiel im Pentameter (/" Distichon) eine feste Zäsur nach der dritten und vor der vierten Hebung Nebensätze oder Satzglieder (durch ,Hebungsprall') voneinander abtrennt, so läßt sich die Zeile dadurch insgesamt leichter aufnehmen.

Ist eine solche Zäsurstellung allerdings erst einmal konventionalisiert, so kann ein Konventionsbruch irritierender und damit gestalterisch wirkungsvoller sein, als ein gänzlicher Verzicht auf Zäsuren es jemals hätte sein können. Schon seit der Konventionalisierung der Zäsurstellungen im antiken Langvers bietet die Zäsur einem Autor demnach die Möglichkeit, solche Irritationspotentiale entweder zu eliminieren oder aber — etwa zur Aufmerksamkeitslenkung — zusätzlich zu verstärken. [Terminologisches Feld:] Eine Zäsur, die — wie in der deutschsprachigen Literatur üblich - nicht innerhalb eines Versfußes liegt, heißt seit der antiken Metrik DIÄRESE (auch: Dihärese, von griech. διαίρεσις [dihairesis] .Einteilung'; vgl. Knörrich, 42). HIAT (von lat. hiatus ,Kluft'): Zusammenprallen zweier Vokale im Aus- bzw. Anlaut aufeinander folgender Wörter (vgl. RL 2 1, 653-656), was traditionell nach Möglichkeit zu vermeiden ist, besonders durch Elision und andere / Metaplasmen (vgl. Pelz, Casali). WortG/BegrG: Dem im 17. Jh. (insbesondere ab Opitz 1624; Belegsammlung: Schulz-Basler 6, 312 f.) als metrischer Terminus in Anlehnung an lat. caesura .Einschnitt' eingedeutschten Fachausdruck Caesur bzw. Zäsur (Kluge-Seebold, 806) liegt die nur für die antike und antikisierende Dichtung gültige Vorstellung zugrunde, daß die normale Zäsur einen Versfuß in zwei Hälften zerteilt (lat. caedere ,hauen', .fällen'). Da im Dt. jedoch die meisten Zäsuren aus der Sicht der antiken Metriker Diäresen sind, zerteilt die manchmal auch als Schnitt oder Fuge bezeichnete Zäsur im Dt. in der Regel das Syntagma, markiert also die Kolon-Grenze zwischen Teilsätzen oder Satzgliedern.

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Zahlensymbolik

SachG: Die Poetik der Antike kannte genaue Vorschriften für die Plazierung von Zäsuren im Vers. So wurden im ? Hexameter insbesondere Penthemimeres (Schnitt nach der dritten Hebung), Kata triton trochaion (Schnitt nach der ersten Senkung des dritten Fußes) und Bukolische Diärese (Schnitt nach dem vierten Versfuß) bevorzugt. Innerhalb der deutschen Literatur war die Zäsur nur im mittelalterlichen ? Langvers (Schnitt zwischen An- und Ab vers), im barocken /" Alexandriner (Schnitt nach der sechsten Silbe) und in den f Oden und Distichen der Goethezeit ein künstlerisches Gestaltungsmittel von zentraler Bedeutung. Autoren wie Voß und Platen, aber auch Klopstock, Hölderlin und A. W. Schlegel bemühten sich intensiv um eine adäquate Übertragung antiker Zäsur-Stellungsregeln ins Deutsche. Im Hexameter setzten sie den Schnitt am häufigsten nach der ersten oder zweiten Silbe des dritten oder vierten Versfußes, so daß die — von Goethe allerdings geschätzte — Bukolische Diärese im Deutschen weniger üblich ist. ForschG: Die ältere deutsche Metrik konzentrierte sich unter Anknüpfung an die normative Poetik der Goethezeit auf die Frage der korrekten Rubrizierung und Plazierung von Zäsuren. Nach Minor unterteilt die Zäsur den Vers im Idealfall nach dem Gesetz des Goldenen Schnitts. Heusler, der die Einschnitte innerhalb des Pentameters, des mittelalterlichen Langverses und des Alexandriners nicht als Zäsuren, sondern als Versgrenzen interpretiert, formulierte detaillierte Vorschriften für die Zäsurstellung im deutschen Hexameter. Schon Saran, dessen unkonventionelle Neudefmitionen allerdings keine Akzeptanz fanden, warnte vor einer fortschrittshemmenden Verabsolutierung derartiger Normen und Gesetze. Folgerichtig verzichtet die neuere Versgeschichte (ζ. B. Breuer, Gasparov) weitgehend auf stilkritische Bewertungen und bemüht sich um eine deskriptive Erfassung der poetischen Praxis, die sich auch in Barock und Goethezeit vielfältiger darstellt, als es die normative Verstheorie lange Zeit wahrhaben wollte. Neben Pöppel u.a. lieferte wichtige kognitionspsychologische Studien (/" Script-

Theorie) zur Überlagerung von metrischrhythmischen und graphisch-syntaktischen Satzgliederungs-Signalen v. a. R. Tsur, der Shakespeare-Rezitationen phonetisch analysierte und feststellte, daß Zäsuren intonatorisch nicht nur durch Sprechpausen, sondern auch durch spezifische Veränderungen der Tonhöhe und der Lautstärke markiert werden können. Lit: Dieter Breuer: Deutsche Metrik und Versgeschichte. München 31994. - Roderic F. Casali: Resolving hiatus. New York 1998. — Michail L. Gasparov: A history of European versification [russ. 1989], Oxford 1996. - Andreas Heusler: Deutsche Versgeschichte. 3 Bde. Berlin, Leipzig 1925-1929. - Carola Hilmes, Dietrich Mathy (Hg.): Die Magie der Unterbrechung. Bielefeld 1999. - Otto Knörrich: Lexikon lyrischer Formen. Stuttgart 1992, v.a. S. 262-264. - Jakob Minor: Neuhochdeutsche Metrik. Straßburg 2 1902. - Josef Pelz: Der prosodische Hiat. Borna-Leipzig 1930. — Ernst Pöppel, Frederick Turner: Metered poetry, the brain and time. In: Beauty and the brain. Hg. v. David Epstein u. a. Basel u.a. 1988, S. 71-90. - E. P., Marc Wittmann: Neurobiologie des Lesens. In: Hb. Lesen. Hg. v. Bodo Franzmann u.a. München 1999, S. 224—239. — Franz Saran: Deutsche Verslehre. München 1907. — Reuven Tsur: Poetic rhythm. Bern 1998, bes. S. 113-139. - Christian Wagenknecht: Deutsche Metrik. München 31993. Jost

Zarzuela

Schneider

Operette

Zahlensymbolik Annahme einer allegorischen, ontologischen oder ästhetischen Bedeutung von Zahlen und ihren Relationen als Grundlage entsprechender Textauslegung und -komposition. Expl: Zahlensymbolische Konzepte begegnen ethnologisch vielfaltig faßbar in Gestalt stereotypen Gebrauchs der Grundzahlen 1 — 12 und ihrer Vielfachen. Der ursprüngliche Erfahrungshintergrund ist im stereotypen Gebrauch solcher Zahlen (z. B. sieben (Planeten) oder zwölf (Tierkreiszeichen) = Vollständigkeit) oft nicht mehr bewußt. Den arithme-

Zahlensymbolik tischen Beschaffenheiten der Zahlen wird über ein Tertium comparationis ein Verweischarakter auf nichtarithmetische Wesenheiten und Werte zugeschrieben: ζ. B. Geradzahligkeit = Gerechtigkeit; oder Geradzahligkeit vs. Ungeradzahligkeit = Weibliches/ Schwäche vs. Männliches/Stärke. Das Verfahren gehört in den Bereich der Zeichentheorie (S Semiotik), im besonderen der Metaphorologie. Der Zahlen-^" Allegorese ist die Zahl selbst weder ontologisch noch ästhetisch relevant, wichtig sind nur ihre Akzidentien, insofern sie den Verweis auf eine nicht zahlhafte Entität ermöglichen. WortG: Das Wort ist jüngere Prägung. Symbolik wird im späten 18. Jh. von f Symbol2 abgeleitet (Schulz-Basler 4, 634). Das Kompositum Zahlensymbolik kommt offenbar erst um 1800 in Gebrauch. Einen der frühesten Belege dürfte ein Brief Goethes an Zelter vom 12. 12. 1812 darstellen (vgl. auch DWb 31, 58). Im Terminus Zahlensymbolik oder auch Zahlenmystik fließen die Aspekte von Zahlenontologie und Zahlenallegorese (Arithmologie, Numerologie) oft undifferenziert ineinander. Ebenso fehlt eine Differenzierung zwischen Zahlensymbolik und Zahlenkomposition, die zumeist, aber nicht notwendig, begrifflich wie sachlich zusammenfallen. BegrG: Aus der Reflexion zahlentheoretisch auffälliger Eigenschaften der Zahlen (gerade/ ungerade Zahlen, Prim-, Dreiecks-, Quadrat-, Kubikzahlen, .vollkommene Zahlen' (,numeri perfecti'), irrationale Zahlen, Zahlenreihen und -proportionen) entwickelt sich von den Vorsokratikern an bei den Griechen eine hochspekulative Ontologie der Zahl (Pythagoras, Platon, Aristoteles) mit dem Ziel, den Ursprung alles Seienden und zugleich alles kosmologisch Schönen in abstrakten, mathematisch-zahlhaften Entitäten zu fassen. Patristische und mittelalterliche Quellen sprechen von den my ster ia numerorum oder von numeri sacrati bei der Ding- und (biblischen) Textdeutung. Diese enthalten, ob explizit genannt oder latent im Text vorhanden, einen verborgenen allegorischen Sinn. Die Bedeutungen der Zahlen {significationes numerorum) als ,gesetzte Zeichen' (signa

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data), jedoch mit potentiell mehrfacher Bedeutung (signa translata·, s Sensus lateralis! spiritualis) sind — mit Augustin - in ihrem aktuellen Ding-, Situations- oder Textzusammenhang nach der axiomatischen Richtschnur des Liebesgebots zu entschlüsseln und das durch sie bedeutete Heilige begreiflich zu machen (,De doctrina Christiana', 2. Buch). Wo jedoch vom zahlhaften Wesen der Dinge gehandelt wird, da spricht die augustinische Tradition von den vestigia numerorum, die als Abglanz der rein noetischen Zahlen allem Erschaffenen eingeprägt seien und ihm seine geschöpfliche Schönheit verleihen. Diese .vestigia' werden nicht zeichentheoretisch-rhetorisch verstanden, sondern als ontisch real, als natürliche' Zeichen (signa naturalia; vgl. Hellgardt 1973, 157— 251). Ihr Sinn ist nicht verborgen, sondern offenkundig. Sie aktualisieren auch nicht je nach Sinnzusammenhang verschiedene Bedeutungen; ihr Sinn ist vielmehr stets der gleiche, nämlich auf den Ursprung aller Dinge und aller Schönheit im ewigen, räum- und zeitlosen, rein immateriellen Sein der Zahlen zu verweisen. Die (neu)platonische Ontologie und Ästhetik der Frühen Neuzeit setzt die christlich-augustinischen Voraussetzungen der Zahlensymbolik fort, erweitert sie jedoch vor allem um Traditionen des (Neu-) Pythagoreismus und der Kabbala. Diese führen im Rahmen einer synkretistischen .occulta philosophia' zu einer internen Diversifizierung der Zahlensymbolik, deren Grundzüge von Ficino bis an die Schwelle des 18. Jhs. und darüber hinaus (Novalis) bestehen bleiben. SachG: Bereits neuplatonisch-hellenistische Spekulation konzipiert, im Rückgriff auf vorsokratische Ursprünge, eine komplexe, jedoch eher kontemplativ-assoziative Zahlenallegorese (Speusippos, ,Theologumena arithmeticae'). Im Mittelalter wird die neuplatonische Ontologie der Zahl durch die philosopisch-theologischen Werke Augustine vermittelt, die Zahlenallegorese theoretisch durch seine in aristotelischer Tradition stehende Zeichentheorie (,De doctrina Christiana'), praktisch durch seine bibelexegetischen Schriften. Kataloge zur allegorischen Deutung biblischer Zahlen begegnen

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Zahlensymbolik

zuerst in der jüdischen ? Exegese bei Philon von Alexandria und werden christlich seit Eucherius von Lyon und dem irischen ,Liber numerorum, qui in sanctis scripturis occurrunt' eines Pseudo-Isidor greifbar. Vergleichbare Sammlungen entstehen bis in die Frühe Neuzeit. In den mittelalterlichpatristischen Quellen berufen sich sowohl die Ontologie und Ästhetik der Zahl als auch die Zahlenallegorese auf das biblische, neuplatonisch geprägte Zeugnis (Weish. 11,21[20]), wonach Gott alle Dinge nach Maßgabe von „Maß, Zahl und Gewicht" geschaffen hat. Öfter thematisieren mittelalterliche Dichtungen Zahlensymbolik (,Von der Siebenzahl'; Priester Arnold: .Siebenzahl'; Priester Wernher: ,Maria'); einfacher zahlenkompositorischer Bau nach ,runden' oder stereotypen Zahlen ist häufig offenkundig (,Annolied'; ,Auslegung des Vaterunsers'; Konrad von Würzburg: ,Die goldene Schmiede'). In der Frühen Neuzeit nimmt die Zahlensymbolik einen bedeutenden Aufschwung, vor allem dank einer Erweiterung arithmologischer Quellen. Im Werk und Umkreis Ficinos wird zunächst, teilweise im Rückgriff auf Cusanus, die genuin (neu)platonische Zahlensymbolik wiederbelebt. Mit ihr verbindet sich eine Renaissance des Pythagoreismus sowie im Zuge der auflebenden ,studia hebraica' der jüdischen Kabbala (Pico della Mirandola, Reuchlin) wie anderer okkulter Traditionen im Hermetismus und der ? Hieroglyphik. Der wirkmächtigste Strang der frühneuzeitlichen Zahlensymbolik geht von der Rezeption des Neupythagoreismus und seiner Spekulation um die Vier-, Zehn- und Siebenzahl (.tetraktys', ,dékas' bzw. ,hebdomás') aus. Dies führt auch zu einer intensiven Diskussion um Wesen und Theorie der Musik, die in pythagoreischer Tradition als Wissenschaft harmonischer Zahlenverhältnisse verstanden wird. Als Sammelbecken arithmologischen Wissens dienen ab dem 16. Jh. eine Reihe von viel benutzten Kompendien. An eine mittelalterliche Tradition allegorisierender Zahlenkataloge knüpfen die Traktate eines J. Clichtoveus (,De mystica numerorum significatione', 1513), G. Bruno (,De monade numero et figura', 1591) und Α. Kir-

cher (,Arithmologia: sive de abditis numerorum mysteriis'; 1665) an. In den .Numerorum mysteria' (1599) des P. Bungus, einem Schlüsselwerk für die Folgezeit, verbinden sich pseudo-ägyptische Hieroglyphenkunde, Mythenallegorese, Neupythagoreismus sowie philonische und kabbalistische Elemente. Ein zahlenspekulatives Kalkül findet sich in einer Vielzahl von Texten namentlich des 17. Jhs. (J. Pontanus, v. Spee, Grimmelshausen, Q. Kuhlmann, .Carmina cabbalistica'). An der Grenze zwischen Zahlensymbolik und Zahlenkomposition stehen Celtis' ,Quattuor libri Amorum secundum quattuor latera Germaniae' (,Vier Bücher Liebeselegien nach den vier Seiten Deutschlands'), deren Tetradenraster (vier Bücher Elegien nach vier Himmelsrichtungen, vier Geliebten, vier Temperamenten etc.) humoralpathologische, geographische und literarische Quaternare in pythagoreischem Geist verbindet (Einfluß von Reuchlins ,De verbo mirifico', 1494). Erst die Auflösung alteuropäischer Kosmologie und die Verdrängung theologischer Arithmologie durch fachwissenschaftliche Mathematik führen zum allmählichen Bedeutungsschwund der Zahlensymbolik. In neuerer Literatur kommt sie meist nur noch in zitathaft-spielerischer Wiederaufnahme spekulativer Traditionen zur Geltung. So etabliert Novalis noch einmal eine eigene Praxis wie Theorie der Zahlensymbolik, spielt Baudelaire in den ,Fleurs du mal' mit kabbalistischen und christlichen Traditionen. Bei George werden Schemata christlicher Zahlensymbolik für eine Ideologie esoterischer Heilserwartung des .Bundes' säkularisiert (,Der siebente Ring', ,Der Stern des Bundes'). Danach lassen sich allenfalls punktuell Dispositionen nach bedeutungshaltigen Zahlen feststellen (Hofmannsthal, Trakl; bis hin zur f Konkreten

Poesie).

ForschG: In der mediävistischen Forschung wurde, angefangen von Lachmann, die Frage nach Zahlensymbolik vor allem als Frage nach literarischen Zahlenkompositionen gestellt. Größte Intensität hatte dieser Forschungsansatz in den 1960er und 1970er Jahren (Eggers, Rathofer, Haubrichs). Zum

Zahlensymbolik Teil spezifizieren deren Forschungen die von J. Schwietering auf die mittelalterliche Literatur und Kunst übertragene theologisch-typologische Deutungsmethode; zum Teil knüpfen sie an die Auffassung von Curtius an, der Zahlenkomposition als „Ersatz für moderne Kompositionstechnik" (Curtius, 491-498, hier 492) verstanden hatte. Dabei geht es um die Aufdeckung zahlhafter Symmetrien und Proportionen. Den Kompositionszahlen kann eine allegorischsymbolische oder rein formalästhetische Qualität zuerkannt werden. Der Aufdekkung von Zahlenkompositionen werden über ihre ästhetische Bedeutung hinaus oft erhebliche Folgen für die textkritische Behandlung beigemessen. Zu Anfang der 1970er Jahre setzten methodenkritische Studien ein (Taeger, Hellgardt); sie machten auf eine Fülle überlieferungs-, rezeptions-, philosophie-, frömmigkeits- und theologiegeschichtlicher Probleme aufmerksam, die der Annahme hochkomplexer literarischer Zahlenkomposition in mittelalterlicher Literatur entgegenstehen. Parallel liefen, Ohlys Forschungen über die mittelalterliche Bedeutungskunde verpflichtet, monographische Arbeiten zur Tradition der Zahlenallegorese (Meyer 1975 sowie das große ,Lexikon der mittelalterlichen Zahlenbedeutungen' von Meyer/Suntrup, 1987). Ediert wurden zahlenallegorische Kataloge einer Gruppe viktorinisch-zisterziensischer Zahlenexegeten des 12. Jhs. durch Lange (1978-1981) und der Traktat ,De numeris misticis' von John Pecham (13. Jh.) durch Hughes (1985). Hinzu kommen die frühneuzeitlichen Zahlenkataloge in den Neudrucken der , Silva allegoriarum' des Hieronymus Lauretus durch Ohly (1971) und der ,Numerorum mysteria' des Petrus Bungus durch Ernst (1983) sowie die kommentierten Übersetzungen von G. Brunos ,De monade numero et figura' durch Samsonow/Mulsow (1991) und von Reuchlins ,De verbo mirifico' durch Ehlers u. a. (1996). Verstärkt fanden zuletzt Phänomene der Zahlensymbolik in moderner Dichtung Beachtung, so etwa in den Arbeiten von Schuff-Eppli (1998) zu Novalis, von Kleefeld (1996) zu Trakl, von Mathes (1982) zu

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Hofmannsthal und von Möller (1982) zu George. Grundlegend für die Rezeption des Pythagoreismus in der Frühen Neuzeit ist die Studie von Heninger (1974), die jedoch wesentlich auf die englische Literatur bezogen ist. Eine systematische Darstellung der frühneuzeitlichen und modernen Zahlensymbolik bleibt Desiderat. Lit: Arno Borst: Das mittelalterliche Zahlenkampfspiel. Heidelberg 1986. - Jean-Pierre Brach: La symbolique des nombres. Paris 1994. - Dieter Breuer: Die sinnreichen Siebzehn — Zahlenallegorese bei Grimmelshausen. In: Literatur und Kultur im deutschen Südwesten zwischen Renaissance und Aufklärung. Fs. Walter E. Schäfer. Hg. v. Wilhelm Kühlmann. Amsterdam u. a. 1995, S. 267-282. - Giordano Bruno: Über die Monas, die Zahl und die Figur als Elemente einer sehr geheimen Physik, Mathematik und Metaphysik. Hg. v. Elisabeth v. Samsonow. Kommentar v. Martin Mulsow. Hamburg 1991. — Petrus Bungus: Numerorum mysteria [1599], Repr. hg. v. Ulrich Ernst. Hildesheim 1983. - Hans Eggers: Symmetrie und Proportion epischen Erzählens. Stuttgart 1956. - Ulrich Ernst: Kontinuität und Transformation der mittelalterlichen Zahlensymbolik in der Renaissance. In: Euphorion 77 (1983), S. 247-325. - U.E.: Zahl und Maß in den Figurengedichten der Antike und des Frühmittelalters. In: Zimmermann 1983 f. 2, S. 310-332. - Jean Firges: Citation et date dans la poésie de Paul Celan. In: Réécritures: Heine, Kafka, Celan, Müller. Hg. ν. Lucien Calvié u. a. Grenoble 1989, S. 53-109. - Manfred Hardt: Zahlen in literarischen Texten. In: Arcadia 15 (1980), S. 225-241. - Wolfgang Haubrichs: Ordo als Form. Tübingen 1969. - Ernst Hellgardt: Zum Problem symbolbestimmter und formalästhetischer Zahlenkomposition in mittelalterlicher Literatur. München 1973. - E. H.: Zur allegorischen Auslegung der Zahlen im Mittelalter. In: ZfdA 119 (1990), S. 5 - 2 2 . - Simeon K. Heninger Jr.: Touches of sweet harmony. San Marino/Cal. 1974. - Gunther Kleefeld: Maß und Gesetz. Zahlenkompositorik in Georg Trakls Gedichtband .Sebastian im Traum'. In: Zyklische Kompositionsformen in Georg Trakls Dichtung. Hg. v. Károly Csúri. Tübingen 1996, S. 227-289. - Hanne Lange (Hg.): Traités du XII e siècle sur la symbolique des nombres. 2 Bde. Kopenhagen 1978, 1981. - H. L.: Les données mathématiques des traités du XII e siècle sur la symbolique des nombres. Kopenhagen 1979. — Hieronymus Lauretus: Silva allegoriarum totius sacrae scripturae [101681], Repr. hg. v. Friedrich Ohly. München 1971. — Jürg Mathes: Überlegungen zur

874

Zauberspruch

Verwendung der Zahlen in Hofmannsthals Erzählungen - ,Die 672. Nacht'. In: GRM 32 (1982), S. 202-214. - Heinz Meyer: Die Zahlenallegorese im Mittelalter. München 1975. — H. M., Rudolf Suntrup: Lexikon der mittelalterlichen Zahlenbedeutungen. München 1987. Joachim Möller: Zur Zahlensymbolik in Stefan Georges Gedichtband ,Der Stern des Bundes'. In: Neue Beiträge zur George-Forschung 7 (1982), S. 3 5 - 5 3 . - John Pecham: De numeris misticis. Hg. v. Barnabas Hughes. In: Archivum Franciscanum Historicum 78 (1985), S. 3 - 2 8 , 333-383. - Johannes Rathofer: Der Heliand. Köln, Graz 1962. - Johannes Reuchlin: De verbo mirifico. Das wundertätige Wort (1494). Hg. v. WiduWolfgang Ehlers u. a. Stuttgart-Bad Cannstatt 1996 [Sämtliche Werke 1/1], - Lawrence V. Ryan: Conrad Celtis' Carmen saeculare. In: Acta Conventus Neo-Latini Bononiensis. Hg. v. Richard J. Schoeck. Binghampton 1985, S. 592-606. - Karin Schuff-Eppli: Wortfiguren - Figurenworte. Theorie und Praxis des Zahlenkalküls in Texten Friedrich von Hardenbergs. Regensburg 1998. - Rudolf Suntrup: Zahlenbedeutung in der mittelalterlichen Liturgieallegorese. In: Archiv für Liturgiewissenschaft 26 (1984), S. 321-346. - Burkhard Taeger: Zahlensymbolik bei Hraban, bei Hincmar - und im ,Heliand'? München 1970. - David Wells: Das Lexikon der Zahlen. Nachrichten von VÏ7 bis 3TÎT3. Übers, v. Klaus Volkert. Frankfurt 1990. - Albert Zimmermann (Hg.): Mensura. Maß, Zahl, Zahlensymbolik im Mittelalter. 2 Halbde. Berlin, New York 1983 f.

Ernst Hellgardt / Jörg Robert

Zauberspruch Performative Textsorte, die kausal bedingte Abläufe von Geschehen zwingend verändern will. Expl: Der Zauberspruch bedient sich der Sprache als eines magischen Instruments, um in das kausale Geschehen entweder selbst als wirkende Kraft oder durch Vermittlung solcher Kräfte oder übernatürlicher Wesenheiten (Götter, Engel, Heilige, Dämonen usw.) eingreifen und gute oder böse Wirkungen erzielen zu können. Zaubersprüche sind meistens eingebettet in Zauberhandlungen oder -rituale, die weitere Hilfsmittel wie heilige Texte, Bilder, Gebär-

den, Symbole, Amulette, Reliquien, Zaubergegenstände usw. zur Verstärkung der Wirkung nutzen. Die Handlungen werden ausgeführt von .wissenden' Personen, sind also Teil eines dem Anspruch nach rationalen Handelns. Der Zauberspruch ist in verschiedenen Funktionsbereichen schwer abzugrenzen von anderen Textsorten wie ,Segen' (zielend auf Heilung, Bewahrung), R e zept' (zielend auf Heilungshandlungen mittels Substanzen) oder ,Fluch' (zielend auf Abwehr, Bannung, Schaden). WortG: Zauberspruch ist im ersten Bestandteil zusammengesetzt aus dem Wort Zauber, mhd. zouber, ahd. zoubar, abzuleiten von germanisch *taubrä- ,Zauber'. Die Ableitung der Bedeutung dieses Wortes vom Brauch der Einfarbung von Zauberrunen auf der Grundlage der altenglischen Sonderbedeutung des sprachlich analogen teafor ,Rötel' ist umstritten (Kluge-Seebold 23 , 904). Das Bedeutungsspektrum von ahd. zoubar umfaßte sowohl,Zauberhandlung' (maleficium : zaupor bereits im ,Abrogans', 8. Jh.) als auch ,Zaubermittel', ,Zaubertext' und ,Zauberwirkung'. Das präzisierende Zauberspruch ist erst spät (1691) bei Stieler (Sp. 2104) gebucht. Andere text-, sprachund schriftbezogene Zusammensetzungen sind schon früher belegt wie zoubargiscrip ,phylacterium', ,Amulett' bereits im Ahd. oder später zobersegen (H. Steinhöwel: ,Von den synnrychen erlúchten wyben', 1472), zouberwort (Konrad Fleck: ,Flore und Blanscheflur', um 1220, v. 2020), zouber briefelín (Hugo von Trimberg: ,Der Renner', 1300, v. 16752) und für das 15. Jh. zoubermaere, zouberschrift, zouberbuoch. Caspar Stieler: Der Teutschen Sprache Stammbaum und Fortwachs [1691]. 3 Bde. Repr. München 1968.

BegrG: Im frühen Mittelalter wurden neben zoubar für die sprachlich-textlichen Aspekte von lat. incantatio und carmen (vgl. frz. charme) weitere Wörter verwendet (vgl. Wesche), z. B. das Lehnwort ahd. garminôn aus carminare ,Zauber singen, sprechen'; ahd. galdar, ae. gealdor und ahd. galstar .Zauberspruch, -lied' zu ahd. galan ,singen', .beschwören' (vgl. ahd. nahta-gala ,Nachti-

Zauberspruch gall'); helliruna : necromantia ,schwarze Magie', leodruna .Liedzauberin' zu rûnôn G e heimnis sprechen',,raunen'. Von Anfang an konkurrierte, wenn auch vorwiegend im Bereich der ,weißen', der heilenden und schadenabwehrenden Magie, die sich an kirchlichen Weiheformeln orientieren konnte, das Wort Segen, ahd. segan, ae. segri, das an die Schaden abwehrende und Heil stiftende Bedeutung des Kreuzes als signum anknüpfte. Die Zusammenfassung der unterschiedlichen Texte, die eine magische Kausalwirkung beanspruchen, zum ,Zauberspruch' erfolgt in einer Zeit, in der dieser Anspruch von Gebildeten und Theologen nicht mehr ernstgenommen und unter ,Aberglauben' verbucht wird, was freilich für die illiteraten Schichten nicht gilt. Als ,magisches Wort', das die Wirklichkeit auf einen Schlag verändern und verzaubern kann, überlebt das Konzept metaphorisiert in der romantischen Poetik. SachG: Die Geschichte des Zauberspruchs ist geprägt von einer großen Konstanz der Typen und Funktionen. Den Themen und dem Aufbau nach werden nah verwandte Formen von der Spätantike bis in die späte Neuzeit tradiert und angewandt. Nicht zuletzt trugen zur Konstanz der Überlieferung auch Sammlungen bei, die im frühen Mittelalter liturgischen und pastoralen Gebrauchsbüchern beigegeben wurden, somit die Mitwirkung von Klerikern als Überlieferungsträgern und wohl auch als Praktikanten bezeugen, häufiger aber auch Bestandteile von Rezeptbüchern waren. Seit der Frühen Neuzeit gibt es Zauberbücher wie das ,7. Buch Mosis' bzw. das ,Romanusbüchlein' (Spamer), beide bis heute nachgedruckt. Aufgrund der großen Konstanz der Textsorte ,Zauberspruch' ist es sinnvoll, ihre Typologie an Funktionen und Formen zu orientieren. An Funktionen lassen sich etwa nachweisen: Schutz und Abwehr, Bannung (ζ. Β. ,Lorscher Bienensegen') und Lösung (z.B. ,1. Merseburger Zauberspruch'), Heilung von Krankheiten und Gebrechen (z. B. ,2. Merseburger Zauberspruch'), Exorzismen, Verfluchung, Schadenzauber, Wetterzauber, Liebeszauber, Waffenzauber und -segen, Reise- und Ausfahrtssegen usw.

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Den Formen nach unterscheidet man Typen des Aufbaus, die zugleich auch Wirkungstypen sind. Die eingliedrigen Zaubersprüche sind im Grunde Befehle oder Bitten an die wirkmächtige Kraft (z. B. Krankheitsdämonen, Krankheitswürmer, Engel, Heilige usw.), etwa „gang uz Nesso" (,Geh heraus, Nesso [d. h. Wurm]'), wobei die beschworene Kraft direkt angeredet und damit dem Willen des Zaubernden unterworfen wird. Im zweigliedrigen Spruch wird eine Vorbildhandlung erzählt, in der die Zauberhandlung schon einmal erfolgreich vollzogen wurde. Nun soll sich die Wirkung analog erneuern (so etwa im ,2. Merseburger Zauberspruch', 10. Jh.). Dabei kann die Formel, der Zauberbefehl selbst, wieder in gebundener Form mehrgliedrig — zur Erhöhung der Wirksamkeit — und in detaillierter Präzisierung gegeben werden. Während die genannten Typen in den unterschiedlichsten Kulturen seit den ältesten Zeiten anzutreffen sind und bis in die Frühe Neuzeit weite Verbreitung finden, gab es seit der Antike eine differenzierte Haltung gegenüber den Kausalitäts-Annahmen, die der Zauberei zugrunde liegen. Während germanische Volksrechte des frühen Mittelalters sie mit Leibes- und Lebensstrafen bedrohten, belegte die Kirche sie bis zum 13. Jh. nur mit kirchlichen Bußen. Für sie handelte es sich um Aberglauben, dem kein real existierendes Phänomen zugrunde lag. Erst als sich das christliche Wissen um Teufel und Dämonen mit dem volkstümlich weiter lebendigen Glauben an die Möglichkeit von Zauberei und Hexerei verband, wurden solche Praktiken im späten Mittelalter der Ketzerei gleichgestellt und weltliche Bestrafung für sie gefordert, die schließlich in den Hexenprozessen der Frühen Neuzeit durchgesetzt wurde. Die Angst vor der Wirkung von Zaubersprüchen wuchs seit dem Spätmittelalter (vgl. Johann Hartliebs ,Buch aller verbotenen Künste') und dann noch einmal in Reformation und Gegenreformation ebenso wie das Bemühen, ihre Verbreitung und Anwendung zu kontrollieren (/" Hexenliteratur). Charakteristisch ist das ,Faustbuch' von 1587: Es setzt weiterhin die Wirksam-

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Zauberspruch

keit von Zaubersprüchen voraus, unterdrückt jedoch ihre Wiedergabe im Text, angeblich um den christlichen Leser nicht in Versuchung zu bringen. Die Kritik am Dämonen· und Hexenglauben in der Frühen Neuzeit schließt diejenige an der Wirksamkeit von Zaubersprüchen ein. Diese werden zunehmend als Zeichen für den Aberglauben des ungebildeten Volkes gewertet und als besonders drastische Beispiele antirationalistischen Denkens verspottet (/" Aufklärung). Damit sinkt der Zauberspruch in den illiteraten Untergrund ab. Er wird zum Gegenstand antiquarisch-volkskundlicher Sammlungen (z.B. seit 1907 im CSB, dem .Corpus der deutschen Segen und Beschwörungsformeln' mit 28 000 Einträgen). ForschG: Im Vordergrund der philologischen und volkskundlichen Forschung standen vorwiegend die mittelalterlichen, vor allem die ahd. Zaubersprüche und ihre Verwandten, ferner die Typologie des von Volkskunde und Ethnologie gesammelten Materials. Es fehlt dagegen bisher an der frömmigkeitsgeschichtlichen Erschließung und an einer präziseren funktions- und wirkungsgeschichtlichen Einordnung der Texte. Ethnologische Forschungen zum .archaischen' Denken und religionsgeschichtliche Fragestellungen (Bertholet, Malinowski, Evans-Pritchard, Webster, Favret-Saada, Daxelmüller) sind bisher von der Philologie wenig aufgegriffen worden, müssen sich aber Fragen nach der Übertragbarkeit auf die komplexeren Gesellschaften des Mittelalters und der Neuzeit stellen und sind stets der Versuchung deduktiver Enthistorisierung der Formen ausgesetzt. Ein bemerkenswerter Versuch der Vermittlung zwischen Ethnologie und Philologie findet sich neuerdings bei M. Schulz (2000) in Auswertung des CSB. Lit: Elmar Bartsch: Die Sachbeschwörungen der römischen Liturgie. Münster 1967. - Alfred Bertholet: Die Macht der Schrift in Glauben und Aberglauben. Berlin 1949. — Christoph Daxelmüller: Zauberpraktiken. Zürich 1993. - Gerhard Eis: Altdeutsche Zaubersprüche. Berlin 1964. - Edward E. Evans-Pritchard: Hexerei, Orakel und Magie bei den Zande [1937]. Frankfurt 1988. - Jeanne Favret-Saada: Die Wörter,

der Zauber, der Tod. Frankfurt 1979. - Felix Genzmer: Germanische Zaubersprüche. In: GRM 32 (1950/51), S. 21-35. - Irmgard Hampp: Beschwörung, Segen, Gebet. Untersuchungen zum Zauberspruch aus dem Bereich der Volksheilkunde. Stuttgart 1961. - Dieter Harmening: Zauberei im Abendland. Würzburg 1991. — Wolfgang Haubrichs: Die Anfänge. Versuche volkssprachiger Schriftlichkeit im frühen Mittelalter (ca. 700-1050/60). Tübingen 21995, S. 342363, 376 f. - Ernst Hellgardt: Die deutschen Zaubersprüche und Segen im Kontext ihrer Überlieferung. In: Atti della Accademia Peloritana dei Pericolanti. Classe di Lettere, Filosofia e Belle Arti 71 (1995), Messina 1997, S. 5-62. Richard Kieckhefer: Magie im Mittelalter. München 1992. - Edith Kiessling: Zauberei in den germanischen Volksrechten. Jena 1941. — Eva Labouvie: Zauberei und Hexenwerk. Frankfurt 1991. - E. L.: Verbotene Künste. St. Ingbert 1992. - Bronislaw Malinowski: Magie, Wissenschaft und Religion [1948], Frankfurt 1973. Carol L. Miller: The Old High German and Old Saxon charms. Diss. Seattle 1963. - Hugo Moser: Vom Weingartner Reisesegen zu Waithers Ausfahrtsegen. Gereimte Gebetssegen des frühen und hohen Mittelalters. In: PBB 82, Sonderbd. (Halle 1961), S. 69-89. - Brian Murdoch: Peri hieres nousou: Approaches to the Old High German medical charms. In: ,mit regulu bithuungan'. Hg. v. John L. Flood und David N. Yeandle. Göppingen 1989, S. 142-160. - Β. M.: Drohtin uuerthe so! Funktionsweisen der altdeutschen Zaubersprüche. In: LitJb 32 (1991), S. 11 — 37. - Annette Niederhellmann: Arzt und Heilkunde in den frühmittelalterlichen Leges. Berlin 1983. — Alf Onnerfors: Zaubersprüche in Texten der römischen und frühmittelalterlichen Medizin. In: Mémoires 8. Hg. v. Centre Jean Palerne. Saint-Etienne 1988, S. 113-156. - Ferdinand Ohrt: ,Segen'. In: Handwb. des deutschen Aberglaubens. Hg. v. Hans Bächtold-Stäubli. Bd. 7. Berlin 1935/36, Sp. 1582-1620. - Leander Petzoldt (Hg.): Magie und Religion. Darmstadt 1978. - Ingrid Schröder: Niederdeutsche Zaubersprüche. In: Sprachformen. Fs. Dieter Stellmacher. Hg. v. Peter Wagener. Stuttgart 1999, S. 81-92. - Monika Schulz: Magie oder: Die Wiederherstellung der Ordnung. Frankfurt u. a. 2000. - M. S.: Beschwörungen im Mittelalter. Heidelberg 2003. - Ute Schwab: ,In sluthere bebunden'. In: Studien zum Altgermanischen. Fs. Heinrich Beck. Hg. v. Heiko Uecker. Berlin 1994, S. 554-583. - Adolf Spamer: Romanusbüchlein. Berlin 1958. - Heather Stuart, Friedrich Walla: Die Überlieferung der mittelalterlichen Segen. In: ZfdA 116 (1987), S. 53-79. - Hutton Webster:

Zeichen Magic. Stanford 1948. — Heinrich Wesche: Der ahd. Wortschatz im Gebiete des Zaubers und der Weissagung. Halle 1940.

Wolfgang Haubrichs

Zeichen Kleinste bedeutungstragende Einheit eines Verweisungssystems: sinnlich wahrnehmbare Größe, die als Träger von Bedeutung fungiert oder interpretiert wird. Expl: Zeichen sind intersubjektiv-konventionelle oder subjektiv-willkürliche Zuordnungen zwischen (a) materiellen Zeichenkörpern (SIGNIFIKANTEN, signifiant) und (b) einer /" Bedeutung (SIGNIFIKAT, signifié). Die Signifikanten sind dabei ζ. B. akustisch (Sprachlaute, Musiktöne, Sirenengeräusche) oder auch optisch wahrnehmbar (gestische, S mimische2, S proxemische Zeichen; Schriftzeichen, Bilder der Malerei oder des Films, Piktogramme, Verkehrszeichen; soziale, politische, religiöse Symbole). Wie Signifikanten (z.B. Lexeme der Sprache) als Kombinationen aus bedeutungsdifferenzierenden Elementen (ζ. B. Phoneme, Morpheme) analysiert werden können, lassen sich Signifikate ihrerseits als Kombinationen aus semantischen Merkmalen beschreiben. Zeichen(systeme) sind eine der konstitutiven Bedingungen von s Kommunikation: Im Normalfall wählt ein (menschlicher) Sender aus einem Zeichensystem als REPERTOIRE (ζ. B. der natürlichen Sprache, dem gestisch-mimischen System einer Kultur, einer formalen Sprache der Logik oder Informatik) Zeichen aus (,Paradigma': f Selektion, s Äquivalenzprinzip) und verknüpft sie nach den syntaktischen, semantischen, pragmatischen Regeln dieses Systems zu bedeutungstragenden Äußerungen (.Syntagma': Kombination, s Selektion). Diese /" Botschaft dechiffriert ein (menschlicher) Empfanger nach eben diesen Regeln (/" Code); der Empfanger hat seinerseits die Wahl, ob und wie er auf die Äußerung reagiert — ζ. B. ebenfalls durch eine zeichenhafte Äußerung oder durch eine nicht-

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zeichenhafte Handlung. Mittels der geäußerten Bedeutungen kann auf reale oder irreale, materielle oder immaterielle O b jekte' (Referenten) außerhalb oder innerhalb der Äußerungen selbst Bezug genommen werden (/" Referenz). Innerhalb einer Äußerung können Zeichen verschiedener Zeichensysteme kombiniert werden (ζ. B. verbale und non-verbale Zeichen in mündlicher Kommunikation; Theater, Film, Comic, Werbung). Aufgrund der jeweiligen Struktur ihrer Signifikanten und deren Korrelation mit Signifikaten erbringen unterschiedliche Zeichensysteme unterschiedliche Leistungen (z.B. sprachliche, bildliche, musikalische Äußerungen). Die natürliche Sprache hat einen Sonderstatus unter den Zeichensystemen, insofern sie für sich selbst und für alle anderen Zeichensysteme als Metasprache (S Terminologie) fungieren kann, mit Hilfe derer Zeichensysteme eingeführt, ihre Struktur diskutiert, ihre Bedeutungen abgebildet werden können (z. B. differenziert nach Denotation und /" Konnotation). Zeichen(systeme) und zeichenhafte Äußerungen sind Gegenstand der / Semiotik. Von den ,Zeichen' im engeren Sinne sind ,Signale' und ,Anzeichen' zu unterscheiden, die wegen ihrer vielfaltigen Kooperationen mit den Zeichen im engeren Sinne nicht grundsätzlich aus der Semiotik ausgeschlossen werden können. [Terminologisches Feld:] SIGNAL: D u r c h menschliche (z.B. C o m -

puter-/Maschinenbenutzer) oder nichtmenschliche Sender (technische oder biologische Systeme) ausgelöste chemisch-physikalische Reize, die für das nicht-menschliche Empfangersystem eine (von diesem automatisch ,decodierte') /* Information transportieren, durch die wiederum automatische (alternativenlose) Reaktionen ausgelöst werden; so in biologischen Systemen z. B. Informationsvergabe durch Gene bzw. biochemische Botenstoffe, im technischen Bereich etwa computergesteuerte Systeme. Bei der Interaktion zwischen Mensch und Computer sendet bzw. empfangt der Benutzer .Zeichen', die Maschine hingegen ,Signale'; sie transformiert Zeichen in Signale bzw. Signale in Zeichen. Ähnliche Umwandlungen

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Zeichen

finden bei menschlicher Kommunikation mittels technischer Systeme statt (ζ. B. Fernsehen, Telefon, CD, Diskette, E-Mail). ANZEICHEN: Durch menschliche (ζ. B. Rauch aus Herd oder Zigarette) oder nichtmenschliche Ereignisse (z.B. Rauch durch Waldbrand) ausgelöstes chemisch-physikalisches Phänomen, das von sich aus keine Information transportiert, aber vom menschlichen Empfanger aufgrund von Kausalitäts-Annahmen (,wo Rauch ist, ist auch Feuer') interpretiert werden kann als Indikator (INDEX, S.U.) u n d als S y m p t o m

etwa für physikalisch-technische Sachverhalte (z.B. Anzeige eines Meßgeräts), für medizinisch-biologische (ζ. B. Schweißausbruch als Anzeichen für Fieber) oder auch für psychisch-soziale Sachverhalte (ζ. B. Erröten als Anzeichen für Scham; Getreidepreis als sozialgeschichtlicher Indikator; Ruinen als Monumente vergangener Kultur). Für einen technischen Detektor wie den Rauchmelder ist Rauch ein ,Signal', für einen menschlichen Betrachter ist er ein .Anzeichen'; wenn hingegen die Erzeugung von Rauch einer menschlichen Codierung unterworfen ist, handelt es sich um (ζ. B. indianische Rauch-),Zeichen'. Von den primären semiotischen Systemen (Zeichensystemen und Äußerungen, die sich dieser bedienen) sind zu unterscheiden: SEKUNDÄRE

SEMIOTISCHE

SYSTEME:

Ein

solches liegt vor, wenn sich ein semiotisches System eines primären Zeichensystems (ζ. B. der natürlichen Sprache) bedient, dieses aber partiell transformiert, indem es primäre Signifikate partiell semantisch verändert (Ζ. B. durch informative ÜBERDETERMINIERUNG statt einfacher DETERMINIERUNG ihres Sinngehalts; /" Überdetermination) oder zu sekundären Signifikanten für neue Signifikate macht iy Bedeutungsaufbau). Zu den sekundären Systemen gehört insgesamt die Literatur (Lotman 1972), die mittels der natürlichen Sprache epochen- oder textspezifische Zeichensysteme entwickeln kann. WortG: Auf eine indoeuropäische Wurzel zurückgehend und schon als ahd. zeihhan und mhd. zeichen belegt (Kluge-Seebold,

807), bedeutet das Lexem seit jeher alle Arten von Zeichen inklusive der An-, Vor- und Wunderzeichen (DWb 31, 476-488). Annähernd bedeutungsgleiche Lexeme finden sich im indoeuropäischen Sprachgebiet, wobei in der Antike griech. σήμα [sèma] bzw. σημεΐον [semeíon] bzw. lat. signum dieselbe Bedeutungsbreite zu haben scheinen. BegrG: Schon der antiken /" Rhetorik (ζ. B. Aristoteles, Quintilian; vgl. Piatons ,Kratylos') liegt eigentlich eine semiotische Teiltheorie für sprachliche Phänomene zugrunde. Dabei impliziert die grundlegende Opposition von res und verba, von ,Sachen' und den .Wörtern' dafür (Quintilian 3,5,1), daß nicht zwischen .Signifikat' und .Referenten' unterschieden wird, was überwiegend bis in die Spätscholastik zu gelten scheint. Zunächst gibt es noch keinen theoretischen Oberbegriff für alle sprachliche und nicht-sprachliche Zeichenhaftigkeit: Signum bedeutet in der Rhetorik das juristisch beweiskräftige Anzeichen oder l i gnum naturale', das Indiz (vgl. Quintilian 5,9,1; 5,9,9). Auch Mittelalter (z.B. Roger Bacon: ,De signis', ca. 1267) und Frühe Neuzeit bringen teilweise explizite oder implizite semiotische Teiltheorien hervor — z. B. eine medizinische Theorie der diagnostischen, prognostischen, anamnestischen (An-) Zeichen. Wenngleich der Oberbegriff ,Zeichen' bereits theoretisch gedacht werden kann (z. B. in der einflußreichen l o gique de Port-Royal'; vgl. die Zusätze zu Arnauld/Nicole 51683), scheint er erst mit der Genese der modernen Semiotik im späten 19. und 20. Jh. zum theoretischen Objekt geworden zu sein. In den Theoriedebatten des ? Poststrukturalismus, der auch eine zeichentheoretische Komponente hat, wird (besonders bei Derrida; vgl. Nöth, 53-55) postuliert, daß sich die Bedeutung eines Zeichen nicht aus einem Akt der Zuordnung ergibt, sondern aus der universellen Differenz (s Grammatologie) der Signifikanten untereinander. Insofern wird die Annahme eines .transzendentalen Signifikats' bestritten (s Dekonstruktiori). Antoine Arnauld, Pierre Nicole: La logique ou l'art de penser [1662], Paris 51683.

Zeichen SachG: Semiotische Systeme sind konstitutiv für Gesellschaften bzw. Kulturen: Praktisch alle menschlichen Aktivitäten sind entweder gänzlich oder teilweise semiotische, d. h. von Zeichenhandlungen begleitet oder in solche eingebettet. Neben der natürlichen Sprache, den gestischen, mimischen, proxemischen Systemen (vgl. Hall), den mythischen, religiösen, philosophischen, wissenschaftlichen Zeichensystemen der Welt- und Selbstinterpretation stehen die Zeichensysteme des gesellschaftlichen Umgangs (je nach sozialer Gleichheit bzw. Ungleichheit) oder des Umgangs in freundschaftlichen bzw. erotischen Relationen: soziale und ideologische (politische, religiöse u.a.) Selbstbzw. Fremdzuordnung oder aber -ausgrenzung (vgl. Bourdieu, Schulze), z. B. durch Verhaltens- und Bekleidungs-Codes (z.B. Müller/Sottong 1993) oder auch durch kulinarische Codes (vgl. Lévi-Strauss, Karmasin 1999); zeichenhafte Selbstdarstellung etwa durch die Wahl einer Automarke, wie sie in unserer Gesellschaft vor allem durch Medien oder Werbung vermittelt werden (vgl. Karmasin 1993). Die historischen Kulturen und Epochen unterscheiden sich nicht nur durch ihre Zeichensysteme und semiotischen Praktiken, sondern auch durch ihre expliziten oder impliziten semiotischen Theorien (vgl. Foucault und seine /" Archäologie des Wissens', generell zur Geschichte semiotischer Praktiken und Theorien vgl. RL 2 4, 965-976, sowie die Beiträge in Posner u. a.): so z. B. die Zeichenkonzeption der klassischen Rhetorik oder in Aufklärung und Goethezeit Theorien des S Symbols2 (vgl. Todorov, Titzmann 1978; ? AUegorie2); von grundsätzlicher Bedeutung für den Zeichenbegriff waren auch die schon im Mittelalter (u. a. Berengar von Tours vs. Lanfrank; vgl. Flasch, 38—49) und erneut zwischen der katholischen, der lutherischen und der calvinistischen Auffassung geführten Diskussionen über die semiotische Operation der ,Wandlung' im christlichen Abendmahl. Das /" Literatursystem im Sinne von Literatur (3) ist nun nur ein spezielles (sekundäres) System von Zeichen, für dessen Äußerungen bzw. Texte gilt:

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(1) Der Text bedient sich (mindestens) einer natürlichen Sprache; er kann sich auch mehrerer Sprachen, diachron verschiedener Sprachzustände ( / Diachronie) und synchron verschiedener Sprachvarianten (Dialekte, Soziolekte) bedienen. (2) Jede Texttradierung erfordert auch nicht-sprachliche Zeichensysteme: In mündlicher Tradierung bedient sich der Text zudem der semiotischen Systeme des Vortrags (Rezitation, S Deklamation), in schriftlicher des Systems einer ? Schrift (eventuell mit wiederum zeichenhafter Wahl zwischen Schrifttypen usw.; / Typographie) bzw. elektronischer Aufzeichnungssysteme (vgl. z. B. /" Hypertext). (3) Der Text kann in sich auch nicht lautsprachliche Segmente enthalten: z. B. /" Illustrationen, Zeichnungen, Schemata, Notenschrift, Passagen in formalen Sprachen usw. (4) Der Text kann im Rahmen einer Realisation oder / Inszenierung mit zusätzlichen nicht-sprachlichen Zeichen koexistieren oder interagieren (z. B. /" Theater, s Oper, s Verfilmung usw.). (5) Der Text kann sich nicht nur verschiedener semiotischer Systeme bzw. Praktiken bedienen bzw. mit solchen interagieren, sondern sie auch darstellen: In den von literarischen Texten entworfenen Möglichen Welten können alle in der Epoche verfügbaren Zeichen und Zeichensysteme (etwa anhand anthropomorpher Personifikationen) vorkommen: Auch wenn sie nonverbal sind, können sie doch verbal abgebildet werden (z. B.: „er fragte, ob ...; sie nickte"). (6) Der Text kann sowohl auf der Ebene der Sprechinstanz wie auf der Ebene der Figuren semiotische Theorien implizit enthalten oder explizit äußern und diskutieren (.Rekursivität, S Potenzierung). (7) Aus den Zeichensystemen, die er verwendet, mit denen er interagiert, die er darstellt oder diskutiert, konstruiert der literarische Text ein — epochen-, gattungs- oder textspezifisches — sekundäres semiotisches System. Kurt Flasch: Einführung in die Philosophie des Mittelalters. Darmstadt 2 1989.

ForschG: Selbständige Zeichentheorien mit dem Anspruch auf Generalisierbarkeit ent-

880

Zeilenstil

wickeln sich erst mit der Genese der Semiotik um 1900: wegbereitend bei Ch. S. Peirce, von Naturwissenschaft und Logik herkommend (ζ. B. Peirce 1903), und bei F. de Saussure, von der Linguistik herkommend (de Saussure 1916; ? Strukturalismus). Peirce entwarf u. a. komplexe Klassifikationen von Zeichentypen, darunter die stark nachwirkende Dreiteilung in (a) ,indexikalische' Zeichen (die als Anzeichen auf sie auslösende Ereignisse interpretiert werden: INDEX), (b),ikonische' Zeichen (die wie Bil-

der, Diagramme, Karten, Piktogramme die Struktur des Signifikats visuell abbilden: ICON) u n d (c) s y m b o l i s c h e ' Zeichen

(die

wie die Elemente der natürlichen oder formalen Sprachen auf ARBITRARITÄT beruhen, also konventionelle Setzungen sind:

der Zeichen [1903], Frankfurt 1983. - Roland Posner u. a. (Hg.): Semiotik. Ein Hb. zu den zeichentheoretischen Grundlagen von Natur und Kultur. 3 Bde. Berlin, New York 1997 ff. - Ulrich Ritter (Hg.): Zeichen und Symbole: Ursprung, Geschichte, Bedeutung. Köln 2000. - Ferdinand de Saussure: Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft [1916], Berlin 21967. - Gerhard Schulze: Die Erlebnisgesellschaft. Frankfurt, New York 1992. — Michael Titzmann: Strukturwandel der philosophischen Ästhetik 1800-1880: Der Symbolbegriff als Paradigma. München 1978. — M. T.: Theoretisch-methodologische Probleme einer Semiotik der Text-BildRelationen. In: Text und Bild, Bild und Text. Hg. v. Wolfgang Harms. Stuttgart 1990, S. 368-384. - Tzvetan Todorov: Symboltheorien [1977]. Tübingen 1995. - Markus Tomberg: Studien zur Bedeutung des Symbolbegriffs. Würzburg 2001.

Michael Titzmann

SYMBOLJ). Dagegen ging es de Saussure pri-

mär um Relationen von Zeichensystemen (,langue') und Äußerungen (,parole'), in späterer Terminologie ( / Generative Poetik) also um das Verhältnis von Kompetenz und Performanz (/* Linguistische Poetik). Zum Entwicklungsverlauf und Diskussionsstand vgl. Eco 1987 und 2000, Müller/Sottong 1998 sowie die einschlägigen Artikel bei Posner u.a. 1997ff. Lit: Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede [1979], Frankfurt 1987. - Umberto Eco: Semiotik. Entwurf einer Theorie der Zeichen [1976]. München 1987. - U. E.: Zeichen. Einführung in einen Begriff und seine Geschichte. Frankfurt ,6 2000. - Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge [1966]. Frankfurt 1971. - Edward James Furton: A medieval semiotic. New York 1995. Albertine Gaur, Rosemary Sassoon: Signs, symbols and icons. Exeter 1997. - Edward T. Hall: Die Sprache des Raumes [1966]. Düsseldorf 1976. — Anne Hénault: Histoire de la sémiotique. Paris 1992. - Helene Karmasin: Produkte als Botschaft. Wien 1993. - Η. Κ.: Die geheime Botschaft unserer Speisen. München 1999. - Claude Lévi-Strauss: Das Rohe und das Gekochte [1964], Frankfurt 1971. - Jurij M. Lotman: Die Struktur literarischer Texte. München 1972. — J. M. L.: Über die Semiosphäre. In: Zs. für Semiotik 12.4 (1990), S. 287-306. - Michael Müller, Hermann Sottong: Der symbolische Rausch und der Kode. Zeichenfunktionen und ihre Neutralisierung. Tübingen 1993. - M. M., H. S.: Zwischen Sender und Empfänger. Berlin 1998. — Winfried Nöth: Hb. der Semiotik. Stuttgart 2 2000. - Charles S. Peirce: Phänomen und Logik

Zeichensetzung

Interpunktion

Zeilensprung ? Enjambement Zeilenstil Kongruenz von syntaktischen und metrischen Einheiten. £xpl: Syntaktische und metrische Einheiten sind kongruent, wenn Vers- und Satzgrenzen zusammenfallen. Man spricht von strengem Zeilenstil, wenn jeder Vers einen vollständigen Satz enthält, von erweitertem oder freiem Zeilenstil, wenn Sätze über mehrere Verse reichen und der einzelne Vers jeweils eine syntaktisch-artikulatorisch abgegrenzte Einheit (>" Kolon) umfaßt. WortG/BegrG: Der Terminus Zeilenstil ist geläufig seit den Forschungen A. Heuslers zur Stabreimdichtung. Er bezeichnet den Gegenbegriff zu allen Techniken des Versoder Zeilensprungs wie dem HAKENSTIL bzw. dem von ihm so genannten BOGENSTIL in der Stabreimdichtung, dem Reimbrechen in der mittelalterlichen höfischen Erzähldichtung oder dem s Enjambement in der Versdichtung allgemein. SachG: Der strenge Zeilenstil gilt als entwicklungsgeschichtlich ursprüngliche Form

Zeitroman der Versrede (y Zauberspruch, s Merkvers, /" Heldendichtung etc.). Die syntaktische Verkettung mehrerer Verse im Haken- oder Bogenstil der westgermanischen s Stabreim-Dichtung, im erweiterten oder freien Zeilenstil der mittelalterlichen Erzähldichtung in Reimpaaren und vor allem durch die Technik des Enjambements scheint der Stützung durch die Schrift zu bedürfen und damit stärker literarisch geprägt zu sein. Die Auflockerung des Zeilenstils ist abhängig von der Versform. Langverse begünstigen den Zeilenstil, während Kurzverse über den strengen Zeilenstil hinausdrängen. Bis in die 2. Hälfte des 12. Jhs. ist der Zeilenstil sowohl in der Erzähldichtung (so noch im deutschen .Rolandslied' des Pfaffen Konrad und im ,Eneasroman' Heinrichs von Veldeke) wie in der Lieddichtung (besonders im donauländischen Minnesang) die Regel. Mit der Artifizialisierung der Verstechnik im Minnesang (seit Friedrich von Hausen) und im höfischen Roman (seit Hartmann von Aue) wird das Enjambement immer häufiger. Allerdings ist das kein ungebrochen fortschreitender Entwicklungsprozeß. Zeilenstil ist deshalb nicht lediglich ein Residuum von Traditionalität (.Nibelungenlied'), sondern bleibt die natürlichste Form der Versrede. Er kann aber auch sehr bewußt als Kunstmittel eingesetzt werden. In der mittelalterlichen Dichtung findet der Zeilenstil in Verbindung mit dem Langvers in archaisierender Absicht Verwendung (so wohl in der .Elegie' Walthers von der Vogelweide). In der neueren Dichtung hat der Zeilenstil sehr unterschiedliche Ausdrucksfunktionen zwischen Naivität (Lieddichtung), Ironie (Heine: ,Buch der Lieder') und Pathos (Wilhelm Müller: ,Lieder der Griechen'). Im Versdrama des 20. Jhs. dient der Zeilenstil der Herstellung eines gebrochenen .Volkstons' (Brecht: .Arturo Ui'; P. Weiß: .Mackinpott', ,Marat'). — Im z1 Alexandriner ist der Zeilenstil durchweg üblich geblieben und hat durch seine Monotonie zur Entwertung dieses Versmaßes in der deutschen Literatur beigetragen. ForschG: Heusler hat die Auflockerung oder Auflösung des Zeilenstils durch den Bogenstil in der westgermanischen Stab-

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reimdichtung als den Übergang vom Liedstil zum Epenstil beschrieben. Das ist ebenso problematisch wie die Verallgemeinerung des Begriffs ,Zeilenstil' zu einer universell anwendbaren poetologischen Beschreibungskategorie. In der Regel sind poetische Texte nicht durch nur eines der beiden Prinzipien gekennzeichnet, sondern sie wechseln zwischen den verschiedenen Möglichkeiten. Im Einzelfall sind deshalb nicht systematische, sondern nur interpretative Auskünfte sinnvoll. Lit: Dieter Breuer: Deutsche Metrik und Versgeschichte. München 31994. - Andreas Heusler: Heliand, Liedstil und Epenstil. In: ZfdA 57 (1920), S. 1 - 4 8 . - A. H.: Deutsche Versgeschichte. 3 Bde. Berlin, Leipzig 1925-1929. Werner Hoffmann: Altdeutsche Metrik. Stuttgart 2 1981. — Klaus von See: Germanische Verskunst. Stuttgart 1967. - Eduard Sievers: Altgermanische Metrik. Halle 1893. — Christian Wagenknecht: Deutsche Metrik. München 31993.

Dieter Kartschoke

Zeitdeckung /" Erzähltempo Zeitdehnung

Erzähltempo

Zeitgerüst S Erzähltempo Zeitroman Untergattung des Romans seit dem ausgehenden 18. Jh. Expl: Im Gegensatz zum Individuairoman ( /* Bildungsroman) konstituiert sich der Zeitroman durch Darstellung und Kritik der politischen und/oder sozialen Zeitgeschichte als literarischer Versuch eines (dokumentarischen oder fiktionalen) Bildes der Zeit in ihren Voraussetzungen, Grundzügen und Entwicklungen. Dieser historische Blick auf die eigene Gegenwart bringt unterschiedliche Strukturmodelle des Erzählens hervor, die von Transformationen des Individual- und Familienromans (,Held' bzw. .kleiner Zirkel' als Augenzeugen und/ oder Repräsentanten und Kritiker der Zeit-

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Zeitroman

tendenzen) bis zum sozialen bzw. Gesellschaftsroman reichen (Vielzahl gleichgewichtiger, repräsentativer Figuren und paralleler Handlungsstränge, soziale Kontrasttechnik, dialogische .Zeitbilder'). Die kritische Zeitreflexion kann von der Darstellung kollektiver Geschichtserfahrung als erlebter Zeitgeschichte ausgehen (politisch-historischer Zeitroman), unmittelbar am zeitgenössischen politischen Diskurs partizipieren (politischer Zeitroman) oder auf ein Totalbild der sozialen und kulturellen Strukturen und Entwicklungen der Epoche zielen (Epochenroman, Gesellschaftsroman). Der Wandel des Zeitbewußtseins und die Geschichte der Romanpoetik begründen fließende Übergänge v. a. zum Historischen Roman, zum Unterhaltungsroman und zum Individuairoman (Mischformen). WortG: Zwar nennt schon C. Brentano Arnims Roman ,Gräfin Dolores' (1810) beiläufig einen „großen Zeitroman" (Brief an Friedrich Carl v. Savigny vom 26. 9. 1809), doch setzt sich der Terminus erst im Gefolge von R. Gottschalls Literaturgeschichte (1855) und ,Poetik' (1858) gegen begrenztere Bezeichnungen wie Sittenroman und sozialer Roman durch. Rudolph Gottschall: Die deutsche Nationalliteratur in der ersten Hälfte des neunzehnten Jhs. Breslau 1855. - R. G.: Poetik. Breslau 1858.

BegrG: Vor dem Hintergrund der ,Verzeitlichung' (Koselleck) des Geschichtsdenkens und der Epochenschwelle der Französischen Revolution führt die Auffassung vom /" Roman als „Bruder der Geschichte" (Seybold 1, unpaginiert) um 1800 zu ersten Ansätzen einer Poetologie des .Zeitromans' als literarischer Reflexion des „Charakters der Zeit" (Hegner, V). Ein traditionsbildender poetologischer Diskurs über den Zeitroman entsteht allerdings erst nach 1830 durch die Neubegründung des Romans als „zeitgeschichtlicher Sittenroman" (Wienbarg, 257) im Jungen Deutschland (/" Vormärz). Die hier anschließende Auffassung des Romans als „Begleiter und Wortführer aller socialen Zustände und Veränderungen" (Brockhaus 1838 1, 962) begründet den Zeitroman als „Kulturgemälde der Gegenwart" (Gottschall 1891/92 4, 387) und mündet in Gutz-

kows „Roman des Nebeneinanders" als Ablösung des epischen „Nacheinanders" (Gutzkow 1, 6 f.). [Brockhaus] Conversations-Lexikon der Gegenwart. 4 Bde. Leipzig 1838-1841. - Rudolf v. Gottschall: Die deutsche Nationalliteratur des neunzehnten Jhs. 4 Bde. Breslau 1891/92. - Karl Gutzkow: Die Ritter vom Geiste. 9 Bde. Leipzig 1850/51. - Ulrich Hegner: Saly's Revoluzionstage. Winterthur 1814. - David Christoph Seybold: Reizenstein. Die Geschichte eines deutschen Officiers. 2 Bde. Leipzig 1778/79. - Ludwig Wienbarg: Wanderungen durch den Thierkreis. Hamburg 1835.

SachG: Die Geschichte des Zeitromans beginnt im Kontext der literarischen Spätaufklärung um 1800 mit Texten wie Therese Hubers ,Die Familie Seidorf' (1795/96), Klingers ,Geschichte eines Teutschen der neusten Zeit' (1798), Johann Weitzels Windau' (1805/20) oder Ulrich Hegners ,Saly's Revoluzionstage' (1814). Im Mittelpunkt steht hier die Darstellung erlebter Zeitgeschichte und die (den Staatsroman ablösende) Rettung ursprünglicher Aufklärungsideale in Reformprojekten, denen in den Epochenromanen der Spätaufklärung wie Christian Ernst Graf v. Bentzel-Sternaus ,Der alte Adam' (1819) und der Spätromantik wie Arnims ,Gräfin Dolores' (1810) und Eichendorffs ,Ahnung und Gegenwart' (1812/15) dann eine umfassendere Bilanz der Zeitenwende folgt. Mit den zahlreichen Zeitromanen der Befreiungskriege kommt der politisch-historische Zeitroman der Spätaufklärung infolge der ? Restauration und des Durchbruchs des Historischen Romans der Walter-Scott-Nachfolge in den 1820er Jahren an sein Ende, während zugleich in Zeitromanen wie Caroline de la Motte Fouqués ,Die beiden Freunde' (1824) die weiterführende Transformation des Familienromans zum Gesellschaftsroman gelingt. H. Laubes ,Das junge Europa' (1833/37) exemplifiziert den poetologischen Neuansatz nach der Julirevolution, indem er die Rückübertragung von Verfahren des historischen Romans in den Zeitroman mit der diskursiven Zeitkritik des Jungen Deutschlands verbindet. Die Entdeckung von Industrialisierung und Modernisierung als Gegenstand des Zeitromans in Immer-

Zeitroman manns ,Die Epigonen' (1836) und entsprechende Techniken sozialkontrastiver Gesellschaftsdarstellung prägen den sozialen Roman des Vormärz und bilden in Gutzkows ,Die Ritter vom Geiste' (1850/51) den Ausgangspunkt einer umfassenden Gesellschaftsdarstellung. Im Zeitroman der Revolution von 1848 finden sich zunächst verwandte Adaptierungen sozialer Zeitbild-Technik neben politischen und politisch-historischen Revolutionsromanen. Im weiteren Verlauf des Nachmärz setzt sich jedoch mit dem programmatischen Realismus wieder die durch G. Freytags ,Soll und Haben' (1855) bekräftigte Orientierung am Individuairoman durch. Das Werk Fr. Spielhagens, des wichtigsten Zeitromanautors im bürgerlichen Realismus, exemplifiziert sowohl die Weiterentwicklung des vom sozialen Roman geprägten großen Gesellschaftsromans mit polyzentrischer Struktur (,In Reih' und Glied', 1866) als auch die Anlehnung an den Individuairoman in Zeitromanen mit einem integrierenden ,Helden' (,Problematische Naturen', 1861/62). Thematisch verschiebt sich der Schwerpunkt nach 1860 von der politischen zur Sozial- und Kulturgeschichte. Aus liberaler Perspektive reflektieren Autoren wie Spielhagen (,Sturmflut', 1877), Auerbach (,Das Landhaus am Rhein', 1869), Keller (,Martin Salander', 1886) oder Raabe (,Pfisters Mühle', 1884) u. a. den Modernisierungssprung der Gründerzeit, die Beschleunigung aller Lebensverhältnisse und den antiliberalen Mentalitätswandel im Deutschen Reich. Die Zeitromane des ? Naturalismus vertiefen diese Gesellschaftskritik im Sozialen, und die sprach- und bewußtseinskritische Konversationstechnik Fontanes (,Der Stechlin', 1898) führt die Entwicklung des Zeitromans zum Gesellschaftsroman an die Schwelle zur ? Moderne, die auf satirische, sozialtypologische Weise die Zeitromane H. Manns überschreiten. Nach dem 1. Weltkrieg steht angesichts des Untergangs des alten Europa neben der Verarbeitung zeitgeschichtlicher Erfahrung (Kriegsromane) die literarische Reflexion des Epochenumbruchs in großen Zeitromanen wie Th. Manns ,Der Zauberberg' (1924), Musils

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,Der Mann ohne Eigenschaften' (1930— 1943), H. Brochs Trilogie ,Die Schlafwandler' (1931/32) und Döblins .November 1918' (1939/50) im Vordergrund, die mit der Verwendung von dokumentarischen, essayistischen und Montagetechniken an der Entwicklung der literarischen Moderne partizipieren. Der autoreflexiven Verbindung von Zeit- und Sprachreflexion, von Gesellschaftskritik und Bewußtseinsdarstellung im westdeutschen Zeitroman nach 1945 folgt nach 1989/90 die Suche nach dem ,großen Zeitroman' des vereinigten Deutschlands als literarische Verarbeitung v. a. der,Wende' im Osten. ForschG: Erst Hasubeks Neudefinition des Zeitromans als ,Formtypus' ist über das vorrangig stoffliche Interesse der älteren Forschung (politische und soziale Zeitgeschichte im Roman) hinausgelangt. Seither ist zunächst die kanonisierte Gattungsgeschichte zwischen Jungem Deutschland und spätem s Realismus2, erst in jüngster Zeit auch die Frühgeschichte des Zeitromans vor 1830 (Göttsche) und (in Ausschnitten) seine Weiterentwicklung im 20. Jh. untersucht worden (Hahn, Lindner). Lit: Renate Böschenstein-Schäfer: Zeit- und Gesellschaftsromane. In: Deutsche Literatur. Hg. v. Horst Albert Glaser. Bd. 7. Reinbek 1982, S. 101-123. - Dirk Göttsche: Zeit im Roman. Literarische Zeitreflexion und die Geschichte des Zeitromans im späten 18. und im 19. Jh. München 2001. - Michael Hahn: Scheinblüte, Krisenzeit, Nationalsozialismus. Die Weimarer Republik im Spiegel später Zeitromane (1928 — 1932/33). Bern u. a. 1995. - Peter Hasubek: Karl Gutzkows Romane ,Die Ritter vom Geiste' und ,Der Zauberer von Rom'. Studien zur Typologie des deutschen Zeitromans im 19. Jh. Diss. Hamburg 1964. - P. H.: Der Zeitroman. In: ZfdPh 87 (1968), S. 218-245. - Peter Horn, Brigitte Selzer: Zeitromane. In: Deutsche Literatur. Hg. v. Horst Albert Glaser. Bd. 9. Reinbek 1983, S. 123—137. - Joseph A. Kruse: Zeitromane. In: Deutsche Literatur. Hg. v. Horst Albert Glaser. Bd. 6. Reinbek 1980, S. 164-179. Martin Lindner: Leben in der Krise. Zeitromane der Neuen Sachlichkeit und die intellektuelle Mentalität der klassischen Moderne. Stuttgart 1994. - Joachim Worthmann: Probleme des Zeitromans. Heidelberg 1974. Dirk

Göttsche

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Zeitschrift

Zeitschrift Gedrucktes Informations- oder Unterhaltungsmedium, in regelmäßigen Abständen erscheinend. Expl: Als Zeitschrift werden im allgemeinen durch Periodizität und das Streben nach Aktualität gekennzeichnete, aber im Unterschied zur /" Zeitung in größeren Abständen erscheinende und auf längere Dauer über den Tag hinaus angelegte Fortsetzungswerke bezeichnet. Sie können eher allgemeine und fachübergreifende Inhalte aufweisen oder fachlich spezieller ausgerichtet sein. In ihnen werden Texte meist zahlreicher Beiträger publiziert, die von einem oder mehreren Herausgebern inhaltlich und formal koordiniert werden. Unscharf bleibt insbesondere die Abgrenzung zwischen Zeitschrift und Zeitung. WortG: 1689 erscheint das Wort als dt. Entsprechung für ,Annalen',,Chronik' bzw. als Synonym für ,Geschichtwerk' (DWb 15, 572). Im heutigen Sinne zur Bezeichnung eines Periodikums wird Zeitschrift als Übersetzung von frz. journal bzw. engl, chronicle zuerst 1751 verwendet (Koschwitz, 175) und so auch von Bürger (1784), Herder (1787) und J. G. Forster (1790) gebraucht — sowie im ,Register' von Beutler/Guts-Muths (1790). Ebenfalls 1790 erscheint das Wort erstmals im Titel eines Periodikums selbst, nämlich der ,Neuen musikalischen Zeitschrift'. Bei Adelung fehlt das Lemma, Campe empfiehlt das Wort 1811 als Ersatz für Journal' und periodische Schrift' (Campe, s. v). Hansjürgen Koschwitz: Der früheste Beleg für das Wort Zeitschrift'. In: Muttersprache 79 (1969), S. 174-176.

BegrG: Eine Begriffsgeschichte von Zeitschrift' hat von der älteren Bezeichnung Journal auszugehen. 1732 beschreibt J. P. Kohl die damals im Deutschen gebräuchliche Bedeutung von frz. journal folgendermaßen: „heutzutage nicht sowol ein wöchentliches Blat mit gelehrten Neuigkeiten, als eine jede Schrift [...], die entweder Monat- oder Viertel-Jahr- und Jahrweise zum Vorschein kommt" (Kohl, Vorrede). Als

synonyme deutsche Bezeichnung für diese Form der Publikation gibt er Tag-Buch an, das er in eine Reihe stellt mit griech. ephemerides, lat. diarium und ital. giornale (ebd.). Enger definiert im Sinne aufklärerischer Gemeinnützigkeit J. G. Krünitz 1784 das Journal als „eine periodische Schrift, welche [···] von den neuesten gelehrten Schriften" und „von den neuesten Erfindungen und Entdeckungen in den Künsten und Wissenschaften" berichtet (Krünitz, s. v.). Seither haben sich zwar das Themenspektrum und das Publikum verändert, aber an den konstitutiven Merkmalen der Periodiziät und Aktualität hat sich nichts geändert. Johann Peter Kohl: Hamburgische Berichte von Neuen Gelehrten Sachen. Bd. 1. Hamburg 1732. - Johann Georg Krünitz: Ökonomische Enzyklopädie [...] der Staats- Stadt- Haus- und Landwirtschaft. Bd. 30. Berlin 1784.

SachG: Die Anfange des Zeitschriftenwesens liegen in der Praxis der frühneuzeitlichen gelehrten Akademien, deren Kommunikationsformen (Korrespondenzen, Protokolle der Zusammenkünfte, Diskussionen über einzelne Themen, Vorstellungen aktueller Arbeitsresultate usw.) das neue Medium prägten. Zudem wuchs das gelehrte Schrifttum in den ersten beiden Jahrhunderten des Buchdrucks exponentiell, so daß als Instrumente rascher Erschließung — noch vor Handbüchern und Enzyklopädien - kritisch sichtende Publikationsorgane notwendig wurden. Darauf reagierten 1665 in Paris und London gleichzeitig das .Journal des Sçavans' und die ,Philosophical Transactions'. Im deutschen Sprachraum folgten 1667 für fünf Jahrgänge in Leipzig die von F. Nitsch besorgten ,Ephemerides Eruditorum', welche die Beiträge des .Journal des Sçavans' in lat. Übersetzung wiederholten. Anders als in Frankreich und England bevorzugten in Deutschland die Zeitschriften, die sich an Gelehrte richteten, noch lange das Lateinische. Mit den im Geiste der Aufklärung gehaltenen ,Göttingischen Anzeigen von gelehrten Sachen' wurde der Sprachwechsel vollzogen (gegründet 1739, unter wechselnden Titeln bis heute). Nach dem englischen Vorbild der von Addison und Steele gegründeten ,moral

Zeitschrift weeklies' (,The Tatler', ,The Spectator') entstand in der 1. Hälfte des 18. Jhs. eine Vielzahl MORALISCHER WOCHENSCHRIFTEN, welche die Verbreitung nützlicher Kenntnisse und Unterhaltung miteinander verbanden (Martens). Seit der 2. Hälfte des 18. Jhs. ist die ganze typologische Breite der Zeitschriften anzutreffen. Sie umfaßt u. a.: Zeitschriften für den Fachhandel wie etwa die ,Buchhändlerzeitung' des Hamburger Buchhändlers J. F. Herold oder das von J. G. I. Breitkopf herausgegebene und verlegte ,Magazin des Buch- und Kunsthandels' (1780-1783); eine Reihe von Frauenzeitschriften, zuerst die von Gottsched und seiner Frau Luise Adelgunde besorgten ,Vernünftigen Tadlerinnen' (1724/25); geographische Zeitschriften, Reisejournale sowie zahlreiche historische Zeitschriften. Oft handelt es sich um reine /" Rezensions2-OTga.ne. Als historische Zeitschriften gaben sich auch dezidiert politische Blätter aus, vor allem gegen Ende des 18. Jhs., so etwa C. F. D. Schubarts d e u t sche Chronik' (1774-1778) oder E. L. Posselts revolutionsfreundliches ,Archiv für ältere und neuere, vorzüglich Teutsche Geschichte, Staatsklugheit und Erdkunde' (1790-1792). In Straßburg und Mainz, im Rheinland und in Altona etablierte sich eine ausgedehnte jakobinische Publizistik, zu deren Ausläufern noch das vom jungen Görres redigierte ,Rote Blatt' (1798) gehört. Die Auflagenhöhe der Zeitschriften des 18. Jhs. lag im Durchschnitt bei ca. 400 Exemplaren, war aber in Einzelfallen bis zu zehnmal so hoch. Selbst eine so einflußreiche Zeitschrift wie die weit über 100 Bände umfassende ,Allgemeine deutsche Bibliothek' F. Nicolais war nur in 1800 Exemplaren verbreitet. Jedes Exemplar wurde in der Regel von mehreren Lesern benutzt; besonders viele Leser erreichten die von Lesegesellschaften abonnierten Exemplare. Das von F. J. Bertuch und G. M. Kraus begründete Journal des Luxus und der Moden' (1786—1827), eher ein allgemeines Kulturdenn ein Modeblatt, erreichte mit seiner Themenvielfalt eine Leserschaft, die auf etwa 25 000 geschätzt wird, auf jeden Fall um ein Vielfaches größer gewesen ist als diejenige anspruchsvollerer Organe.

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Aus sach- oder adressatenbezogenen Spezialisierungen gingen immer wieder neue Zeitschriftenprojekte hervor, so als erste Musikzeitschrift die ,Critica Musica' (1722/23 und 1725) des Hamburger Musikschriftstellers J. Mattheson oder die Organe der philanthropischen Reformer, wie etwa die pädagogischen Unterhandlungen' (1777-1782) von J. J. Basedow und J. H. Campe. Unter den zahlreichen Periodika für Kinder- und Jugendliche ist C. G. Schubarts ,Monatsschrift für Kinder' (1770/71) die älteste, ,Der Kinderfreund' von C. F. Weiße (1775-1784) die am bekanntesten gebliebene. Themen der Literatur, Kunst, Ästhetik und Philosophie wurden in Zeitschriften behandelt wie Wielands ,Teutschem Merkur', Schillers ,Hören', Goethes .Propyläen', der ,Berlinischen Monatsschrift', die auch Kant zu ihren Beiträgern zählte, oder Schlegels ,Athenäum'. Das von K. Ph. Moritz 1783-1793 herausgegebene , Magazin für Erfahrungsseelenkunde' markiert die literarisch vermittelte Wende zur Psychologie. Nicht nur die Fachzeitschriften der geisteswissenschaftlichen Diziplinen, sondern auch die — nach umfassenderen Vorläufern wie den seit 1670 erschienen ,Miscellanea curiosa medico-physica acadaemiae naturae curiosorum' gestalteten — naturwissenschaftlichen, medizinischen und technischen Periodika reichen ins 18. Jh. zurück (,Magazin für das Neueste aus der Physik und Naturgeschichte', 1781-1799; »Medizinische und chirurgische Berlinische wöchentliche Nachrichten', 1739—1748; M a gazin für die Bergbaukunde', 1785—1899). Das Zeitschriftenwesen hat konstitutive Bedeutung für die Aufklärung und für die demokratischen Tendenzen im Vormärz gehabt. Klassik und Romantik sind stark durch ihre Periodika geprägt; das gleiche gilt für viele Kunst- und Literaturströmungen des späten 19. und des 20. Jhs. Betont elitäre Gruppen wie der George-Kreis gründeten ihre Identität auf die ,Blätter für die Kunst'. Die 1890 von Otto Brahm und Samuel Fischer begründete ,Neue Rundschau', die aus der wöchentlich erschienenen ,Freien Bühne' des ? Naturalismus hervorgegangen war und ab 1894 monatlich zunächst als ,Neue deutsche Rundschau'

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Zeitung

herauskam, war lange Zeit das wichtigste Organ der klassischen Moderne. Die berühmteste Zeitschrift des Expressionismus war die ,Aktion', in der Literatur und Graphik eng verbunden sind. Karl Kraus erreichte die nachhaltige Wirkung seiner Kritik nicht zuletzt durch die Regelmäßigkeit und Geschlossenheit der seit Ende 1911 nur noch von ihm selbst geschriebenen Zeitschrift ,Die Fackel'. Als Folge der NS-Diktatur ging die Zahl der Zeitschriften beträchtlich zurück; neue Zeitschriften entstanden im Exil (s Exilliteratur), etwa die von K. Mann begründete ,Sammlung'. Auch die intellektuelle Neuorientierung nach dem 2. Weltkrieg vollzog sich weithin im Medium der Zeitschrift (.Frankfurter Hefte', ,Merkur', ,Der Monat', ,Sprache im technischen Zeitalter', ,Akzente', ,Neue deutsche Hefte'), ebenso die Wende zur Politisierung der Literatur (,Kursbuch'), aber auch die kultur- und literaturpolitische Abgrenzung der D D R (,Sinn und Form', ,neue deutsche literatur'). Die Idee elektronischer Zeitschriften entstand Ende der 1970er Jahre, die ersten praktischen Nutzungen erfolgten in der 1. Hälfte der 1980er Jahre; als intensiver genutztes Medium wird die elektronische Zeitschrift seit der 2. Hälfte der 1990er Jahre eingesetzt (,IASL online', ,Literaturkritik.de'). In der Gegenwart ist das Zeitschriftenwesen zugleich durch eine große Breite gekennzeichnet, die von populären Trivialzeitschriften bis zu hochspezialisierten Fachorganen reicht, und eine Gefährdung durch geringe Auflagen und die Konkurrenz des Internet. ForschG: Angesichts der Unüberschaubarkeit des Materials kommt der bibliographischen Erschließung der Zeitschriften besondere Bedeutung zu, und zwar sowohl der Titel als auch der Inhalte (,analytische Bibliographien'). Nach den grundlegenden Arbeiten Kirchners hat die Erforschung der Zeitschriftenkultur nach dem 2. Weltkrieg wesentliche Fortschritte vor allem bei der Erschließung der publizistischen Quellen zur Aufklärung und zum 19. Jh. gemacht. Trotz intensiver Forschung sind aber wesentliche Desiderata geblieben, etwa zu den

theologischen Periodika der deutschen Aufklärung oder zur Bedeutung der Konfessionalisierung für das Zeitschriftenwesen. Lit: Johann Heinrich Beutler, Johann Christoph Guts-Muths: Allgemeines Sachregister über die wichtigsten deutschen Zeit- und Wochenschriften. 2 Bde. [1790], Repr. Hildesheim 1976. Thomas Dietzel, Hans-Otto Hügel: Deutsche literarische Zeitschriften 1880-1945. 5 Bde. München u.a. 1988. - Sabine Doering-Manteuffel u.a. (Hg.): Pressewesen der Aufklärung. Berlin 2001. - Alfred Estermann: Die deutschen Literatur-Zeitschriften 1850 bis 1880. 5 Bde. München u.a. 1988f. — A. E.: Die deutschen LiteraturZeitschriften 1815 bis 1850. 11 Bde. München 2 1991. — Α. Ε.: ,Literaturzeitschriften'. In: Literatur-Lexikon. Hg. v. Walther Killy. Bd. 13. Gütersloh, München 1993, S. 4 5 - 5 0 . - A. E.: .Zeitschriften'. In: Fischer Lexikon Literatur. Hg. v. Ulfert Ricklefs. Bd. 3. Frankfurt 1996, S. 2 0 0 3 2020. - Bernhard Fischer, Thomas Dietzel: Deutsche Literarische Zeitschriften 1945—1970. 4 Bde. Stuttgart 1992. - Ernst Fischer u. a. (Hg.): Von Almanach bis Zeitung. München 1999. — Heinz-Dietrich Fischer (Hg.): Deutsche Zeitungen des 17. bis 20. Jhs. Pullach 1972. — Joachim Kirchner: Das deutsche Zeitschriften wesen. 2 Bde. Wiesbaden 1958, 1962. - Michael Knoche, Reinhard Tgahrt (Hg.): Retrospektive Erschließung von Zeitschriften und Zeitungen. Berlin 1997. - David A. Kronick: A history of scientific and technical periodicals. Metuchen/NJ 1976. - Doris Kühles: Deutsche literarische Zeitschriften von der Aufklärung bis zur Romantik. 2 Bde. München u. a. 1994. - Wolfgang Martens: Die Botschaft der Tugend. Die Aufklärung im Spiegel der deutschen Moralischen Wochenschriften. Stuttgart 1968. - Paul Raabe: Die Zeitschriften und Sammlungen des literarischen Expressionismus. Stuttgart 1964. Klaus Schmidt (Hg.): Index deutschsprachiger Zeitschriften: 1750-1815. 10 Bde. Hildesheim 1997. - Jürgen Wilke: Literarische Zeitschriften des 18. Jhs. 2 Bde. Stuttgart 1978.

Hans-Albrecht Koch

Zeitung Gedrucktes Nachrichten- und Informationsmedium von mindestens wöchentlichem Erscheinen. Expl: Als Zeitung werden schriftliche, i. d. R. gedruckte Medien zur Kommunika-

Zeitung tion von Nachrichten und Meinungen bezeichnet, die gekennzeichnet sind durch Aktualität (Neuigkeit der Nachrichten), Periodizität von hoher, mindestens wöchentlicher Frequenz (regelmäßiges Erscheinen), Universalität des Inhalts (große Vielfalt der Themen) und Publizität (Öffentlichkeit des Zugangs). Im Einzelfall nicht immer eindeutig möglich ist die Abgrenzung zur Zeitschrift, die in größerem Abstand erscheint, sich in der Tagesaktualität nicht erschöpft und der Reflexion ebensoviel Gewicht beimißt wie der s Reportage. WortG: Das mnl. bzw. mnd. Wort tidinge (,Kunde', ,Botschaft'), das zuerst Ende des 13. Jhs. im Kölner Raum in der Form zîdung begegnet, meint ursprünglich mündliche, dann auch geschriebene und endlich auch gedruckte Berichte. Für (z.T. als Beilage zu Briefen verbreitete) Ein- oder Mehrblattdrucke (/" Flugblatt) allgemein informierenden Inhalts, wie sie zuerst 1482 in Augsburg begegnen, findet sich seit 1502 der Titel Neue zeytung (Kluge-Seebold23, 906; Paul-Betz, 823; DWb 15, 591-593). Auch der ein aktuelles schauriges Ereignis thematisierende s Bänkelsang des 17.—19. Jhs. mit seiner Kombination von Prosatext, Lied und Bild wurde Neue Zeitung genannt ( / Zeitungslied). Seit dem 17. Jh. wird Zeitung im heutigen Sinne verwendet (Kluge-Seebold23, 906). BegrG: Im 17. und 18. Jh. war Aviso als Bezeichnung gebräuchlich (1) für die einzelne Nachricht, (2) für das gesamte Nachrichtenwesen und (3) als Titel von Zeitungen. Der Ausdruck Relation (vgl. Meßrelation) bezeichnete die gedruckte Nachricht über einen beliebigen Gegenstand. In Titeln von Zeitungen wurde oft auch der Ausdruck Nachricht gebraucht. Der Ausdruck Zeitung selbst taucht z. B. bereits, wenn auch durch den Plural mehr die Inhalte denn die Form des Mediums bezeichnend, 1655/56 im Titel der , Einkommenden Ordinar(i)- und Postzeitungen' auf, einem Vorläuferorgan der ,Vossischen Zeitung'. Einen eigenen publizistischen Typus neben Zeitung und Zeitschrift bildet im 18. und frühen 19. Jh. das stark von englischen Vorbildern geprägte ,Intelligenzblatt' (das erste erschien 1722 in

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Frankfurt a. M. unter dem Titel Wöchentliche Frag- und Anzeigungs-Nachrichten'). Ursprünglich handelt es sich dabei um ein reines Anzeigenblatt, dessen Privileg zum Druck von gewerblichen Anzeigen sich meist mit der Verpflichtung verband, amtliche Bekanntmachungen abzudrucken. Die Intelligenzblätter nahmen dann auch Texte allgemein belehrenden oder unterhaltenden Charakters, literarische Texte (Gedichte von Claudius, Goethe, Schiller u. v. a. m. wurden zum erstenmal in Intelligenzblättern gedruckt) sowie gegen Ende des 18. Jhs. immer öfter politische Artikel auf. Sie verschwanden mit der Aufhebung des Anzeigenmonopols Mitte des 19. Jhs. bzw. gingen allmählich in der Zeitung auf. Damit ist die Entwicklung der Zeitung zum publizistischen Haupt- und Leitmedium abgeschlossen. SachG: Schließt man die Vorformen der Zeitung, den privaten /" Brief und den Einblattdruck, aus, läßt sich ihre Entstehung bis in die Anfänge des 17. Jhs. zurückverfolgen. Durch die politische Vielfalt im Alten Reich hat das deutschsprachige Zeitungswesen — besonders was den Umfang der Titel und die Vielfalt der Erscheinungsformen angeht — eine europäische Spitzenstellung. In Straßburg begann 1609 die ,Relation: Aller Fürnemmen und gedenckwürdigen Historien' und in Wolfenbüttel der ,Aviso, Relation oder Zeitung' zu erscheinen. Die ,Straßburger Relation' und der ,Aviso' kamen einmal in der Woche heraus. Zweimal die Woche erschien als erste ,Tageszeitung' seit 1660 in Leipzig die ,Neu-einlaufende Nachricht von Kriegs- und Welthändeln'. Die allgemeinen sozialen Entwicklungen des 17. Jhs. steigerten das Bedürfnis nach rascher Information über Neuigkeiten, und bereits Ende des Jhs. gab es im deutschsprachigen Raum rund 60 Zeitungen, deren Leserschaft auf ca. 300 000 geschätzt wird (vgl. z.B. Wilke, 218). Bald erschienen in den deutschen Territorien mehr Zeitungen als im ganzen übrigen Europa zusammen. Während die meisten Zeitungen des 17. Jhs. zweimal wöchentlich erschienen, nahm die Frequenz im 18. Jh. deutlich zu und stieg in den letzten drei Dezennien auf

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Zeitung

drei- bis viermaliges Erscheinen in der Woche. Die .Staats- und Gelehrte Zeitung des Hamburgischen unpartheyischen Correspondenten' war die deutsche Zeitung mit der höchsten Auflage, sie stieg gegen Ende des Jhs. auf ca. 25 000 Exemplare. Hohes Ansehen genoß der nur kurzlebige, von M. Claudius redigierte ,Wandsbecker Bothe' (1771-1775). Im Durchschnitt betrug die Auflage einer Zeitung etwa 4000. Durch Vorlesen und Auslage in Lesegesellschaften, Wirtschaften und Kaffeehäusern betrug die Zahl der Benutzer eines Exemplars rund das Zehnfache der Auflage. Auf über 200 stieg die Zahl der deutschsprachigen Zeitungen bis zum Ende des Jhs.; viele von ihnen hatten freilich nur lokale bzw. regionale Wirkung. Die Zeitungen des 18. Jhs. brachten die Nachrichten der Korrespondenten, die sich überwiegend auf politische Ereignisse bezogen, unverändert in der Form des reinen Korrespondentenberichts. Die kommentierende und meinungsbildende Stellungnahme fehlte in der älteren Zeitung vor dem 19. Jh (/* Glosse3). Durch die technischen Neuerungen der Schnellpresse und des Rotationsdrucks veränderte sich das Erscheinungsbild der Zeitung im 19. Jh. und nahm die noch heute geläufige Form, insbesondere das große Format, an. Es entwickelten sich unterschiedliche Typen: Nachrichtenund Meinungszeitungen; Elite- und Massenblätter; überregionale, regionale und lokale Zeitungen; Tages- und Wochenzeitungen; Abonnement- und Boulevardzeitungen. Die größeren Blätter etablierten eine standardisierte Reihenfolge der Rubriken (Politik, Wirtschaft, Feuilleton), die in deutschen Zeitungen je eigene sogenannte Bücher' bilden. Literatur und Zeitungswesen haben immer in wechselseitiger Verbindung gestanden. Viele Autoren haben schon im 18., mehr noch im 19. Jh. ihr Auskommen als Redakteure gefunden; als Beiträger begegnen fast alle namhaften Schriftsteller in Zeitungen. Durch Buchbesprechungen bezog sich die Zeitung früh auf Literatur; das 19. Jh. stellte mit dem Zeitungsvorabdruck von Romanen eine über die /" Literaturkri-

tik weit hinausreichende Verbindung her (y Feuilleton¡). Neben den an eine unbestimmte Öffentlichkeit gerichteten allgemeinen Zeitungen haben Kirchen, Parteien, Verbände und Vereinigungen ein reiches adressatenspezifisches Pressewesen entfaltet, das sich jedoch, offenbar in Zusammenhang mit einem Verlust gruppengebundener Identität in weiten Teilen der Bevölkerung, mittlerweile zunehmend im Niedergang befindet. Die Zeit nach dem 2. Weltkrieg ist gekennzeichnet durch veränderte Medienkonkurrenz (Radio, Fernsehen) und durch starke Konzentrationstendenzen, so daß eine geringer werdende Zahl von Vollredaktionen immer mehr Zeitungen gestaltet. ForschG: Die Zeitungswissenschaft, deren Ursprünge bis in die Kameralistik der Aufklärung zurückgehen, hat sich seit den zwanziger Jahren des 20. Jhs. — unterbrochen freilich durch eine Phase der Affinität zum Nationalsozialismus — von einem zwischen Literatur- und Geschichtswissenschaft angesiedelten Spezialgebiet zur Teildisziplin einer sozialwissenschaftlich orientierten Medienwissenschaft entwickelt. Weil sich der aktuelle Zweck der Zeitung in ihrer ephemeren Nutzung erschöpft, ist nur ein Teil der tatsächlich vertriebenen Zeitungen erhalten. Da die Postzeitungslisten nur die auf diesem Wege, nicht aber die ausschließlich lokal vertriebenen Zeitungen erfaßt haben, bieten sie keine vollständige Bestandsaufnahme. Noch lückenhafter sind die seit ca. 1840 erschienenen Zeitungskataloge der Annoncenexpeditionen. Eine abgeschlossene Zeitungsbibliographie liegt lediglich für das 17. Jh. vor (Bogel/Blühm). Aus diesen Gründen sind auch alle Aussagen zur historischen Zeitungsstatistik mit großen Unsicherheiten behaftet. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft fördert ein Programm zur Verfilmung älterer Zeitungen. Es erfüllt zugleich das Ziel der Konservierung wie das der Bereitstellung. Ausschließlich der Geschichte der Zeitung widmen sich die wissenschaftliche Einrichtung ,Deutsche Presseforschung' an der Universität Bremen und das ,Institut für Zeitungsforschung' der Stadt Dortmund, in dem auch das ,Mikro-

Zeitungslied filmarchiv der deutschsprachigen Presse e.V.' seinen Sitz hat. Nach den zusammenfassenden Darstellungen der älteren Phase der modernen Zeitungswissenschaft (Koszyk u.a.) hat sich die Forschung erneut der noch längst nicht abgeschlossenen Erschließung der Quellen zugewandt (Böning, Böning/Siegert u. a.). Lit: Holger Böning (Hg.): Deutsche Presse. Biobibliographische Hbb. zur Geschichte der deutschsprachigen periodischen Presse von den Anfängen bis 1815. 2 Bde. Stuttgart-Bad Cannstatt 1996 f. - H. B., Reinhart Siegert: Volksaufklärung. Bibliographisches Hb. zur Popularisierung aufklärerischen Denkens im deutschen Sprachraum von den Anfängen bis 1850. 4 Bde. Stuttgart-Bad Cannstatt 1990. - Else Bogel, Elger Blühm: Die deutschen Zeitungen des 17. Jhs. 2 Bde. Bremen 1971. — Sabine Doering-Manteuffel u. a. (Hg.): Pressewesen der Aufklärung. Berlin 2001. - Ernst Fischer u. a. (Hg.): Von Almanach bis Zeitung. München 1999. - Heinz-Dietrich Fischer (Hg.): Deutsche Zeitungen des 17. bis 20. Jhs. Pullach 1972. - Gert Hagelweide: Deutsche Zeitungsbestände in Bibliotheken und Archiven. Düsseldorf 1974. - G. H. (Hg.): Literatur zur deutschsprachigen Presse. München u.a. 1985ff. - Jb. für Kommunikationsgeschichte. Stuttgart 1999 ff. - Kurt Koszyk: Deutsche Presse im 19. Jh. Dortmund 1958. - Margot Lindemann: Deutsche Presse bis 1815. Berlin 1969. - Ludwig Salomon: Geschichte des deutschen Zeitungswesens. 3 Bde. [1900-1906]. Repr. Aalen 1973. - Sigurd Paul Scheichl, Wolfgang Duchkowitsch (Hg.): Zeitungen im Wiener Fin de siècle. Wien, München 1997. - Thomas Schröder: Die ersten Zeitungen. Tübingen 1995. - Erich Straßner: Zeitung. Tübingen 1997. Wilbert Ubbens: Jahresbibliographie Massenkommunikation. Bremen 1974—1978, Berlin 1979 ff. - Jürgen Wilke: Nachrichtenauswahl und Medienrealität in vier Jahrhunderten. Berlin, New York 1984.

Hans-Albrecht Koch

Zeitungslied Durch Kleindrucke verbreitete Liedgattung vorwiegend des 16. und 17. Jhs. mit Berichten über aktuelle und sensationelle Ereignisse. Expl: Das Zeitungslied widmet sich in der Regel nicht den großen politischen oder re-

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ligiösen Vorgängen, sondern bezieht seine Themen aus den sensationellen Ereignissen des Alltags; deshalb wird es zumeist von der historisch-politischen Ereignisdichtung (,Historisches Ereignislied' oder ,Zeitlied') abgegrenzt. Den Nachbargattungen der traditionellen Lieddichtung bleibt das Genre insofern verbunden, als es sich von dort die Melodien (,Töne') borgt. Das Zeitungslied ist demnach seiner Entstehung nach stets Kontrafaktur. Die Melodien zeigen an, daß die schriftliche Überlieferung auf mündlichem Vortrag aufbaut oder für ihn gedacht ist. Inhaltlich decken die Zeitungslieder des 16. und 17. Jhs. folgendes Themenspektrum ab: (1) Wunderereignisse (Himmelserscheinungen, Wundergeburten und Monstren, tierische Mißgeburten und pflanzliche Mißbildungen); (2) Verbrechen und ihre Strafe (Mordtaten, Hexerei, Gotteslästerung, Meineid, Hostienfrevel, Unehrerbietigkeit gegen die Eltern, Hartherzigkeit gegen Bedürftige, Brotfrevel, Markfrevel); (3) Unglücksfalle und Katastrophen. WortG/BegrG: Den Terminus Zeitungslied hat zuerst H. R. Hildebrand 1856 zur Bezeichnung von historischen Liedern gebraucht, die ähnlich wie moderne Zeitungen „ohne eigentliche Parteinahme mit einem gewissen objectiven Interesse" über bestimmte historische Ereignisse unterrichteten (Hildebrand, 344). In der älteren deutschen Liedforschung des 19. Jhs. hat sich dieser Begriff jedoch nicht durchgesetzt. Erst E. Seemann hat ihn 1932 in die Forschung eingeführt. Er leitete ihn aus der Newen Zeitung ab, d. h. den Titeln der nichtperiodisch erschienenen Flugblätter und Flugschriften mit aktuellen, Sensationen und Kuriositäten herausstellenden Liedern. H. Rudolf Hildebrand (Hg.): Friedrich] Leonhard von Soltaus deutsche historische Volkslieder, zweites Hundert. Leipzig 1856. — Erich Seemann: Newe Zeitung und Volkslied. In: Jb. für Volksliedforschung 3 (1932), S. 87-119.

SachG: Wenige Jahrzehnte nach der Erfindung des Druckens mit beweglichen Lettern rückte u.a. auch das Lied in das Verwertungsinteresse der Buchdrucker auf. Zur Verbreitung von Liedtexten, seltener auch der zugehörigen Melodien, bedienten sich

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Zeitungslied

die Frühdrucker der neu entwickelten Publikationsformen ? Flugblatt (Einblattdruck) und Flugschrift (Heftchendruck). Anfangs herrschte noch das Geistliche Lied vor, aber schon gegen Ende des 15. Jhs. traten ihm andere Liedtypen, vor allem sog. s Volkslieder und Volksballaden sowie HISTORISCHE (VOLKS-) LIEDER, an die Seite. Zu diesen in ihrer Gesamtheit als Liedpublizistik bezeichneten Kleindrucken gesellte sich nach 1500 mit dem Zeitungslied ein weiteres Genre des weltlichen Liedes. Vorläufer des Zeitungsliedes sind bereits vor dem Einsetzen des Buchdrucks in spätmittelalterlichen Liederhandschriften bezeugt. Luther hat 1523 mit ,Ein neues Lied wir heben an' auf zwei in Brüssel hingerichtete Märtyrer einen bedeutenden Beitrag zu diesem Genre geleistet. Im Laufe des 16. Jhs. findet das Zeitungslied weite Verbreitung. Da häufig die Töne geistlicher Lieder Verwendung fanden, werden hinter den meist unbekannten Verfassern vorwiegend Geistliche vermutet. Da zu den Adressaten auch die noch nicht alphabetisierten Teile der Bevölkerung gehörten, bedienten sich Autoren, Drucker und Distributoren verschiedener publikumswirksamer Mittel der Gestaltung und Präsentation. In den illustrierten .Liedzeitungen' zeigt sich ζ. B. die Tendenz, die Handlung nach Art der späteren Bilderbögen in Holzschnittfolgen narrativ zu gestalten. Die Aufmerksamkeit des Publikums wurde durch sog. journalistische Liedeingänge wie „Nun höret zu, ihr Christenleut", „Hört ihr Frauen und ihr Mann", „Wollt ihr hören ein neues Gedicht" erregt. Mit der Angabe von Orten, Zeiten und Namen bekräftigte das Zeitungslied seinen Anspruch auf Authentizität der durch den Druck vermittelten Nachrichten. Von seiner Intention her gesehen ist das Zeitungslied auf Deutung ausgerichtet: Die Schilderung der aktuellen Vorfälle mündet wie beim / Exempel stets in einen moralischen Appell. Für den Vertrieb der Drucke und ihre Präsentation an öffentlichen Orten bildete sich im Laufe des 16. Jhs. der neue Stand der ,Zeitungskrämer' und ,Zeitungssinger' heraus. Fischart erwähnt in seiner ,Ge-

schichtklitterung' von 1575 die „hausirer, zeitungsänger und sonst Priffheffter, welche die Lieder auff den Hut [...] stecken" (Fischart, 184; vgl. auch Grimmelshausens ,Erste Continuatio' des ,Simplicissimus'Romans, 1671), und genau so finden wir sie in den graphischen Zeugnissen der Zeit wieder. Die Liedkolporteure (Avisensänger, Markt- oder Gassensänger) bedienten sich für ihren Auftritt von erhöhtem Ort werbewirksamer Leinwandtafeln mit der bildlichen Darstellung ihrer Zeitungsliedthemen. Im 18. Jh. ist aus dieser Institution der f Bänkelsang hervorgegangen, der einen Teil des Zeitungslied-Repertoires und seine Präsentationsform bis ins 20. Jh. hinein fortsetzte. Ein später Nachfahre der alten Zunft war der hessische Zeitungssänger Philipp Keim (1804-1884; vgl. Schütz/ Sachs). Zeitungslieder haben trotz des ephemeren Charakters der Druckerzeugnisse und der eher zeitgebundenen Themen in manchen Fällen als Volksballaden teilweise bis ins 20. Jh. weitergelebt (vgl. Freiburger Balladenausgabe, Bd. 5). Bei den heute im Westen Nordamerikas siedelnden Täufergemeinden der Hutterer werden einige auf das 16. Jh. zurückgehende Zeitungslieder noch bis zur Gegenwart in ungebrochener Überlieferung im Gemeinde- und Familiengesang verwendet. Paul Alpers: Das Wienhäuser Liederbuch. In: Niederdeutsches Jb. 69/70 (1943/47), S. 14 f. (Nr. 21), S. 16 (Nr. 22). - Deutsche Volkslieder mit ihren Melodien. Balladen. Bd. 5. Hg. v. Deutschen Volksliedarchiv. Freiburg i. Br. 1967. - Johann Fischarts Geschichtklitterung (Gargantua). Hg. v. A[lbert] Aisleben. Halle 1891. ForschG: Das Zeitungslied ist bislang sehr unzureichend erforscht. Befriedigend ist die Situation allenfalls bezüglich der Dokumentation des Zeitungsliedes im illustrierten Flugblatt und der Ikonographie des Zeitungssingers. Ein Repertorium der Drucke, das die veralteten Verzeichnisse von Weller ersetzt, ist ebenso Desiderat wie eine repräsentative Edition von Texten und ihre Analyse. Lit: Rolf Wilhelm Brednich: Das Reutlingersche Sammelwerk im Stadtarchiv Überlingen als

Zensur volkskundliche Quelle. In: Jb. für Volksliedforschung 10 (1965), S. 4 2 - 8 4 . - R. W. B.: Zur Vorgeschichte des Bänkelsangs. In: Jb. des Österreichischen Volksliedwerkes 21 (1972), S. 7 8 - 9 2 . — R. W. B.: Die Liedpublizistik im Flugblatt des 15. bis 17. Jhs. 2 Bde. Baden-Baden 1975-1977. - R. W. B.: Erziehung durch Gesang. Zur Funktion von Zeitungsliedern bei den Hutterern. In: Jb. für Volksliedforschung 27/28 (1982/83), S. 109—133. - Karina Kellermann: Abschied vom historischen Volkslied'. Tübingen 2000. — Ernst Schütz, Michael Sachs: Der Zeitungssänger Philipp Keim (1804-1884) aus Diedenbergen. Wiesbaden-Erbenheim 1993. - Wolfgang Suppan: Deutsches Liedleben zwischen Renaissance und Barock. Tutzing 1973. - Emil Weller: Die ersten deutschen Zeitungen. Stuttgart, Tübingen 1871. - E. W.: Annalen der Poetischen NationalLiteratur der Deutschen im XVI. und XVII. Jh. 2 Bde. Freiburg i. Br. 1862-1864.

Rolf Wilhelm Brednich

Zensur Prüfung einer Äußerung hinsichtlich ihrer Zulässigkeit und die danach getroffene Maßnahme der Textregulierung oder des Publikationsverbots. Expl: Unterschieden wird zwischen (1) der .formellen Zensur', d. h. den verwaltungsjuristisch und strafrechtlich gesicherten Prozeduren, und (2) der .informellen Zensur', d.h. den ökonomischen und politischen und sozialen Zwängen, unter denen öffentliche Äußerungen unterbleiben oder Änderungen unterworfen sind. Ihr können Autoren durch Selbstzensur zuvorkommen; dies ist eine vom Autor (entgegen seiner ursprünglichen Intention) im Bewußtsein der Geltung einer von ihm nicht akzeptierten Norm und der (im Falle ihrer Nichtbeachtung) zu erwartenden Sanktionierung vorsorglich vorgenommene Korrektur einzelner Stellen, gelegentlich auch die Unterdrückung des ganzes Werkes. WortG: Das Wort, abgeleitet aus dem lat. censura, bezeichnet ein Verfahren, das in römischer Zeit seit 366 v. Chr. (bis zum Ende der Republik) durch das Amt des Zensors (censor) institutionalisiert war. Censura be-

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deutet ,Prüfung', .Beurteilung' und .strenges Wesen', .streng sittliche Haltung' (PaulyWissowa 3/2, 1902-1908, 1914-1924; Thesaurus 3, 797-811). Dt. wird das Wort im 17. Jh. mit der verordneten Überwachung der Buchproduktion heimisch (frühester Beleg als .kirchliche Aufsicht über Leben und Lehre': Michael Beuther v. Carlsratt, ,Ordentliches Verzaichnis allerley Sachen vnd Haendel', 1561), dazu zensieren (zuerst belegt bei Ludwig Lafater, .Historia, Oder Gschicht, Von dem vrsprung vnd fürgang der [...] zwyspaltung [...] zwüschend D. Martin Luthern [...] vnd Huldrychen Zwinglio', 1564, f. 117b), das ursprünglich in der Sprache der kirchlichen Gesetzgebung neben .zulassen' und ,verwilligen' (wie censere neben examinare und approbare) seinen Platz hatte (DWb 31, 633 f.). Zedier (5, 1817) versteht unter einem Censor librorum einen „Aufseher, der ein Buch oder Schrifft, so gedruckt werden soll, zuvor durchlieset und approbiret, damit nichts der Religion und dem Staat nachtheiliges darinne gelassen werde", und unter Censur „eine solche Beurtheilung und vorsichtige Durchlesung eines Buches oder Schrifft". Spezielle Aufgabenfelder betreffen Presse-, Theater-, Film- und Bibliothekszensur. Paulys Real-Encyclopädie der classischen Altertumswissenschaft. Neue Bearbeitung. Hg. v. Georg Wissowa u.a. Stuttgart 1894-1978.

BegrG: Die Verwendung des Begriffs erstreckt sich auf sechs Bereiche. (1) Kommunikationstheoretisch umfaßt er (a) die Äußerung über eine Sache oder Person und (b) die Prüfung dieser Äußerung (durch den Sprecher selbst oder durch andere). (2) Die darin vorausgesetzte Geltung bestimmter Normen und die Wirksamkeit einer Kontrollinstanz wurden von der Psychoanalyse und Psychoanalytischen Literaturwissenschaft auf eine psychische Instanz bezogen, die alle Triebe überwacht, gegebenenfalls ihre Befriedigung organisiert oder sie abwehrt und Wünsche modifiziert. (3) Die Soziologie geht von der Normenkonstitution und Normenkontrolle als Herrschaftsinstrumenten einer an der Macht befindlichen Elite aus und sieht in der Zensur ein Mittel zur Aufrechterhaltung der Funktionsfähig-

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Zensur

keit des jeweiligen Systems. (4) Der juristische Begriff der Zensur konzentriert sich auf den Aspekt der ,Erlaubnis' sowie des ,Verbots' und auf die Frage der Polizeigewalt (Sicherung von ,Ruhe und Ordnung'). (5) Aus historischer Sicht blieb die Zensur eine Konstante des gesellschaftlichen Lebens; nach dem Zusammenbruch bestehender Herrschaftssysteme konstituierten sich auf gesetzgeberischer und polizeilicher Ebene stets neue Zensurnormen, deren Durchsetzung durch technische Innovationen des Publizierens, wie das Internet, erschwert wird. (6) Im Bereich der literarischen Zensur wird die ? Autonomie des künstlerischen Werks relativiert: Religiöse und weltliche Instanzen verstehen die in ihm enthaltenen Äußerungen zwangsläufig auch als Meinungsäußerungen, die sie höher als den Kunstcharakter bewerten. SachG: Die seit der Antike rekonstruierbare Geschichte der Zensur, die auf das wechselnde Medium einer Äußerung mit den Suchbildern .Religion', .Politik', ,Moral' fixiert war, trat mit der Erfindung des Buchdrucks (um 1450) in eine neue Phase. Historiographisch sind drei Aspekte von besonderem Interesse: (1) Zensur als Teil des Herrschaftssystems: Papst Innozenz VIII. schuf am 17.11.1487 mit der Bulle ,Inter multíplices' die kirchenrechtliche Grundlage für die Vorzensur religiöser Schriften, während der juristische Rahmen für die weltliche Zensur im Reich erst in der Regierungszeit Karls V. und Maximilians II. auf verschiedenen Reichstagen zwischen 1521 bis 1570 abgesteckt wurde; die kaiserliche Bücherkommission wurde spätestens 1567 tätig. Die Konkurrenz der kirchlichen und weltlichen Zensur sowie die jeweiligen machtpolitischen und konfessionellen Konstellationen in den Territorien führten auf unterschiedliche Weise zur Disziplinierung der Untertanen; als Orientierungshilfe dienten jeweils Sperrverzeichnisse, von denen der katholische ,Index librorum prohibitorum' (1564, letzte Ausgabe 1948), der erst am 14. 6. 1966 seine kirchliche Gesetzeskraft verlor, besondere Bedeutung erlangte. Die Ideen der Aufklärung, der Französischen

Revolution und das Erwachen der Volkssouveränität während der Befreiungskriege unterminierten die Zensursysteme; die Dynastien reagierten mit rigiden Zensurmaßnahmen zur Sicherung ihrer Interessen (1819: Karlsbader Beschlüsse unter Metternich). Nach der Revolution von 1848 wurde in Artikel 142 der Verfassung die Kunst für frei erklärt, aber strafrechtliche Vergehen blieben (anfangs im Blick der neu gegründeten Polizeivereine) weiterhin unter Kontrolle, so auch nach dem Zusammenbruch des Wilhelminischen Staates und der Abschaffung der Zensur (11. 8. 1919). Die Literaturprozesse der Weimarer Zeit wurden nicht um Kunstwerke, sondern um Injurien geführt. Zensurfreiheit ist relativ, und es liegt in der Logik autoritärer Staaten (des NS-Staates wie der DDR), die Überwachung des gesamten kulturellen Lebens straff zu organisieren; in der Bundesrepublik garantiert Art. 5 Abs. 1 GG größtmögliche Kunstfreiheit. (2) Spezielle Aufmerksamkeitsfelder: (a) Periodisch erscheinende Blätter unterlagen besonderer Kontrolle; dabei erschienen ? Zeitungen im Hinblick auf die Aktualität einer Nachricht und den hohen Öffentlichkeitsgrad des Mediums gefährlicher als Zeitschriften. Die Forderung nach PRESSEFREIHEIT wurde erst im Gefolge der von der Aufklärung propagierten Meinungsfreiheit laut. Der Terminus kam im 18. Jh. auf und wurde in die Amtssprache übernommen. (b) Große Bedeutung hatte die Theaterzensur, da man die Wirkung des gesprochenen Worts zum Nachteil der öffentlichen Ordnung fürchtete. Sie wurde als erstes nach 1849 wieder eingeführt und überlebte den 1. Weltkrieg, (c) Die Filmzensur (in Berlin seit dem 5. 5. 1906) Schloß sich an Theater- und Polizeiverordnungen an und wurde seit 1913 von den Orts- und Landespolizeibehörden ausgeübt. Das erste Reichslichtspielgesetz stammt von 1920 (verschärft 1934). In der Bundesrepublik besteht seit 1949 eine .Freiwillige Selbstkontrolle der Filmwirtschaft', während in der DDR eine staatliche Kontrolle ausgeübt wurde, (d) Brisant ist die Zensur im Bereich des Jugendschutzes, der sich im 19. Jh. mit der Ausbreitung der Jugendkriminalität und der

Zensur Annahme, die Schundliteratur' habe entscheidenden Einfluß auf Straftaten, entwickelte. In der Öffentlichkeit umstritten war das .Gesetz zur Bewahrung der Jugend vor Schund- und Schmutzschriften' vom 18. 12. 1926; es wurde zwar am 10. 4. 1935 aufgehoben, doch unterlag die Prüfung danach dem NS-Propagandaministerium. In der Bundesrepublik beschränkt das (neueren Entwicklungen laufend angepaßte) .Gesetz über die Verbreitung jugendgefährdender Schriften' vom 9. 6. 1953 (in der Fassung der Bekanntmachung vom 12. 7. 1985 mit späteren Änderungen und seit dem 22. 7. 1997 mit dem Zusatz: „und Medieninhalte") die Grundrechte, wenn Pornographie und Gewaltdarstellungen dies als notwendig erscheinen lassen. (3) Textgeschichte als Zensurgeschichte: Zensureingriffe hinterlassen in Texten Zensurspuren, die für die Textkonstitution, Autorität und Strategie der Texte gleichermaßen von Bedeutung sein können. Sie lassen sich mit Hilfe von Varianten rekonstruieren, soweit sie nicht Ausdruck einer werkintern zu begründenden Intentionalitätsänderung sind. Sichtbar wird damit zugleich die ,äsopische Redeweise' der Autoren und die SKLAVENSPRACHE (1905 zuerst geprägt von Lenin, der jedoch seinerseits mit der Forderung nach „Parteiliteratur" neue Zensurnormen setzte; Lenin, 59). Um sich der Zensur zu entziehen, publizieren Autoren ihre Texte gelegentlich unter dem Namen anerkannter Autoren (/" Pseudonym), flüchten in die Anonymität oder bringen Tarnausgaben auf den Markt. (Bei Texten, die ihren Gegenstand und ihre Aussageintentionen verstecken, spricht man von TARNSCHRIFTEN.) Auf der anderen Seite ist auch die Rekonstruktion der Suchbilder der Zensoren von Interesse; im Laufe der vielfach nur punktuellen Durchführung der Zensur verdienen hier vor allem die affektischen Reizworte Beachtung. ForschG: Seit der Mitte des 19. Jhs. begann eine systematische Erforschung der Zensur (Sammlungen von Aktenstücken, presserechtliche Dokumentationen). Der Schwerpunkt lag auf den Anfangen der kirchlichen und weltlichen Bücherzensur im 16. Jh. so-

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wie auf den Zensurpraktiken der Metternich-Zeit. Zwischen 1918 und 1932 hat H. Houben in großem Umfang Material einem allgemeininteressierten Lesepublikum nahegebracht. Auftrieb erhielt die Zensurforschung in Deutschland erst wieder nach dem 2. Weltkrieg. Die Öffnung von Archiven ermöglichte eine intensive Erforschung der Zensurpraktiken in der NS-Zeit und in der DDR, während die geschichtliche Auseinandersetzung mit der Zensur in der Bundesrepublik meist in aktuelle politische Diskurse eingebettet ist (Kienzle/Mende 1980, Buschmann 1997). Im englischsprachigen Raum wurden die Studie von Putnam und das Lexikon Haights wegweisend. Charakteristisch für die Zensurforschung ist ihre Entfaltung in einer Fülle regionaler und autorenspezifischer Einzelstudien. Breuer (1982) skizzierte die Grundzüge der historischen Entwicklung und machte die Kontrollmechanismen einsichtig, die anläßlich aktueller Zensurmaßnahmen und erneut aufflammender Grundsatzdebatten jeweils neu ins Blickfeld rücken. Verschiedene Symposien (Wolfenbüttel 1985, Hamburg 1987, Wien 1989, Berlin 1993, Newcastle 2000) bezeugen ein kontinuierliches Interesse an Zensurproblemen und an Zensurspuren in den Texten. Lit: Simone Barck u.a.: „Jedes Buch ein Abenteuer". Zensur-System und literarische Öffentlichkeiten in der D D R bis Ende der 60er Jahre. Berlin 1997. - Dieter Breuer: Geschichte der literarischen Zensur in Deutschland. Heidelberg 1982. — Peter Brockmeier, Gerhard R. Kaiser (Hg.): Zensur und Selbstzensur in der Literatur. Würzburg 1996. - Silke Buschmann: Literarische Zensur in der B R D nach 1945. Frankfurt u. a. 1997. - Birgit Dankert, Lothar Zechlin (Hg.): Literatur vor dem Richter. Beiträge zur Literaturfreiheit und Zensur. Baden-Baden 1988. Ulrich Eisenhardt: Die kaiserliche Aufsicht über Buchdruck, Buchhandel und Presse im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation (1496-1806). Karlsruhe 1970. - Herbert G. Göpfert, Erdmann Weyrauch (Hg.): „Unmoralisch an sich ..." Zensur im 18. und 19. Jh. Wiesbaden 1988. - Jonathon [!] Green: The encyclopedia of censorship. New York 1990. - Anne Lyon Haight: Banned books 387 Β. C. to 1978 A. D. New York, London 4 1978. - Albert Hellwig: Jugendschutz gegen Schundliteratur. Berlin 1927. — Marina Hohl: Linke Hirnhälfte und Zensur.

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Zeugma

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chard Zipser (Hg.): Fragebogen: Zensur. Zur Literatur vor und nach dem Ende der DDR. Leipzig 1995. Klaus Kanzog

Zeremoniell S Ritual

Zeugma Rhetorische Figur der Auslassung. £xpl: Unter Zeugma versteht man (1) syntaktisch oder (2) semantisch inkongruente Koordinationen von Satzgliedern. Beispiele für (1) sind: (a) „Entzahnte Kiefern schnattern und das schlotternde Gebein [schnattert]" (Goethe, ,An Schwager Rronos') oder (b) „Ich werde mit dem Zug fahren und [ich werde] abgeholt". Das ausgelassene Verb ist in (la) inkongruent in bezug auf den Numerus des Subjekts. In (lb) ist „werde" einmal Bestandteil der Verbform des Futurs, einmal des Passivs. Für diesen Typus findet sich auch die Bezeichung SYLLEPSE (vgl. Isidor von Sevilla, ,Etymologiae' XX, 1: 36,5). Beispiele für (2) sind (a) „Er saß ganze Nächte und Sessel durch" (Jean Paul), (b) „Ich nehme keine Rücksicht, sondern Spargel", (c) „Sie ging ins Kloster und dort zu weit" o. ä. Semantische Inkongruenzen können durch Homonymie entstehen, durch den Wechsel von wörtlicher und übertragener Bedeutung, durch Ausnutzung unterschiedlicher Valenzstellen eines Worts und dergleichen. Zeugma bezeichnet ursprünglich eine als fehlerhaft empfundene syntaktische oder semantische Irregularität. Wo diese kaum noch gespürt wird, nähert sich das Zeugma der Ellipse ι (s Rhetorische Figur, vgl. Matuschek, 1018). Andererseits kann die Irregularität bewußt als Mittel von Sprachkomik eingesetzt werden Pointe durch Wechsel des Bezugsrahmens; ^ ScriptTheorie). WortG: Zeugma kommt von griech. ζυγόν [zygón] ,Joch', ,Zusammenfügung'. Als rhetorischer Terminus findet es sich bei Quintilian (9,3,58—65) unter den Wortfiguren (,fi-

Zirkel des Verstehens gurae elucotionis', ? Rhetorische Figur), und zwar denjenigen, die durch Auslassung entstehen, und geht von dort in die klassische Rhetorik über. BegrG/SachG: Bei Quintilian (9,3,62) ist .Zeugma' identisch mit dem A P O K O I N O U . Darunter ist eine Figur zu verstehen, bei der auf ein Wort oder Syntagma mehrere Syntagmen bezogen werden können, in denen es auftauchen müßte, wenn das Syntagma allein stünde. Ein komplexes Beispiel bietet die Programmstrophe des .Nibelungenliedes': „Uns ist [...] geseit / von helden lobebaeren [...]/ muget ir nu wunder hceren sagen" (.Uns ist [...] gesagt / von ruhmwürdigen Helden [...]/ werdet ihr jetzt Wunderbares zu hören bekommen'). Hier besteht anders als beim Zeugma keine syntaktische Inkongruenz; „von helden lobebaeren" ist Präpositionalobjekt sowohl zu „geseit" wie zu „hceren sagen". Von diesem Begriff des Zeugmas entfernt sich die rhetorische Tradition, indem sie auf dessen Irregularität abhebt. Mit Volkmann (1885, 477) setzt sich die oft schwierige Abgrenzung zwischen Apokoinou und Zeugma durch, indem letzteres als „die einmalige Setzung eines Verbalbegriffs, der genau genommen nur zu einem dabeistehenden Wort oder Satztheil passt", bezeichnet wird, „aus welchem dann für die übrigen Wörter oder Satztheile verwandte oder modificirte Begriffe zu ergänzen sind" (,conceptio'). Arbusow (1948, 58) unterscheidet das Zeugma als „Wortfigur, in der von einem Verbum mehrere andere Wörter abhängen", von ,Zeugma' im engeren Sinne, „falls von diesen Wörtern wirklich nur eins grammatisch zu dem Verbum gehört". Das Zeugma gehört zur ,determinatio' (/* Zeichen), die ein Kennzeichen des Ornatus facilis war. Als besondere Formen sind nach der Stellung des Verbs das Adiunctum (,Zeugma a superiori' — Stellung des Verbs am Anfang), das Coniunctum (,Zeugma ab inferiori' — Stellung des Verbs am Ende) und das Disiunctum (,Zeugma a medio' — Stellung des Verbs in der Mitte) zu unterscheiden (vgl. Arbusow, 58 f.). Lausberg 1,347—353, unterscheidet unter den Figurae per detractionem (,Redefiguren

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durch Auslassung') zwischen der suspensiven Detractio (der Ellipse), der klammerbildenden Detractio (dem Zeugma) und dem Asyndeton (/ Periode). Das Zeugma wird wiederum in das komplikationslose Zeugma' (,adiunctio') und das .komplizierte Zeugma' unterteilt. Das .komplikationslose Zeugma' entspricht dem Apokoinou; .Komplikation' ist dabei im Sinne von ,Spannungsschaffung' zu verstehen. Beim .komplizierten Zeugma' ist wiederum zwischen syntaktisch vs. semantisch kompliziertem Zeugma (also syntaktischem vs. semantischem Zeugma) zu differenzieren. Siehe auch Concetto. (Belege bei Arbusow, 58 f.; Lausberg 1, 347-353; Volkmann, 4 7 6 478.) Das Zeugma wird vor allem eingesetzt, um (sprach)komische Wirkungen zu erzielen. Es tritt daher gehäuft auf in Komödien, komischer Erzählliteratur (z. B. Sterne, Jean Paul) und überhaupt literarischen Texten, die artistisch mit Sprache spielen. ForschG: Bei Behaghel (1928, 395-398) findet sich eine Klassifikation ,zeugmatischer Verbindungen'. Fälle des syntaktischen Zeugmas werden in der modernen Sprachwissenschaft im Zusammenhang mit dem .Gapping' diskutiert (Rooryck 1985; Klein 1993). Lit: Leonid Arbusow: Colores Rhetorici. Göttingen 1948. - Otto Behaghel: Deutsche Syntax. Bd. 3. Heidelberg 1928. - Wolfgang Klein: .Ellipse'. In: Syntax. l.Halbbd. Hg. v. Joachim Jacobs u.a. Berlin, New York 1993, S. 763-799. - Stefan Matuschek: .Ellipse'. In: HWbRh2, Sp. 1017-1022. - Johan Rooryck: Gappingzeugma in French and English. In: Linguistic Analysis 15 (1985), S. 187-229. - Richard Volkmann: Die Rhetorik der Griechen und Römer [21885], Repr. Hildesheim 1963. - William K. Wimsatt, jr.: Rhetoric and poems. In: W. K. W.: The verbal icon [1954], Repr. London 1970, S. 169-185.

Jörg Meibauer

Zielgruppe s Publikum Zirkel des Verstehens f Hermeneutischer Zirkel

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Zitat

Auch fremd- und fachsprachliche, obsolete und idiomatische Ausdrücke, Elemente Wörtliche Übernahme und Einfügung aus heterogener Stilebenen und sprachlicher fremden Texten, meist mit Markierung und Subsysteme (Sozio-, Dialekte) können anNachweis der Quelle. geführt, d.h. als Zitat eingesetzt werden, ohne auf eine konkrete Äußerung zu verExpl: Ein Zitat ist eine Stelle aus einem ande- weisen. ren Text, aber auch der Akt des Zitierens (,ZiZitiert wird nicht nur in und aus der Litetation'). Es ist eine spezifische Konkretisaratur. Auch nach der Sprengung des Monotionsform von Text-Text-Beziehungen (/" Inpols druckschriftlicher Kommunikate tertextualität) und kann in intertextuellen durch plurale Massenmedien (Film, TV, Schreibweisen als Strukturelement mit unWerbung) erweist sich das Zitat als basaler, terschiedlicher Funktion und Dominanz die unterschiedlichen diskursiven Felder auftreten. Als konstruktives, stilistisch und verbindender Mechanismus der Rezeption, semantisch produktives Element, das BeVerarbeitung, Zirkulation und Speicherung züge zur literarischen Tradition stiftet und von Texten. inszeniert, wird das Zitat erst seit dem Zitate sind in der Regel markiert; bei 20. Jh. wahrgenommen. Quellennachweis spricht man von identifiDer Umfang eines Zitats kann vom ein- zierten Zitaten. Ein als solches ausgewiesezelnen Wort bis zum vollständigen Text rei- nes Zitat ohne realen Quellenbezug ist fiktiv chen (im Falle von Kleinformen wie oder fabulistisch. Verbindliche terminologiAphorismen, /" Sprichwörtern, auch Ge- sche Unterscheidungen wie Intext für den dichten). Im Unterschied zur ? Anspielung2 im Zitat aktualisierten Teil des Intertextes ist ,Zitat' im engeren Sinne eine wörtliche (der Quelle, des Prä-, Geno-, Proto- oder Übernahme, die im Gegensatz zu Entleh- Ausgangstextes) und Phänotext, Zitattextl nung und / Plagiat auch als solche ausge- quotation text (für den zitierenden Text) hawiesen wird. ben sich nicht durchgesetzt (/" IntertextualiDaneben gibt es einen erweiterten Zitat- tät). begriff: Der strengen Einschränkung auf Zitatzeichen fungieren als Interpunktion, wortlautliche Einzeltext-Referenz stehen die einen anderen Text und Kontext evobegrifflich Tendenzen einer entdifferenzie- ziert, und schaffen insofern eine funktionale renden Ausweitung auf jegliche Form von Äquivalenz zwischen nur diakritisch angeBezugnahmen gegenüber (/" Referenz). Das führten Codes bzw. Code-Elementen und Kriterium der Wörtlichkeit und die katego- .Zitaten' im .eigentlichen' Sinn. riale Unterscheidung von Weisen des syEin Parameter für den Stellenwert eines stemreferentiellen Bezugs (auf der Ebene Zitats ist der Ort der Einfügung im zitierenvon Codes, Gattungsmustern, Verfahren, den Text (auch im Paratext: S Motto2). Motiven, Stilregistern) sind jedoch — auf- Die Variablen ,Umfang', ,(Un-) Vollstängrund des Gebrauchs von Anführungszei- digkeit', ,Stellenwert' bezeichnen auch eine chen — nicht hinreichend: Aus den Konven- Grenze der Generalisierbarkeit von Funktionen der typographischen (in mündlicher tionen des Zitats. Als Unterbrechung der Kommunikation: intonatorischen, gesti- Linearität und Autonomie sowohl des zitieschen) Markierung (,signa citationis', An- renden als auch des zitierten Textes und als führungszeichen, Kursivierung, Inquit-For- Interferenz beider Texte erzeugt das Zitat meln etc.) ergibt sich als weiteres Definiens eine Spannung von vergegenwärtigender der modalisierende (distanzierende, vorbe- Wiederholung und verändernder Aneighaltliche, ? uneigentliche, auch S tropi- nung. sche2, ζ. B. metaphorische, ? ironische) Das Zitat ist eine doppelt codierte, refleSprachgebrauch. Das Funktionsspektrum xive Äußerung: ein Zeichengebrauch (,use'), ist somit größer als bei der /* Parodie, dem der auf anderen, vorgängigen ZeichengePastiche oder bei der Imitatio eines brauch verweist (.mention'; vgl. Lorenz). Es kann die unterschiedlichen Ebenen der zivorbildlichen Textes.

Zitat

Zitat tiert-integrierten Äußerung fokussieren. Danach lassen sich auch funktionale Möglichkeiten des Zitats schematisch differenzieren: Es fokussiert den propositionalen Gehalt (semantisch; /" Proposition), den Wortlaut, die Prägnanz der Formulierung (stilistisch), den Autor als solchen, einen Text im allgemeinen und das konnotierte Diskursfeld (affirmativer oder kritisch-polemischer Bezug auf die Autorität der Tradition). Zugleich verweist ein Zitat auf den zitierenden Text selbst, der im Zitat seine Beziehung zu fremder Rede und vorgängigen Texten organisiert (s Dialogizität) und die Rolle von Äußerungen und Subjekten im Sprachprozeß reflektiert. WortG: Zitat geht zurück auf lat. citare ,(an-, herbei-) rufen', zunächst in der Bedeutung von ,vorladen', ,vor Gericht laden'; später auch: ,berufen auf schriftliche Quellen'; als dt. Lehnwort seit dem 15. Jh. zunächst im juristischen, seit dem 18. Jh. auch im wissenschaftlichen Sprachgebrauch als ,anführen' (auf Quellen verweisen) gebräuchlich, erst seit dem 19. außerhalb literarischer und wissenschaftlicher Verwendung (Schulz-Basler 6, 391-398). Zu ,Anführung', ,Nachweis', Quellenangabe' tritt allmählich die Bedeutung Geflügeltes Wort (>* Apophthegmä),,uneigentliches Sprechen' und phrasenhaftes Sprachelement' hinzu. Schließlich werden auch /" Sprichwörter, s Redensarten, in den allgemeinen Sprachgebrauch eingegangene, auch apokryphe /* Sentenzen und prägnante Formulierungen literarischer Autoren als Zitat bezeichnet (vgl. ,Reclams Zitaten-Lexikon'). Johannes John: Reclams Zitaten-Lexikon. Stuttgart 5 2000.

BegrG: Die Rhetorik kennt nicht den Begriff, aber die Praxis des Zitats: als s Exempel, als Autoritäts- und Quellenberufung (.testimonium') und als ? Ornatus (im ,genus grave'; ? Genera dicendi, ? Redegattungen). Das Zitat gehört zum Bereich der Elocutio. Das mittelalterliche lat. Äquivalent auctoritas legt das Zitat auf beglaubigende Funktion fest. In der Frühen Neuzeit dienen Zitate als Nachweis der Adaptation klassischer Muster (s Imitatio). Im Bereich der Topik von Zitat zu sprechen, ist nicht

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gerechtfertigt; erst wenn ,loci communes' nicht mehr als Argumentationsschemata, sondern als Stoffquellen benutzt werden, fungieren sie als Zitat. Dieses Kriterium ist bis zum Barock und darüber hinaus entscheidend für die Einschätzung, ob topische Verwendung oder Zitat vorliegt (Simon, 1059—1067; zur antiken „préhistoire de la citation" vgl. Compagnon, 93 — 154). Nach dem Ende der rhetorischen Fundierung der Literatur und in Folge der „originalistischen Wende" um 1800 (Simon, 1059) wird das Zitat in der Literatur erst seit dem 20. Jh. als legitim — und nicht als Mangel an Originalität und Autonomie — betrachtet, aber zunächst lediglich im Rahmen von Forschung untersucht. Allmählich wurde das Zitat als poetisches Element wahrgenommen, in dem der Autor sein Verhältnis zur literarischen Tradition reflektiert. Da das Zitat Verknüpfungen zwischen Texten herstellt, hat der Zitatbegriff eine Schlüsselfunktion in der Intertextualitätstheorie; kontrovers ist weiterhin die extensionale Abgrenzung. SachG: Das Zitat ist im Mittelalter Bestandteil von Bibelauslegung, Predigtlehre und geistlicher Dichtung und dann auch der weltlichen Literatur. In Florilegien, Chrestomathien und anderen Zitatensammlungen werden autoritative Äußerungen von Kirchenlehrern, Theologen, Philosophen u.a. (,auctoritates') zum Gebrauch bereitgestellt. Wortwörtlichkeit ist im Mittelalter die Ausnahme; angebliche Quellenberufungen führen häufig in die Irre; in volkssprachigen Übersetzungen lateinischer Texte werden Nachweise von Zitaten oft weggelassen. Seit der Frühen Neuzeit werden Zitatenschätze in Form von volkssprachigen Sprichwort·, Exempla-, Memorabilia-Sammlungen (,Thesauri', ,Analecta', .Collectanea', .Epitomae') durch Kompilation zusammengestellt. Zunehmende Bedeutung gewinnt das Zitat mit der Ausbreitung der Schriftkultur, der Verfügbarkeit und Verbreitung gedruckter volkssprachiger Texte, dann mit der Entstehung eines säkularen und kommerziellen Buchmarktes und der Institution von /" Urheberrecht (um 1800). Als .geistiges Eigentum' fallen Zitate nun unter das Urheber-,

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Zitat

Verlags- und Presserecht und können zum Politikum und zum juristischen Tatbestand werden (hierzu Beiträge in Posner 1992). Das Zitat wird zu einem Mechanismus der Rückkopplung von druckschriftlicher und mündlicher Kommunikation. Zitierfahig werden neben theologischen nun auch (hoch)literarische Texte. Büchmanns g e flügelte Worte' (seit 1864 in zahlreichen, laufend veränderten und erweiterten Auflagen; vgl. Hess) und zahllose andere, popularisierende f Anthologien machen literarische Texte v. a. der / Klassiker in Form der sentenziösen Reduktion einer erbaulichen Aneignung zugänglich und stimulieren die Re-Produktion auch in außerliterarischer Kommunikation (,Bildungszitat'). Während im f Cento, der vollständig aus fremder Rede zusammengesetzt ist, der Zitatcharakter dissimuliert wird, weist die /* Montage!Collage den zitierenden Text selbst nur als Redaktion und Syntax des zitierten Materials aus. Die f Dokumentarliteratur nutzt den Realismus-Effekt (/" Realismus¡) des Zitats bei der Modellierung (zeit)historisch-dokumentarischen Quellenmaterials. Die Pop-Literatur spielt mit zitathaften Bruchstücken aus Popmusik, Werbung, Alltagskultur u. ä. ForschG: Vor dem intertextualitätstheoretischen Paradigmawechsel wurde das Zitieren nur vereinzelt als originäres literarisches Verfahren erkannt (Meyer 1961, der auch von ,Zitierkunst' spricht). Durch den /" Poststrukturalismus ist ,Zitat' seit den 1960er bzw. 1970er Jahren zu einem Zentralbegriff geworden. Schon von Bachtin und Volosinov wird die doppelt gerichtete Äußerung, der (»dialogische') Bezug auf das ,fremde Wort', generell als konstitutive Struktur des sprachlichen Prozesses begriffen; damit wird, auch wenn ,Zitat' nicht terminologisch fixiert und nicht streng von anderen Weisen der Bezugnahme unterschieden wird, Intertextualität am Modell des Zitats konzipiert — als Text-, nicht als Systemreferenz. Auch Derrida entwickelt die These der trans-kontextuellen Iterierbarkeit als Grundstruktur des Zeichengebrauchs am Modell des Zitats. Diese theoretischen Impulse haben vielfältige kulturwissenschaftliche Konzeptbil-

dungen stimuliert, aber auch Totalisierungen und Metaphorisierungen: der Text als ,Gewebe' (R. Barthes) und ,Mosaik' von Zitaten (J. Kristeva), Schreiben und Lesen, Ecriture und ? Lecture schlechthin als Zitat (Compagnon, 34); ,Zitathaftigkeit' als Reaktion auf den (postmodernen) Zustand der Sprache und der Literatur (vgl. Oraic Tolic), ,citationality' (Butler) als Strategie der Subversion hegemonialer Diskurse. Der Tendenz, ,Zitat' und ,zitathafte' Verfahren als Oberbegriff zu verwenden, stehen Bestrebungen nach begrifflicher und terminologischer Differenzierung und analytischer Operationalisierbarkeit gegenüber (hierzu Broich/Pfister). Untersuchungen zu Poetiken des Zitats bei einzelnen Autoren, Werken, Werkgruppen und Gattungen sind, auch wegen der Interferenzen mit intertextuell orientierter Forschung, kaum noch zu überblicken (vgl. Hebel). Die Skizze einer Literaturgeschichte des Zitats und eine selektiv-paradigmatische Übersicht zu einzelnen Autoren entwirft Simon; den Versuch einer Taxonomie der Formen und Funktionen des Zitats und einer Typologie der ,Zitathaftigkeit' unternimmt Oraic Tolic (1995, 39 — 52). Hinweise zu einer .grammar of quotation' mit den Parametern .distribution', frequency', interference', .markers' gibt Plett (1991). Lit: Michail M. Bachtin: Die Ästhetik des Wortes. Hg. v. Rainer Grübel. Frankfurt 1979, S. 154-300. - Andreas Böhn (Hg.): Formzitate, Gattungsparodien, ironische Formverwendung. St. Ingbert 1999. - Ulrich Broich, Manfred Pfister (Hg.): Intertextualität. Tübingen 1985. - Judith Butler: Haß spricht. Zur Politik des Performativen [1997]. Berlin 1998. - Antoine Compagnon: La seconde main ou le travail de la citation. Paris 1979. — Jacques Derrida: Signatur Ereignis Kontext. In: J. D.: Randgänge der Philosophie [1972], Hg. v. Peter Engelmann. Wien 1988, S. 291-314. - Heide Ellert: Das Kunstzitat in der erzählenden Dichtung. Stuttgart 1991. — Udo J. Hebel: Intertextuality, allusion, and quotation: an international bibliography of critical studies. New York u.a. 1989. - Rudolf Heimstetten Das Ornament der Grammatik in der Eskalation der Zitate. München 1995. - Günter Hess: Vom Flug der Worte und Bilder. Büchmanns ,Citatenschatz' als Medium deutscher Bildungs- und Ideologiegeschichte im 19. und 20. Jh. In: Die Literatur und die Wissenschaften 1770-1930. Fs.

Zyklus Walter Müller-Seidel. Hg. v. Karl Richter u.a. Stuttgart 1997, S. 233-294. - Reinhard Klokkow: Linguistik der Gänsefüßchen. Frankfurt 1980. — Kuno Lorenz: ,use and mention'. In: Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie. Hg. v. Jürgen Mittelstraß. Bd. 4. Stuttgart, Weimar 1996, S. 459 f. - Herman Meyer: Das Zitat in der Erzählkunst. Stuttgart 1961. - Stefan Morawski: The basic functions of quotation. In: Sign, language, culture. Hg. v. Algirdas J. Greimas u.a. Den Haag, Paris 1970, S. 690-705. Dubravka Oraic Tolic: Das Zitat in Literatur und Kunst. Wien u. a. 1995. — Friedrich Panzer: Vom mittelalterlichen Zitieren. Heidelberg 1950. Heinrich F. Plett: Intertextualities. In: Intertextuality. Hg. v. H. F. P. Berlin, New York 1991, S. 3 - 2 9 . - Roland Posner (Hg.): Zs. für Semiotik 14 (1992), H. 1 - 2 . - Elena Sciaroni: Das Zitatrecht. Locarno 1970. - Hans-Ulrich Simon: ,Zitat'. In: RL 2 4, S. 1049-1081. - Valentin N. Volosinov: Marxismus und Sprachphilosophie. Hg. v. Samuel M. Weber. Frankfurt u. a. 1975.

Rudolf Helmstetter

Zivilisationsprozeß Zukunftsroman

Kulturtheorie Science Fiction

Zwischenspiel ? Intermezzo Zyklus Gruppe von selbständigen, in narrativer Sukzession oder thematischer Variation aufeinander bezogenen Gedichten, Dramen oder Erzähltexten. Expl: Eine systematische Definition grenzt Zyklus — wie Tetralogie und Trilogie — sowohl von einer bloßen Reihe, Sammlung oder λ Anthologie von Einzeltexten als auch von mehrteiligen Texten (ζ. B. ? Rahmenerzählungen) ab und berücksichtigt die im Nacheinander und im Bezug auf die Textgesamtheit je unterschiedlich stark eingeschränkte, aber nie vollständig reduzierte Autonomie der Teiltexte. Inhaltliche Kriterien sind dabei auf entstehungsgeschichtliche beziehbar, aber nicht mit ihnen gleichzusetzen. Zyklische Literatur bedient sich sowohl externer raum-zeitlicher Verknüp-

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fungen (Reisestationen; Jahres-, Tageszeitenzyklen, Kalender- und Kirchenjahr, Lebensalter usf.), numerischer oder inhaltlicher Ordnungsmuster (s Perikopen-, f Stundenbücher, s Kalender, Gemäldezyklen usf.) als auch abstrakter semantischer Integrationsprinzipien (,narrative' und ,variation cycles'; Mustard, 1—5, 78—143). Insofern zyklische Relationen zwischen Texten semantische Heteronomie und Autonomie, Fremd- und Selbstbezüglichkeit ausbalancieren und Paradoxien aus Linearität und kreishafter Geschlossenheit in einer „,spiralisch' in sich zurücklaufende[n] Reihung" (Müller, 20) auflösen, können sich auch Trilogien, Tetralogien oder /* Sonettenkranz als im engeren Sinn zyklisch erweisen. WortG: Das Wort (lat. cyclus) geht auf griech. κύκλος [kyklos] ,Kreis', .Kreislauf', ,Ring', ,Rad' zurück und bezeichnet in der Antike nicht nur einen periodischen Wechsel in der Zeit sowie eine rhetorische Figur (Kyklos, s Anapher), sondern auch bereits die „Zusammenfassung und Darstellung einer Reihe von Begebenheiten", also das, „was wir heute Abriß oder Enzyklopädie" nennen (Pauly-Wissowa, 2347 f.); es betont den inhaltlichen Zusammenhang von S a genkreisen', insbesondere der nachhomerischen ionischen Epiker des 8. vorchristlichen Jhs. Im Dt. findet es im späten 18. Jh. Eingang in kunstphilosophische und poetologische Kontexte, etwa in Fr. Schlegels hermeneutischen Überlegungen zur „cyklischen Methode" und zur „Cyklisazion" als dialektischer „Totalisazion" (1797, 49 und 51). Paulys Real-Encyclopädie der classischen Altertumswissenschaft. Neue Bearbeitung. Begonnen v. Georg Wissowa, hg. v. Wilhelm Kroll. 22. Halbbd. Stuttgart 1922. - Friedrich Schlegel: Philosophie der Philologie [1797]. Mit einer Einleitung hg. v. Josef Körner. In: Logos. Internationale Zs. für Philosophie der Kultur 17 (1928), S. 1 - 7 2 .

BegrG: Als literarische Bezeichnung setzt sich das Wort im 19. Jh. anfangs nur zögernd durch (siehe aber Heines ,Die Nordsee', 1825/26); Goethe wendet es auf Malerei, nicht aber auf seine eigenen Gedichtzyklen an. Später dient Zyklus ex post als

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Zyklus

Sammelbezeichnung für alle Facetten des Begriffs, besonders bei einzeltextübergreifenden Kohärenzmodi etwa im zeit- und familiengeschichtlichen ,roman fleuve' Balzacs (,Comédie humaine', 1842—1846) oder Zolas (,Les Rougon-Macquart', 20 Bde., 1871-1893; s. Gmelin). Enthalten Rahmenerzählungen mehrere selbständige Binnentexte, wird deren Relation gelegentlich als zyklische Rahmung' bezeichnet (Klotz). Von der festen Form des meist drei- bis fünfteiligen „Einakterzyklus" spricht man (ζ. B. Bayerdörfer, 245 f.) in bezug auf den selten vereinzelt auftretenden /* Einakter. Hans-Peter Bayerdörfer: Die Einakter - Gehversuche auf schwankendem Boden. In: Brechts Dramen. Hg. v. Walter Hinderer. Stuttgart 1984, S. 245-265.

SachG: Zyklische Beziehungen zwischen Gedichten lassen sich schon im 16. (Celtis' Liebeselegien ,Quattuor libri amorum', 1502) und 17. Jh. beobachten und orientieren sich an Petrarcas Laura-Sonetten (Weckherlin), an der / Perikopen-Dichtung, entsprechen — wie F. v. Spees geistlicher Liederzyklus ,Trutz Nachtigal' (1649) — numerischen und temporalen, sakralen Ordnungsmustern oder den pseudo-dramatischen Dialog-Situationen geistlicher Schäferpoesie (z. B. in Angelus Silesius' ,Heilige Seelenlust oder Geistliche Hirtenlieder', 1657). Die Grenze zur Sammlung markieren Gryphius' Sonettenbücher. Von narrativ-linearen Kohärenzmodellen lösen sich Novalis' ,Geistliche Lieder' (1801) und seine sechs ,Hymnen an die Nacht' (1800), deren abstrakte Bedeutungsorganisation semantische Polaritäten konstituiert und versöhnt. Dies gilt umso mehr für die lyrischen Zyklen Goethes, der das Inventar formaler und inhaltlicher Integrationsprinzipien ausschöpft, um Paradoxien aus Selbst- und Fremdbezüglichkeit bereichert und diese in Großzyklen (.Römische Elegien', 1795; .Sonette', 1815; .West-östlicher Divan', 1819, erweitert 1827) und Kleinzyklen (,Urworte. Orphisch', 1820; .Chinesisch-Deutsche Jahres- und Tageszeiten', 1830) realisiert. Insbesondere der .Divan' (von persisch diwan .Sammlung') erweist sich als „ein Text über die Probleme des Zyklus" (Wünsch, 266).

Im 19. und 20. Jh. variiert das Spektrum zyklischer Kohärenzmodi: Eine durch Raumvorstellungen motivierte Gruppenbildung zeichnet u. a. Uhlands ,Wanderlieder' (1813) oder W. Müllers Zyklen .Die schöne Müllerin' (1820/21) und .Die Winterreise' (1823/ 24) aus; Chamissos .Frauen-Liebe und Leben' (1830) folgt weiblichen Lebensstationen. Die anhaltend erfolgreiche /* Vertonung solcher Gedichtzyklen durch Schubert, Schumann u.a. verhalf dem komponierten ,Liederzyklus' (/" Kunstlied) zum Durchbruch; ähnlichen Ordnungsprinzipien folgt auch Heines ,Buch der Lieder' (1827). Während sich Brentanos ab 1803 entstandene, unvollendete .Romanzen vom Rosenkranz' (postum 1852/55; / Romanze) dem Versepos nähern, schließt sich A. v. DrosteHülshoff mit dem .Geistlichen Jahr' (postum 1851) dem Ordnungsmuster lyrischer Perikopenzyklen an. In Großzyklen ohne extern vorgegebene Strukturmuster, wie Rückerts enzyklopädischem .Lehrgedicht in Bruchstücken' (,Die Weisheit des Brahmanen', 1836-1839), entstehen dagegen Kohärenzprobleme. Rilke (u.a. .Stundenbuch', 1905) und George (u.a. ,Das Jahr der Seele', 1897), später auch Brecht (,Hauspostille', 1927) rufen darüber hinaus schon mit den Titeln Gattungsvorbilder ab. Als innovativ und poetologisch reflektiert erweisen sich insbesondere die experimentellen Sonettenkränze von F.J. Czerain (,die kunst des sonetts', 1985—1993) sowie die intertextuell vernetzten und zugleich selbstbezüglichen Gedichtzyklen P. Wührs (vgl. Ort). Beschränken sich Dramen- oder Romanzyklen häufig auf Tri- und Tetralogien, bilden größere Zyklen aus Erzählungen oder Novellen keine Seltenheit (Stifter, ,Bunte Steine', 1853; Keller, ,Die Leute von Seldwyla', 1856; Doderer, ,Sieben Variationen über ein Thema von Johann Peter Hebel', 1926; Benn, ,Gehirne', 1916). ForschG: Seit Scherers Untersuchungen ,Über die Anordnung Goethe'scher Schriften' (1882-1884) sind textübergreifende Prinzipien der s Komposition Gegenstand der Forschung. Zunächst wird dabei zwischen .Sammlung' und .Zyklus' kaum un-

901

Zynismus terschieden (z.B. Thalmann). Organismusmetaphorik und emphatische Produktionsästhetik erleichtern es, die Autorenbiographie zum Garanten der Zykluskohärenz zu erheben und die Sammlung „als etwas Gebautes", Künstliches gegenüber dem Zyklus „als etwas Gewachsene[m]" (Becker, 420) abzuwerten. Dessen „Einheit [sei] von Anfang an gegeben" (ebd.) und gestatte weder Umstellung noch Einschub von Texten. „Vielzahl [habe] im Zyklus nicht bloß Summenwert, sondern Vereinigungswert" (Spitteier [1898], 123), der sich der Einheit des kreativen .Augenblicks' verdanke (Becker, 420; Kommereil, 222). Als Vorstufe eher textintern ausgerichteter Definitionsversuche kann dagegen die geometrische Metaphorik (,Kreis'/,Mittelpunkt') von J. Müller gelten; mit der Metapher der ,Spirale' nähert er sich Konkretisierungen zyklischer Beziehungen als Relationen von Zirkularität und Linearität, Identität und Differenz, Selbst- und Fremdbezüglichkeit (Mustard, 5; Ihekweazu, 32; Wünsch, 229; resümierend Braungart; rezeptionsästhetisch gewendet Denneler). Literaturgeschichtlich werden zyklische Kohärenzmodelle als Ausdruck sozialer und politischer Ganzheitsoder Pluralitätsvorstellungen sowie mythischer Zeit- und zyklischer Geschichtskonzeptionen (Plumpe) nach der Enttäuschung teleologischer oder heilsgeschichtlicher Fortschrittserwartungen interpretiert und ihr Auftreten v. a. im 19. und 20. Jh. als Zeichen gesellschaftlicher Krisen verstanden (Vonhoff). Daß sich schließlich die filmwissenschaftliche Definition von ? Serie als

Erzähl- und Sendeformat zwischen Mehrteiler' und ,Reihe' mit der literaturwissenschaftlichen von .Zyklus' zwischen Einzeltext und Sammlung berührt, kann die Untersuchung von Phänomenen der Serialisierung im Medienvergleich anregen (Giesenfeld). Lit: Carl Becker: Das Buch Suleika als Zyklus [1952]. In: Studien zum West-östlichen Divan Goethes. Hg. v. Edgar Lohner. Darmstadt 1971, S. 391-430. - Wolfgang Braungart: Zur Poetik literarischer Zyklen. In: Csúri 1996, S. 1 - 2 7 . Károly Csúri (Hg.): Zyklische Kompositionsformen in Georg Trakls Dichtung. Tübingen 1996. — Iris Denneler: Textbegehrlichkeiten oder Was

fasziniert am Zyklus? In: Csúri 1996, S. 29-47. - Cordula Gerhard: Das Erbe der .Großen Form'. Untersuchungen zur Zyklus-Bildung in der expressionistischen Lyrik. Frankfurt u. a. 1986. - Günter Giesenfeld (Hg.): Endlose Geschichten. Serialität in den Medien. Hildesheim u.a. 1994. — Hermann Gmelin: Der französische Zyklenroman der Gegenwart 1900-1945. Heidelberg 1950. - Reinhard Ibler: Textsemiotische Aspekte der Zyklisierung in der Lyrik. Neuried 1988. - Edith Ihekweazu: Goethes West-östlicher Divan. Untersuchungen zur Struktur des lyrischen Zyklus. Hamburg 1971. - Volker Klotz: Erzählen als Enttöten. Vorläufige Notizen zu zyklischem, instrumentalem und praktischem Erzählen. In: Erzählforschung. Hg. v. Eberhard Lämmert. Stuttgart 1982, S. 319-334. - Max Kommereil: Gedanken über Gedichte. Frankfurt 1943. - Hans-Henrik Krummacher: Der junge Gryphius und die Tradition. München 1976. — Erich Meuthen: Bogengebete. Sprachreflexion und zyklische Komposition in der Lyrik der ,Moderne'. Frankfurt u.a. 1983. - Joachim Müller: Das zyklische Prinzip in der Lyrik. In: GRM 20 (1932), S. 1 - 2 0 . - Helen Meredith Mustard: The lyric cycle in German literature. New York 1946. - Claus-Michael Ort: Zyklopoiesis: Annäherungen an ,Salve Res Publica Poetica'. In: falsches lesen. Fs. Paul Wühr. Hg. v. Sabine Kyora. Bielefeld 1997, S. 233-252. - Gerhard Plumpe: Zyklik als Anschauungsform historischer Zeit. In: Bewegung und Stillstand in Metaphern und Mythen. Hg. v. Jürgen Link und Wulf Wülfing. Stuttgart 1984, S. 201-225. - Wilhelm Scherer: Über die Anordnung Goethe'scher Schriften. In: Goethe-Jb. 3 (1882), S. 159-173; 4 (1883), S. 51-78; 5 (1884), S. 257-287. - Joachim Seng: Auf den Kreis-Wegen der Dichtung. Zyklische Komposition bei Paul Celan am Beispiel der Gedichtbände bis ,Sprachgitter'. Heidelberg 1998. Carl Spitteier: Kritische Schriften. Hg. v. Werner Stauffacher. Zürich, Stuttgart 1965. - Marianne Thalmann: Gestaltungsfragen der Lyrik. München 1925. - Gert Vonhoff (Hg.): Naturlyrik. Über Zyklen und Sequenzen im Werk von Annette von Droste-Hülshoff, Uhland, Lenau und Heine. Frankfurt u.a. 1998. - Marianne Wünsch: Der Strukturwandel in der Lyrik Goethes. Stuttgart, Berlin 1975. Claus-Michael

Ort

Zynismus Haltung und sprachlicher Gestus spöttischer Überlegenheit.

902

Zynismus

Expl: Als zynisch bezeichnet man Rede- und Verhaltensweisen, die eine Distanz bei gleichzeitiger Zustimmung gegenüber herrschenden Machtverhältnissen zum Ausdruck bringen. Dabei kann der Zyniker entweder überlegener und arroganter Vertreter der Macht sein, der den Machtbesitz kaltblütig bejaht und ausnützt, oder aber spöttischer Kritiker, der die Machtordnung bloßstellt, während er gleichzeitig die eigene vollkommene Ohnmacht und eine daraus resultierende Gleichgültigkeit evoziert. Zynismus als Stilmittel bezeichnet primär Formen aphoristisch-fragmentarischer Reflexion, die Witz und Moral verbinden. Im Unterschied zum Zynismus bedeutet SARDONISMUS (von griech. σαρδόνιος [sardánios], lat. sardonius ,höhnisch', ,bitter') ein grimmiges Lachen aus Zorn, SARKASMUS (griech. σαρκασμός [sarkasmós], lat. sarcasmus) den bitteren Spott aus Verzweiflung. WortG: Wortgeschichtlich geht der Ausdruck Zynismus zurück auf die philosophische Bewegung der Kyniker. Ihr Name ist wohl vom bei Athen gelegenen Gymnasium ,Kynosarges' abgeleitet, wo Antisthenes (444-368 v. Chr.), der angebliche Begründer, gelehrt haben soll. Andere Quellen führen die Bezeichnung auf griech. κύων [kyon] ,Hund' zurück, ist dieser doch seit Diogenes von Sinope (404—323 ν. Chr.), dem wichtigsten kynischen Philosophen, Symbol ihres philosophischen Stils. Während das Adjektiv cynisch (über lat. cynicus von griech. κυνικός [kynikós]) dt. schon im 16. Jh. vereinzelt, seit dem 18. Jh. kontinuierlich Verwendung findet (Geliert 1784; vgl. SchulzBasler 6, 439-444), verbreitet sich Cynismus verstärkt erst seit dem 1. Drittel des 19. Jhs. (Baggesen 1836; vgl. DWb 32, 1456). BegrG: Der Kynismus ist zunächst nicht durch eine bestimmte Lehre, sondern durch die spezifische Form der Intervention charakterisiert, mit der der Kyniker auf dem Marktplatz den Bürger zu provozieren und darauf aufmerksam zu machen sucht, daß sein Denken in Gemeinplätzen gefangen ist. In diesem Sinne propagieren die Kyniker ein auf Autarkie ausgerichtetes, illusionslo-

ses, natürlich-sittliches Leben. Seit dem 18. Jh. wird zunehmend zwischen kynisch und zynisch unterschieden, wobei der kritische Idealismus und die Selbstbehauptung des (antiken) Kynikers dem Nihilismus und der moralischen Gleichgültigkeit des (modernen) Zynikers gegenübergestellt werden. Die Bedeutung, die der Begriff des Zynismus im heutigen Sprachgebrauch besitzt, bildet sich im 18. und 19. Jh. aus. Davor orientiert sich die Verwendung an den seit der Antike tradierten Kyniker-Anekdoten. Idealisierung und Ablehnung des Diogenes und seiner exemplarischen Funktion als Kulturkritiker stehen sich seit der Antike gegenüber. So kann der philosophische Stil kynischer Intervention am Beispiel des publikumssüchtigen Peregrinus verspottet (Lukian), als heidnische Schamlosigkeit gebrandmarkt (Augustin) oder als Askese stilisiert werden (Hieronymus). Im Anschluß an Hieronymus wird das Kynische in der mittelalterlichen Exempelliteratur mit einer vorbildlichen Haltung in Zusammenhang gebracht, die freiwillig die Armut wählt und dem Christen als Beispiel dienen soll. Seit der Renaissance treten mit den Motiven intellektueller Ungebundenheit (Petrarca), freier Rede (Hans Sachs), kosmopolitischer Welterfahrung (Giordano Bruno) und aufklärerischer Vernunft-Autarkie (Diderot) neue Aspekte des Kynischen in den Vordergrund. Gleichzeitig zeichnet sich zunehmend ein negatives Bild ab, das die antibürgerlichen und gemeinschaftskritischen Momente der kynischen Haltung betont (Hegel) und die moderne Bedeutung des Begriffes ,Zyniker' vorbereitet. SachG: Kynismus bezeichnet seit der Antike eine Lebensform und spezifische Sprechakte, die verunsichernd und enthüllend wirken. Dabei spielt der Spott eine wichtige Rolle, bildet er doch das Mittel, durch das die selbstverständliche Ordnung der Welt in Frage gestellt wird; nicht zuletzt durch die demonstrative Verweigerung emotionaler Beteiligung in Kontexten, in denen derlei erwartet wird (Mitleid etc.). Von der sentenzartigen Intervention des Kynikers in Form der sogenannten ,Chrien', die bei Plutarch, Seneca und Diogenes Laertius überlie-

Zynismus fert sind, führt ein Weg zur antiken Satire (Bion von Borysthenes, Menippos, Varrò, Petronius, Lukian); ein zweiter zum mittelalterlichen / Exempel, das die kynischen Sprüche in Predigten verwendet (Meister Eckhart); ein dritter schließlich zum frühneuzeitlichen Spiel (Hans Sachs) und zur Erzählliteratur des 16. Jh. (anonymer ,Diogenes'-Roman). Zynismus kommt in der Moderne als Stilmittel zum Einsatz, wenn in unsystematischer Weise, oft fragmentarisch-aphoristisch, schlagfertig, überraschend und witzig aufklärerische und sozialkritische Positionen vertreten werden (etwa im Werk von J. Swift, Voltaire, Diderot, F. Schlegel, Heine, F. Nietzsche, K. Kraus, Tucholsky, Brecht, Th. Bernhard; vgl. Niehues-Pröbsting, 298 ff.); gleichzeitig charakterisiert er die Selbstdarstellung totalitärer Machtausübung etwa dort, wo angesichts offensichtlicher Mißachtung der Volksrechte von .freier Wahl' die Rede ist. Kynismus — im antiken Verständnis — überlebt in Äußerungsformen sogenannter Alternativkulturen (s Gegenkultur), die den

903

Bürger verspotten und seinen Alltag lachend zu zersetzen suchen. ForschG: Die Forschungsgeschichte hat sich vor allem mit dem Verhältnis der Begriffe , Kynismus' und .Zynismus' beschäftigt (Niehues-Pröbsting, Sloterdijk). Daneben ist in den letzten Jahren stärker auch die exemplarische, aufklärerische Geltung des Stils ,kynischer' Sprechakte ins Zentrum des Interesses gerückt (Herding, Largier). Lit: R. Bracht Branham: Diogenes' rhetoric and the invention of cynicism. In: Le cynisme ancien et ses prolongements. Hg. v. Marie-Odile Goulet Cazé und Richard Goulet. Paris 1993, S. 4 4 5 473. - Klaus Herding: Diogenes als Bürgerheld. In: Κ. Η.: Im Zeichen der Aufklärung. Frankfurt 1989, S. 163-181. - Nikiaus Largier: Diogenes der Kyniker. Tübingen 1997. - Heinrich Niehues-Pröbsting: Der Kynismus des Diogenes und der Begriff des Zynismus. München 1979. - Peter Sloterdijk: Kritik der zynischen Vernunft. 2 Bde. Frankfurt 1983. — Petra Ziech: Entlarven und Heucheln. Formen des Zynischen und ihre Wirkung im Werk Heinrich Heines. Aachen 1997. Nikiaus

Largier

Verzeichnis der Verfasserinnen und Verfasser (Bände I—III) Claudia Albert: APOTHEOSE,

PERIPETIE, PRO-

TASIS

Christian Allesch: IDENTIFIKATION Mark Emanuel Amtstätter: REIMPROSA Eis Andringa: EMPIRISCHE LITERATURWISSENSCHAFT, GENERATIVE POETIK, K O N NOTATION, PROSAGEDICHT Arnold Angenendt: LITURGIE Jan Erik Antonsen: PASTICCIO/PASTICHE Heinrich Anz: ANEIGNUNG, APPLIKATION Thomas Anz: ABWEICHUNG, N O R M , PSYCHOANALYTISCHE LITERATURWISSENSCHAFT, SPANNUNG, SPIEL Vera Apfelthaler: PERFORMANCE Erwin Arndt: RHYTHMUS, TAKT Bernhard Asmuth: A K T , CHARAKTER, E X POSITION, HANDLUNG, MONOLOG, R A H MENHANDLUNG, SZENE, TABLEAU Aleida Assmann: FEST, SCHRIFT Jan Assmann: SCHRIFT Hugo Aust: LESEN

Hans-Jürgen Bachorski:

GROBIANISMUS,

KARNEVAL

Christopher Balme:

MASKE, PROXEMIK, SCHAUSPIELER, STRASSENTHEATER, ΉΙΕΑTERCOUP, THEATERWISSENSCHAFT, THEATERZETTEL

Joachim Bark:

LITERATURSOZIOLOGIE, R E -

STAURATION

Wilfried Barner: FAZETIE Kurt Bartsch: POÈME TROUVÉ,

SURREALIS-

MUS 2

Christina Bartz: THEATERKRITIK Moritz Baßler: HERMETIK, KURZPROSA, POP-LITERATUR, SKIZZE, TEXTUR

Barbara Bauer: vgl. Barbara MahlmannBauer Christa Baufeld: ARTESLITERATUR Barbara Baumann-Eisenack: NACHLASS Uwe Baur: DORFGESCHICHTE Manfred Beetz: EXPRESSIONISMUS, KOMPLIMENTIERBUCH

Hans-Joachim Behr:

GESCHICHTSEPIK, M Ä ZEN, SPIELMANNSDICHTUNG Thomas Bein: WAISE Jürgen Belgrad: LAIENSPIEL Ingrid Bennewitz: NEIDHARTIANA Günter Bentele: INTERVIEW, JOURNALISMUS, REPORTAGE

Jörg Jochen Berns: MNEMONIK, Anne Betten: ANAKOLUTH Hendrik Birus: KOMPARATISTIK,

TRIUMPH METAPHER,

METONYMIE, WELTLITERATUR Heike Bismark: RÄTSEL Günter Blamberger: MODERNE Walter Blank: ALLEGORIE 3 Hansjürgen Blinn: SCHRIFTSTELLERVERBAND Christoph Bode: ÄQUIVOKATION, AMBIGUITÄT

Hartmut Böhme: KULTURWISSENSCHAFT Andreas Böhn: W I R K U N G , WIRKUNGSÄSTHETIK, WIRKUNGSGESCHICHTE

Maria-Christina Boerner: SYMBOLISMUS Klaus Bohnen: ANAKREONTIK, ROKOKO Anne Bohnenkamp: PARALIPOMENA Thomas Borgstedt: PETRARKISMUS, SONETT, SONETTENKRANZ

Gabriele Brandstetter: BALLETT Georg Braungart: ONOMATOPÖIE, RHETORIK Wolfgang Braungart: BÄNKELSANG, M A NIER/MANIERISMUS^, TABU LAIENSPIELBEWEGUNG, ZEITUNGSLIED Klaus Brinker: TEXTLINGUISTIK Ulrich Broich: INTERTEXTUALITÄT Jürgen Brummack: SATIRE Horst Brunner: GESELLSCHAFTSLIED, K A N ZONE, LIED 2 , MEISTERGESANG, MELODIE, TABULATOR, TON Johann Christoph Bürgel: GHASEL Dieter Burdorf: LYRIKTHEORIE, LYRISCH,

Rolf Wilhelm Brednich:

ODE/ODENSTROPHE, SONG PATHOS

Günter Butzer:

906

Verzeichnis der Verfasserinnen und Verfasser (Bände I—III)

Rüdiger Campe: LECTURE André Chapuis: PARADOX Rémy Charbon: HEIMATLITERATUR Ulrich Charpa: KUNST Dieter Cherubim: ARCHAISMUS, GRAFITTI Julia Cloot: KUNSTLIED Klaus Conermann: KANTATE Beate Czapla: PERIODE Ralf Georg Czapla: HEROIDE, MADRIGAL, STILISTIK

Holger Dainat: BIOGRAPHIE 2 Lutz Danneberg: EINFLUSS, KONTEXT,

WISSENSCHAFTSTHEORIE Dimiter Daphinoff: BOULEVARDSTÜCK Jan-Oliver Decker: VIDEOCLIP Heinrich Detering: CAMOUFLAGE, LITERARISCHE GESELLSCHAFT Gerd Dicke: EXEMPEL, PRIAMEL, QUELLE 2 Andrea Dittgen: WERBETEXT Sabine Doering: AUFTAKT, ENJAMBEMENT, FREIE RHYTHMEN, LINDENSCHMIDTSTROPHE

Bernd Dolle-Weinkauff:

BILDGESCHICHTE/ BILDERGESCHICHTE, COMIC Sebastian Donat: WARENCHARAKTER Wulf-Otto Dreeßen: JIDDISCHE LITERATUR Jörg Drews: FEUILLETON] Rudolf Drux: MOTIV, MOTIVGESCHICHTE, PANEGYRIKUS

Wolfgang Düsing: IDEAL, TRAGISCH Klaus Düwel: KENNING, TIEREPIK Peter F . Dunkel: SCHATTENSPIEL Winfried Eckel: ROLLENGEDICHT Annemarie Eder: OBSZÖN/OBSZÖNITÄT Hartmut Eggert: HISTORISCHER ROMAN Konrad Ehlich: ALLTAGSERZÄHLUNG, PRAGMATIK

Karl Eibl: BÜRGERLICHES TRAUERSPIEL Florian Eichberger: SELEKTION Manfred Eikelmann: EINFACHE FORMEN, GNOMIK, KASUS, REDENSART, SPRICHWORT

Heide Ellert:

COMMEDIA DELL'ARTE, IMPROVISATION, INTERMEZZO, PANTOMIME Heinz Entner: IMITATIO Walter Erhart: GENDER STUDIES, MIMESIS 2 , UNDERGROUND-LITERATUR Hans Esselborn: DIGRESSION Monika Estermann: HONORAR Walter Fähnders: AGITPROP, ARBEITERLITERATUR, DOKUMENTARLITERATUR Werner Faulstich: BESTSELLER

Markus Fauser: UNTERHALTUNG! Jörg O . Fichte: N E W HISTORICISM Monika Fick: IMPRESSIONISMUS Rolf Fieguth: FORMALISMUS Günter Figal: HERMENEUTIK 2 Ernst Fischer: REPRODUKTIONSVERFAHREN Erika Fischer-Lichte: THEATER Michael Fleischer: CONFÉRENCE, DIACHRONIE, INFORMATION, KABARETT, LITERARISCHE REIHE, POETISCHE FUNKTION, SKETCH John L. Flood: INKUNABEL Jürgen Fohrmann: DISKURS, DISKURSTHEORIE(N), POSTSTRUKTURALISMUS ABSURD, ABSURDES THEATER

Ute Frackowiak: Kurt Franz:

DEUTSCHUNTERRICHT, KINDERVERSE, WIEGENLIED Dieter Freundlieb: ANALYTISCHE LITERATURWISSENSCHAFT, ERKLÄRUNG Harald Fricke: ANAPHER, APHORISMUS, BÜHNENKOMIK, FUNKTION, INFORMATION, LINGUISTISCHE POETIK, LYRIK, LYRISCHES ICH, MYSTERIENSPIEL, O P E R , POETIK, P O TENZIERUNG, RHYTHMUS, TERMINOLOGIE, IFEXTSORTE Hans-Edwin Friedrich: KITSCH, UTOPIE Udo Friedrich: FACHPROSA Thomas Fries: DIALOG 2 Hans Fromm: EPOS Frank Fürbeth: ARTES MAGICAE Stephan Füssel: BUCH Gottfried Gabriel: FIKTION Kurt Gärtner: MARIENDICHTUNG, STEMMA, SYNOPSE Helmut Galle: PSALM Klaus Garber: AKADEMIE, BUKOLIK Claus W . Gerhardt: D R U C K Helge Gerndt: FOLKLORE Albert Gier: VERTONUNG Jürg Glauser: STATIONENDRAMA Karl-Heinz Göttert: CURSUS, GEMINATION, GENERA DICENDI

Dirk Göttsche: ZEITROMAN Jochen Golz: BRIEF Hans Graubner: ERHABEN Richard T. Gray: PHYSIOGNOMIK Bernhard Greiner: ANALYTISCHES

DRAMA,

WELTTHEATER Thomas Grob: AKTANT Norbert Groeben: LITERATURPSYCHOLOGIE, REZEPTIONSFORSCHUNG

907

Verzeichnis der Verfasserinnen und Verfasser (Bände I—III) Klaus Grubmüller:

AUTHENTIZITÄT, E D I TION, FABEL 2 , FARBENSYMBOLIK, FLORILEGIUM, INTERPUNKTION, PREDIGTMÄRLEIN, ROTULUS, ÜBERLIEFERUNG Rainer Grübel: DOMINANZ Hans Günther: EVOLUTION, SKAZ, VER-

DESCRIPTIO, GLOSSEI,

QUELLE!

Herbert Herzmann: POSSE, Günter Hess: PASQUILL Peter Hess: TOPOS Ernest W. B. Hess-Lüttich:

SCHWANKI

CODE, DIALOGI,

INTERKULTURALITÄT

FREMDUNGJ

Hans Ulrich Gumbrecht:

GEGENKULTUR, GENERATION, POSTMODERNE, STIL Katrin Gut-Sembill: FEMINISTISCHE LITERATURWISSENSCHAFT, VATERLÄNDISCHES SCHAUSPIEL Ortrud Gutjahr: NACHSPIEL Rolf Haaser: GROTESK Klaus Haberkamm: PROLOG, VORSPIEL Ralph Häfner: KOMMENTAR! Günter Häntzschel: ALMANACH, ANSTANDSLITERATUR, ANTHOLOGIE, DEKLAMATION, IDYLLE, NATURLYRIK Harald Haferland: HOFZUCHT Werner Hahl: ERLEBNIS, GESTALT, RITUAL Gerd Hallenberger: MEDIEN Wolfgang Harms: EPIGONE, REZENSION 2 Harald Härtung: KONKRETE POESIE Friedmann Harzer: HEROISCH-GALANTER ROMAN/GALANTER ROMAN, LITERATURTHEORIE

Burkhard Hasebrink:

Nikolaus Henkel:

PRÄSUPPOSITION, PRE-

FIKATION

Martin Huber:

KAPITEL, KOMPOSITION,

PARTITUR

Karl-Heinz Hucke:

EMANZIPATORISCH, E N GAGIERTE LITERATUR, ENTFREMDUNG Joachim Jacob: PATHOS, PIETISMUS, SCHÖN Jürgen Jacobs: BILDUNGSROMAN, SCHELMENROMAN Georg Jäger: AVANTGARDE, DADAISMUS, EXPERIMENTELL, MONTAGE

Hans Wolf Jäger: REISELITERATUR Lorenz Jäger: A U R A Oliver Jahraus: VERFILMUNG Fotis Jannidis: INTENTION, MARXISTISCHE LITERATURWISSENSCHAFT, TKXTAUSZEICHNUNG, T Y P O L O G Y HYMNUS, SPÄTMITTELALTER Brigitte Janz: RECHTSSYMBOLIK Herbert Jaumann: BAROCK, FRÜHE N E U ZEIT, HUMANISMUS 2 , LITERATURKRITIK, QUERELLE, SPRACHGESELLSCHAFT, TOTENGESPRÄCH

Johannes Janota:

DIGT, PRO-FORMEN

Wolfgang Haubrichs:

ALTHOCHDEUTSCHE LITERATUR, KREUZZUGSLYRIK, MIRAKEL, ZAUBERSPRUCH Hendrikje Haufe: TROUBADOUR Christine Haug: POPULÄRE LESESTOFFE, VERLAG

Jens Haustein: LEICH Ute Heidmann Vischer:

Renate von Heydebrand: PARABEL Knut Hickethier: FERNSEHSPIEL Johann Holzner: HUMORESKE Susanne Horstmann: TEXT, TEXTTHEORIE Christoph Huber: INTEGUMENTUM, PERSONI-

Lothar Jordan: MYTHOLOGIE, M Y -

Sven-Aage Jergensen: ROMANZE Andreas Kablitz: KOMIK/KOMISCH Hilmar Kallweit: ARCHÄOLOGIE DES

THOS

Wolfgang Heinemann: ISOTOPIE Helmut Heinze: MAGAZIN Felix Heinzer: HANDSCHRIFT Joachim Heinzle: HELDENDICHTUNG,

NEUE SUBJEKTIVITÄT, VERS-

ERZÄHLUNG

WIS-

SENS, KOMPILATION VOR-

AUSDEUTUNG

Ernst Hellgardt:

FRÜHMITTELHOCHDEUTSCHE LITERATUR, ZAHLENSYMBOLIK Günter Helmes: SCHLAGER Werner Helmich: GLOSSE 2 , RITORNELL, RONDEAU, SIZILIANE, TRIOLETT

Rudolf Helmstetter: ZITAT Klaus W . Hempfer: GATTUNG, SCHREIBWEISE2 Wolfhart Henckmann: HÄSSLICH

Roland S. Kamzelak: HYPERTEXT Klaus Kanzog: DREHBUCH, FILM,

GESPENSTERGESCHICHTE, PLAGIAT, SCHLÜSSELLITERATUR, URHEBERRECHT, ZENSUR Dieter Kartschoke: ALTSÄCHSISCHE LITERATUR, BIBELEPIK, INTERLINEARVERSION, STICHISCH, ZEILENSTIL Wolfgang Kaschuba: VOLKSKULTUR Ingrid Kasten: GENRE OBJECTIF, M I N N E SANG, PASTOURELLE Annette Keck: ÜBERDETERMINATION

908

Verzeichnis der Verfasserinnen und Verfasser (Bände I—III)

Hugo Keiper: BÜHNENREDE Beate Kellner: AFFEKTENLEHRE Dirk Kemper: DITHYRAMBE, ELEGIE,

Gerhard Kurz: VERSÖHNUNG Olaf Kutzmutz: EMANZIPATORISCH, EPI-

STEL

Uwe-K. Ketelsen: GALANTE LITERATUR Christian Kiening: STREITGESPRÄCH, TOTENKLAGE

Joseph Kiermeier-Debre:

DRAMATURG^, INSZENIERUNG, KRYPTOGRAMM, SPIEL IM SPIEL

Erich Kleinschmidt:

AUTOR, DICHTER, Ö F FENTLICHKEIT, PROSA, PSEUDONYM, P U BLIKUM

Gerhard Kluge: Joachim Knape:

FORMGESCHICHTE FORMULARBUCH, R E D E 2 /

REDEGATTUNGEN

Fritz Peter Knapp:

ELOCUTIO, EPILOG, O R D O ARTIFICIALIS/ORDO NATURALIS, O R NATUS, VERGLEICH Jan Knopf: KALENDERGESCHICHTE Hans-Albrecht Koch: BIBLIOGRAPHIE, LEXIKON, ZEITSCHRIFT, ZEITUNG Peter Köhler: LIMERICK, LÜGENDICHTUNG, NONSENS, POINTE

Christoph König: LITERATURARCHIV Hermann Köstler: STUNDENBUCH Manfred Kohrt: GRAPHEMIK/GRAPHEMATIK, ORTHOGRAPHIE

Gottfried Kolde: PERMUTATION 2 , STILEBENE Rainer Kolk: LITERAT, SCHULE, WISSENSCHAFTSGESCHICHTE2 Annette Kopetzki: ÜBERSETZUNG Alexander Kosenina: M I M I K 2 , R Ü H R U N G Jörg Krämer: SINGSPIEL Hans Krah: PHANTASTISCH, SERIE, VIDOCLIP Andreas Kraß: GEBET, HYMNE, LITURGISCHE IFEXTE

Detlef Kremer: ROMANTIK, SYNÄSTHESIE Helmut Kreuzer: BOHEME Wilhelm Kühlmann: ANAKREONTEEN, H E R METISMUS, LEHRDICHTUNG, STURM UND D R A N G , TOPIK Udo Kühne: ARTES LIBERALES, PROSIMETRUM, QUODLIBET! , QUODLIBET 2 KINDER-

Bettina Kümmerling-Meibauer:

UND JUGENDLITERATUR Christoph Küper: AKZENT, ALTERNATION, BLANKVERS, HEBUNG, ISOMETRIE, KOLON, METRIK, PROSODIE Hartmut Kugler: STÄDTELOB Rolf Max Kully: MERKVERS Konrad Kunze: LEGENDE, VITA

ENGA-

GIERTE LITERATUR, ENTFREMDUNG Renate Lachmann: TRADITION Dieter Lamping: FREIE VERSE, GATTUNGSTHEORIE, GEDICHT, GENRE

Manfred Landfester: HUMANISMUS! Jürgen Landwehr: TRAGIKOMÖDIE Otto Langer: MYSTIK Nikiaus Largier: HOMILIE, PORNOGRAPHIE, ZYNISMUS

Jürgen Lehmann:

AUTOBIOGRAPHIE, DIALO-

GIZITÄT

Christoph Lepschy: PUPPENSPIEL Walter Lesch: EXISTENTIALISMUS Pia-Elisabeth Leuschner: SERENADE,

SESTINE, STANZE, TERZINEN, VILLANELLE Ludger Lieb: MINNEREDE, WAPPENDICHTUNG Julia Liebscher: ARIE Matthias Lösch: BÜHNE/BÜHNENFORM, BÜHNENBILD

Andreas Lötscher: THEMA/RHEMA Helmut Lomnitzer: DIRIGIERROLLE Christoph F . Lorenz: LEITMOTIV, ORATORIUM, SCIENCE FICTION, WILDWESTROMAN AUTORENGRUPPE, CHIFFRE, LITERARISCHES LEBEN, LITERATURPREIS Christine Lubkoll: NACHKRIEGSLITERATUR Walther Ludwig: NEULATEINISCHE LITERATUR

Otto Lorenz:

Mathias Luserke: F U R C H T Christoph März: KADENZ,

UND MITLEID STABREIM, VERS,

VERSFUSS, VERSMASS

Günther Mahal: TÏUFELSBUCH Barbara Mahlmann-Bauer: A P T U M / D E C O RUM, GEGENREFORMATION, RENAISSANCE

Klaus Manger: NARRENSATIRE Gunter Martens: AUTORISATION Matías Martínez: EPISCH, EPISODE,

ER-

ZÄHLSCHEMA, KÜNSTLICHKEIT, MOTIVIERUNG, MYTHISCHES ANALOGON, PLOT Stefan Matuschek: DISPOSITIO

Jörg Meibauer:

RHETORISCHE FRAGE,

ZEUGMA

Volker Meid:

HÖFISCH-HISTORISCHER R O -

MAN

Albert Meier: OFFENES DRAMA Andreas Meier: KOLPORTAGE, LIED 3 Christel Meier: ENZYKLOPÄDIE Gert Melville: CHRONIK, HISTORIE

Verzeichnis der Verfasserinnen und Verfasser (Bände I—III) Hubertus Menke:

NIEDERDEUTSCHE LITERA-

TUR

Volker Mertens: ARTUSEPIK, AVENTIURE Erich Meuthen: REDEJ, RHETORISCHE F I GUR, TROPUS 2

Dieter H . Meyer: HAUSBUCH Heinz Meyer: KONKORDANZ Urs Meyer: SPRACHKRITIK, THESEN Georg Michel: EMPHASE, EUPHEMISMUS, GRADATIO, PERIPHRASE, PLEONASMUS, STILPRINZIP Burkhard Moennighoff: DISTICHON, HEXAMETER, KOMISCHES EPOS, METAPLASMEN, PARATEXT, VORWORT Dietz-Rüdiger Moser: ERBAUUNGSLITERATUR

Wolfgang Mötsch: SATZ Gerd Müller: VOLKSSTÜCK Jan-Dirk Müller: ANONYMITÄT,

LITURGIE, MEDIÄVISTIK, MYSTERIENSPIEL, OSTERSPIEL, PROSAROMAN, REDE 1 ( REFORMATION, VERSIFIZIERUNG, VOLKSBUCH Klaus-Detlef Müller: EPISCHES THEATER Ralph Müller: POINTE, SCRIPT-THEORIE, SKETCH

Ulrich Müller:

MUSICAL, OBSZÖN/OBSZÖNITÄT, OPERETTE Wolfgang G. Müller: DINGGEDICHT, IRONIE Roger W. Müller Farguell: SYMBOL 2 Klaus Müller-Salget: HISTORISCHES DRAMA Paul Münch: HAUSVÄTERLITERATUR Guido Naschert: REFERENZ Wolfgang Neuber: MEMORIA Gerhard Neumann: EINAKTER Sebastian Neumeister: CONCETTO Hans-Peter Neureuter: VOLKSLIEDSTROPHE Reinhard M. G. Nickisch: BRIEFSTELLER Christoph Nieder: LIBRETTO Ansgar Nünning: ERZÄHLTHEORIE Peter Nusser: TRIVIALLITERATUR Rüdiger Nutt-Kofoth: TEXTKRITIK Norbert Oellers: KOMMENTAR 2 Günter Oesterle: GROTESK Otto Gerhard Oexle: MENTALITÄTSGESCHICHTE

Claus-Michael Ort:

KULTURTHEORIE, TRILOGIE, ZYKLUS Norbert H . Ott: BUCHMALEREI Martin Ottmers: DRAMA, DRAMATISCH, L E SEDRAMA

Nigel

F . Palmer: ABECEDARIUM, A R S MORIENDI, BESCHREIBSTOFF, BLOCKBUCH, CODEX

909

Dietmar Peil:

FÜRSTENSPIEGEL, KATACHRESE, METAPHERNKOMPLEX, M O T T O 2 , SLOGAN

Jochen-Ulrich Peters: ARTEFAKT Klaus Petersen: NEUE SACHLICHKEIT Helmut Pfeiffer: PRODUKTIONSÄSTHETIK, REZEPTION, REZEPTIONSÄSTHETIK

Günther Pflug: BIBLIOTHEK Gerhart Pickerodt: EXOTISMUS Ursula Pieper: STATISTISCHE LITERATURANALYSE

Lutz-Henning Pietsch:

KALLIGRAPHIE 2 ,

POETISCHE LIZENZ

Bodo Plachta:

APPARAT, FASSUNG, TEXTO-

LOGIE

Elke Platz-Waury:

F I G U R 3 , FIGURENKONSTELLATION, NEBENTEXT, ROLLE, SUKZESSION

Gerhard Plumpe:

REALISMUS 2 , SYSTEMTHEO-

RIE

Hans-Georg Pott: NAIV, SENTIMENTALISCH Sandra Pott: ÜBERBAU Wolfgang Preisendanz: HUMOR Ulrich Profitlich: KOMISCHE PERSON, KOMÖDIE

Ulrich Püschel: FEUILLETON 2 , GLOSSE 3 Fidel Rädle: ANTICHRISTSPIEL, ANTITHESE, ARGUMENTATIO, ARGUMENTUM i, A R G U MENTUM^ DISPUTATIO Hedda Ragotzky: FASTNACHTSPIEL Silvia Ranawake: TAGELIED Ursula Rautenberg: TYPOGRAPHIE Hartmut Reinhardt: POETISCHE GERECHTIGKEIT

Johannes Rettelbach: KNITTELVERS Silvia Reuvekamp: SENTENZ Wolfgang Riedel: LITERARISCHE ANTHROPOLOGIE

Monika Ritzer: REALISMUS Ι Jörg Robert: ZAHLENSYMBOLIK Werner Röcke: SCHWANKROMAN Thorsten Roelcke: LITERATURSPRACHE Heinz Rölleke: KUNSTMÄRCHEN, MÄRCHEN Gertrud M. Rösch: ILLUSTRATION, KALENDER, KALLIGRAPHIE 2 , KARIKATUR, O N O MATOPÖIE, STÄNDEKLAUSEL

Martin Rößler: KIRCHENLIED Kati Röttgen PERFORMANCE Ernst Rohmer: VERSIFIZIERUNG Bernhard Roll: FORMULARBUCH Dietrich Rolle: TITEL

910

Verzeichnis der Verfasserinnen und Verfasser (Bände I—III)

Rainer Rosenberg:

Hermann Josef Schnackertz:

K A N O N , KLASSIKER, L I TERATURGESCHICHTSSCHREIBUNG, POSITIVISMUS Udo Roth: VORMÄRZ Uwe Ruberg: ETYMOLOGISIEREN Klaus Ruch: ANAGRAMM Ulrich Ruh: SÄKULARISIERUNG Gebhard Rusch: KOMMUNIKATION, KOMMUNIKATIONSTHEORIE Wolfgang Ruttkowski: CHANSON, COUPLET Angelika Salvisberg: BÜHNENKOMIK Günter Säße: DOKUMENTARTHEATER, R Ü H RENDES LUSTSPIEL, TVPENKOMÖDIE Gerhard Sauder: BRIEFROMAN Richard Erich Schade: SCHULTHEATER Gunter Schandera: SOZIALISTISCHER R E A LISMUS, WIDERSPIEGELUNG Frieder Schanze: BAR, KOLOPHON Susanne Schedi: ERBAUUNGSLITERATUR Michael Scheffel: MAGISCHER REALISMUS Bernd Scheffer: LAUTGEDICHT Christian Scheffler: KALLIGRAPHIE! Siegfried Scheibe: EDITIONSWISSENSCHAFT Sigurd Paul Scheichl: POLEMIK Irmgard Scheitler: GEISTLICHES LIED Klaus R. Scherpe: KRITISCHE THEORIE Helmut Scheuer: BIOGRAPHIE! Hans-Jochen Schiewer: PREDIGT Christiane Schildknecht: FORM, PROPOSITION

PHÄNOMENOLOGISCHE LITERATURWISSENSCHAFT Irmela Schneider: THEATERKRITIK Jost Schneider: STROPHE, STROPHENFORM, ZÄSUR

Michael Schilling: FLUGBLATT, STAMMBUCH Wolfgang Schimpf: MELODRAMA Jürgen Schlaeger: ROBINSONADE Heinz Schlaffer: ANEKDOTE, ESSAY, TKAGÖ-

GEBRAUCHSZUSAMMENHANG, GEISTLICHES SPIEL, HÖFISCHE KLASSIK, LANGVERS, SANGSPRUCH, URKUNDE Meinolf Schumacher: PERIKOPE Alexander Schwarz: SPRECHAKT Johannes Schwitalla: GEBRAUCHSTEXTE Harro Segeberg: PARTEILICHKEIT Wulf Segebrecht: GELEGENHEITSGEDICHT Peter Seibert: SALON

DIE

Michael Schlott:

HISTORISMUS, JAKOBINIS-

MUS

Manfred Schmeling:

ERZÄHLUNG!, E R Z Ä H -

LUNG 2

Elisabeth Schmid: HÖFISCHER ROMAN Herta Schmid: DRAMATURGIE], DRAMENTHEORIE

Christian Schmid-Cadalbert:

DIALEKTLITERATUR, F0RMEL2 (ERZÄHLFORMEL), H Ö RER, ORALITÄT (MÜNDLICHKEIT), SÄNGER Paul Gerhard Schmidt: VISION Peter Schmidt: DISTRIBUTION Wilhelm Schmidt-Biggemann: TOPIK

Hans-Walter Schmidt-Hannisa: IkAUM Ruth Schmidt-Wiegand: WEISTUM Helmut Schmiedt: ABENTEUERROMAN Monika Schmitz-Emans: COMPUTERTEXT

Karin Schneider: PALÄOGRAPHIE, SCHREIBER Katja Schneider: SZENARIO, TANZ Ralf Schnell: INNERE EMIGRATION Erich Schön: LESER Sibylle Schönborn: TAGEBUCH Jörg Schönert: LITERATURGESCHICHTE, SOZIALGESCHICHTE IDEOLOGIE, IDEOLOGIEKRITIK, VORSCHEIN Bernhard F . Scholz: ALLEGORŒ 2 > APPELLSTRUKTUR, ARTES MECHANICAE, BELEHRUNG, EMBLEM, FIGURENGEDICHT, HIEROGLYPHIK, IMPRESE Gerhild Scholz Williams: HEXENLITERATUR Clausdieter Schott: RECHTSSPIEGEL Caroline Schramm: TRADITION Johannes Lothar Schröder: HAPPENING Brigitte Schulte: TOTENTANZ Armin Schulz: STEGREIFDICHTUNG, STOFF, STOFFGESCHICHTE, SUJET, TÎŒMA, TRINKLIED, ÜBERDETERMINATION, VOLKSLIED Georg-Michael Schulz: CHOR, DREI-EINHEI-

Detlev Schöttker:

TEN-LEHRE

Gerhard Schulz: KLASSIK 2 Ursula Schulze: BEICHTE, EPENSTROPHE,

Wilfried Seibicke:

NEOLOGISMUS, ONOMA-

STIK

Robert Seidel: ATTIZISMUS Bernd Seidensticker: SATYRSPIEL Bernd Seiler: WAHRSCHEINLICHKEIT Reinhart Siegert: ALPHABETISIERUNG Eckehard Simon: MORALITÄT, WELTLICHES SPIEL

Ralf Simon: PHANTASIE, W I T Z Rudolf Smend: EXEGESE Jürgen Söring: GESAMTKUNSTWERK Friedhelm Solms: GESCHMACK Reto Sorg: GROTESKE

911

Verzeichnis der Verfasserinnen und Verfasser (Bände I—III)

Klaus Speckenbach: LOSBUCH, TRAUMBUCH Bernhard Spies: EXILLITERATUR Bernd Spillner: KATAPHORIK/ANAPHORIK, SENSUS LITTERALIS/SPIRI-

TUALIS

Uwe Spörl: Axel Spree:

INTERPRETATION Peter Sprengel: NATURALISMUS

Karl Stackmann: PHILOLOGIE Georg Stanitzek: DILETTANT Hartmut Steinecke: ROMAN, ROMANTHEORIE Jürgen Stenzel: A M P L I F I C A ™ , ANSPIELUNG!, INTERPUNKTION, LAKONISMUS, WERTUNG Inge Stephan: FRAUENLITERATUR Martin Stingelin: SCHREIBEN Peter Stocker: ERLEBTE REDE, ERZÄHLTEMPO, FIGURENREDE, INNERER M O N O LOG, LYRIK, LYRISCHES ICH, PERSPEKTIVE, RAHMENERZÄHLUNG, TÎMPUS Ingo Stöckmann: SYSTEMTHEORIE Uta Störmer-Caysa: KATECHESE, SPIEGEL, TKAKTAT

Peter Strohschneider:

APOPHTHEGMA, CENTO,

EPIGRAMM, KONTRAFAKTUR, PALINODIE, PARODIE, TRAVESTIE

Jürgen Viering:

MANIFEST

BOTSCHAFT, GRAMMATOLOGIE, INTERPRETATION, LEERSTELLE, MÖGLICHE WELTEN, SPRACHSPIEL, WERKIMMANENTE

ALTERITÄT, FRAG-

MENT 2

Werner Strube: ÄSTHETIK, ILLUSION Elisabeth Stuck: JUNKTION, KOHÄRENZ, IFEXTSORTE

Frank Stucke: KOMISCHE PERSON, KOMÖDIE Rudolf Suntrup: ALLEGORESE, TVPOLOGIE! Dieter Teichert: VERSTEHEN Horst Thomé: KLASSIK KLASSIZISMUS, N O VELLE, TYPOLOGIE 2 , WERK, WISSENSCHAFTSGESCHICHTE!

Donatus Thürnau: BEDEUTUNG Dietmar Till: HÖFISCHE VERHALTENSLEHRE, INSPIRATION, INVENTIO, INVOCATIO, POEESIS, RHETORIK, RHETORISCHE FIGUR, UNTERHALTUNG 2

Michael Titzmann:

ÄQUIVALENZ, ÄQUIVALENZPRINZIP, BEDEUTUNGSAUFBAU, E P O -

CHE, HOMOLOGIE, LITERATURSYSTEM, SEMIOTIK, STRUKTUR, STRUKTURALISMUS, ZEICHEN

Tomas Tomasek: RÄTSEL Silvia Serena Tschopp: REFORMATIONSDRAMA

POETIZITÄT

Theodor Verweyen:

PARALLELISMUS

Hans-Jörg Spitz:

Claus Uhlig: HOFKRITIK, N E W CRITICISM Willie van Peer: LINGUISTISCHE POETIK,

EMPFINDSAMKEIT, F I N DE SIÈCLE, NEUROMANTIK, SCHAUERROMAN Herfried Vögel: NATURGESCHICHTE

Martin Vöhler: MONODRAMA Benedikt Vogel: REVUE Friedrich Vollhardt: AUTONOMIE,

ORIGINALITÄT, SÄKULARISIERUNG, STURM UND DRANG

Benedikt Konrad Vollmann:

BREVIER, M I T TELLATEINISCHE LITERATUR Klaus Vondung: NATIONALSOZIALISTISCHE LITERATUR

Norbert Voorwinden: ORAL POETRY, SAGE Wilhelm Voßkamp: GATTUNGSGESCHICHTE Christian Wagenknecht: ALEXANDRINER, BALLADE, WIDMUNG, WORTSPIEL

Kerst Walstra: ERZÄHLUNGI, ERZÄHLUNG 2 Nikolaus Wegmann: DEKONSTRUKTION, P O LITISCHE DICHTUNG

Winfried Wehle: NOUVEAU ROMAN, NOVELLE Klaus Weimar: AUTHENTIZITÄT, CHOR, D I A LOG 2 , DIEGESIS, EDITION, EINFÜHLUNG, FÄLSCHUNG, GEDANKENLYRIK, GEISTESGESCHICHTE, GENIE, GERMANISTIK, G E SCHMACK, GOETHEZEIT, HERMENEUTIK^ HERMENEUTISCHER ZIRKEL, LITERATUR, LITERATURWISSENSCHAFT, POESIE, REGIEANWEISUNG, WECHSELSEITIGE ERHELLUNG DER KÜNSTE Horst Wenzel: REPRÄSENTATION Peter Wenzel: KURZGESCHICHTE

Niels Werber: INSTITUTION Peter Werle: MORALISTIK Renate Werner: ÄSTHETIZISMUS,

GRÜNDER-

ZEIT

Hermann Wiegand:

EPICEDIUM, EPITAPH, HODOEPORICON, MAKKARONISCHE D I C H -

TUNG

Gisela Wilkending: LITERATURDIDAKTIK Gottfried Willems: [UT] PICTURA POESIS Ruprecht Wimmer: JESUITENDRAMA, PERIOCHE

Markus Winkler: TVPISCH Simone Winko: METHODE, TFCXTANALYSE

METHODOLOGIE,

912

Verzeichnis der Verfasserinnen und Verfasser (Bände I—III)

Frank Wittchow: Gunther Witting: EPIGRAMM,

Marianne Wünsch:

SCHERZREDE APOPHTHEGMA, CENTO,

KONTRAFAKTUR,

PALINODIE,

PARODIE, TRAVESTIE

Nao Witting: H A I K U Reinhard Wittmann: BUCHHANDEL Alexander Wöll: VERFAHREN Thomas Wörtche: KRIMINALROMAN Winfried Woesler: LESART/VARIANTE Sebastian Wogenstein: SCHICKSALSDRAMA Franz Josef Worstbrock: A R S DICTAMINIS/ A R S DICTANDI, SEQUENZ, VAGANTENDICHTUNG, VAGANTENZEILE/VAGANTENSTROPHE

ERLEBNISLYRIK, P H A N TASTISCHE LITERATUR Stefan Bodo Würffei: D D R - L I T E R A T U R , DETERMINATION, ERBETHEORIE, H Ö R SPIEL, O P E R Christine Wulf: EPIGRAPHIK Carsten Zelle: AUFKLÄRUNG, KATHARSIS Rosmarie Zeller: ERZÄHLER, ERZÄHLERKOMMENTAR, ERZÄHLSITUATION Hans-Joachim Ziegeler: MAERE, REDE 3 , SCHWANK 2

Peter V. Zima: LITERATURTHEORIE Rüdiger Zymner: ALLITERATION, ARGUTIA, ASSONANZ, GLEICHNIS, REFRAIN, REIM, UNEIGENTLICH, VERSDRAMA