Re-Konstruktion des Realen: Die Wiederentdeckung des Realismus in der Romania [1 ed.] 9783737013529, 9783847113522


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Re-Konstruktion des Realen: Die Wiederentdeckung des Realismus in der Romania [1 ed.]
 9783737013529, 9783847113522

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Romanica Mainzer Studien zur romanischen Literatur- und Kulturwissenschaft

Band 11

Herausgegeben von Stephan Leopold, Véronique Porra und Dietrich Scholler

Julia Brühne / Christiane Conrad von Heydendorff / Cora Rok (Hg.)

Re-Konstruktion des Realen Die Wiederentdeckung des Realismus in der Romania

Mit 14 Abbildungen

V&R unipress Mainz University Press

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. Veröffentlichungen der Mainz University Press erscheinen bei V&R unipress. © 2021 Brill | V&R unipress, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, Verlag Antike und V&R unipress. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Felix Franzky, Mondträumerinnen (2021) Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2509-5730 ISBN 978-3-7370-1352-9

Inhalt

Re-Konstruktion und Realismus heute: Varianten in der Romania . . . .

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Thomas Klinkert (Universität Zürich) / Christian Rivoletti (Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg) Wirklichkeitsdarstellung in der italienischen und französischen Gegenwartsnarrativik durch Hybridisierung von faktualem und fiktionalem Schreiben am Beispiel von Antonio Franchini und Yannick Haenel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

19

Lorenzo Marchese (Università dell’Aquila) Estraneità e onniscienza. Sulla non-fiction contemporanea . . . . . . . . .

41

Andrea Brondino (University of Warwick) Realismo inconveniente, fraintendimenti e ‘realiability effect’ nella ricezione de I Buoni di Luca Rastello . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

65

Cora Rok (Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg) Reale Arbeitswelten, hyperreale Inszenierungen und inszenierter Realitätsverlust. Das Simulakrum ‚Callcenter‘ bei Michela Murgia und Paolo Virzì . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

79

Filippo Gobbo (Università di Pisa / Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg) Cronaca, realtà storica e romanzesco: il paradigma indiziario in tre opere di Enrico Deaglio . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

93

Dietrich Scholler (Johannes Gutenberg-Universität Mainz) Medialisierter Realismus in Ammanitis Anna (2015) . . . . . . . . . . . . 113

6 Fabian Scharf (Berlin) „L’oceano della realtà non si può versare in una tazzina“: Realistisches Erzählen in Sangue giusto von Francesca Melandri

Inhalt

. . . . . 129

Gisela Febel (Universität Bremen) Realismus, Groteske, Ethik des Überlebens in der aktuellen haitianischen gesellschaftskritischen Literatur am Beispiel von Kettly Pierre Mars . . . . 151 Berit Callsen (Universität Osnabrück) Erzählungen vom Körper – Erzählungen vom Ich: Zur Herstellung von Authentizität bei Guadalupe Nettel und Patricia de Souza . . . . . . . . . 179 Julia Brühne (Universität Bremen) Un operativo de simulacro. Argentinische Realitäten oder Demokratie und Kontingenz in Damián Szifrons Fernsehserie Los simuladores (2002– 2004) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 Lara Toffoli (Università Ca’ Foscari Venezia / Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg) Tra “roman documentaire” e “relato real” alle soglie degli anni Zero: L’Adversaire (2000) di Emmanuel Carrère e Soldados de Salamina (2001) di Javier Cercas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 Melanie Koch-Fröhlich (Albert-Ludwigs-Universität Freiburg) Dégager la syntaxe du réel: Ivan Jablonkas texte-recherche im Grenzbereich zwischen Geschichtsschreibung und Literatur . . . . . . . . 237 Kirsten von Hagen (Justus-Liebig-Universität Gießen) Schreiben gegen das Vergessen – Alice Zeniters Rekonstruktion des Realen in Juste avant l’oubli (2015) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 Tobias Berneiser (Universität Siegen) Marseille: Repräsentationen der sozialen Wirklichkeit einer Stadt zwischen literarischer Dokumentation, Netflix und YouTube . . . . . . . 273 Jan Rhein (Europa-Universität Flensburg) Räume und Realitäten bei Jean-Philippe Toussaint . . . . . . . . . . . . . 303 Bastian Piejko (Johannes Gutenberg-Universität Mainz) Realismus zwischen Kontingenzexposition und neuer Sinnstiftung. Von Flauberts Feier der Ästhetik zu Houellebecqs sensus socialis . . . . . 319

Inhalt

Wolfgang Asholt (Humboldt-Universität zu Berlin) Michel Houellebecq: eine ‚Wiederentdeckung‘ des Realismus?

7

. . . . . . 345

Kurzbiographien der Beiträgerinnen und Beiträger sowie der Herausgeberinnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361

Re-Konstruktion und Realismus heute: Varianten in der Romania

„Realismo è l’impossibile“,1 schreibt Walter Siti noch im Jahr 2013 und vertritt damit den Standpunkt lange aktueller postmodernistischer Strömungen und somit den Konterpart in der offenen Diskussion um einen neuen Realismus, die ihren Anfang vor mittlerweile zwanzig Jahren nahm. Die Epochen-Bruchstelle liegt sogar noch davor: Etwa Mitte der 1990er Jahre beginnen postmodernistische Tendenzen ‚sich selbst zu verdauen‘, sie brauchen sich auf und erneuern sich gleichzeitig, indem sie – zumindest in Versatzstücken – zur Grundlage aktueller Formen in Literatur und Film werden.2 Besonders der künstlerische Umgang mit Medialität steht erneut zur Disposition und unterliegt vielerorts einer Umdeutung.3 Spätestens seit der Jahrtausendwende bestimmt die Rede vom ‚Ende der Postmoderne‘ und einer ‚Rückkehr zum Realen‘ nicht nur verstärkt den philosophischen, sondern auch den literaturwissenschaftlichen Diskurs in der ganzen Romania.4 Das Bedürfnis nach etwas, das der vielfach als ‚krisenhaft‘ empfundenen aktuellen Gesellschaft besser gerecht wird,5 gipfelt in ‚neuen‘ Ausdrucksformen der Kunst. Mit dem Ende der Dominanz postmodernistischer Verfahrensweisen treten in literarischen und filmischen Produktionen wieder vermehrt die in den letzten Jahrzehnten ‚verpönten‘ realistischen Darstellungsmodi auf den Plan, die gegenwärtigen gesellschaftlichen Krisenherden wie der prekären, entgrenzten Arbeitswelt, organisierter Kriminalität, Korruption, Krieg, Terror, Rassismus, Migration und Autonomiestatuten Rechnung tragen und die 1 Siti (2013). 2 Vgl. dazu Kapitel 4.1. in der Dissertationsschrift Zurück zum Realen von Conrad von Heydendorff (2018). 3 Vgl. ebd., Kap. 3.3. 4 In der Philosophie siehe etwa José Luis Jerez, Mauricio Beuchot und vor allem Markus Gabriel und Maurizio Ferraris. In der Literatur(-wissenschaft) Wu Ming, Roberto Saviano, Romano Luperini, Raffaele Donnarumma, Dominique Viart, Rita Schober, Wolfgang Asholt, Christian Rivoletti u.w. 5 Vgl. dazu Kap. 1.2 „Der Umbruch – Fakten und Faktoren aus Politik und Zeitgeist“ in Conrad von Heydendorff (2018).

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Re-Konstruktion und Realismus heute: Varianten in der Romania

Realität literarisch wie filmisch re-konstruieren. Das heißt, die Werke haben den Anspruch, faktuale Ereignisse der Gegenwart oder näheren Vergangenheit mit fiktionalen Bausteinen versetzt literarisch oder filmisch aufzuarbeiten und so neu zu denken und zu inszenieren. Bei der Betrachtung dieser Re-Konstruktionen muss das Verständnis von Faktualität sowie Fiktionalität jedoch stets kontextabhängig gedacht werden, also unter Berücksichtigung des jeweiligen kulturellen und zeitlichen Rahmens sowie der jeweiligen disziplinären Herangehensweise.6 So fallen auch in der durch Sprachverwandtschaft verbundenen Romania die einzelnen neuen Realismen unterschiedlich aus und verdienen einen Blick, der sie sowohl in ihrer Eigenheit als auch in ihrer Verbundenheit zur Darstellung kommen lässt. Dies ist das Anliegen des vorliegenden Bandes, der aus der gleichnamigen Sektion des Romanistentages im Jahr 2019 hervorgegangen ist. In der Literaturwissenschaft wird seit gut zwanzig Jahren der „renouveau du réalisme“7 beziehungsweise der „ritorno alla realtà“8 diskutiert. Während in Italien insbesondere Roberto Saviano als Repräsentant eines engagierten und hybriden Realismus gilt, tritt in Frankreich einerseits Michel Houellebecq als bekanntester und vor allem provokantester écriteur du quotidien auf den Plan. Andererseits lassen sich Autoren wie Patrick Chamoiseau und Ahmadou Kourouma als Vertreter einer realistischen und politischen postkolonialen Literatur nennen. In den letzten Jahren hat sich in Spanien das Subgenre der autorficción zur autoficción gesellt bzw. sich mit dieser vermischt, deren Zuflucht zum ‚authentischen Ich‘ bzw. zur ‚authentischen Erinnerung‘ im Nachhall des franquismo als eine Art literarischer Befreiungsschlag wahrgenommen wurde. Es entstehen Texte, die sich unter dem auch in Spanien mittlerweile proliferierenden Schlagwort der ‚Erinnerungsliteratur‘ subsumieren lassen. Im spanischen Kino entwickelte sich besonders in den ersten Jahren des neuen Jahrtausends eine verstärkte Tendenz zum realistischen Erzählen, die Ángel Quintana „realismo tímido“ genannt hat (bspw. Mar adentro, Alejandro Amenábar, 2003). Im lateinamerikanischen Raum macht die seit 2015 sehr erfolgreiche Serie Narcos um die Entwicklung der kolumbianischen Drogenkartelle Medellín und Cali Furore. In Italien wiederum entstehen im Zuge der Flüchtlingskrise Filme wie Fuocoammare (Gianfranco Rosi, 2016), die in Erinnerung an den neorealismo neue Formen eines realistischen bzw. realitätsnahen Kinos zu etablieren suchen. Und dies sind nur einige Beispiele aus einem immer größer werdenden Panorama 6 Vgl. Breitenwischer, Häger, Menninger (2020), S. 7f. 7 In Frankreich spricht die Zola-Expertin Rita Schober seit 2002 von einem „Renouveau du réalisme“ und bezeichnet das Schreiben Michel Houellebecqs als „néo-naturalisme provocateur“. In dieser Linie steht auch Wolfgang Asholt (2002; 2013), der überdies auf den Aspekt der „Écriture du quotidien“ verweist und hier neben Houellebecq etwa auch François Bon anführt. 8 Die Zeitschrift Allegoria (2008) widmet diesem Thema eine ganze Ausgabe.

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unterschiedlicher Werke, die die aktuelle Gegenwart und jüngere Vergangenheit der Romania künstlerisch re-konstruieren. Zentrale Fragen, die bereits in der Sektion zur Diskussion standen, gingen auch in die Beiträge des vorliegenden Bandes ein: Inwieweit handelt es sich bei den Texten des ‚neuen Realismus‘ um engagierte Narrationen? Lässt sich ein aufklärerisch-didaktischer Gestus erkennen? Welcher narrativen Instrumente bedienen sich die Werke, um Authentizität zu vermitteln? Inwieweit hängt die (mangelnde) Referenzialisierbarkeit eines realistischen Impetus mit zeitgenössischen soziopolitischen Krisen zusammen? Welche Wirkung entfalten literarische oder filmische Hybride aus Fiktion und Dokumentar, Journalismus, Reportage, Sachtext? Welche Funktion erfüllen Intertextualität, Inter- und Transmedialität, wie die Verwendung und Verarbeitung von Blogs, Facebook oder Twitter im Rahmen realistischen Schreibens? Inwiefern kann von einer Rehabilitierung des Subjekts gesprochen werden? Gibt es alte und neue Formen der ‚Ich-Erzählung‘, die als Authentizitätsmarker fungieren, etwa das Schreiben zwischen Autobiographie und Autofiktion, Tagebuch? Lässt sich ein Paradigmenwechsel feststellen? Handelt es sich dabei um eine Rückbesinnung auf die Ansätze der Moderne, wie es Romano Luperini für möglich und geboten hält,9 oder um eine Wiederaufnahme älterer Realismen oder entsteht gar etwas völlig Neues? Gibt es epochenübergreifende Merkmale realistischen Schreibens oder bildet jede Zeit eigene Charakteristika aus? Thomas Klinkert und Christian Rivoletti eröffnen den Band mit einem Überblick über den Paradigmenwechsel der letzten Dekaden, dessen Kontext, Vertreter und Kritiker, womit ihr Beitrag als eine vertiefende Einführung gelesen werden kann. Expliziert werden die theoretischen Annahmen zum einen anhand des Prä-Gomorra-Romans L’abusivo von Antonio Franchini (2001), in dem die Relation zwischen Schreiben und Wirklichkeit sowie die „Folgen und Auswirkungen des Schreibens auf die Wirklichkeit“ im Fokus stehen. Zum anderen wird Yannick Haenels Roman Jan Karski (2009) herangezogen, um zu illustrieren, dass die Verbindung faktual-dokumentarischer mit fiktionaler Darstellung zur Ausleuchtung historischer Leerstellen nötig ist und sich nur im Hybrid ein lesbares, verständliches Ganzes re-konstruiert. Auch Lorenzo Marchese befasst sich mit Texten, die Fiktionales und Faktuales vermischen und zudem den Status erzählerischer Allwissenheit in den Fokus stellen. Als Untersuchungsgegenstand wählt Marchese zwei italienische Romane aus dem Jahr 2020, Marta Barones Città sommersa und Walter Sitis La natura è innocente, die die Biographien realer Personen zu rekonstruieren suchen. Er 9 Luperini (2008, n. pag.) äußert das u. a. mit Blick auf Savianos Gomorra: „Si sta aprendo una fase nuova che potremmo chiamare neomoderna o tardomoderna, una fase in cui la tangibilità della realtà non è più eludibile.“

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arbeitet heraus, wie beide Autoren mit Lücken in der Faktenlage umgehen und welche Erzähltechniken, beispielsweise der Rückgriff auf formelhaft wiederkehrende Unsicherheitsbekundungen sowie Paralepsen, dabei zur Anwendung gebracht werden. Die Verbindung von Biographie und literarischem bzw. journalistischem Schaffen steht auch im Interesse des folgenden Beitrages. In einer engen Auseinandersetzung mit der Rezeptionsgeschichte des Romans I Buoni (2013), in dem der italienische Autor, Journalist und politische Aktivist Luca Rastello seine Arbeitserfahrungen in der Turiner NGO Gruppo Abele verarbeitet, nimmt Andrea Brondino Bezug auf die Problematik der ‚realiability‘ (reality + reliability), die bei der Beurteilung der Zuverlässigkeit des realen Autors im Vergleich zu der des Erzählers innerhalb der Fiktion entsteht. Um die Funktion einer zuverlässigen Erzählinstanz in dem zwischen Aufdeckungsreportage und fiktionalisiertem Erzählbericht schwankenden Text Il mondo deve sapere (2006) von Michela Murgia geht es unter anderem auch in dem Beitrag von Cora Rok, die sich auf die Darstellung zeitgenössischer Arbeitswelten konzentriert. In einem Vergleich der literarischen Vorlage mit der filmischen Adaption (Tutta la vita davanti, 2008) durch den Regisseur Paolo Virzì werden zwei Erzählmodi gegenübergestellt, die demselben Gegenstand, der prekären Arbeit im Callcenter, auf unterschiedliche Art und Weise Rechnung tragen.10 Filippo Gobbo widmet sich in seinem Aufsatz der Analyse dreier Romane des italienischen Autors Enrico Deaglio, Storia vera e terribile tra Sicilia e America (2015), La zia Irene e l’anarchico Tresca (2018) und Patria 1978–2010 (2010), die sich zwischen Investigativjournalismus, Reportage und Fiktion ansiedeln lassen. Hierbei geht er vor allem der Frage nach, inwieweit die Erzählung historischer Ereignisse Konsistenz und Legitimität erhält, wenn sie das Außergewöhnliche hervorhebt oder in experimentelle oder auch genretypische Formen von u. a. Abenteuerromanen gepresst wird. Experimentell und innovativ beziehungsweise re-produktiv ist auch das Verständnis von neuem Realismus im folgenden Artikel, der zeigt, wie herkömmliche Verfahrensweisen eine Umdeutung erfahren und so zu anderen Effekten führen. Dietrich Scholler untersucht in seinem Beitrag den dystopischen, stellenweise an ein Roadmovie erinnernden Roman Anna (2015) des italienischen Autors und Drehbuchschreibers Niccolò Ammaniti auf Aktualisierungen realistischer Erzählweisen. Der Fokus liegt dabei auf einer Intermedialität, die einerseits Elemente des filmischen Erzählens mit den Grundzügen der französischen Realisten des 19. Jahrhunderts verbindet und die andererseits durch die 10 Ausführungen zur prekären und entgrenzten Arbeitswelt des 21. Jahrhunderts finden sich in der Dissertationsschrift von Rok (2021).

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Adaptation genretypischer Erzählweisen sowie bekannter Wahrnehmungsmuster visueller Medien literarisch vermittelte Schockmomente noch zu intensivieren versteht. Mit Sangue giusto (2017) von Francesca Melandri untersucht Fabian Scharf einen Roman, der sich in biografischer Form mit italienischer Kolonialgeschichte in Libyen, Äthiopien und Eritrea auseinandersetzt. Scharf gleicht neue Erzählmuster mit altbekannten Ansätzen des französischen Realismus des 19. Jahrhunderts ab, wie dem Verschwinden der Erzählinstanz, dem Engagement der Texte, aber auch narrativen Strukturen aus bekannten Vorläufern wie Zolas Ventre de Paris oder Huysmans À rebours, die nahezu auf hypertextuelle Art den modernen Roman stützen. Die Folgen der europäischen Expansion interessieren auch Gisela Febel, die sich in ihrem Beitrag mit der Frage nach einer realistischen postkolonialen Literatur am Beispiel des Werks der zeitgenössischen haitianischen Autorin Kettly Pierre Mars beschäftigt. Die Überlegungen entfalten sich entlang der Bartheschen Konzepte des effet de réel und des punktum und beziehen sich sowohl auf Lacans Begriff des Realen als auch auf Theorien zum neuen Realismus und zur Groteske. Fast in einer Art Verwandtschaft zum Ansatz der literarischen Überzeichnung zur Realitätsbestimmung zeigt Berrit Callsen in ihrer Analyse literarische Strategien der Authentizitätsdarstellung durch die Illustration des versehrten menschlichen Körpers im Werk der mexikanischen Schriftstellerin Guadalupe Nettel und der peruanischen Autorin Patricia de Souza auf. Authentizität wird – so die Verfasserin – zur poetologischen Reflexionsfigur ethischer Ziele. Das Verhältnis von Identität und Authentizität nach Charles Taylor entfaltend, betrachtet Callsen die literarische Inszenierung von Prozessen der Selbst-Akzeptanz des Anderen im eigenen Körper in El huésped (2006) und El cuerpo en que nací (2011) sowie die transgressiven Erfahrungen der Überwindung körperlicher Fragmentierung, im Sinne einer Re-Konstruktion des Ich, in Patricia de Souzas El último cuerpo de Úrsula (2000). In ihrem Beitrag zu Damián Szifróns Fernsehserie Los simuladores (2002– 2004) untersucht auch Julia Brühne die politischen Implikationen in dieser ungewöhnlichen Produktion, die sich einem neuen (argentinischen) Realismus insbesondere darum anverwandeln lässt, weil sie eine stilistische Chimäre ist: Die Titelhelden entwerfen perfekt durchgeplante, außerordentlich realistische Simulationsszenarien, mittels derer Personen, die entweder selbst ein Problem haben oder anderen Figuren Probleme machen, unwissentlich zu einer Verhaltensänderung gebracht werden. Diese Konstellation lässt sich ebenso auf Isers Konzept der Simulation wie auf Rancières Motto des Realismus als demokratische Unternehmung beziehen und trifft damit indirekte Aussagen über die Situation der argentinischen Demokratie zu Beginn des 21. Jahrhunderts.

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Der Roman L’Adversaire (2000) des französischen Schriftstellers Emmanuel Carrère und der Roman Soldados de Salamina (2001) des spanischen Schriftstellers Javier Cercas stehen im Zentrum der vergleichenden Analyse von Lara Toffoli, die in ihrem Aufsatz den Erzählstrategien der beiden Autoren nachgeht, die auf unterschiedliche Weise den realistischen Gehalt ihrer literarischen Rekonstruktion historischer Fakten zu bezeugen suchen. Auf den Plan tritt bei Carrère etwa ein variiertes Erbe von Capotes non-fiction novel, wenn er sich am Scheideweg zwischen realer und fiktiver Identität entscheiden muss. Die Rückkehr des Realen in den Literaturen der romanischen Länder wird ihr zufolge von einem Prozess begleitet, der den Akt des literarischen Schaffens mit exogenen Dynamiken wie der Dokumentation, der historischen Rekonstruktion oder der autobiographischen Übung verbindet. Der Begriff der Fiktion und ihre Grenzen werden damit infrage gestellt. Die Grenzen von Geschichte und Geschichten lotet auch der folgende Beitrag aus. Im Hinblick auf die Frage nach Effizienz und Zweck fiktionaler Erzähltechniken in der Vermittlung historischer Gegebenheiten und in der Debatte um eine im Wandel begriffene Geschichtswissenschaft beschäftigt sich Melanie Koch-Fröhlich mit dem Gattungsgrenzen überschreitenden Werk des französischen Historikers und Schriftstellers Ivan Jablonka, das sich nicht nur an seiner geschichtlichen Faktizität bemisst, sondern auch narratologisch überzeugen möchte, und als Ausdruck einer neuen, der Wahrheitssuche verpflichteten Subjektivität die Vermittlerrolle zwischen histoire und memoire einnimmt. Der Beitrag von Kirsten von Hagen führt die Themenbereiche der Geschichte des Vergessens und der Autofiktion zusammen und anhand von Alice Zeniters Kriminalroman Juste avant l’oubli (2015) eine Art der Emotionalisierung vor, die neues realistisches Schreiben vielfach ausmacht. Autofiktion und klassischrealistische Darstellungsmodi werden dabei in ein ähnliches Verhältnis gerückt, wie Warning es in Die Phantasie der Realisten bereits für das 19. Jahrhundert postuliert. Ähnlich wie Scholler geht auch von Hagen von einer Umdeutung ursprünglich postmodernistischer Marker aus, die in einem neuen Kontext zu ‚Effekten‘ realistischen Schreibens werden. Nicht ein Kriminalroman, sondern organisierte Kriminalität und deren filmische Illustration stehen im Zentrum des Beitrages von Tobias Berneiser, der das französische Pendant zu der von Saviano portraitierten Hauptstadt des organisierten Verbrechens Neapel, nämlich Marseille, in literarischer und filmischer Darstellung ‚unter die Lupe‘ nimmt. Das in seiner Machart vorbildhafte Werk Gomorra steht seinem Analysekorpus Pate, wenn er die Darstellung der sozialen Wirklichkeit in La fabrique du monstre (Pujol, 2016), der NetflixProduktion Marseille (2016–2018) und der YouTube-Serie Marsiglia (2015) auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede abklopft.

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Weg von der real erkennbaren Stadt, hin zu literarischen Räumen führt der Artikel von Jan Rhein, der der Prosa Jean-Philippe Toussaints ein neues Label – bekannt waren bereits die Zuordnungen zu den auteurs de minuit oder den nouveaux nouveaux romanciers – verpasst. Im Fokus steht die ‚weiche Grenze‘ zwischen Subjekt und Welt, analysiert wird die literarische Topographie als ein Hybrid aus realen und imaginierten, öffentlichen, privaten, prominenten und banalen Orten, sodass sich eine Welt konstruiert, die zugleich konkret und instabil ist und sich damit an früheren ‚Raumerzählern‘ wie Balzac stößt. Rhein spricht von einem ‚verdeckten‘ réel, keinem konkreten; die poeisis kippe und werde, in ihr Gegenteil verdreht, wieder zur mimesis. Im Vergleich von Michel Houllebecq und Gustave Flaubert widmet sich Bastian Piejko der zeitgenössischen Darstellung der Wirklichkeit und deren Abweichung vom traditionellen Realismus. Er macht dabei das Argument einer Remodellierung der Textstruktur stark, die dem Houllebecq’schen Realismus eine (soziale) Zweckgebundenheit ermöglicht, die konträr zu Flauberts Autonomierungsprozess des Ästhetischen steht. Den Schlusspunkt setzt Wolfgang Asholt, der sich Houllebecqs Realismusverständnis über Thesen annähert, die dieser in Bezug auf das Werk RobbeGrillets und den Nouveau Roman selbst aufgestellt hat und in denen er bspw. Robbe-Grillets an Balzac gerichteten Vorwurf kritisiert, dieser habe einer période de stérilité der französischen Literatur angehört. Houellebecq verwirft daher auch Robbe-Grillets Primat der (objektiven) Beschreibung und sieht sich stattdessen, wie Balzac oder Zola, in der Pflicht der Erarbeitung neuer Klischees. Schließlich widmet sich Asholt ausführlich Houllebecqs bisher letztem Roman Sérotonine und erörtert, wie der Realismus in diesem Text einer Suche nach der Wirklichkeit durch Fiktionalisierung entspricht. Re-Konstruktionen des Realen sind in der Romania keine ‚Einbahnstraße‘, sondern – ähnlich wie Calvino es für den italienischen Neorealismus formuliert hat – eine Vielzahl von Stimmen.11 Die fruchtbare Zusammenführung dieser neuen Realismen im vorliegenden Band hätte sich nicht realisieren lassen ohne die großzügige Unterstützung durch Paul Geyer und Dietrich Scholler. Ebenso unverzichtbar war die Hilfe beim Lektorat von Fulvia Caliandro, Jannik Jantzen und Joaquín Orlando Valenzuela Celis. Für die künstlerische Umsetzung des individuellen Covers des Bandes bedanken wir uns bei Felix Franzky. Julia Brühne (Bremen) Christiane Conrad von Heydendorff (Mainz) Cora Rok (Heidelberg)

11 Vgl. Calvino (2004), Prefazione, S. VIII.

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Bibliographie Allegoria 57 (2008): Ritorno alla Realtà? Narrativa e cinema alla fine del postmoderno. Asholt, Wolfgang (2002): „Die Rückkehr zum Realismus? Écriture du quotidien bei François Bon und Michel Houellebecq“, in: Andreas Gelz/Ottmar Ette (Hg.): Der französischsprachige Roman heute. Theorie des Romans – Roman der Theorie in Frankreich und der Frankophonie. Tübingen: Stauffenburg, S. 93–110. Asholt, Wolfgang (2013): „Un renouveau du ‚réalisme‘ dans la littérature contemporaine?“, in: Lendemains, Nr. 150–151, S. 22–35. Bessière, Jean: Le roman contemporain et la problématicité du monde. Paris: Presses Universitaires de France 2010. Beuchot, Mauricio / José Luis Jerez (2013): Manifiesto del nuevo realismo analógico, Neuquén: Ed. Círculo Hermenéutico. Breitenwischer, Dustin, Hanna-Myriam Häger, Julian Menninger (2020): „Zur Geschichte und Medialität faktualer und fiktionaler Erzählpraktiken: Eine Einleitung“, in: dies. (Hg.): Faktuales und Fiktionales Erzählen II: Geschichte – Medien – Praktiken. BadenBaden: Ergon, S. 7–30. Calvino, Italo (2004): Il sentiero dei nidi di ragno. Con una prefazione dell’Autore. Mailand: Mondadori. Conrad von Heydendorff, Christiane (2018): Zurück zum Realen. Tendenzen in der italienischen Gegenwartsliteratur. Göttingen: V&R. Donnarumma, Raffaele (2014): Ipermodernità. Dove va la narrativa contemporanea. Bologna: Il Mulino. Ferraris, Maurizio (2012): Manifesto del nuovo realismo. Roma-Bari: Laterza. Gabriel, Markus (2014): Der neue Realismus. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Ders. (2005): La fine del Postmoderno. Napoli: Guida. Ders. (2008): „Gomorra di Roberto Saviano presentato da Romano Luperini“, aetna.net, online verfügbar unter: http://www.aetnanet.org/modules.php?name=News&file=prin t&sid=9762 [Stand: 31. 08. 2021]. Ders. (2013): Tramonto e resistenza della critica. Macerata: Quodlibet. Rivoletti, Christian (2016): „Dissonanze e incontri possibili: il dibattito sul nuovo realismo nella letteratura contemporanea in Italia, Francia e Germania“, in: Silvia Contarini/ Ramona Onnis (Hg.): Narrativa: Italia fuori Italia. Diffusione, canonizzazione, ricezione transnazionale della letteratura italiana degli anni Duemila. Nanterre, FR: Nanterre: Presses de Paris Nanterre, S. 173–183. Rok, Cora (2021): Entfremdung in der Arbeitswelt des 21. Jahrhunderts und ihre Darstellung in der italienischen Gegenwartsliteratur, Göttingen: V&R. Schober, Rita (2002): „Renouveau du réalisme? Ou de Zola à Houellebecq? Hommage à Colette Becker“, in: La représentation du réel dans le roman. Mélanges offerts à Colette Becker, Paris: Oséa, S. 333–344. Schober, Rita (2003): Auf dem Prüfstand. Zola – Houellebecq – Klemperer. Berlin: Ed. Tranvía, Frey. Siti, Walter (2013): Il realismo è l’impossibile. Roma: Nottetempo. Viart, Dominique / Vercier, Bruno (Hg.) (2008): La littérature française au présent. Paris: Bordas.

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Wu Ming (2009): New Italian epic: letteratura, sguardo obliquo, ritorno al futuro. Torino: Einaudi.

Thomas Klinkert (Universität Zürich) / Christian Rivoletti (Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg)

Wirklichkeitsdarstellung in der italienischen und französischen Gegenwartsnarrativik durch Hybridisierung von faktualem und fiktionalem Schreiben am Beispiel von Antonio Franchini und Yannick Haenel* 1.

Die ‚Rückkehr zur Wirklichkeitsdarstellung‘ in der Gegenwartsnarrativik

In den letzten beiden Jahrzehnten hat in Frankreich und Italien eine Abwendung vom neoavantgardistischen und vom postmodernen literarischen Paradigma und eine Überwindung von deren Zentrierung auf tendenziell selbstbezügliche, spielerisch-artifizielle Textwelten stattgefunden. Diese Abwendung verbindet sich mit einem sozial-ethischen Engagement und einem neuen Verhältnis zur ‚Wirklichkeit‘. Diese Tendenz ist umso bemerkenswerter, als sie auf eine Phase folgt, in der die dominanten Literaturströmungen und -theorien durch eine radikale Kritik an herkömmlichen Modi der Wirklichkeitsdarstellung geprägt waren und die Literatur im Zeichen von Neoavantgarde, Postmoderne und Dekonstruktion die Möglichkeit eines Zugriffs auf die Wirklichkeit grundsätzlich in Zweifel zog. Seit der Jahrtausendwende sind dagegen Indizien für einen Paradigmenwechsel konstatiert worden, der sich mit programmatischen Schlagworten wie ‚Rückkehr zur Wirklichkeitsdarstellung‘ oder ‚Neuer Realismus‘ verbindet. Es handelt sich um eine allgemeinere Tendenz, die allerdings in Frankreich und Italien eine besondere Bedeutung annimmt, vor allem aus zwei Gründen: (1) Was in den USA als French Theory bezeichnet wird (Lacan, Derrida, Foucault, Deleuze…), hatte einen starken Einfluss vor allem in der französischen * Der vorliegende Beitrag entstand aus der engen Zusammenarbeit der beiden Verfasser. Abschnitt 2 wurde von Christian Rivoletti, Abschnitt 3 von Thomas Klinkert geschrieben; die Abschnitte 1 und 4 wurden von beiden gemeinsam verfasst. In die von Christian Rivoletti geschriebenen Teile sind Forschungsergebnisse des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Projekts Darstellung der Wirklichkeit und Hybridisierung der Formen in der gegenwärtigen Narrativik (Projektnummer 416495142) eingeflossen. Die Verfasser bedanken sich für wichtige Unterstützung und anregende Gespräche bei Clara Schwarze und Henning Hufnagel.

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Thomas Klinkert / Christian Rivoletti

und italienischen Literatur der 1960er und 1970er Jahre. Damit einher ging eine Art sprachtheoretisch begründetes ‚Mimesis-Verbot‘, welches noch in der PostAvantgarde und der Postmoderne fortwirkte, wenngleich es hier oft spielerisch und ironisch perspektiviert und in Ambivalenz überführt wurde. Insofern vollzog sich die in beiden Literaturen fast zeitgleich erfolgende Hinwendung zum Realen als ein besonders problembewusster und selbstreflexiver Paradigmenwechsel.1 (2) Es ist auffällig, dass sich in den im Literatursystem wie auch in der Literaturkritik geführten Debatten zur französischen und italienischen Gegenwartsnarrativik Begriffe wie „retour au réel“ bzw. „ritorno alla realtà“ besonders früh und mit besonderer Stärke durchsetzten.2 In Bezug auf Frankreich sprachen bereits 2002 und 2004 Rita Schober und Wolfgang Asholt von einem „renouveau du réalisme“ bzw. einer „Rückkehr zum Realismus“3 und danach 2005 Dominique Viart von einer „écriture du réel“.4 2006 und 2014 wies Jean Bessière auf eine neue Tendenz in der französischen Gegenwartsliteratur hin, die von den drei miteinander verknüpften Fragen nach dem „réel“, dem „sujet“ und der „fonction de la littérature“ geprägt sei.5 Michel le Bris, Jean Rouaud und Eva Almassy veröffentlichten 2007 ein von 44 Autoren unterzeichnetes Manifest mit dem Titel Pour une littérature-monde en français, in dem von einer Rückkehr der Welt in die Literatur die Rede ist.6 In den Bänden Devenirs du roman (2007, 2014) des Collectif Inculte, dem Autoren wie Mathias Énard und Maylis de Kerangal angehören, wird explizit nach einem „renouveau du roman“ durch ein neues Verhältnis zur Wirklichkeit gefragt.7 2008 wurde die Debatte in Italien durch das Themenheft der Zeitschrift Allegoria mit dem programmatischen Titel „Ritorno alla realtà“ angestoßen,8 sowie durch den im selben Jahr von dem italienischen Schriftstellerkollektiv Wu Ming in Montréal gehaltenen Vortrag über die New Italian Epic.9 Als Reaktion auf diese beiden Beiträge ergab sich eine Auseinandersetzung unter Autoren wie Ranieri Polese (2008), der die Vorbildfunktion des roman noir für viele zeitgenössische Texte hervorhob, Vittorio Spinazzola (2010) 1 Einen Überblick über einige der relevanten Theorieansätze zum Problem des Realismus findet man bei Asholt (2013), S. 23–26. 2 Für eine ausführliche Rekonstruktion dieser Debatten sowie für die Chronologie des Phänomens des ‚Neuen Realismus‘ in Italien, Frankreich und Deutschland verweisen wir auf Rivoletti (2016). 3 Vgl. Schober (2002) und Asholt (2002) sowie Schober (2004). 4 Viart / Vercier (2008 [2005]), S. 207. 5 Vgl. Bessière (2006) und (2014). 6 Vgl. Le Bris / Rouaud / Almassy (2007). 7 Vgl. Collectif Inculte (2007) und (2014). 8 Vgl. Donnarumma / Policastro / Taviani (2008). 9 Der Vortrag wurde ursprünglich im Rahmen der Tagung Up Close & Personal. Workshop sulla narrativa italiana contemporanea (Montréal, 28.–29. März 2008) gehalten und später in Form eines kleinen Buches veröffentlicht; vgl. Wu Ming (2009).

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und Daniele Giglioli (2011), die dagegen auf dem Neuartigen des zeitgenössischen Realismus insistierten, und Raffaello Palumbo Mosca (2014), demzufolge der neue Realismus neben der Wirklichkeit auch den Begriff der Wahrheit und die damit verbundene ethische Dimension ins Spiel bringt. Auch in Deutschland wurde die in Italien und Frankreich geführte Realismusdiskussion aufgegriffen. Infolge der Einladung des italienischen Philosophen Maurizio Ferraris an das Bonner Käte Hamburger Kolleg Recht als Kultur und der deutschen Übersetzung seines Manifesto del nuovo realismo im Jahr 2014 widmete die Wochenzeitung Die Zeit dem Phänomen des Realismus eine Serie von Beiträgen.10 Mit dem Ziel, eine Diskussion über den ‚Neuen Realismus‘ zwischen Italianisten aus Deutschland und Italien zu ermöglichen, fand ebenfalls 2014 ein von Christian Rivoletti, Michael Schwarze und Jobst Welge organisiertes Kolloquium mit dem Titel Zurück zur Wirklichkeit. Rekurrenzen des Realismus in der italienischen Literatur des 20. und 21. Jahrhunderts statt.11 Von Beginn an wurde das Phänomen des neuen Realismus kontrovers diskutiert. In Italien fehlte es nicht an kritischen Reaktionen, wie etwa der Position, dass die These einer Rückkehr des Realismus auf einer verfehlten wissenschaftlichen Auffassung beruhe, welche implizit die literarische Form zugunsten des Inhalts abwerte, oder der polemischen Position, die den neuen Realismus als literarisches Pendant zum politischen Populismus deutete.12 Die Diagnose eines Paradigmenwechsels wurde auch in Bezug auf Frankreich nicht von allen Forschern geteilt. So sahen Barbara Havercroft und andere Kritiker den zeitgenössischen französischen Roman durchaus in der Kontinuität des Nouveau Nouveau Roman eines Ricardou; Bruno Blanckeman hielt die Rede vom „retour au réel“ für einen Mythos und kritisierte das Manifest von Rouaud, Le Bris und Almassy, dem er vorwirft zu verkennen, dass die Literatur auch in Zeiten der Neoavantgarden niemals aufgehört habe, die Wirklichkeit in ihren verschiedensten Facetten darzustellen.13

10 Vgl. Ferraris (2014); siehe auch die Ausgaben der Wochenzeitung Die Zeit vom 3., 16. und 24. April, 15. Mai, 5. und 18. Juni sowie vom 3. Juli 2014. Als Zeichen der in Deutschland sich manifestierenden Aufmerksamkeit für das Phänomen der ‚Rückkehr zum Realen‘ sei hier auf zwei interdisziplinäre Initiativen hingewiesen: das dem Thema der „Sehnsucht nach Wirklichkeit“ gewidmete Merkur-Heft von Bohrer / Scheel (2005) und das DFG-Graduiertenkolleg der Universität Konstanz Das Reale in der Kultur der Moderne (2010–2019). 11 Ein Teil der Beiträge dieses an der Universität Konstanz abgehaltenen deutsch-italienischen Kolloquiums wurde veröffentlicht in Rivoletti / Tortora (2015). Eine der in der Folge entstandenen Untersuchungen ist die Dissertation von Conrad von Heydendorff (2018). 12 Vgl. Di Cesare / Ocone / Regazzoni (2013) zum Zusammenhang von neuem Realismus und Populismus; zur Abwertung der Form gegenüber dem Inhalt vgl. Cortellessa (2008). Für weitere Literaturhinweise zu der in Italien geführten Debatte siehe Rivoletti (2016), S. 174– 175, Fußnoten 5 und 8. 13 Havercroft / Michelucci / Riendeau (2010), Blanckeman (2010).

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Parallel zu den Kritiken haben die Verteidiger des Realismus versucht, das neue Phänomen näher zu definieren, zu kartieren und seine Hauptmerkmale zu erfassen. Insbesondere zwei Kennzeichen sind es, die mit besonderer Evidenz hervortreten: Das erste ist die hybride Form der narrativen Texte, die oft auf dokumentarischen Rekonstruktionen basieren, zugleich aber eine Lesart zulassen, die in mancherlei Hinsicht an traditionelle fiktionale Erzählungen und Romane erinnert. Sehr oft haben wir es mit Texten zu tun, in denen faktuales und fiktionales Schreiben miteinander kombiniert werden. In diesem Zusammenhang verdient die Selbstreflexion des Autors bzw. Erzählers über die Grenzen zwischen faktualem und fiktionalem Erzählen sowie über das Ineinandergreifen der beiden Darstellungsmodi eine besondere Beachtung, wie wir im Folgenden anhand der Textanalysen sehen werden. Ein zweites relevantes Merkmal des neuen Realismus ist das ethische Engagement des Autors/Erzählers, seine wertende Haltung gegenüber den erzählten Fakten sowie gegenüber den Darstellungsmodi seines Textes, schließlich seine selbstreflexive Verantwortung als schreibendes Subjekt. Das dokumentarische Schreiben paart sich oft mit einer subjektiven Perspektivierung, einer Art Ich-Zeugenschaft, die neben der Objektivität der rekonstruierten Fakten – und sogar mehr noch als diese tatsächlich niemals vollkommen erreichbare Objektivität – den Leser überzeugen und einnehmen soll. Die zwei Texte, die wir ausgewählt haben – Antonio Franchinis L’abusivo und Yannick Haenels Jan Karski –, dienen als exemplarische Stichproben, anhand derer wir versuchen wollen, folgende Fragen zu beantworten, die für mehrere Texte der Gegenwartsnarrativik zentral sind: Wie wird die Mischung von faktualem und fiktionalem Schreiben realisiert? Wie wird eine solche Hybridisierung jeweils begründet? Welche Wirkungen und Konsequenzen ergeben sich daraus?

2.

Das Verhältnis zwischen Schreiben und Wirklichkeit in L’abusivo von Antonio Franchini

Das 2001 erschienene Buch des Journalisten, Schriftstellers und Herausgebers14 Antonio Franchini (*1958) ist, anders als der Titel es vermuten lässt, kein Werk der Fiktion. Tatsächlich lässt der Titel L’abusivo,15 dem (anders als bei ‚Reportagebüchern‘ oder ‚Ermittlungsbüchern‘ üblich) kein Untertitel und damit auch

14 Er arbeitete bei wichtigen Verlagen wie Mondadori und Giunti. 15 Franchini (2001).

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keine weitere Spezifizierung beigefügt ist, zunächst an eine fiktionale Erzählung16 denken, ebenso wie es seine Aufnahme in die Farfalle-Reihe des Verlags Marsilio, die sich der zeitgenössischen italienischen Erzählliteratur widmet, nahelegt. Es genügt jedoch ein Blick auf die Umschlagrückseite, um zu erkennen, dass im Zentrum des Buches reale Fakten stehen: die Ereignisse des sogenannten ‚Falles Siani‘, d. h. die Tötung des 1959 geborenen Journalisten Giancarlo Siani, der am 23. September 1985 vor seinem Haus in Neapel von Auftragsmördern der Camorra umgebracht wurde, und das damit verbundene Gerichtsverfahren.17 Auch aus diesem Grund ist L’abusivo, das eine exakte dokumentarische Rekonstruktion tatsächlicher Ereignisse vorlegt, ein Buch, das sich perfekt in die Tendenz der italienischen Erzählliteratur des neuen Realismus einfügt, deren bekanntester Vertreter Roberto Saviano (*1979) mit seinem Erfolgsbuch Gomorra (2006) ist, der aber seinerseits nur die sichtbare Spitze eines in Wirklichkeit gewaltigen Eisbergs darstellt. Nicht nur diente nämlich Gomorra als Vorbild für eine lange Reihe von ‚Untersuchungsbüchern‘, die in der Folgezeit veröffentlicht wurden, sondern es gab auch schon vor seinem Erscheinen wichtige Vorläufer, insbesondere das hier betrachtete Buch von Franchini, das ihm um gut fünf Jahre vorausgeht. Auf der Grundlage von Savianos ausdrücklicher Bewunderung für Franchini, welche L’abusivo zu einem der Vorbilder für Gomorra macht, ist es legitim, die beiden Bücher zu vergleichen. Bei diesem Vergleich, der dazu dienen soll, die Analyse des hier interessierenden Textes von Franchini vorzubereiten, erscheinen drei Aspekte, die die beiden Werke gemeinsam haben, als besonders relevant. Der erste Aspekt ist die offensichtlichste Analogie, die sich auf den Gegenstand bezieht: Beide Texte behandeln das Phänomen der Mafia in ihrer spezifischen neapolitanischen Form, der Camorra, und rekonstruieren Fakten, Untersuchungen und Prozesselemente. Ein zweiter wichtiger Aspekt ist die Präsenz des Erzählers als Figur innerhalb der Erzählung: So wie in Gomorra Roberto von den ersten Seiten an als Protagonist oder Ko-Protagonist vieler der dargestellten Episoden auftritt, erzählt in L’abusivo Antonio Franchini (Sianis Altersgenosse, Mitbürger und ehemaliger Kollege) Ereignisse aus seinem eigenen Leben und tritt in den verschiedenen Begegnungen und Dialogen mit anderen Figuren immer wieder in Erscheinung. Neben der Rolle des direkten Zeugen der meisten erzählten Ereignisse schaffen beide Autoren auch oft eine, wenn auch indirekte, Verbindung zwischen ihrem eigenen Leben und den Ereignissen, die im Zentrum 16 Von Ricciardi (2011), S. 83 ist angemerkt worden, dass dieser „titolo intrigante, referenziale e misterioso“ perfekt zu einem Werk der Fiktion passe. 17 Über Giancarlo Siani und den ‚caso Siani‘ liegt eine mittlerweile beträchtliche Menge an Schriften und Filmen vor, die auf der Internet-Seite der Fondazione Giancarlo Siani aufgelistet sind; vgl. www.fondazionegiancarlosiani.it [letzter Zugriff am 28. 07. 2021].

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der Erzählung stehen. Tatsächlich stellt der Autor/Erzähler in mehreren Fällen, in denen er nicht direkt Zeuge dessen sein kann, was er erzählt, dennoch einen Bezug zwischen den erzählten Ereignissen und seinem eigenen Leben her. Dies ist zum Beispiel in Gomorra der Fall, in dem Kapitel, das dem ‚Krieg von Secondigliano‘ gewidmet ist. Saviano zählt hier die jährlichen Daten der von der Camorra zwischen 1979 und 2005 verübten Morde auf und schließt dann mit einem autobiographischen Hinweis: Tremilaseicento morti da quando sono nato. La camorra ha ucciso più della mafia siciliana, più della ’ndrangheta, più della mafia russa, più delle famiglie albanesi, più della somma dei morti fatti dall’ETA in Spagna e dall’IRA in Irlanda, più delle Brigate Rosse, dei NAR e più di tutte le stragi di Stato avvenute in Italia.18

Auch in L’abusivo fügt Antonio Franchini, während er von Giancarlo Sianis Arbeit als Journalist und seinen Artikeln erzählt, die er aus der Ferne verfolgt, einen autobiographischen Bezug ein: Allora, la firma contava quanto l’amore e più del resto. Nessuno usava distacco indifferenza verso la propria firma […]. Così, da lontano seguivo le evoluzioni del corpo della firma di Giancarlo; la vidi minuscola in calce alla dicitura „ha collaborato:“, messa tra parentesi sotto un’altra più grande, la sospettai sotto a una sigla, la vidi eclissarsi e riapparire. […] La vidi conquistarsi spazio e colonne e un giorno fu il pezzo di spalla all’articolo dell’inviato sul luogo di uno dei più eclatanti massacri di camorra degli ultimi anni. Il 26 agosto 1984 è la „strage di Sant’Alessandro“: un intero autobus carico di killer in „gita turistica“ […] lascia sul terreno otto morti e sette feriti. Per me era il 27 agosto, un giorno di mare a Scalea, in Calabria, con il sole a picco in mezzo a dune di sabbia che si spingevano a velare l’asfalto, steso con debordante noncuranza, della litoranea. Capita ogni tanto di pensare: mentre io sto facendo questo, mentre nuoto, mentre mangio, mentre mi scalda il sole, in questo momento da qualche parte qualcuno soffre un lutto […]. Qualcun altro, invece, lo ammazzano.19

Auf diese Weise wird auch bei Ereignissen, deren Vermittlung nicht auf dem direkten Zeugnis des Erzählers beruht, eine subjektive und emotionale Sichtweise eingeführt, eine Art privater ‚Filter‘ der öffentlichen Fakten, die erzählt werden. Wie in Savianos Buch kommt auch in Franchinis Text neben der Objektivität der angeführten Beweise vor allem der Subjektivität der Zeugnisse die Aufgabe zu, den Leser zu überzeugen. Ein dritter Aspekt, den beide Werke gemeinsam haben, ist die Mischung aus faktualen und fiktionalen Schreibformen. Zwar ist in beiden Texten die doku18 Saviano (2006), S. 135 (Hervorh. von uns). 19 Franchini (2001), S. 41–42 (Hervorh. von uns).

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mentarische Rekonstruktion realer Ereignisse die vorherrschende Schreibweise, doch kommen, wie wir bereits gesehen haben, in beiden Büchern auch Strategien der Einbeziehung des Lesers zur Anwendung, die nicht typisch für Sachliteratur, sondern eher für Fiktion sind.20 Dennoch liegt gerade in der Art und Weise, wie die faktualen und fiktionalen Schreibformen miteinander interagieren, ein wichtiger Unterschied zwischen Gomorra und L’abusivo. Während nämlich in Savianos Buch die Grenzen zwischen Sachbuch und Fiktion verschleiert werden und im Wesentlichen unpräzise bleiben, werden diese Grenzen in Franchinis Text thematisiert und sichtbar gemacht. Wir wollen versuchen, diesen Unterschied zu veranschaulichen, indem wir zeigen, wie jeder Autor anders operiert, indem er zwei Verfahren anwendet, die mit der Konstruktion des Textes zusammenhängen. Das erste Verfahren betrifft die Art und Weise, wie dokumentarische Elemente in den Text eingefügt werden, d. h. Zitate aus Zeitungsartikeln, Interviews, Nachrichten aus den Massenmedien, Akten zu Ermittlungen oder Gerichtsverfahren usw. In Gomorra werden solche Textelemente in den meisten Fällen ohne genauen Hinweis auf die verwendeten Quellen angeführt, und häufig werden sie sogar mehr oder weniger explizit aus dem Gedächtnis wiedergegeben. In L’abusivo, welches viel umfangreichere Zitate als Gomorra enthält, sind stattdessen alle Zitate mit genauen Verweisen auf die verwendeten dokumentarischen Quellen versehen, komplett mit Datum und Seitenzahl oder, im Falle von Interviews, mit dem Namen des Interviewpartners und dem Datum und Ort des Interviews. Für die Interviewtexte reproduziert Franchini außerdem die für die gesprochene Sprache charakteristischen Versprachlichungsstrategien auf ziemlich getreue Weise, indem er die im ursprünglichen Kommunikationsakt vorhandenen Elemente beibehält: diskursive Signale verschiedener Art (des Kontakts, der Selbstkorrektur usw.), Pausen (wiedergegeben durch Auslassungspunkte), plötzliche Themenwechsel, Anakoluthe, unvollendete Sätze, Passepartouts, dialektale Ausdrücke und Ausrufe. Struktur und Charakteristik dieser Passagen legen daher nahe, es handle sich gewissermaßen um die Transkription einer Tonaufnahme, die während des Interviews gemacht wurde (wenngleich dies im Buch nicht bestätigt wird).21 Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Franchini den dokumentarischen Charakter seiner Zitate mit größerer Strenge und Präzision als Saviano markiert und damit implizit ihren Grad an Faktizität unterstreicht und sie gleichzeitig deutlicher von anderen Textelementen abgrenzt.

20 Zum Verhältnis zwischen Faktualität und Fiktionalität in Gomorra vgl. Rivoletti (2015). 21 Eine detaillierte Untersuchung dieser von Franchini verwendeten Schreibweise findet sich bei Fesenmeier / Rivoletti (2016), insbes. S. 152–155.

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Ein zweites Verfahren betrifft die Gesamtstruktur des Textes. In Gomorra sind die verschiedenen Schreibformen (autobiographisches Schreiben, journalistische Reportage, Darstellung von Daten und Statistiken, Zitate aus Artikeln, Büchern und Akten) übergangslos miteinander verwoben, und diese ‚Fluidität‘ des Textes führt dazu, dass die Grenzen zwischen den verschiedenen Schreibformen fast ausgelöscht oder zumindest vom Leser nicht sofort wahrgenommen werden.22 In L’abusivo wird dagegen der komposite Charakter der Textstruktur durch die besondere Montagetechnik hervorgehoben, ja geradezu ausgestellt.23 Der Leser wird somit dazu aufgefordert, die Lücken zwischen den verschiedenen Erzählblöcken, aus denen sich der Text zusammensetzt und die auch auf typographischer Ebene durch Leerzeilen markiert sind, zu erkennen und zu registrieren. Dieser Punkt ist von besonderer Bedeutung, weil er, wie wir gleich noch genauer sehen werden, direkt unser Thema betrifft, d. h. die Modalitäten der Hybridisierung von Faktualität und Fiktionalität, insofern eine der verschiedenen von Franchini verwendeten Schreibformen auf die fiktionale Dimension verweist. Versucht man, die Schreibweisen, die in L’abusivo verwendet werden, zu unterscheiden und zu definieren, kann man vier Grundformen identifizieren: a) den autobiographischen Modus, d. h. die Schilderung von in der ersten Person erlebten Ereignissen; b) den Modus der nicht-fiktionalen Reflexion, d. h. den reinen und direkten Ausdruck der Gedanken des Autors (welcher nicht notwendigerweise auf den eigentlichen autobiographischen Bericht zentriert sein muss und daher vom ersten Modus unterscheidbar ist); c) den Modus der dokumentarischen Rekonstruktion, d. h. die journalistische Darstellung der Ereignisse und den möglichen Rückgriff auf verschiedene Quellen (die bereits erwähnten Zitate aus Artikeln, Büchern, Interviews, Ermittlungs- und Verfahrensakten usw.); d) einen vierten, sehr speziellen Modus, nämlich die Erzählung von Szenen aus dem Inneren der Herkunftsfamilie des Autors. Dieser Modus ist von dem autobiographischen zu unterscheiden, weil diese Szenen bewusst und deutlich karikierend sind, d. h. sie sind durch einen komisch-grotesken Ton und einen geradezu theatralischen Charakter gekennzeichnet.24

22 Zu den Formen der Interaktion der verschiedenen Schreibformen siehe Rivoletti (2015), S. 108–114. 23 Zu Franchinis Kompositionstechnik hat Ricciardi (2011), S. 84 zu Recht festgestellt, dass „il suo è un montaggio esibito, poiché mostra apertamente al lettore lo strano assemblaggio dei blocchi narrativi“. 24 Diesbezüglich hat man von „passages comiques […] scènes dignes du théâtre de De Filippo“ gesprochen; siehe Bovo-Romœuf (2006), S. 53.

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Die durch diese vierte Schreibform geprägten Teile verblüffen und überraschen den Leser gerade durch die Distanz, die sie zu den anderen drei Schreibformen aufweisen. Es sind kurze Erzählungen, deren Protagonisten die neapolitanischen Familienmitglieder des Autors sind, nämlich seine Mutter, seine Großmutter und sein Onkel, deren Charakter, Gefühle und ständige Streitereien beschrieben werden. Die Großmutter wird uns als eine extrem gierige und egoistische Person präsentiert, die völlig in der Rolle des unverstandenen Opfers aufgeht, einer Rolle, die sie schlecht spielt und die daher alles andere als glaubwürdig wirkt, immer bereit, über ihre Position als alte und bedürftige Mutter zu jammern, die angeblich von ihrer Tochter vernachlässigt und von ihrem Cousin (Onkel Rino) angefeindet wird und sich aufgrund dieser Anfeindungen immer in vermeintlicher Lebensgefahr befindet. Onkel Rino, der ein Jurastudium absolviert hat, wird als sanftmütiger und kluger Mann beschrieben, der sich auch von der Eifersucht seiner Cousine nicht aus der Ruhe bringen lässt, die ihn wiederholt beschuldigt, ihr die Zuneigung ihrer Tochter zu rauben. In Wirklichkeit symbolisieren sein Phlegma und seine Trägheit seine absolute Gleichgültigkeit gegenüber allem, das nicht mit seinem eigenen persönlichen Vorteil zu tun hat. Insgesamt werden die drei Charaktere durch eine starke komische Verzerrung, durch die Verwendung von Spitznamen (die Großmutter heißt „il Locusto“, ‚die Wanderheuschrecke‘: der im neapolitanischen Dialekt männliche Name bezieht sich auf eine der zehn biblischen Plagen des alten Ägyptens) und damit durch die Lust an der Aufladung und Übertreibung der Fakten charakterisiert. Diese karikaturhaften Szenen, die als humoristische Sketche gelesen werden können, unterscheiden sich also von den anderen drei Schreibformen vor allem dadurch, dass ihr Grad an Faktizität weniger überprüfbar ist und insgesamt viel geringer erscheint: Durch ihren hyperbolischen und theatralischen Charakter weisen sie eher in den Bereich der literarischen Fiktion. Angesichts ihrer Distanz zu den anderen Teilen des Textes und ihrer erheblichen Fremdheit gegenüber dem zentralen Thema des Buches kann man sich durchaus fragen, welche Funktion sie haben und warum Franchini immer wieder auf sie zurückgreift. Wie zu Recht bemerkt wurde, symbolisieren die drei Charaktere in der ewigen Wiederholung ihrer Haltungen und täglichen Streitereien den schlimmsten Aspekt des Immobilismus, der die neapolitanische Gesellschaft kennzeichnet: jener Unmöglichkeit der Veränderung, gegen die auch die zentrale Figur des Buches, der Journalist Siani, ankämpft, der den Mut hatte, die Absprachen zwischen der Camorra und der lokalen Politik anzuprangern, und dafür mit seinem Leben bezahlte. In diesem Sinne stellen das egoistische Festklammern am Leben, durch welches die ‚Wanderheuschrecke‘ sich auszeichnet, ihre übertriebenen und schlecht vorgetäuschten Beschwerden und die Trägheit des Onkels Rino eine Art komisch-grotesken Kontrapunkt dar, der die Wirkung hat, im Gegensatz dazu das Engagement, die Ernsthaftigkeit und die Tragik

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hervorzuheben, die die Figur und die Erlebnisse von Giancarlo Siani auszeichnen.25 Neben der genannten Wirkung gibt es indes noch eine weitere, die nicht so sehr durch eine semantische Opposition hervorgerufen wird, als vielmehr durch eine Opposition, die auf der formalen Ebene angesiedelt ist. In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, dass Franchini auf mehreren Seiten seines Buches immer wieder über die Grenzen zwischen Fiktion und Nicht-Fiktion, zwischen der Fiktionalität der Literatur und der Faktizität der journalistischen Berichterstattung reflektiert. Bezüglich der ‚Sorge um Wahrhaftigkeit‘ in der Literatur stellt Franchini fest: […] mi sembra che lottare contro la realtà cambiando nomi, sfondi e situazioni sia una specie di affronto alla naturalezza e mi costa uno sforzo anche quando è necessario. A meno di non cambiare subito tutto ciò che c’è da cambiare, in modo da dare alla finzione il tempo per imporsi nella mente come una nuova realtà con la sua verità. Questo succede nella letteratura, dove ogni preoccupazione di verosimiglianza, di debito nei confronti della realtà, è una preoccupazione stupida, infondata, se non è persino testimonianza di una visione ingenua, incapace di distacco. Eppure.26

Einerseits zeigt Franchini, dass er sich der legitimen Freiheit des Autors fiktionaler Literatur bewusst ist, die Realität, von der er sich anregen lässt, nach Belieben zu verändern sowie Namen, Fakten und Figuren zu erfinden. Andererseits ist er, wie es schon durch das abschließende „eppure“ angedeutet wird, das wie eine Korrektur des Gesagten klingt,27 ebenfalls überzeugt, dass diese Freiheit das Risiko der Verantwortungslosigkeit in sich birgt, das Risiko, die Literatur von jeder ethischen Haftung zu befreien. Ein Risiko, das nicht als bloße Hypothese betrachtet, sondern als gefährlich manifest erkannt wird, zum Beispiel in einem fragwürdigen Urteil von Goffredo Parise über die angeblichen Verse des Camorramitglieds Raffaele Cutolo, einem Urteil, das Franchini wenige Seiten weiter oben zitiert und kommentiert. In diesem Zusammenhang warnt er davor, Fiktion und Realität zu verwechseln, wenn die fiktionale Erzählung die Realität bis zu dem Punkt verzerren kann, an dem sie Gewalt und Mord rechtfertigt, an dem sie ein tatsächlich begangenes Verbrechen faszinierend erscheinen und den Leser das Schreckliche, das einem Mord der Camorra innewohnt, übersehen lässt. Die Warnung bezieht sich auf eine Erzählung „[…] dove la condanna si perde nella voluttà del racconto e il pensiero elementare si allontana, inseguito dalle leggi di una vasta fiction, per la quale tutto è comunque finto, i difetti diventano peculiarità del personaggio e gli esseri più spregevoli figure dal 25 Zu diesem Gegensatz siehe Ricciardi (2011), S. 90 sowie Marchese (2019), S. 165, der von einem „controcanto grottesco“ spricht. 26 Franchini (2001), S. 96. 27 Vgl. hierzu Donnarumma (2014), S. 188.

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fascino complesso.“28 Wenn der Autor von L’abusivo einerseits eine alles andere als naive Haltung gegenüber den Grenzen zwischen Fiktion und Nicht-Fiktion und gegenüber der legitimen Freiheit der poetischen Erfindung zeigt, so lädt uns das Buch andererseits dazu ein, gleichzeitig über die ethischen Konsequenzen einer illegitimen Deformation der Realität nachzudenken, die von einer bestimmten Art fiktionaler Literatur betrieben wird. Im Mittelpunkt von Franchinis Buch steht die Beziehung zwischen Schreiben und Wirklichkeit, genauer gesagt die Folgen und Auswirkungen des Schreibens auf die Wirklichkeit, denn die Ermordung Giancarlo Sianis ist eine Folge der Anklagen, die er in seinen journalistischen Artikeln gegen die Camorra erhoben hat. Vor diesem Hintergrund erhält die Beziehung zwischen Schreiben und Wahrheit unmittelbar eine ethische Bedeutung; daher die Notwendigkeit, bewusst zwischen faktischem und fiktionalem Schreiben zu unterscheiden und über die Risiken einer Fiktion nachzudenken, die die Realität unzulässig verzerrt. Auf der Grundlage dieser Unterscheidungen sollten die oben beschriebenen karikaturhaften Szenen im häuslichen Milieu gelesen werden. In der Tat setzen sie konsequent um, was Franchini in seinen Überlegungen zur Fiktionalität zum Ausdruck bringt: Ihre Übertreibung ist nie untergründig oder getarnt, sondern liegt offen zutage; die Grenze zwischen Fiktion und Nicht-Fiktion ist also klar und deutlich sichtbar. Letztlich ist ihre Funktion ebenso klar, nämlich den Leser zum Nachdenken über den Kontrast zwischen dem karikierenden, theatralisch angehauchten und zwischen Komik und Groteske schwebenden, absichtlich übertriebenen und daher ‚falschen‘ Drama einerseits und der realen und unwiderruflichen Tragödie des Todes eines jungen Journalisten, der von der Camorra ermordet wurde, andererseits zu bringen. Der Kontrast zwischen dieser vierten Schreibweise und den anderen drei erfasst also auch die formale Dimension. Schließlich verweist L’abusivo auch durch die Schreibformen und deren Zusammenspiel auf das Engagement seines Autors, auf seinen Wunsch, Zeugnis von den Ereignissen abzulegen und über das Verhältnis von Schreiben und Wirklichkeit zu reflektieren.

3.

Yannick Haenels Jan Karski als Versuch, Leerstellen durch die Hybridisierung von Fakten und Fiktion zu füllen

Im Jahr 2009 veröffentlichte Yannick Haenel (*1967) den Roman Jan Karski. Wie L’abusivo von Antonio Franchini, so steht auch Haenels Buch im Zeichen der Hybridisierung von historischer Faktizität und romanesker Fiktion, und wie bei

28 Franchini (2001), S. 70.

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Franchini geht es auch bei Haenel um ein grundlegendes ethisches Engagement. Ebenfalls ist bei Haenel in der Textstruktur deutlich markiert, dass zwischen den historischen Tatsachen und der romanesken Fiktion eine Grenze verläuft, wenngleich diese prinzipiell vorhandene und eingestandene Grenze in Teilen des Romans dann auch verwischt werden kann. Sowohl die historischen Fakten als auch die Fiktion werden von Haenel nämlich in den Dienst eines ethischen Engagements genommen, was teilweise zu Lasten der historischen Wahrheit geht.29 Dies hängt mit dem Thema des Buches zusammen, dem NS-Genozid an den europäischen Juden und der Unfähigkeit (oder Unwilligkeit?) der Alliierten, dieses von den deutschen Nationalsozialisten begangene Menschheitsverbrechen zu verhindern. Eine Schlüsselrolle spielte in diesem Zusammenhang der Titelheld des Textes. Jan Karski lebte von 1914 bis 2000 und war Mitglied der polnischen Widerstandsbewegung im Zweiten Weltkrieg. Sein eigentlicher Name war Jan Romuald Kozielewski; bei Kriegsbeginn stand er am Anfang einer Karriere als Diplomat. Jan Karski war einer seiner Tarnnamen, unter dem er später bekannt wurde, u. a. als Autor des Buches Story of a Secret State (1944). Er wurde während seiner Zeit als Widerstandskämpfer von der Gestapo verhaftet und gefoltert, konnte aber fliehen. Mehrmals überquerte er die Grenze des von den Nationalsozialisten besetzten Teils Polens und fungierte als Botschafter zwischen der Widerstandsbewegung in Polen und der polnischen Exilregierung im Westen. In dem Film Shoah (1985) von Claude Lanzmann, der sich der Vernichtung der europäischen Juden durch das Hitlerregime mit den Mitteln des Dokumentarfilms auf sehr eigenwillige, originelle und faszinierende Art und Weise annähert (es werden Interviews mit Mitgliedern der Opfer- und Tätergruppen sowie mit Zeugen geführt und die Schauplätze der Vernichtung, so wie sie drei Jahrzehnte 29 Zu einer kritischen Analyse von Haenels freiem, subjektivem Umgang mit der historischen Wahrheit, verbunden mit einer Darlegung der Querelle, die das Erscheinen des Buches Jan Karski ausgelöst hat und bei der Claude Lanzmann die Rolle des schärfsten Kritikers übernahm, vgl. Golsan (2013). Vgl. außerdem die ausführlichen Bemerkungen bei Dion (2018), S. 47–73. Im Wesentlichen geht es bei der Querelle um die Frage, ob ein Romancier, der sich mit einer historischen Figur wie Jan Karski befasst, das Recht habe, dieser Figur im Modus der Fiktion Haltungen, Motive, Gedanken zu unterstellen, die historisch nicht belegt sind bzw. die möglicherweise sogar im Widerspruch zu den expliziten Äußerungen dieser Figur stehen. Mit anderen Worten: Es geht um die Frage nach der Funktion und Legitimität von Fiktion im Zusammenhang mit historischer Faktizität. Dieser Frage waren wir schon oben bei Franchini begegnet, und sie wird auch in Frankreich von dem kurz nach Jan Karski im Jahr 2010 erschienenen Roman HHhH von Laurent Binet gestellt, der es unternimmt, auf der Grundlage von Archivmaterial und Geschichtsbüchern, aber auch von Romanen und Filmen alles Wissbare über das von Jozef Gabcˇík und Jan Kubisˇ am 27. Mai 1942 in Prag verübte Attentat auf Reinhard Heydrich zusammenzutragen. Der Text erzählt dabei auch die Geschichte des Zusammentragens dieser Informationen und reflektiert über die Möglichkeiten und Grenzen der Vermischung des faktualen mit dem fiktionalen Diskurs. Die genannten Texte sind insofern exemplarisch, als sie einem für die Gegenwartsliteratur insgesamt charakteristischen Genre, der „narration documentaire“, gehören; vgl. Ruffel (2012).

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nach dem Ende des Krieges aussehen, ebenso wie die Schauplätze der Interviews gezeigt), berichtet Jan Karski über eine wichtige Begebenheit aus dem Jahr 1942. Er traf sich damals mit zwei Vertretern jüdischer Verbände in Warschau und wurde von ihnen beauftragt, den politischen und militärischen Verantwortlichen der Alliierten von der durch die Nationalsozialisten durchgeführten planmäßigen Auslöschung aller in den von ihnen besetzten Gebieten lebenden Juden zu berichten und an sie zu appellieren, dass sie Maßnahmen ergreifen möchten, um den Massenmord zu unterbinden. Um der Dringlichkeit dieses Anliegens mehr Nachdruck zu verleihen, führen sie Jan Karski in das jüdische Ghetto von Warschau, wo er mit eigenen Augen die unmenschlichen Lebensbedingungen und den mörderischen Zynismus der deutschen Besatzer erblickt. Damit wird der Katholik und polnische Patriot Jan Karski, der, wie er selbst sagt, von der Judenvernichtung zwar gehört hatte, aber bis dahin nichts Konkretes darüber wusste, zum Augenzeugen der Shoah, wovon er Claude Lanzmann auf ergreifende Weise berichtet. Ein Teil seiner Mission bestand nun darin, die Weltöffentlichkeit von dem Menschheitsverbrechen der Nationalsozialisten an den Juden zu unterrichten. Er traf wichtige Politiker der Alliierten, u. a. den britischen Außenminister Anthony Eden und den amerikanischen Präsidenten Franklin D. Roosevelt. Allerdings gelang es ihm nicht, durch seine Hilfsappelle zu bewirken, dass man mit militärischen oder politischen Mitteln tatsächlich versuchte, den Judenmord zu stoppen. Das Gespräch mit Claude Lanzmann nimmt Yannick Haenel zum Ausgangspunkt seines Romans. Er zitiert teilweise wörtlich das von Karski Gesagte, worauf er in einer seinem Text vorangestellten ‚Note‘ auch explizit hinweist: „Les paroles que prononce Jan Karski au chapitre 1er proviennent de son entretien avec Claude Lanzmann, dans Shoah.“30 Dieser erste Teil des Romans liest sich als kommentierende und interpretierende Beobachtung der Interviewsituation, die ihrerseits durch die Anwesenheit der Kamera eine Beobachtungssituation ist; es handelt sich also bei Haenel um eine „Beobachtung zweiter Ordnung“, die sich selbst explizit als solche zu erkennen gibt.31 Deshalb läuft der von Claude Lanzmann nach Erscheinen des Buches erhobene Vorwurf, Yannick Haenel habe seinen Film Shoah plagiiert, ins Leere.32 Die Beobachtung zweiter Ordnung perspekti30 Haenel (2017 [2009]), S. 9. 31 Zur „Beobachtung zweiter Ordnung“, verstanden als „Beobachtung von Beobachtungen“, siehe Luhmann (1995), S. 94. Zu einer fiktionstheoretischen Nutzbarmachung dieses Begriffes siehe Klinkert (2020). 32 Lanzmann (2010), S. 3: „Lorsque je reçus, en juin, à sa parution, le Jan Karski, sous-titré ‚roman‘, de Yannick Haenel, avec une dédicace qui m’assurait de son admiration, je le feuilletai rapidement, assez pour être surpris par l’étrangeté de sa construction en trois chapitres: le premier, à Shoah entièrement consacré, paraphrase tout ce que j’ai gardé dans le film des deux journées de tournage avec Karski chez lui à Washington en 1979, mais aussi cite, sans en avoir jamais demandé l’autorisation, des passages verbatim du texte de Shoah, publié

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viert und interpretiert das im Film von Lanzmann Dargestellte, nimmt also zu dieser Darstellung eine Metaebene ein, die als solche deutlich gekennzeichnet wird. Dies ist geradezu das Gegenteil eines Plagiats. Ein solches läge nur dann vor, wenn die Herkunft der wörtlichen Zitate von Jan Karski verschleiert würde. Haenel macht den Bezug zu seiner Quelle dagegen klar und deutlich sichtbar. In gewisser Hinsicht ist Jan Karski sogar die Fortsetzung dessen, was Lanzmann in Shoah unternommen hat, mit den Mitteln der Literatur. Sowohl der Film Shoah als auch der Roman Jan Karski arbeiten sich an Leerstellen ab, die zwischen dem historischen Ereignis des NS-Genozids und der Gegenwart, aus der heraus man das Geschehene zu begreifen versucht, gelegen sind.33 Diese Leerstellen haben mit dem spurlosen Verschwinden von sechs Millionen Juden (und anderen von den Nationalsozialisten in den Lagern ermordeten Bevölkerungsgruppen) zu tun, die in den Gaskammern ermordet und deren Leichen danach in den Krematorien verbrannt wurden. Als Leerstelle ist zunächst einmal ganz wörtlich dieses spurlose Verschwinden einer Gruppe von Menschen zu bezeichnen, die nach den rassistischen Kategorien der Nationalsozialisten als ‚Feinde des deutschen Volkes‘ und ‚Schädlinge‘ galten und denen daher die ‚Endlösung‘ einer totalen Auslöschung zugedacht wurde. Dieses unfassbare Verbrechen sollte in seiner Monstrosität selbst unsichtbar gemacht werden, was man einerseits daran erkennt, dass die Verantwortlichen für diesen industrialisierten Massenmord ihre Handlungen zumindest öffentlich nicht direkt beim Namen nannten; man sprach nicht von Massentötungen, sondern von ‚Sonderbehandlungen‘, nicht von der Deportation in Konzentrationslager, sondern von ‚Auswanderung‘ und ‚Evakuierung‘.34 Hermann Görings Auftrag an Reinhard Heydrich lautete nicht, dafür zu sorgen, dass alle Juden möglichst schnell und umfassend erschossen oder vergast werden, sondern „die Judenfrage in sous le même titre dans la collection ‚Folio‘ (Gallimard encore), longs parfois de quinze lignes – l’ensemble des citations équivalant à la moitié des interventions de Karski dans le film. Certains appellent ‚hommage‘ ce parasitage du travail d’un autre. Le mot de plagiat conviendrait aussi bien.“ Vgl. hierzu auch die mit der unsrigen übereinstimmende Einschätzung von Dion (2018), S. 57. Dion zufolge ist das erste Kapitel von Jan Karski die sprachliche Recodierung einer bereits codierten filmischen Situation, es handelt sich um eine Form des „surcodage“, weshalb es reduktiv sei, wie Lanzmann es tue, dem Buch vorzuwerfen, es verhalte sich ‚parasitär‘ zu Shoah. 33 In ihrem Überblick über den französischen Gegenwartsroman stellen Tadié / Cerquiglini (2012), S. 295–298 die Präsentation von Haenels Roman unter die Überschrift: „Combler les vides de l’Histoire“. 34 Vgl. etwa Brakel (2008), S. 98, wo aus dem von Eichmann verfertigten Protokoll der WannseeKonferenz zitiert wird, in dem es beschönigend heißt, dass die deportierten Juden im Arbeitseinsatz „durch natürliche Verminderung ausfallen“ werden und dass die die Qualen der Zwangsarbeit Überlebenden „entsprechend behandelt werden“ müssten, damit sie nicht zur „Keimzelle eines neuen jüdischen Aufbaues“ würden.

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Form der Auswanderung oder Evakuierung einer den Zeitverhältnissen entsprechend möglichst günstigen Lösung zuzuführen“.35 Zum anderen versuchte die SS, als sie durch das Herannahen der Roten Armee gezwungen war, die Vernichtungslager im Osten aufzugeben, die Spuren der Tötungsmaschinerie zu löschen, indem etwa die Gaskammern zerstört wurden. Auch hat man die noch vorhandenen Leichen ausgegraben und verbrannt. Diese Leerstelle versucht Lanzmanns Film symbolisch sichtbar zu machen, indem er etwa Bilder von grasbewachsenen Flächen zeigt, auf denen damals die Lager sich befanden. Durch den Gegensatz zwischen den Zeugenaussagen, die sich auf die Mordaktionen und das Leid der Opfer beziehen, und der friedlichen Stille und vermeintlichen Harmlosigkeit der gezeigten Orte wird für den Zuschauer das Unsagbare eines weder durch sprachliche Mitteilung noch durch visuelle Repräsentation angemessen darstellbaren Schreckens erahnbar. Eine andere Leerstelle ist die der Bezeugung des Geschehenen. Da die Opfer des Genozids selbst nicht von ihren Erlebnissen berichten können, verdanken sich alle vorhandenen Zeugnisse jenen, die nicht direkt betroffen waren, oder jenen wenigen, die wie etwa Primo Levi, Robert Antelme, Jorge Semprún oder Ruth Klüger in den Lagern waren und das außergewöhnliche Glück hatten zu überleben.36 Gemäß der von Yannick Haenel eingenommenen Perspektive ist Jan Karski ebenfalls ein Zeuge der Shoah und füllt als solcher eine Leerstelle. Schon das Motto des Buches kündigt mit einem auf Paul Celans Gedicht Aschenglorie verweisenden Satz – „Qui témoigne pour le témoin?“37 – das Problem der Zeugenschaft an. Auch der Text selbst erwähnt explizit die Aktion des Bezeugens, etwa an folgender Stelle: „Le témoin, est-ce celui qui parle? C’est d’abord celui qui a vu. Les yeux exorbités de Jan Karski, en gros plan, dans Shoah, vous regardent à travers le temps. Ils ont vu, et maintenant c’est vous qu’ils regardent.“38 Die Darstellung zielt von Beginn an darauf, die Erschütterung und Empörung des Zeugen Jan Karski als besonders schwerwiegend erscheinen zu lassen:

35 Görings Brief an Heydrich vom Juli 1941 ist als Faksimile auf Wikipedia einsehbar unter https://de.wikisource.org/wiki/Göring_an_Heydrich_über_die_Endlösung_der_Judenfrage [letzter Zugriff am 28. 07. 2021]. 36 Neben den allgemein bekannten literarischen Zeugnissen der genannten Autoren wie etwa Se questo è un uomo, L’espèce humaine, Le grand voyage oder weiter leben gibt es eine Fülle von schriftlichen Zeugnissen unbekannter Überlebender, die keinen literarischen Anspruch erheben. Am Beispiel von Mauthausen-Überlebenden hat Peter Kuon eine Fallstudie vorgelegt, die sich auf ein Korpus von insgesamt 133 Texten bezieht, vgl. Kuon (2013). 37 Das ist eine etwas ungenaue Celan-Reminiszenz. Das Original-Zitat aus Aschenglorie lautet: „Niemand / zeugt für den / Zeugen“, Celan (1986), S. 72. Dass indes auch das von Haenel abgewandelte Zitat fruchtbar sein kann, zeigen Gelhard / von der Lühe (2012). Zu der für Haenels Buch grundlegenden Frage der Zeugenschaft vgl. ausführlich Dion (2018). 38 Haenel (2017 [2009]), S. 16.

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C’est dans Shoah de Claude Lanzmann. Vers la fin du film, un homme essaye de parler, mais n’y arrive pas. Il a la soixantaine et s’exprime en anglais; il est grand, maigre, et porte un élégant costume gris-bleu. Le premier mot qu’il prononce est: „Now“ (Maintenant). Il dit: „Je retourne trente-cinq ans en arrière“, puis tout de suite il panique, reprend son souffle, ses mains s’agitent: „Non, je ne retourne pas… non… non…“ Il sanglote, se cache le visage, brusquement se lève et sort du champ. La place est vide, on ne voit plus que des rayonnages de livres, un divan, des plantes. L’homme a disparu. La caméra le cherche: il est au bout d’un couloir, penché sur un lavabo, il se passe de l’eau sur le visage. Tandis qu’il revient à sa place, son nom apparaît à l’écran: „JAN KARSKI (USA).“ Et puis, au moment où il s’assied: „Ancien courrier du gouvernement polonais en exil.“ Ses yeux sont très bleus, baignés de larmes, sa bouche est humide. „Je suis prêt“, dit-il. Il commence à parler au passé, au passé simple même – comme dans un livre: „Au milieu de l’année 1942, je décidai de reprendre ma mission d’agent entre la Résistance polonaise et le gouvernement polonais en exil, à Londres.“ Cette manière de commencer le récit le protège de l’émotion: on se croirait au début de Dante, mais aussi dans un roman d’espionnage.39

Auch mehrere Jahrzehnte nach den Ereignissen ist Jan Karski noch so von ihnen ergriffen, dass es ihm zunächst schwerfällt, überhaupt darüber zu sprechen. Nachdem er gesagt hat, er wolle 35 Jahre in die Vergangenheit zurückkehren, fällt er sich selbst ins Wort und negiert dieses Vorhaben. Er muss sich erst einmal beruhigen, aufstehen, weggehen, sich das Gesicht waschen und wieder zurückkommen, ehe er tatsächlich anfangen kann zu erzählen. Damit wird die besondere Schwierigkeit, ja die Unmöglichkeit des Sprechens über die zu bezeugenden Ereignisse betont: Chacune de ses paroles garde trace de cet empêchement qu’il a eu au début, lorsqu’il est sorti du champ. On dirait même qu’elles sont fidèles à l’impossibilité de parler. Jan Karski ne peut pas occuper cette place de témoin à laquelle on l’assigne, et pourtant il l’occupe, qu’il le veuille ou non. Sa parole s’est brisée d’entrée de jeu parce que, précisément, ce qu’il a à dire ne peut se dire qu’à travers une parole brisée.40

Interessant ist an diesen Sätzen, dass sie nur aus einer deutenden Perspektive heraus gesprochen werden können. Es handelt sich nicht um die Beschreibung des zweifelsfrei und objektiv Sichtbaren und Feststellbaren, sondern um Schlussfolgerungen und Interpretationen des Erzählers. Damit überlagert sich in der von Haenel gewählten Erzählanordnung die Ebene des Faktischen, dessen, was Lanzmanns Film durch die Wiedergabe des Gesprächs mit Jan Karski gewissermaßen dokumentarisch aufbewahrt und zur Verfügung stellt, und die subjektive Ebene einer beobachtenden Interpretation des im Film Dargestellten. Bei einer solchen subjektiven Interpretation des Sicht- und Hörbaren mischt sich unweigerlich das Faktische mit dem Hypothetischen einer letztlich nicht be39 Haenel (2017 [2009]), S. 13–14. 40 Haenel (2017 [2009]), S. 14 (Kursivierung im Text).

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weisbaren Sinndeutung. Somit bewegt sich der Text auch schon in diesem ersten Teil in Richtung einer Überschreitung des Faktualen hin auf ein Unsichtbares, welches an jenen Bereich grenzt, den wir als Fiktion bezeichnen, oder welches gar an ihm partizipiert. Das Buch von Yannick Haenel besteht aus drei Kapiteln. Nach der kommentierenden und interpretierenden Beobachtung des Shoah-Interviews im ersten Kapitel folgt im zweiten eine zusammenfassende Nacherzählung von Jan Karskis 1944 in New York erschienenem Buch Story of a Secret State, welches 1948 in französischer Übersetzung unter dem Titel Histoire d’un État secret publiziert wurde. Die Neuauflage von 2004 trägt den Titel: Mon témoignage devant le monde. In diesem zweiten Kapitel wird Karskis Geschichte vom 23. August 1939, als er zum Kriegsdienst eingezogen wird, bis zum 28. Juli 1943, dem Tag seines Besuches bei dem amerikanischen Präsidenten Roosevelt, als Ereignisfolge erzählt. Die Erzählung ist im Gegensatz zum emotionalisierenden ersten Kapitel tendenziell neutral gehalten, obwohl teilweise von Verhör und Folter durch die Gestapo berichtet wird. Im dritten Kapitel schließlich lässt Haenel Jan Karski einen Gedankenmonolog führen, ersetzt also das faktuale vollends durch fiktionales Erzählen, was er auch in der Vorbemerkung deutlich ankündigt: Le chapitre 3 est une fiction. Il s’appuie sur certains éléments de la vie de Jan Karski, que je dois entre autres à la lecture de Karski, How One Man Tried to Stop the Holocaust de E. Thomas Wood et Stanislas M. Jankowski (John Wiley & Sons, New York, 1994). Mais les scènes, les phrases et les pensées que je prête à Jan Karski relèvent de l’invention.41

Dieser dritte Teil konfrontiert die bisher gewählte Außensicht auf Karski mit einer nur im fiktionalen Modus möglichen Innensicht, deren Tenor darin besteht, Karskis Verzweiflung über das Scheitern seiner Bemühungen zur Sprache zu bringen. Ebenfalls wird von Haenel deutlich gemacht, dass der dritte Teil zwar ein fiktionaler Sprechakt ist, dass dieser indes nicht auf reiner Erfindung beruht, sondern dass die in ihm enthaltene Fiktion ihren Ausgang vom Faktischen nimmt. Welche Funktion hat in Haenels Roman die Verbindung von faktualer und fiktionaler Darstellung, die ja schon im Paratext deutlich markiert ist und die man auch anhand der unterschiedlichen Darstellungsmodi erkennen kann? Indem der Roman auf bekannte und allgemein zugängliche Quellen verweist, markiert er den Realitätsgehalt der von ihm erzählten Geschichte und macht diesen überprüfbar. Dabei stellt sich die Frage nach dem Verhältnis zwischen historischen Ereignissen und den verschiedenen Quellen und Zeugnissen, die sich auf sie beziehen. Jan Karski hat sich in seinem 1944 erschienenen Buch Story 41 Haenel (2017 [2009]), S. 9.

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of a Secret State und dann erst wieder 1979 in den insgesamt acht Stunden dauernden Gesprächen mit Claude Lanzmann über seinen Versuch, den Völkermord an den europäischen Juden zu stoppen, geäußert. Zwischen 1944 und 1979 hat er zu diesen Ereignissen öffentlich geschwiegen, d. h. hier liegt ebenfalls eine gewaltige Leerstelle vor. Diese Leerstelle versucht Haenels Roman zu füllen, indem er das Schweigen als Symptom für Karskis moralische Empörung interpretiert und dabei zugleich die Vermutung äußert, dass die Welt die von Karski vermittelte Botschaft gar nicht habe vernehmen wollen: Mais est-il possible d’ébranler la ‚conscience du monde‘? Et ce qu’on appelle le monde at-il encore une conscience? En a-t-il jamais eu? À ce moment du film, en écoutant la voix de Jan Karski, on sait que non. Soixante ans après la libération des camps d’extermination d’Europe centrale, on sait qu’il est impossible d’ébranler la conscience du monde, que rien jamais ne l’ébranlera parce que la conscience du monde n’existe pas, le monde n’a pas de conscience, et sans doute l’idée même de ‚monde‘ n’existe-t-elle plus.42

Lanzmann hat im Übrigen die acht Stunden der aufgezeichneten Gespräche mit Karski auf 40 Minuten komprimiert und dabei den ersten Teil der Zeugenaussage fokussiert, der sich auf die Begegnung mit den beiden Juden und den heimlichen Aufenthalt im Ghetto bezieht. Die politische Mission Karskis im Westen, die im Zentrum seiner politischen Aktivitäten stand, wurde von Lanzmann dagegen völlig ausgeblendet. Daran lässt sich erkennen, dass auch ein Dokumentarfilm, der vermeintlich die Wirklichkeit lediglich abbildet, immer schon eine subjektive Perspektivierung erzeugt. Indem Haenel nun drei verschiedene Perspektivierungen und Darstellungsmodi nebeneinanderstellt, macht er deutlich, dass historische Wahrheit nur auf dem Umweg über wie auch immer geartete Semiotisierungen zugänglich ist. Außerdem zeigt er, dass es keine eindeutige und autoritative Version der Geschichte geben kann, sondern dass die Kette der Semiotisierungen und Neuinterpretationen potentiell unendlich ist. Um der Wahrheit näher zu kommen, so eine weitere Schlussfolgerung, die sich aus Haenels Roman ergibt, bedarf es einer Verbindung faktual-dokumentarischer mit fiktionaler Darstellung. Erst durch die Fiktion werden jene Bereiche ausgeleuchtet, die in der Zeugenaussage und im historischen Dokument im Dunklen bleiben, und das gilt auch und gerade dann, wenn man sich des Fiktionscharakters des Gesagten bewusst ist.

42 Haenel (2017 [2009]), S. 20–21.

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4.

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Schluss

Die Rückkehr zur Wirklichkeitsdarstellung, welche die Gegenwartsnarrativik in Italien und Frankreich auszeichnet, bedient sich in vielen Fällen einer Kombination verschiedener Schreibweisen. Insbesondere werden, wie die von uns vorgelegten Analysen exemplarisch verdeutlichen sollten, faktual-dokumentarische und fiktionale Schreibweisen miteinander verbunden. Die literarischen Herangehensweisen wie auch die gewählten Themen sind, wiewohl individuell verschieden, auf einer allgemeinen Ebene vergleichbar; zugleich zeichnen sich, wie gezeigt wurde, die Texte durch einen hohen Grad an Reflexivität bezüglich der von ihnen angewandten Erzählverfahren und ihrer spezifischen Funktionalität aus. Die in den Phasen der Neoavantgarde und Postmoderne geführten Reflexionen, bei denen es nicht an Positionen mangelte, die die Möglichkeit eines Zugriffs der Literatur auf die Wirklichkeit negierten, haben die zeitgenössischen Autorinnen und Autoren für die grundlegende Problematik des Verhältnisses von Schreiben und Wirklichkeit sensibilisiert. Diese haben daraus einerseits gelernt und zeigen eine keineswegs naive Haltung gegenüber dem Verhältnis von Erzählen und Wirklichkeit; andererseits lehnen sie aber die radikalsten neoavantgardistischen und postmodernen Positionen ab, die teilweise so weit gingen, dass sie die Möglichkeit einer Unterscheidung zwischen fiktionaler und faktischer Dimension zugunsten einer unkontrollierten und unbegrenzten Ausweitung der ersteren leugneten. So schlagen Texte der Gegenwart eine strikte Unterscheidung zwischen den beiden Dimensionen vor: Die Grenzen zwischen Fiktionalität und Faktualität sind einerseits klar markiert, mit einer ausgeprägten Haltung der Transparenz gegenüber dem Leser, die als Reaktion auf die extremen Positionen bestimmter neoavantgardistischer und postmoderner Denkweisen gelesen werden kann. Gleichzeitig plädiert die aktuelle Literatur für eine bewusste Kombination beider Dimensionen, um der komplexen und vielschichtigen, teilweise durch Leerstellen geprägten Realität, die nicht ausschließlich faktual darstellbar ist, möglichst nahe zu kommen. In vielen Fällen, wie bei den hier als exemplarisch analysierten Werken von Franchini und Haenel, ist der Rückgriff auf die fiktionale Dimension gleichbedeutend mit dem Hinweis auf eine Grenze, nämlich die Unmöglichkeit, die Darstellung und Interpretation der Wirklichkeit allein durch die faktuale Dimension zu vermitteln. Die Anerkennung dieser Grenze erscheint als eine Art notwendiger Schritt auf dem Weg, den die zeitgenössischen Autoren bei ihrer Suche nach der Möglichkeit einer Darstellung des Realen gehen, ein Schritt, der selbstreflexiv vollzogen wird, vor den Augen des Lesers, der aufgefordert ist, sich dessen bewusst zu werden und über die transparente Interaktion zwischen der

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fiktionalen und der faktischen Dimension, über ihren Sinn und ihre Ziele nachzudenken.

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Lorenzo Marchese (Università dell’Aquila)

Estraneità e onniscienza. Sulla non-fiction contemporanea

Teoria L’onniscienza nella narrativa d’invenzione (d’ora in poi per brevità: fiction) è una delle categorie più scivolose della narratologia, per la sua natura onnicomprensiva che va di continuo circostanziata e ridiscussa a seconda di come viene applicata. L’onniscienza indica varie capacità del narratore:1 quella di attraversare lo spazio-tempo in autonomia rispetto al contesto specifico della storia raccontata; e poi quella di “muoversi liberamente all’interno del mondo della storia” e “di leggere a fondo nella mente dei personaggi e di restituire i loro moti interiori”.2 Non implica il possesso di una conoscenza esaustiva sui fatti, la quale sarebbe impossibile e irriferibile, se la intendiamo, per assurdo, come la realizzazione di una mappa in cui le dimensioni di carta e territorio coincidono; si riferisce all’astratta potenzialità autoriale di poter dire qualsiasi cosa in qualsiasi modo, che viene poi applicata nel testo, con infinite gradazioni, dal narratore / dai narratori.3 Se l’autore che crea un mondo di finzione ne conosce per forza di cose tutti i dettagli, le concatenazioni e persino le lacune, dato che li ha inventati lui (ed è per questo che parlare di ‘autore onnisciente’ suona tautologico), il compito del narratore, ossia l’intermediario testuale attraverso il quale una storia viene vista e raccontata, sarà di ‘fare filtro’, procedendo per sottrazione e limitazioni di prospettiva in certi punti, per accrescimenti percettivi e sovrabbondanza di informazioni in altri. Come ha notato fra gli altri Sternberg (2007), è il narratore che

1 L’onniscienza, nel lungo dibattito otto-novecentesco che ha l’esempio più noto nelle riflessioni di Flaubert intorno a Madame Bovary (1857), è stata attribuita variamente all’autore in carne e ossa o al narratore (inteso come ‘strumento’ autoriale per ribadire una certa prospettiva sulla storia): per una ricostruzione sintetica v. Dawson (2013), pp. 25–57. Sulla triade autore / narratore / personaggio, che in linea di massima qui si tiene come strumento d’analisi, il riferimento è Genette (2006). 2 Pennacchio (2020), p. 17. 3 Per un sunto, v. almeno lo studio ormai classico di Culler (2004).

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dalla totalità di conoscenze sulla storia, sceglie, in quanto emanazione dell’autore, di omettere o rivelare particolari a seconda delle esigenze retoriche. Il narratore onnisciente è dunque nel testo la figura che tende alla totalità epistemologica dell’autore, senza poterla raggiungere mai, sin dalle origini del romanzo. Molte opere della modernità oscillano fra la parzialità di un punto di vista incarnato in un narratore concreto, limitato dal principio di realtà che impedisce di leggere i pensieri altrui e di avere una conoscenza dettagliata su tutto, e gli sconfinamenti prospettici che forzano con l’invenzione i limiti della cognizione individuale. In Middlemarch (1874) George Eliot fluttua, dietro una rigorosa voce impersonale, fra le speranze disattese e le memorie dei suoi personaggi. Nei Fratelli Karamazov (1880), un anonimo narra in prima persona la vita di Alësˇa Karamazov e della sua famiglia, che vivono nel suo stesso villaggio, come se fosse sempre presente alle loro interazioni: talvolta mostra di accedere agli avvenimenti con gli impacci di una persona normale (“Il testamento io non l’ho letto, ma ho sentito dire che conteneva qualche stranezza di questo genere e che era scritto in uno stile alquanto bizzarro”4), salvo poi raccontarci in dettaglio dialoghi privati a cui non può aver assistito. Lo stridore fra la verificabilità della realtà rappresentata e l’invenzione arbitraria si sente, per non fare che un esempio, quando si riferisce l’incontro visionario di Ivàn Karamazov col diavolo, nel Libro undicesimo. L’onniscienza nasce dal contrasto fra l’ammissione della propria ignoranza5 e la disinvoltura superiore con cui, subito dopo essersi giustificato, il narratore chiosa: “Egli sapeva di non stare bene, ma si ribellava all’idea di essere malato in quel momento, in quei fatali minuti della sua vita che si avvicinavano, nei quali occorreva che egli fosse presente e dicesse la propria parola con coraggio e decisione”6. Un’operazione che indica la peculiare posizione del narratore dostoevskiano nelle sue storie: sempre ‘di lato’ rispetto ai personaggi, intermediario epistemologicamente depotenziato rispetto a loro, e ciò nonostante tramite irrinunciabile, con un piede dentro e uno fuori dalle coscienze; a indicare, con la sua presunta minorità, che lo scrittore, dentro il testo, non è più il “detentore della conoscenza”7 dell’intero romanzo. Il protagonista di Alla ricerca del tempo perduto di Marcel Proust, che passa “a piacere dalla coscienza del suo protagonista a quella del suo narratore, e giunge fino ad abitare, di 4 Dostoevskij (2015), p. 15. 5 “Non sono un dottore, ma sento comunque che è arrivato il momento in cui è proprio indispensabile spiegare al lettore qualcosa in merito al tipo di malattia […] Non sapendo nulla di medicina, mi arrischio a supporre che forse davvero, con una terribile tensione della volontà, egli era riuscito ad allontanare la malattia temporaneamente”, ivi, p. 660. 6 Ibidem. 7 Cavalloro (2016), p. 187. Sulla posizione conoscitiva del narratore nei romanzi dostoevskiani rimando ancora alla spiegazione di Cavalloro (2016), pp. 192–198, che mi trova sostanzialmente d’accordo.

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volta in volta, in quella dei suoi personaggi più disparati”8, è il punto di partenza per uno dei più influenti studi di narratologia del Novecento, Figure III: e così via. Siamo di fronte a una categoria problematica, non solo per quanto riguarda la sua individuazione e le modalità in cui è espressa (attraverso il discorso indiretto, il monologo riferito, un discorso congetturale o in tanti altri modi),9 ma anche per via della postura del narratore onnisciente rispetto ai personaggi: chi racconta è complice, neutrale, antagonista? Quanto è ‘distante’ dai personaggi? Cosa ci dice, sullo stile del romanzo, lo scarto plateale fra le conoscenze di chi narra e di chi è narrato? Sono domande ineludibili quando studiamo l’onniscienza applicata a una forma di scrittura che, teoricamente, non la prevede: la narrativa non finzionale (d’ora in poi per brevità non-fiction) vista a partire da casi di studio recentissimi, cioè due libri pubblicati nel primo trimestre del 2020, scelti non in virtù di criteri di canone, ma perché emblematizzano due approcci speculari alla manipolazione dell’onniscienza in narrativa. All’onniscienza nella non-fiction Marta Barone con Città sommersa e Walter Siti con La natura è innocente10 arrivano dopo percorsi estremamente diversi: per Barone si tratta di un esordio alla narrativa per adulti, e il ricorso all’onniscienza testimonia l’appropriazione simbolica, tramite un innesto sulla propria biografia, di un pezzo di storia (gli anni Settanta) che per ragioni anagrafiche non le appartiene; per Siti, tale ricorso contrassegna un’evoluzione graduale ma coerente in una produzione ormai quasi trentennale, che è scivolata dall’autofinzione al romanzo. Ma c’è ancora qualche puntualizzazione di metodo da fare, passando in rassegna, anche a costo di ripetere nozioni già affrontate in studi precedenti, testi finzionali e non finzionali che hanno segnato la riflessione contemporanea sull’onniscienza. L’etichetta imprecisa di non-fiction indica la galassia di scritture che intrattengono un rapporto di corrispondenza immediata e diretta, almeno nelle intenzioni, con la realtà empirica e la cronaca. Divenuta popolare nel dibattito critico italiano degli ultimi anni,11 la non-fiction ha un rapporto contraddittorio con l’onniscienza. Se, con Dorrit Cohn, le narrazioni finzionali, da lei definite “non referenziali”, non intendono stabilire una corrispondenza puntuale con una realtà empirica e sono “inverificabili e complete”12, all’inverso le narrazioni non finzionali sono “verificabili e incomplete”13. Il primo attributo (“verificabili”) indica che ogni fatto, ambiente, personaggio menzionato nel libro di non-fiction 8 Genette (2006), p. 257. 9 Cfr. Cohn (1978), pp. 21–140. 10 Reperibili in bibliografia con la dicitura Barone (2020) e Siti (2020): d’ora in avanti citati rispettivamente con le sigle CS e NI. 11 Cfr. Ricciardi (2011), Donnarumma (2014), pp. 165–200, Simonetti (2018), pp. 101–7, Tirinanzi De Medici (2018), pp. 166–179. 12 Cohn (1999), p. 16. 13 Ibidem.

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ha un referente reale subito riconoscibile, in base a un patto di lettura fondato sulla veridicità: che, a sua volta, è antitetico al patto romanzesco, volto a sottolineare la ‘pura casualità’ delle coincidenze, o anche solo delle somiglianze, fra la realtà raccontata e la realtà extratestuale onde evitare il primato del giudizio morale su quello estetico, problemi legali e ritorsioni.14 Il secondo attributo (“incomplete”) sottolinea che l’autore di non-fiction ha una conoscenza dei fatti limitata dal principio di realtà. Mentre l’autore di fiction è onnisciente per definizione, quello di non-fiction simmetricamente non può esserlo mai. Nonostante questa linea di principio, a causa della sua posizione ex post rispetto agli avvenimenti, il narratore non finzionale può muoversi asincronicamente nel tempo della storia, prefigurando certi fatti, ritardando l’esposizione di altri, intramando15 in un nuovo intreccio la sequenza degli eventi reali, senza per questo alterarli. L’accesso al futuro e ai pensieri altrui, invece, gli è precluso: ci si può identificare, si può esercitare l’empatia, si può ricostruire per ipotesi cosa qualcuno stia pensando, ferma restando l’impossibilità assoluta di ‘leggere’ i pensieri di qualcuno. Senza poter emendare la sua ignoranza dei fatti con invenzioni arbitrarie, né prevedere il corso di eventi non ancora avvenuti, chi scrive dovrebbe affidarsi solo a tre strumenti se non vuole essere accusato di mistificare la sua materia: la propria percezione, i documenti, le testimonianze. Ogni allontanamento da questa triade sarà dunque per via congetturale, a meno che non si voglia incrinare la veridicità ‘storica’ con una disinvoltura inaccettabile per il paradigma storiografico moderno, ma assunta, a prezzo di qualche forzatura, in molta non-fiction contemporanea.16 In tale contesto l’io empirico, che è la fonte della conoscenza parziale degli eventi nella non-fiction, costituisce il limite a una visione complessiva: ogni violazione del principio di realtà deve necessariamente fare i conti con la soggettività di chi scrive. Si prenda un testo alle origini del nonfiction novel come A sangue freddo (In Cold Blood. A True Account of a Multiple Murder and Its Consequences, 1966): per raccontare l’uccisione della famiglia Clutter da parte di due sbandati, il narratore impersonale e anonimo di Capote si toglie dal quadro e dà un ‘effetto di onniscienza’ ricreato a partire da un capillare lavoro di documentazione, ricognizioni sul posto durate anni e lunghi colloqui in carcere con gli assassini Perry Smith e Dick Hickock.17 Abradere l’io di chi racconta è per Capote la strada più semplice per raccontare la vicenda con una libertà da romanziere e per schivare l’accusa di aver inventato o manipolato i fatti. Il ruolo decisivo della soggettività nell’economia della prospettiva narratologica è dimostrato in Bare intagliate a mano (Handcarved Coffins. A Nonfiction Account 14 15 16 17

Cfr. Lejeune (1986). Riprendo questo termine da White (1999). Mi permetto di rimandare a Marchese (2019), pp. 273–283. Cfr. Zavarzadeh (1976), Bertoni (2009), Mongelli (2017).

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of an American Crime, 1979), dove Capote, nonostante faccia eco al sottotitolo del libro del 1966, rovescia la rimozione autoriale e le potenzialità onniscienti che erano di A sangue freddo. Si arriva così alla paralisi di chi torna nei limiti della conoscenza soggettiva e non vuole più varcarli con illusionismi narratologici. Condotto con una mescolanza di narrazione in prima persona, diario e intervista (queste ultime forme, per l’appunto, sono fra le meno ‘onniscienti’ possibili), Bare intagliate a mano vede il reporter Truman Capote, riconoscibile con nome, cognome e generalità, muoversi sulle tracce di Jake Pepper e ascoltare le sue ipotesi su un uomo misterioso che ‘avvisa’ le sue vittime inviando loro piccole bare tagliate a mano, prima di ucciderle con dei serpenti a sonagli. La parzialità della focalizzazione interna18 non potrebbe portarci più lontano da A sangue freddo. Capote sa dei presunti delitti solo ciò che Pepper e altri abitanti del luogo gli dicono; non è in grado di arrivare ad acquisizioni certe sul caso; finisce per dubitare delle accuse di Pepper, che a poco a poco diventa paranoico e inaffidabile. Per tutto il racconto siamo inchiodati alla prospettiva limitata e dubbiosa di un reporter che non usa l’io come un ostacolo da saltare, ma lo riconosce di nascosto come una prova incontrovertibile che una piena verità sui fatti non può essere ottenuta senza aiuti dalla fiction.19 È interessante notare come, nella letteratura italiana contemporanea, il duplice quesito sulla non-fiction suggerito da Capote (quanto bisogna rimuovere dell’osservatore per avere libertà di manipolare i dati reali? Onniscienza e narratore interno possono convivere?) sia stato affrontato non rimuovendo quell’io che costituisce problema, bensì ingigantendone le potenzialità e rendendolo un crocevia contraddittorio di vocazione all’autenticità e manipolazione. La trasparenza parziale che l’onniscienza del romanzo realista ottocentesco garantiva, insomma, non passa più per la rimozione di un narratore riconoscibile,20 ma per l’esasperazione della sua presenza testuale, a cui si sovrappone, con un ossimoro, l’ombra dell’autore in carne e ossa. Negli ultimi trent’anni, la scrittura d’inchiesta in Italia ha cercato di aggirare le limitazioni epistemologiche che il paradigma storiografico moderno impone: da tramite della realtà, lo scrittore di non-fiction ha cercato di completare ciò che aveva davanti ed è scivolato lentamente verso il romanzo. Ermanno Rea lo fa nel libro L’ultima lezione (1991), sulla vita e la misteriosa scomparsa dell’economista Federico Caffè, con una scrittura che “media continuamente tra il modello giornalistico (interviste, ricerche d’archivio, citazioni) e la mise en récit (scelta di un protagonista, invenzione di dettagli, ricostruzione a posteriori di dialoghi)”21. Rea trasforma la raccolta e l’interpre18 19 20 21

V. per questa nozione Genette (2006), pp. 242–255. Il riferimento per questo racconto è Capote (2013), pp. 425–500. Cfr. Pellini (2004). Baghetti (2019), p. 41.

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tazione dei fatti in una lettura degli eventi niente affatto neutra, che si spinge a spiegare le ragioni più intime della scomparsa di Caffè (secondo l’autore, in breve, quello di Caffè è il ‘suicidio perfetto’, una sparizione progettata con cura dopo una depressione incurabile). Rea non può sapere cosa pensava Caffè, ammette pure di non averlo mai conosciuto. Per giustificare il proprio arbitrio narrativo, scarica il peso della propria scelta su una figura di compromesso, senza mai nominare l’elefante nella stanza: l’inferenza che completa l’esattezza della cronaca. Questa figura è il Testimone sconosciuto, la somma algebrica “delle emozioni, delle reticenze, delle allusioni, delle perplessità dei tanti testimoni ascoltati, è la loro cattiva coscienza, con l’aggiunta di quel po’ d’immaginazione che immancabilmente perseguita chi scrive per mestiere”22, a cui l’autore delega le interpretazioni così ardite da sconfinare nell’invenzione. Rea si muove con cautela, spostando sul fantoccio del “testimone sconosciuto” le proprie aspirazioni all’onniscienza dentro un testo di non-fiction. Altri sono stati più disinvolti, e hanno creato modelli destinati a durare più a lungo: quando Giuseppe Marrazzo in Il camorrista (1983) racconta la vita del boss Raffaele Cutolo, inizia scrivendo di lui con una terza persona tutto sommato convenzionale e promette di rivelare dettagli biografici fino ad allora inaccessibili. Ma l’elemento di novità è nell’accesso privilegiato dell’autore all’interiorità di una persona vivente, che, infatti, non gradì per nulla né i contenuti né la forma di autobiografia ‘per interposta persona’, accusò Marrazzo di falsificazione e tentò di far sequestrare il libro: Sulla nave che lo porta all’Asinara, don Raffaele Cutolo passa in rassegna il suo passato. Un rosario di ricordi, episodi, riflessioni che ha ravvivato in cella, quasi come una ginnastica mentale, nelle lunghe notti insonni. Messi insieme, compongono il mosaico della sua vita, quella vera, che non ha mai raccontato ai giudici, agli avvocati, ai periti. Tutti i suoi segreti mai confidati.23

La garanzia di autenticità passa per la trasparenza artefatta dei pensieri, con una metodologia che farà scuola nella non-fiction italiana degli anni Zero, da Saviano24 in poi: una “(pseudo)biografia in prima persona, nella quale gli eventi storici sono narrati in una dimensione romanzesca”25. Dopo poche pagine, Marrazzo cambia voce e il passaggio privilegiato alle memorie e ai pensieri di Cutolo diventa stabile (“Don Raffaele riflette con insopprimibile soddisfazione […] La mia scheda di pazzo – pensa don Raffaele – l’ho costruita giorno per giorno”26). Il lettore si trova davanti contenuti che, con ogni probabilità, derivano 22 23 24 25 26

Rea (2019), p. 215. Marrazzo (2019), p. 7. Cfr. Damilano (2016). Caputo (2020), p. 465. Marrazzo (2019), p. 8.

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dalle numerose interviste fatte da Marrazzo a Cutolo in carcere, ma li riceve in una forma profondamente manipolata che gli fa credere di sentire la ‘vera voce’ del boss. Riscrivere i pensieri altrui come se Cutolo fosse il protagonista di un romanzo in prima persona è un’operazione disinvolta, a causa dell’appropriazione da parte di Marrazzo dell’immagine di una persona vivente, tematizzata con una certa ironia quando nel libro Cutolo riflette sulle sue pene d’amore e commenta “Quanta arroganza nei giudizi, nelle considerazioni, nei pettegolezzi. Quale assurda pretesa di indovinare ciò che si nasconde nel cuore di un uomo”27. A ciò concorre anche l’esposizione fluida, a tratti sentimentale e ricca di dettagli, di quello che dovrebbe essere il flusso di pensieri di un ergastolano e ha, al contrario, un aspetto decisamente ‘scritto’. La “psiconarrazione”28 oltrepassa l’asetticità delle deposizioni giudiziarie e dà a Cutolo una voce ripulita da incertezze e falle di un discorso orale, corredata dell’efficacia informativa della cronaca, resa ‘vera’ dall’effetto di senza-filtro: Pensare e rivivere mentalmente alcuni episodi dei primi anni di vita, quelli che ti si incidono dentro indelebilmente, andandosi a scolpire nella mente e nella fantasia, non è come raccontare al perito. Con lui, sei sulla difensiva e assisti con una punta di sarcasmo alla sua tecnica di interpretare a suo modo, secondo le sue stregonerie, le tue verità più autentiche, più intime, più gelose. Sei spesso sul punto di difenderle dalle sue manipolazioni, pur sapendo di danneggiare la tua causa, la tua condizione.29

Nella non-fiction fatta ‘da scrittori’ e non da giornalisti professionisti, la deontologia professionale è tendenzialmente più elastica e prevale un’impostazione egoriferita. Piuttosto che inclinare a un romanzo in terza persona e mascherare l’onniscienza dietro l’impersonalità, come negli scritti più lunghi e compiuti di Capote, o velare il sé dietro la costruzione a tutto tondo di un protagonista, come in Marrazzo o, con altre declinazioni, in Rea e Corrado Stajano, la non-fiction più interessante oggi parte da una focalizzazione ristretta alla prima persona dell’autore / reporter, per poi scivolare oltre i confini dell’io. Le incursioni nelle coscienze altrui gettano un ponte fra inchiesta e romanzo, portando a testi dallo statuto incerto: L’abusivo (2001) e Cronaca della fine (2003) di Antonio Franchini, le opere di Emmanuel Carrère da L’avversario (2000) a Il regno (2014), La scuola cattolica (2016) di Edoardo Albinati. Anche se le eccezioni significative non mancano (si vedano almeno i romanzi elusivi e impersonali di Jean Echenoz da Ravel, 2006, a Lampi, 2010), in generale il movimento narratologico prevalente nella non-fiction attuale è quello che porta dall’io alla cognizione interiore, reinventata, degli altri.

27 Ivi, p. 115. 28 V. Cohn (1978), pp. 21–57. 29 Marrazzo (2019), p. 48.

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L’effetto narratologico che Genette chiama “parallessi”, vale a dire “un’incursione nella coscienza di un personaggio durante un racconto generalmente condotto in focalizzazione esterna”30, diventa sistematico nella non-fiction egoriferita con la tentazione del romanzo, come si cercherà di dimostrare nei casi di studio di Siti e Barone. Genette applica questa categoria alla fiction di Balzac e soprattutto di Proust, quando sottolinea l’impossibilità materiale, per l’io narrante di Alla ricerca del tempo perduto (che è, va ricordato, una persona concreta direttamente implicata negli eventi che riporta, non un’entità astratta e pulviscolare), di darci tutti i dettagli di vita interiore su altre persone: Accediamo analogamente ai sentimenti di Swann nei confronti di sua moglie o di SaintLoup nei confronti di Rachel, senza nessun ritardo apparente, e addirittura ai pensieri di Bergotte morente, che – è stato spesso osservato – non possono materialmente esser stati riferiti a Marcel, dato che nessuno, e con ragione, ha potuto prenderne conoscenza. Ecco stavolta una parallessi e per di più (qualunque ipotesi proviamo a fare) irrimediabilmente irriducibile all’informazione del narratore; dobbiamo dunque attribuirla al romanziere “onnisciente” […].31

Questa inaccessibilità, solo teorica nel caso della fiction, nella non-fiction diventa un limite oggettivo dell’autore in carne e ossa. Qui, ogni volta che il narratore autobiografico ci riferisce i pensieri di un altro personaggio sta realizzando una parallessi. Lo ha notato Castellana studiando Limonov di Carrère: in alcuni punti ci vengono riferiti in discorso indiretto i pensieri di Limonov su ciò che gli sta succedendo, e quindi si scivola verso un “racconto di un narratore ‘telepatico’, capace di scrutare i recessi più profondi dell’animo del biografato”32. L’onniscienza in questo caso è un problema di metodo che sta a monte della scrittura, e la parallessi finisce per trovare un’applicazione più letterale, coerente e completa di quanto non avvenga nella fiction. Alla lettura di Castellana si può aggiungere una distinzione ulteriore: lo sconfinamento di Carrère nella psiche di Limonov poggia in larga parte su una conoscenza approfondita della vita dello scrittore russo. In altre parole, Carrère può presumere i pensieri di Limonov e riscriverli in modo verosimile, perché lo ha conosciuto personalmente, lo ha intervistato più volte e si è documentato su di lui. Cosa accade quando, in un testo non finzionale, ci troviamo davanti a una situazione come quella che vede il narratore proustiano e Bergotte morente, in cui il principio di realtà non fornisce al primo alcuna chiave d’accesso alla psiche del secondo? Nei testi di Barone e Siti, estraneità e onniscienza sono interdipendenti: si entra nella coscienza di persone reali, che non sono state interpellate o conosciute dagli autori, per colmare con la finzione romanzesca distanze insuperabili dalla cronaca. Nella non-fiction contempora30 Genette (2006), p. 244. 31 Ivi, p. 255. 32 Castellana (2019), p. 145.

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nea sembra che, quanto più il narratore è estraneo ai personaggi e ai fatti che racconta, tanto più, controintuitivamente, tenda a rivendicare doti cognitive sovra-individuali. Dove si usa l’onniscienza, il lettore gode di una vicinanza impossibile alla dimensione più intima e profonda delle vite degli altri, ma al tempo stesso avverte un acutizzarsi dell’estraneità del narratore, perché raccontare le vite altrui come un romanzo è percepito come una costruzione di verità intrapresa direttamente sulle sue macerie: un artificio parallelo al reale, vicino alla bugia. La qualità e la frequenza degli sconfinamenti ci dicono molto sulle crescenti interferenze degli autori nella propria materia,33 ma rivelano en passant qualcosa sulle inedite manipolazioni di generi letterari più consolidati (la biografia, il romanzo di formazione, la letteratura per l’infanzia), sui confini porosi fra la menzogna e la completezza della rappresentazione, sul ricorso all’onniscienza come, alternativamente, costruzione empatica e percorso diagonale di autocoscienza.

Pratica: Città sommersa La ricostruzione della giovinezza del padre in Città sommersa (CS) si svolge da subito nel segno della scissione. Non tanto perché Città sommersa si apre con l’avvertenza “Questa storia ha due inizi” (p. 13), uno coincidente con la nascita dell’autrice e uno col suo trasferimento a Milano, all’età di ventisei anni. Piuttosto, ciò riguarda il padre Leonardo Barone, ex medico ed ex militante di sinistra extraparlamentare arrestato per partecipazione a banda armata (la sua colpa era stata quella di aver curato un terrorista di Prima Linea), infine assolto con formula piena prima della nascita di Marta. La separazione regola la condotta di un uomo sfuggente nei suoi rapporti con gli altri, inflessibile nella gestione a compartimenti stagni delle diverse fasi della vita (“Passava da un luogo all’altro della vita così, nascondendosi da quelli a cui era stato legato prima e offrendosi a piene mani, avvolto da uno splendore fittizio, a quelli che venivano dopo”, CS, p. 27), distaccato da qualsiasi autorità o influenza genitoriale. Agli occhi di Marta bambina, da un lato c’è la famiglia degli adulti, che s’incarica della sua crescita e della sua formazione; dall’altra c’è una figura ibrida, che non appartiene né all’infanzia né al mondo dei grandi: “Lo vedevo come un’entità a parte, e così lui di certo voleva essere. Soffrivo perché quelli che amavo non gli volevano bene o non gliene volevano più. Non somigliava a nessun adulto che conoscessi e non somigliava a un genitore: era senza regole, irresponsabile, irrazionale” (CS, p. 62). La percezione della differenza orienta la maniera in cui il padre viene presentato: con 33 Cfr. Pennacchio (2020), pp. 161–203.

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una scissione in tre figure monche e non comunicanti. Barone lo mostra quando ricostruisce ex post il processo di formazione del libro (“Un giorno, all’improvviso, quasi con rabbia, mi sedetti al tavolo e scrissi il pezzo sul ragazzo che correva nella notte coperto di sangue e un abbozzo del capitolo sulla morte di mio padre e su quello che avevo conosciuto di lui”, CS, p. 110), inserendosi nel solco di una tradizione recente di scrittura memoriale analitica, anti-sentimentale e tendente all’autocommento che fa capo ad Annie Ernaux.34 Il primo prodotto della scissione è la figura del padre adulto, che invecchia e muore, con cui Marta nel corso degli anni più volte interrompe e ricostruisce a fatica i rapporti. Ma dietro di lui ci sono due metà nascoste, che sfuggono alla lente della storia e al lavoro della memoria. All’inizio del libro, prima della presentazione dell’uomo anziano (nel racconto distaccato della morte e del suo funerale), si staglia un’immagine di polarità opposta, feroce, di sottile esaltazione, che prefigura un episodio tragico della giovinezza di Leonardo in cui egli era corso a cercare aiuto per un suo amico pugnalato a morte, in casa sua, da un compagno di militanza. Nello spazio di un breve paragrafo ci viene presentato un misterioso ragazzo coperto di sangue, che “corre nella notte” e “non sa ancora nulla, sa già tutto, per sempre” (CS, p. 20), entro una sequenza onirica che mischia un microracconto astratto a elementi horror (“è tutto coperto di sangue non suo”, ibidem). Anche se nelle pagine seguenti non vengono risparmiati cenni autobiografici sul rapporto fra padre e figlia, a guidare Città sommersa è l’idea che il Leonardo che Marta ha conosciuto e il Leonardo prima della sua nascita rimandino solo labilmente alla stessa individualità. Infatti, il racconto della giovinezza dell’uomo, dagli studi di medicina a Roma fino alla militanza politica a Torino, procede nel nome di un terzo personaggio, L.B.: Potevo presumere che a Roma il mio sfuggente personaggio, che ormai, mi rendevo conto, viveva nella mia mente come figura autonoma, scissa dall’uomo che io avevo conosciuto – e che per questo d’ora in poi chiameremo L.B. –, avesse partecipato alle assemblee e poi alle occupazioni dell’inverno e della primavera 1967–1968, non so se nelle facoltà di medicina, di lettere, di architettura, o in tutte, o in qualcuna. (CS, p. 101)

Il cambio onomastico aumenta l’estraneità: ma non è solo il sintomo di una distanza temporale e personale che il discorso s’incarica, con la moltiplicazione degli avatar del protagonista, di sottolineare. L’assenza di familiarità di Barone per L.B., anziché ostacolare l’indagine sulle sue tracce, getta le basi per un’in34 La ricomposizione del senso in una scrittura che mescola biografia a macrostoria e la scissione fra le immagini delle persone amate e le loro concrete (e perdute) esistenze sono due ossessioni di Ernaux, scrittrice che risuona in Barone per brani come questo, contenuto in Une femme (1988): “J’ai relu les premières pages de ce livre. Stupeur de m’apercevoir que je ne me souvenais déjà plus de certain détails, l’employé de la morgue en train de téléphoner pendant que nous attendions, l’inscription au goudron sur le mur du supermarché”, Ernaux (2011), p. 596.

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chiesta parallela fatta di supposizioni, introspezione appaltata, identificazione romanzesca. Dove il ricorso ai testimoni35 o la ricerca d’archivio non arrivano,36 può giungere l’immaginazione dell’autore, che opera con una certa libertà rispetto all’aderenza ai fatti, nel momento in cui viene applicata non sul proprio padre, ma su due figure fantasmatiche senza vero nome. Andando a vedere quali sono le potenzialità cognitive dell’autrice rispetto al pensiero del suo protagonista, una certa disinvoltura intermittente è manifesta. La penuria di informazioni, dati, testimonianze, premessa di Città sommersa, condiziona anche la presentazione dei fatti, spesso accompagnata da formule ipotetiche e avverbi di cautela come “forse”. Quando Barone ricostruisce nel dettaglio una scena a cui non può avere accesso, neanche grazie a ricostruzioni di testimoni dell’epoca, lo fa quasi sempre con un certo dubbio: “allora forse aveva visto dal finestrino la campagna piemontese” (CS, p. 126); oppure: “E ora L.B. si trovava nel cuore della città, e forse aveva un indirizzo dove andare appallottolato nella tasca, e per un momento si era fermato a guardarsi intorno, a cercare un caffè nelle vicinanze” (CS, p. 127). Quasi: perché la cautela è pronta a rovesciarsi, impercettibilmente, nel suo contrario. Nel prosieguo del brano si legge: […] e forse si sentiva smarrito e indifeso, oppure provava la sensazione elettrizzante di un nuovo inizio, o tutto questo insieme gli scorreva in corpo, o magari era solo stremato per il viaggio. Ma forse, per un istante, per un brevissimo istante, lì, nel cuore della città, qualcosa, un soprassalto nel sangue, un presagio così rapido che non ebbe neanche il tempo di metterlo a fuoco, qualcosa gli disse che era lì che sarebbe rimasto, che lì si sarebbe compiuto il suo destino, qualunque fosse, che era lì che tutto sarebbe stato. (CS, p. 127)

Forse, magari, forse: tre avverbi ipotetici che starebbero bene in un memoriale, eppure aprono a un’epifania di L.B. – impossibile secondo il principio di realtà, perfettamente spiegabile se la consideriamo una licenza romanzesca di Barone, che aggiusta la propria assenza con una serie di parallessi e inventa i pensieri del padre in un tentativo di avvicinamento (la ‘visione’ di L.B. fa il paio con una finale dell’autrice, sulla quale chiuderò). In una sequenza posteriore ambientata durante un’occupazione per alcune ingiustizie nell’assegnazione delle case popolari 35 Così l’infanzia rimane una zona oscura e il ritorno sul luogo di nascita del padre (Monte Sant’Angelo) non offre spunti di sorta: “Non c’era nessuna storia a dare significato a quei posti e non c’era più nessuno che potesse raccontarmene, non c’erano scene che potessi ricrearmi né dettagli da resuscitare, nessuna immagine che le parole avrebbero potuto evocare per me.” (CS, p. 209). Va precisato, a riprova di una studiata renitenza ad approfondire le indagini, che la visita al paese ha il carattere di un gesto simbolico o di un tributo. Non è un tentativo di scoprire qualche verità sul padre, tanto che Barone non appare particolarmente determinata a cercare e interrogare i suoi familiari superstiti. 36 Magari proprio per il rifiuto di Barone, come quando rimane sconvolta leggendo una deposizione in cui Colomba, l’uomo che denunciò il padre, insinua di aver ritrattato la denuncia per paura che lui facesse del male ai figli (cfr. CS, p. 58).

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in un quartiere di Torino, l’arbitrio della scrittura dei pensieri è rimarcato da una parallela violazione del principio di realtà: L.B. ogni tanto alzava lo sguardo dal libro e osservava quei volti che sfarfallavano attraverso le fiamme, le fronti aggrottate sotto i berretti, le mani infilate in guanti pesanti che pendevano abbandonate in mezzo alle ginocchia. Li conosceva quasi tutti, anche se erano ormai centinaia, ma a volte, come in quel momento, si sentiva vagamente sperduto, come se si trovasse molto distante dalle cose del mondo, dalla vita nel partito, e persino da loro. Ecco, sì, li aveva di fronte: ma chi erano? E lui, chi era? Perché si trovava lì? Provò un’angoscia irragionevole e alzò gli occhi verso l’alto cielo nero, così vasto in periferia, ma li riabbassò subito: il cielo era criptico e infinito, e gli faceva paura. (CS, p. 192)

Il lungo brano introspettivo, puntellato da verbi di percezione e di pensiero (altrove “pensava”, “gli sembrava”, qui “provò”), è privo di cautele nella focalizzazione. Assistiamo, più che a un’indagine sulle tracce di un padre, alla presentazione dei dubbi di un uomo solo, con un monologo interiore parafrasato: Quella strada non era più chiara e diritta come gli era parso all’inizio, ma arzigogolata, astrusa, orribilmente falsa. Com’era lontano, lontano, il partito … così lontano da quel fuoco al limite della città e del cielo indecifrabile. E com’erano lontane le certezze. Dove doveva andare? Cosa doveva fare? Anche la libertà gli faceva paura. Non voleva perdere tutto. Ma adesso era lì, e quello che stava facendo era giusto, pensò. (CS, p. 193)

La drammaticità e l’impatto della scena, senza distanze, sono tali da proiettarci insieme a L.B. in un’atmosfera cupa, in cui ci sono diverse riprese dal repertorio fantastico e horror, come notato dalla critica. Brondino (2020) ha evidenziato come l’immaginario della ghost story sia pervasivo nella narrativa contemporanea sugli anni Settanta, portando come esempi Piove all’insù di Luca Rastello e CS (che di fatto spesso affrontano gli stessi eventi, essendo entrambi ambientati per larga parte nella Torino degli anni 1976–1977). Con una differenza non da poco, a dispetto del tema comune. Nel romanzo di Rastello, rigorosamente realistico, la letteratura di genere (in particolare la fantascienza, ma anche piccole licenze all’orrido nella sequenza del rogo all’Angelo Azzurro del 1° ottobre 1977,37 e metafore fantasmatiche)38 è al tempo stesso un orizzonte conoscitivo e un repertorio di immagini e concetti: uno strumento bifronte che aiuta a descrivere gli eventi vissuti dal protagonista Pietro Miasco, ma resta a essi subordinato. Infatti l’elemento anti-realistico di Piove all’insù è staccato anche tipograficamente dal resoconto di quegli anni: ogni capitolo si chiude con la sinossi / riscrittura di un romanzo della nota collana Urania che allude, in modo più o meno cifrato, a 37 V. Rastello (2006), pp. 160–162. 38 Si veda per esempio “l’armata di morti che hanno camminato nelle pagine di questa storia”, Rastello (2006), p. 240.

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quanto è stato narrato fino a quel punto. In Città sommersa il sovrannaturale e il fantastico sono invece incisi direttamente sul racconto degli anni Settanta: non sono attrezzi interpretativi, ma le nuove fattezze di una vecchia storia che, leggendo, non possiamo più ricostruire nel suo aspetto originale. Il rapporto fra elemento fantastico ed elemento realistico non è quello di un attributo con il suo oggetto: piuttosto che una giustapposizione o un parallelismo come in Rastello, si ha una fusione imperfetta fra i due. In Città sommersa, uscito quattordici anni dopo Piove all’insù, l’accostamento ha lasciato il posto a una ben più disinvolta trattazione del materiale storico: le sequenze degli attentati hanno una netta sfumatura mostruosa e terrorizzante; c’è spazio per qualche concessione sovrannaturale, come quando si accosta non troppo velatamente lo sfociare della lotta politica extraparlamentare nella violenza senza sbocchi del terrorismo a una chimera feroce che striscia per le strade di Torino, composta da un “bizzarro assemblaggio di pezzi di creature diverse” e di “brandelli di comunicati in una lingua incomprensibile” (CS, p. 197). Non sorprende dunque che L.B. nell’ora più buia e solitaria del picchetto abbia una visione terrificante. Vede il militante che ha ucciso a coltellate il suo amico e lo ha costretto a correre in cerca di aiuto, come è raccontato nella ‘sequenza del ragazzo’: “Staccò lo sguardo dal fuoco e lo rivolse al buio della strada: e per un attimo gli sembrò di vedere, forse perché aveva fissato troppo a lungo la luce, una macchia apparire dall’ombra, che somigliava al viso di Cabras; e la sua voce che gli sussurrava beffarda: ‘Tu lo sai che il bene non è sempre dove tu vuoi che sia […]’” (CS, p. 193). I connotati verosimili degli anni Settanta vengono cambiati per restituire una vicenda talvolta a metà strada fra il romanzo gotico e il fantasy. Questa alterazione della realtà è agevolata, mi sembra, dalla ‘doppia’ estraneità di Barone alla vicenda: biografica, perché non ha vissuto gli eventi di cui scrive e non si appoggia a una documentazione soddisfacente, e narratologica, perché la sua prospettiva è quella di un narratore esterno che segue da vicino L.B.). Dato che, per chiudere il breve paragone, Pietro Miasco, e Rastello dietro di lui, ha partecipato ai fatti di cui racconta in prima persona, alterarli con elementi sovrannaturali comporterebbe un’ammissione di inaffidabilità che porterebbe Piove all’insù dalle parti dell’autofinzione o del romanzo con narratore inattendibile.39 Miasco, invece, è sempre scrupoloso nei suoi ricordi: il racconto finale del coinvolgimento del padre nel tentato Golpe Borghese del 1971, per l’appunto, è l’unica sequenza in cui Miasco rivendica licenza d’inventare ed esattezza da romanziere su qualcosa che non può aver vissuto, ma al limite sentito dire. Ed è pure l’unica sequenza in cui il narratore / protagonista si eclissa: “Ci sono due cose, però, che devo ancora dirti. Cose che stanno, in un certo senso, sul

39 V. per questo concetto Booth (1996), p. 164.

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retro del foglio su cui è scritta questa storia, anzi: che sono questa stessa storia, là dove io non posso raccontarla”.40 Inserire elementi inverosimili o meravigliosi non appare una licenza così inaudita rispetto alla libertà di formulare pensieri articolati per interposta persona. È una finzione meno sgargiante ma altrettanto netta dell’intromissione del fantastico, perché con la ri-creazione dei pensieri altrui viene solo esibito qualcosa che prima era nascosto, tecnicamente irraggiungibile, e che scaturisce dall’assenza o dalla scarsità di informazioni sull’argomento della storia. L’incompletezza di informazioni in Città sommersa è a prima vista un ostacolo alla scrittura e molti dettagli sono irrimediabilmente persi per strada, come viene rimarcato più volte nel corso del testo: La verità è che anche ora non posso sapere niente di quello che pensava o sentiva. Ho solo questa manciata di racconti altrui, svuotati di ricchezza dal tempo trascorso, distorti dalla memoria. Non posso sapere niente di quello che lui pensava o sentiva, e questa è una condizione irrimediabile. (CS, p. 136)

Ma Barone deve riconoscere alla fine del racconto che “il libro esiste perché non c’è più l’uomo” (CS, p. 285) e che la scarsità prepara le aggiunte, arbitrarie o meno. Addirittura, l’abbondanza di notizie strozza l’atto della scrittura. L’onniscienza potenziale del consumatore di notizie blocca alla radice la possibilità di esercitare una simile facoltà nel racconto: […] seguivo le notizie dal mondo con sgomento e senso di inanità – il mondo si era allargato a dismisura: ma il fatto stesso di poter venire a sapere tutto, o quasi tutto, in tempo pressoché reale, dalle regioni più remote o a pochi passi da sé, terremoti, torture, gente che affogava in mare cercando di raggiungere l’Europa, persecuzioni di popoli di cui nemmeno conoscevo l’esistenza, attentati in tutti i continenti, aumentava soltanto l’impotenza che provavo. (CS, p. 109)

Riempire i vuoti non fa che ribadirli, ma senza vuoti non c’è possibilità di narrare; aggiungere elementi o pensieri ha come immediata conseguenza di alterare la realtà rappresentata, proprio nel momento in cui l’aspirazione a restituire fatti e persone come sono davvero stati imporrebbe la veridicità. Se è vero, è incompleto: i riempitivi sono finzioni, quasi bugie. È il doppio legame di Città sommersa e di molta non-fiction che dell’onniscienza si serve. Barone sceglie una storia personale lacunosa anche per difendersi dall’invadenza della cronaca e dall’ossessione di sapere tutto, per riappropriarsi della libertà di scegliere cosa raccontare e cosa lasciare fuori. Il diritto creativo alla riscrittura non è d’altronde episodico. Se Città sommersa è l’esordio nella narrativa per adulti dell’autrice, già nei precedenti romanzi per l’infanzia si notava un gusto per la riscrittura intimista e personale di storie ‘vere’ dalla tradizione bimillenaria (come il racconto ‘apocrifo’ 40 Rastello (2006), p. 240.

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dell’infanzia di Maria di Nazareth)41 o per la biofiction dai tratti più didascalici.42 Nel caso di Città sommersa, la scrittura non finzionale è una fantasia di avvicinamento a una figura per larghi tratti ignota quale è il padre: la scrittura del testo rivela, anche grazie ai cospicui autocommenti su tutte le fasi del lavoro, la propria natura di processo di riappropriazione e costruzione di sé. Ricreare l’altro serve per ricomprenderlo in se stessi, accettarne le ragioni e arrivare all’autocoscienza. L’epifania finale è il culmine di questo processo e riecheggia, oltre al proustiano Tempo ritrovato, anche la folgorazione del padre arrivato a Torino, che Barone come abbiamo visto ‘riscrive’. Solo dando forma al destino di lui, l’autrice riesce a dotare di senso la propria traiettoria. Quando i due risultano accomunati da un’epifania, per il tempo di un finale la Marta di oggi può essere in sincronia col ragazzo che, decenni prima, fugge nel buio. Il libro finito simboleggia la riuscita di una costruzione accettabile del sé: Tutte quelle immagini, tutte quelle percezioni vivide che mi erano passate addosso senza che sapessi cosa farmene, senza saperne trovare le chiavi, le montagne stesse che vedevo in quel momento, il ruscello, gli alberi di ciliegio dai rami coperti di gemme, e allo stesso tempo tutti quei ricordi minimi che mi giungevano a brandelli in modo irrazionale, che mi sforzavo disperatamente di ricostruire senza capire perché, senza capire che senso avessero ora rispetto a me e rispetto alla storia di cui stavo scrivendo, erano in realtà parte di un unico insieme; tutti quegli oggetti, quei fiochi lucori, tutte le creature con cui avevo condiviso una parola o un sentimento che mi apparivano ora tutte insieme come una verità rivelata, tutto era me. (CS, p. 286)

Pratica: La natura è innocente La natura è innocente (d’ora in poi NI) condivide a grandi linee l’impostazione narrativa di un precedente libro di Siti, Resistere non serve a niente, in cui per la prima volta l’autore / narratore / personaggio, da io-limite del mondo ed egocentrico termine di confronto di tutte le cose, sottoposto a continui aggiustamenti autofinzionali,43 si trasforma in un io-creatore tirannico di mondi di finzione, appartato ma non scomparso (come nei classici romanzi con narratore invisibile), anzi ancora decisivo per determinare le logiche del racconto.44 In Resistere Walter Siti s’incarica di raccontare la storia di un personaggio in cerca d’autore, il broker Tommaso,45 che gli viene presentato dall’attraente e misterioso Lamin. Di quest’ultimo, nel seguito del romanzo, si perdono le tracce, come a indicare un 41 42 43 44 45

Barone (2008). Barone (2016). Rimando a Marchese (2014), pp. 236–264. Cfr. Pennacchio (2020), pp. 89–108. Siti (2012), pp. 32–47.

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passaggio di consegne da una scrittura imperniata sul desiderio erotico a un incentramento sull’attualità. Tuttavia, in Resistere il rimando esplicito al mondo reale è ancora abbastanza sfumato: i richiami concreti (come l’articolo La prostituzione percepita pubblicato da Siti sul quotidiano “Il Foglio”) erano inglobati nella finzione (Tommaso, Lamin e praticamente tutti gli altri personaggi tranne Siti sono d’invenzione, non riconoscibili). In La natura è innocente uguali premesse sfociano in esiti opposti. Il libro si apre sugli “occhi di Valeria Golino” (NI, p. 11), che poi farà da tramite con Siti per uno dei due protagonisti (il matricida catanese Filippo), e continua nel segno di Franca Leosini, famosa conduttrice televisiva: l’esplicita chiamata in causa dei vip, di cui vengono anche riferiti stralci di discorsi, chiarisce subito che ci troviamo nel mondo della cronaca, non in una sua replica mascherata, e che il racconto sarà all’insegna della veridicità. Stavolta Siti non ‘finge’ di raccontare una storia vera, ma elabora un “romanzo-verità, come si diceva una volta, un non-fiction novel” (NI, p. 12),46 riservando l’arbitrio dell’invenzione alla sfera della vita interiore. La verità della storia non vi può trovare posto, come Siti nota in una premessa di metodo al suo romanzo gemellare: Esiste il romanzo-verità? La verità ha a che fare con la scienza e la giurisprudenza, non con la letteratura né con la vita. Si mente narrando come si mente vivendo, se è menzogna riportare il finito all’incommensurabile – l’incommensurabile è sempre con noi, qualche volta ci precipita addosso all’improvviso e altre volte ci stuzzica, ci provoca, per tutto il tempo della nostra durata. (NI, p. 17)

Se gli altri (in questo caso i coetanei Filippo e Ruggero Freddi, pornoattore e docente universitario di matematica) sono la concretizzazione dei propri fantasmi, correggere l’incompletezza dei loro racconti è un atto giustificabile, coerente non secondo la morale bensì in base alle logiche di una scrittura egoriferita.47 È ragionevole supporre, e ve ne sono vari accenni in La natura è innocente, 46 Il nume tutelare è, ancora una volta, In Cold Blood, attraverso la mediazione cinematografica del biopic del 2005: “Ormai disperavo di trovare il soggetto adatto quando, rivedendo in dvd il film su Capote con la sbalorditiva interpretazione di Philip Seymour Hoffman, m’era balenata un’idea: con Franca Leosini sono in buoni rapporti, perché non chiedo a lei di mostrarmi il suo archivio e non scelgo una delle sue trame delittuose?”. (Ibidem). Va però sottolineato che la menzione di Siti non implica un’influenza forte di Capote su di lui: troppo diverso il legame con gli oggetti dei ‘casi di cronaca’ (Capote fu profondamente legato a uno dei due assassini; Siti è più distante e lo rimarca), ma soprattutto il grado di coinvolgimento dell’autore / narratore nel testo (in Capote l’io narrante è rimosso, come spiegato; Siti invece non si dipinge fuori dal quadro). 47 Nel capitolo conclusivo, dedicato in larga parte a riflessioni di metodo e alla messa in prospettiva di quanto ci ha appena raccontato, Siti conferma che la sua è “autobiografia bifida e appaltata – cioè non appesa a personaggi immaginari di carta, come accade di solito, ma reale e simbolica, gettata sulle spalle di persone viventi iscritte nei registri dell’anagrafe” (NI, p. 333).

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che Siti abbia intervistato i due protagonisti e poi abbia deciso di riversare le loro parole in uno stile più narrativo, limando le imperfezioni e sistemando i dettagli, pur lasciando ‘a vista’ la precarietà e l’incompletezza dei discorsi reali.48 In un brano come il seguente, non serve pensare all’onniscienza come a un’aggiunta indebita o una sostituzione alle parole altrui. La si può considerare effetto a posteriori, che si limita a dare una forma da romanzo a una testimonianza: “I primi ricordi di Filippo sono legati a un misterioso baule, che immagina come un forziere del tesoro, e a un cortile stretto dove lui sfreccia col triciclo mentre il padre lo aspetta seduto su una sedia” (NI, p. 20). Per Ruggero succede lo stesso, con riflessioni fra virgolette, indiretto libero e commenti filtrati che si contendono la gestione dei suoi ricordi e perfino dei suoi pensieri di allora. Ma se tale procedura è ancora pienamente spiegabile nell’ottica della biofiction,49 il discorso si complica quando vengono riportati i pensieri di persone che Siti non ha interpellato, o per un loro rifiuto o perché sono morte. Nella storia di Ruggero il deuteragonista è Giovanni, l’anziano nobile che lo assolda come escort, se ne innamora e finisce per sposarlo. Seguiamo la parabola di Giovanni nel momento discendente, quando la decadenza fisica è prossima: “A un doppio incrocio, dove il taxi è costretto a rallentare, Giovanni scorge una chiesetta ortodossa più piccola del palazzo in cui è incastrata – e dietro, in uno slargo illuminato dalla luna, tre colonne scanalate con un residuo di trabeazione. ‘Così’ si autocompiange ‘sopravvivono le rovine’” (NI, p. 240). È chiaro che Siti non può sapere che cosa Giovanni abbia pensato. Si può sempre ipotizzare che la frase finale del brano sia stata riferita, a quel tempo, a Ruggero e poi questi l’abbia riferita all’autore, ma l’intensità del dettaglio è la spia di un’appropriazione che diventa palese quando Siti insiste sui pensieri di Giovanni durante un suo viaggio in aereo: “Ho dimenticato la compressa di Coumadin per il cuore, pensa sfinito. In quella cabina pressurizzata a diecimila metri nel buio, Giovanni assorbe come una freccia avvelenata la sproporzione tra bellezza disponibile e i mezzi fisici che ormai gli restano per possederla” (NI, p. 243). Non c’è spazio per spiegazioni empiriche: Siti, proprio perché estraneo ai pensieri di Giovanni (e non ‘nonostante’), li riscrive. Va puntualizzato d’altronde che, come in ogni procedimento d’onniscienza, anche nel romanzo la trascrizione delle coscienze è selettiva: ogni autore decide quali personaggi far parlare dall’interno e quali menti devono restare opache; e proprio la scelta tecnica ci 48 Così l’autore commenta un ricordo implausibile di Filippo, scegliendo per una volta di non ‘completarlo’ con l’onniscienza: “Questo racconto non sta in piedi, è proprio il caso di dirlo; non so se il Filippo di ora si appigli al folklore da barzelletta per far sembrare tutto uno scherzo, o se davvero la Catania di prima gli sia diventata una nebbia in cui vero e falso si confondono. L’emergere delle incongruenze, d’altra parte, mi è utile come il pane a ricordarmi che sto appoggiandomi a testimoni inattendibili” (NI, p. 38, n. 2). 49 V. Castellana (2019), Mongelli (2019).

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illumina sulla poetica del romanzo. Nel caso in questione della biografia di Ruggero, sappiamo cosa pensano Ruggero e anche, occasionalmente, sua madre, oggetto d’amore e assieme di rifiuto, per un’infanzia passata sostanzialmente senza attenzioni da parte dei genitori;50 ignoriamo tuttavia i pensieri del padre, dei datori di lavoro dal porno all’accademia, di quasi tutti suoi amici, amanti e clienti. Se il lettore riesce ad attingere in abbondanza dall’interiorità in laboratorio di Giovanni, una possibile spiegazione si troverà riconoscendo l’importanza del personaggio e percorrendo la pista del romanzo: sia come genere sia come caso singolo, nella fattispecie Autopsia dell’ossessione. In quest’opera, Siti mette in scena la parabola di desiderio ossessivo e autodistruzione dell’agiato antiquario modenese Danilo Pulvirenti: due pulsioni che si rinforzano a vicenda fino a spingere il protagonista al matricidio.51 I rispecchiamenti fra questo libro e La natura è innocente sono molteplici. A parte l’esplicitazione della fonte autobiografica per la scena del matricidio (cfr. NI, pp. 335–336), Giovanni pare accomunato a Danilo dalla stessa nobile decadenza, che passa per un desiderio omoerotico ormai in via di disfacimento, sospeso fra feroci smanie di possesso e un inconfessato senso di abbandono. Perciò è più facile e tollerabile entrare nella testa di Giovanni: perché si tratta di un personaggio che poteva trovare, per censo, aspetto e comportamenti, un archetipo in Danilo. Le persone davvero esistenti che favoriscono un rispecchiamento dell’autore, o riescono a trovare in personaggi della precedente produzione sitiana una sinopia per la riscrittura, sono terreno fertile per l’onniscienza, che può spingersi fino ai confini estremi dell’agonia (come, tornando alle premesse teoriche di questo contributo, Proust faceva con Bergotte morente). L’avverbio ipotetico è qui una foglia di fico in un discorso che va molto più avanti: Quand’era solo, Giovanni si lasciava andare senza scrupoli ai paradisi dell’incoscienza e degli psicofarmaci: eccolo ragazzo mettere le mani nella terra e piantare un albero, e giurare che la sua vita può ricominciare da lì […] O forse la sua cultura, come quella di tanti (come la mia), non ha retto alla prova della sofferenza […]. (NI, pp. 306–307)

Nella storia di Filippo, assistiamo a una manipolazione altrettanto disinvolta. Rispetto alla parte su Ruggero, ci vengono riferiti i pensieri nascosti di numerosi attori della vicenda che l’autore ammette di non aver interpellato, da Benedetto, amico di Filippo e primo amante della madre (Cfr. NI, pp. 92–93), alla nonna (Cfr. NI, p. 103). Ma sono incursioni occasionali rispetto allo sconfinamento sistematico nella mente della vera protagonista, assieme a Filippo: la madre Rosa, assassinata da lui per gelosia dopo essersene andata di casa con un nuovo partner. Siti è posto davanti all’impossibilità di ascoltare ‘la versione della vittima’: la 50 Cfr. NI, p. 60; cfr. anche, per la focalizzazione sulla madre, ivi., pp. 230, pp. 304–305. 51 Siti (2010), pp. 287–90.

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donna è morta nel 2000 e l’unica persona da cui l’autore avrebbe potuto ascoltare indirettamente le sue confidenze e i suoi segreti sembra essere, più che Filippo, la cugina di lei, Carmen.52 Una scarsità di notizie che provoca un impaccio plateale,53 ma non impedisce a Siti di fare le veci di Rosa in più occasioni: nel formulare la lacerazione della maternità,54 nel presentimento nebuloso dell’unicità di Filippo,55 nel riconoscere la propria condizione di minorità, che la spingerà in uno scatto di orgoglio e vitalità ad abbandonare la famiglia, e poi alla morte.56 L’accesso ai pensieri di Rosa, secondo una formula consueta in La natura è innocente, alterna frasi apodittiche e qualche formula ipotetica che fa emergere, per contrasto, la supremazia epistemologica di chi racconta. Ad esempio, la scelta di Rosa di restare a Catania per non perdere i figli, dopo aver lasciato il marito, viene spiegata così: Lo ipotizzo seguendo la via della maggiore verosimiglianza, in mancanza di altri riscontri; ma chissà che dal fondo della propria diversità, mai davvero da lei misurata né valorizzata, Rosa non abbia nutrito proprio il folle sogno controcorrente di una vita svincolata dalle consolazioni e dagli obblighi dell’essere madre, in una rivoluzione interna così inimmaginabile da potersi paragonare a un desiderio di morte. (NI, p. 107, n. 2)

L’atteggiamento di Siti è comprensivo verso una donna che, prigioniera di un contesto sociale arretrato, viene dipinta come forte e indipendente. Ma quando leggiamo che il carattere volitivo di Rosa nasconde un “desiderio di morte”, viene il sospetto che la comprensione di Siti scivoli con ambigua consapevolezza verso l’accettazione delle ragioni del delitto. Le immersioni nella coscienza di Rosa suggeriscono infatti che lei comprenda, a un livello primordiale e confuso, le motivazioni del gesto di Filippo, e sostanzialmente lo liberi dalla colpa di aver ucciso, tanto che, è stato notato, “il reo sembra abitato da un’inconsapevolezza 52 “A Carmen, e a lei soltanto, racconta che di notte si sveglia sudando perché sogna di essere trasformata in una statua di gesso come quelle di Villa Bellini, e non riesce a godersi le canzoni perché le sue orecchie sono di pietra” (NI, p. 28). 53 “Se cerco di penetrare dove non posso, nell’anima di Rosa ormai inaccessibile, mi sento come uno scimpanzé che si sforzi di aprire una scatola di metallo chiusa ermeticamente” (NI, p. 27). 54 “Rosa gli fa la faccia feroce ma le scappa da ridere; se lo rivede quando a un anno cercava gattonando dei punti d’appoggio per alzarsi in piedi da solo, fin che ce l’ha fatta e ha traballato dal letto fino alla porta – e a lei è parso che una freccia dal proprio ombelico stesse partendo alla scoperta e all’avventura. Uno strappo alle viscere e una comunione indissolubile, oltre il sangue e oltre il destino” (NI, p. 22). 55 “[…] le figlie hanno la strada segnata, mentre Filippo è la sua variabile favolosa (lo avverte confusamente, non ha le parole per pensarlo)” (NI, p. 29). 56 “Io sono sempre rimasta a nuotare nella stessa vasca, pensa Rosa, come una foca ammaestrata o una sirena prigioniera; sempre obbligata a conservare questo corpo come se fosse un tesoro, che poi quando me lo volevano toccare lo facevano con disprezzo e il tesoro diventava spazzatura (stuzzicanti e dolorosi le tornano in mente certi incontri al buio, da quindicenne, con gli operai del Nord venuti giù per l’elettronica) […]” (NI, p. 90).

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che smorza i toni e fa sbiadire la colpa e la morte”57. Questa interpretazione traspare sia dal resoconto del delitto (Cfr. NI, pp. 288–289), sia dalle considerazioni retrospettive di un Filippo che ormai ha scontato la sua pena e imparato, forse, qualcosa di nuovo su di sé: Ascoltando le onde, Filippo si convince poco a poco che la madre gli somiglia (anzi, gli somigliava): “era come me, anche lei aveva bisogno di adrenalina”. Non è lei che deve chiedere scusa, riflette, sono io che non l’ho capita. Oscuramente avverte che, se lui e Rosa sono stati una cosa sola, anche la colpa per averla uccisa diventa più dolce da accettare. (NI, pp. 206–207)

Da questo brano e dal precedente, si vede come il narratore onnisciente in sostanza scagioni Filippo dai risvolti più negativi di ciò che ha fatto. La lettura del matricidio come rito ancestrale per ‘uscire di minorità’ è tendenziosa e, in fondo, del tutto arbitraria: Siti non ha alcun diritto, alcuna base empirica per far dire a Rosa di essere d’accordo con i motivi di Filippo per ammazzarla. Nessun diritto fuorché quello di far prevalere la propria poetica sull’evento di cronaca: il matricidio, inteso quale atto per riequilibrare l’irragionevole mostruosità della vita con l’annullamento (“Spegnere le madri significa svezzarsi dall’universo”, NI, p. 289), è un gesto che Siti vagheggia ma non ha mai osato compiere (Cfr. NI, p. 333). A vittima e carnefice sovrappone le proprie motivazioni e rende i due oscuramente affini – anche se è da presumere che Rosa non fosse, nella realtà, del tutto d’accordo a essere uccisa dal figlio. La spinta autobiografica, che trapela nella scelta dell’onniscienza (problematica, sul piano dell’ambiguità morale, in un testo di apparenza non finzionale molto più di quanto non sia abitualmente nel genere-romanzo che all’onniscienza ha dato vita),58 impedisce che la biografia apra a una comprensione fedele della vita altrui: e nega, probabilmente, di individuare un percorso di formazione nella vicenda di Filippo. Se Filippo ha ucciso la madre con il segreto, inammissibile consenso di lei, può davvero trarre un qualche insegnamento da ciò che ha compiuto? Siti definisce esplicitamente le due “vite quasi vere” dei romanzi di formazione dei nostri tempi: “Entrambi i miei protagonisti, ancora, per realizzare la loro vita intensa si sono appoggiati a potenze esterne (i ‘malandrini’, il principe, il porno); i nuovi Bildungsroman presuppongono una reinterpretazione delle vecchie massonerie?” (NI, p. 330) Qualcosa di stonato nella definizione di Siti c’è, non solo perché alla fine del libro i due personaggi si conquistano un posto confuso e precario in società, pur 57 Donnarumma (2020), p. 695. 58 “I procedimenti classici che la narrazione psichica aveva nella tradizione romanzesca fra realismo e modernismo, trasportati in ambito non finzionale, acquistano un tono eversivo: solo in superficie Siti ritorna al passato, ricostituendo figure antiche come quelle dell’onniscienza; di fatto, la sua rivisitazione è piena di veleni e distorsioni del tutto contemporanei”, nota Donnarumma (2020), p. 703.

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senza mostrare di essere particolarmente migliorati o di aver appreso qualcosa di importante sul mondo. C’è un altro motivo: mi pare che La natura è innocente non possa dirsi romanzo di formazione anche per via della scelta dell’onniscienza e dello spalancamento su altre coscienze oltre a quella del protagonista ‘in formazione’. Probabilmente, l’esposizione di punti di vista differenti sulla stessa vicenda relativizza la formazione del protagonista e ne rimette in prospettiva le motivazioni: il Bildungsroman è svuotato dall’interno e non rimane nessuna lezione da imparare.59 Nel nostro caso, la moltiplicazione delle prospettive si traduce in una deresponsabilizzazione collettiva: Filippo non ha imparato niente dal matricidio, come viene precisato più volte; la madre sembra contraddittoriamente accondiscendere (sostiene Siti) alla propria uccisione; tutti (madre, figlio, familiari e comunità di Catania) hanno avuto, in fondo, le loro ragioni ugualmente valide per compiere, permettere o approvare il matricidio, e non ci vengono forniti dentro il testo grandi argomenti per opporci a una versione simile. Il ricorso all’onniscienza è in La natura è innocente al servizio di una visione profondamente nichilista, secondo un percorso coerente dell’ultimo Siti:60 la penultima parola se la prende il delitto, e l’ultima parola se la prende l’estinzione collettiva, che di quel delitto è l’esito coerente, in una fantasia leopardiana in cui si osserva la distruzione di tutto da distanza telescopica. Lo svelamento della realtà come composizione di illusoria consistenza, sotto cui sta un nulla preannunciato dalla grana delle due “vite quasi vere”, rivendicato per via indiretta dalle continue intromissioni sitiane e sigillato dall’apocalisse laica del finale, è la tesi di La natura è innocente. È stato subito osservato, sia dagli estimatori sia dai più critici che La natura è innocente ha il funzionamento spedito e preciso di un teorema. Ci porta nei pressi di una forma letteraria che sentiamo appartenere al passato: nonostante le apparenze La natura è innocente, né comico né tragico, dispiega la propria visione del mondo in modo compatto e lineare, privo di ambivalenze ideologiche. Sta insomma dalla parte del romanzo a tesi:61 quella forma letteraria in cui la narrazione serve a dimostrare per via figurale l’ideologia dell’autore.62 Con una differenza non da poco: se nel romanzo a tesi di finzione (si pensi, per un esempio noto, alla Peste di Camus) l’autore crea ex novo le persone e gli eventi più adatti a correre sul binario delle sue premesse concettuali, nella non-fiction l’autore deve adattare materiali preesistenti all’ideologia che intende dimostrare. Per farlo, è costretto da un doppio vincolo: essere fedele in apparenza alla realtà esatta di ciò che è avvenuto, e integrare, con 59 Cfr. almeno Moretti (1999); per una prima ricognizione precisamente sul punto di vista nel romanzo di formazione, cfr. almeno Boes (2008) e Golban (2018). 60 V. Donnarumma (2019). 61 La vicinanza di NI al romanzo a tesi è stata notata in accezione positiva da Donnarumma (2020), p. 706; e, con uno sguardo meno benevolo, da Morreale (2021). 62 V. Suleiman (1993).

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l’onniscienza rubata a un autore di fiction, le vite altrui con qualcosa di suo, dicendo qualcosa di profondamente vero mentre le si falsifica. Il narratore finisce così per combaciare con uno strano tipo, decisamente tirannico, di Creatore, secondo un paragone ricorrente nelle riflessioni sull’onniscienza, fin da Flaubert: uno che lascia vivere le sue creature-creazioni autonomamente, infondendo in loro la duplice illusione di possedere il libero arbitrio e di essere artefici del proprio destino. Ma è un inganno ai danni dei personaggi raccontati, e a beneficio di autore e lettori. La natura tirannica di questa onnisciente si staglia davanti ai nostri occhi, senza più equivoci, quando nella chiusa di La natura è innocente Siti disfa il mondo che ha creato: “Infine l’esaurirsi dell’elio sulla nostra stella, e il mappamondo rossastro già bollente di gas, e il convergere della nostra galassia su Cassiopea; poi il buco nero supermassivo e un altro giro di giostra” (NI, p. 345).

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Andrea Brondino (University of Warwick)

Realismo inconveniente, fraintendimenti e ‘realiability effect’ nella ricezione de I Buoni di Luca Rastello […] quasi sempre quella che si presenta come “la vita com’è”, secondo un’espressione cara ai realisti (gente che in segreto ama la schiavitù), è una truffa. Si può uscire, scartare, fare ancora un giro, poi sorprendersi di come era facile e possibile quello che sembrava impedito dalla logica ferrea di un mondo che ci mettiamo addosso come una prigione ed è invece solo fantasia, malata fantasia che si spaccia per realtà. Rastello (2018, p. 236)

Luca Rastello (1961–2015) è stato giornalista, scrittore, attivista. Ha creato un nuovo modo di fare accoglienza profughi in Italia, mediando fra associazioni noprofit e una rete di privati cittadini per l’accoglienza dei rifugiati del Kosovo; sul conflitto ha scritto il testo a cui più si deve la sua fama di narratore, La guerra in casa (1998). È stato parte attiva delle lotte politiche e delle rivendicazioni studentesche nella Torino degli anni ’70; esperienza a cui ha dedicato il romanzo Piove all’insù (2006). Ha scritto inchieste sul narcotraffico (Io sono il mercato, 2009), sui diritti e lo sfruttamento dei migranti (La frontiera addosso, 2010), sulla TAV e l’alta velocità ferroviaria europea (Binario morto, 2013). È andato poco in televisione. Si è laureato in filosofia. Nelle poche interviste disponibili online, perlopiù in presa diretto a eventi pubblici o incontri con i lettori, Rastello cita quasi sempre Dostoevskij, spesso Shakespeare, talvolta Flaubert. Tra le attività lavorative svolte da Rastello, spicca il lungo periodo trascorso tra le fila del Gruppo Abele di Torino, fondato e capitanato da don Luigi Ciotti. Rastello è stato inoltre tra i fondatori di “Libera” nel 1995, la principale e più nota associazione italiana anti-mafia. I Buoni [IB], secondo romanzo di Rastello, fa i conti con questa esperienza lavorativa e umana. Nelle parole dell’autore, l’opera rappresenta una “critica in senso kantiano”1 del Terzo Settore, un’aspra resa dei conti con le contraddizioni e le ipocrisie delle associazioni no-profit. Senza mai ricorrere a termini esplicitamente derogatori e politicamente connotati, quali per esempio ‘buonismo’, I Buoni opera una critica impietosa di una serie di brutture, di situazioni imbarazzanti, di soprusi e reati ai danni dei lavoratori dipendenti e degli utenti. Nel romanzo abitano, per esempio, personaggi costretti a svolgere un lavoro sottopagato e/o non tutelato, nel nome della causa e del ‘lavoro motivato’ – l’eufemismo è una delle figure principi del linguaggio proprio delle organizza1 Rastello (2017a).

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zioni solidali nel romanzo. Si rappresentano poi altre irregolarità e pratiche scorrette, come l’avvenuta sospensione del diritto alla maternità; l’emissione in ritardo degli stipendi mensili dei dipendenti; il tentativo di celare la morte bianca di un operaio che lavora in nero per l’associazione; lo sviluppo di progetti a sfondo solidale e di contatti lavorativi per meri fini di lucro; la non trasparenza finanziaria dell’associazione; l’esistenza di rapporti ambigui fra utenti e operatori. Il tema della critica della bontà e della solidarietà organizzata non connota solo I Buoni ma proviene da lontano e costituisce un possibile filo conduttore all’interno della variegata produzione letteraria e giornalistica di Rastello. Come nota Carlo Greppi2 nella sua recensione al romanzo, i confini di tale questione etica erano già delineati a partire da La guerra in casa e dall’esperienza in Bosnia, in merito alla quale Rastello scrive in un intervento a un convegno del 2008: Improvvisamente ti capita che salvi delle vite, e lì con la tua macchina scassata metti della gente sul sedile, li porti a casa, quella gente lì è viva e non morta, quel bambino cresce e invece non sarebbe cresciuto e fa la scuola e invece non avrebbe avuto la scuola. E diventa una delle forze attive, perché riesce anche a dare un po’ di consenso politico, forze vive del tuo stremato tessuto sociale, perché l’arrivo di gente in fuga da una guerra è sempre stata una risorsa per qualunque società civile avanzata e non è mai stato un limite – di queste cose ci rendevamo conto: improvvisamente c’è la possibilità di compiere un gesto che conferisce senso e direzione all’intera esistenza di chi lo compie. Tu diventi un individuo sensato perché compi un gesto sensato, scopri che senza il gesto sensato non sei un individuo sensato. Sembrano aforismi, sembrano banalità logiche, ma non lo sono. Perché il gesto sensato nasconde in sé un pericolo mortale: è talmente forte, come ritorno sulla percezione di sé e dei propri destini, nei confronti del soggetto che lo compie che abbassa in maniera radicale tutte le soglie critiche.3

Ed è per rialzare nuovamente le soglie critiche del soggetto sensato che il narratore in terza persona de I Buoni segue le vicende della protagonista Aza, una ragazza romena che, reduce dalle fogne di Bucarest, riesce a fuggire definitivamente dalla miseria grazie all’aiuto dell’operatore Andrea, alter-ego in negativo di Rastello. Aza si trasferisce nella città di Andrea, Torino evidentemente, e diviene sua collega nell’associazione “In Punta di Piedi”; associazione che ricorda, senza ombra di dubbio, il “Gruppo Abele”. In poco tempo Aza riesce a far carriera, fino a riscuotere la fiducia assoluta del leader carismatico Don Silvano, un prete col maglione che assomiglia fin troppo a don Luigi Ciotti. In breve tempo Aza si accorge però di una serie di gravi problematiche che affliggono la onlus, di ipocrisie e di veri e propri reati che l’associazione, nel silenzio generale, compie o lascia compiere da alcune delle sue figure centrali. Tra queste spicca un giudice

2 Greppi (2015). 3 Rastello in Greppi (2015).

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molto simile a Gian Carlo Caselli e un non precisato affarista con la passione delle ragazzine che agisce all’interno dell’associazione in qualità di contabile. Colta da sdegno, Aza decide infine di scappare. Il finale, aperto e livido, lascia spazio ad Adrian, un vecchio amico di Aza. L’uomo, sulle tracce dell’amica, si trova a Torino, dove incontra molti amici della ragazza, fra cui Delia, una transessuale particolarmente deluso dal comportamento dell’associazione. Delia chiede ad Adrian di compiere per lei un reato, la cui natura non è svelata esplicitamente nel libro, ma che sembra avere a che fare con un vero e proprio omicidio ai danni di don Silvano. Al di là delle somiglianze più o meno intuitive con l’attualità, sul piano letterario risultano evidenti il modello biblico del Libro di Ezechiele e quello dostoevskijano (in particolare dei Karamazov e dei Demoni) per quanto riguarda la costruzione di trama e personaggi; per ciò che concerne la struttura tripartita del romanzo, il modello di riferimento è invece quello dantesco. Ma è in realtà il linguaggio di Rastello, alienante e complesso, sperimentale e magmatico, uno dei veri protagonisti del romanzo. Ecco un esempio del ritmo sincopato che caratterizza l’intero testo: Dalla strada non si vedono i fuochi, frustati dal vento che batte gli scheletri d’acciaio. Prima erano templi del lavoro, capannoni alti come basiliche o grattacieli, centrali d’energia al servizio di un sogno d’industria, officine, luoghi della fatica feriale difesi con orgoglio da quelli che dentro sbuffavano e smadonnavano per otto ore almeno, su tre turni; ogni giorno che Dio posava sulla terra, luoghi dannati eppure desiderati. Ora la città vive una sua vita sghemba da insetto, o da serpe bastonata, un nuovo sogno sognato con meno tenacia, che moltiplica i cantieri, parassiti di un futuro terziario promesso ogni sera e rimandato, e la sua gente ora cammina di lato, scarta a ogni passo cambiando preghiera. Il sogno ha la forma di scatole di calce a poco prezzo, arancione azzurro a sedici piani, da tirare su in fretta perché arrivano le Olimpiadi e allora tutto cambierà. (IB, p. 53.)

Nelle pagine seguenti, si analizzano alcuni momenti chiave del dibattito successivo alla pubblicazione de I Buoni. In particolare, si esaminano le recensioni e, in alcuni casi, le vere e proprie stroncature di Adriano Sofri, Nando Dalla Chiesa, del magistrato Gian Carlo Caselli e di Alessandro Zaccuri. Verranno anche discussi sia l’articolo che l’autore ha pubblicato in risposta alle critiche provenienti da queste recensioni, sia un breve accenno al romanzo che Don Ciotti compie durante un’intervista. Per concludere, si riflette su ciò che questo caso limite di ricezione possa offrire per una più generale riflessione sull’ondata neo-realistica recente. Inutile nasconderlo: il romanzo si presta facilmente a una lettura a chiave. L’interpretazione è a tal punto banale che nella sua recensione al romanzo, la prima scintilla delle vivaci polemiche che seguono la pubblicazione de I Buoni, Adriano Sofri scrive: “il travestimento, nomi propri compresi, appare delibera-

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tamente teso a rivelare più che a mascherare”.4 Al tempo stesso, nel tentativo forse di smarcare il libro dalle prevedibili polemiche che lo investiranno, l’intervento di Sofri suggerisce di cogliere il nucleo del romanzo nel suo contenuto politico più generale, ossia nella doppia critica radicale del concetto di legalità, inteso come feticcio,5 e delle buone intenzioni delle organizzazioni solidali. Nando Dalla Chiesa non tarda a sottolineare la goffaggine di Rastello nel camuffare le vistose somiglianze tra i personaggi del romanzo e gli attori della vita pubblica italiana, ma condivide la percezione che il Terzo Settore e il mondo dell’antimafia in particolare manchino spesso di autocritica: vedevo crescere nelle associazioni e tra i protagonisti dell’antimafia una tendenza alla millanteria, alla superficialità, al vittimismo eroico, una qualche propensione all’affarismo a fin di bene. Non credo affatto (e non lo crede don Ciotti) che Libera sia del tutto immune da questi vizi, sul cui rischio si è tenuta una importante assemblea nazionale lo scorso febbraio.6

Sul tema, lo stesso Dalla Chiesa aveva non a caso scritto un articolo nel dicembre del 2013, intitolato “Benvenuti al circo dell’antimafia”.7 L’intervento precede di pochi mesi la pubblicazione del romanzo e sembra anticipare alcuni temi della diatriba che esso solleverà. Nella recensione a I Buoni, contesta duramente a Rastello di non scoprire nulla di nuovo, ma di rivelare i difetti – ovvero la retorica e i rischi connessi con la figura di un leader incontestabile – di ogni “organizzazione carismatica”,8 dal Pci a Lotta Continua. L’accenno a Lotta Continua non è ingenuo e la staffilata viene in seguito colta da Sofri,9 autore di una recensione tutto sommata positiva del romanzo. Già da questo particolare si nota il dilagare della baruffa originata dal libro di Rastello ben oltre i confini iniziali della stessa. Dalla Chiesa ricorda poi le difficoltà del Gruppo Abele nel far fronte alle emergenze degli utenti, una delle cause della “brutta abitudine”10 di pagare tardi i dipendenti; ma anche l’impegno e l’autocritica costante di Don Ciotti sugli stessi temi che Rastello solleva. Curiosamente, chiude scrivendo che I Buoni “abdica alla responsabilità della contro-inchiesta travestendosi da romanzo”, definendolo infine un “romanzo gossip”.11 Una simile accusa di vigliaccheria intellettuale e ostentazione interessata di pettegoli maldicenze proviene poi dal bersaglio innominato, ma sempre adom-

4 5 6 7 8 9 10 11

Sofri (2014a). Rastello (2017b). Dalla Chiesa (2014). Dalla Chiesa (2013). Dalla Chiesa (2014). Sofri (2014b). Dalla Chiesa (2014) Ibidem.

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brato ne IB: don Luigi Ciotti. Domandatogli se abbia o meno letto il romanzo, il prete risponde: Mi sono rifiutato, ma me lo hanno raccontato ed è stato un dolore. Fa soffrire diventare una caricatura da parte di qualcuno che non ha il coraggio di guardarti in faccia e che non puoi neanche querelare perché si è tutelato scrivendo un’opera di presunta finzione. L’autore di quel libro è stato per qualche tempo un nostro collaboratore, e non trovo il perché di un attacco così proditorio che non ha fatto male soltanto a me, ma a molte persone che hanno visto deformata la loro vita privata e la dignità del loro lavoro. Ma per le cose che facciamo conviene abituarsi agli attacchi, anche a quelli più pericolosi.12

Gian Carlo Caselli, d’altro canto, pronuncia i giudizi più pesanti sul testo e su Rastello: “un libro cattivo […] contro Luigi Ciotti”; “una tempesta di livore […] violenta”, causata da un “risentimento personale profondo”.13 Concede a Rastello solo l’onore delle armi letterarie: “Rastello sa scrivere bene, ma questa volta le pagine del libro – come dire – sembrano sfuggirgli di mano e trasformarsi in una sorta di manganello da teppisti prodighi di scomuniche che preludono a roghi purificatori (lo psicopatico che chiude il romanzo)”.14 Conclude infine ricordando il valore e la funzione assolutamente positiva svolta da Libera nel corso della sua esistenza, da lui accertati grazie all’amicizia personale con Don Ciotti e al suolo ruolo di capo della Procura di Palermo dopo le stragi del ‘92. Toni più cauti, ma simili argomenti utilizza Alessandro Zaccuri sul cattolico Avvenire. Riconosce il modello letterario del Grande Inquisitore dostoevskjiano e ammette: La fragilità dell’essere umano, le contraddizioni che la attraversano, l’incapacità di perseguire il bene senza compromettersi in qualche modo con il male sono le componenti della felix culpa nella quale, sulla scorta di sant’Agostino, la Chiesa riconosce da sempre la premessa irrinunciabile della redenzione. Non avremmo bisogno di essere salvati, se non fossimo tutti, in diversa misura, peccatori.15

Zaccuri insiste poi sulle similitudini evidenti fra il personaggio di Don Silvano e Don Ciotti; ma conclude la sua recensione esprimendo tutti i suoi dubbi sull’ “inferno […] camuffato da Paradiso” del no-profit: “quale sia l’utilità, in fondo, di una condanna così inflessibile è un mistero che l’ambizione stilistica di Rastello lascia purtroppo inesplicato”.16 La risposta dell’autore17 precede sia un secondo articolo di Sofri sul romanzo,18 sia il commento riportato in precedenza di don Ciotti. Nella sua replica, Rastello 12 13 14 15 16 17

Rossini (2014). Caselli (2014). Ibidem. Zaccuri (2014). Ibidem. Rastello (2014b).

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respinge al mittente alcune critiche di ipocrisia e fariseismo, che rasentavano l’insulto almeno nell’articolo di Caselli; rileva “riferimenti testuali del tutto scorretti”: ce n’è uno abbastanza lampante nella recensione di Dalla Chiesa, che allude a una storia d’amore fra Don Silvano e una ragazza che nel romanzo non c’è affatto. Scrive Rastello, riflettendo sui limiti della libertà certo sacrosanta del lettore: È vero che, una volta pubblicato, un libro appartiene al lettore, e Sofri lo è, che ha il diritto di offrire la sua chiave, ma da qui a voler fare del romanzo un’inchiesta travestita, per codardia o altri loschi e occulti intenti, ne corre assai. Ovviamente nessuno è tenuto a conoscerlo, ma credo che tutto il mio passato possa parlare per me: quando ho voluto fare inchiesta (che fosse su guerra, mafia, narcotraffico, alta velocità, servizi segreti o serial killer) l’ho fatta, guardando tutti negli occhi e facendo i nomi delle persone coinvolte, a chiarissime lettere. E quando ho voluto scrivere un pamphlet (per esempio sugli scrittori che dissertano di democrazia sui giornali) l’ho fatto con nomi e cognomi in chiaro. Molti sassi ho lanciato, mai nascosto la mano, mai fatto velo con eufemismi, travestimenti o retoriche. La scelta di scrivere un romanzo è tutt’altra cosa: è la scelta di affrontare temi generali, se non universali, che riguardano prima di tutto i lati oscuri di chi scrive. Ho voluto raccontare un male che è ovunque e che io per primo porto dentro (se c’è un personaggio a chiave nei Buoni è forse il solo Andrea, costruito su di me e sulle mie potenzialità più negative).19

À la Flaubert, Rastello scrive: “don Silvano sono io […]” e aggiunge: Il dibattito letterario sul non fiction novel data ormai da mezzo secolo […] ma anche prima di Truman Capote gli autori facevano delle loro vite materia narrativa. Signori, mi dispiace ma stavo scavando in me, nel mio lato oscuro. È falso che io abbia voluto raccontare la storia di Libera, ho scritto e vedo uscire questo libro in una fase molto difficile della mia vita, una fase in cui si fanno i conti con sé stessi e non con la cronaca.20

Insiste sul fatto che la nota paratestuale – secondo Gianluigi Simonetti uno dei luoghi più evidenti in cui dichiarare a priori la natura realistica o meno di un romanzo in epoca contemporanea – ,21 dal tono leggermente difensivo e ambiguo (“[…] è corretto considerare queste vicende come immaginarie”, IB, p. 4.), sia frutto dell’opera dell’editore. L’autore chiude la sua replica in tono biblico e acre: […] il dottor Caselli accusa me di invocare manganelli, roghi e manifestare nella figura di un personaggio del romanzo che lui definisce tout court “psicopatico” certe oscure volontà di vendetta (ripeto: contro che cosa?). Ovviamente non è richiesta al bagaglio professionale di un magistrato la capacità di capire le metafore. Ma il finale del romanzo, che Gian Carlo Caselli (forse con un riflesso, questo sì, professionale) legge come un’istigazione al linciaggio, è invece una metafora che ora posso a cuore saldo applicare a 18 19 20 21

Sofri (2014b). Ibidem. Ibidem. Simonetti (2018), p. 90.

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me stesso e ai miei illividiti accusatori: arriva per tutti, immancabilmente, un dies irae. Il mio non è neanche fra molto e io so, con coscienza serena e pulita, che il loro sarà peggiore.22

Nella replica, così come in alcune interviste e incontri promozionali de I Buoni,23 Rastello insiste che il vero obbiettivo del suo libro sia quello di invitare all’autocritica un settore che, santificato dai propri ideali, immobile nelle proprie convinzioni, si presume spesso esente da tale forma di ripensamento continuo della propria funzione. Se abbandonata alle retoriche e alle istanze della destra italiana, aprioristicamente anti-assistenzialista, la critica al Terzo Settore diverrà solo demolitrice e non più costruttiva. La funzione critica e costruttiva del romanzo di Rastello si esercita perciò su un settore produttivo che, secondo l’autore, opera tuttora in una zona grigia a livello legislativo ed economico, dove si intrecciano, non sempre limpidamente, fondi statali, finanziamenti privati, lavoro sotto- o mal pagato. In buona sostanza, a Rastello interessa riflettere criticamente su un’eterogenesi dei fini: su come, cioè, un ambito d’impresa nato in un momento di critica radicale al sistema capitalistico (la contestazione giovanile degli anni ’70 innanzitutto) sia ora paradossalmente divenuto modello di avanguardia nella produzione dei servizi nell’ambito del capitalismo contemporaneo.24 In questo senso, I Buoni è il naturale proseguimento di un discorso già sviluppato a partire da Piove all’insù:25 entrambi si dimostrano esempi narrativi di un realismo inconveniente che, da sinistra, opera una critica radicale dei miti di una certa sinistra – come ‘legalità’ e ‘memoria’, per esempio.26 Per quanto riguarda il versante letterario della polemica, Rastello imputa ai suoi detrattori di essere preda della classica illusione referenziale. Rastello rivendica esplicitamente che, scrivendo letteratura invece che inchiesta, intende fare i conti con le zone d’ombra di sé stesso e della sua passata attività lavorativa, nonché con alcune questioni etiche che, pur pressanti nell’ambito del Terzo Settore, hanno piuttosto a che fare con l’umano e con l’universale.27 Nel suo ultimo intervento sul romanzo, Sofri, tra i lettori più benevoli, ma anche attenti de I Buoni, dà ragione all’autore e invita nuovamente a soffermarsi sulle questioni pressanti e complesse tematizzate nel testo.28 Al tempo stesso rileva che la diatriba seguita alla pubblicazione del libro non è stata altro che una “bruttissima discussione”,29 dalle cui bassezze non è certo esentato l’autore, a cui Sofri rim22 23 24 25 26 27 28 29

Rastello (2014b). Rastello (2017a); (2017b); (2017c); (2017d); (2017de). Rastello (2017a). Rastello (2006). Cf. Rastello (2017e). Rastello (2017d). Sofri (2014b). Ibidem.

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provera i toni apocalittici e personalistici con cui si chiudeva la sua replica (Rastello 2014b). Con un paragone piuttosto forzoso con il Christopher Hitchens che sminuiva, in primis tramite un doppio senso sessista, l’operato e la figura della missionaria Madre Teresa,30 Sofri ricorda ai lettori del “narcisismo sottile e insinuante”31 di chi si pone come critico autoeletto ed esterno delle dinamiche, inevitabilmente anche contraddittorie, delle operazioni solidali. Ad ogni modo, la sensazione di Sofri per cui la querelle su I Buoni non sia stata altro che un’ennesima occasione perduta del dibattito letterario e culturale italiano, resta condivisibile. Soffocate nel gioco di attribuzioni e pettegolezzi cui il romanzo di Rastello dava, in una certa misura, adito, le recensioni esaminate in precedenza indicano piuttosto il ‘dito’, cioè le inimicizie e gli interessi personali, che la ‘luna’, in definitiva più nietzschana che dostoevskjana: ovvero, “il rapporto di potere che si crea all’interno di una relazione d’aiuto”.32 Se I Buoni rinuncia a divenire inchiesta, nonostante sia proprio da un’inchiesta sui bambini delle fogne di Bucarest che Rastello abbia tratto materiale e spunto per il suo libro,33 è perché parla dei Buoni, e non dei buoni. Quando si tenta, forse con hybris, di rappresentare l’universale, la penna del romanziere è più utile di quella del giornalista. Romanzo a chiave, romanzo gossip; I Buoni è innanzitutto un romanzo emblema di un’incomprensione, di un “equivoco”,34 come sottolinea Daniele Giglioli nella sua recensione. Nell’ultima parte di questo contributo si tenta di riflettere sulle ragioni di questo fraintendimento. Una prima semplice motivazione, che concerne in primo luogo lo stato del dibattito culturale italiano in generale, è che spendersi in facili polemiche ad personam costa meno impegno e aiuta innegabilmente a vendere di più. La modalità discorsiva della polemica rumorosa e carica di pettegolezzi, non lo si scopre certo con I Buoni, è sempre di moda. Una volta scatenata la bagarre giornalistica, il romanzo cessa però di essere opera per divenire mero casus belli, una pura occasione di disputa. Inizia così, irrimediabilmente e de facto, un meccanismo di delegittimazione dell’autore e del testo, poiché nella baruffa senso e contenuti dell’opera vengono del tutto accantonati in secondo piano. Una seconda motivazione ha invece a che fare direttamente con il piano letterario. L’ondata neorealistica recente è forse foriera di un certo eccesso di fiducia nel romanzo quando lo intende come genere ibrido dalle finalità anche immediatamente inquisitive e politiche. Con un comprensibile errore di ipercorrezione, cioè, spesso si reinterpreta la relazione tra testo letterario e realtà in contrasto simmetrico con il ‘postmodernismo’ (o meglio, con la sua vulgata), che 30 31 32 33 34

Hitchens (1995). Sofri (2014b). Rastello (2017d). Rastello e Deaglio (2014). Giglioli (2014).

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vedeva, o diceva di vedere nell’arte e nella realtà due rette parallele e non intersecanti. Che la fiction romanzesca debba sempre e comunque tematizzare delle porzioni di realtà riconoscibili e/o sovrapponibili alla conoscenza di essa che ne ha il lettore, con i suoi pregiudizi, interessi e antipatie, resta tuttavia una forzatura – sia per l’autore, sia per il pubblico. Semplificando oltremodo, si potrebbe dire che l’inchiesta giornalistica attiene piuttosto al particolare, che non all’universale. Non sarebbe auspicabile che il romanzo si ibridasse con altre scritture, come quella d’inchiesta, se ciò coincidesse con una resa tout court della propria vocazione universale. Un terzo motivo del fraintendimento alla base della (mancata?) ricezione de I Buoni riguarda infine una percezione comune propria di questa nuova evoluzione culturale neorealistica, a cui è soggetta in particolar modo la readership non specialistica di testi di fiction. Si potrebbe chiamare, con un gioco di parole tra realism e reliability, REALiability effect. Per ‘realiability effect’ si intende una doppia fallacia: da una parte, la confusione tra realtà rappresentata nell’opera e realtà effettiva; dall’altra, la sovrapposizione tra attendibilità del narratore (in senso puramente letterario) e attendibilità dell’autore (in senso spesso del tutto extratestuale). La prima mancata distinzione tra i due diversi livelli di realtà è ciò da cui scaturisce quell’illusione referenziale che Rastello rimproverava ai suoi critici, per esempio. La seconda confusione tra le diverse accezioni di attendibilità è invece più sottile. È il segno dell’avvenuto ritorno di un subdolo principium auctoritatis per il quale si giudica un testo, in questo caso un romanzo, innanzitutto in virtù di chi lo scrive, prima ancora di ciò che vi è scritto. Questioni come quella del punto di vista del narratore o della sua affidabilità passano del tutto in secondo piano: narratore e autore coincidono, di fatto, nel can-can delle polemiche. Ne I Buoni, per esempio, se non fosse già lecito nutrire qualche dubbio nei confronti del narratore esterno, biblico e sentenzioso, dalle frasi talvolta sibilline e ambigue, occorrerebbe quantomeno riflettere sui motivi di tale scelta stilistica e sulle sue implicazioni per l’interpretazione del romanzo. Ad ogni modo, è anche a causa dell’equivoco tra narratore e autore che la polemica contro I Buoni diviene in primis una polemica contro Luca Rastello, il cui romanzo assume le forme, nelle polemiche dei suoi critici, della lettera biliosa di un ex dipendente ai suoi vecchi colleghi e datore di lavoro. Ciò che questi attacchi ad personam tradiscono è la volontà latente dei loro autori di focalizzare l’attenzione sulle contingenze dell’attualità per smarcarsi dalla provocazione e dal contenuto di verità generale de IB: […] l’attacco mosso a Rastello da personaggi pubblici come Giancarlo Caselli o Nando Dalla Chiesa va preso più sul serio. Ciò che essi avversano realmente è l’aspra verità additata nel romanzo: il peggior Male è quello che si compie in nome del Bene. In se stesso il Male è solo violenza sui corpi. Motivato col Bene infetta le coscienze. Non con don Ciotti, è con don Silvano che sono solidali. Identificano la libertà col Male e stanno

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ipso facto dalla parte del Grande Inquisitore di Dostoevskij quando fa arrestare Cristo tornato sulla terra: tu li vuoi liberi, ma gli uomini amano essere guidati.35

Occorre ripeterlo, se un realiability effect esiste, agisce innanzitutto su lettori quantomeno non troppo avvezzi alle sottigliezze della fiction. Anche se, a ben vedere, a finire in questa trappola sono figure del calibro di Nando dalla Chiesa e Giancarlo Caselli; fatto che invita a una certa cautela nell’intendere il realiability effect in modo troppo semplicistico o, meno che mai, classista. Se si accetta l’idea che una doppia sovrapposizione della realtà percepita sui mondi narrativi della fiction esista e che si sia accentuata negli ultimi due decenni, la si potrebbe in parte imputare a una felix culpa del nuovo realismo: ovvero quella di essere nato da poco e di mancare ancora di una sufficiente teorizzazione critica. Nel tentativo comune e sottoscrivibile di sottrarre l’ondata neorealistica alla presa della critica tematica e del contenutismo ingenuo, Raffaele Donnarumma36 e Alberto Casadei,37 tra gli altri, si preoccupano con successo di contrastare questi difetti di teoria. Tuttavia, una coerente e condivisa impostazione critica che indaghi a fondo i caratteri di novità del nuovo realismo, oltre che i debiti nei confronti del postmodernismo, al tempo stesso evitando gli scogli del realismo ingenuo di stampo tradizionale,38 è tuttora mancante. Preme infine sottolineare un paradosso, o piuttosto una compresenza effettiva di forze tra loro in parte dissonanti: da una parte si è teorizzato, con le migliori intenzioni dopo gli eccessi etico-estetici dell’epoca postmoderna,39 sulla rinascita di un realismo letterario e culturale emerso dopo l’undici settembre – la data che solitamente si riporta sulla pietra tombale del postmodernismo, un po’ arbitrariamente e un po’ per amore della spettacolarizzazione. A questo rinascimento del realismo corrispondono, per esempio, il ritorno di un interesse per l’attualità, la storia, la società, l’impegno in letteratura. Dall’altra parte, si trova poi un pubblico generalista e ormai assuefatto alle modalità comunicative della televisione e del web, generalmente meno abile nel cogliere i dettagli e le sottigliezze critiche proprie di un testo narrativo complesso che presenta diversi livelli di lettura. Preda di un’illusione referenziale, di un’utopia dell’immediatezza, è questo tipo di pubblico, al quale né l’industria editoriale né la critica letteraria possono e devono rinunciare, che rischia di scadere in isterie o facili giustizialismi quando un’opera complessa e provocatoria come I Buoni le viene presentata. Ed è in questo caso che il nuovo realismo corre il rischio di essere percepito, o di

35 36 37 38 39

Giglioli (2014). Donnarumma (2010); (2014). Casadei (2012). Benvenuti (2012), pp. 9–15. Cf. almeno Luperini (2005); Donnarumma (2014).

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divenire semplicemente poco più che una versione 2.0 del vecchio realismo ingenuo. Durante una presentazione de I Buoni e di Indagine sul ventennio di Enrico Deaglio nel 2014,40 Rastello suggeriva ai lettori di leggere il proprio romanzo in appendice a quello di Deaglio, affinché “nessuno si senta assolto”.41 Mentre Deaglio, “come un detective”,42 ricostruisce la storia del ventennio berlusconiano intendendola come “una specie di delitto”,43 ne I Buoni Rastello allude a complicità più vaste, sottili e scomode di quelle paventate in Indagine sul ventennio. Forse la funzione della pura fiction all’interno dell’ibridazione di generi e linguaggi del nuovo realismo può essere proprio questa: quella di ricordare al lettore che “i colpevoli siamo noi”,44 come scriveva Eco nelle “Postille al Nome della rosa” in tutt’altro contesto. In modo simile, apparentemente contro di sé, ma in definitiva per operare una critica in senso kantiano di sé, il nuovo realismo non deve insomma abbandonare la lezione di Roland Barthes45 e di tutto il post-strutturalismo. Non deve, cioè, dimenticarsi del demone originario del realismo, ovvero di quell’effetto di realtà che non è altro che abile trompe l’oeil; né deve omettere il fatto che vi è un’ideologia implicita nel realismo, che è sempre ideologia delle classi dominanti, che sole dettano crismi e confini di quello che si è soliti chiamare realtà. Non che l’ideologia sia un male di per sé; necessita però di una critica, di una verifica dei poteri. Come i Buoni.

Bibliografia Fonti primarie Rastello, Luca (2014a): I Buoni. Milano: Chiarelettere. [Citato sotto la sigla IB].

Fonti secondarie Barthes, Roland (1968): “L’Effet de réel”, in: Communications, 11, pp. 84–89. Benvenuti, Giuliana (2012): Il romanzo neostorico italiano. Storia, memoria, narrazione. Roma: Carocci.

40 41 42 43 44 45

Cf. Rastello e Deaglio (2014). Rastello in Ibidem. Deaglio in Ibidem. Ibidem. Eco (1983), p. 533. Barthes (1968).

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Caselli, Gian Carlo (2014): “Un romanzo cattivo per colpire I Buoni”, in: Il Fatto Quotidiano, 30. 03. 2014. Dalla Chiesa, Nando (2013): “Benvenuti al circo dell’antimafia”, in: Il Fatto Quotidiano, 21. 12. 2013. Dalla Chiesa, Nando (2014): “Per chi non ama I Buoni: un “gossip” che sbaglia obiettivo”, in: Il Fatto Quotidiano, 29. 03. 2014. Donnarumma, Raffaele (2010): “Storia, immaginario, letteratura: il terrorismo nella narrativa italiana (1969–2010)”, in: P. Cataldi (Ed.): Per Romano Luperini. Palermo: Palumbo, pp. 439–465. Donnarumma, Raffaele (2014). Ipermodernità. Dove va la narrativa contemporanea. Bologna: il mulino. Eco, Umberto (1983 [1980]): Il nome della rosa. Milano: Bompiani. Hitchens, Christopher (1995). The Missionary Position: Mother Theresa in Theory and Practice. London: Verso. Luperini, Romano (2005): La fine del postmoderno. Napoli: Guida. Rastello, Luca (2006): Piove all’insù. Torino: Bollati & Boringhieri. Rastello, Luca (2014b): “La mia verità su I Buoni”, in: Il Fatto Quotidiano, 01. 04. 2014. Rastello, Luca (2018): Dopodomani non ci sarà. Sull’esperienza delle cose ultime. Milano: Chiarelettere. E-book. Rossini, Stefania (2014): “Don Luigi Ciotti: ‘Antimafia? Una parola che va eliminata’”, in: L’Espresso, 28. 05. 2014. Simonetti, Gianluigi (2018): La letteratura circostante: narrativa e poesia nell’Italia contemporanea. Bologna: il Mulino. Sofri, Adriano (2014a): “Piccola posta”, in: Il Foglio, 25. 03. 2014. Sofri, Adriano (2014b): “La disputa sui buoni”, in: Il Foglio, 08. 04. 2014. Zaccuri, Alessandro (2014): “Nessuno tocchi Abele”, in: Avvenire, 30. 03. 2014.

Fonti internet Casadei, Alberto (2012): “Letteratura e realismo: questioni aperte”, disponibile online su: http://www.leparoleelecose.it/?p=3935 [Ultimo accesso il 15. 10. 2020]. Giglioli, Daniele (2014): “I Buoni di Luca Rastello”, disponibile online su: http://www.leparo leelecose.it/?p=15009 [Ultimo accesso il 15. 10. 2020]. Greppi, Carlo (2015): “I buoni siamo noi. L’eco delle parole di Luca Rastello”, 30. 07. 2015, disponibile online su: https://www.doppiozero.com/materiali/emozioni/i-buoni-siamo -noi [Ultimo accesso il 15. 10. 2020]. Rastello, Luca (2017a): “Luca Rastello, ‘I buoni’ – Una critica della solidarietà”, disponibile online su: https://www.youtube.com/watch?v=fFYdauZanS4&t=78s, caricato da QuiLeccoLibera [Ultimo accesso il 15. 10. 2020]. – (2017b): “Luca Rastello, ‘I buoni’ ̶ Il feticcio della legalità”, disponibile online su: https:// www.youtube.com/watch?v=7hxaNlP1jYo&t=8s, caricato da QuiLeccoLibera [Ultimo accesso il 15. 10. 2020].

Realismo inconveniente, fraintendimenti e ‘realiability effect’

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– (2017c): “Luca Rastello, ‘I buoni’ ̶ La relazione di aiuto”, disponibile online su: https:// www.youtube.com/watch?v=zKlA7zQ6t_A, caricato da QuiLeccoLibera [Ultimo accesso il 15. 10. 2020]. – (2017d): “Luca Rastello, ‘I buoni’ ̶ Le storie che ha senso raccontare”, disponibile online su: https://www.youtube.com/watch?v=BVAFlzEsHBQ&t=24s, caricato da QuiLeccoLibera [Ultimo accesso il 15. 10. 2020]. – (2017e): “Luca Rastello, ‘I buoni’ ̶ Storia, memoria, precisione”, disponibile online su: https://www.youtube.com/watch?v=as7ki9k6PxQ, caricato da QuiLeccoLibera [Ultimo accesso il 15. 10. 2020]. Rastello, Luca; Deaglio, Enrico (2014): “Deaglio e Rastello a Una Torre di libri 2014”, disponibile online su: https://www.youtube.com/watch?v=Of_2gtobhJY&t=474s, caricato da Radio Beckwith Evangelica [Ultimo accesso il 15. 10. 2020].

Cora Rok (Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg)

Reale Arbeitswelten, hyperreale Inszenierungen und inszenierter Realitätsverlust. Das Simulakrum ‚Callcenter‘ bei Michela Murgia und Paolo Virzì

In den ersten zwei Jahrzehnten des neuen Jahrtausends waren künstlerische Arbeitsrepräsentation in Italien wieder en vogue; angeknüpft wurde dabei einerseits an die literarische Tradition der 1950er und 1960er Jahre, in denen Autoren wie Volponi, Parise und Ottieri den ‚romanzo di fabbrica‘1 geprägt und neorealistische Filmemacher wie De Sica, Visconti und Olmi die Arbeiterklasse portraitiert hatten. Andererseits wurde verstärkt die post-fordistische, immaterielle Arbeitswelt in Szene gesetzt und den Folgen einer Prekarisierungswelle nachgespürt, die schließlich auch – ähnlich wie in anderen europäischen Ländern – die italienische Mittelschicht erreicht hat. Schlecht entlohnte, befristete, unqualifizierte (Übergangs-)Tätigkeiten, Ausbeutung, Arbeitslosigkeit, vor allem von jungen, zukunftsangstgeplagten Akademikern, plötzlicher Jobverlust im Alter, neoliberale Restrukturierungs- und Rationalisierungsmaßnahmen im Bereich des Personalmanagements sowie allgemein die Handlungs(un)möglichkeiten der sogenannten ‚Jobnomaden‘, aber auch grundsätzlichere Themen wie Mobbing am Arbeitsplatz bildeten wiederkehrende Motive. 2006 hatte das Thema ‚prekäre Arbeit‘ auf dem italienischen Buchmarkt Hochkonjunktur.2 Die Erzählungen, deren Inhalte mehrheitlich autobiographisch gefärbt sind oder auf Recherchen und Interviews mit Arbeitnehmern basieren und einen unmittelbaren Bezug zur gegenwärtigen Arbeitsmarktsituation in Italien aufweisen, können mehrheitlich der Literatur des ‚Neuen Realismus‘ zugeordnet werden, lässt sich bei ihnen vor allem eine Hybridisierung faktualer und fiktionaler Elemente nachweisen.3 Darüber hinaus verfolgen die Texte den Anspruch, als engagierte Literatur Wirkung zu erzeugen und nicht nur Empathie beim Leser 1 Vgl. Fulginiti (2011); Wessendorf (2015). 2 Zu der Entwicklung der neuen Arbeitsliteratur, ihren thematischen Schwerpunkten, stilistischen Besonderheiten, Funktionen und gesellschaftlichen Hintergründen vgl. Rok (2021), Kapitel 2. 3 Vgl. die Diskussion zu diesem Aspekt im Aufsatz von Klinkert und Rivoletti in diesem Band. Zum Thema ‚Neuer Realismus‘ und zeitgenössische Arbeitsrepräsentationen vgl. Chirumbolo (2013), S. 28.

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durch das Erzählen ‚wahrer‘ Geschichten zu wecken,4 sondern auch politisch etwas in Bewegung zu setzen, indem auf Missstände hingedeutet wird. Der folgende Aufsatz nimmt ein exemplarisches Werk der neuen Arbeitsliteratur, Michela Murgias Callcenter-Sachbericht Il mondo deve sapere von 2006, als Ausgangspunkt, um über Momente der Derealisation in der zeitgenössischen Arbeitswelt und deren realistische Darstellung zu reflektieren und in einem nächsten Schritt durch den Vergleich mit Paolo Virzìs filmischer Adaption des Texts auf eine spezifische Problematik der Repräsentation ‚realer‘ Arbeitswelten zu verweisen.

1.

„Mi fingo del gregge.“ – Murgias Insiderbericht5

Lässt der aufklärerische Titel von Il mondo deve sapere auf eine Aufdeckungsreportage hoffen, suggeriert wiederum der Untertitel „Romanzo tragicomico di una telefonista precaria“, dass dem Leser kein spröder, auf reinen Fakten basierender Sachtext, sondern eine dramatisierte Erzählung geboten wird.6 Murgia, die nach dem Studium der Theologie in einem Callcenter zu arbeiten begann, wo sie für die Vereinbarung von Terminen zur Vorführung von Luxus-Staubsaugern im Heimbereich zuständig war, hatte ihre Erfahrungen in einem Internetblog festgehalten, der nach Erscheinen des Buchs geschlossen wurde, sodass sich mögliche Änderungen nicht mehr nachvollziehen lassen. Murgia selbst spricht aber von einer „richiesta inattesa di farne un libro senza cambiare una virgola del blog“7. Die hybride Form des Textes, der mit seinen knapp 50 kurzen Eintragungen auch Tagebuchformat besitzt, unterstützt die Glaubwürdigkeit der Aussage; es gibt keinen plot und keine Dramaturgie, in einigen Kapiteln finden sich sogar noch explizite Reaktionen auf Kommentare der Blogleser. Murgias Schreibstil zeichnet sich durch ein informelles sprachliches Register, Jugendjargon und Oralität, Anspielungen auf Comics, Werbung, Filme, Fachvokabular (bspw. aus der Theologie „transustanziazione“8) und vor allem verballhornende Neologismen (bspw. die Komposition zwischen „appuntamento“ und „puttana“ „appputtanamento“9) aus. Indem Murgia als erzählendes Ich eine ironische Distanz zum erlebenden Ich einnimmt, tritt sie zugleich als betroffene „testi-

4 Vgl. Donnarumma (2010), S. 49; Chirumbolo (2014), S. 288. 5 Der folgende Abschnitt greift die Analyse aus Rok (2021), Kapitel 4 auf. 6 Nicht auszuschließen ist, dass sich der Verlag höhere Verkaufszahlen durch das Labeling als „romanzo“ versprochen hat. 7 Murgia zitiert nach mariagiovana (2008). 8 Murgia (2010), S. 8. 9 Ebd., S. 102.

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mone“10 und reflektierende Kommentatorin auf,11 wobei der ironische und zuweilen auch sarkastische Tonfall als „voce della rabbia“ und „sfiato alla mia indignazione, altrimenti patogena“12, wie Murgia im Nachwort beteuert, gewertet werden darf. Mit ihrem lakonisch-saloppen Ausdruck kontrastiert sie die Maskerade der emotionalen Konfektionssprache des Telemarketings und parodiert u. a. die Konversationsstruktur zwischen Telefonistinnen und angerufenen Hausfrauen, die je nach Grad der Empfänglichkeit für die Verkaufsrhetorik „Signora Topolina“, „Signora Importunis“, „Signora Ingenius“ oder „Signora Rompicazzis“ genannt werden. Die Naivität ihrer Kolleginnen, die sich selbst die Schuld für den geringen Lohn zuschreiben und angesichts der Motivations- und Disziplinierungsmethoden der Vorgesetzten in verzweifelten Leistungs- und Konkurrenzdruck geraten, wird durch Spitznamen wie „Candida“, „Peggy Sue“ oder „Rosina“ unterstrichen. Bereits auf der ersten Seite wird die Haltung der Ich-Erzählerin, die sich selbst im Text Camilla de Camillis nennt, deutlich: Ho iniziato a lavorare in un call center. Quei lavori disperati che ti vergogni a dire agli amici. […] Ho saputo subito che era il callcenter che cercavo, quello dove avrei potuto davvero divertirmi. Non l’innocente sorriso del bambino davanti alla farfallina. Direi piuttosto il sadico sorriso del bambino mentre con uno spillone fissa la farfallina al pezzetto di sughero per iniettarle la formalina. Mentre è ancora viva, ovviamente.13

Die berufliche Sackgasse, für die sich Murgia schämt, münzt sie zum soziologischen Experiment um, indem sie als vivisektierende „Entomologin“14 auftritt. Durch die distanzierte Perspektive werden die erfahrenen Demütigungen kanalisiert, der Minderwertigkeitskomplex verarbeitet und Resilienz aufgebaut. Nicht nur grenzt sich die Ich-Erzählerin von den leicht beeinflussbaren Kolleginnen ab, „[…] un sottovaso ha più personalità di queste ragazze, povere loro. Mi fingo del gregge. Sarà bellissimo“15, scharfzüngig kommentiert sie auch die – für eine Akademikerin – leicht durchschaubare Personalführung der Supervisorin: „Si sente donnamanager, lo vedo da come si muove. Ha la terza media, ci scommetto. Questo mondo le ha dato l’opportunità di sentirsi qualcosa.“16 Der

10 Zur Bedeutung der „testimonianza“ in neuen realistischen Erzählungen vgl. Donnarumma (2008), S. 39 und Chirumbolo (2010), S. 270. 11 Auch Paolo Chirumbolo sieht in der „emotività“ der subjektiven Narration sowie der „imparzialità“ des objektiven Teils der Narration eine Garantie für die Glaubwürdigkeit des Textes. Vgl. Chirumbolo (2013), S. 65. 12 Murgia (2010), S. 135. 13 Ebd., S. 7. 14 Vgl. Chirumbolo (2013), S. 65. 15 Murgia (2010), S. 9. 16 Ebd., S. 14.

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Text ließe sich (auch wenn die Namensgleichheit nicht besteht) im Sinne Doubrovskys als Autofiktion lesen, die dazu dient, einen „Mangel (an Substanz, an Berühmtheit) auszugleichen“17, frei nach dem Prinzip: „Mein verfehltes Leben wird ein literarischer Erfolg werden.“18 Murgia selbst stilisiert sich als heldenhafte Prophetin, die auf den richtigen Moment wartet, um die einfältige Herde zu einem Exodus aus der Knechtschaft zu führen, „[…] io le salverò, ma non lo sanno ancora“19, doch eine subversive Aktion bleibt aus; Murgia kündigt nach einem Monat, womit der Bericht ein abruptes Ende findet.

2.

Il Grande Fratello is watching you – Virzìs Märchen vom Panopticon

Paolo Virzì erweitert nun für seine Adaption Murgias Text um einen plot und einen Spannungsbogen, fügt Charaktere hinzu und gibt den durch ihre Spitznamen als Stereotypen auftretenden Figuren der Supervisorin und des Chefs Tiefe. Erzählt wird die Geschichte des Ab- und Aufstiegs der intelligenten, sanftmütigen und authentischen Philosophieabsolventin Marta, die nach ernüchternden Bemühungen um eine adäquate Stelle, gezwungen zu einem Job als Babysitterin und Callcenter-Telefonistin, schließlich doch mit einem philosophischen Artikel beim Oxford Journal reüssieren kann.20 Indem Virzì die autodiegetische Erzählerin Murgia durch eine extradiegetische, in einem Voice-over zu hörende weibliche Erzählstimme ersetzt, entbindet er die Protagonistin von ihrer Funktion als ‚testimone‘ und Garantin der ‚Wahrheit‘ und verleiht der vormals dokumentarisch konzipierten Darstellung einen fiktionalen Charakter, der durch den versöhnlichen Tonfall der Erzählstimme, der dem einer Märchenerzählerin ähnelt, noch verstärkt wird.21 Sorgt Murgia zwar für die Enthüllung der Beschaffenheit neoliberaler Unternehmensstrukturen und des Einsatzes manipulativer Marketingstrategien und führt ihren Lesern die entfremdenden Arbeitsbedingungen vor Augen, entpuppen sich die innerdiegetisch verkündeten vagen Kampfansagen und der Wille, für Gerechtigkeit zu sorgen, schließlich als

17 Doubrovsky (2004), S. 119. 18 Ebd. Laura Nieddu erinnert in ihrem Artikel an die neuesten Studien zum Verhältnis von Blogs und Autobiographie, der Begriff ‚Autofiktion‘, fällt bei ihr aber nicht. Vgl. Nieddu (2010), S. 282. Vgl. Lejeune / Bogaert (2006). 19 Murgia (2010), S. 13. 20 Vgl. Virzì (2008). Der Film ist als DVD auf dem deutschen Markt erschienen unter dem Titel Das ganze Leben liegt vor dir (2010). Die folgenden Timecode-Angaben beziehen sich auf diese DVD-Ausgabe. 21 Laut Nieddu finden sich im Film alle Schlüsselfiguren eines Märchens, vgl. Nieddu (2010), S. 290.

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heiße Luft; Murgia verbirgt vor sich selbst die Tatsache, dass sie nicht weiß, wie ein ‚Gegenschlag‘ – jenseits des Schreibens – überhaupt aussehen könnte. Virzì wiederum lässt seine Protagonistin erst gar nicht in die Zwickmühle treten, sich verantworten zu müssen: Während Marta durch ihre Erfahrung im Unterschichtenmilieu zu einer Erkenntnistheorie inspiriert wird, sie also weiterhin an ihren eigenen Zukunftsplänen, ihrem Ziel, in der Wissenschaft zu bleiben, arbeitet,22 erfüllt die Figur des Gewerkschaftlers Giorgio, dem Marta ihre Erfahrungen schildert, die Funktion der Vermittlung der Callcenter-Realität in den öffentlichen Diskurs. Giorgio ist darum bemüht, die Telefonistinnen über ihre Rechte aufzuklären, die an Protest aber nicht interessiert sind. Sein Wissen über die Callcenter-Interna nutzt er, um ein Theaterstück über Callcenter-Telefonistinnen auf die Beine zu stellen – eine Art mise-en-abyme – und die Gesellschaft für die Problematik zu sensibilisieren. Nach Giorgios öffentlicher Kritik, ist der Ruf der Firma ruiniert, was sich zulasten der Telefonistinnen auswirkt, die das zu verkaufende Produkt nicht mehr an den Mann bringen können. Auch Martas Mitbewohnerin, die verdächtigt wird, mit Giorgio kollaboriert zu haben, wird entlassen und driftet in die Prostitution. Virzì zeigt die Kehrseite der Gewerkschaftskämpfe wie sie auch schon in Elio Petris La classe operaia (1971) thematisiert wurde, wo die ’68er Studenten einen Arbeiteraufstand anstacheln und letztlich für die Entlassung des Protagonisten Lulùs mitverantwortlich sind (und diesen dann am Ende hängen lassen).23 Martas harsche Aussage, die Mädchen hätten ihre einzige Chance verloren, eine halbwegs erträgliche Tätigkeit gemäß ihrer Bildung auszuüben, steht für Virzìs deutliche Botschaft, die bei Murgia nur implizit mitschwingt, dass nur noch die Gebildeten ‚das ganze Leben‘ vor sich haben und zwischen akademischem Prekariat und Proletariat eine entscheidende Differenz besteht. In seinem Arbeiterfilm tendierte Petri zu einer überpointierten Bildästhetik und inszenierte das Stereotyp einer Fabrik – eine gefängnisartige Anlage, in die die Arbeiter wie Soldaten hineinmarschieren und zwischen Maschinenlärm und Gebrüll ihre monotone Arbeit verrichten. Er verzerrte und fragmentierte durch Zooms, Details (Schweißperlen auf Lulùs Gesicht) und den Gebrauch der Handkamera das durchaus realistische Ambiente (Drehort war ein reales Fabrikgelände) und verstärkte über die ästhetische Form die dargestellte Entfremdung. Virzìs Callcenter erscheint dagegen hyperrealistisch im Sinne Baudrillards, nach dem die Wirklichkeit als bloßes Mediensimulakrum wahrge22 Nieddu (2010) spricht von Marta als „estranea“ (S. 285). Diese Art der Entfremdung ist in dem Fall positiv zu bewerten, da sich Marta durch ihre innere Distanziertheit vor Indoktrination bewahrt. 23 Es finden sich einige Parallelen zwischen Petris und Virzìs Filmen. So sind bspw. die Sexszenen im Auto ähnlich; in beiden Fällen erscheint es, als hätten die Akteure vielmehr Verkehr mit den Armaturen der Maschine.

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nommen werde, wobei dem Abbild kein tatsächlich existierendes Modell zugrunde liegt, es also nur Realität simuliert24: Nicht nur arbeiten in dem Großraumbüro ausschließlich freundliche, immer lächelnde, sexy, junge Frauen – ein Klischeebild, das Murgias Beschreibung ihrer Kolleginnen in der Textvorlage widerspricht25 – Virzì gestaltet den Raum als stylishes Panopticon26 und lässt die Supervisorin von einer runden Theke in der Mitte des Raums aus die Telefonistinnen, die an kreisförmig angelegten Einzeltischen mit gläsernen Trennwänden sitzen, überwachen (Abb. 1).

Abb. 1: Virzì, TC: 0:16:42: Nicht nur die Supervisorin überwacht, die Telefonistinnen sehen selbst, wer produktiver arbeitet.

Obwohl Murgia das Ambiente, in dem die Telefonistinnen arbeiten, nicht in der Optik eines modernen Mega-Konzerns portraitiert hat – „L’ufficio è piccolissimo, le postazioni di combattimento sono la metà di un banco di scuola, divise da un pezzo di compensato“27 – und somit die Referenz auf ein real existierendes Unternehmen verloren geht, ist das hyperreale Moment bei Murgia jedoch schon angelegt: Die Beschreibung des Staubsaugers, der vertrieben wird, gilt statt dem funktionalen Gebrauchswert vielmehr dem symbolischen Tauschwert, so wird beispielsweise damit geworben, dass das Produkt 70 verschiedene Funktionen, 24 Vgl. Baudrillard (1978). 25 Murgia gebraucht für ihre Kolleginnen Bezeichnungen wie u. a. „buldozer-telefoniste“, „cenerentole“, „telefoniste-rambo“, „tele-terminator“. 26 Vgl. die Analysen zur Disziplinargesellschaft bei Foucault (1975), der Fabrikanlagen, Schulen, Kasernen, Krankenhäuser und Gefängnisse als Beispiele für panoptische Gebäudekonstruktionen nach dem Modell Jeremy Benthams nennt. Das moderne, gläserne Unternehmen dürfte heute dazu gezählt werden. 27 Murgia (2010), S. 6.

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darunter Massagen oder Tierhygiene, sowie einen ‚Nasa-Schein‘ vorweisen kann, was den technischen Fortschritt des Geräts betont. Dieses entpuppt sich jedoch bei Gebrauch – wie Murgia später aufdeckt – als lärmendes Ungetüm.28 Die Illustration der Sozialdisziplinierung durch die panoptische Architektur erscheint darüber hinaus legitim, da sich das panoptische Motiv auch bei Murgia in der Beschreibung der Überwachungskameras findet, die am Arbeitscomputer jeder Telefonistin angebracht sind und die Qualität der Verhandlungsgespräche sichern sollen: Saremo le star del loro personale reality show. George Orwell era un ottimista. Se chiacchieriamo, lo sapranno. Se ci infiliamo le dita nel naso, non sarà più una pruriginosa pratica intima. […] Il pupillo trasmette anche l’audio. Non sarà più consentita la minima debolezza, la minima distrazione, il minimo cedimento. […] Benvenuti al grande Fratello.29

Virzì inszeniert die Kameraobservierung zwar auch, setzt die Anspielung auf George Orwells 1984 aber noch auf eine andere Weise um, indem er seine Figuren die Sendung Grande Fratello (Big Brother) schauen lässt. Hergestellt wird damit eine Verbindung zwischen der Dramaturgie der Fernseh-Show, in der Kandidaten um den Verbleib in einem Wohncontainer und letztlich um ein hohes Preisgeld konkurrieren, dabei aber ausgeleuchtet, bewertet und vorgeführt werden, und der Unternehmenskultur, die mit morgendlichen Motivations-Tänzen, Siegerehrungen und demonstrativen Entlassungen den Arbeitsalltag als eventartigen Wettkampf inszeniert.30 Die Supervisorin, die Marta zu sich nach Hause einlädt, lässt nicht nur in allen Räumen die Live-Sendung laufen (Abb. 2), im Wohnzimmer findet sich darüber hinaus auch ein Bildschirm, auf dem wechselnde Fotos von ihr selbst zu sehen sind (Abb. 3), was die Verschränkung zwischen mediatisierter Selbstwahrnehmung und Narzissmus, der Sphären des Privaten und Öffentlichen sowie zwischen Realität und Fiktion aufzeigt.

28 Vgl. ebd., S. 17. Vgl. auch die Gesprächssimulationen auf S. 53. 29 Ebd., S. 58. 30 Auch Nieddu (2010) erwähnt die „voci invisibili, sia attraverso sms, sia attraverso cartelli motivazionali“, die „costante supervisione“ und „umiliazione pubblica“ (S. 288–289).

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Abb. 2: Virzì, TC: 0:58:40: Point-of-View der Supervisorin: Marta neben dem Fernsehbildschirm, auf dem die Sendung Grande Fratello übertragen wird.

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Abb. 3: Virzì, TC: 0:58:42: Reverse-over-theshoulder shot: Auf dem gegenüberliegenden Bildschirm werden Fotos der Gastgeberin gezeigt.

Während bei Murgia die Supervisorin Hermann, deren Spitzname auf ihren disziplinarischen Führungsstil anspielt, und der Chef BillGheiz, dessen Spitzname sowohl an den Namen des Microsoft-Gründers als auch an das deutsche Wort ‚Geiz‘ erinnert, noch für Ausbeutung, Leistungsdruck und Psychoterror verantwortlich gemacht werden – „Sono un’associazione a delinquere e lo vedo solo io“31 – werden die Feindbilder bei Virzì brüchig, zunächst, da die Figur der Anklägerin fehlt, und darüber hinaus, weil die ‚Täter‘ auch in Opferrollen auftreten, bspw. indem sie als unglückliche Privatperson portraitiert werden. Virzì demonstriert damit, dass die höheren und leitenden Angestellten ebenfalls in einen Verblendungszusammenhang verstrickt sind. So führt schließlich auch der fehlende Realitätssinn und Liebeswahn der Supervisorin dazu, dass sie den Chef des Callcenters, mit dem sie eine Affäre hatte, der sich aber niemals auf eine ernsthafte Beziehung mit ihr hat einlassen wollen, sondern um den harmonischen Kontakt mit seiner Ex-Frau und den Kindern bangt, umbringt. Als sie in Handschellen aus dem Callcenter geführt wird und den Telefonistinnen noch letzte Arbeitsanweisungen gibt, genießt sie es, sich als „Star“32 im Auge der Pressekamera zu wähnen (Abb. 4). Während es Murgia u. a. darum ging, den prekären Bereich eines konkreten neoliberalen Unternehmenstyps, dem des Callcenters, zu dokumentieren, dehnt Virzì die Perspektive auf eine gesamtgesellschaftliche Entfremdung aus und sucht nach ihren Gründen in der Gesellschaft des Spektakels, bzw. des Simulak31 Murgia (2010), S. 15. 32 Guy Debord hatte bereits 1967 die mediatisierte Gesellschaft des Spektakels beschrieben, in der das Reale durch das Repräsentierte ersetzt werde und Konsum und Starkult für Enttäuschungen kompensiere, vgl. Debord (1996). In Baudrillards Simulationstheorie werden Debords Gedanken zugespitzt. In Agonie des Realen finden sich Anmerkungen zum RealityTV und zur „Auflösung des Fernsehens im Leben, Auflösung des Lebens im Fernsehen“ (S. 49). In einer Szene, in der Martas Studienkollegen über die Möglichkeiten philosophieren, die Sendung Big Brother zu analysieren, fallen die Namen McLuhan und Benjamin, mit deren Theorien ebenfalls über die Medienrealität reflektiert werden kann.

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Abb. 4: Virzì, TC: 1:43:14: Handkamera-Optik: Sehen und gesehen werden – die Supervisorin nun selbst vor der Kamera.

rums, in der der Schein das Sein ersetzt und die mediatisierte Realität als das Reale wahrgenommen wird. Hier jedoch ist auch eine Parallele in der platonischen Weltanschauung33 der beiden Protagonistinnen zu finden: Während Camilla glaubt, sie selbst könne, die „gregge“ aus der Höhle führen („io le salverò“), unterliegt die Akademiker-Protagonistin Marta noch viel stärker ihren idealistischen Illusionen; sie kennt die Schwierigkeiten des Erwerbslebens noch nicht und stellt sich Arbeit – wie in einer traumartigen Anfangsszene des Films dargestellt wird – als eine vergnügliche Angelegenheit vor. Anhand von Schattenspielen erklärt Marta dem Big-Brother-süchtigen Mädchen Lara, auf das sie aufpasst (Abb. 5), Platons Höhlengleichnis (Abb. 6). Doch eine Wirklichkeit jenseits der perfiden Arbeits- und tristen Lebenswelt scheint es gar nicht zu geben: Virzì implementiert das Schattenmotiv später in die Fernsehbilder und demaskiert so die Referenzlosigkeit der Simulationen, die als treue Abbilder der Realität kontempliert werden (Abb. 7 und 8). Weder die ‚Philosophin‘, noch der Gewerkschaftler können die Erleuchtung bringen. Gefruchtet hat die Pädagogik Martas einzig bei Lara, die am Ende des Films äußert, dass sie gerne einmal Philosophie studieren würde.

33 Vgl. Nieddu (2010), S. 289.

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Abb. 5: Virzì, TC: 0:26:35: Marta beim Baby- Abb. 6: Virzì, TC: 0:27:39: Platons HöhlenSitting. das Kind schaut die Sendung Grande gleichnis als Gutenachtgeschichte. Fratello.

Abb. 7: Virzì, TC: 1:29:05: Mise-en-abyme Abb. 8: Virzì, TC: 1:29:08: Bei der Enttarnung – Schattenspiele im Fernsehen. des Schattenmonsters guckt die junge Zuschauerin allerdings nicht genau hin.

3.

Subjektiv-kritischer Realismus vs. Multiperspektivität als moralische Botschaft?

Indem Virzì ein fiktionales, geschlossenes Narrativ präsentiert, kann er, im Gegensatz zur lediglich Bericht erstattenden Murgia, zu einer Konklusion kommen und ein versöhnliches Ende setzen: In der letzten Szene sitzen Marta, ihre Mitbewohnerin, deren Tochter Lara und eine alte Frau zusammen im Garten und essen gemeinsam. Marta hat die Großmutter des Mädchens ausfindig gemacht, dessen Schicksal sie so sehr berührt hat, hatte sie sich in so jungen Jahren aufgrund der hoffnungslosen Situation, keine Arbeit finden zu können, das Leben genommen. Die Kamera, die die Szene aus der Vogelperspektive filmt, entfernt sich langsam und zoomt, begleitet von den Schlussworten der Erzählerin, hinaus; die drei Frauen und das Mädchen werden einem ungewissen Schicksal überlassen, jedoch das individuelle Leid, das aus derselben gesellschaftlichen Notlage des unsicheren Arbeitsmarkts geboren wurde, schweißt die unterschiedlichen Perspektiven, die Schichten und Generationen zusammen, Gemeinschaft, Zusammenhalt und Fürsorge sind die Werte, die am Ende zählen.

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Es lässt sich resümieren, dass Murgias Callcenter-Bericht durchaus als exemplarisches Beispiel für die Literatur des ‚Neuen Realismus‘ gelesen werden kann, liefert die Ich-Erzählerin, die als glaubwürdige Augenzeugin auftritt, nicht bloß eine realistische Darstellung zeitgenössischer Unternehmensabläufe, sondern einen Erfahrungsbericht, der ‚wahre‘ Begebenheiten zu dokumentieren sucht, die Simulakren der Arbeitswelt aufdeckt und eine kritische Positionierung zu denen, die den hyperrealen Apparat am Leben halten, möglich macht.34 Virzì eignet sich schließlich das Rohmaterial an, verändert aber die Wirkungsweise.35 Die Intention der Autorin, die „rabbia“36, die sich in der stilbestimmenden Subjektivität der IchErzählerin ausdrückt, wird durch die extradiegetische Perspektive nicht transportiert. Indem Virzì den Fokus auf den gesamtgesellschaftlichen medienverursachten Verblendungszusammenhang lenkt, problematisiert er die Position des wahrnehmenden und urteilenden Subjekts, das die Realität nicht unbedingt zu erfassen imstande ist. Jedoch interessiert Virzì auch nicht so sehr die (statistische, faktenbasierte) Dokumentation der Realität; es gibt zwar viele Akademiker, die im Callcenter arbeiten, und es gibt einige, die den Weg in eine angemessene, sichere und stabile berufliche Position schaffen, es gibt jedoch wenige, die sich gleich mit ihrem ersten Artikel beim Oxford Journal profilieren und noch dazu ein vom Fernsehen erzogenes, vernachlässigtes Kind zum Philosophie-Studium inspirieren können. Darüber hinaus ist zwar nicht auszuschließen, dass im Leben eines Menschen wie bei Marta mehrere Schicksalsschläge – die Trennung vom Freund, die Arbeitslosigkeit und der Tod der Mutter – zusammenfallen können, bei Virzì allerdings droht die Ballung dieser Ereignisse zu unrealistischem Kitsch zu verkommen, wäre da nicht das höhere Ziel seiner überkandidelten, tragikomischen Dramaturgie: Die Komplexität zu erhöhen, eine Schwarz-Weiß-Malerei zu untergraben, um dann letztlich zu einer ganz einfachen Botschaft zu gelangen, nämlich der des Miteinander-Sprechens – im Sinne Arendts, die neben Heidegger den wissenschaftlichen Duktus der Protagonistin bestimmt – und das findet nicht auf der großen politischen Bühne statt. 34 Nieddu verweist auf ein Interview mit dem Chefmanager des Unternehmens Kirby, Domenico Rizzi, in dessen sardischer Zweigstelle Murgia gearbeitet hatte: Rizzi wehrt sich gegen die verleumderischen Aussagen Murgias, bestätigt aber zugleich die „veridicità di alcune delle sue affermazioni“ (wie z. B. die Motivationstänze). Eine im Auftrag der Firma eingeschaltete Anwaltskanzlei hatte eine Präsentation des Buches „per i suoi contenuti gravemente inventieri e diffamatori“ verhindern wollen. Vgl. Nieddu, „La caverna del call center raccontata dall’interno“, S. 282. Ärgeren Rechtsstreitigkeiten hat sich Günter Walraff durch seine Aufdeckungsreportagen aussetzen müssen. 35 Ein Vergleich mit der Verfilmung von Frédéric Beigbeders 2000 erschienenem Roman 99 francs durch Jan Kounen im Jahr 2007 bietet sich an: In dem ‚Beichtbericht‘ des Werbetexters, der die Vermarktung von Scheinwelten satt hat, wird ebenfalls das Verhältnis Realität/Hyperrealität thematisiert. Vgl. hierzu die Analyse in Rok (2020). 36 Dies bestätigt die Autorin in einem Interview: „Credo che la sostanziale differenza non sia nelle scene, ma nella cifra stilistica.“ Murgia zitiert nach Manconi (2008), o.S.

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Primärwerke Murgia, Michela (2010), Il mondo deve sapere, Milano: ISBN Edizioni. Virzì, Paolo (2008), Tutta la vita davanti, Medusa Film, Motorino Amaranto. Virzì, Paolo (2010), Das ganze Leben liegt vor dir, EuroVideo Medien GmbH, movienet Film GmbH.

Sekundärliteratur Baudrillard, Jean (1978), Agonie des Realen, Berlin: Merve. Chirumbolo, Paolo (2010), „L’incertezza continua: l’Italia del lavoro vista da Andrea Bajani“, in: Silvia Contarini (Hg.), Narrativa n. 31/32, Letteratura e azienda. Rappresentazioni letterarie dell’economia e del lavoro nell’Italia degli anni 2000, Paris Nanterre, S. 269–279. Chirumbolo, Paolo (2013), Letteratura e lavoro, Soveria Mannelli: Rubbettino Editore. Chirumbolo, Paolo (2014), „Il maleppeggio: cronache dell’Italia del lavoro degli anni duemila“, in: Annali d’Italianistica, Nr. 32, S. 275–290. Debord, Guy (1996), Gesellschaft des Spektakels, Berlin: Edition Tiamat. Donnarumma, Raffaele (2008), „Nuovi realismi e persistenze postmoderne: narratori italiani di oggi“, in: Allegoria, Nr. 57, S. 26–54. Doubrovsky, Serge (2004), „Nah am Text“, in: ders., Autobiographie revisited, hg. von Alfonso de Toro u. a., Hildesheim u. a.: Olms Verlag. Foucault, Michel (1975), Überwachen und Strafen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Fulginiti, Valentina (2011), „Senza voce. La letteratura della crisi negli anni Duemila“, in: Su la testa, Nr. 14, S. 14–19. Nieddu, Laura (2010), „Il mondo deve sapere che ci resta Tutta la vita davanti. La caverna del call center raccontata dall’interno“, in: Silvia Contarini (Hg.), Narrativa n. 31/32, Letteratura e azienda. Rappresentazioni letterarie dell’economia e del lavoro nell’Italia degli anni 2000, Paris Nanterre, S. 281–292. Lejeune, Philippe / Catherine Bogaert (2006), Le journal intime: Histoire et anthologie, Paris: Le Seuil. Rok, Cora (2020), „‚Survival of the fittest‘ – Akteure der neuen Arbeitswelt zwischen Konformismus und Widerstand in aktuellen literarischen und filmischen Inszenierungen“, in: Christoph Lorke, Rüdiger Schmidt (Hg.), Der Zusammenbruch der alten Ordnung? Die Krise der Sozialen Marktwirtschaft und der neue Kapitalismus in Deutschland und Europa, Stuttgart: Franz-Steiner-Verlag, S. 381–403. Rok, Cora (2021): Entfremdung in der Arbeitswelt des 21. Jahrhunderts und ihre Darstellung in der italienischen Gegenwartsliteratur, Göttingen: V&R. Wessendorf, Stephan (2015), Der Ich-Erzähler im italienischen Romanzo di fabbrica: eine narratologische Untersuchung, Würzburg: Königshausen & Neumann.

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Internetquellen Manconi, Alessandra (2008), „Tutto il mondo di Murgia“, Interview mit Michela Murgia, http://www.cinemecum.it/newsite/index.php?option=com_content&view=article&id =901:tutto-il-mondo-di-murgia&catid=62&Itemid=282 (zuletzt abgerufen am 31. 8. 2021). Mariagiovana (2008), „Dal libro di Michela Murgia il nuovo film di Virzì“, http://www.fan zinarte.com/teatro/dal-libro-di-michela-murgia-il-nuovo-film-di-virzi/ (zuletzt abgerufen am 31. 8. 2021).

Filippo Gobbo (Università di Pisa / Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg)

Cronaca, realtà storica e romanzesco: il paradigma indiziario in tre opere di Enrico Deaglio

1.

Introduzione

Il ritorno alla realtà nella letteratura italiana contemporanea è un fenomeno ormai dato per assodato. Sia sul versante della fiction che su quello della non fiction, si è registrata a partire dalla seconda metà degli anni Zero – soprattutto dal successo di Gomorra (2006) di Roberto Saviano – una progressiva attenzione per la realtà storico-sociale che ha investito anche le forme di rappresentazione, come dimostrano da una parte la riscoperta di stilemi realisti (e in alcuni casi modernisti), dall’altra una progressiva contiguità con i modi tipici della ricostruzione giornalistica e documentaria.1 Benché questa prossimità sia stata notata da più parti, l’interesse critico è stato indirizzato soprattutto verso scrittori e scrittrici di professione che si sono progressivamente avvicinati agli ambiti propri del linguaggio giornalistico, cronachistico e documentaristico (i cosiddetti ‘scrittori-giornalisti’, ossia scrittori di professione che si sono messi alla prova anche con le forme dell’inchiesta e dei resoconti fattuali). Tuttavia, sull’altro versante critico, quello dei ‘giornalisti-scrittori’, l’attenzione critica sembra essere di gran lunga minore al di là di alcuni casi sporadici.2 Un punto di interesse credo sia quindi quello di provare a rispondere a una questione che formulerei come segue: quali sono le strategie narrative e saggistiche cui ricorrono oggi i giornalisti-scrittori e quali posture adottano per rappresentare la realtà? Un interrogativo che non può essere evidentemente 1 Difficile riassumere in questa sede le numerose monografie, inchieste e volumi collettanei dedicati al tema. Mi limito agli studi fondamentali dove viene presa in considerazione soprattutto la letteratura italiana contemporanea: Casadei (2007); Wu Ming (2009); Ricciardi (2011); Palumbo Mosca (2014); Donnarumma (2014); Simonetti (2018); Marchese (2019). 2 Ricordo qui la panoramica proposta da Bertoni (2009) e quella più recente presente in Marchese (2019), dove opere non finzionali di giornalisti-scrittori (Rastello e Leogrande) vengono affrontate assieme a quelle di scrittori di professione. Oltre a questi, ricordo, in particolare l’introduzione di Milanesi e Barrientos Tecùn a “Territoires de la non fiction”, trentottesimo numero della rivista “Cahiers d’études romanes” (2019).

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risolto nelle prossime pagine e che necessita di alcune precisazioni e delimitazioni di campo prima di essere affrontato. La prima interessa la categoria di giornalistiscrittori, locuzione con cui intendo indicare una famiglia di giornalisti affermati che scrivono e pubblicano opere, reportage, inchieste o scritti latamente non finzionali, avventurandosi talvolta nei territori propri della fiction.3 La seconda precisazione si lega alla prima: dal momento che questa famiglia è tipologicamente variegata al suo interno, l’autore dei testi che andrò ad analizzare, Enrico Deaglio, può essere considerato solo in minima parte esemplificativo. L’ultima puntualizzazione interessa il concetto stesso di ‘realtà’: al sostantivo dovrà necessariamente essere aggiunto l’aggettivo ‘storica’ dal momento che a essere presi in considerazione saranno solo testi in cui l’intenzione autoriale è quella di presentare uno o più eventi del passato storico nazionale. Uso ‘realtà storica’, dunque, per sottolineare fin da subito un problema epistemologico ulteriore. Storia vera e terribile tra Sicilia e America (2015), La zia Irene e l’anarchico Tresca (2018) e Patria 1978–2010 (2010), le opere di cui proporrò una breve analisi, si collocano tutte sotto il segno dell’intenzionalità storica.4 Come afferma Ricœur: A differenza del patto fra un autore e un lettore di finzione, che riposa sulla duplice convenzione di sospendere l’aspettativa di qualsiasi descrizione di una realtà extralinguistica e, di contro, di favorire l’interesse del lettore, l’autore e il lettore di un testo storico convengono che verranno trattati situazioni, avvenimenti, concatenamenti, personaggi che sono realmente esistiti in precedenza, vale a dire prima che ne sia fatto il racconto, laddove l’interesse o il piacere della lettura vengono quasi in aggiunta.5

Tuttavia, sebbene il patto sia simile, ciò non significa che questi testi si collochino sul piano della storiografia tradizionalmente intesa. Sono piuttosto libri che si pongono a metà strada tra questa e il giornalismo, senza tuttavia coincidere nemmeno con quella galassia di ‘storie vere’ analizzate da Donnarumma prima e da Marchese poi.6 Dove i testi non finzionali analizzati da quest’ultimo possono essere letti come particolari ‘storiografie del presente’, i libri di Deaglio si presentano più come controstorie del passato, inserendosi all’interno di una doppia tradizione: una letteraria (Manzoni e Sciascia nel caso di Storia vera e terribile tra Sicilia e America, il Pasolini corsaro in La zia Irene e l’anarchico Tresca, o il montaggio modernista alla Dos Passos in Patria 1978–2010) e una ‘indiziaria’, a indicare con questo termine una tradizione metodologica fondata sullo scarto, sul dato marginale ma rivelatore per scoprire nuovi e più complessi aspetti del

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Cfr. soprattutto Bertoni (2009), pp. 38–47. Si veda soprattutto Ricœur (1986), pp. 263–332 e Ricœur (2003). Ricœur (2003), pp. 396–397. Donnarumma (2014), pp. 201–224 e Marchese (2019).

Il paradigma indiziario in tre opere di Enrico Deaglio

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passato (il riferimento evidente è al saggio Spie. Radici di un paradigma indiziario di Carlo Ginzburg).7 Ma quali sono, quindi, le strategie per presentare la storia; attraverso quali modalità opera il paradigma indiziario? Pur nella diversità delle strategie formali e dei generi adottati, mi sembra esista un minimo comune denominatore significativo, rappresentato dalla dialettica che in questi testi si instaura tra il polo della cronaca e quello del meraviglioso (o romanzesco).8 Intendo i due concetti secondo due accezioni differenti: dal punto di vista dei contenuti di realtà e da quello delle forme (o, meglio, dei modi di presentazione o rappresentazione di quei contenuti). La cronaca può presentarsi infatti come a) fatto di cronaca, dal punto di vista contenutistico, cioè come un evento inerte e irrelato rispetto alla dinamica storica che lo circonda (il fatto di cronaca, così come lo leggiamo riportato sulle pagine di un quotidiano, racconta solo sé stesso) oppure come b) modo cronachistico, ovvero una forma primitiva di narrazione storica che si fonda sulla successione cronologica dei fatti esposti, limitando al minimo i tentativi di interpretazione. Il meraviglioso ha invece, a sua volta, almeno due declinazioni: a) sul piano contenutistico, come fatto meraviglioso o extra-ordinario, fuori dalla normale quotidianità, eccezionale in senso sia negativo sia positivo; oppure come b) su quello delle forme, come narrazione romanzesca e avventurosa di fatti, secondo la tradizione del romance: i personaggi di questo tipo di narrazione solitamente abitano in un mondo, o in un universo di realtà, molto diversi da quello di cui facciamo esperienza nella vita quotidiana e in cui “le trame trasmettono un’immagine dell’accadere dominata da ciò che Bachtin chiamava il tempo dell’avventura”.9 Che la scrittura di Deaglio si giochi sulla combinazione di almeno due di questi quattro elementi credo possa permettere di riflettere sulle diverse modalità di rappresentazione della storia all’interno della cultura italiana contemporanea.

2.

Storia vera, storia terribile. Dal fatto di cronaca al meraviglioso storico: il turismo del passato

Il primo libro di cui vorrei parlare, Storia vera e terribile tra Sicilia e America,10 è a tutti gli effetti un racconto-inchiesta su un fatto di cronaca avvenuto il 20 luglio 1899 a Tallulah, un paesino della Louisiana, dove sono stati impiccati cinque 7 Ginzburg (1986). 8 Sul carattere romanzesco delle inchieste di Deaglio si veda il fondamentale Milanesi (2019). 9 Mazzoni (2012), p. 98. Per il ‘tempo dell’avventura’ il riferimento è a Bachtin (1979), p. 231– 405. 10 Deaglio (2015). D’ora in avanti verrà impiegata la sigla SVeT.

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siciliani originali di Cefalù: i tre fratelli Defatta – Giuseppe, Francesco, Pasquale (americanizzati in Joe, Frank, Charles) – e i loro due compaesani Rosario Fiduccia e Giovanni Cirami. Il nudo fatto di cronaca, secondo la versione dei giornali dell’epoca, viene presentato nelle prime pagine del libro dallo stesso autore: Era una caldissima sera d’estate, il 20 luglio del 1899. Ma le notizie vennero battute al telegrafo con molte ore di ritardo, solo quando il telegrafista fu sbendato e slegato. Dicevano che in località Tallulah, contea […] di Madison, all’estremo nord-est dello stato della Louisiana, una folla “ordinata e calma, ma molto determinata” aveva provveduto all’impiccagione – secondo la consuetudine del linciaggio – di cinque italiani ivi residenti. (SVeT, p. 10)

Al di là di alcune anticipazioni che mettono in allerta il lettore rispetto alla veridicità delle notizie battute al telegrafo (la notizia che il telegrafista “fu sbendato e slegato”), quello dei cinque dagos (il termine dispregiativo con cui venivano nominati gli immigrati siciliani) appare come un fatto di cronaca inerte, uno delle tante storie di ordinaria follia cui non riusciamo a trovare ragione. Anche nel caso dell’impiccagione di Tallulah, le cause del linciaggio segnalate dalle cronache locali non sono sufficienti per chiarire fino in fondo la reazione violenta e la rabbia dei cittadini wasp contro i cinque dagos. A dichiararlo è lo stesso Deaglio, in un breve paragrafo isolato da due spazi bianchi che segnala il passaggio, sul piano dei contenuti, dal crudo fatto di cronaca al meraviglioso storico ed extra-ordinario: “La storia, come avrei appreso, era molto più grande di così. Più grande vuol dire più orrenda, più infame, più misteriosa, ma anche più avventurosa” (SVeT, p. 12). La serie di comparativi di maggioranza, oltre a suggerire icasticamente l’intrigo che si nasconde dietro la vicenda di Tallulah, è indicativa anche dei modi in cui Deaglio intende presentare la sua inchiesta nelle pagine successive. Gli aggettivi della serie (grande, orrenda, infame, misteriosa, avventurosa) ricadono tutti all’interno della sfera del meraviglioso, del romanzesco, del fuori dall’ordinario, promettendo al lettore non solo un resoconto storiografico (come recita il titolo: una ‘storia vera’ tra Sicilia e America), ma un’avventura tremenda tra le pieghe della storia (una ‘storia terribile’ tra Sicilia e America). Sul versante della ‘storia vera’, il prototipo cui guardare è ovviamente quello del Manzoni della Storia della colonna infame. Delle pagine manzoniane il libro di Deaglio condivide la volontà di ricostruzione storica e sociologica e l’intento di mostrare i meccanismi che portano alla nascita del pregiudizio (lì sanitario, qui razzista), la meschineria dei burocrati coinvolti e l’incongruenza dei resoconti sui fatti. Un’ulteriore dichiarazione di poetica può essere un utile punto d’abbrivio per mostrare affinità tra il testo manzoniano e quello di Deaglio: “avevo voglia di sapere come erano finiti lì, ma anche di riabilitarli, o perlomeno di sentire la loro versione, anche se il loro caso non interessa più a nessuno” (SVeT, p. 17). Scoprire

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le ragioni dell’evento (“sapere come erano finiti lì”), ristabilire una verità e una giustizia postume (“riabilitarli, o perlomeno sentire la loro versione”), ricavarne un insegnamento morale anche per il presente (la frase “anche se il loro caso non interessa più a nessuno” è evidentemente antifrastica) sono tutti elementi riconducibili al magistero manzoniano.11 Come per questo, anche in Storia vera e terribile la presenza dell’autore diventa un modo sia per convalidare la storia, sia per creare una sorta di comunità tra autore e lettori. Oltre ai riferimenti personali, alle ragioni che hanno portato Deaglio a scavare nella storia dei cinque siciliani impiccati a Tallulah (SVeT, p.14), non sono infatti infrequenti i passaggi dalla prima persona singolare alla prima plurale12 a indicare quanto l’inchiesta non sia tanto frutto di una curiosità storica da soddisfare (quella di Deaglio in questo caso), ma nasca da un’esigenza etico-politica più generale che custodisce un’ampia risonanza con il presente dei lettori (“è un periodo, questo, in cui molti elementi di quell’antico racconto ritornano”, SVeT, p. 17). È un legame, quello con il presente, che si palesa su due livelli tematici. Il primo è quello che vede la Sicilia come luogo d’intersezione storica tra un prima ottocentesco, quando l’isola era soprattutto un “serbatoio di emigranti” (come i Defatta, partiti da Cefalù per trovare fortuna in America), e un presente in cui le sue coste sono diventate “sede di una tragica immigrazione” (SVeT, p. 17); il secondo è quello del razzismo, rinvigorito nelle sue manifestazioni contemporanee, che trova nella storia dei cinque dagos una chiave d’accesso particolare per ricostruirne genealogie e fortune. Raccontare la loro storia è stato piuttosto scoprire che ci fu un vento freddo che li accompagnò, in quegli anni, dalla Sicilia all’America. Brutte idee nacquero in quel periodo, e presero a soffiare, ad organizzarsi, a diventare potenti e paurose. (SVeT, p. 18)

Sono due ordini tematici, quello della Sicilia (ma, più in generale, della ‘questione meridionale’) e quello del razzismo, che viaggiano paralleli nell’inchiesta di Deaglio, aprendo uno scenario storico che trascende la semplice vicenda di Tallulah. Nel corso del libro, l’avverbio di luogo presente nella dichiarazione

11 Si veda, a titolo di esempio, il seguente estratto manzoniano, dove questo triplice intento risulta altrettanto chiaro: “Noi, proponendo a lettori pazienti di fissar di nuovo lo sguardo sopra orrori già conosciuti, crediamo che non sarà senza un nuovo e non ignobile frutto, se lo sdegno e il ribrezzo che non si può non provarne ogni volta, si rivolgeranno anche, e principalmente, contro passioni che non si posson bandire, come falsi sistemi, né abolire, come cattive istituzioni, ma render meno potenti e meno funeste, col riconoscerle ne’ loro effetti, e detestarle.”; Manzoni (1981), p. 10. 12 Alcuni esempi: “Dunque, i nostri tre avevano fatto qualche passo avanti nella scala sociale” in SVeT, p.19 [Cors. d. A.]; “Oggi noi sappiamo che furono, soprattutto, gli occhi e la pelle di Defatta e dei suoi fratelli a portarli alla morte” in SVeT, p.25 [Cors. d. A.]. In altri casi, la vicinanza con il lettore viene ricercata attraverso la formulazione di una domanda: “(Ci sarà stato anche il nostro Giuseppe Defina, tra i rivoltosi? Chissà.)” in SVeT, p. 75 [Cors. d. A.].

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d’intenti delle prime pagine (“avevo voglia di sapere come erano finiti lì”) passa dall’avere un significato prettamente referenziale (qual è il movente particolare che li ha portati all’impiccagione?) ad assumere risonanze di portata più ampia. Prima di tutto: come i cinque siciliani sono finiti, lì, in Louisiana? In altri termini: cosa li ha portati ad attraversare l’oceano e ad abbandonare tutto per cercare fortuna in America? La risposta a questa domanda porta Deaglio a intercettare, attraverso i destini particolari dei cinque dagos, i destini generali: da una parte, la storia americana dopo la guerra di secessione, dall’altra quella dell’Italia postunitaria. In una pagina del quinto capitolo, il montaggio di due momenti delle rispettive storie nazionali, vicini cronologicamente (il 1864 americano e il 1861 italiano) e tematicamente (la promessa, mai mantenuta, della liberazione dalla schiavitù e dalla povertà da parte delle rispettive classi dirigenti), oltre a mostrare un minimo comune denominatore storico (sia in America che in Italia, le promesse delle élite alle classi più povere rimangono tali), segnala le ragioni che hanno condotto i cinque siciliani in Louisiana, assieme alle loro famiglie, e ad essere trattati come ‘nuovi schiavi’. La Sicilia aveva aumentato di un milione e mezzo i suoi abitanti dai tempi dell’Unità d’Italia. I siciliani erano troppi, circolavano strane idee, volevano la terra, si ribellavano. I padroni americani si trovavano alle prese con un problema analogo. La guerra aveva affrancato quattro milioni di schiavi che ora non volevano più lavorare sotto la frusta. Bisognava liberarsene, trovare nuovi schiavi. Gli americani chiamarono quel progetto “push and pull”, spingi e tira. L’Italia li spingeva via, e niente era più convincente che ridurli in miseria e fargli sparare addosso dai carabinieri. La Louisiana e il Mississippi li attiravano, come unica speranza loro rimasta. (SVeT, p. 56)

Dietro alla storia dei dagos, dietro al puro fatto di cronaca, si nasconde il mostruoso storico. La storia vera diventa così anche storia terribile: la storia di una deportazione di massa, concepita consapevolmente tra due governi (quello italiano che voleva liberarsi da centinaia di migliaia di zolfatari, braccianti, scarpari, muratori siciliani cui era stata promessa una nuova vita dopo l’unificazione d’Italia; quello americano che cercava nuovi schiavi, dopo aver liberato gli exschiavi afroamericani, almeno formalmente). Ma al terribile si accompagna anche l’orrendo. L’antropologia criminale, quella pseudo-scienza che vede in Cesare Lombroso “una star internazionalmente acclamata” (SVeT, p. 76), offre infatti una spiegazione scientifica alla criminalità che le classi dirigenti del neonato Regno d’Italia si trovano a dover fronteggiare soprattutto nel Sud Italia. Non solo la teoria della scienza criminale diventa così una risposta semplificante alla ‘questione meridionale’ (le ragioni della criminalità non si trovano nell’ambiente, nella miseria e nell’ignoranza delle classi più disagiate, ma nel corpo stesso dei criminali), ma anche una legitti-

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mazione per i padroni d’oltreoceano per schiavizzare i dagos che progressivamente sbarcano presso i porti della Louisiana, in particolare di New Orleans. Dietro i cinque siciliani appesi dalla folla “ordinata e calma, ma molto determinata” di Tallulah si apre così uno scenario storico e sociologico che è allo stesso tempo spaventoso per chi lo ha vissuto e avventuroso per chi ne viene a conoscenza per la prima volta (l’autore e i lettori). Ci troviamo, insomma, di fronte a qualcosa di più di un semplice resoconto storiografico. Se l’intenzionalità che fonda quest’ultimo, secondo Ricœur, ricerca prima di tutto un patto di verità tra autore e lettore dove “l’interesse o il piacere della lettura vengono quasi in aggiunta”, nel caso di Storia vera e terribile l’impegno documentario e lo zelo storiografico si accompagnano a una non trascurabile promessa di intrattenimento per il lettore, nel senso etimologico del termine (intra-tenere: far indugiare e catturare). Non è un elemento secondario, soprattutto per un autore come Deaglio, smaliziato anche sul versante dell’intrattenimento televisivo (è stato conduttore di due trasmissioni televisive: Milano Italia e L’elmo di Scipio): nell’era della comunicazione, dove la difficoltà non sta tanto nel raggiungere il destinatario ma conquistarne l’attenzione, ecco che anche la divulgazione storica deve dotarsi dei mezzi per convincere il lettore a seguire il suo discorso.13 Questo obiettivo è raggiunto da Deaglio attraverso una sintassi semplice, costituita da frasi brevi ed efficaci. Siamo insomma lontani dalle ipotassi manzoniane, ma anche dallo stile semplice e pieno di intermittenze di Sciascia (che pur persegue nel Novecento la lezione dell’autore milanese). Dove lo stile di quest’ultimo si gioca sull’assommarsi di chiasmi, punti e virgola, giochi etimologici e parentesi che rallentano continuamente l’argomentazione, Deaglio ricerca lo stile chiaro e comunicativo tipico della televisione. L’inchiesta procede attraverso un continuo e ricercato dinamismo, fatto di montaggi, di cambiamenti di prospettiva che permettono di narrativizzare e rendere maggiormente godibile e coinvolgente il racconto-inchiesta.14 Si veda per esempio parte dell’estratto già citato precedentemente (“I siciliani erano troppi, circolavano strane idee, volevano la terra, si 13 Come afferma il linguista Giuseppe Antonelli: “Se lo spettacolo preferito in Tv è quello che mette in piazza il privato per il divertimento del pubblico (emotainment), l’informazione si adegua diventando infotainment, la divulgazione scientifica si trasforma in edutainment e persino lo sport è costretto a riconvertirsi in sportainment. Là dove -tainment sta appunto per entertainment ‘intrattenimento’ ed è abbinato, di volta in volta, agli accorciamenti di emotion, information, education e a sport” in Antonelli (2007), p. 125. 14 Elemento, questo, già notato da Milanesi nella sua analisi di un’altra inchiesta di Deaglio, Raccolto rosso (1993): “ce type de récits de non-fiction se caractérise par la conscience, de la part de leurs auteurs, de ses enjeux, ce que démontre, par exemple, l’utilisation savante et consciente, de la part d’Enrico Deaglio, de certains artifices et effets qui ne sont pas de simples formalismes mais qui ont une fonction narrative et un sens particuliers : le montage, le jeu sur le plan chronologique, les variations des points de vue et des voix ne sont jamais gratuits, mais sont toujours utilisés pour mieux construire le sens complexe des événements et des phénomènes qui sont racontés” in Milanesi (2019), p. 47.

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ribellavano”) dove l’informazione storica non viene comunicata in maniera neutra, ma ‘prospettivizzata’ secondo l’ottica dei governanti del neonato Regno d’Italia, attraverso un accenno di psycho-narration.15 Accanto a queste tecniche, anche altri elementi fanno di questa inchiesta storica una fortunata sintesi tra le esigenze tipiche del resoconto storiografico e la necessità di renderlo appetibile a un pubblico più ampio rispetto a quello ristretto degli specialisti. Penso, per esempio, alla continua ricerca di complicità tra autore e lettore tramite allocuzione,16 oppure al rapporto equilibrato tra neutra esposizione storica e una misurata animazione linguistica tipica del giornalismo televisivo (soprattutto tramite il ricorso all’enfasi aggettivale: orrenda, infame, misteriosa, avventurosa, terribile) o, ancora, all’apertura a passi di vera e propria fiction in cui a prendere parola sono direttamente i cinque siciliani impiccati (come accade nel decimo capitolo, intitolato, La deposizione) Ma è soprattutto il gesto intellettuale compiuto da Deaglio che permette al lettore di passare dal fatto di cronaca inerte e superficiale al meraviglioso storico, mostrando l’esistenza di una connessione profonda tra fenomeni tra loro apparentemente irrelati. Pur guardando alla tradizione nobile del paradigma indiziario – fondata sulla ricerca di spie, indizi e incongruenze impercettibili ai più – la galassia storica raccontata da Deaglio si configura tuttavia come una doppia possibilità agli occhi del lettore contemporaneo: da una parte, di informazione storica e, dall’altra, di avventura storica, intesa come possibilità di accedere a un altrove in cui la giustizia, seppur a posteriori, viene ristabilita. Se sul primo versante, come abbiamo visto, potremmo parlare di una nuova forma di edutainment (nell’unione tra informazione/educazione e intrattenimento), nel secondo caso il libro di Deaglio si colloca nel pericoloso punto di intersezione tra impegno civile e turismo del passato, in cui il lettore può trovare conferma delle proprie posizioni ideologiche (il target del libro e della collana, ‘La memoria’ (o corsivo??) di Sellerio, si riconosce nei presupposti su cui il libro si fonda: antirazzismo e denuncia di quanto avviene oggi a largo delle coste siciliane) e accedere allo stesso tempo a dei contenuti diversivi rispetto “alle esperienze senza

15 Riprendo la categoria di psycho-narration da Cohn (1978). Viene qui intercettato il problema della finzionalizzazione di certi generi che fondano il proprio discorso sulla verità documentaria, come nel caso della biografia di cui si occupa Cohn in uno dei capitoli di The Distinction of Fiction: “Now as we all know, there are biographers whose priority is less to impress their public by their scrupulousness and more to attract it by their readability. And the single most effective way of producing a ‘good read’ in a life history is quite simply to integrate autobiographical source material seamlessly into the psycho-narrative text, with explicit quotation yielding to implicit paraphrase” in Cohn (1999). p. 28. 16 Un esempio: “Prendete lo zucchero, dal nome così gentile. Talmente parte della nostra vita e talmente redditizio che lo mettiamo anche nei serbatoi delle automobili, nelle merendine e nelle bevande gassate, anche se è noto che provoca obesità e diabete.” (SVeT, p. 57).

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spigoli della mediocrità borghese”, come afferma Simonetti.17 Proprio quest’ultimo ha parlato esplicitamente di una “tentazione del meraviglioso”18 in seno ai romanzi contraddistinti dal realismo più critico ed engagé; una tentazione che si declinerebbe in una vera e propria ricerca di evasione dal punto di vista spaziale, da parte sia del narratore che del lettore. La stessa tendenza credo sia registrabile anche dal punto di vista temporale, attraverso romanzi e inchieste che fanno del passato un grande serbatoio di fatti e di avvenimenti cui possiamo affacciarci per il tempo della lettura, dimenticando per un attimo la nostra vita quotidiana. L’inchiesta sui cinque dagos siciliani ci apre uno spaccato storico convincente, ma la restituzione certa di una giustizia e di una verità storiche a posteriori finiscono per avere il sapore di un precario risarcimento simbolico sia per le vittime, sia per le nostre esistenze. Storia vera e terribile è un testo destinato a lettori di media cultura, mediamente informati, mediamente progressisti che si affacciano a questo, come ad altri racconti-inchiesta, con determinate aspettative: un’elevazione spirituale e civile, ma sempre a basso dosaggio, alcune conferme esistenziali, la convalida di essere dalla ‘parte giusta’ della società attraverso una forma di passatempo storico. Questi credo siano, in ultimi analisi, i tratti che contraddistinguono quello che ho definito come ‘il turismo del passato’.

3.

La zia Irene e l’anarchico Tresca: il romanzesco come strumento per connettere i fatti di cronaca e dilettare

La ricerca e l’offerta del meraviglioso nelle inchieste, questa volta televisive, di Deaglio è in realtà un fenomeno che era già stato segnalato nel romanzo autofittivo di Walter Siti, Troppi paradisi. In una delle primissime pagine, dopo aver sottolineato la forza ‘rassicurante’ del medium televisivo,19 Siti propone un suo personalissimo parallelo storico, comparando la televisione ai poemi cavallereschi del Quattrocento. Entrambi, secondo Siti, sarebbero contraddistinti da una stessa funzione sociale: offrire al proprio pubblico il “meraviglioso”. La televisione ci fornisce il “meraviglioso”, come i poemi cavallereschi lo fornivano agli ascoltatori del Quattrocento. Ottime, per questo, le trasmissioni come Un giorno in pretura, o Storie maledette, o le inchieste di Deaglio; meno bene, naturalmente, i talkshow con la lacrima sul viso, quelli in cui le disgrazie sono sollecitate e create ad hoc.20 17 Simonetti (2018), p. 130. 18 Cfr. ibid., p. 130. 19 “La televisione è rassicurante perché le sciagure che vedi non capitano a te; i terremoti, i disastri, aerei, le guerre, quand’ero infelice mi procuravano euforia, adesso fantastico di essere un soccorritore. Ma sono le disgrazie personali quelle che davvero mi distraggono”. Siti (2006), p. 16. 20 Ibidem, p. 17.

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Ci troviamo di fronte a uno dei tanti inserti saggistici che contraddistinguono la trilogia sitiana. Sebbene l’accostamento tra programmi televisivi caratterizzati da un evidente impegno pedagogico-civile (Un giorno in pretura, Storie maledette e le inchieste di Deaglio) e programmi di puro intrattenimento (“i talk-show con la lacrima sul viso”) possa apparire discutibile, esso – come abbiamo visto – nasconde un potenziale euristico da non sottovalutare quando si affronta il problema del ritorno alla realtà all’interno non solo della letteratura, ma anche della cultura italiana contemporanea. E di meraviglioso ‘televisivo’ si dovrà parlare anche nel caso del prossimo romanzo-inchiesta, La zia Irene e l’anarchico Tresca,21 dove il meraviglioso non interessa solo il piano dei contenuti di realtà che vengono riportati (tutti fatti e personaggi storici extra-ordinari), ma anche i modi stessi di rappresentazione dell’inchiesta che li svela. Se in Storia vera e terribile il meraviglioso veniva veicolato secondo le forme di un racconto-inchiesta di matrice tradizionalmente manzoniana (pur con strategie retoriche più indirizzate all’intrattenimento), in questo caso il resoconto contro-storico cade nel dominio del romance, della spy story, del thriller internazionale, con tutti i rischi del caso. Ci troviamo a Roma, nel 2022, in un’Italia distopica, in preda ad attacchi terroristici e ad un passo dal fascismo (la scelta del 2022 non è evidentemente casuale, dal momento che ricorrerà il centenario della Marcia su Roma). Nella capitale, ormai vicina a un nuovo colpo di stato, vive Marcello Eucaliptus, brillante e intuitivo analista finanziario la cui zia comunista ed ex-membro dei Servizi segreti italiani, l’Irene del titolo, gli ha lasciato in eredità una valigia e una missione segreta: indagare sull’omicidio dell’anarchico Carlo Tresca, ucciso a New York nel gennaio del 1943. Da questo enigma storiografico scaturisce l’indagine avventurosa di Eucaliptus, attraverso continui colpi di scena che intercettano la storia italiana e statunitense. Nuovamente Italia e Stati Uniti affiancate, alla ricerca dei rapporti politici, criminali e d’affari che uniscono inesorabilmente le due nazioni. Tuttavia, rispetto al libro precedente, Deaglio sembra aver voluto premere maggiormente sul pedale romanzesco: dove Storia vera e terribile tra Sicilia e America si configurava prima di tutto come inchiesta narrativizzata, La zia Irene e l’anarchico Tresca si presenta come una vera e propria narrazione di genere, con l’intento di veicolare informazioni storicamente rilevanti, impossibili da affermare fuori dalla fiction. Le verità in questo caso possono essere solo suggerite o indicate mostrando le diverse interconnessioni e congruenze tra personaggi ed eventi apparentemente irrelati. Se Deaglio guarda alla tradizione, sicuramente non è più quella inaugurata da Manzoni, ma da Pasolini. Il gesto intellettuale che fonda il romanzo è infatti tipicamente pasoliniano e, soprattutto, ‘corsaro’. L’“io so” anaforico presente nell’articolo pubblicato nel 1974 da Pasolini sul Corriere della 21 Deaglio (2018). Per questo romanzo verrà impiegata la sigla ZIAT.

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sera e confluito successivamente all’interno degli Scritti corsari con il titolo Il romanzo delle stragi ritorna qui, ma con un ribaltamento assiologico abbastanza significativo.22 Se Pasolini rivendicava il suo essere scrittore e intellettuale sulle pagine di un quotidiano nazionale, collocando il suo discorso dentro un regime serio di discorso e potenzialmente soggetto a essere smentito, Deaglio decide di cautelarsi dietro la fiction romanzesca. Dove il primo afferma di sapere senza avere prove, attraverso la capacità di “coordina[re] fatti anche lontani”,23 il secondo sa che un discorso come quello di Pasolini rischierebbe di essere recepito oggi dai suoi lettori e dall’opinione pubblica come un discorso fuori tempo massimo e, pur avendo le prove, sa che certe verità rischierebbero di rimanere inascoltate. L’evidenza dell’insegnamento pasoliniano tuttavia rimane. A dimostrarlo in maniera inequivocabile è l’ambientazione prescelta per dare avvio alla quête di Eucaliptus: Al Biondo Tevere, il ristorante dove per l’ultima volta Pasolini fu visto, prima di essere ucciso. L’inchiesta inizia sotto il segno del magistero pasoliniano e l’adagio ‘corsaro’ (“coordinare fatti anche lontani”) diventa oltre che principio metodologico anche il sostrato simbolico che sorregge tutta la cattedrale romanzesca. A dimostrarlo è un quadro, vera mise en abyme del romanzo, che, con l’intenzione di rappresentare l’essenza del denaro, letteralmente collega fatti e persone apparentemente lontani gli uni rispetto agli altri: Marcello si accostò al quadro e gli comparvero geometrie, strutture interne, frecce, cerchi, nomi, legami, doppi legami come nella chimica. “Che cos’è?” domandò Eucaliptus. “È un quadro, dipinto probabilmente nel 1996, da un artista newyorkese, Mark Lombardi. L’unico artista al mondo ad aver avuto l’idea di dipingere il denaro nella sua essenza, la sua velocità, la sua ferocia. Il titolo è: Inner Sanctum: The Pope and His Bankers Michele Sindona and Roberto Calvi ca. 1959–82. L’ho comprata parecchi anni fa per 300.000 dollari. Credo di aver fatto un buon affare. L’opera più famosa di Lombardi – simile a quella che ho io – descrive invece il sistema della famigerata banca BCCI, e venne esposta al Whitney Museum nel 2000. Si ricorda, vero? La Bank of Commerce and Credit International, 400 filiali in 78 paesi, settima banca privata del mondo. Fece crac. Quel quadro concettuale di Mark Lombardi aveva però un piccolo problema: nello sterminato mosaico dell’opera, c’è anche una piccola freccia che lega la famiglia Bush, per via di una finanziaria texana, a un’import-export saudita e questa a un tale Osama bin Laden. E così, subito dopo l’11 settembre del 2001, l’FBI fece irruzione al Whitney Museum e ‘confiscò’ l’opera d’arte, perché troppo scottante.” (ZIAT, p. 147)

Come per le scoperte di Mark Lombardi, anche quelle fatte da Eucaliptus-Deaglio rispetto all’omicidio dell’anarchico Carlo Tresca sono ‘troppo scottanti’. Figura di spicco dell’antifascismo italiano all’estero e possibile candidato a guidare l’Italia 22 Pasolini (2011), pp. 88–89. 23 Cfr. ibid., p. 89.

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liberata dal nazifascismo, Tresca sembra essere capitato in un complotto internazionale che vede protagonisti il futuro presidente Roosevelt, il sicario personale di Stalin, Vittorio Vidali, la mafia italo-siciliana con base a New York, Mussolini e il mondo della finanza internazionale. Il turismo del passato ritorna qui, con un rincaro forse maggiore rispetto a quello segnalato in Storia vera e terribile: incrociando fatti della cronaca, della storia, i temi e i procedimenti narrativi tipici dell’immaginario cospiratorio contemporaneo, le informazioni significative sul passato nazionale diventano forma di puro intrattenimento, diminuendo il loro portato conoscitivo. Peripezie e colpi di scena tendono al sovraccarico informativo, riducendo i personaggi a semplici caratteri monodimensionali o, meglio, funzioni di un discorso che deve tenere più sul piano dell’argomentazione che su quello della narrazione. Anche la figuralità, lontano dall’offrire un sovrappiù simbolico, diventa facilmente decodificabile e sembra contribuire a un rispecchiamento intellettuale e narcisistico per i lettori che, riconoscendo determinati riferimenti culturali ‘medi’, possono trovare conferme del loro personale bagaglio conoscitivo (il riferimento a Pasolini, come ho mostrato precedentemente, è abbastanza esplicito). Il paradigma indiziario, trasposto sul piano della fiction, replica così il tempo dell’avventura tipico della tradizione del romance, ma nel suo parossismo suggerisce piste storiche e indizi che rischiano di tramortire il lettore sotto un’imponente mole di informazioni. L’autore, pur nascosto dietro l’eroe, è sempre presente e nella sua ’isteria indiziaria’ rischia di fallire proprio sui fronti dove pensava di poter vincere: quello del resoconto storico, dell’impegno civile e dell’intrattenimento. La vera scommessa vinta di Deaglio, dal punto di vista della ricostruzione storica, è allora forse un libro uscito dieci anni prima rispetto alla Zia Irene e l’anarchico Tresca. Un libro in cui i fatti di cronaca, esposti attraverso un modo cronachistico e neutrale, riescono a mostrare il vero carattere extra-ordinario della storia d’Italia: Patria 1978–2010.

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Patria 1978–2010: il meraviglioso attraverso il modo cronachistico

Patria viene pubblicato in realtà la prima volta nel 2009 e viene scritto da Deaglio in collaborazione con Andrea Gentile. Nel 2010 viene aggiornato nella forma che conosciamo oggi: Patria 1978–2010.24 Viene da più parti acclamato come un esperimento riuscito ed effettivamente lo è. A dimostrarlo non è solo un successo

24 Deaglio (2010). D’ora in avanti citato sotto la sigla P.

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di critica, ma anche di pubblico, come testimonia il successivo prequel, Patria 1967–1977, pubblicato circa dieci anni dopo l’uscita del primo volume. Il libro è forse uno dei casi editoriali più interessanti del panorama letterario italiano degli anni Dieci, dopo Gomorra di Roberto Saviano.25 Si struttura in trentatré capitoli, in cui viene ripercorso, sotto forma di cronaca, la storia d’Italia dal 1978 (omicidio Moro) al 2010. Ogni capitolo si struttura come un resoconto di fatti più o meno significativi avvenuti durante l’anno di riferimento attraverso il montaggio di resoconti di fatti di cronaca, pubblicazione di dati e statistiche (tassi di occupazione, andamento dei prezzi e dei salari, ecc.), resoconti parlamentari, atti di inchiesta giudiziari, dichiarazioni e interviste, discorsi pubblici o intercettazioni private considerate significative. La coda di ogni anno viene invece riservata, a seconda dei casi e della pertinenza, alla descrizione di un libro pubblicato quell’anno (sotto la rubrica “Scrittori italiani”), di canzoni emblematiche e rimaste nell’immaginario collettivo (Musica italiana), o a un ricordo personale dell’autore (Un ricordo di quei tempi). In maniera completamente opposta rispetto al successivo La zia Irene e l’anarchico Tresca, Deaglio decide qui di lasciarsi andare a un racconto della storia d’Italia che è a tutti gli effetti cronachistico, neutro e il più limpido possibile, in cui la voce dell’autore-narratore sembra apparentemente scomparire dietro l’esposizione dei crudi fatti, di cui continuamente vengono indicati materiali di approfondimento nella corposa appendice curata da Gentile. Come afferma lo stesso autore nell’introduzione: L’idea era di raccontare i trent’anni, ma di metterli al “tempo presente”. Ovvero narrare i fatti mentre succedono. Una cronaca a scoppio ritardato, un sopralluogo sulla scena della nostra storia, in cui ognuno – protagonista, testimone, o quel passante che all’epoca era comparso inosservato sulla scena – fosse ricollocato al suo posto, con il suo corpo, le sue parole, i suoi progetti. (P, p. 15)

La storia di Deaglio è evidentemente una storia “événementielle”,26 dove sono gli eventi storici a essere posti al centro. Il rischio di un feticismo nei confronti dell’evento viene tuttavia sempre arginato attraverso il recupero anche di storie di personaggi minori, fait-divers pescati “dal mare della comunicazione”27 in cui emergono però tratti di un cambiamento profondo all’interno della società italiana, di una mutazione antropologica pasolinianamente intesa. Una strategia, questa, che permette a Deaglio di raccontare l’evolversi della storia d’Italia senza ricadere nelle narrazioni semplificanti del linguaggio televisivo e allo stesso 25 Come afferma Ceserani: “Il libro di Enrico Deaglio Patria 1978–2008 ha suscitato molto interesse, è stato accolto con recensioni quasi tutte positive, ha provocato, sui giornali italiani, discussioni legate anche all’attualità politica e sociale del paese” in Ceserani (2011), p. 81. 26 “La storia di Deaglio è una storia événementielle (storia di fatti) ma non una storia traités et batailles (una storia diplomatica o una storia dell’emergere delle strutture degli Stati nazione)” in Milanesi (2011), p. 71. 27 Ceserani (2011), p. 83.

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tempo suggerirle attraverso le vicende di individui qualunque. Una tecnica che ricorreva già in due “diari in pubblico”28 scritti dallo stesso autore alla metà degli anni Novanta: Besame mucho. Diario di un anno abbastanza crudele (1995) e Bella ciao. Diario di un anno che poteva andare peggio (1996). La forma diario, in quei casi, se da una parte consentiva di “intersecare dimensione privata […] e apparato documentario”,29 dall’altra permetteva di dare conto delle trasformazioni e dei fenomeni socioculturali di quegli anni senza ricadere nelle narrazioni semplificanti tipiche del linguaggio televisivo. Come ha dimostrato bene Milanesi in un suo saggio del 2007, le mutazioni sotterranee del tessuto sociale potevano essere presentate attraverso vicende personali oppure riprese dalla cronaca locale: il miracolo economico del Nordest veniva rappresentato attraverso la vicenda della matricida Nadia Frigerio, che aveva ucciso la madre per potersi trasferire a casa sua col fidanzato; e i successi elettorali della Lega Nord erano studiati attraverso l’evoluzione politica della donna delle pulizie di casa Deaglio, la vecchia Adele, fascista in gioventù, comunista per tutta la vita, fino alla conversione leghista all’inizio degli anni ’90.30

Anche in Patria, notazioni personali e fatti di cronaca dimenticati vengono recuperati per accostare i grandi eventi storici e i personaggi del trentennio, con le modificazioni impercettibili e dimenticate della società italiana. In questo lavoro d’archivio, in questa pratica di riesumazione e collezione dei frammenti di storia nazionale, Deaglio e Gentile mi sembra replichino inconsapevolmente il gesto del collezionista di benjaminiana memoria.31 Se per il filosofo tedesco, ‘collezionare’ significava, da una parte, rompere l’ordine costituito e consolidato delle tassonomie tradizionali e, dall’altra, ricomporre i frammenti in un nuovo ordine di senso, per Deaglio e Gentile recuperare i frammenti di realtà storica (documenti, dati, discorsi ecc.), ricomporli e montarli assieme permette di offrire ai propri lettori una riconfigurazione, diversa e inedita del trentennio 1978–2010 rispetto alle narrazioni storiche consolatorie e maggiormente consolidate. Come ha notato giustamente Ceserani, all’interno di questa sorta di Wunderkammer storica viene a crearsi così una rete, “sia di rapporti orizzontali – all’interno dello stesso anno e dello stesso capitolo […] – sia di rapporti verticali – che rinviano da un anno all’altro, da un capitolo all’altro, stabilendo dei percorsi, delle linee d’azione in cui ritornano gli stessi personaggi e gli stessi temi”.32

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Milanesi (2007). Tirinanzi de Medici (2018), p. 168. Milanesi (2011), p. 74. Mi riferisco soprattutto a quanto scritto da Benjamin in Elogio della bambola (Benjamin, 2002) e in alcuni frammenti dei Passagenwerk (Benjamin, 2000, in particolare pp. 212–223). 32 Ceserani (2011), p. 83.

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Deaglio agisce così su due piani. Il primo è quello dell’inventio, nel senso etimologico del termine: non tanto di invenzione, quanto di scoperta, ritrovamento come prevede il primo significato del verbo latino invenio e che corrisponde, come abbiamo visto, al gesto del ‘collezionare’ benjaminiano. Il secondo è il piano della dispositio, della collocazione di frammenti di realtà, secondo un ordine che non è solo cronologico. È un livello che interessa principalmente un’altra tecnica dalle risonanze fortemente benjaminiane come quella del montaggio, inteso come fenomeno transmediale (e non solo cinematografico) che si manifesta “in tutti quei casi in cui una logica fondata sulla messa in relazione di frammenti prevale sulla ricerca di una forma dotata di una sua totalità e compiutezza”.33 Dal punto di vista microtestuale è proprio il montaggio una delle tante tecniche in cui i commenti dell’autore emergono in maniera implicita (mentre i commenti espliciti, come afferma Deaglio stesso nell’introduzione, “sono limitati al minimo”; P, p. 18).34 Accade, per esempio, attraverso la tecnica del montaggio parallelo, in uno dei paragrafi riservati ai primi successi elettorali di Forza Italia, il neopartito fondato da Silvio Berlusconi: Forza Italia, alle elezioni europee del 12 giugno, aumenta ancora il suo risultato raggiungendo quasi il 30 %. Dopo due sconfitte consecutive, Achille Occhetto si dimette dalla segreteria del Pds; al suo posto viene eletto segretario Massimo d’Alema. Il 18 maggio ad Atene il Milan batte 4 a 0 il Barcellona nella finale di Coppa dei campioni. (P, p. 420)

L’accostamento tra la vittoria del partito politico e quella della squadra di calcio di cui Berlusconi è stato presidente ha un doppio effetto: da una parte la vittoria sportiva amplifica il risultato elettorale; dall’altra suggerisce quanto l’ossessione degli italiani per il calcio sia stato uno delle chiavi del successo di Berlusconi. Ma l’accostamento e la connessione di frammenti di realtà diversificati non interessa solo il piano autoriale, ma anche quello della ricezione. A differenza di quanto accadeva nei libri analizzati precedentemente, qui la ricerca di significatività storica non è più garantita dall’autore-narratore che spiega e connette quei fatti, riunendoli in una spiegazione che li trascende, ma viene demandata al lettore stesso, cui viene richiesto un atteggiamento ermeneutico tipico del metodo indiziario: come in questo si ricercano dati marginali, ma rivelatori, in Patria si è portati a rintracciare costanti paradigmatiche lontane anche centinaia di pagine 33 Somaini (2018), p. 121. 34 Altri interventi indiretti del narratore nel corso delle pagine sono già stati segnalati da Milanesi: “Il narratore interviene a più titoli nel racconto: certo, ricostruisce e presenta i fatti con l’occhio del testimone esterno e contemporaneo dei fatti, ma a volte introduce nel racconto fatti avvenuti più tardi, o spiegazioni delle cause di tali fatti scoperte in un secondo momento, con un altro occhio, quello del narratore sempre esterno ma posto cronologicamente in un momento successivo ai fatti, sdoppiando quindi il punto di vista su più piani temporali” in Milanesi (2011), p. 76.

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di distanza. In quest’ottica, un fatto di cronaca apparentemente isolato, privo di rilevanza storica, se collegato ad altri, può rivelare il meraviglioso storico, il carattere extra-ordinario dietro l’ordinario. Un esempio può essere utile in questo senso. A pagina 589, l’autore-narratore riporta un fatto di cronaca abbastanza curioso: nella primavera del 2001, due neuropsicologi scoprono un caso clinico senza precedenti: la casalinga V.Z., 66 anni, affetta da un deterioramento del lobo temporale mesiale, ha deficit di memoria e non riesce a riconoscere i suoi parenti più stretti. Sottoposta a una serie di test, V.Z. non riconosce fotografie a lei familiari o di personaggi famosi. Con una eccezione: Silvio Berlusconi. Lo descrive come “un uomo molto ricco che possiede televisioni e ha successo in politica”. Molto incuriositi da questo risultato, a V.Z., nei mesi successivi sono state sottoposte altre immagini. La paziente ha riconosciuto Karol Wojtyla, ma ha solo detto che è un papa. Oltre a Berlusconi, l’unica altra immagine stabile nella memoria è quella di Gesù Cristo in croce. (P, p. 589)

Un aneddoto che isolato può apparire privo di interesse nella storia d’Italia, un semplice frammento di realtà che sembra solo suggerire l’onnipresenza mediatica di Berlusconi. Tuttavia, esso si carica di ben altri valori simbolici se il lettore li ricollega a quanto viene riferito un centinaio di pagine prima, dove viene riportato un altro avvenimento miracoloso, sempre ad opera del Cavaliere. Il titolo del paragrafo è già significativo (“un ragazzo esce dal coma ascoltando Berlusconi”), ma il suo contenuto ha qualcosa di ancora più incredibile e inverosimile: Ancona, il sedicenne Andrea Carloni, meccanico anconetano vittima di un incidente stradale esce da un coma durato cinque mesi. Secondo il responsabile dell’istituto di cura Santo Stefano, Massimo Vallasciani, ha influito anche un nastro registrato mandato al ragazzo, tifoso milanista, da Silvio Berlusconi, che gli è stato fatto ascoltare in continuazione in cuffia. (P, p. 499)

Viene a crearsi così, all’interno del libro, una costellazione di fatti orientati ironicamente a disegnare il profilo quasi messianico della figura di Berlusconi. A legittimare questa interpretazione è un paragrafo posto alla fine dell’anno 1994 (vero e proprio momento di ascesa della figura del Cavaliere), nel momento in cui viene riportata la fatidica frase di Berlusconi: “Io sono l’Unto del Signore. C’è qualcosa di divino nell’essere scelto dalla gente” (P, p. 426). Una frase che Deaglio accompagna, questa volta sì, a un suo commento esplicito: Non era mai avvenuto, in Italia perlomeno, che un politico si paragonasse al Messia. Eppure, alla dichiarazione di Berlusconi non è seguito alcun dibattito teologico. E negli anni che verranno, l’Italia si riempirà di lacrime sacre, premonizioni divine, pastorelli, stigmate, pozioni miracolose, che condivideranno l’interesse con una scoperta laica, il Dna. Plasmandoci di superstizione e di laicismo. (P, p. 426)

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Il caso clinico della casalinga V.Z. e del sedicenne Andrea Carloni, lontani dall’essere semplici fait-divers insignificanti dal punto di vista storico, diventano così l’esemplificazione, a metà tra il serio e il faceto, della frase pronunciata da Berlusconi nel 1994. Il fatto di cronaca, e il modo cronachistico che lo riporta, diventano la sede perfetta per la manifestazione del meraviglioso. Una dichiarazione iperbolica e assurda di Berlusconi viene inverata attraverso l’accostamento di due fatti di cronaca che sembrano testimoniarne la veridicità: non solo Berlusconi ha detto di essere il messia, ma in un certo senso lo è stato per molti italiani, che ci piaccia o no. Questo sembra suggerirci Deaglio. La lettura di Patria diventa così una sorta di apprendistato all’interpretazione storica, alla connessione di fatti apparentemente irrelati, al ripensamento di quello che è stato, in un momento storico in cui il gesto di cogliere il movimento storico nella sua interezza sembra impossibile, soprattutto dopo il crollo delle grandi narrazioni della modernità e la velocità delle modificazioni che investono l’ambiente sociale. La nostra comprensione storica rischia di collassare sotto gli urti non solo del cambiamento accelerato della realtà sociale, ma anche per l’eccessivo numero di informazioni che rendono conto di questo cambiamento.35 Il particolare, il fatto di cronaca nudo e crudo, viene prediletto così sul movimento storico generale, e i singoli avvenimenti rimangono irrelati gli uni rispetto agli altri, non trovando più un soggetto che riesca a connetterli e, alla fine, a interpretarli. Ne deriva un individuo che potremmo rubricare sotto la figura dello spettatore, a indicarne la passività, la predilezione al reagire piuttosto che all’agire, l’incapacità di interpretare. E di uno spettatore, più che di un lettore, sembrano aver bisogno anche i primi due testi qui analizzati: Storia vera e terribile e La zia Irene e l’anarchico Tresca, per quelle strategie tipiche dell’edutainment televisivo contemporaneo su cui, pur in maniera diversa, sembrano fondarsi. In questi, tutto viene spiegato e tutti gli elementi, da quelli più strutturali ai fatti microstilistici, convergono nel tentativo di delectare e intrattenere il lettore. Patria si smarca da questa logica e ci riconsegna al nostro ruolo di lettori, più che di spettatori: l’esposizione cronachistica, la selezione e il montaggio calibrati creano così richiami, risonanze, ritorni tematici o di personaggi che richiedono costantemente al lettore una postura attiva, capace di cogliere spie ed elementi indiziari che aprano percorsi d’interpretazione possibile all’interno di una storia fatta di “poco kiss kiss e molto bang bang” (P, p.16), come è stata la storia d’Italia. 35 Come afferma Jameson: “Allorché si è immersi nell’immediato – l’esperienza, un anno dopo l’altro, dei messaggi culturali e informativi, del succedersi degli eventi, delle priorità urgenti –, la repentina distanza offerta da un concetto astratto, da una descrizione globale delle affinità segrete tra quegli ambiti apparentemente autonomi e irrelati, e dei ritmi e delle sequenze nascoste di cose che in genere si ricordano soltanto isolate e una alla volta, rappresenta una risorsa unica, soprattutto perché la storia degli anni recenti è sempre la meno accessibile” in Jameson (2007), p. 398.

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I testi qui brevemente analizzati ci ricordano così che il grande tema critico del ritorno alla realtà non deve essere considerato solo dal punto di vista contenutistico o tematico, ma su un piano più profondo delle forme e dei modi con cui determinati contenuti di realtà vengono presentati (nel caso della non-fiction) o rappresentati (nel caso della fiction). In quest’ottica, accostare al piano contenutistico (il fatto di cronaca o il fatto extra-ordinario realmente accaduto) quello dei modi (il modo cronachistico o quello romanzesco) credo possa permetterci di capire meglio non solo quali siano oggi le diverse strategie che un giornalistascrittore come Deaglio utilizza per raccontare il passato, ma anche di misurare quanto la nostra percezione e interpretazione su di esso sia sempre più pericolosamente attratta da forme ‘turistiche’ e ‘televisive’ di divulgazione storica. Il rischio che il passato acquisti consistenza e legittimità solo se ci viene raccontata nella sua straordinarietà (come nel caso di Storia vera e terribile) o nelle forme complottistiche e avventurose della letteratura di genere (La zia Irene e l’anarchico Tresca) sembra essere così dietro l’angolo. Eppure, il successo di un libro come Patria, la cui forma sperimentale di divulgazione storica prevede un lettoreinterprete più che un lettore-spettatore, sta lì a suggerirci che il mercato editoriale, nonostante le continue denunce apocalittiche, non sia condannato all’omologazione dell’intrattenimento, ma lasci ancora spazio a forme di resoconto storiografico complesse e ambivalenti.

Bibliografia primaria Deaglio, Enrico (2010): Patria 1978–2010. Milano: il Saggiatore. [Citato sotto la sigla P]. Deaglio, Enrico (2015): Storia vera e terribile tra Sicilia e America. Palermo: Sellerio. [Citato sotto la sigla SVeT]. Deaglio, Enrico (2018): La zia Irene e l’anarchico Tresca. Palermo: Sellerio. [Citato sotto la sigla ZIAT].

Bibliografia secondaria Antonelli, Giuseppe (2007): L’italiano nella società della comunicazione 2.0. Bologna: il Mulino. Bachtin, Michail Michajlovicˇ (1979): Estetica e romanzo. Un contributo alla “scienza della letteratura”. Traduzione di Clara Strada Janovicˇ. Torino: Einaudi. Benjamin, Walter (2000): Il collezionista, in: Walter Benjamin: I “passages” di Parigi. Vol. 1, edizione italiana di Enrico Ganni. Torino: Einaudi, pp. 212–223. Benjamin, Walter (2002): Elogio della bambola, in: Walter Benjamin: Opere complete. Vol. 4. Scritti 1930–31, edizione di Rolf Tiedemann / Hermann Schweppenhàuser, edizione italiana di Enrico Ganni. Torino: Einaudi, pp. 7–12.

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Bertoni, Clotilde (2009): Letteratura e giornalismo. Roma: Carocci. Casadei, Alberto (2007): Stile e tradizione nel romanzo italiano contemporaneo. Bologna: il Mulino. Ceserani, Remo (2011): “Il caso di un montaggio di cronache, ricordi, documenti e interpretazioni della realtà che sembrano costruire un romanzo italiano: Patria di Enrico Deaglio”, in: Hannna Serkowska (Ed.): Finzione, cronaca, realtà: scambi, intrecci e prospettive nella narrativa italiana contemporanea. Massa: Transeuropa, pp. 81–94. Cohn, Dorrit (1978): Transparent Minds: Narrative Modes for Presenting Consciousness in Fiction. Princeton: Princeton University Press. Cohn, Dorrit (1999): The Distinction of Fiction. Baltimore: Johns Hopkins University Press. Deaglio, Enrico (1995): Besame mucho. Diario di un anno abbastanza crudele. Milano: Feltrinelli. Deaglio, Enrico (1996): Bella ciao. Diario di un anno che poteva andare peggio. Milano: Feltrinelli. Deaglio, Enrico (2017): Patria 1967–1977. Milano: Feltrinelli. Donnarumma, Raffaele (2014): Ipermodernità. Dove va la narrativa italiana contemporanea. Bologna: il Mulino. Ginzburg, Carlo (1986): “Spie. Radici di un paradigma indiziario”, in: Carlo Ginzburg: Miti, emblemi, spie. Morfologia e storia. Torino: Einaudi, pp. 158–193. Jameson, Fredric (2007): Postmodernismo ovvero la logica culturale del tardo capitalismo. Roma: Fazi. Manzoni, Alessandro (1981): Storia della colonna infame. Palermo: Sellerio. Marchese, Lorenzo (2019): Storiografie parallele: cos’è la non-fiction? Macerata: Quodlibet. Milanesi, Claudio (2007): “I diari di Enrico Deaglio: identità, memoria e cronaca”, in: Sabina Gola, Laura Rorato (Ed.): La forma del passato. Questioni di identità in opere letterarie e cinematografiche italiane a partire dagli ultimi anni Ottanta. Bruxelles Bern Berlin: Peter Lang, pp. 289–305. Milanesi, Claudio (2011): “Enrico Deaglio, Bella ciao, Besame mucho, Patria: dalle storie minime alla storia per frammenti”, in: Hannna Serkowska (Ed.): Finzione, cronaca, realtà: scambi, intrecci e prospettive nella narrativa italiana contemporanea. Massa: Transeuropa, pp. 69–80. Palumbo Mosca, Raffaello (2014): L’invenzione del vero: romanzi ibridi e discorso etico nell’Italia contemporanea. Roma: Gaffi. Pasolini, Pierpaolo (2011): Scritti corsari. Milano: Garzanti. Ricciardi, Stefania (2011): Gli artifici della non-fiction. La messinscena narrativa in Albinati, Franchini, Veronesi. Massa: Transeuropa. Ricœur, Paul (1986): Tempo e racconto. Vol. 1. Traduzione di Giuseppe Grampa. Milano: Jaca Book. Ricœur, Paul (2003): La storia, la memoria, l’oblio. Prefazione e traduzione di Daniela Iannotta. Milano: Raffaello Cortina. Simonetti, Gianluigi (2018): La letteratura circostante. Narrativa e poesia contemporanea nell’Italia contemporanea. Bologna: il Mulino. Siti, Walter (2006): Troppi paradisi. Torino: Einaudi. Somaini, Antonio (2018): “Montaggio”, in: Andrea Pinotti (Ed.): Costellazioni. Le parole di Walter Benjamin. Torino: Einaudi, pp. 119–122.

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Dietrich Scholler (Johannes Gutenberg-Universität Mainz)

Medialisierter Realismus in Ammanitis Anna (2015)

Niccolò Ammaniti hat sich in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts als führender Vertreter der letteratura pulp einen Namen gemacht. Ein vielzitiertes und auch schnell verfilmtes Beispiel ist die Erzählung L’ultimo capodanno dell’umanità aus dem Erzählband Fango.1 Darin geht es um einen Silvesterabend auf dem Gelände einer gutbürgerlichen Wohnanlage in Rom, in dessen Verlauf alles aus den Fugen gerät. Die betrogene Protagonistin Giulia jagt ihrem fidanzato mit dessen Harpune einen Pfeil in den Thorax und lässt ihn vor laufendem Fernseher verbluten. Die Ultras eines kampanischen Fußballclubs mischen eine Silvesterparty der besseren römischen Gesellschaft auf. Eine befehlsstarke New-AgeAnhängerin benutzt einen jungen Mann, um sich vier kosmische Orgasmen zu verschaffen, und am Ende jagen zwei drogenabhängige Jugendliche den schönen neuen Wohnkomplex mit Sprengstoff in die Luft. Diese stellvertretend genannten Szenen und Episoden stehen in ihrer grotesken Übertreibung im kulturellen Horizont von Quentin Tarantinos Kult-Film Pulp fiction aus den 90er Jahren und stehen für eine im wahrsten Sinne des Wortes viel zitierte Literatur des Aufpralls.2 Auch in den Nullerjahren hielt Ammaniti noch fest an dieser Art des Schreibens, aber zur üblichen Schocktherapie in großem Stil reichte es nicht mehr. Das Mittel der amimetischen Übertreibung hatte sich überlebt, und stattdessen zeichneten sich seine Romane fortan durch realistische Ernsthaftigkeit aus. In Come Dio comanda3 etwa erhalten wir Einblicke in das Leben des italienischen Prekariats, das durch aktuelle Modernisierungsprozesse, aber auch durch persönliche Schicksalsschläge vom Leben gezeichnet wird und deshalb außerhalb der lombardischen Komfortzone leben muss. Dabei werden wir auch Zeugen einer ergreifenden Vater-Sohn-Geschichte, die allerdings einen proble-

1 Vgl. Ammaniti (1996). 2 Zur intermedialen Prägung der italienischen Literatur der 1990er Jahre bzw. zum frühen Ammaniti vgl. grundlegend Rajewsky (2003). 3 Vgl. Ammaniti (2006).

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matischen Anstrich hat, weil der Vater Nazi und Trinker ist und deshalb aus der Sicht des Jugendamts als Erziehungsperson ungeeignet erscheint. In seinem jüngsten Roman Anna4 führt uns Ammaniti weg von der trostlosen Realität der Lombardei in ein noch trostloseres Sizilien der nahen Zukunft, nämlich in das Jahr 2020. Mit dieser Gegenwartsüberschreitung und insbesondere aufgrund der futuristischen Katastrophenszenarien scheint Ammaniti das Gegenwartsitalien zugunsten einer imaginären Inseldystopie einzutauschen und damit eine neue literarische Phase einzuleiten. Bei näherer Betrachtung wird sich aber zeigen, dass Ammaniti bei seiner Konstruktion der nahen Zukunft teils auf überlieferte, teils aber auch auf neu entwickelte Verfahren realistischer Medialisierung zurückgreift und deshalb seinen Weg zurück zum Realen bis auf Weiteres fortsetzt. Dabei gehen wir von der These aus, dass literarische Texte – und damit auch realistische Formen der Literatur – in heutiger Zeit grundsätzlich unter dem Apriori multimodaler Medialisierung stehen. Realismus und Medialisierung sind also keine dichotomen Konzepte.5 Im Gegenteil, im Zeichen einer ubiquitären Medialisierung heutiger Realitäten stehen sie in einem wechselseitigen Bedingungsverhältnis: Die Literatur wird mehr als je zuvor zum Intermedium. Unter dieser Prämisse sei vorausgeschickt, dass intertextuelle oder altermediale Bezüge in literarischen Texten nicht länger – wie in der Postmoderne – einer zweckfreien Zitatpoetik der Oberfläche folgen,6 sondern im Sinne eines renovierten literarischen Realismus in die Darstellung einer mehr oder weniger ernsthaften, gegenwartskritischen Romanhandlung eingebunden werden.7

4 Vgl. Ammaniti (2015), im Folgenden unter der Sigle Anna zitiert. 5 Vgl. dazu Conrad von Heydendorff (2018), Kapitel 3.3, Die Wechselwirkung von Alten und Neuen Medien: Literatur zwischen Intermedialität, Transmedialität und Mimesis. 6 Die Rede von der „Poetik der Oberfläche“ geht auf Regn (1992) zurück und steht in Opposition zu Foucaults für die Moderne angesetztes Konzept der Tiefenepisteme, die mit der für ihr Tiefendenken sprichwörtlich gewordenen Epoche der Romantik eingesetzt hat und mehrere Anschlussepochen überdacht. Demgegenüber steht die Postmoderne für eine Episteme der Tiefenlosigkeit und hat im Gegenzug eine Poetik der Oberfläche hervorgebracht, die als Fundierungskategorie für das Epochenkonstrukt ‚Postmoderne‘ dient. Mit der neuen Kategorie lassen sich typische postmoderne Phänomene wie die Verwendung klischeehafter Erzählmuster, der Rekurs auf spielerische Intertextualität, die Ausgrenzung von Sinnstiftung u. a.m. erfassen. Aufgrund ihres Allgemeinheitscharakters ist es also möglich, mit dem neuen Kriterium der Oberflächenorientierung den inneren Zusammenhang unterschiedlicher Merkmalskataloge auf den Begriff zu bringen (vgl. ebd., S. 55). 7 Über die Rückkehr zum Realen in der zeitgenössischen italienischen Literatur vgl. grundlegend Conrad von Heydendorff (2018).

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„nelle fosse comuni giacevano cadaveri“ – Sizilien als Inseldystopie Ammanitis Roman handelt von der nahen Zukunft, genauer, von dem Zeitraum zwischen 2016 und 2020. Im Jahr 2016 bricht in der belgischen Stadt Liège eine rätselhafte Viruserkrankung namens „La Rossa“ aus, die sich epidemieartig in ganz Europa verbreitet und die gesamte erwachsene Bevölkerung dahinrafft. Kinder bleiben bis zum Einsetzen der Pubertät von dem Virus verschont. Im Mittelpunkt der Erzählung stehen die Geschwister Anna und Astor, die beim Tod der Eltern neun und vier Jahre alt sind. Beide leben in der Nähe von Castellamare auf einem Landsitz namens „Podere del gelso“, was nicht ganz von ungefähr Assoziationen zu der casa del nespolo in Giovanni Vergas veristischem SizilienKlassiker I Malavoglia wachruft. Die sterbende Mutter hatte in einem Notizbuch alles Wissenswerte zusammengetragen, damit die Kinder überleben können. Anna konsultiert es regelmäßig in Fragen der Hygiene, der Medizin und der Lebensmittelbehandlung. Selbst die fachkundige Entsorgung ihrer eigenen Leiche hatte die Mutter vorsorglich darin festgehalten. Als Subjekt der Handlung besteht Annas Ziel zunächst darin, für das Überleben und die Erziehung des kleinen Bruders zu sorgen. Nach geraumer Zeit machen sich die Geschwister auf den Weg zum Festland, in der Hoffnung, dass dort noch Erwachsene leben. Als Opponenten fungieren Horden von räudigen Hunden und verwilderten Kindern, die sich zu primatenartigen Banden mit entsprechender Hackordnung zurückentwickelt haben. Als Anna sich für längere Zeit von ihrem heimischen Podere entfernt, gerät Astor in die Gefangenschaft einer Kinderbande und verwildert innerhalb kurzer Zeit. Als Helferfigur schält sich Pietro heraus, ein Junge in Annas Alter, in den sie sich verliebt und der ihr bei der Befreiung Astors helfen wird. Kurz vor dem Aufbruch Richtung Festland kommt er aber bei einem Unfall mit einem Motorroller ums Leben. Der Raum wird über drei distinkte Teilräume semantisiert: der Raum der Idylle in Form des „Podere del gelso“, der dystopische Raum der Katastrophe und ein vorgestellter Raum der Hoffnung jenseits der Straße von Messina. An erster Stelle ist der kleine Landsitz „Podere del gelso“ zu nennen, den Annas Familie von der Großmutter geerbt hatte. Da Annas Mutter Maria Grazia Verkehrslärm und Luftverschmutzung in Palermo nicht länger erträgt und den Kindern eine Zukunft auf dem Land bieten möchte, renoviert sie Haus und Hof, indem sie – unabdingbar für heutige Landidyllen – eine energiesparende Heizung und Isolierfenster einbauen lässt und außerdem einen biologischen Gemüsegarten anlegt, „perché sua figlia, diceva, doveva mangiare verdure senza schifezze chimiche“ (Anna, S. 38). Der Podere weist etliche Anzeichen der Idylle auf, zumal er von einem Eichenhain gesäumt wird, der als einziges Waldstück von den verheerenden Bränden verschont geblieben war und dessen Flora und Fauna für den kleinen Bruder Astor einen magischen Privatkosmos bilden. Die

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Welt außerhalb des Podere hat sich dagegen zu einer futuristisch anmutenden Wüste der Zivilisation entwickelt, die sich langsam aber sicher in den Zustand der Natur zurückentwickelt, weil die allgegenwärtigen Autowracks, ausgebrannten Häuser und herumliegenden Leichen von Fledermäusen, Möwen, Ratten und Insekten erobert worden sind und alles von Menschhand Geschaffene mit ihren Exkrementen überziehen. Nachstehend ein Beispiel, in dem die Strandpromenade von Palermo beschrieben wird: Il lungomare era stato trasformato in una tendopoli che dopo quattro anni formava uno strato compatto di plastica, stoffa e cartone inerte e duro. Non interessava nemmeno più ai gabbiani e ai ratti. Nelle piazze c’erano cataste di corpi e nelle fosse comuni giacevano cadaveri ricoperti di calce. Il porto era stato consumato da un incendio così vorace che aveva deformato pure il ferro delle cancellate, riducendo le banchine a piazzali anneriti. Rimanevano in piedi le gru e le pile di container arrugginiti. Un paio di navi giacevano coricate sul fianco come megattere spiaggiate. (Anna, S. 212)

Unter dem Wüten von Bränden sind Plastik und Textilien zu einer einzigen duroplastartigen Masse verschmolzen, aus der, von der Hitze verformt, lediglich noch Kräne, Containerstapel und umgestürzte Schiffe als verrostete Zeichen einer vormaligen Weltkonjunktur herausragen. In Ammanitis postindustriellem Ambiente dienen sie den renaturalisierten Menschenkindern nurmehr als Orientierungsmarken, die sich in Natur zurückverwandeln, wenn man den metaphorischen Vergleich zwischen Schiffswracks und gestrandeten Buckelwalen in Rechnung stellt. Szenen wie diese werden im Verlauf des Romans immer wieder vor das geistige Auge des Lesers und der Leserin gerückt und addieren sich zu einem Gesamtbild postindustrieller Tristesse, das mit der Realität von der aktuellen europäischen Wohlfahrtszone nicht mehr zur Deckung gebracht werden kann. Eher schon erinnern derartige Bilder an Fernsehberichte von deindustrialisierten Landstrichen oder an einschlägige Katastrophenbilder, mit denen wir täglich in den Fernsehnachrichten oder auf den Startseiten der großen Provider überflutet werden. So gesehen stehen diese futuristisch anmutenden Schreckensbilder im Dienst eines immer schon medialisierten literarischen Realismus, dessen ständige Begleiter unsere omnipräsenten Bildmedien sind. Daher erstaunt es nicht, dass schon der Romaneinstieg an filmisches Erzählen erinnert.

„uno scheletro ricoperto di guano bianco“ – Bezüge zum Horrorfilm Ein wichtiges Prinzip beim literarischen Situationsaufbau realistischer Romane besteht darin, dass zwischen Romanhandlung und Romanveröffentlichung eine Kontiguitätsrelation besteht. Das betrifft die Romane Balzacs, deren fiktionale Welten sich mit den erlebten Welten des Autors überschneiden, aber auch die

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Klassiker des Verismus, wie etwa Vergas I Malavoglia oder Capuanas Giacinta, die in der Zeitgeschichte der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verankert sind. Nicht zuletzt knüpfen die in der Nachkriegszeit veröffentlichen Romane, Erzählungen und Filme des Neorealismus an die unmittelbare Vergangenheit des Zweiten Weltkriegs an. Vor diesem Hintergrund verlegt Ammaniti die Nachbarschaft zwischen Realität und Fiktion – vielleicht nicht ganz ironiefrei – in die nahe Zukunft, denn der Romaneinstieg erfolgt ein Jahr nach Veröffentlichung des Romans. Dabei handelt es sich um einen doppelten Einstieg. Zunächst wird in Form einer Szene eine sterbende Frau in einem Krankenhaus gezeigt, die bis zum Skelett abgemagert ist. Nur ihr kleiner Sohn ist bei ihr. Mit letzter Kraft richtet sich die Mutter noch einmal auf, um anschließend zu versterben. Das Kind ruft zwei Mal „Mamma“, lässt dann eine Holzeisenbahn auf ihrer Brust fahren, verlässt das Krankenzimmer, um den von Leichen gesäumten Weg zum Ausgang zu suchen. Die Szene ist extern fokalisiert. Der Erzähler weiß nicht, ob das Kind drei oder vier Jahre alt ist. Es dominiert die dokumentarische Sachlichkeit des Kameraauges, das wie nebenbei auf eine Stadtansicht von Liège schwenkt und damit auch den räumlichen Ursprung der Epidemie markiert. In ihrer indifferenten Beiläufigkeit knüpft diese Szene an Flauberts bzw. Vergas realistische Erzähltechnik der impartialité an und steht damit in schärfstem Gegensatz zu dem erzählten melodramatischen Sachverhalt. In anderen Worten: Ammaniti stellt sich zum Auftakt des Romans in die historische Tradition des klassischen Realismus und verknüpft sie mit der Technik des camera eye. Der Romaneinstieg in die Erzählung der Hauptgeschichte erfolgt in der Romanfiktion vier Jahre später. Zu diesem Zeitpunkt sind bereits alle Erwachsenen von der Pandemie dahingerafft worden. Es handelt sich ebenfalls um einen Einstieg in medias res, allerdings in Form einer Sequenz. Dem zweiten Einstieg haftet also gleichermaßen etwas Filmisches an, weil wir umgehend zu Zeugen einer beklemmenden Actionszene gemacht werden, in deren Zentrum die Protagonistin Anna steht. In Analogie zum filmischen Erzählen wird die Protagonistin nicht im üblichen grammatikalischen Zeigefeld situiert,8 sondern umstandslos als „Anna“ eingeführt: „Anna correva sull’autostrada […].“ (Anna, S. 13) lautet der erste Satz des zweiten Einstiegs. Wie üblich war Anna tagsüber auf Nahrungssuche, und sie befindet sich in dieser Eröffnungsszene angesichts 8 Im klassischen realistischen Roman-Incipit werden Personen idealiter gemäß indirekt gültigen Normen der Textkohärenz eingeführt, nämlich wie folgt: unbestimmter Artikel (un ragazzo), gezielter Artikel (questo / quel ragazzo), bestimmter Artikel (il ragazzo), Benennungshandlung (si chiamava Pietro), Eigennamen (Pietro), Pronomen (il suo amico), Verbendungsmarkierung (andava), Kennzeichnungen (lamico di Paolo, lo studente liceale). Zur Personeneinführung im Roman vgl. Scholler (2014). Da Verstöße gegen diese textlinguistische Norm – v. a. durch die Orientierung am filmischen Erzählen – inzwischen zur Regel geworden sind, richten sich realistische Romane im 20. Jahrhundert häufig an dieser neuen Norm aus.

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der aufkommenden Abenddämmerung auf dem Heimweg zum podere del gelso. Dabei wird sie in gebührendem Abstand von einer Meute verwilderter Hunde begleitet, die hinter ihr hertrotten. Aus der Sicht der Kinder ist das eine Standardsituation in postzivilisierten Zeiten, die im Prinzip keinen Anlass zur Sorge bietet. Dementsprechend ist die Aufmerksamkeit des Erzählers zunächst auf das Ergebnis von Annas Streifzügen zur Nahrungsmittelbeschaffung gerichtet: „Nello zaino aveva sei barattoli di fagioli Cirio, quattro di pelato di Graziella, una bottiglia Amaro Lucano, un grosso tubetto di latte condensato Nestlé […].“ (Anna, S. 15)9 Während Anna im Folgenden überlegt, wie sie die Produkte zum Einsatz bringen kann, werden kaum merklich Zeichen des Unheimlichen in den Erzähltext eingestreut: „Il cane nero guadagnava terreno. Anna acceleró, il cuore che pompava a ritmo con i passi. […] Il sole era a quattro dita dall’orizzonte. Una palla arancione invischiata in una bava viola.“ (Anna, S. 15) Wie wir später erfahren, hat der Hund eigentlich ein weißes Fell, aber in der Wahrnehmung Annas ist er schwarz und sein Geifer wird als „bava viola“ metaphorisch mit der untergehenden Sonne überblendet und dadurch auf abjekte Weise gesteigert: Ab jetzt läuft ein Horrorfilm. Denn Ammaniti bedient sich bei der literarischen Inszenierung kindlicher Angst einschlägiger Elemente, Strukturen und Sujets dieses gut etablierten populären Genres, das für die realistische Plausibilisierung der Szenerie bestens geeignet erscheint. Schwarzer Hund, beschleunigter Herzschlag und Abendröte werden vom Lesepublikum im Sinne der Dissonanztheorie als beunruhigend unstimmig wahrgenommen, weil unsere üblichen Welterwartungen durchkreuzt werden.10 Die Isotopie des Schreckens wird im Folgenden durch klassische Elemente des Horrorfilms ausgebaut. Der Hund steht stellvertretend für die Untergattung des Tierhorrorfilms, als dessen bekannteste Beispiele die Filme Die Vögel (1963) sowie Der weiße Hai (1974) gelten,11 und wird genretypisch als „sagoma scura“ (Anna, S. 17) bezeichnet, der seine „zanne

9 Die forcierte Erwähnung von Labels und Markennamen ist im Prinzip ein typisches Merkmal für die Oberflächenorientierung im postmodernen Roman. Beispielhaft für diese Tendenz steht der Epoche machende Roman American Psycho (1991) von Bret Easton Ellis. Darin frönt der Börsenmakler Patrick Bateman einem exzessiven Konsum, was sich im literarischen Situationsaufbau in übertriebenem Namedropping von Markenlabels manifestiert. Annas kleine Produktliste von Nahrungsmitteln hat dagegen eine mehr als deutlich erkennbare andere, wenn nicht sogar gegenteilige Funktion. Die aufgezählten Produkte stehen nicht für den manischen Konsum als Selbstzweck, sondern sie stehen für eine sprachliche Rückversicherung elementarer Ressourcen und haben für das Überleben Annas und ihres kleinen Bruders Astor existentielle Bedeutung. Vonseiten des Erzählers erhalten wir Zugang zu dieser Dimension, indem der Sachverhalt über die erlebte Rede vermittelt wird, wodurch wir an Annas Gedankenwelt ungefiltert teilhaben können. 10 Zur Dissonanztheorie in Bezug auf das Genre des Horrorfilms vgl. zusammenfassend Vonderau (2002). 11 Zum Subgenre des Tierhorrorfilms vgl. Seeßlen (2006), insbesondere S. 584–638.

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giallastre e le bolle di bava“ (Anna, S. 18)12 zeigt. Als sich Anna nach heftigem Kampf mit letzter Kraft in ein Autowrack rettet, macht sie eine schockierende Entdeckung: Auf dem Beifahrersitz sitzt „uno scheletro ricoperto di guano bianco“ (Anna, S. 19). Als junges unschuldiges Mädchen, das von einer Bestie verfolgt wird, entspricht Anna darüber hinaus dem Schema des schönen weiblichen Opfers.13 Ihr Opferstatus wird dadurch hervorgehoben, dass sie verletzt und damit leichte Beute ist, was in regelmäßigen, den Text rhythmisierenden Abständen steigernd in die Szene eingeflochten wird, weil sich ihr Zustand verschlimmert.14 Nicht zuletzt deshalb ist man geneigt in ihr eine klassische Scream Queen des Horrorfilms zu sehen: Immer wieder zeigt der Horrorfilm, der Halbnah- und Naheinstellungen bevorzugt, deshalb ein Gesicht voller Furcht und Entsetzen in Großaufnahme, manchmal sogar in extremer Vergrößerung. Charakteristisch ist, dass es sich um das Gesicht einer jungen Frau handelt. Diese Tatsache hat das dem Horrorfilm genuine Rollenfach der ‚Scream Queen‘ hervorgebracht, in dem die im August 2004 verstorbene Fay Wray (King Kong, 1933), Barbara Steele (La maschera del demonio / Die Stunde, wenn Dracula kommt, 1960), Jamie Lee Curtis (Halloween, 1978) und Neve Campbell (Scream, 1996), jede zu ihrer Zeit, berühmt wurden […].15

Dementsprechend sendet Anna immer wieder entsprechende Signale aus, etwa dann, wenn ihr der Atem stockt oder wenn sie laute Schreie ausstößt.16 Nachdem sie in höchster Not in besagtem Schrottwagen Zuflucht gefunden hat, spitzt sich die Situation auf dramatische Weise zu. Während der Bezug auf das Genre des Horrorfilms bis zu diesem Punkt eher allgemeiner Natur war und wir es im Wesentlichen mit fremdmedialen Systeminterferenzen zu tun haben,17 wird in der Autoszene ein ganz konkreter

12 Bei der Schilderung des Hundes wird das italienische Lesepublikum unwillkürlich an Dantes Cerberus im sechsten Gesang des Inferno erinnert. Über den Höllenhund heißt es „mostrocci le sanne“ bzw. „la barba unta e atra“ (Dante 2010, S. 92). Dieser Eindruck verstärkt sich noch, wenn man später die Überschrift der in den Roman eingelassenen Hundebiographie liest. Sie lautet „Il cane con tre nomi“ (Anna, S. 22) und verweist damit recht deutlich auf das erste Attribut des Danteschen „Cerbero, […] con tre gole“ (Dante 2010, S. 90; Hinweis von Christiane Conrad von Heydendorff). Es fügt sich in dieses Bild, dass Dantes Inferno in der Forschungsliteratur zum Horrorfilm als wichtiger literarischer Vorläufer erwähnt wird (vgl. etwa Ramge 2006). 13 „Aveva un bel sorriso pieno di denti bianchi […].“ (Anna, S. 17). 14 „La caviglia destra le faceva male.“ (Anna, S. 14); „La caviglia le pulsava e il dolore le aveva indurito il polpaccio.“ (Anna, S 16); „Si incamminò zoppicando.“ (Anna, S. 17). 15 Vossen (2004), S. 3. 16 Das Verb urlare ist im Kontext zweimal belegt (Anna, S. 17 und 18). 17 Unter Systeminterferenz verstehe ich die entautomatisierend wirkende, punktuelle oder durative Überlagerung eines altermedialen Systems auf das System literarischer Texte bzw.

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Bezugsfilm zitiert: der Tierhorrorfilm Cujo (1983), eine Verfilmung des gleichnamigen Romans von Stephen King. Darin verwandelt sich der kinderfreundliche Bernhardiner Cujo nach dem Biss einer tollwütigen Fledermaus in eine mörderische Bestie, die ihr ‚Herrchen‘ tötet, den Automechaniker Joe Camber. Die zentrale Szene, auf die Ammanitis Roman Bezug nimmt, handelt von einer Frau namens Donna, die zusammen mit ihrem sechsjährigen Sohn ihr reparaturbedürftiges Auto an einem glühend heißen Tag in Cambers Werkstatt bringt. Ebendort herrscht eine unheimliche Stille, die durch den mordlustigen Angriff des tollwütigen Cujo effektvoll durchbrochen wird. Donna rettet sich und ihren Jungen in das Auto, das aber nicht mehr anspringen will. Der erzwungene Aufenthalt dauert zwei Tage und eine Nacht, so dass sich Donna entscheiden muss, ob ihr Kind verdurstet oder ob sie sich dem Kampf mit dem tollwütigen Hund stellen soll. Sie entscheidet sich für Letzteres und streckt Cujo nach langem Kampf mit einem Baseballschläger nieder. Wie im klassischen Horrorfilm werden Schauder und Schrecken über die Großaufnahmen der angstverzerrten Gesichter von Mutter und Kind in Szene gesetzt und dabei durch laute Schreie effektvoll unterstützt. Aber die Figur der Donna entspricht nicht länger dem Typus des klassischen Opfers. Durch ihren sportlich-muskulösen Körper und ihre Kurzhaarfrisur unterscheidet sie sich schon rein äußerlich von den tradierten, betont weiblichen Scream Queens des Horrorfilms. An diesem Punkt knüpft Ammaniti an, indem er eine Protagonistin präsentiert, die zwar ebenfalls mehrere Schockwellen überstehen muss – womit das Genre bedient wird –, aber der Roman Anna stammt aus dem Jahr 2015, und das Rollenmodell der emanzipierten, wehrhaften jungen Frau hat sich im Sinne eines aktualisierten literarischen Realismus weiterentwickelt: Annas Schreie sind nicht dem Entsetzen geschuldet, adressieren also nicht länger die Angstlust des Lesepublikums, sondern erweisen sich bei näherem Hinsehen als Kampfschreie, wie man sie aus einschlägigen Kampfsportarten kennt: „La ragazzina afferò lo zaino da terra e urlando lo [il cane] colpì. Una, due, tre volte.“ (Anna, S. 17) Es folgt die erwähnte rettende Flucht in den Kombiwagen, wo Anna die Nacht in quälender Angst verbringt, weil die Hunde mit den Krallen ihrer Tatzen am Lack der Karosserie kratzen. Dabei werden die Ohnmachtsgefühle der Protagonistin durch genuin literarische Verfahren ins Unermessliche gesteigert und binden das Lesepublikum aufs Engste an die Figur, die regelrechte Angstphantasien entwickelt: Le unghie dei cani grattavano contro la lamiera facendo sussultare la macchina. […] Cominciò a pregare. […] Le unghie ticchettavano sull’asfalto. Immaginò che fossero migliaia. La macchina era circondata da un tappeto di cani che arrivava fino al mare e alle montagne e avvolgeva di pelo il pianeta. (Anna, S. 21) auf einen konkreten literarischen Einzeltext, was sich in entsprechenden Similaritätsstrukturen manifestiert. Vgl. hierzu ausführlich Scholler (2017), insbes. S. 199–209.

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Die durch den ‚Klangkörper‘ der Autokarosserie verstärkten Kratzgeräusche der Hundemeute werden zunächst in Analogie zum Mikrophon der Kamera mittels externer Fokalisierung dargestellt: eine Reverenz vor der zugrunde liegenden Szene in Cujo.18 Anschließend wechselt die Fokalisierung über das Vorstellungsverb immaginare unmerklich in den internen Modus der erlebten Rede, denn die Semantik des vorgestellten Sachverhalts geht eindeutig auf Annas Erleben zurück. Bei der literarischen Remedialisierung des Horrorfilms Cujo spielt also Ammaniti die Möglichkeiten des Mediums Literatur zugunsten realistischprägnanter Darstellung aus. Der letzte Satz des Zitats mit der Vorstellung von einem riesigen Hundeteppich, der den Planeten mit seinem Fell überzieht, kann nur im Imaginären einer literarischen Figur angesiedelt sein und wäre im Medium des Films kaum darstellbar.

Abb. 1: Cujo (USA, 1983), Regie: Lewis Teague, Daniel H. Blatt & Robert Singer Productions.

Schließlich kommt es zu einem Kampf auf Leben und Tod. Mit letzter Kraft gelingt es Anna, das Alphatier der Hundemeute mit der Spitze eines Regenschirms so sehr zu verletzen, dass der Kampf zu ihren Gunsten entschieden ist. Zwar entsprechen die abjekten Details dieses Kampfes den Konventionen des Genres und erinnern dadurch auch an Ammanitis frühe Pulp-Jahre („un fiotto di 18 Im Film steigt der Hund auf das Dach des Autos. Die dabei entstehenden Kratzgeräusche werden über die Tonspur technisch verstärkt und lösen in den Gesichtern von Mutter und Kind blankes Entsetzen aus. Auch in dieser Szene wirft Ammaniti einen Seitenblick auf Dantes berühmten Höllenhund, über den es heißt „unghiate [ha] le mani, graffia li spiriti, sucoia e disquatra“ (Dante 2010, S. 92). Dem Prinzip des contrapasso entsprechend attackiert der stets gefräßige Cerberus die im dritten Kreis schmachtenden Gefräßigen, indem er ihnen mit seinen Krallen die Haut abreißt und zerfetzt.

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sangue le imbrattò la faccia“ Anna, S. 32), aber aufgrund der engen, auf Identifikation angelegten Leserführung fließt das Blut hier nicht zum Selbstzweck oder zum Zwecke der Gattungsparodie, sondern ist das Resultat eines unausweichlichen Akts der Selbstbehauptung. Das tapfere Mädchen Anna geht aus diesem Kampf um Leben und Tod als gebeutelte Siegerin hervor. Das heißt, Ammaniti mag zwar aus Gründen des Spannungsaufbaus und der emotionalen Leserlenkung auf das Schema des Tierhorrorfilms zurückgreifen, aber die grundlegende Genre-Konstellation zwischen Agens (Tier/e) und Patiens ( junge Frau) verkehrt sich in ihr Gegenteil, weil Ammaniti die Medialisierung seiner literarischen Texte in den letzten Jahren nicht länger als reines Spiel betreibt, sondern anderen Zwecken unterstellt. Wie sich zeigen wird, handelt es sich bei Anna um die Zwecke eines ernsthaften Bildungsromans. Kurz zusammengefasst bedient der doppelte Romaneinstieg unsere realistischen Rezeptionsgewohnheiten also in doppelter Weise und entwickelt sie zugleich in doppelter Weise fort. Zum einen wird das realistische Prinzip der Kontiguität zwischen Romanfiktion und Publikationsdatum bedient, allerdings mit einer leichten Verschiebung zugunsten der nahen Zukunft. Zum anderen knüpft Ammaniti mit dem Objektivitätsideal der impartialité an die Poetik des klassischen Realismus an und bietet darüber hinaus zwei filmbezogene Romaneinstiege in medias res, die naturgemäß für Spannung sorgen ohne dabei unsere Rezeptionsgewohnheiten zu irritieren. Das populäre Genre des Horrorfilms ist dem breiten Publikum gut bekannt. Darüber hinaus sind wir als Zeitgenossen und -genossinnen Ammanitis sowohl in Bezug auf visuelle als auch auf literarische Medien und nicht zuletzt als Leser und Leserinnen von journalistischen Gebrauchstexten mit kataphorischen Informationslagen bestens vertraut. So gesehen gehören fremdmediale Romaneinstiege in medias res zu einem zeitgemäßen literarischen Realismus.

„Anna imparò a conoscere il buio“ – Strukturen des Bildungsromans Schon bei flüchtiger Lektüre des Romans Anna drängen sich neben fremdmedialen Bezügen auch etliche Systembezüge zu unterschiedlichen Gattungen der Erzählliteratur auf: in erster Linie zum Bildungsroman, punktuell auch zum Epos und zum Reiseroman bzw. Roadmovie. Dabei fällt auf, dass es sich durchweg um Gattungen handelt, in denen welthaltige Konflikte und dilemmatische Situationen auf ernsthafte Weise erzählt und verhandelt werden und eine ethische Orientierung aufweisen. Aus gattungspoetologischer Sicht eignen sich die dazugehörigen Elemente, Strukturen und Sujets in besonderer Weise für realistisches Erzählen. Schon der Eigenname im Titel unseres Romans ist Programm und verweist auf den Bildungsroman, wenn man sich einige prominente Vertreter wie

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Wilhelm Meister, Louis Lambert oder – in jüngerer Zeit – Jack Frusciante vor Augen führt. In leichter Abwandlung des Gattungsschemas durchläuft die aus wohl behütetem Studienratsmilieu stammende Anna eine bildungsromanhafte Entwicklung im Zeitraffer von vier Jahren – vom neunjährigen Grundschulkind über den Daseinskampf als Waisenkind, die Erziehung des kleinen Bruders, die Erfahrung der ersten Liebe, der ersten Monatsblutung bis hin zur Wanderung nach Kalabrien. Dabei wird der Figur der Anna naturgemäß der Hauptanteil der Erzählzeit gewidmet. Immerhin erwähnt sei die Tatsache, dass es neben der dominanten Anna-Geschichte mehrere Analepsen gibt, in denen andere Figuren im Mittelpunkt stehen. Mit Blick auf den Bildungsroman von einigem Interesse ist die Geschichte des Hundes, die als Binnengeschichte mit einer eigenen Überschrift („Il cane con tre nomi“, Anna, S. 23) in die Haupthandlung eingelagert ist. Sie ist ihrerseits nicht ganz zufällig wie eine Erziehungsgeschichte angelegt. Denn wir erfahren, dass die atypische Aggressivität des Hundes biographische Ursachen hat. Der Hund erblickt auf einem Schrottplatz am Stadtrand von Trapani das Licht der Welt. Der Schrotthändler Daniele Oddo macht seiner Frau den niedlichen Welpen zum Geburtstagsgeschenk, die ihn auf den Namen „Salame“ tauft. Christian, der Sohn der Familie, wäre gern ein cooler Rapper.19 Er verpasst dem Hund den Namen des legendären Sexualverbrechers und mehrfachen Mörders „Charles Manson“ und richtet ihn mittels Teaser und Eisbädern zu einer Kampfmaschine ab. Nach Ausbruch der Pandemie steigt Charles Manson aufgrund seiner Mordlust zum Alphatier unter den streunenden Hunderudeln auf. Seinen dritten Namen – „Coccolone“ – wird er von den beiden Geschwistern erhalten, die er nach seiner Verwandlung als Freund und treuer Gefährte auf der Wanderung zum Festland begleitet. Man darf also zu dem Schluss kommen, dass die dem Roman – trotz aller widerständigen Negativität – zugrunde liegende Hoffnung auf die Erziehbarkeit des Menschengeschlechts sich in der parabelhaft erzählten Hundebiographie spiegelt. Der klassische Bildungsroman aus der klassischen Epoche des Realismus mag längst gestorben sein,20 oder, besser, an seine Stelle trat schon im 19. Jahrhundert 19 Es steht zu vermuten, dass der Name „Christian“ des temporären Hundeerziehers kein Zufall ist, sondern auf den ungefähr gleichaltrigen „Cristiano“ in Come Dio comanda rekurriert. Letzterer wurde in Ammanitis vorletztem Roman von seinem Vater zum Zwecke der Mannwerdung damit beauftragt, einen Kettenhund zu erschießen. Ammaniti knüpft also mittels auktorialer Intertextualität ganz bewusst an die in Come Dio comanda dominante realistische Schreibweise an und sorgt mit diesem Selbstzitat für entsprechende Kontinuität. 20 Der Bildungsroman ist eine „Großform erzählender Prosa, bestimmt durch die Entwicklungsgeschichte eines jungen Protagonisten“ (Jacobs 2011, S. 230). Auf dem Weg der Selbstfindung durchlebt die Hauptfigur immer wieder Krisen und Irrtümer, weil sich die Poesie im Herzen mit der Prosa der Verhältnisse schlecht zur Deckung bringen lässt. In der Regel bekommt der „epische Vorgang eine teleologische Struktur“ (ebd.) und führt letztlich zu einem Arrangement mit der als feindlich erfahrenen Wirklichkeit. Zwar ist der Bil-

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der Desillusionsroman, aber es spricht einiges dafür, dass er in der italienischen Literatur als renovierte Sparte für weibliche Bildungsgänge überlebt hat, und zwar sehr erfolgreich, wie das Beispiel Elena Ferrantes in jüngster Zeit beweist. Der Roman Anna gehört ohne Zweifel in diese Rubrik. Der gleichaltrige männliche Protagonist Pietro, in den sich Anna verliebt, muss den James-Dean-Tod bei einem Unfall mit dem Motorroller sterben. Anna dagegen absolviert ein – kulturhistorisch gesehen – typisches weibliches Bildungsprogramm, ohne dabei auf ein Mädchen reduziert zu werden, was ihre – wiederum kulturhistorisch betrachtet – maskulinen Auseinandersetzungen mit wilden Hunden und Jugendbanden unterstreichen. Ihre Mädchenerziehung erhält sie über den Tod hinaus von ihrer Mutter. Diese hatte bereits Monate vor ihrem Tod damit begonnen ein Schreibheft mit dem enzyklopädischen Titel „LE COSE IMPORTANTI“ (Anna, S. 44) anzulegen, in dem die wichtigsten Wissensbereiche des Alltagswissens nach Sachgruppen geordnet in einer altersgerechten empathischen Sprache erläutert werden. Längere Textpassagen aus diesem abgenutzten Schreibheft werden regelmäßig wie Intarsien in die laufende Erzählung eingelassen, von der sie sich auch graphisch unterscheiden. Mit diesem hybridisierend-dokumentarischen Gestus unterstreicht Ammaniti seine realistischen Bestrebungen.21 Das Schreibheft kommt regelmäßig an wichtigen Gelenkstellen in Annas Bildungsgang zum Einsatz und bewahrt das Geschwisterpaar mehr als einmal vor falschen Entscheidungen. Wie in einer klassischen Enzyklopädie enthält das Nachschlagewerk der Mutter eine Präambel, in der sie ihre junge Leserin über Sinn und Zweck des Schreibhefts aufklärt und sie außerdem darum bittet, dem vierjährigen Bruder die Kulturtechniken des Lesens und Schreibens beizubringen, weil es sich um wichtige Überlebenspraktiken handelt. Annas Bildungskursus spiegelt sich also in der Erziehung des kleinen Bruders. Der erste Eintrag besteht naturgemäß aus Informationen über das aktuell grassierende Virus „La Rossa“, über die Symptome und den Krankheitsverlauf. Am Schluss des Lemmas folgt ein dringender Appell: Questo punto è molto importante e voglio che non ve lo dimentichiate mai. Da qualche parte nel mondo ci sono dei grandi che sono sopravvissuti e stanno preparando una

dungsroman durch die spezifisch deutsche Bedeutung des Begriffs Bildung geprägt, aber das Konzept ist als Begriff und der Sache nach auch in anderen Kulturen und Sprachen belegt, darunter als italienische Lehnübersetzung (romanzo di formazione). In jüngerer Zeit hat sich das Konzept in der Italianistik im Anschluss an Morettis (1999) einschlägige Studie als fruchtbares Forschungsparadigma etabliert (vgl. etwa Papini 2007, Calabrese 2013, Barracco 2019). 21 Zur Funktion des Dokumentarischen sowie zur Neubewertung intermedialer Bezüge in der aktuellen realistischen Erzählliteratur am Beispiel von Savianos Hybrid-Roman Gomorra vgl. Conrad von Heydendorff (2018), insbes., S. 281–398.

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medicina che salverà tutti i bambini. Arriveranno presto da voi e vi cureranno. (Anna, S. 45)

Die von der Mutter eingepflanzte Hoffnung auf Rettung hat Anna tief verinnerlicht. Das zeigt der Romanverlauf ein ums andere Mal. Allerdings wird sie am Ende ihres kurzen Bildungsganges zu der richtigen Einsicht gelangen, dass sie nicht auf Rettung von außen („Arriveranno presto“) hoffen darf, sondern dass sie sich über die Empfehlung der Mutter hinwegsetzen und ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen muss. Aufs Ganze gesehen dient das mütterliche Schreibheft als Vademecum im Angesicht der Katastrophe. Wie schon im vorangegangenen Beispiel zeigt es sich immer wieder, dass Anna einerseits wichtige Handlungsanweisungen auf unterschiedlichsten Gebieten erhält, aber auf der anderen Seite auch mit unerwarteten Situationen konfrontiert wird. So etwa enthält das Schreibheft einen längeren Eintrag zum Thema ‚Elektrizität‘, in dem erklärt wird, dass nach dem baldigen Ausfall der Elektrizität Geräte wie Fernseher, Computer, Radio und Telefon nicht mehr funktionsfähig seien, aber doch immerhin mittels Lektüre und Gesang kompensiert werden könnten. Dass Anna durch den schrittweisen Rückgang der Zivilisation auch ganz neue Erfahrungen machen würde, steht nicht darin geschrieben. Sie lernt, wie sich die Zeit ohne Elektrizität ausdehnt, wie sich die Tage dahinziehen, wie bedrückend das Ausbleiben von vertrauten Geräuschen der Zivilisation sein kann: Anna imparò ad ascoltare il vento che faceva fremere le finestre e frusciare le foglie, i borbottii del suo stomaco, le voci degli uccelli. In quella quiete appiccicosa anche i tarli che scavavano nelle travi del soffitto le tenevano compagnia. […] Anna imparò a conoscere il buio. […] Anna con il tempo imparò a non averne paura, ci si immergeva certa che ne sarebbe riemersa. Se ne stava sotto una coperta stretta a suo fratello. […] Nuvole o pioggia, freddo o caldo, il buio, prima o poi, perdeva la sua quotidiana battaglia con la luce. (Anna, S. 120, Hervorhebung d.V.)

Die in dieser Passage auftretende Häufung von imparare weist darauf hin, dass in dem mütterlichen Nachschlagewerk nicht alles antizipiert werden kann und dass Anna in ihrem Werdegang eigene Erfahrungen machen muss. Dabei deutet die hier angedeutete rührend-hilflose Zweisamkeit von Schwester und Bruder auf ein weiteres traditionsreiches Motiv jugendlicher Bildungsverläufe. Die Rede ist von jenem romantischen Geschwistermythos, der von Paul et Virginie ausgehend über die kindlichen Erlöserfiguren in den Romanen Victor Hugos über den französische Schulklassiker Le Tour de la France par deux enfants bis zu Calvinos Il sentiero dei nidi di ragno reicht. Die Geschwisterfiguren der aufgezählten Romane stehen in den meisten Fällen für ein allegorisches Versprechen im Hinblick auf die politisch-soziale Regeneration der versehrten Nation. Ob bei Ammaniti eine solche politisch-allegorische Bedeutung unterstellt werden kann,

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sei dahingestellt. Immerhin wird der romantische Geschwistermythos in Anna mit melodramatischer Wucht inszeniert. Nachdem Astor von einer Jugendbande entführt, mit blauer Farbe entindividualisiert und regelrecht abgerichtet wurde, macht sich Anna auf die Suche nach dem Bruder. Als sie ihn findet, kommt es zu einer klassischen Anagnorisisszene: Lui [Astor] la fissò perso, come se non la riconoscesse, poi deglutí un groppo e balbettò: – Anna… Anna… – E scoppiò in un pianto dirotto. Anna gli tese la mano. – Andiamo. L’altro scuoteva la testa con il volto deformato dai singhiozzi. – Astor, andiamo. Il fratello si pulì con il braccio il moccio che gli colava sulle labbra, ma non si mosse. – Andiamo, – ripeté ancora Anna. Ma il bambino fece tre passi indietro, come un gambero, affondando di schiena tra le ossa. – No. Non voglio …(Anna, S. 152f.)

Trotz der einheitlichen Einfärbung der Kinder erkennt Anna ihren Bruder und stürzt sogleich auf ihn los. Auch ihr ‚umprogrammierter‘ Bruder erkennt sie. Die Wiedererkennungsszene ist in hohem Maße melodramatisch, was sich in den heftigen Gefühlsausbrüchen des kleinen Jungen manifestiert, die von widersprüchlichen körperlichen Reaktionen begleitet werden: „deglutí un groppo e balbettò“, „scoppiò in un pianto dirotto“, „il volto deformato dai singhiozzi“, „il moccio che gli colava sulle labbra“. Die Szene wird an das Tragische herangespielt. Astor möchte nicht mitkommen, weil seine Schwester ihn belogen hatte, indem sie – freilich zu seinem Schutz vor Ansteckung – stets behauptet hatte, dass außer ihm und ihr keine Kinder überlebt hätten. In der Szene antwortet er auf Annas Einladung ihr zu folgen mit „Nein“, aber sein Körper sagt „Ja“. Zusätzlich gesteigert wird die Wucht der Szene durch das sublime biblische Substrat, das der Szene zugrunde liegt: die Verleugnung des Petrus, die in allen vier Evangelien berichtet wird. Nach Jesus’ Weissagung, wonach sein Jünger Petrus, noch bevor der Hahn kräht, Jesus drei Mal verleugnen würde, tritt diese Prophezeiung tatsächlich ein. In Analogie zu dieser stark rezipierten biblischen Szene fragt Anna ihren jüngeren Bruder drei Mal, ob er ihr folgen wolle. Das dreimalige Verneinen wird szenisch unterstrichen, indem Astor genau drei Schritte zurücktritt („fece tre passi indietro“). Im Anschluss an diese Szene ist Anna komplett desillusioniert, zumal sie von der Kinderbande und ihren skurrilen Anführern körperlich fixiert und gedemütigt wird. Aber sie gibt nicht auf. Im nachfolgenden Abschnitt gleitet der Erzähler mehr und mehr in ihre Vorstellungswelt hinein und lässt uns an ihren Gedanken teilhaben: Negli ultimi quattro anni di vita Anna aveva sofferto e superato dolori immensi, folgoranti come l’esplosione di un deposito di metano e che le stagnavano ancora nel cuore. […] La vita non ci appartiene, ci attraversa. La sua vita era la medesima che spinge uno scarafaggio a zoppicare su due zampe quando è stato calpestato, la stessa che fa fuggire una serpe sotto i colpi della zappa tirandosi dietro le budella. Anna, nella sua inconsapevolezza, intuiva che tutti gli esseri di questo pianeta, dalle lumache alle rondini,

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uomini compresi, devono vivere. Questo è il nostro compito, questo è stato scritto nella nostra carne. (Anna, S. 156)

Mit dem Diktum „La vita non ci appartiene, ci attraversa“ wird der Roman im Klappentext beworben. Ohne den dazugehörigen Kontext bleibt er missverständlich. Mag das Leben Anna überfahren, sie möchte dennoch um jeden Preis daran festhalten, wenn nicht sogar wieder Herrin ihres eigenen Schicksals sein. Fast möchte man sie als einen weiblichen Candide bezeichnen, der in dieser schlechtesten aller möglichen Welten dennoch auf sein Existenzrecht beharrt und unbeirrt auf das Prinzip Hoffnung setzt. Der weitere Verlauf der Handlung wird ihr Recht geben. Pietro rettet den halbtoten Astor vor der Kulisse des explodierenden Hotels Grand Hotel Terme Elise, dem Hauptquartier der Jugendbande. Schon aus Gründen der Fürsorge muss das Leben weiter gehen. Das Roadmovie kann beginnen, freilich zu Fuß, weil Pietro mit einer reparierten Vespa verunglückt und dabei stirbt: „la vita non ci appartiene, ci attraversa“. Die Route führt von Castellamare, Palermo, Cefalù nach Patti und endet an der epischen Meerenge von Messina. Dass man die Reise der beiden Geschwister mit der Maus auf Googlemaps nachvollziehen kann, steht ebenfalls für den Wunsch nach realistischer Inszenierung. Stellvertretend für ihre jungen italienischen Leser erwandern und erkunden die beiden Geschwister die Landschaft der sizilianischen Insel, um am Ende zu neuen Ufern aufzubrechen. In Messina geraten sie aber nicht zwischen Skylla und Charybdis, wie Odysseus, der berühmteste Reisende der abendländischen Literaturgeschichte. Das episch vorbelastete sublime Terrain wird entmythologisiert und entsprechend flacher gelegt, indem Anna, Astor und der Hund mit einem Tretboot über den drei Kilometer langen Stretto nach Reggio Calabria schippern: Ammaniti hat sich für einen offenen Romanschluss mit Tendenz zum happy ending entschlossen. Anna hat in ihrer Subjektwerdung eine sujetträchtige Grenze überschritten und ein bedeutendes Zwischenziel erreicht. Bestärkt wird man in dieser Lesart aufgrund der Tatsache, dass die bei dem Einstieg in medias res im Romanincipit präsentierte mordlüsterne Hundebestie namens „Charles Manson“ inzwischen den Kosenamen „Coccolone“ trägt und sich in einen unverzichtbaren treuen Begleiter des kleinen Bruders verwandelt hat.

Primärliteratur Alighieri, Dante (2010): La Commedia / Die Göttliche Komödie. I Inferno / Hölle. In Prosa übersetzt und kommentiert von Hartmut Köhler. Stuttgart: Reclam. Ammaniti, Niccolò (1999): Fango. Milano: Mondadori. Ammaniti, Niccolò (2009): Come Dio Comanda. Milano: Mondadori. [2006] Ammaniti, Niccolò (2015): Anna. Torino: Einaudi. [= Anna]

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Forschungsliteratur Barracco, Giovanni (2019): Vocazioni irresistibili, vuoti vertiginosi: il romanzo di formazione negli anni Ottanta del Novecento. Roma: Studium edizioni. Calabrese, Stefano (2013): Letteratura per l’infanzia: fiaba, romanzo di formazione, crossover. Milano: Mondadori. Conrad von Heydendorff, Christiane (2018): Zurück zum Realen. Tendenzen in der italienischen Gegenwartsliteratur. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Jacobs, Jürgen (2011): „Bildungsroman“, in: Harald Fricke (u. a.) (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Band I, A–G. Berlin u. a.: de Gruyter, S. 230–233. Moretti, Franco (1999): Il romanzo di formazione. Torino: Einaudi. Papini, Maria Carla u. a. (2007) (Hg.): Il romanzo di formazione nell’Ottocento e nel Novecento. Pisa: Ed. ETS. Rajewsky, Irina O. (2003): Intermediales Erzählen in der italienischen Literatur der Postmoderne: von den giovani scrittori der 80er zum pulp der 90er Jahre. Tübingen: Narr. Regn, Gerhard (1992): „Postmoderne und Poetik der Oberfläche“, in: Klaus W. Hempfer (Hg.): Poststrukturalismus – Dekonstruktion – Postmoderne. Stuttgart: Steiner, S. 52–74. Scholler, Dietrich (2014): „Inizi difficili – Das Incipit als Problemzone im italienischen Roman der Moderne“, in: Helke Kuhn / Beatrice Nickel (Hg.): Erschwerte Lektüren. Der literarische Text im 20. Jahrhundert als Herausforderung für den Leser. Frankfurt am Main: Lang, S. 107–120. Scholler, Dietrich (2017): Transitorische Texte. Hypertextuelle Sinnbildung in der italienischen und französischen Literatur. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Seeßlen, Georg / Jung Fernand (2006): Horror. Geschichte und Mythologie des Horrorfilms. Marburg: Schüren. Vonderau, Patrick: „‚In the hands of a maniac‘ – Der moderne Horrorfilm als kommunikatives Handlungsspiel“, in: Montage/AV 11/2/2002, S. 129–146. Vossen, Ursula (2004): Horrorfilm. Stuttgart: Reclam.

Filme Ellis, Bret Easton (1991): American Psycho. New York: Vintage. Teague, Lewis (1983): Cujo. USA: Daniel H. Blatt & Robert Singer Productions.

Internetquellen Cujo (1983), Photo Gallery, online verfügbar unter: https://www.imdb.com/title/tt0085382 [Letzter Zugriff am 28. 02. 2021]. Ramge, Ralf (2006): Das Dokument des Grauens. Eine Chronik des Horrorfilms, online verfügbar unter: https://dasgrauen.ch/ [ Letzter Zugriff am 28. 02. 2021].

Fabian Scharf (Berlin)

„L’oceano della realtà non si può versare in una tazzina“: Realistisches Erzählen in Sangue giusto von Francesca Melandri

Der 2017 erschienene Roman Sangue giusto erzählt am Beispiel der Familie Ilaria Profetis die Geschichte Italiens vom späten 19. bis zum frühen 21. Jahrhundert. Dabei werden die dunklen Kapitel der Kolonialgeschichte in Libyen, Äthiopien und Eritrea durch die Biografie von Ilarias Vater Attilio Profeti repräsentiert. Letzterer hat vor seiner Ehefrau und seinen Kindern geheim gehalten, dass er während des Zweiten Weltkrieges in Addis Abeba, der Hauptstadt der italienischen Kolonie Abessinien, als Scharführer, als capomanipolo gedient und eine Familie gegründet hatte. Doch eines Tages erscheint ein junger Afrikaner wie aus heiterem Himmel auf dem Treppenabsatz der römischen Wohnung Ilarias und behauptet, er sei der in Äthiopien geborene Enkelsohn Attilios. Ilaria bemerkt, dass sie über die Lebensgeschichte ihres Vaters so gut wie nichts weiß, und beginnt, die einzelnen Puzzleteile zum zusammenhängenden Bild eines Jahrhunderts zusammenzusetzen. Unser Ziel ist es, zu klären, ob Melandris an die klassische Moderne angelehnter Roman eigene Charakteristika realistischen Erzählens herausbildet und insofern etwas literarisch Neues darstellt oder ob epochenübergreifende Merkmale überwiegen.

1.

Theoretische Grundlagen realistischen Erzählens

1.1

Verschwinden der Erzählinstanz im Roman: Champfleury, Le Réalisme (1857)

Obwohl es sich bei der Lehrerin Ilaria Profeti offensichtlich um ein Alter Ego Francesca Melandris handelt, hält sich die Erzählerin des Romans mit auktorialen Kommentaren zurück. Durch die Absenz der Erzählerstimme an der Textoberfläche erfüllt Sangue giusto ein diegetisches und ästhetisches Prinzip, das Jules Champfleury 1857 für den Realismus definiert und Émile Zola in Bezug auf den Naturalismus bestätigt hat: Beide Autoren fordern das Verschwinden des

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Autors hinter seinem Roman.1 Dies hat Auswirkungen auf den hermeneutischen Prozess. So konstatiert Champfleury im Vorwort seines Werks Le Réalisme, ohne die Intervention einer auktorialen Erzählinstanz entstehe eine Mehrdeutigkeit, die es dem Leser unmöglich mache, das Werk ohne Vorkenntnisse hinreichend zu beurteilen. Champfleury stellt den Kritikern der Mitte des 19. Jahrhunderts ein schlechtes Zeugnis aus, da sie sich nicht für die Vorarbeiten, die Studien, die Unsicherheiten und die Zweifel eines Autors sowie die Textvarianten während des Schreibprozesses interessierten. Die Herausforderung für eine seriöse Literaturkritik bestehe darin, instruktiv zu sein, die Vorzüge und Mängel eines Werks zu beschreiben und die Gründe für seinen Erfolg oder Misserfolg zu benennen: „[…] l’écrivain disparaît derrière son œuvre, il prête à mille interprétations contraires, il faudrait être de sa force pour le critiquer, il serait nécessaire d’avoir passé par ses variations, par ses doutes, par ses incertitudes, par ses travaux, par ses études, avant de le juger.“2 Champfleury zufolge müsse das Ziel des Autors darin bestehen, die Mittel zu ergründen, welche einem Kunstwerk den Anschein der Realität verliehen: „Chercher les causes et les moyens qui donnent les apparences de la réalité aux œuvres d’art“3 ist demnach die Aufgabe des realistischen Schriftstellers.

1.2

Temperament und Originalität des Romanciers: Émile Zola, Le Roman expérimental (1880), Guy de Maupassant, Le Roman (1888)

Wie Champfleury im Jahre 1857 widmen sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts Émile Zola und Guy de Maupassant den Literaturkritikern ihrer Zeit. In Le Roman expérimental (1880) bedauert Zola, dass sich sein Vorbild Hippolyte Taine auf die Felder der Geschichte und der Philosophie beschränke und nicht wie Sainte-Beuve mit seinen Urteilen über die großen und die weniger bedeutenden Schriftsteller seiner Zeit die öffentliche Meinung anführe.4 Indem er die 1 Sie fordern das, was Wayne C. Booth im 20. Jahrhundert als die Technik des Showing beschreiben und vom auktorialen Kommentar, vom Telling, unterscheiden wird; vgl. Booth [1961] (1983), S. 3–20. Durch das Showing entsteht ein Eindruck von Nähe, von Unmittelbarkeit, der den Lesenden das Gefühl vermittelt, Augenzeugen des Geschehens zu sein; vgl. Klauk / Köppe [2013] (2014). 2 Champfleury (1857), S. 1. 3 Ebd. „[…] être critique, c’est un emploi, une profession facile à apprendre, qui laisse l’esprit tranquille. On a très peu d’exemples d’une critique littéraire sérieuse, instructive, s’attaquant à un livre, en montrant les fautes et les qualités, expliquant les raisons du succès ou de l’insuccès. […] La plupart des critiques sont des catalogueurs, des embaumeurs, des empailleurs, rien de plus.“ Ebd., S. 1–6. 4 „C’est M. Taine qui est actuellement le chef de notre critique, et il est à regretter qu’il s’enferme dans l’histoire et la philosophie, au lieu de se mêler à notre vie militante, au lieu de diriger

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Fantasiegebilde und die Imagination der Romantik verurteilt, wie sie Alexandre Dumas, Eugène Sue, Victor Hugo und George Sand repräsentierten, fordert Zola von einem Romancier einen Sinn für das Reale, den er seinen Lehrmeistern Balzac und Stendhal zuschreibt, sowie einen persönlichen Ausdruck, wie er im Werk Alphonse Daudets und Saint-Simons zu finden sei.5 Trotz der zahlreichen Meisterwerke des 17., 18. und 19. Jahrhunderts,6 bemerkt Maupassant in seiner Studie Le Roman, die auf September 1887 datiert ist und 1888 als Vorwort von Pierre et Jean veröffentlicht wird, würden es einige Kritiker noch wagen, gewissen Werken den Romanstatus abzusprechen. Indem diese Kritiker unveränderbare Regeln aufstellten, denen ein Roman zu folgen habe, verteidigten sie bloß das Althergebrachte, anstatt junge Autoren dazu zu ermutigen, literarisch neue Wege einzuschlagen. Trotz der Meinung einiger Literaturkritiker lebe der Roman jedoch von der formalen und inhaltlichen Innovation.7 Was Maupassant zufolge am meisten zählt, sind die Originalität und das Temperament, die es dem Romancier erlaubten, seiner persönlichen Sicht auf die Welt literarisch Ausdruck zu verleihen, weshalb der Autor von Pierre et Jean Romane verschiedenster Epochen zu seinen Vorbildern zählt. Das Ziel eines Schriftstellers bestehe nicht darin, uns eine Geschichte zu erzählen, um uns zu amüsieren oder zu erweichen, sondern darin, uns zum Nachdenken zu bringen und uns den tiefen und verborgenen Sinn des (Roman- und Welt-)Geschehens verständlich zu machen. Um uns zu bewegen, müsse der Romancier das Schauspiel des Lebens vor unseren Augen so genau wie möglich wiederherstellen, l’opinion comme Sainte-Beuve, en jugeant les petits et les grands de notre littérature.“ Zola [1880] (2006), S. 217. 5 „Le sens du réel“ und „L’expression personnelle“, ebd., S. 203–209 und S. 210–215. 6 Zu denen Maupassant so unterschiedliche Texte zählt wie z. B. Manon Lescaut von L’Abbé Prévost (1731), Paul et Virginie von Bernardin de Saint-Pierre (1788), Don Quijote von Cervantes (1605/1615), Les Liaisons dangereuses von Choderlos de Laclos (1782), Die Leiden des jungen Werthers und Die Wahlverwandtschaften von Goethe (1774, 1809), Clarissa von Samuel Richardson (1748), Émile von Rousseau (1762), Candide von Voltaire (1759), Cinq-Mars von Alfred de Vigny (1826), René von Chateaubriand (1802), Les Trois Mousquetaires von Alexandre Dumas (1844), Mauprat von George Sand (1837), Le Père Goriot und La Cousine Bette von Balzac (1835, 1846), Colomba von Prosper Mérimée (1840), Le Rouge et le Noir von Stendhal (1830), Mademoiselle de Maupin von Théophile Gautier (1835), Notre-Dame de Paris von Hugo (1831), Salammbô und Madame Bovary von Flaubert (1862, 1857), Adolphe von Benjamin Constant (1816), Monsieur de Camors von Octave Feuillet (1867), L’Assommoir von Zola (1877) und Sappho von Alphonse Daudet (1884); Maupassant [1887] (1982), S. 48. 7 „Il semble cependant que ces critiques savent d’une façon certaine, indubitable, ce qui constitue un roman et ce qui le distingue d’un autre qui n’en est pas un. Cela signifie tout simplement, que, sans être des producteurs, ils sont enrégimentés dans une école, et qu’ils rejettent, à la façon des romanciers eux-mêmes, toutes les œuvres conçues et exécutées en dehors de leur esthétique. Un critique intelligent devrait, au contraire, rechercher tout ce qui ressemble le moins aux romans déjà faits, et pousser autant que possible les jeunes gens à tenter des voies nouvelles.“ Ebd., S. 48f.

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ohne dass wir seinen Plan oder seine Intentionen durchschauten.8 Maupassant folgt in diesem Punkt dem „roman d’observation et d’analyse“ Zolas, der einem strengen mimetischen Prinzip unterliegt: „Le sens du réel, c’est de sentir la nature et de la rendre telle qu’elle est.“9

2.

Strukturelle Merkmale realistischen Erzählens

2.1

Engagiertes Erzählen, Rahmen- und Binnenerzählung, Reflektorfiguren

Die realistischen und naturalistischen Prämissen lassen sich auf Sangue giusto anwenden: Indem der Roman die aktuelle Flüchtlingskrise aufgreift, engagiert sich die Erzählerin dafür, dem Leser die komplexe Situation im Italien des frühen 21. Jahrhunderts näherzubringen und ihn über die Lebensumstände in den ehemaligen Kolonien und somit die Beweggründe der Flucht nach Europa aufzuklären. Narratologisch ist Sangue giusto an realistische – naturalistische und veristische – Modelle angelehnt, da der Roman auf die Technik der erlebten Rede zurückgreift und über eine Rahmenerzählung und mehrere Binnenerzählungen verfügt, bei der jeweils eine Reflektorfigur dominiert. Ilaria Profeti erfüllt diese Funktion in Bezug auf die politische Lage Italiens um das Jahr 2012 und den Rückblick auf die letzten eineinhalb Jahrhunderte. In der Rahmenerzählung des Kapitels 0, das zugleich als die Stunde Null einer neuen Ära erscheint, trägt Ilaria mit ihrem Vater Attilio einen der letzten aktiv beteiligten Zeitzeugen des kolonialen und faschistischen Italiens zu Grabe. Da ihre Gedanken die gesamte Erzählung einrahmen, dominiert Ilarias Stimme die Dialogizität des Romans, 8 „Le talent provient de l’originalité, qui est une manière spéciale de penser, de voir, de comprendre et de juger. Or, le critique qui prétend définir le Roman suivant l’idée qu’il s’en fait d’après les romans qu’il aime, et établir certaines règles invariables de composition, luttera toujours contre un tempérament d’artiste apportant une manière nouvelle. […] Le romancier […] qui prétend nous donner une image exacte de la vie, doit éviter avec soin tout enchaînement d’événements qui paraîtrait exceptionnel. Son but n’est point de nous raconter une histoire, de nous amuser ou nous attendrir, mais de nous forcer à penser, à comprendre le sens profond et caché des événements. […] Pour nous émouvoir, comme il l’a été lui-même par le spectacle de la vie, il doit la reproduire devant nos yeux avec une scrupuleuse ressemblance. Il devra donc composer son œuvre d’une manière si adroite, si dissimulée, et d’apparence si simple, qu’il soit impossible d’en apercevoir et d’en indiquer le plan, de découvrir ses intentions.“ Ebd., S. 49, S. 52. Zola hatte bereits 1868 im Vorwort von Thérèse Raquin erklärt, er wolle nicht den Charakter, sondern das Temperament seiner Figuren analysieren: „Dans Thérèse Raquin, j’ai voulu étudier des tempéraments et non des caractères. Là est le livre entier. J’ai choisi des personnages souverainement dominés par leurs nerfs et leur sang, dépourvus de libre arbitre, entraînés à chaque acte de leur vie par les fatalités de leur chair.“ Vgl. „Dossier“, in: Zola [1880] (2006), S. 420. 9 Ebd., S. 204, S. 206.

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wobei sie ihres Vaters auf eine liebevolle, versöhnliche Weise gedenkt, welche allerdings nicht die Analyse scheut und auch nicht frei von ironischen Zwischentönen ist. So ironisiert Ilaria den Faschismus, indem sie das Leben als einen Wettkampf darstellt, den man gewinnen oder von dem man disqualifiziert werden kann. In Kapitel 0 konstatiert sie in Richtung ihres verstorbenen Vaters: „Anche tu ora sei uscito.“, um den Roman mit dem Gedanken zu schließen: „Accidenti, papà. Non l’hai mica vinta la Gara.“10 In Ilarias Perspektive zeichnet sich eine Gesellschaft ab, in der eine Atmosphäre des Zynismus, des Egoismus, der Oberflächlichkeit und der Politikverdrossenheit vorherrsche, was den Sieg Silvio Berlusconis bei den Parlamentswahlen 2008 begünstigt habe. Ilarias ambivalentes Verhältnis zu Rom kann als eine Art Hassliebe beschrieben werden, da sie sich mal als betrogene Liebhaberin, mal als Sklavin der italienischen Hauptstadt bezeichnet.11 Trotz der subjektiven Figurenperspektive entwirft der Roman ein differenziertes Bild der italienischen Geschichte und Aktualität und distanziert sich implizit, mittels des populistischen Schreckbilds der Berlusconi-Regierungen, von den einfachen Weltbildern und Lösungen einiger derzeit in Europa beliebter Politiker.

2.2

Rhetorische Figuren/Stilmittel, Intertextualität

Von Interesse sind neben den narrativen Strukturen die von Melandris Erzählerin eingesetzten rhetorischen Figuren, die sich an realistischen Modellen orientieren. Stilistisch ist Sangue giusto an Werke der klassischen Moderne angelehnt, von denen vor allem Le Ventre de Paris (1873) von Émile Zola, À rebours von Joris-Karl Huysmans (1883) und À la recherche du temps perdu (1913–1927) von Marcel Proust zu erwähnen sind. In Kapitel 1 von Sangue giusto, dessen Handlung im Jahr 2010 verläuft, taucht der Leser in die Atmosphäre der Wohnung Ilarias ein, die sich im sechsten und letzten Stockwerk eines Wohnhauses auf dem höchsten Hügel Roms, dem Esquilino, befindet. Doch statt einer Meeresbrise aus dem nahegelegenen Hafen Ostia, der das Apartment mit einer Art Fernweh erfüllt, spürt Ilaria den Hauch von Kebab, Kimchi und Masala dosa. Dieses Gemisch aus exotischen Gerüchen empfindet die Römerin als penetrant, löst es doch bei ihr die Erinnerung an einen Darmvirus aus, der vor Jahren bei jedem Essensgeruch Übelkeit in ihr hervorrief:

10 Melandri (2017), Kap. 0, eBook [Hervorhebung i. O.]. 11 „[…] si rende conto che è un sentimento da amanti traditi, anzi peggio, da schiavi.“; „[…] una generazione cinica, egoista e superficiale. […] E intanto, veniva eletto e rieletto Silvio Berlusconi.“ Ebd., Kap. 1, eBook.

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Il respiro del mare, a cui Roma volta le spalle seppure in realtà sia molto vicino, spesso a fine pomeriggio scavalca i condomini di periferia degli speculatori, sorvola i quartieri del centro lungo il fiume e s’infila dritto nelle finestre d’Ilaria all’ultimo piano. In quei momenti, il suo piccolo appartamento si pervade di una specie di nostalgia: di vastità, orizzonti, rotte oceaniche – roba del genere. Lei ci ha messo molti anni a capire che si tratta dello iodio della brezza di mare. Quello di Ostia, certo, ma pur sempre un mare. Spesso, però, nemmeno l’aria del Tirreno ce la fa a disperdere le spezie invadenti delle cucine dell’Esquilino. Più volte durante la giornata, a ogni ora, riempie il popoloso cortile largo quanto l’intero isolato, più di una dozzina di condomini. Anni fa un virus intestinale ha procurato a Ilaria giorni di febbre e repulsione per ogni cibo; per sedare i conati provocati da quegli odori, ha dovuto sigillare le finestre con il nastro adesivo. […] Ormai abita qui da troppo tempo per non sapere che è inutile cercare di difendersi da queste esalazioni. Può solo dare a ogni puzza un nome da profumeria: ecco una bella spruzzata di Eau de Maghreb; toh, una nuvoletta di Obsession d’Inde; ah, l’interessante bouquet – cavolo fermentato e aglio crudo – del più raro Korea Extréme [sic].12

Wir können das Auslösen von Erinnerungen durch Sinneseindrücke als eine – freilich entfernte und verfremdete – Reminiszenz an Marcel Prousts À la recherche du temps perdu betrachten, wenngleich das vertraute und harmonische Zusammenspiel aus Lindenblütentee und Madeleine durch ein aufdringliches Gemisch exotischer Gerüche ersetzt wird, Ilaria alles andere als nostalgisch in die Vergangenheit blickt und höchstens auf der Suche nach ihrem Fiat Panda in den Straßen Roms von verlorener Zeit spricht.13 Und doch scheint die Sinneswahrnehmung bei Proust und Melandri Ausgangspunkt der Suche nach Wahrheit zu sein, einer Wahrheit, die weder objektiv noch Teil der gegenwärtigen materiellen Welt ist, sondern der subjektiven Wahrnehmung und Erinnerung entspringt. Wie der Ich-Erzähler in À la recherche du temps perdu steht Ilaria vor einer dunklen Landschaft, die sinnbildlich für die Biografie ihres Vaters und die Geschichte Italiens steht und die im Licht der Erkenntnis erstrahlen soll. Auffällig ist, dass die Wahrheitssuche bei Proust mit dem kreativen Prozess des Erschaffens, dem poetischen Akt der Schöpfung verbunden ist: Je pose la tasse et me tourne vers mon esprit. C’est à lui de trouver la vérité. Mais comment ? Grave incertitude, toutes les fois que l’esprit se sent dépassé par lui-même ; quand lui, le chercheur, est tout ensemble le pays obscur où il doit chercher et où tout son bagage ne lui sera de rien. Chercher ? pas seulement : créer. Il est en face de quelque chose qui n’est pas encore et que seul il peut réaliser, puis faire entrer dans sa lumière.14

Betrachten wir ein weiteres Modell von Sangue giusto, einen Text, der als ‚Bibel der Dekadenz‘ in die Literaturgeschichte eingegangen ist: Die Tatsache, dass Ilaria sich in ihrer Wohnung isolieren will und dennoch dem unangenehmen 12 Ebd. 13 „Tempo frustrante e perduto“; ebd. 14 Proust [1913] (1987), S. 45.

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Geruch des Stadtviertels ausgeliefert ist, stellt sowohl eine Parallele als auch einen Kontrast zu À rebours von Joris-Karl Huysmans dar, da des Esseintes sein Haus in Fontenay-aux-Roses hermetisch von der Außenwelt abriegelt, bevor er sich an den selbst hergestellten Geschmacks- und Duftnoten berauscht. Während die Römerin der olfaktorischen Belästigung zu entfliehen sucht, begibt sich der dekadente Dandy im Pariser Vorort auf eine ästhetische Suche. Dabei ist die synästhetische Konnotation, durch die verschiedene Sinneseindrücke synchron stattfinden, bereits in der „orgue à bouche“, der Mundorgel enthalten, mithilfe der des Esseintes in Kapitel IV verschiedene Spirituosen mischt, um eigene Geschmackssinfonien zu einer „musique des liqueurs“ zu komponieren.15 Dabei achtet er penibel auf den harmonischen Einsatz der verschiedenen Instrumente: Il appelait cette réunion de barils à liqueur, son orgue à bouche. […] L’orgue se trouvait alors ouvert. Les tiroirs étiquetés ‚flûte, cor, voix céleste‘ étaient tirés, prêts à la manœuvre. Des Esseintes buvait une goutte, ici, là, se jouait des symphonies intérieures, arrivait à se procurer, dans le gosier, des sensations analogues à celles que la musique verse à l’oreille. Du reste, chaque liqueur correspondait, selon lui, comme goût, au son d’un instrument. Le curaçao sec, par exemple, à la clarinette dont le chant est aigrelet et velouté ; le kummel au hautbois dont le timbre sonore nasille ; la menthe et l’anisette, à la flûte, tout à la fois sucrée et poivrée, piaulante et douce ; tandis que, pour compléter l’orchestre, le kirsch sonne furieusement de la trompette ; le gin et le whisky emportent le palais avec leurs stridents éclats de pistons et de trombones, l’eau-de-vie de marc fulmine avec les assourdissants vacarmes des tubas, pendant que roulent les coups de tonnerre de la cymbale et de la caisse frappés à tour de bras, dans la peau de la bouche, par les rakis de Chio et les mastics !16

Nachdem er sich den Blasinstrumenten eines Sinfonieorchesters gewidmet hat, sucht des Esseintes Analogien zur Kammermusik, um seine Spirituosen wie die Streich- und Zupfinstrumente eines Quartetts bzw. Quintetts harmonieren zu lassen: Il pensait aussi que l’assimilation pouvait s’étendre, que des quatuors d’instruments à cordes pouvaient fonctionner sous la voûte palatine, avec le violon représentant la vieille eau-de-vie, fumeuse et fine, aiguë et frêle ; avec l’alto simulé par le rhum plus robuste, plus ronflant, plus sourd ; avec le vespétro déchirant et prolongé, mélancolique et caressant comme un violoncelle ; avec la contrebasse, corsée, solide et noire comme un pur et vieux bitter. On pouvait même, si l’on voulait former un quintette, adjoindre un cinquième instrument, la harpe, qu’imitait par une vraisemblable analogie, la saveur vibrante, la note argentine, détachée et grêle du cumin sec.17

15 Huysmans [1884] (2004), S. 83f. 16 Ebd. 17 Ebd., S. 84.

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Dass bei Huysmans Gerüche Unwohlsein auslösen, verdeutlicht das Kapitel VIII von À rebours, in dem des Esseintes in der Atmosphäre seiner Zimmerpflanzen zu ersticken droht und in sein Schlafzimmer flüchtet. Der süßlich-schwere Blumenduft seiner Wohnung löst in ihm einen Alptraum aus, in dem die Ambivalenz aus Flucht und Verfolgung, Faszination und Ekel vorherrscht: Il était un peu las et il étouffait dans cette atmosphère de plantes enfermées ; les courses qu’il avait effectuées, depuis quelques jours, l’avaient rompu ; le passage entre le grand air et la tiédeur du logis, entre l’immobilité d’une vie recluse et le mouvement d’une existence libérée, avait été trop brusque ; il quitta son vestibule et fut s’étendre sur son lit ; mais, absorbé par un sujet unique, comme monté par un ressort, l’esprit, bien qu’endormi, continua de dévider sa chaîne, et bientôt il roula dans les sombres folies d’un cauchemar.18

Noch ergiebiger ist es, ein naturalistisches Modell für Melandris Romananfang heranzuziehen, und zwar Émile Zolas Le Ventre de Paris. Einerseits ähnelt die Sinnesverschmutzung, die in Ilarias Wahrnehmung als „inquinamento sensoriale“19 bezeichnet wird, der „indigestion d’odeurs“20, an der Florent im dritten Kapitel des Romans angesichts des Warenüberflusses in den Markthallen von Paris leidet und die ein Gefühl des Ekels in ihm hervorruft. Während Ilaria vergeblich versucht, die Fensterritzen mit Klebeband abzudichten, um den Essensgeruch von sich fernzuhalten, kann Florent dem Gestank des Fischhandels selbst in seinem Büro nicht entkommen, da dieser durch die nur grob gezimmerten Holzplanken der Tür und der Fensterrahmen zu ihm vordringt. Verloren in diesem übelriechenden Sumpf, erleidet Florent nervöse Angstzustände: Florent souffrit alors de cet entassement de nourriture, au milieu duquel il vivait. Les dégoûts de la charcuterie lui revinrent, plus intolérables. Il avait supporté des puanteurs aussi terribles ; mais elles ne venaient pas du ventre. Son estomac étroit d’homme maigre se révoltait, en passant devant ces étalages de poissons mouillés à grande eau, qu’un coup de chaleur gâtait. Ils le nourrissaient de leurs senteurs fortes, le suffoquaient, comme s’il avait eu une indigestion d’odeurs. Lorsqu’il s’enfermait dans son bureau, l’écœurement le suivait, pénétrant par les boiseries mal jointes de la porte et de la fenêtre. Les jours de ciel gris, la petite pièce restait toute noire ; c’était comme un long crépuscule, au fond d’un marais nauséabond.21

Andererseits verweisen die blumigen Produktnamen, durch die Ilaria in ironischer Verzweiflung die Essensgerüche des Esquilino den Duftnoten in einer 18 Ebd., S. 129f. Der Herausgeber Daniel Grojnowski vergleicht den Onirismus des Kapitels mit der grotesken Bildsprache von Peter Breughel dem Älteren und Hieronymus Bosch, den Pierrots von Willette, den Landschaften von Odilon Redon und den Geistern von Félicien Rops; vgl. ebd., S. 271f. 19 Melandri (2017), Kap. 1, eBook. 20 Zola [1873] (1960), S. 730. 21 Ebd.

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Parfümerie zuordnet – „Eau de Maghreb“, „Obsession d’Inde“ und „Korea Extréme [sic]“ –,22 nicht nur auf die Likör- und Pflanzenessenzen in Kapitel IV und VIII von À rebours, sondern auch auf die Kakophonie der Käsedüfte in Kapitel V von Le Ventre de Paris, die in Florent Übelkeit und Erstickungsängste hervorrufen: C’était une cacophonie de souffles infects, depuis les lourdeurs molles des pâtes cuites, du gruyère et du hollande, jusqu’aux pointes alcalines de l’olivet. Il y avait des ronflements sourds du cantal, du chester, des fromages de chèvre, pareils à un chant large de basse, sur lesquels se détachaient, en notes piquées, les petites fumées brusques des neufchâtels, des troyes et des mont-d’or. Puis les odeurs s’effaraient, roulaient les unes sur les autres, s’épaississaient des bouffées du Port-Salut, du limbourg, du géromé, du marolles, du livarot, du pont-l’évêque, peu à peu confondues, épanouies en une seule explosion de puanteurs. Cela s’épandait, se soutenait, au milieu du vibrement général, n’ayant plus de parfums distincts, d’un vertige continu de nausée et d’une force terrible d’asphyxie.23

Es bieten sich weitere literarische Vorbilder des 19. Jahrhunderts an: In Kapitel 6 von Sangue giusto, dessen Handlung im Jahr 1985 verläuft, wird der Krieg zwischen Äthiopien und Eritrea aufgrund des Dreiklangs aus Krieg, Hungersnot und Epidemie mit dem lombardischen 17. Jahrhundert in Alessandro Manzonis I promessi sposi (1827/1840–42) verglichen.24 Doch anstatt dass sich die Länder der westlichen Welt ihrer Verantwortung für diesen Krieg bewusst werden, den sie mit Waffenlieferungen unterstützt haben, bestimmen die Benefizkonzerte der Rockstars die Medien. Die Situation in Äthiopien Mitte der 1980er-Jahre wird mit dem Regime der Roten Khmer in Kambodscha, den Militärdiktaturen in Lateinamerika oder der Kulturrevolution in China gleichgesetzt.25 Bezüglich des Erzählstrangs um den Eisenbahner Ernani Profeti, Attilios Vater, können naturalistische Modelle wie die Novelle Bahnwärter Thiel von Gerhard Hauptmann (1888) und der Roman La Bête humaine von Zola (1890) herangezogen werden, was sich nicht nur auf thematischer, sondern auch auf stilistischer Ebene bemerkbar macht. So wird in Kapitel 16 der Zweite Weltkrieg als Schlachtfabrik dargestellt, deren Transportmittel die Eisenbahn sei und die sich lebende Körper einverleibe, um sie dann tot oder verstümmelt wieder auszuspucken: „[…] la ferrovia aveva ripreso a essere il nastro trasportatore della 22 Melandri (2017), Kap. 1, eBook. 23 Zola [1873] (1960), S. 832f. 24 „[…] la sequenza guerra-carestia-epidemia non riguardava solo il Seicento lombardo del Manzoni ma anche, oggi, la guerra fratricida tra Etiopia ed Eritrea.“ Melandri (2017), Kap. 6, eBook. 25 „[…] uno dei regimi più sanguinari del tempo, e sì che negli ultimi decenni di storia planetaria la competizione nella categoria – tra Khmer Rossi in Cambogia e regimi militari in America Latina per non parlare dell’appena finita Rivoluzione Culturale in Cina – era agguerrita.“ Ebd.

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fabbrica-carneficina: alimentata a corpi vivi, sfornava morti e mutilati.“26 Was die Metaphorik des Verschlingens und der Monstrosität betrifft, könnten zahlreiche Romane von Zola genannt werden, die Vorbild für Melandri sind, da sie mechanische Abläufe mit den Wortfeldern „engloutissement“ und „voracité“ konnotieren. Da wären das Bergwerk in Germinal (1885), die Hochöfen in Travail (1901), die Lokomotiven in La Bête humaine (1890), das Kaufhaus in Au Bonheur des Dames (1884), und nicht zuletzt die Markthallen, die dem Roman den Titel Le Ventre de Paris (1873) verleihen.27 Bei Melandri verstärkt sich der Anthropomorphismus des Krieges dadurch, dass er für Ernani ein widerwärtiger alter Bekannter ist, dem er nie wieder habe begegnen wollen, der aber wieder über seine Gleise fahre: „La guerra passava di nuovo dai binari di Ernani Profeti, vecchia conoscenza pestilenziale che sperava di non dover mai più incontrare.“28 Weitere Stilmittel, wie z. B. die Metapher der „pioggia di sangue“,29 des Regens aus Blutstropfen, mit dem die Erzählerin in Kapitel 17 die Schmetterlinge in Abessinien vergleicht und der freilich seit Homers Ilias in der abendländischen Literatur zu finden ist,30 legen eine rhetorische Verwandtschaft von Sangue giusto mit Romanen des französischen Naturalismus nahe. So sehen Silvère und Miette in La Fortune des Rougon (1871), dem ersten Roman des Zyklus Les Rougon-Macquart, in einer zugleich onirischen und halluzinatorischen Szene „une pluie de sang“ in ihrem Zimmer niedergehen, deren größte Tropfen sich auf dem Boden in Goldmünzen verwandeln.31 Was die kolonialistischen Ideen betrifft, ist Gabriele D’Annunzio, literarischer Vertreter des Fin de Siècle und des Symbolismus, Vorbild für Attilio Profeti, der den berühmten Dichter mit den Worten zitiert, Äthiopien sei schon immer italienisch gewesen: „Gabriele D’Annunzio aveva gridato: ‚L’Etiopia è italiana da sempre!‘“32

26 27 28 29

Ebd., Kap. 16, eBook. Vgl. Noiray (1981), S. 352ff. Melandri (2017), Kap. 16, eBook. „[…] sciami di farfalle tutte dello stesso colore, ora gialle ed enormi, ora trasparenti e azzurrine, ora piccole e rosse come una pioggia di sangue.“ Ebd., Kap. 18, eBook. 30 Vgl. die Metapher der „pluie de sang“ im 16. Gesang der französischen Übersetzung von Leconte de Lisle (Homer 1882, S. 301). Nicht ohne eine gewisse Kühnheit rechnet Zola Homer zu den naturalistischen Dichtern: „Homère est un poète naturaliste“; Zola [1880] (2006), S. 130. 31 „Ils s’embrassèrent encore, ils s’endormaient. Et, au plafond, la tache de lumière s’arrondissait comme un œil terrifié, ouvert et fixé longuement sur le sommeil de ces bourgeois blêmes, suant le crime dans les draps, et qui voyaient en rêve tomber dans leur chambre une pluie de sang, dont les gouttes larges se changeaient en pièce d’or sur le carreau.“ Zola [1871] (1960), S. 270. 32 Melandri (2017), Kap. 18, eBook.

Realistisches Erzählen in Sangue giusto von Francesca Melandri

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„L’oceano della realtà“: das Ozeanische der Realität

Dass Sangue giusto nicht nur auf realistische Vorbilder der klassischen literarischen Moderne, sondern auch auf antike mythologische, philosophische und religiöse Quellen zurückgreift, zeigt sich in Kapitel 9, in dem sich Ilaria der kolonialen und faschistischen Vergangenheit ihres Vaters bewusst wird und sich zugleich wie einer dieser dummen Propheten fühlt, die das Göttliche aufforderten, sich zu offenbaren, und dann erblindeten. Doch Ilaria spürt, dass sie nicht Zeugin einer Offenbarung, sondern ihres Gegenteils ist; denn, so erfahren es die Lesenden dank der Innensicht der Erzählerin, der Ozean der Realität passe nicht in eine Kaffeetasse, zumindest nicht auf einmal: „Si sente uno di quei profeti stupidi che hanno osato dire al numinoso: ‚Rivelati!‘ e finiscono accecati. Ma questa non è un’epifania, semmai il suo contrario: l’oceano della realtà non si può versare in una tazzina. Almeno, non tutto insieme.“33 Es klingt hier der Mythos des blinden Sehers Teiresias an, wie er zuerst von Homer (Odyssee) überliefert, danach von Autoren wie Hesiod, Aischylos (Sieben gegen Theben), Sophokles (König Ödipus, Antigone) und Ovid (Metamorphosen) zitiert, von Dante (La Divina Commedia) und John Milton (Paradise Lost) kunstvoll adaptiert und schließlich von Apollinaire (Les Mamelles de Tirésias) und T. S. Eliot (The Waste Land) in die Moderne transponiert wird. Außerdem stellt Ilarias Gedankenstrom eine Referenz an die Geschichten der blinden Propheten in der Bibel dar, zu denen im Alten Testament u. a. die Geschichte von Bileams Esel zu rechnen ist (Num 22–24), die auf Rembrandts Gemälde eindrücklich geschildert wird. Aus dem Neuen Testament bietet sich die Bekehrung des Saulus zum Paulus an, von der die Apostelgeschichte des Lukas berichtet. Demnach sei Paulus auf dem Weg nach Damaskus nach der visionären Lichterscheinung des auferstandenen Christus tagelang erblindet, bis ein anderer Urchrist ihn gerettet habe, worauf er sich habe taufen lassen (Apg 9, 3–29). Da bei Melandri vom Gegenteil einer Offenbarung die Rede ist, liegt es nahe, die Metapher des Ozeans der Realität, der in keine Kaffeetasse gegossen werden könne, als Säkularisierung der Legende von Augustinus und dem Knaben am Meer zu deuten, die seit dem 14. Jahrhundert fester Bestandteil der AugustinusBiografien ist und von Botticelli 1487 auf der Predella des Barnabas-Altars dargestellt wird. Der lateinischen Parabel zufolge erblickt der Kirchenvater, als er das Buch der Dreifaltigkeit vorbereitet, an einem Strand einen Knaben, der Meerwasser mit einem Löffel in eine Grube schöpft. Auf die Frage, was er dort mache, antwortet der Knabe, er wolle das Meer trockenlegen, indem er sein gesamtes Wasser in die Grube fülle. Auf den Einwand des Augustinus, dies sei unmöglich, entgegnet der Knabe, dies sei eher möglich, als es seinem Gegenüber gelänge, das 33 Ebd., Kap. 9, eBook.

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geringste Geheimnis der Dreifaltigkeit in einem Buch festzuhalten. Nachdem er die Grube mit dem Buch, das Meer mit der Dreifaltigkeit und den Löffel mit dem Verstand des Kirchenvaters verglichen hat, verschwindet der Knabe. Augustinus fängt daraufhin an zu beten, bevor er beginnt, das Buch der Dreifaltigkeit zu verfassen.34 Dass es sich bei Melandri um eine Verweltlichung des Sakralen handelt, zeigt die Tatsache, dass in der Metapher des Ozeans die profane Realität das Erhabene und Religiöse ersetzt, was durch die Nennung des alltäglichen Gebrauchsgegenstands der „tazzina“ noch betont wird. Nicht zuletzt besteht eine Analogie zwischen dem „oceano della realtà“ und dem „‚Ozeanische[n]‘“, mit dem Sigmund Freud zu Beginn seiner Schrift Das Unbehagen in der Kultur (1930) die „Quelle der Religiosität“ als „ein Gefühl wie von etwas Unbegrenztem, Schrankenlosem“, als „die Empfindung der Ewigkeit“ beschreibt. Jedoch könne Freud selbst das „‚ozeanische‘ Gefühl“, das für ihn „eine rein subjektive Tatsache“ sei, „nicht in [sich] entdecken“.35 Wie die Religion bei Freud erscheint die Realität bei Melandri als etwas Subjektives, nicht Überschaubares und kaum Greifbares, das – wenn überhaupt – nicht als Ganzes, sondern nur in seinen einzelnen Phänomenen und aus einer individuellen Perspektive zu erfassen ist. Melandris Erzählerin zufolge ist die Vorstellung einer objektiven und allgemeingültigen Realität eine Illusion, ein Irrglaube, den wir – in Anlehnung an das berühmte Religionszitat von Karl Marx – als „das Opium des Volks“ bezeichnen können.36 Denn letztlich hänge die Wirklichkeit von der einzelnen Wahrnehmung und den gegebenen Umständen ab. Dies zeigt sich im zehnten und elften Kapitel von Sangue giusto, in denen sich Ilaria daran erinnert, dass ihr Vater ihr einst zögerlich von seiner Geliebten und ihrem Halbbruder erzählt hat, als sie sechzehn Jahre alt war. Der Vater tut dies in Ilarias Erinnerung nur, weil er es nicht mehr abstreiten und verheimlichen kann. Attilio Profeti will den Weg des geringsten Widerstands gehen und bittet seine noch minderjährige Tochter, es der Mutter zu sagen. Als die erwachsene Ilaria diese Szene Revue passieren lässt, stellt sie fest, dass ihr Vater und sie noch nie ein und dasselbe Universum bewohnt hätten. Was sie bewegt, ist „questa implacabile centralità del proprio punto di vista per 34 Vgl. Société des Bollandistes (1743), S. 357f. 35 „[…] die eigentliche Quelle der Religiosität […] sei ein besonderes Gefühl […]. Ein Gefühl, das er [ein namentlich nicht genannter „Freund“ Freuds] die Empfindung der ‚Ewigkeit‘ nennen möchte, ein Gefühl wie von etwas Unbegrenztem, Schrankenlosem, gleichsam ‚Ozeanischem‘. Dies Gefühl ist eine rein subjektive Tatsache […]. Ich selbst kann dies ‚ozeanische‘ Gefühl nicht in mir entdecken.“ Freud [1930] (2014), S. 875. Zygmunt Bauman zufolge ist Freuds Werk für heutige Lesende mit „Das Unbehagen in der Moderne“ zu betiteln, da es der „Geschichte der Moderne“ gewidmet sei und den kulturwissenschaftlichen Diskurs über die Moderne initiiert habe; Bauman (1999), S. 7. 36 „Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volks.“ Marx [1844] (2017), S. 3.

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ognuno“, „diese unversöhnliche Zentralität des jeweils eigenen Standpunktes“,37 die dazu führe, dass jeder Mensch in seiner eigenen Realität lebe. Denn für jeden Menschen sei die Wirklichkeit nicht dieselbe, egal wie kompatibel sie mit der des anderen sei. Sie werde nicht nur von jedem Menschen anders erlebt, anders beurteilt und anders interpretiert – sie sei eine andere. Wie Ilaria in einem Roman gelesen hat, sei der Mensch zur Objektivität nicht in der Lage: Denn Definitionen definierten denjenigen, der definiere, nicht den, der definiert werde: „Le viene in mente una frase che ha letto in un romanzo: le definizioni definiscono colui che definisce, non colui che viene definito.“38 Das Konzept der subjektiven Wahrnehmung in Sangue giusto entspricht der Auffassung Maupassants in seiner Studie Le Roman, die talentierten Realisten sollten sich eher als Illusionisten bezeichnen. Denn es sei naiv, an die eine Realität zu glauben, da wir alle unsere eigene Realität in unseren Gedanken und Organen trügen. Unsere unterschiedlichen Seh-, Hör-, Geruchs- und Geschmackssinne bildeten genauso viele Wahrheiten, wie es Einwohner auf der Erde gebe. Und unser Geist, der Befehle von diesen Organen erhalte, die auf verschiedenste Eindrücke zurückgingen, analysiere und urteile, als würde jeder von uns einer anderen Spezies angehören. Jeder Mensch erschaffe sich seine Illusion der Welt, die, je nach dem Wesen der einzelnen Person, eine poetische, sentimentale, fröhliche, melancholische, schmutzige oder dunkle Illusion sei. Die Aufgabe des Schriftstellers bestehe darin, diese Illusion so getreu wie möglich und mit allen Kunstgriffen, die er gelernt habe und über die er verfüge, wiederherzustellen. Maupassant zufolge sei die Illusion des Schönen eine menschliche Konvention, die Illusion des Hässlichen eine sich ändernde Meinung, die Illusion des Wahren niemals unveränderlich, wohingegen die Illusion des Abstoßenden viele Menschen anziehe; große Künstler zeichneten sich dadurch aus, dass sie der Menschheit ihre spezifische Illusion auferlegten. Es führe zu nichts, sich gegen irgendeine Theorie zu erzürnen, weil jede einzelne lediglich der verallgemeinerte Ausdruck eines sich analysierenden Temperaments sei.39 In Maupassants Auf37 Melandri (2018), S. 255. „‚Non è che alla mamma potresti dirglielo tu?‘ aveva detto il padre a Ilaria sedicenne, e in quel momento una comprensione semplice e catastrofica l’aveva investita: lui e lei non avevano vissuto nello stesso Universo. In uno, quello di cui Ilaria era il motore immobile, i figli erano tre e una la moglie; nell’altro, quello di Attilio Profeti, i figli erano quattro (anzi cinque, come lei ha scoperto solo due giorni fa) e le mogli due (anzi tre, se s’include la sconosciuta donna africana). E questa implacabile centralità del proprio punto di vista per ognuno, che lei aveva scoperto quel giorno, era la condizione di base dell’esistenza di tutti.“ Melandri (2017), Kap. 11, eBook. 38 Ebd., Kap. 11, eBook. 39 „[…] les Réalistes de talent devraient s’appeler plutôt des Illusionnistes. Quel enfantillage, d’ailleurs, de croire à la réalité puisque nous portons chacun la nôtre dans notre pensée et dans nos organes. Nos yeux, nos oreilles, notre odorat, notre goût différents créent autant de vérités qu’il y a d’hommes sur la terre. Et nos esprits qui reçoivent les instructions de ces

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fassung sind Theorien das Ergebnis einer Selbstanalyse; sie verraten viel über die Psyche ihres Urhebers, oder, um es mit Ilaria Profeti zu sagen: Sie definieren denjenigen, der definiert!

3.

Poetische und didaktische Funktion realistischen Erzählens

Auf den ersten Blick spiegeln realistische Texte lediglich die poetische Funktion der Literatur wider, die keinen weiteren Zweck als die Unterhaltung der Lesenden zu verfolgen scheint. Bei genauerem Hinsehen macht sich jedoch ihre pädagogisch-didaktische Funktion bemerkbar, durch die sie die Lesenden mitunter wachrütteln und implizit zum Handeln auffordern. Realistisches Erzählen beschränkt sich nicht auf die populistische Rhetorik und den verschwörerischen Duktus des vermeintlichen Tabubruchs, sondern es erfüllt, neben der vordergründigen poetischen Funktion der Literatur, einen veritablen aufklärerischen Zweck und hat den Lesenden gegenüber einen Bildungs- und Informationsauftrag. Dies lässt sich in Sangue giusto von Francesca Melandri beobachten.

3.1

Der ungeschönte Blick auf die italienische Geschichte des 20. Jahrhunderts

Obwohl die Kolonialgeschichte Italiens in der aufgeklärten Gesellschaft des 21. Jahrhunderts als gesellschaftlicher Diskurs enttabuisiert sein sollte, stellt sie vielerorts noch eine unbequeme Wahrheit dar, der es sich zu stellen gilt. Angesichts der Kriegsverbrechen durch die italienische Kolonialmacht, die in Sangue giusto thematisiert werden – der Einsatz von Giftgas, die Pogrome und Massaker an Zivilisten –, können wir die ablehnende Reaktion der Öffentlichkeit, die Jules Champfleury 1857 im Vorwort seines Werks Le Réalisme antizipiert, auf Francesca Melandris Roman übertragen, wobei unser Augenmerk auf Cham-

organes, diversement impressionnés, comprennent, analysent et jugent comme si chacun de nous appartenait à une autre race. Chacun de nous se fait donc simplement une illusion du monde, illusion poétique, sentimentale, joyeuse, mélancolique, sale ou lugubre suivant sa nature. Et l’écrivain n’a d’autre mission que de reproduire fidèlement cette illusion avec tous les procédés d’art qu’il a appris et dont il peut disposer. Illusion du beau qui est une convention humaine ! Illusion du laid qui est une opinion changeante ! Illusion du vrai jamais immuable ! Illusion de l’ignoble qui attire tant d’êtres ! Les grands artistes sont ceux qui imposent à l’humanité leur illusion particulière. Ne nous fâchons donc contre aucune théorie puisque chacune d’elles est simplement l’expression généralisée d’un tempérament qui s’analyse.“ Maupassant [1887] (1982), S. 55f.

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pfleurys pessimistischem Menschenbild liegt.40 Die Rolle des realistischen Autors bestehe darin, sich nicht durch gesellschaftliche Widerstände einschüchtern zu lassen, sondern Missstände anzusprechen und seine Position offen darzulegen. Seine Aufgabe sei es, ein differenziertes Bild der Gesellschaft zu entwerfen und alle sich ihm bietenden sozialen Phänomene bis ins Detail zu analysieren. Indem sie in Sangue giusto eine soziale Studie Italiens des 20. und frühen 21. Jahrhunderts liefert, folgt Melandri dem Ruf Champfleurys, dass Werke mehr zählten als Diskussionen.41 Wie Jules Champfleury nehmen auch Edmond und Jules de Goncourt 1864 im Vorwort von Germinie Lacerteux den Schock und die Entrüstung voraus, die ihr Roman bei den zeitgenössischen Lesern auslösen werde, und definieren zugleich Kriterien für ihr eigenes Konzept des realistischen Romans, des roman vrai, den sie dem populären und mondänen Roman ihrer Zeit, dem roman faux, gegenüberstellen. Die Herausforderung an den realistischen Autor bestehe darin, mit den Erwartungen und (Lese-)Gewohnheiten der Öffentlichkeit zu brechen und die Lesenden mitunter zu verstören. Letztere bevorzugten einerseits anzügliche Werke, die Memoiren leichter Mädchen, pikante Bettgeheimnisse und erotische Obszönitäten, sowie andererseits harmlose bis tröstliche Lektüren, Abenteuer mit Happy End und Fantasien, die weder ihre Verdauung noch ihre Heiterkeit beeinträchtigten, wohingegen Germinie Lacerteux ein strenges und reines Werk sei, das die gesellschaftliche Realität widerspiegele, weil es direkt von der Straße komme.42 In der Tat erzählt Sangue giusto die Geschichte des Zweiten Weltkriegs und der italienischen Kolonien in ungeschönter Weise. Demnach ist Ilarias Vater Attilio Profeti als junger Mann kein Partisanenkämpfer, wie er es stets behauptet, sondern er gehört von Anfang an den faschistischen Schwarzhemden an. Als Zensor bei der kolonialen Post in Äthiopien tauscht er Fotos von Senfgasopfern mit denen von Leprakranken aus, um ein italienisches Kriegsverbrechen zu vertuschen. Dieser Vorgang trägt den perfiden Codenamen 40 „Je possède assez la connaissance des hommes pour ne pas ignorer que je ferais mieux de me taire et de laisser en blanc le présent volume.“ Champfleury (1857), S. 1. 41 „La meilleure manière de prouver sa force se constate par des œuvres plutôt que par des discussions.“ Ebd. 42 „Il nous faut demander pardon au public de lui donner ce livre, et l’avertir de ce qu’il y trouvera. Le public aime les romans faux : ce roman est un roman vrai. Il aime les livres qui font semblant d’aller dans le monde : ce livre vient de la rue. Il aime les petites œuvres polissonnes, les mémoires de filles, les confessions d’alcôves, les saletés érotiques, le scandale qui se retrousse dans une image aux devantures des libraires : ce qu’il va lire est sévère et pur. […] Le public aime encore les lectures anodines et consolantes, les aventures qui finissent bien, les imaginations qui ne dérangent ni sa digestion ni sa sérénité : ce livre, avec une triste et violente distraction, est fait pour contrarier ses habitudes et nuire à son hygiène.“ Goncourt [1864] (1990), S. 55.

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„Operation Morbus Hansen“.43 Dass Attilio kein einfacher Mitläufer ist, erfahren wir, als seine erste Ehefrau Marella die „Scritti di razzismo fascista“, die Schriften zum faschistischen Rassismus, deren Mitverfasser er neben Lidio Cipriani ist, in der Nationalbibliothek entdeckt.44 Am Ende des 18. Kapitels sind wir Augenzeugen des Kriegsverbrechens, an dem Attilio aktiv beteiligt ist, als er bei einer Massenerschießung diejenigen töten soll, welche die Salven der Maschinengewehre überlebt haben. Sein Flammenwerfer hat jedoch eine Ladehemmung: Attilio voltò le spalle agli spari, ai fucilati che si afflosciavano come cenci dopo ogni volata, alle donne urlanti circondate di armati per evitare che si scagliassero sui loro uomini per morire insieme. Ignorò l’odore dolciastro del sangue che ormai pervadeva l’aria. […] Attilio era incapacitato, in quel momento, a riconoscerne la condivisa natura umana. Premette l’interruttore del lanciafiamme. Ne uscì una breve lingua di fuoco che però subito si estinse, lasciando nell’aria solo un’idea di calore. Schiacciò di nuovo la leva, più volte, ma continuava a non succedere niente. Il lanciafiamme gli s’era inceppato.45

Außerdem gewinnt die fiktive Biografie Attilio Profetis an Glaubwürdigkeit durch die historische Figur des Lidio Cipriani (1892–1962), einem Anthropologen, Ethnographen, Entdecker und Unterzeichner des Manifesto della Razza, der von der Minderwertigkeit der afrikanischen Völker zutiefst überzeugt ist und deshalb die Eroberung und Ausbeutung der italienischen Kolonien legitimiert. Im Roman wird die italienische Geschichte anhand von historischen Persönlichkeiten (Benito Mussolini, Lidio Cipriani, Rodolfo Graziani),46 Ereignissen (die Expedition Ciprianis, das Massaker von Amba Aradam)47 und Schriften (wie zum Beispiel der Fisiologia dell’odio von Paolo Mantegazza)48 erzählt.

43 „Operazione Morbo di Hansen“ ; Melandri (2017), Kap. 6, eBook. 44 „Il titolo del volume richiesto era scritto a penna: ‚Scritti di razzismo fascista – Cipriani, Lidio, Profeti, Attilio et al.‘“ Ebd., Kap. 10, eBook. 45 Melandri (2017), Kap. 18, eBook. 46 Neben Mussolini, Cipriani und Graziani, Marschall von Italien und Markgraf von Neghelli, sind weitere historische Figuren Pietro Badoglio (Kap. 6, 12, 14, 16, 18 und 20), die Journalisten Angelo del Boca und Indro Montanelli mit ihrer Kontroverse zum Einsatz von Senfgas (Kap. 12), der Jagdflieger Francesco Baracca (Kap. 10, 13, 16, 18 und 20), Kaiser Haile Selassi (Kap. 6, 8, 12, 14 und 18) sowie Haile Mariam Mengistu (Kap. 2, 6, 8, 9 und 0) und Berhanu Bayeh (Kap. 6 und 0). 47 Der Roman thematisiert an mehreren Stellen die Expedition Ciprianis in Abessinien (Kap. 6, 7, 10, 12, 13, 16, 18 und 19) sowie das Massaker von Amba Aradam (Kap. 6, 12 und 18). 48 In Kapitel 13 wird ein Auszug aus der Fisiologia dell’odio von Paolo Mantegazza zitiert, in dem der Autor auf despektierliche Weise die physischen und psychischen Eigenschaften der Einwohner Abessiniens beschreibt (vgl. auch Kap. 18).

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3.2

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Rückbesinnung auf den Geist der Aufklärung: Wissens- und Wertevermittlung, Religion der Menschlichkeit

Auch gegenwärtige Missstände werden von Melandris Erzählerin schonungslos angesprochen: Im zweiten Kapitel, dessen Handlung im Jahr 2008 verläuft, wird die Gewalt geschildert, die im Flüchtlingslager von Tripolis herrscht, das einem Foltergefängnis gleicht. Auf dem Weg nach Europa tauschen sich die Geflüchteten, deren Ziel Deutschland, England und vor allem Skandinavien ist, über das Dublin-Abkommen aus, das besagt, dass Asylsuchende in dem europäischen Land bleiben müssen, in dem sie zuerst registriert werden. Um die Registrierung zu erschweren, verstümmeln sich daraufhin zahlreiche Gefangene aus Verzweiflung die Fingerkuppen. Ministerpräsident Berlusconi wird auf eine ironisch-distanzierte Weise dargestellt, was einige Anekdoten aus der italienischen Politik belegen. So setzt sich der Regierungschef persönlich für die Freilassung einer wegen Diebstahls verhafteten minderjährigen marokkanischen Prostituierten ein, in dem Glauben, es handele sich um eine Nichte des ägyptischen Präsidenten Mubarak. Das Treffen zwischen Berlusconi und Gaddafi im Jahre 2010 kommentiert die Erzählerin mit beißender Ironie als „süße […] Stunde der Versöhnung zwischen zwei ehemals verfeindeten Ländern“, als einen Augenblick der „Liebe, um den Frieden zwischen den Völkern zu besiegeln“.49 Dabei wird deutlich, dass die Atmosphäre von einer gewissen Doppelmoral geprägt ist: Die italienischen „Jungfrauen“, die Ghaddafi zum Gespräch lädt, sembrano la fantasia erotica fatta da un impiegato di banca sulle colleghe: camicia bianca trasparente sbottonata ben sotto la linea del reggiseno, gonna nera stretta che non arriva a coprire un terzo di coscia, décolleté a spillo da mantide degli uffici. […] Che infatti il colonnello ispeziona con cipiglio militare mentre insegna loro il Corano.50

Dass es sich hier um eine zeitgenössische Moralgeschichte im Sinne des Realismus und Naturalismus handelt, zeigt ein Blick in das Vorwort von Germinie Lacerteux, in dem die Brüder Goncourt beteuern, sie wollten dem Leser ihre Sicht 49 Melandri (2018), S. 266. „In questa dolce ora della riconciliazione tra Paesi un tempo nemici quale migliore strumento, per la pace tra i popoli, dell’amore?“ Melandri (2017), Kap. 11, eBook. Ein weiteres Beispiel für die Ironie der Erzählerin findet sich in Kapitel 18, als Nigro und Carbone als „zwei Exemplare von reinster arischer Rasse, wie schon ihre kohlrabenschwarzen Namen [besagen]“, bezeichnet werden; Melandri (2018), S. 398. „[…] due esemplari purissimi di razza ariana come esemplificato dai loro nomi, Nigro e Carbone.“ Melandri (2017), Kap. 18, eBook. 50 Ebd., Kap. 11, eBook. „[Sie] sehen aus, als seien sie den erotischen Träumen eines Bankangestellten entsprungen: weiße Blusen, aufgeknöpft bis weit unter den BH-Saum, schwarze enge Miniröcke, die kaum ein Drittel der Schenkel bedecken, tief ausgeschnittene Lackschuhe wie eine männerfressende Gottesanbeterin. […] eine Parade, die der Oberst mit finsterer Miene abnimmt, während er den Koran lehrt.“ Melandri (2018), S. 267.

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auf die gegenwärtige Gesellschaft schildern, anstatt ihn durch eine dekolletierte Fotografie der Sinnenfreuden lediglich zu unterhalten. Bei Germinie Lacerteux handele es sich um eine klinische Studie der Liebe. Die Autoren bezeichnen den Roman ihrer Zeit als leidenschaftlich und lebhaft und erklären ihn zugleich zur großen seriösen Form der literarischen Studie und sozialen Erhebung, der sie durch Analyse und psychologische Recherche den Status der „Histoire morale contemporaine“ verleihen wollen. Da sich der Roman wissenschaftliche Methoden auferlegt habe, könne er eine gewisse Freiheit und Offenheit für sich beanspruchen. Die Brüder Goncourt haben nicht die Intention, die Öffentlichkeit zu schockieren und einen literarischen Skandal anzuzetteln. Dennoch wollen sie im 19. Jahrhundert, das sie als ein Zeitalter des allgemeinen Wahlrechts, der Demokratie und des Liberalismus bezeichnen, mit einem der letzten literarischen Tabus brechen: der realistischen Darstellung der unteren gesellschaftlichen Schichten im Roman. Anstatt das einfache Volk, das für sich eine verborgene Welt unterhalb der für uns sichtbaren bürgerlichen Welt darstelle, weiter mit einem literarischen Bann zu belegen und es geringzuschätzen, wollen sich die Brüder Goncourt der Ergründung seines Herzens und seiner Seele widmen. In einem Zeitalter der Gleichheit gebe es für den Schriftsteller und den Leser keine unwürdigen Klassen, keine unbedeutenden Schicksale, keine unanständigen Dramen, keine Katastrophen mit zu unedlem Schrecken mehr. Indem ihr Interesse den Hilfsbedürftigen und den sozialen Außenseitern gilt, wollen die Brüder Goncourt mit ihrem Roman das tragische Genre wiederbeleben, da sie dem Schicksal der kleinen Leute eine Größe beimessen, die vormals der aristokratischen Schicht vorbehalten war. Ihr Ziel ist es, ihre Leser dasselbe Mitleid und denselben Schrecken empfinden zu lassen, wie sie beim Publikum einer Tragödie vorherrschen, um den Roman letzten Endes an das 18. Jahrhundert mit seiner Religion der Menschlichkeit anknüpfen zu lassen.51 51 „[Que le public] ne s’attende point à la photographie décolletée du plaisir : l’étude qui suit est la clinique de l’Amour. […] Pourquoi donc l’avons-nous écrit ? Est-ce simplement pour choquer le public et scandaliser ses goûts ? Non. Vivant au XIXe siècle, dans un temps de suffrage universel, de démocratie, de libéralisme, nous nous sommes demandé si ce qu’on appelle ‚les basses classes‘ n’avait pas droit au Roman ; si ce monde sous un monde, le peuple, devait rester sous le coup de l’interdit littéraire et des dédains d’auteurs qui ont fait jusqu’ici le silence sur l’âme et le cœur qu’il peut avoir. Nous nous sommes demandé s’il y avait encore, pour l’écrivain et pour le lecteur, en ces années d’égalité où nous sommes, des classes indignes, des malheurs trop bas, des drames trop mal embouchés, des catastrophes d’une terreur trop peu noble. Il nous est venu la curiosité de savoir si cette forme conventionnelle d’une littérature oubliée et d’une société disparue, la Tragédie, était définitivement morte ; si, dans un pays sans caste et sans aristocratie légale, les misères des petits et des pauvres parleraient à l’intérêt, à l’émotion, à la pitié, aussi haut que les misères des grands et des riches ; si, en ce mot, les larmes qu’on pleure en bas pourraient faire pleurer comme celles qu’on pleure en haut. […] que ce livre soit calomnié : peu lui importe. Aujourd’hui que le Roman s’élargit et grandit, qu’il commence à être la grande forme sérieuse, passionnée, vivante, de l’étude

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Nachdem Melandris Roman von Beginn an soziales Engagement angesichts hilfsbedürftiger Mitmenschen thematisiert und in Ilaria Profeti personifiziert, kristallisiert sich in den letzten Kapiteln die Vision einer neuen Menschheit ohne Unterschiede, einer „nuova umanità senza più divisioni. Ebbene sì: inclusiva.“52 Da Ilarias Traum einer gerechten, egalitären, ja inklusiven Welt vom Geist der Aufklärung beseelt ist, vollzieht sich in Sangue giusto zumindest auf unbewusste Weise eine Rückbesinnung auf die Ideale des 18. Jahrhunderts, eine Reminiszenz, die sich im 19. Jahrhundert bei zahlreichen realistischen und naturalistischen Autoren beobachten lässt.53 Die Lesersteuerung bei Melandri, durch welche die Erzählinstanz die Lesenden implizit zum Handeln aufzufordern scheint, hat realistische Vorbilder. Das Schicksal der Figuren soll bei den Brüdern Goncourt nicht nur Mitleid bewirken, sondern bei den Rezipierenden einen Reflexionsprozess über die gesellschaftlichen Verhältnisse erzeugen. Diese appellative Intention des realistischen Romans wird im Vorwort von Germinie Lacerteux deutlich, demzufolge die lebendige Darstellung des menschlichen Leidens zwangsläufig in Nächstenliebe und Wohltätigkeit mündet.54 Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Melandris Roman realistischen Modellen folgt, deren narrative und stilistische Strukturen er aufgreift. Insbesondere die Metaphorik in Sangue giusto liefert ein breites Repertoire an rhetorischen Mitteln, die auf realistische Vorbilder zurückgehen. Dabei kommen wir zum Schluss, dass sich Francesca Melandri weniger von der realistischen Tradition emanzipiert, als es andere zeitgenössische Autoren tun, sondern dass in Sangue giusto vor allem epochenübergreifende Merkmale überwiegen.

littéraire et de l’enquête sociale, qu’il devient, par l’analyse et par la recherche psychologique, l’Histoire morale contemporaine, aujourd’hui que le Roman s’est imposé les études et les devoirs de la science, il peut en revendiquer les libertés et les franchises. […] que le Roman ait cette religion que le siècle passé appelait de ce large et vaste nom : Humanité ; – il lui suffit de cette conscience : son droit est là.“ Goncourt [1864] (1990), S. 55f. 52 Melandri (2017), Kap. 19, eBook. 53 Sie liegt zur Jahrhundertwende dem utopischen Denken Émile Zolas zugrunde, dessen Entwurf der glücklichen Gesellschaft des 20. Jahrhunderts auf einer Renaissance des Lumières basiert. Vgl. „Le retour à la Renaissance et aux Lumières“, in: Scharf (2011), S. 297–311. 54 „[…] la souffrance humaine, présente et toute vive, qui apprend la charité“; Goncourt [1864] (1990), S. 56.

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Literaturverzeichnis Primärquellen Champfleury, Jules (1857): Le Réalisme. Paris: Lévy. Goncourt, Edmond et Jules de ([1864] 1990): Germinie Lacerteux. Paris: Flammarion. Homère [Homer] (1882): Iliade [Ilias]. Übers. von Leconte de Lisle. Paris: Lemerre. Huysmans, Joris-Karl ([1884] 2004): À rebours. Paris: Flammarion. Maupassant, Guy de ([1887] 1982): Pierre et Jean. Paris: Gallimard. Melandri, Francesca (2017): Sangue giusto. Mailand: Rizzoli. Melandri, Francesca (2018): Alle, außer mir. Übers. von Esther Hansen. Berlin: Wagenbach. Proust, Marcel ([1913] 1987): Du côté de chez Swann. In: À la recherche du temps perdu. Bd. I. Paris: Gallimard. Société des Bollandistes (1743): Acta Sanctorum Augusti. Antwerpen: Vander Plassche. Zola, Émile ([1871] 1960): La Fortune des Rougon. In: Les Rougon-Macquart. Histoire naturelle et sociale d’une famille sous le Second Empire. Bd. I. Paris: Fasquelle et Gallimard. Zola, Émile ([1880] 2006): Le Roman expérimental. Paris: Flammarion. Zola, Émile ([1873] 1960): Le Ventre de Paris. In: Les Rougon-Macquart. Histoire naturelle et sociale d’une famille sous le Second Empire. Bd. I. Paris: Fasquelle et Gallimard.

Sekundärliteratur Barthes, Roland / Bersani, Leo / Hamon, Philippe / Riffaterre, Michael / Watt, Ian (1982): Littérature et réalité. Paris: Seuil. Bauman, Zygmunt (1999): Unbehagen in der Postmoderne. Hamburg: Hamburger Edition. Begemann, Christian (2011): Realismus. Das große Lesebuch. Frankfurt: S. Fischer. Booth, Wayne C. ([1961] 1983): The Rhetoric of Fiction. Chicago: The University of Chicago Press. Freud, Sigmund ([1930] 2014): Das Unbehagen in der Kultur. in: Gesammelte Werke. Köln: Anaconda. Genette, Gérard, Discours du récit. Paris: Seuil, 1972. Jauß, Hans Robert (1970): Literaturgeschichte als Provokation. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Marx, Karl ([1844] 2017): Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Berlin: Sammlung Hofenberg. Mitterand, Henri (1980): Le Discours du roman. Paris: Presses Universitaires de France. Noiray, Jacques (1981): Le Romancier et la Machine. Bd. 1: L’Univers de Zola. Paris: Corti. Roy-Reverzy, Éléonore (2002): Réalisme et naturalisme: Anthologie. Paris: Flammarion. Scharf, Fabian (2011): Émile Zola: De l’utopisme à l’utopie (1898–1903). Paris: Champion.

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Onlinequellen Klauk, Tobias / Köppe, Tilmann ([2013] 2014): „Telling vs. Showing“, in: Hühn, Peter et al. (Hg.): The Living Handbook of Narratology, Hamburg: Universität Hamburg, online verfügbar unter: https://www.lhn.uni-hamburg.de/node/84.html, [Letzter Zugriff am 03. 10. 2020]. Pellissier, Georges, „Émile Zola et la théorie du naturalisme“ [1896], in: Encyclopédie de L’Agora, online verfügbar unter: http://agora.qc.ca/documents/emile_zola-emile_zola _et_la_theorie_du_naturalisme_par_georges_pellissier, [Letzter Zugriff am 10. 10. 2020].

Gisela Febel (Universität Bremen)

Realismus, Groteske, Ethik des Überlebens in der aktuellen haitianischen gesellschaftskritischen Literatur am Beispiel von Kettly Pierre Mars

Die heutige postkoloniale Welt ist keineswegs eine friedliche Welt harmonischen Zusammenlebens und krisenfreier Fortschrittsbewegungen, im Gegenteil. Nachkoloniale Diktaturen und neokoloniale Machtmechanismen charakterisieren in vielen ehemaligen kolonialen Regionen das Bild bis heute. Diesen Realitäten stellt sich auch die Literatur. In diesem Beitrag möchte ich der Frage nachgehen, mit welchen ästhetischen Mitteln solche Situationen heute literarisch gestaltet werden und wie daraus eine Ethik des Überlebens gewonnen werden kann. Als Beispielfeld dient mir die neuere haitianische Literatur und hier insbesondere das Romanwerk von Kettly Mars. Zentrale Fragestellungen sind die folgenden: – Welche realistischen Darstellungsmodi werden auf den Plan gerufen, um den aktuellen gesellschaftlichen Krisenherden (wie Kriminalität, Korruption, Krieg, Terror, Rassismus, Katastrophen, Armut etc.) Rechnung zu tragen und die Realität literarisch zu rekonstruieren? – Handelt es sich um einen „renouveau du réalisme“, wie Wolfgang Asholt formuliert,1 oder gibt es (auch) andere Quellen für eine vermehrt mimetische bzw. realistisch erscheinende Darstellungsstrategie? – Sind Autoren wie Patrick Chamoiseau aus Martinique und Ahmadou Kourouma aus Westafrika (oder wie hier Kettly Mars aus Haiti) Vertreter*innen einer realistischen und politischen postkolonialen Literatur und was kann das im Besonderen bedeuten? – Welcher narrativen Instrumente bedienen sich die Werke, um Authentizität oder Erfahrung von (lokaler) Wirklichkeit zu vermitteln? – Handelt es sich dabei um eine Rückbesinnung auf die Ansätze der Moderne, eine Wiederaufnahme älterer Realismen oder entsteht etwas völlig Neues? Und wenn ja, auf welchem Weg?

1 Vgl. Asholt (2013).

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In der neueren haitianischen Literatur ist die Repräsentation der Folgen wiederholter Naturkatastrophen ebenso wie der politischen, kolonialen und postkolonialen Katastrophen der Diktaturen, der organisierten Kriminalität, von Flucht, Exil und Gewalt etc. ein nicht wegzudenkendes Themenfeld. Während viele Texte des 20. Jahrhunderts auf die Schrecken der haitianischen Welterfahrung mit experimentellen und dem magischen Realismus verwandten Schreibweisen reagierten, finden sich in den aktuellen Literaturen zunehmend realistisch wirkende Schreibweisen und neue Verwendungen von realistisch markierten Genres wie dem Kriminalroman (insbesondere bei Gary Victor) oder dem dokumentarischen Stil im Film (z. B. bei Raoul Peck), um diese schwierigen heutigen Überlebensbedingungen darzustellen. Autor*innen wie Gary Victor, Kettly Mars und der Filmemacher Raoul Peck finden ihre je eigene Sprache dafür, deren Ausdrucksmittel von der Groteske, über die radikale interne Fokalisierung bis zur Verweigerung des Kommentars, der gezielten Verwendung von Auslassungen, Opazität und Inkommensurabilität als Bruch mit der Interpretierbarkeit der Welt reichen. Realismus bedeutet hier nicht eine mehr oder weniger stabil konstruierte bürgerliche Welt in einer literarischen Laborsituation vorzuführen, sondern oft genug eine Zumutung, die krude Darstellung extremer Lebensbedingungen und zerstörter Gesellschaftsstrukturen, die diverse – für die europäischen Leser*innen zuweilen befremdlich und unwahrscheinlich anmutende – Überlebensstrategien der Protagonist*innen hervorbringt. Diese wiederum kreisen um die Reflexion einer mühsam gewonnen postkolonialen Ethik des Überlebens, um den Erhalt der Menschenwürde und einer humanistischen Haltung, die sich in den Texten in verschiedener Weise ausdrückt und der ich hier nachspüren möchte.

1.

Begriffliche Überlegungen I – effet de réel und punctum

Das Prädikat ‚realistisch‘ kann zu den umstrittensten Begriffen der Kulturwissenschaften gezählt werden, denn es gehört zu den Grundeinsichten der Poetik wie der entsprechenden Disziplinen, dass Realität oder Wirklichkeit nicht einfach nachgeahmt, sondern durch spezifische rhetorische, narrative, stilistische und mediale Verfahren überhaupt erst hervorgebracht wird. Roland Barthes hat daher den Begriff des Realitätseffekts, effet de réel2 geprägt. Realismus und Konstruiertheit der Welt – der fiktionalen Welt – sind also keineswegs unvereinbare Prinzipien, insofern sie beide auf ästhetischen Verfahren beruhen. Indem

2 Vgl. Barthes (1968).

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Barthes diesen Realitätseffekt nicht über den Bezug zu einer wie auch immer gearteten Wirklichkeit definiert, sondern eben auf eine genau kalkulierte Verwendung unterschiedlicher künstlerischer Verfahren zurückführt, umgeht er einige der erkenntnistheoretischen Probleme, die sich im Zusammenhang mit dem Problem der (realistischen) Mimesis stellen.3

Der effet de réel ist bei Barthes bekanntlich als eine Wirkung der Beschreibungsweise definiert und wird insbesondere durch die Präsenz von nicht handlungsbezogenen oder funktionalen Details bestimmt; er ist insofern von einer schlichten Abbildtheorie abgelöst. Das Konzept wird anhand des Romans des 19. Jahrhunderts entwickelt und erlaubt die Loslösung des Realismuskonzepts von der Passung zu einer außerliterarischen Wirklichkeit und deren zeitgebundener Wahrnehmung. Zudem verbindet diese semiotische Bestimmung einer realistischen Schreibweise eine produktionsästhetische Perspektive, in der eine gewisse Überdetermination der Beschreibung durch das détail inutil hergestellt wird, mit einer rezeptionsästhetischen Dimension, in der ein so ausgelöster Wirklichkeitseffekt in der Vorstellungswelt der Leser*innen erst hergestellt wird. Den rezeptionsästhetischen Blickwinkel auf den Eindruck des Realen formuliert Barthes in seinen Essays zur Photographie noch weiter aus und unterstreicht insbesondere die unerwartete Schockwirkung, die einerseits durch eine plötzlich doch sichtbare Übereinstimmung mit dem Außen erfolgt und andererseits durch eine Fähigkeit der Photographie, sich der durchgängigen Codierung zu entziehen. Die PHOTOGRAPHIE – und darin liegt, glaube ich, die Originalität, die Neuheit unseres Seminars – lässt den TRAUM, das IMAGINÄRE (bei) der Lektüre, auf das REALE treffen. […] Alle diese Realitätseffekte sind die der Photographie.4

Bereits in dem Essay Photos-chocs aus den Mythologies5 von 1957 verneint Barthes den Wert jeder künstlerischen Inszenierung oder Gestaltung und führt die einzig mögliche schockierende Wirkung auf das ‚Natürliche‘, auf die reine ‚Buchstäblichkeit‘ mancher Bilder zurück.6 Zudem betrachtet er in Die Fotografie als Botschaft (1961) das photographische Bild als ‚Botschaft ohne Code‘, als – dem Anschein nach zumindest – unmittelbare Denotation der Wirklichkeit bzw. des Referenten:

3 Linck / Lüthy / Obermayr / Vöhler (2010), S. 272; vgl. auch Rancière (2010). 4 Barthes (2008), S. 131 [Hervorhebung i. O.]. In dieser posthum veröffentlichten Vorlesung bezieht sich Roland Barthes auf die Begriffe von Jacques Lacan. 5 Barthes (1957), bes. S. 98–100. 6 Vgl. Barthes (2008) und (1957), hier S. 100. „Le naturel de ces images oblige le spectateur à une interrogation violente […]. La photographie littérale introduit au scandale de l’horreur“.

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Diese „reine Denotation, ein Diesseits der Sprache“ findet aber nach ihm ausschließlich in den „traumatischen Bilder[n]“ statt, welche nichts bedeuten, keine Aussage zulassen, weil das „Trauma […] die Sprache suspendiert und die Bedeutung blockiert“.7

François Salmeron resümiert die zwei Weisen der Berührung des Betrachters durch das photographische Bild folgendermaßen: Barthes découvre dans les photos-choc de Wessing une nouvelle manière d’analyser la structure de toute photographie. […] il affirme que toute bonne photo comprend deux éléments : le studium (le contexte dans lequel a été prise la photo, qui constitue un champ d’informations culturelles : ici les insurrections au Nicaragua), et le punctum (un détail sur le cliché qui nous point, nous émeut, nous ébranle, et lui donne toute sa force : ici, le pied déchaussé, ou le mouchoir de la dame à l’arrière-plan).8

Das nicht durch den Referenten codierte Detail wird hier als punctum gefasst, als jenes Element, dass eine unmittelbare affektive Reaktion erzeugt, eine gewisse Schockwirkung bei der Betrachtung. Auch in La chambre claire9 unterscheidet Barthes zwischen diesen zwei Wirkungsarten der Photographie, einer rationalen – dem studium eben – und einer irrationalen, unmittelbaren Wirkung, die hingegen von zufälligen Details ausgeht und den Betrachter ‚besticht‘, ‚verwundet‘ und ‚trifft‘.10 Diese zweite Wirkungsart der Photographie, die Barthes das punctum nennt, zielt auf ein unmittelbares Auftauchen des Realen im Bild, jene plötzliche Präsenz des Besonderen, Zufälligen und Kontingenten, von der gleich am Anfang seiner Untersuchung die Rede ist.11 Diese Spur des Realen, des realen Eindrucks ist affektiv und nicht semiotisch.

2.

Begriffliche Überlegungen II – ein ‚neuer Realismus‘ in der engagierten Literatur

In den letzten Jahrzehnten finden sich immer wieder Thesen zu einer Erneuerung der engagierten, sozial und politisch informierten und kritischen Narrativik, in deren Zuge auch von einem ‚neuen Realismus‘ die Rede ist. Nach der Beobachtung einer „Rückkehr des Erzählens“12 seit den 1980er Jahren und den Debatten um das engagierte Welt-Konzept in den Manifesten zur littérature-

7 Costazza (2014), S. 71, darin zitiert: Barthes (1990), S. 13 [Hervorhebung i.O.]. 8 Salmeron (2017), o. S. [Hervorhebung i. O.], der Text bezieht sich auf die Photographie Nicaragua von Koen Wessing aus dem Jahr 1979. 9 Barthes (1980). 10 Vgl. ebd., S. 69: Barthes spricht von „un détail (punctum) qui m’attire ou me blesse“. 11 Vgl. ebd., S. 15ff. 12 Vgl. Asholt (2002).

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monde13 wird heute in verschiedenen europäischen Literaturen nach den aktuellen Formen realistischen Erzählens gefragt. Alessandro Costazza sieht darin eine Überwindung der Postmoderne und des absoluten Konstruktivismus: Die typisch postmoderne Rückführung jeder Realität oder Tatsache auf eine unendliche Interpretierbarkeit hat in der philosophischen Diskussion der letzten Jahre einem so genannten ‚neuen Realismus‘ Platz gemacht, der an der Existenz einer objektiven, vom menschlichen Bewusstsein unabhängigen Wirklichkeit festhält und die Hermeneutik durch die Ontologie ersetzen will.14

In Italien wird 2012 von Maurizio Ferrari ein Manifest zum so genannten nuovo realismo publiziert.15 In Bonn hat 2012 eine internationale Tagung zum „Neuen Realismus“ in der deutschsprachigen Literatur stattgefunden,16 etc. Wie zu sehen ist, gibt es einen gewissen Boom der ‚neuen Realismen‘ in mitteleuropäischen Literaturen. Costazza hebt den „Gestus der Ernsthaftigkeit – des politischen oder zumindest sozialen Engagements – der Literatur“17 hervor, der mit dem neuen Realismus einhergehe. In Deutschland wäre hierzu besonders das 2005 in der Zeit unter dem Titel „Was soll der Roman?“ erschienene Positionspapier für einen „relevanten Realismus“ von Matthias Politycki und Kollegen18 zu nennen, das eine recht polemisch geführte Debatte hervorgerufen hat. Mit diesem Engagement geht ein neuer Glaube an die mimetischen Möglichkeiten des Erzählens und an dessen Einflussfähigkeit auf die Wirklichkeit einher, der zu einer erhöhten narrativen Komplexität Anlass gibt und eine Rückkehr zum historischen Roman bewirkt – oft in der Form einer Uchronie oder Dystopie. Der Bonner Philosoph Markus Gabriel bestimmt den „neuen Realismus“ gewissermaßen mit einem Kunstgriff, indem er eine Art ontologischen Pluralismus akzentuiert. Er nimmt zunächst an, dass wir das Wirkliche in seinen vielfältigen Ausgestaltungen genauso erkennen können, wie es ist: Einerseits bin ich der Meinung, dass wir die Dinge an sich, also so wie sie auch unabhängig von uns wären, erkennen können. Wenn ich zum Beispiel herausfinde, dass es mehr als eine Milliarde Galaxien gibt, finde ich heraus, wie die Dinge auch gewesen wären, selbst wenn ich es nicht herausgefunden hätte. Und zwar ganz unproblematisch.19 13 Manifest Pour une littérature-monde en français (2007); vgl. auch Le Bris / Rouaud / Almassay (2007). 14 Costazza (2014), S. 63. 15 Ferraris (2012). 16 26.–28. März 2012, Internationale Tagung zum „Neuen Realismus“. Philosophen diskutieren an der Universität Bonn mit Kollegen anderer Wissenschaftsdisziplinen. Information online unter: https://www.uni-bonn.de/de/universitaet/presse-kommunikation/presseservice/archiv -pressemitteilungen/2012/067-2012 [19. 5. 2021]. 17 Costazza (2014), S. 64. 18 Vgl. Dean / Hettche / Politycki / Schindhelm (2005) und Politycki (2007). 19 Gabriel (2017), o. S., vgl. auch Gabriel (2014).

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Andererseits gibt Gabriel die Annahme einer Totalität der realen Welt auf – es gibt seiner Ansicht nach also durchaus Welt(en) im Plural. Andererseits folgt daraus nicht, dass es nun genau eine Wirklichkeit gibt, zu der alle Phänomene oder alles was existiert gehören. Das Neue am neuen Realismus ist, dass er eben nicht annehmen muss. Realismus bedeutet, dass wir die Welt erkennen. Und deswegen kommen wir aus der Alternative raus zwischen Konstruktivismus, der glaubt, in der Philosophie stellen wir eine Welt her, und einem naiven oder alten Realismus, der glaubt, in der Philosophie bilden wir die Welt ab.20

Dinge zu erkennen und Welt (als vermeintliches Ganzes) zu erkennen werden von Gabriel getrennt und so scheint ein ‚neuer‘ Realismus der Objektwelt unproblematisch – was jedoch dem Prozesscharakter der Dingerkenntnis und den epistemologischen Dispositiven keine Rechnung trägt. Allerdings erlaubt dieser Ansatz den herkömmlichen Widerspruch von realistischer Darstellung und Fragmentierung oder Pluralisierung der Welt bzw. der fiktionalen Welten gewissermaßen zu ignorieren. Ein neues realistisches Erzählen in diesem Sinne würde demnach kein Welt-, Lebens- oder Erfahrungs-Kontinuum mehr implizieren – genauer keine Simulation eines Kontinuums. Inwiefern das die traditionelle Mimesis und das Prinzip der vraisemblance tatsächlich in Frage stellt, wäre zu diskutieren. Welche Art von Stabilität der Repräsentation der Dingwelt in dieser Darstellung dann zukommt (als notwendige Bedingung von Erkennbarkeit) bleibt ebenfalls zu hinterfragen.

3.

Begriffliche Überlegungen III – das Reale als „trou“ und als „plénitude“

Das Reale ist in der Theorie des französischen Psychoanalytikers Jacques Lacan eine der drei Strukturbestimmungen des Psychischen. Das Reale ist der unauflösbare Rest, der in den übrigen beiden Ordnungen des Imaginären und des Symbolischen nicht aufgeht. Der Begriff des Realen ist nicht mit dem der Realität zu verwechseln, welcher eher der symbolischen Ordnung zuzurechnen ist. Das Reale ist immer etwas Unfassbares, Unsagbares, nicht Kontrollierbares, eine Art von Horror oder Trauma. Es tritt auch in den Sphären der Sexualität als jouissance, des Todes und der Gewalt in Erscheinung. Das Reale ist das außerhalb der normalen Realität Liegende und Verdrängte, das diese bedroht. Das Reale erscheint daher als eine Art Widerstand gegen die Vereinnahmung durch die gesellschaftlichen Regeln des Symbolischen. Das Reale im Sinne von Lacan ist etwas, das wir uns nicht vorstellen können, etwas, das wir nicht in Bilder 20 Gabriel (2017), o. S.

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und nicht in Worte bringen können. Das Reale ist das, „was der Symbolisierung absolut widersteht“,21 etwas, wie er auch sagt, was außerhalb der Vermittlung durch das Symbolische oder das Imaginäre liegt. Damit drängt sich die Frage auf: Wie kann uns das, was wir uns nicht vorstellen können, dennoch auf irgendeine Weise zugänglich sein? In erster Annäherung gesagt: Das Reale zeigt sich, Lacan zufolge, darin, dass die Dinge nicht so laufen, wie wir möchten, also darin, dass sich etwas querstellt.22 Eine andere Formel Lacans lautet: „Der Schnitt ist die Einschreibung des Realen in das Symbolische.“23 Unter Schnitt versteht Lacan den akzentuierten Abstand zwischen den Signifikanten, er nennt dies auch das Intervall. In der geschriebenen Sprache stellt der Schnitt sich beispielsweise als Abstand zwischen den Buchstaben oder den Wörtern dar. Im Sprechen besteht der Schnitt darin, dass das Sprechen unterbrochen oder abgebrochen wird. Die Halluzinationen des berühmtesten aller Paranoiker, Daniel Paul Schreber, bestehen aus abgebrochenen Sätzen: „Nun will ich mich …“, „Sie sollen nämlich …“ usw.; anders gesagt so paraphrasiert Nemitz Lacan: seine Halluzinationen enden mit einem Schnitt.24 Darin taucht das Reale als eine Erfahrung von unaussprechlichem Erleben auf. Es ist keineswegs leer, aber auch nicht in begriffliche Sprache fassbar. Im Verständnis von Jacques Lacan ist das Reale nicht zu verwechseln mit dem Abbilden einer strukturiert und symbolisch codiert wahrgenommenen Wirklichkeit. Eher ist sein Ansatz mit der Schockwirkung des punctum verwandt, mit dem plötzlichen Auftauchen von Wirklichem, das noch nicht zugeordnet werden kann. Er bestimmt das Reale als einen Entzug, einen Riss im Gewebe der Bedeutungen, als ein „trou“: On pourrait dire que le Réel, c’est ce qui est strictement impensable. Ça serait au moins un départ. Ça ferait un trou dans l’affaire […]; entre les nœuds du sens, le réel fait un trou, dans le tissu symbolique il se manifeste comme trou, comme manque, même si luimême n’est pas trou, mais se manifeste au contraire comme consistance brute, comme plénitude d’un contenu.25

Zugleich ist das Reale aber auch eine „consistance brute“ und eine „plénitude“. Dieser Begriff des Realen verweist auf eine vorsprachliche Fülle, ein rohes, plötzliches Erleben oder Erscheinen hinter der – symbolisch gefassten – Wirklichkeit und der Fiktion – bzw. dem Imaginären –, etwas, das erschüttert und verunsichert und als noch ungestaltete „consistance brute“ unvermittelt auftritt. In diesem Sinn ist das Reale Lacans viel radikaler als die Wirklichkeits21 22 23 24 25

Lacan (1978), S. 89. Vgl. Nemitz (2016), o. S. Ebd. Ebd.; vgl. Lacan (2015 [1958]), S. 20; vgl. zur Ordnung des Realen auch Wörler (2015). Lacan (1974), S. 11.

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vorstellungen auf der Basis der klassischen Mimesis oder neuerer Abbildtheorien – ohne eine fundamentale Ontologie aufzugeben – und bricht zugleich mit den Konstruktionstheorien von Wirklichkeit, die im Bereich des Symbolischen und des Imaginären verortet werden. Dieses Reale spielt für bestimmte Ausprägungen eines literarischen ‚neuen Realismus‘, der statt auf Kohärenz und Weltdeutung auf Brüche und Verunsicherungen abzielt, ebenfalls eine Rolle, wie noch zu sehen sein wird.

4.

Begriffliche Überlegungen IV – das Groteske als Index des Realen

Im Trésor de la langue française wird das Groteske definiert als un „style d’ornement découvert à la Renaissance. Par dérive, le terme désigne aussi aujourd’hui le caractère de ce qui semble ridicule, bizarre, risible, mêlé d’un certain effroi.“26 Im 16. Jahrhundert, nachweislich bei Montaigne, wird der Begriff auf die Literatur angewandt und bezeichnet da eine „composition bizarre et a priori sans ordre“ in den Essais.27 Das Groteske erscheint verbunden mit einem Affekt des Erschreckens („un certain effroi“), der Verwunderung zumindest („bizarre“), und des Unstrukturierten („a priori sans ordre“). Nach Rémi Astruc ist das Groteske insbesondere angezeigt durch „un effet de vertige produit par les œuvres“.28 Als literarischer Stil erzeugt die Groteske, folgt man Astruc, einen Schwindel („un vertige“), eine Verunsicherung, einen zumindest zeitweisen Verlust über die Klarheit der Deutung. Das Groteske zielt demnach auf eine verunsichernde Kommunikation und zwar sowohl in Hinsicht auf den Aussageakt als auch in Hinsicht auf die Leser*innen. Astruc spricht von einem speziellen „dispositif énonciatif“29, welches einer „communication grotesque“30 entspreche: […] en tant que régime de l’impossibilité, le grotesque construit des situations énonciatives invraisemblables, par exemple lorsque l’identité du narrateur ou les conditions de l’acte d’énonciation s’opposent en toute vraisemblance à l’acte de langage […] la communication est trompeuse, flottante, ambiguë, en ce sens fondamentalement grotesque.31

26 27 28 29 30 31

Artikel „grotesque“ (2002). Vgl. Ost / Piret / Van Eynde (2019). Astruc (2010), S. 22; vgl. auch Astruc (2012). Astruc (2010), S. 175f. Ebd. Brochard (2011), o. S. [Hervorhebung d. V.].

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Diese Sprache der Täuschung („trompeuse“) und der Uneindeutigkeit, der Verwirrung und des Schwebens des Sinns („flottante“) macht das Wesensmerkmal des Grotesken aus. In neuen Theorien zum Grotesken wird besonders der Aspekt der Verunsicherung und des Schocks für die Leser*innen unterstrichen, wodurch diese Schreibweise in die Nähe des von Barthes beschriebenen punctum-Effekts gerückt wird und sein opaker aber affektgeladener Referent mit Lacans Realem korrespondiert. Astruc formuliert die Auflösung der symbolischen Orientierung so: Le lecteur se trouve tout autant déstabilisé par ces changements de points de vue que par la dimension problématique du récit autodiégétique et éprouve des difficultés à distinguer l’origine de la parole. Vraisemblance, crédibilité et énonciation sont ainsi brouillées […] Dès lors, la position du lecteur s’avère inconfortable.32

Der solcherart ausgelöste Rezeptions-Effekt kann ein Lachen erzeugen, es ist aber eher eine Art schwarzer Humor oder ein Lachen der Verunsicherung, das die Groteske erzeugt. Soupape de l’insécurité, le grotesque dans la littérature moderne ouvre les vannes d’un rire transformé en grimace sous la pression de l’angoisse ou du malaise, alors que la sensation d’insécurité et de l’oppression persiste chez l’écrivain et se répercute dans le public frissonnant. Sa charge comique ne suffit pas à une dénégation efficace, mais elle permet de réagir ; le grotesque apporte moins la catharsis que la confirmation de l’instabilité de tout.33

Cécile Brochard stellt daher die Frage, ob das Groteske nicht eher durch eine ethische oder überzeitliche und anthropologische Dimension bestimmt werde als durch seine ästhetische oder stilistische Definition: Faut-il alors penser le grotesque comme un mouvement esthétique, inscrit dans un cadre spatio-temporel déterminé, ou s’agit-il d’une catégorie esthétique qui dépasse temps et espace, mais qui alors apparaît comme dangereusement hétérogène ?34

Die Groteske wird in den neuen Ansätzen als eine Kategorie der Rezeption bestimmt und rangiert dann, so der Vorschlag von Brochard im Anschluss an Astruc, etwa unter den „figures d’emotion“, die eine existentielle affektive Erfahrung ansprechen: Selon R. Astruc, une appréhension pertinente du grotesque devrait se placer du côté de la réception et dans cette perspective, c’est l’expérience existentielle du grotesque qui doit être interrogée. […] Au même titre que l’ironie, le grotesque serait une figure de sens ou

32 Ebd. [Hervorhebung d. V.]. 33 Klauber (2021), o. S. 34 Brochard (2011), o. S.

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de pensée, à défaut de pouvoir être rangé sous „une nouvelle catégorie rhétorique : celle des figures d’émotion ou de sensation“.35

Das Moment des Grotesken in der Produktionsästhetik der Texte sieht Astruc in der eigentümlichen Mischung von Realem und offenbar Unmöglichem, einer Ambiguität des Fassbaren und Unfassbaren, einem Realismus, der in gewisser Weise über das Maß und das Rationale hinausgeht, anders gesagt, das Reale, insofern es nicht symbolisch-rational bestimmbar und kanalisierbar ist. Brochard resümiert: Partant donc du constat d’ambiguïté, l’auteur affirme que le grotesque est le lieu de l’impossibilité réalisée, source d’un sentiment de malaise propice à une réflexion sur l’altérité. C’est que „le grotesque est un autre monde“, une version altérée du monde réel qui, si elle n’implique pas une prise de position auctoriale explicite, engage néanmoins une interrogation morale.36

Astruc konstatiert selbst eine Verbindung zwischen der anthropologisch zu verstehenden Erfahrung des Grotesken in der Welt und im Text und dem Unheimlichen bei Sigmund Freud und akzentuiert die subversive Funktion des Grotesken im Anschluss an Michail Bachtins Theorie der Karnevalisierung der Literatur. Er rückt daher die Figur des Grotesken aus dem Feld der rhetorischen Figuren heraus und in die Nähe der unbewussten Schemata, die affektive Reaktionen auslösen, und unterstreicht [q]ue le grotesque tient ses origines d’une expérience existentielle et évoque alors la nécessité de penser cette catégorie à l’aide de la philosophie, de la psychologie, de la psychanalyse, par exemple dans la lignée des travaux de Freud sur „l’inquiétante étrangeté“, et surtout à l’aide de l’anthropologie, dans la volonté de généraliser les travaux fondateurs de Bakhtine au-delà de la période médiévale et de la culture populaire.37

Der spezifische, vom Grotesken ausgedrückte Affekt ist der einer Verstörung, einer identitären oder emotionalen Dissonanz, eines plötzlichen und unüberbrückbaren Abstands zum Realen; die Figuren des Grotesken sind, so Astruc, „traductions d’un sentiment de discordance par rapport au réel“.38 Sie sind Zeichen von Krisen und Umbrüchen. Zugleich wird dem Grotesken in seiner anthropologischen Bestimmung das Potential einer subversiven Kritik, einer Überwindung der Verstörung im Lachen und die Vermittlung einer gewissen Überlebensstärke zugeschrieben:

35 36 37 38

Ebd. [Hervorhebung i. O.], Zitat aus Astruc (2010), S. 33. Ebd. [Hervorhebung i. O.], Zitat aus Astruc (2010), S. 52. Ebd. Brochard (2011), o. S., Zitat von Freud (2003 [1919]). Astruc (2010), S. 62.

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Survenant particulièrement dans des moments de crise culturelle, le grotesque, grâce à son pouvoir de régénération, consisterait plutôt en une réaction presque cathartique de survie contre le déclin de la société. […] Le grotesque moderne engage ainsi une réflexion sur l’humanité, sur ses marges et sur ce qui la constitue. Entre humanité et inhumanité, le personnage grotesque interroge la société, exprimant symboliquement à travers une individualité ce que les mythes expriment collectivement.39

Das Groteske steht hier für eine literarisch-existentielle Spannung und die Dissonanz zu einem gesellschaftlich oder naturhaft gegebenen Realen, das nicht erfasst, kanalisiert oder kontrolliert werden kann, jedoch affektiv in der Figur auftaucht (als Erschrecken, Verstörung, Verwirrung, Befremdliches und Unheimliches) und zugleich – etwa mittels des Lachens, Ironie und schwarzem Humor – ein Stück weit gebannt werden kann und so dem Individuum in einer Krise Widerstandskraft und Überlebensstärke vermitteln kann.

5.

Realismus, Groteske, Ethik des Überlebens bei Kettly Pierre Mars

Die französischsprachige Schriftstellerin Kettly Pierre Mars (*1958 in Port-auPrince, Haiti) hat bislang sechs Romane veröffentlicht, die sich mit der Wirklichkeit in Haiti auseinandersetzen, ohne jedoch im klassischen Sinn ‚realistisch‘ zu schreiben. In Kasalé (2003), ihrem ersten Roman, stellt sie die spirituellen Sackgassen im täglichen Kampf auf Haiti dar und was es bedeutet, in zunehmend schwierigen Umständen menschlich zu bleiben. L’heure hybride (2005) thematisiert die Liebe eines homosexuellen Sohnes zu seiner Mutter und ihre Arbeit als Prostituierte. In Fado (2008) schildert sie die Selbstsuche einer haitianischen Frau der Oberschicht, die nach zehn Ehejahren von ihrem Mann verlassen wird und ein Doppelleben beginnt. Saisons sauvages (2010) spielt während der Zeit des Diktators François Duvalier in den 1960er Jahren und geht den Verflechtungen von politischer Gewalt und bezahlter Sexualität nach. Je suis vivant (2015) ist eine Geschichte über eine Familie, die sich ihren Abgründen aus der Zeit der DuvalierDiktatur stellen muss, und zugleich eine Auseinandersetzung mit der ‚folie‘ eines Familienmitglieds. L’Ange du patriarche (2018) ist die Geschichte eines Fluchs, ein Psycho-Thriller und auch eine Familiengeschichte mit Voudou-Elementen und Anklängen an den magischen Realismus und die US-amerikanischen Thriller. Auf die drei letztgenannten Romane werde ich im Folgenden näher eingehen, nämlich auf Saisons sauvages (2010) und Je suis vivant (2015), sowie abschließend auf den bislang jüngsten Roman von Mars, L’Ange du patriarche (2018). 39 Brochard (2011), o. S.

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6.

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Saisons Sauvages (2010) – Erinnerung und Aufarbeitung

Haiti zu Beginn der Sechzigerjahre: Um ihrem inhaftierten Mann zu helfen, lässt die schöne Mulattin Nirvah sich auf eine Affäre mit dem Staatssekretär Raoul Vincent ein. Nach und nach ergreift der Emporkömmling Besitz von ihr und ihren Kindern und wird zur Metapher für die Herrschaft der Duvalier-Diktatur über ein gelähmtes Land. Der Roman schildert Situationen und Gefühle, in denen moralische und politische Gewissheiten und die Begriffe von Gut und Böse zerfallen. Es geht um die Aufarbeitung der jüngeren Vergangenheit Haitis mit einem besonderen Blick auf die unausweichlichen Verstrickungen der Diktatur und des Rassismus, die bis in die intimsten familiären Bereiche gingen. Durch die Steigerung der Spannung zwischen den Hauptfiguren und die Zunahme des unterschwelligen Drucks auf Nirvah und ihre Kinder, der sich allmählich aufbaut und schließlich immer offener und monströser wird, bekommt der Roman eine dem Psychothriller ähnliche Struktur. Zugleich steht das politische Thema der Diktatur im Zentrum des Textes, der die Untaten der Duvalier-Schergen exemplarisch an dieser Familie aufzeigt: eine Welt, in der der Vater als Oppositioneller verhaftet wird und im Gefängnis verschwindet, die Frau zu Sex genötigt und zum Schweigen verdammt wird, die Tochter verführt wird und der Sohn ebenfalls. Neben pädophilen und inzestuösen Motiven geraten hier die politischen Heimlichkeiten und die manipulative Gewaltpolitik Duvaliers ins Visier. Der deutsche Schriftsteller Thomas Wörtche schreibt über den Roman: Bei Polit-Thriller denkt man an John le Carré, an Eric Ambler, Ross Thomas, Robert Littell oder Jenny Siler, auf jeden Fall an die Luxusklasse innerhalb der Kriminalliteratur. Aber ein Polit-Thriller kann auch aus Haiti kommen und eine Art Psycho-PolitThriller mit deutlichem roman noir Einschlag sein, was nicht nur an seiner Verwurzelung in der Frankophonie liegt.40

Als narratives Verfahren steht also zunächst eher die Thriller-typische Spannung im Vordergrund als die realistische Deskription oder die Couleur des Milieus. Jedoch ist durch die Form des Thrillers bzw. des roman noir eben jene Stimmung unter der Diktatur repräsentiert, und es handelt sich hier nicht um die vergnügliche kriminalromantypische Spannung mit Drang zur Auflösung und Erleichterung, wenn der Verbrecher gefasst ist. Vielmehr geht es um eine unauflösliche, groteske Unerträglichkeit des Seins in der politischen Welt Haitis unter Duvalier. Werfen wir einen Blick auf den historischen Kontext der 1960er Jahre – der erzählten Zeit im Roman – auf Haiti. Der Diktator Papa Doc Duvalier hat nach einigen Putschversuchen sein Regime allmählich stabilisiert; seine Totschläger40 Wörtche (2012), o. S.

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Truppe, die tonton macoutes, tyrannisiert die Bevölkerung. Paranoia, Misstrauen, Terror, Folter, Willkür und nackte Gewalt prägen das politische Klima. Die Duvalier-Diktatur von Papa und Baby Doc dauerte von 1957 bis 1986 und die Herrschenden saugten das ärmste Volk der westlichen Hemisphäre, das durch die kolonialen Reparationszahlungen ohnehin schon verarmt war, aus wie Vampire. Das ist die Situation, die für den Roman konstitutiv ist. Die politische Realität ist zugleich Thema des Romans: Nötigung und Korruption herrschen überall. Es gibt jedoch auch das Leben von Menschen, das mit der politischen Lage eng verbunden ist und dem sie auf beiden Seiten nicht entrinnen: Nivrah Leroy, eine schöne Mulattin und Gattin eines Oppositionspolitikers, lässt sich mit dem Staatssekretär Raoul Vincent ein, um ihren Mann aus den Kerkern des Regimes zu retten oder wenigstens sein Los zu lindern. Das ist ihr guter Vorsatz, als sie dem Schwarzen Vincent gestattet, nach und nach ihr Leben und auch das ihrer Kinder Marie und Nicolas zu penetrieren. Als Gegenleistung gibt es Schutz und Privilegien. Die Ich-Erzählerin verachtet sich selbst für diesen unmoralischen Handel, jedoch unterstreicht sie das Klima der allgegenwärtigen Angst und die fehlende Solidarität der Anderen; sie sagt gleich zu Beginn des Romans: Je suis la femme de Daniel Leroy et la maîtresse d’un secrétaire d’État macoute. C’est vrai je suis lâche, j’aurais pu me battre, refuser, crier au scandale. Mais j’aurais été seule, tout à fait seule. Seule face à la peur. J’aurais pu disparaître, me faire torturer et violer, comme il y a quelques années, au tout début de la dictature, cette journaliste, mère de cinq enfants. Maintenant la peur couche dans mon lit, je la baise, lui donne du plaisir, je profite de ses largesses. En me soumettant au secrétaire d’État je garde Daniel en vie. Pour le reste, pour demain, je ne sais rien.41

Das Schicksal des eingekerkerten Gatten Daniel erlischt jedoch allmählich im Bewusstsein der Figuren, so wie seine Tagebuchaufzeichnungen allmählich im Roman versickern und schließlich verschwinden. Schon der Anfang des Romans zeigt in einer Szene, in der Nirvah darauf wartet, beim Staatssekretär vorgelassen zu werden, den double bind und die Unfreiheit der Protagonistin: Combien de temps vais-je devoir encore patienter? Bientôt deux heures depuis que j’attends d’être reçue. Je ne peux tout simplement pas me lever et partir puisque j’ai volontairement renoncé à mon libre arbitre. Depuis la minute où j’ai mis les pieds dans ce bâtiment, mon temps, mon humeur, ma vie dépendent de la fantaisie du secrétaire d’État. Il n’est pas question que je cède à mon envie croissante de foutre le camp de cette salle d’attente du palais des ministères alors que j’ai enfin obtenu, après force démarches et faux espoirs, la faveur d’être reçue par Son Excellence.42

41 Mars (2010), S. 9. 42 Ebd.

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„Kettly Mars seziert diesen Prozess der allgemeinen sittlich-moralischen und psychologischen Korruption erbarmungslos“,43 wie Thomas Wörtche resümiert. Gehäufte realistische Details der einzelnen Schritte des moralischen Niedergangs – wie lange Wartezeiten, aufgedrängte Geschenke, kleine Kontrollverluste etc. – werden im inneren Monolog der Ich-Erzählerin oder durch andere Stimmen im Roman aufgezählt und schonungslos bewertet. Sie dienen zur Erzeugung von Groteske und Unbehagen, wie auch Wörtche konstatiert: Das Arrangieren mit der Macht gestaltet sie [Kettly Mars, G.F.] fast diabolisch facettenreich aus … Keine Peinlichkeit, keine Verdrängungsleistung, keine menschliche Schwäche, kein Aspekt von Sexualität, die nicht nach Moral fragt, kein rassistischer Subtext bleibt unangesprochen. Die Dialektiken von Überleben und Kooperieren, von Motivation und Begründung, von Betrug und Selbstbetrug, von Illusion und Lüge, von nackter Gewalt und Impotenz, von Feigheit und Heroismus, von Geschlechterrolle und Aufbegehren – all das eskaliert Kettly Mars zu höchstem Unbehagen, für das es keine Lösungen gibt.44

Statt des üblichen – und letztlich vertraute Wirklichkeit suggerierenden – effet de réel stellt sich hier im Unbehagen eine Ambivalenz von effet de réel und effet grotesque ein. Der/die Leser/in wird mit seinem/ihrem Unbehagen allein gelassen; es setzt eine unsichere und verunsichernde Kommunikation ein, ein Effekt, wie Roger Astruc ihn besonders der Groteske zuschreibt. Das Verschwinden der Figuren, die Konfrontation mit der Todesdrohung, die Unerträglichkeit des Missbrauchs der Kinder, der in der Ich-Erzählung der Mutter nicht ausgesprochen werden kann – all diese Gewalt implizierenden Geschehnisse und Taten ereignen sich stets kommentarlos. Es gibt im Roman keine symbolisierende Instanz, die den Horror einbinden könnte. Diese Ereignisse sind erlebte Aspekte des Realen – im Sinne der politischen Wirklichkeit unter der Diktatur – und Ausdruck des Lacan’schen Realen, das nicht symbolisch fassbar und deutbar ist; sie verweisen auf Grenzen der Erzählung. In der Gesamtperspektive auf den Roman Saisons Sauvages kann dieser als eine Allegorie der ambivalenten – verunsichernden, grotesken, morallosen – Realität Haitis in der Duvalier-Zeit gelesen werden. Nirvah wird die Mätresse des Staatssekretärs und muss sich allmählich eingestehen, dass sie die Demütigung und Unterwerfung, den Subjektverlust, wider Willen genießt. Das traumatische Reale der Nötigung erhält peu à peu einen Aspekt des Genießens, der jouissance, um erneut ein Konzept Lacans zu verwenden. Zwar sind die Lust des Staatssekretärs und sein Genießen der Macht, die er über die ganze Familie hat, die zentralen Motive in der Beschreibung der Beziehungen, aber eine Dimension der

43 Wörtche (2012), o. S. 44 Ebd.

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Unterwerfung als jouissance bei Nirvah wird ebenfalls angedeutet. Zunächst verliert sie Trauer, Scham und Schuldgefühle und konstatiert: J’ai rejoint le club de maîtresses de macoutes, de celles qui jouissent de privilèges évidents mais qui connaissent aussi la précarité de leur position dans cette Haïti où le pouvoir joue sans cesse à une macabre chaise musicale. Après être passée par de douloureuses phases de détresse, j’ai arrêté d’avoir honte, de fuir le regard des autres, de me torturer, de me condamner.45

Dann unterwirft sie sich ganz ihrem Verführer und beschreibt seine Gier und Lust, wobei sie zugleich apathisch und doch bereitwillig und beinah erregt wirkt: L’électricité du bijou pénétra sous ma peau, comme un virus. Dans la rue je me suis sentie une autre femme, m’attendant à ce que chaque personne que je croise découvre sur mon visage l’empreinte du désir du secrétaire d’Etat. Un sentiment qui me troubla au plus profond de mon être.46

Die Protagonistin des Romans, die sich widerwillig und doch mit einer perversen jouissance ihrem Peiniger und der Verführung seiner Versprechungen und Geschenke unterwirft, verkörpert allegorisch die Vergewaltigung Haitis durch das Duvalier-Regime, wobei der spannungsreiche moralische Niedergang des erzwungenen Paares auch den stets schwierigen Double Bind zwischen Mulatt*innen und Schwarzen Haitianer*innen vor Augen führt. Das Phantasma von Raoul Vincent, dem Schwarzen Haitianer, zielt auf Beherrschung, wie John P. Walsh unterstreicht.47 Nirvah spricht im Roman von einer „lente prise d’assaut“48. Seine Lust liegt – neben der sexuellen Begierde – in der Verachtung und Vergewaltigung von Mitgliedern der mulattischen bürgerlichen Schicht. Er ist eine dem Ubu Roi49 von Alfred Jarry verwandte, groteske Popanz-Gestalt, dessen Sprache ebenso brutal wie verräterisch ist, wie Walsh schreibt: […] a third-person narrator conveys Raoul’s obsession in a language of domination. The text lets fly a verbal salvo („invade,“ „penetrate,“ „control“) that signals his menacing presence […]. The narrative had earlier revealed Raoul’s deep-seated contempt for the class of bourgeois mulattos, that „monde hautain et inaccessible. Un monde hypocrite et corrompu“ […] from which Nirvah descends.50

Schon in der ersten Begegnung im Büro des Staatssekretärs empfindet Nirvah die absolute Abhängigkeit von der Macht und Willkür des anderen sehr stark, die

45 46 47 48 49 50

Mars (2010), S. 110. Ebd., S. 124. Vgl. Walsh (2014), S. 70. Mars (2010), S. 123. Jarry (1896). Walsh (2014), S. 70. Er verweist an dieser Stelle auf Mars (2010), S. 63, und zitiert ebd., S. 21.

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ihm eine – scheinbare – Legitimität verleiht. Er ist zudem ein noch namenloser „Il“, was diesen Eindruck noch zusätzlich verstärkt: Il me tient à sa merci. Son pouvoir peut me sauver ou me détruire. Je suis dans la pire situation où peut se retrouver un citoyen du pays. En butte à la colère légitime de l’autorité absolue provoquée, à contre-courant de la ‚révolution en marche‘, dans le camp des traîtres à la cause.51

Julia Borst resümiert die Figur der Allegorie mit historisch-realem Bezug in Saisons sauvages folgendermaßen: Kettly Mars raconte dans ce roman l’expérience collective de la dictature en Haïti à travers le destin individuel d’une femme qui, de la même manière que de nombreux protagonistes de l’écrivaine, à cause d’exigences irréconciliables, est en proie à un conflit déchirant.52

Das Reale ist im Haiti der Duvalier-Diktatur das Konflikthafte, die ethische Krise der Gemeinschaft und des Individuums; sein ‚realistischer Ausdruck‘, die Schreibweise, die Kettly Mars hier gewählt hat, verbindet die Groteske und den Thriller mit einer allegorischen Funktion der individuellen Gewaltgeschichte der Protagonistin und ihrer Familie.

7.

Je suis vivant (2015) – Überlebenswissen, polyphone Erinnerung und Neuformierung der (familiären) Gemeinschaft

Je suis vivant53 ist der siebte Roman von Mars, für den sie im November 2015 in Abidjan mit dem Prix Ivoire ausgezeichnet wurde. Der Text beginnt mit einem Anruf und der Aufforderung an die Familie, den schizophrenen Alexandre Bernier aus der psychiatrischen Anstalt zu nehmen, in die er vor über vierzig Jahren eingewiesen wurde: In Anbetracht der Cholera und aufgrund der Zerstörungen durch das jüngste Erdbeben sei die Gesundheit der Insassen nicht mehr zu gewährleisten, Alexandre müsse binnen 48 Stunden abgeholt werden. Der Roman spielt in Fleur-de-Chêne am Rande der haitianischen Hauptstadt, einer Oase des Wohlstands, die seit Generationen der Familie Bernier gehört. Das lärmende und chaotische Port-au-Prince, das am 12. Januar 2010 von einem gewaltigen Erdbeben erschüttert wurde, wirkt auf diesem Anwesen wie eine ferne Welt, die nur das Dienstpersonal aus eigener Erfahrung kennt. Dennoch findet sich auch hier eine allegorische Figur der Zerstörung, in 51 Mars (2010), S. 13. 52 Borst (2018), S. 118. 53 Mars (2015).

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der Person des psychisch kranken Alexandre nämlich, der in seine von Verdrängung geprägte Familie mit ebensolcher Wucht einbricht wie das Erdbeben in die Hauptstadt Haitis. Auf die telefonische Nachricht, dass Alexandre abgeholt werden soll, reagiert Grégoire wie auf ein Erdbeben: Quelques semaines plus tard [nach dem großen Erdbeben von 2010, G. F.], quand Grégoire vit le numéro de l’Institution s’afficher sur le cadran de son portable, il sentit qu’un autre séisme allait traverser leurs vies. […] Sous le coup de l’émotion, son cerveau refusa d’enregister l’information qu’il recevait. Un léger tremblement parcourait son corps des pieds à la tête et d’infîmes gouttes de sueur perlèrent à son front.54

Je suis vivant ist zugleich eine Allegorie der Zerstörung der Gesellschaftsstrukturen durch Duvaliers Diktatur und durch die Naturkatastrophe des Erdbebens von 2010 und das Bild eines Aufbruchs nach dem Erdbeben und der Diktatur. Der Roman entwirft den Beginn einer – zaghaften, teilweise erzwungenen, auf jeden Fall notwendigen – Erinnerungspolitik und eine Neuformierung der (familiären) Gemeinschaft. Der Titel von Je suis vivant wird gebildet vom ersten Satz, den Alexandre nach seiner Heimkehr in das Familienanwesen spricht. Er zelebriert damit – wie Margrit Klingler-Clavijo schreibt55 – die Schönheit und Fragilität des Lebens und markiert zudem den Aufbruch in eine Gesellschaft, die die langen Schatten der Duvalier-Diktatur hinter sich lässt. Hier wird als Modell der Schreibweise auf eine Art Familienchronik zurückgegriffen. Der Roman liest sich wie die Dekonstruktion einer patriarchalen Familiensaga und als eine herausfordernde Reflexion über gesellschaftliche Normen und deren subtile oder offenkundige Überschreitung. Der in die Psychiatrie abgeschobene Alexandre taucht wieder auf als Störung, er ist noch am Leben: dieser Satz erscheint auch als Herausforderung, die Figur ist ein Objekt/Subjekt aus der Vergangenheit, auch der politischen Vergangenheit. In ihr verkörpert sich die Ambivalenz der Erinnerung und eine Ethik des Überlebens. Alexandres Heimkehr wird für seine 86-jährige Mutter Eliane und seine erwachsenen Geschwister Grégoire, Gabriele und Marylène zur Bewährungsprobe. Die Familie muss sich der Vergangenheit stellen, dem sorgsam Verdrängten und Verschwiegenen, das viele Fragen aufwirft, wie etwa: War Alexandres Einweisung in die Anstalt tatsächlich unumgänglich oder nur eine kluge Präventivmaßnahme seines verstorbenen Vaters, um ihn vor den Kerkern des Duvalier-Regimes zu bewahren? Oder sollte es die Familie entlasten und ihre Anpassung ermöglichen? Die Antwort bleibt aus, so dass die grundlegende moralische Ambivalenz, die wir

54 Ebd., S. 15. 55 Vgl. Klingler-Clavijo (2016), o. S.

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schon aus Saisons sauvages kennen, die hier erzählte aktuelle Wirklichkeit Haitis – insbesondere der bürgerlichen Oberschicht – weiterhin durchzieht. Allerdings kommt in diesem Roman ein versöhnendes Bemühen um Erinnerung hinzu, was einer Ethik des Überlebens entspricht. Mars strebt durch Erinnern und Schreiben nach Aufdeckung – wenn nicht der ‚einen‘ Wirklichkeit und deren Wahrheit, so doch der Fragmente – von realen Erfahrungen. Die Aufklärung der Vergangenheit der Familie und der Figur Alexandres und seiner Psychiatrisierung – zumindest die Suche nach Aufklärung, die Annäherung, das Fragen – bildet eine Allegorie der haitianischen Gesellschaft auf dem Weg zu einer Aufarbeitung der politischen Katastrophe und des Überlebens und Neubeginns nach der Naturkatastrophe. Als narrative Strategie verwendet Mars in diesem Roman das Mittel der Polyphonie bzw. eine Multiperspektivierung mit interner Fokalisierung. Die Geschichte der Familie Bernier wird abwechselnd von den Familienmitgliedern, dem Dienstpersonal und Norah, der jungen Geliebten von Marylène Bernier, erzählt. Auch Alexandre, der als Figur kaum spricht, erhält in einer Art inneren Monolog eine narrative Stimme, die vor allem aus Fragen und vagen Versatzstücken von Kindheitserinnerungen besteht und weiter zur Opazität der Gedächtnisarbeit beiträgt. Die Autorin verflicht die einzelnen Stimmen zu einem chaotischen Stimmengewirr, einer „Mischung aus poetischer Miniatur und konzisem Erzählfragment.“56 Pierre-Raymond Dumas bringt diese fragmentierte Erzählweise und das Puzzle aus Stimmen mit dem Thema des Wahnsinns des Protagonisten Alexandre in Verbindung, aber auch mit dem Einsturz gesellschaftlicher Stratifikationen und familiärer Strukturen sowie mit dem Verlust von moralischer Orientierung als Folge der Erdbebenkatastrophe von 2010: Voix vives, parlant bien de leurs déchirements, de leur souffrance, de leur mal-être, mais la vérité, on ne doit pas l’attendre de ce puzzle. […] Post-séisme 2010 oblige. Folie, enfermement, désarroi familial, les mots percutent comme des verdicts d’assises, des cauchemars.57

Das fragmentierte und zugleich vielstimmige Erzählen bildet eine Art récit fou, welches die Erfahrung eines Schocks, einer existentiellen Krise, einer Zerstörung von Gewissheiten und symbolischen Ordnungen zum Ausdruck bringt und im selben Zug die plurale und dissonante Realität der haitianischen Vergangenheit und Gegenwart repräsentiert. Alexandre verkörpert dies, er inkorporiert buchstäblich wortwörtlich die Sprache des Ungesagten und Verdrängten: Je n’ai pas dit un mot, je ne parle jamais. Presque jamais. Des fois je réponds „bonjour“ mais je ne sais jamais lesquelles des voix parle pour moi. Mon corps est un nœud des 56 Klingler-Clavijo (2016), o. S. 57 Dumas (2016), o. S.

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mots qui vivent dans mes orteils ou mes fesses ou ma vessie, surtout dans les articulations de mes doigts, cela dépend des jours.58

Je suis vivant konfrontiert die Leser*innen mit einer undurchschaubaren Realität, wobei diese Undurchschaubarkeit der Realität – so Mars – selbst eine spezifische haitianische Welterfahrung ist, als deren Zeugin die Autorin – fast unfreiwillig – berufen ist: Aujourd’hui, c’est le chaos désorganisé, on ne sait plus qui fait quoi. Nous connaissons un phénomène de trafic de drogues qui est très important et qui est évidemment en rapport avec la misère qui règne : nos jeunes n’ont pas de perspective d’avenir, le niveau d’éducation est très faible. Pour ma part, j’essaie de comprendre tout cela, j’essaie d’analyser. Pourtant, ce n’est pas forcément une démarche voulue, ce n’est pas quelque chose que je décide de faire. […] Mais cela vous rattrape puisque vous êtes témoin, vous avez une conscience. Je ne suis donc pas une activiste ni une politicienne engagée, je suis juste un témoin et je me dois de dire la vérité et de dire la vérité des autres aussi.59

Durch die einzelnen Stimmen entsteht eine vielgestaltige Zeugenschaft von einer chaotischen Realität, in der die Trennung von Wahnsinn und Normalität noch schwieriger wird, zumal die Autorin betont dass „les choses qui paraissent normales et banales sont très difficiles à vivre dans le contexte haïtien.“60 Die Polyphonie in Verbindung mit der internen Fokalisierung erzeugt eine starke Bindung der Rezeption an die jeweiligen Erzähler*innen und vermittelt so eine Subjektivierung des Erlebens und Emotionalität. In einem Interview mit Julia Borst weist Mars auf den realen autobiographischen Kern der Geschichte von Je suis vivant hin, aber auch auf die literarische Gestaltung und die Auseinandersetzung mit der Erdbebenkatastrophe als ebenso realem gesellschaftlichen Hintergrund. En effet, c’est une histoire vraie qui s’est produite dans ma famille. Ce n’est donc pas tout à fait de la fiction. Le retour de ce fils chez lui après 40 ans, à cause de l’épidémie de choléra, est un fait réel. Mais bien sûr, tout ce qui fait l’intrigue, c’est-à-dire les personnages, l’environnement, les histoires personnelles ne sont que fiction. Seul le fil de la trame est une histoire vraie. […] je pense qu’il y aura toujours dans notre histoire un avant-séisme et un aprèsséisme. […] Cela devient un repère de nos vies sans que l’on n’y puisse rien.61

Dieses produktionsästhetische Verfahren, von einem „fait réel“ bzw. einem fait divers auszugehen, erinnert an Flauberts Vorgehen und knüpft insofern durchaus an klassische realistische Erzählverfahren an, verzichtet aber gänzlich auf die Flaubert’sche Nüchternheit und Unberührtheit, die impassibilité des 58 59 60 61

Mars (2015), S. 12. Borst / Mars (2018), S. 123. Ebd., S. 126. Ebd., S. 120.

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Erzählens. Es ist hier kein sezierender Blick vorhanden, sondern ein durchaus empathischer, wenn auch ein Verwirrung und Leid abbildender, kaleidoskopischer Blick auf eine krisenhafte Realität Haitis nach dem Erdbeben von 2010.

8.

Zurück zu den Fragen

Hinsichtlich der realistischen Darstellungsmodi für die Repräsentation von aktuellen gesellschaftlichen Krisen – im Fall von Haiti sind das insbesondere die Diktatur(en) und deren Terror, latenter Rassismus, Katastrophen, Armut, Zerfall des gesellschaftlichen und familiären Zusammenhalts – können wir feststellen, dass Mars wie viele andere zeitgenössische haitianische Schriftsteller*innen durchaus einen Wirklichkeitsbezug indizieren. Insbesondere gelingt ihnen das durch die thematische Präsenz historischer und zeitgenössischer Ereignisse, mittels Datierungen, Namen, Zitate, Verweise auf reale Orte, kontingente und repetitive Details als Elemente des effet de réel oder den Rückgriff auf faits divers oder faits réels sowie autobiographische Anknüpfungspunkte. Jedoch verzichten sie auf die klassische Kontinuität der narrativen Stimme, auf die Deutungsmacht anzeigende Nullfokalisierung und oft auch auf eine chronologische oder anders stringente histoire. Sie verwenden weitgehend keine Kommentare oder symbolisierende Instanzen, die eine distanzierende Lektüre ermöglichen würden. Die angewandten Erzählstrategien erzeugen vielmehr ein affektives und oft verstörendes Bild einer als real erkannten und doch unbeherrschbaren und undurchschaubaren haitianischen Welt. Dabei ist sowohl die Welt als auch der dergestalt hervorgerufene Affekt Ausdruck der gesellschaftlichen haitianischen Wirklichkeit. Die Texte erscheinen insofern als Allegorien des Politischen oder des Gemeinschaftlichen im Sinne eines klassischen Framings gesellschaftskritischer Erzählung, ohne dass die Geschichten sprachlich und narratologisch in traditioneller Weise realistisch ausgestaltet wären. Die Frage nach den spezifischen narrativen und diskursiven Instrumenten, derer sich die Werke stattdessen bedienen, um Authentizität, Erfahrung von (lokaler) Wirklichkeit und Affekte zu vermitteln, lässt sich folgendermaßen beantworten: Groteske Erzählweisen bilden das Analogon zur haitianischen Welterfahrung. Dazu zählen insbesondere die Konfrontation mit Schock-Bildern, Gewalt und Unerträglichem sowie der kommentarlose Bruch von Tabus, denen die Leserschaft ausgesetzt ist. Dabei ist die erzählende Stimme zugleich Zeugin und Vermittlerin des Eindrucks von Authentizität. Durch ihre Subjektivität ist sie darüber hinaus aber auch eine unzuverlässige Erzählerin grotesker, womöglich hyperbolischer Darstellungen von Ereignissen und nicht zuletzt selbst Medium von Emotionen. Die Verfahren der Polyphonie und der Fragmentierung führen zu einer Verunsicherung der Leser*innen und zur Repräsentation einer nicht

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eindeutig zu fassenden, nicht symbolisierbaren, Wahnsinn, Tod und Leid einschließenden und doch wirklichen Lebenswelt Haitis in und nach der Diktatur. Dieser Einbruch des Realen – im Sinne Lacans –, der das Undarstellbare der haitianischen Erfahrungen mit Naturkatastrophen und Auswüchsen der Diktatur anzeigt – und nicht abbildet – wird in den Texten vermittelt durch eine lakonische, oft gebrochene Sprache, einen style cru, oder durch die Sprache der folie – als Unterbrechung und Schnitt in der Repräsentation –. Hinzu kommen häufige innere, fast solipsistische Monologe und Wechsel von Ich-Erzählung und dritter Person, durch die auch die Orientierung an einer vertrauenswürdigen Erzählinstanz immer weniger gewährleistet ist, obwohl jedes Wort für sich auf reale Situationen und Ereignisse verweist. Man könnte sagen, der Referent ist realistisch inszeniert oder indiziert, aber die Stimme der Zeug*innen wird brüchig und plural. Die Frage, ob eine Rückbesinnung auf die Ansätze der Moderne, eine Wiederaufnahme älterer Realismen, zu konstatieren sei oder etwas völlig Neues entstehe, ist derzeitig nicht abschließend zu beurteilen. Die Absicht, Welthaltigkeit in der Erzählung zu erzeugen, stellt sicherlich eine Anknüpfung an Verfahren dar, die prominent in der europäischen Moderne entwickelt wurden, jedoch ist dies in der haitianischen und allgemeiner in der franko-karibischen Literatur nicht als bloße Rückbesinnung auf ältere Realismen oder als deren Wiederaufnahme zu bewerten. Die Vertikalität der literaturhistorischen Frage müsste ergänzt und konterkariert werden durch die postkoloniale horizontale Dimension des Transfers und der Veränderung von literarischen Verfahren in einen anderen Raum, den der Kolonien, die keine ‚eigene‘ Epoche des Realismus haben. In der Zirkulation der Verfahren des realistischen Erzählens in der ehemals kolonialen Welt verändern sich die Tonalität (zum Grotesken hin) und die Mischung von Faktizität und Fiktion: Es sind eine stärkere Subjektivität und mehr fiktionale Anteile zu beobachten, z. B. zum Zweck der Bildung einer „vision prophétique du passé“62 als Ersatz für fehlende Zeugenschaft und für eine alternative Historiographie, wie Édouard Glissant schreibt. Weiter verstärkt sich die Radikalität der Texte– es wird eine größere Exposition des/der Leser/in erzeugt mit dem Ziel seiner Konfrontation mit dem Realen und mit seinem eigenen Unbehagen. Nicht zuletzt kann festgestellt werden, dass sich die Dimension der Gesellschaftsanalyse zur Erinnerungspolitik hin verschiebt und eine Pluralisierung der Welten und Stimmen zu verzeichnen ist.

62 Glissant (1996), S. 115.

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9.

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Au-delà du réalisme? – L’Ange du patriarche (2018)

In ihrem bislang letzten Buch L’Ange du patriarche verbindet Mars die realistischen Elemente mit Versatzstücken und Motiven des Magischen aus der Welt des Voudou, der auch heute noch Teil der haitianischen Realität und der sozialen Praxis ist. Beide Dimensionen schreibt sie in die Form eines vom US-amerikanischen Erzählen beeinflussten Psychothrillers ein. Ohne an dieser Stelle genauer untersuchen zu können, wie sich die Differenz zum magischen Realismus lateinamerikanischer Prägung darstellt und welche Rolle die Genremodelle und Intertexte spielen, kann man jedoch feststellen, dass die Verfahren der Polyphonie und der Fragmentierung auch in L’Ange du patriarche eine große Rolle spielen und nicht wie im magischen Realismus eine kohärente große Welt entsteht, die zwar von wundersamen Dimensionen durchzogen ist, welche jedoch nicht deren Brüche herausstellen, sondern vielmehr zu ihrem fließenden Zusammenhang beitragen. Der magische Realismus konfrontiert uns daher mit den Grenzen des Denkbaren, aber nicht mit den Abgründen des Realen. Der Roman L’Ange du patriarche setzt vielmehr auf das Motiv der Verstörung und der Verunsicherung, die schleichend beginnt, indem die Dingwelt um die Protagonistin Emmanuela herum sich zu bewegen scheint und ein Eigenleben gewinnt: Emmanuela ne saurait dire comment, mais elle a le sentiment d’un déplacement subtil dans l’ordre physique des choses, comme si chaque objet autour d’elle bougeait, se déplaçait ou penchait juste un peu, un centimètre ou deux, lui enlevant le sentiment de sécurité que lui prodigue le fait de savoir chaque chose strictement à la place qu’elle lui a assignée. Une illusion dérangeante. Le surmenage, peut-être.63

Im Zuge des Romans geht es aber nicht um ein fantastisches Indiz64 der Verunsicherung von Protagonistin und Leser*in, wie man eingangs noch vermuten könnte; vielmehr nimmt die Veränderung der Dingwelt und die nicht mit rationalen Erklärungen verbundene Wahrnehmung zunehmend eine eigene Dynamik an und formiert eine eigene, vom Magischen durchzogene Wirklichkeit. Die ‚seltsamen‘ Geschehnisse setzen einen über drei Generationen anhaltenden Fluch um, der durch einen Pakt des Patriarchen, des Familienahnen, mit den Geistern des Voudou eingegangen wurde. Der Engel aus dem Buchtitel – er trägt den Namen Yvo, wie im Laufe der Lektüre deutlich wird – ist daher ein Racheengel, der die Realität der nachfolgenden Generationen, sogar bis hin zu den in die USA ausgewanderten Nachkommen, beeinflusst und bedroht.

63 Mars (2018), S. 34. 64 Vgl. die Bestimmung des Fantastischen bei Tzvetan Todorov (1970).

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En attendant, l’ange Yvo poursuit son projet de vengeance. Certains membres de la famille meurent un jour d’anniversaire […]. À Nantes, Jacques, le frère de Couz [la grand-mère], succombe dans son bureau le jour de son anniversaire. À Chicago, Beverly, nièce de Couz, poignarde, le jour de son dix-septième anniversaire, sa sœur jumelle, Samantha. D’autres se laissent emporter par l’inceste, le leurre du bouk kabrit. À Philadelphie, Elvire, une des sœurs de Couz, échappe de justesse au viol par son propre fils Billy Boy. Amédée, frère de Couz, a dû s’exiler à Cuba, après avoir violé Solène, sa fille de 10 ans. Mais Wanika veut encore aller plus loin : avoir un enfant de son propre frère. L’Ange accumule aussi des victimes collatérales telles qu’Edwin, le frère de Wanika; Serge, l’amant d’Emmanuella; et Jean-Michel-Basquiat, l’ami d’Alain. Le danger est permanent, le suspense tendu.65

Die Spannung entsteht durch die zunehmende Einwirkung des Fluches auf die Familienmitglieder, wobei episodenhaft aus den Perspektiven und an den Orten der Figuren erzählt wird. So entsteht aus den einzelnen Erzählstücken eine Art Familienpuzzle, in dessen Gesamtbild sich eine fatale Bedrohung abzeichnet. Emmanuela schwankt anfangs noch zwischen Zweifel, rationalen Erklärungen und der Akzeptanz des Irrationalen, bis sie sich dann der Auseinandersetzung mit dem Fluch und der Todesdrohung stellt und sich der anderen Wirklichkeit des Voudou öffnet: Emmanuela travaille chaque jour avec des chiffres, des taux, des rapports et des statistiques. Des données concrète où il n’a y pas de place pour le tâtonnement, les suppositions, les lectures subliminales. L’irrationnel la déroute, mais elle décide de rester ouverte, d’avoir confiance. Elle veut se donner une chance de comprendre certaines choses dont la dimension n’est pas préhensible par l’intelligence rationnelle.66

Es geht aber nicht um ein Abdriften ins Wunderbare und Irrationale wie in einer phantastischen Erzählung oder in einem Horrorfilm. Die Beziehung zum Voudou – in seiner synkretistischen Verbindung mit der katholischen Religion – macht für die Protagonistin einen realen Teil ihrer Kultur und ihrer Person aus: Dans notre culture, ce phénomène est assez courant. […] Elle ne pratique aucune religion activement. Elle a été baptisée catholique et a reçu des sacrements. Chez les sœurs de Sainte-Catherine, elle a appris par cœur de longs passages de l’histoire sainte. Quand elle va à l’église, elle s’y sent bien et en communion avec tout ce qui l’entoure. Mais quelque part elle est voudou. Elle le sait, elle le sent. Quand les tambours d’une cérémonie voudou résonnent entre les quatre murs d’un péristyle, elle se sent chez elle, dans une résonance qui lui est naturelle et instinctive.67

Überall in der Familie und an allen Exilorten wie auch in Haiti selbst bricht der Tod als das Reale ein – das Unfassbare – und zugleich als eine durch den Engel 65 Malivert (2019), o. S. 66 Mars (2018), S. 98. 67 Ebd., S. 95ff.

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verkörperte selbständig agierende Wirklichkeit. Malivert spricht in diesem Zusammenhang von „multiples réalités“.68 Diese vielfältige haitianische Realität, die im Zeichen von Realem und Tod steht, aber auch eine Herausforderung an die Lebenden, an den Überlebenswillen darstellt, wird in Mars’ Roman von den Frauen gemeistert. Sie sind es, die jene multiple Realität wahrnehmen und zu verändern suchen. Marie-Carline Chardonnet kommentiert daher die feministische Dimension dieses Romans im Kontext der haitianischen Situation so: L’Ange du patriarche est un roman dérangeant, largement inspiré d’une tradition vaudou encore vivace, mettant en scène des femmes libres. Sous les traits d’Emmanuela, de Vanika ou encore de Paula, trois générations de femmes haïtiennes tentent d’échapper à une dramaturgie familiale sombre et implacable. Avec force et amour, toujours combatives, ces héroïnes modernes, s’émancipent et se réinventent, incarnant l’essence d’une résilience toute haïtienne. […] Kettly Mars rend hommage aux femmes, aux mères, aux filles, ces figures fondamentales de la société haïtienne.69

Überleben im Zeichen des Realen, in einer Lebenswelt, die gekennzeichnet ist von Katastrophen aller Art, ist eine Stärke, die den antillanischen Frauen – folgt man Mars – besonders zukommt. Sie sind die Bürgen einer Ethik des Überlebens und tragen bei zur neuen Formierung der familiären und politischen Gemeinschaft nach dem Fluch aus der Vorgeschichte, der allegorisch für die koloniale Sklavereigeschichte ebenso stehen kann wie für die Diktaturen in der haitianischen Neuzeit. Dabei tragen sie – in Gestalt der neuen Autorinnengeneration – auch bei zu einer neu gestalteten, kulturell lokalisierten realistischen Erzählweise, die dennoch durch die polyphone ästhetische Gestaltung und die Verschränkung mit den Erzählmustern des Thrillers und der phantastischen Literatur in der littérature-monde ihren Platz hat.

10.

Realistisches Erzählen an der Grenze zum Realen

Die Frage, ob Autor*innen wie hier Kettly Pierre Mars die Tendenz zu einer realistischen und politischen postkolonialen Literatur aufzeigen, ist (noch) nicht eindeutig zu beantworten. Aufgrund einer weitgehend fehlenden eigenen bzw. wegen der nach wie vor stark kolonial geprägten offiziellen Historiographie sind 68 Malivert (2019), o. S. 69 Chardonnet (2019), o. S. Kettly Mars bestätigt dies in demselben Interview, indem sie auf die Frage: „Dans votre dernier roman L’Ange du patriarche vous donnez la part belle aux femmes, avez-vous voulu mettre à l’honneur ces femmes libres?“ antwortet: „Absolument. C’est un constat fait par mes lecteurs et mes critiques: les femmes sont très fortes dans mon œuvre, je pense que c’est parce que je suis, moi aussi, une femme forte. J’aime être dans cet univers de femmes qui se prennent en main, qui prennent la vie à bras le corps.“

Realismus, Groteske, Ethik des Überlebens

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die Literaturen postkolonialer Autor*innen häufig eher an Erinnerungspolitiken orientiert und weniger an Milieu- und Gesellschaftsanalysen, wie sie der bürgerliche realistische Roman des 19. Jahrhunderts in Europa hervorgebracht hat. Es geht um die Darstellung des (noch) Repräsentierbaren aus dem kommunikativen Gedächtnis, um eine Zeugenschaft, auch um die Fragmentierung der Stimmen und das Verschwinden der Opfer, um die Grenzen des Sagbaren und das Grauen des Unerträglichen. Insofern ist dieses ein realistisches Erzählen an der Grenze zum Realen (im Lacan’schen Sinne). Nicht die Darstellung und/oder Entlarvung der bürgerlichen Moral oder einer politischen Ideologie – des Kapitalismus und Liberalismus, des bürgerlichen Individualismus etc. – stehen im Zentrum dieser engagierten Literatur, sondern Empathie-Erzeugung und Affekte von Schock über Verunsicherung bis zum grotesken Lachen mit seiner Funktion als Spannungsabfuhr, sowie eine Ethik des Überlebens und die Neubestimmung der familiären und politischen Gemeinschaft.

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Berit Callsen (Universität Osnabrück)

Erzählungen vom Körper – Erzählungen vom Ich: Zur Herstellung von Authentizität bei Guadalupe Nettel und Patricia de Souza

Im Zentrum der narrativen Werke der mexikanischen Autorin Guadalupe Nettel (*1973) und der peruanischen Autorin Patricia de Souza (1964–2019) steht der versehrte menschliche Körper. Der folgende Beitrag nimmt sich vor, ausgehend vom Motiv der verkörperten Differenz die Bedingungen und Implikationen der literarischen Herstellung von Authentizität bei beiden Autorinnen zu untersuchen. Authentizität soll dabei als poetologische Reflexionsfigur ethischer Natur erkundet werden. Die – meist weiblichen – Figuren im Werk von Nettel und de Souza verschweigen nichts. Sie öffnen sich der eigenen Unzulänglichkeit und Differenz nach innen und außen und ergreifen neue Formen des Daseins anhand ihrer Reflexionen der eigenen körperlichen Abweichung. Der Aufsatz verfolgt die These, dass in den zu betrachtenden Primärtexten Verhandlungen von verkörperter Differenz als Prozesse einer schrittweisen, wenngleich ambivalenten Selbst-Annäherung und Selbst-Akzeptanz ausgewiesen werden. Diese bedeuten nicht ein Einebnen, sondern ein kontinuierliches Annehmen – und bisweilen ein Überschreiten – der Versehrtheit, das Brüchiges und Inkonsistentes in sich einbehält. Das Subjekt wird hierbei als ein selbstbewusstes und als ein produktiv-ambivalentes imaginiert. Neue Erzählformen des Realen, so der zweite Teil der These, werden bei Nettel und de Souza wesentlich über solchermaßen geartete Repräsentationen des Subjekts hergestellt. Sie stehen in einem engen Zusammenhang mit dem Ausloten authentischen Handelns auf der Figurenebene. Zugleich verfolgen Nettel und de Souza unterschiedliche Wege in der Herstellung von Authentizität. Wenn es im Folgenden darum geht, einen spezifischen authentischen Funktionsmodus herauszuarbeiten, so soll dies vor dem Hintergrund der Überlegungen von Charles Taylor geschehen, der Authentizität aus Sicht der anthropologischen Philosophie Ende des 20. Jahrhunderts als ein ethisches Ideal zu bestimmen versucht hat. Wichtige Faktoren, die Taylor dabei herausstellt und die im Folgenden – neben anderen – genauer betrachtet werden, sind die enge Verbindung von Selbst-Wissen und Selbst-Akzeptanz sowie der Anspruch einer

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Wiedergewinnung des Selbst-Kontaktes. Authentizität gerät dabei in einem prozessual-produktiven Modus in den Blick – ein Zugriff, der Taylors Theoriebildung für die hier angestrebten Analysen besonders relevant macht.

Identität und Authentizität bei Charles Taylor Individuelle Identität ist untrennbar mit Selbstbewusstsein im Sinne eines Wissens um das Selbst verbunden; dieses Wissen organisiert sich nach Taylor in Form eines sinngebenden Narrativs des eigenen Lebens: „But this is to state another basic condition of making sense to ourselves, that we grasp our lives in a narrative.“1 Das Leben als narrative Form zu begreifen, bedingt nach Taylor seinerseits eine individuelle Orientierung auf das Gute hin. Auf diese Weise ist dem persönlichen Projekt einer Generierung von Wissen über sich selbst immer auch ein prozessualer und v. a. ein moralisch-ethischer Aspekt eingeschrieben. Darüber hinaus erkundet Taylor in seinen Überlegungen zur Identität den Zusammenhang von Selbst-Wissen („self-knowledge“2) und Selbst-Akzeptanz. Letztere wird dabei – neben der narrativen Form des Lebens und der moralischethischen Implikation einer Ausrichtung auf das Gute – als Schlüsselmoment des Selbstbewusstseins ausgewiesen. Taylor erfasst Selbst-Akzeptanz metaphorisch als ein Beheimatetsein in den Grenzen der eigenen Bedingung; Selbst-Akzeptanz ist dabei jedoch kein Zustand, sondern vielmehr ein Prozess, und sogar ein stetiges Erlernen im Sinne eines sowohl kognitiven als auch physischen Begreifens der eigenen Grenzen: „Coming to be at home within the limits of our condition presupposes that we grasp these limits, that we learn to draw their contours […].“3 Taylor skizziert hier keinesfalls das Szenario einer solipsistischen Abschottung und notorischen Wendung nach innen. Vielmehr betont er – und der Grenzbegriff legt dies ja gerade nahe –, dass das Individuum nur mit und unter anderen Individuen, eben in Begegnung und Abgrenzung, zum Selbst wird: „One is a self only among other selves. A self can never be described without reference to those who surround it.“4 Hierbei hebt er auch die dialogische Verwobenheit des Selbst hervor, insofern als dass der Prozess der Selbst-Akzeptanz, durch den Austausch verschiedener Sprachen des Selbst-Wissens („languages of self-understanding“5) bedingt ist und diesen zugleich befördert.

1 2 3 4 5

Taylor (1989), S. 47 [Hervorhebung i.O.]. Ebd., S. 179. Ebd. Ebd., S. 35. Ebd., S. 36.

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Authentizität hat nun jedoch in erster Linie mit dem Selbst zu tun. Das heißt, Anlage und Ursprung von Authentizität sind in Taylors Argumentation im Individuum angesiedelt, wenngleich ihre Ausbildung durchaus durch gesellschaftliche Prozesse beeinflusst werden kann. Hier soll nun genauer nach den individuellen Bedingtheiten von Authentizität gefragt werden, um die argumentative Verbindung zwischen Identität und Authentizität bei Taylor zu erkunden. Taylor erfasst Authentizität als ethisches Projekt des Selbst. Man könnte noch weitergehen und sagen, dass Authentizität Aufgabencharakter hat für das moderne Individuum: „Durch die Freiheit und Autonomie der Moderne werden wir selbst in den Mittelpunkt gerückt, und das Ideal der Authentizität verlangt, daß wir unsere eigene Identität ausfindig machen und artikulieren.“6 Authentizität ist demnach untrennbar verbunden mit der Identitätssuche, -hinterfragung und -vermittlung. Dass dies jedoch ein mitunter langwieriges und komplexes Unterfangen ist, mithin im Prozessualen viel eher seine Signatur findet als in einem irgendwie gearteten ‚Endprodukt‘, wird zum einen im zuvor angesprochenen narrativ-vorgängigen Charakter des Identitätskonstruktes selbst explizit. Zum anderen zeigt es sich in der Tatsache, dass Taylor die ‚Aufgabe Authentizität‘ als Zusammenschluss verschiedener Faktoren erfasst, die gewissermaßen auf einander aufbauen.7 So macht er einen Ausgangspunkt seines Authentizitätsideals in der Wiedergewinnung der eigenen Innerlichkeit aus, „[…] bei der wir dahingelangen, uns selbst als Wesen mit innerer Tiefe zu begreifen.“8 Dieser erste Schritt soll das Individuum dazu befähigen, seine eigene Weise des Menschseins zu erkennen und auszufüllen. Die Wiedergewinnung eines Kontaktes zu sich selbst – Taylor knüpft hier argumentativ an Rousseau und Herder an – stellt eine Art der Selbsttreue her, die es ermöglicht zwischen verschiedenen Weisen und Gefühlen des Daseins zu differenzieren und die je eigene ausfindig zu machen. Dies bedeutet nach Taylor auch, die je eigenen Möglichkeiten des Daseins auszumachen und umzusetzen. Authentizität ist also gelebter Ausdruck einer als der eigenen anerkannten Möglichkeit des Daseins: Sich selbst treu sein heißt nichts anderes als: der eigenen Originalität treu sein, und diese ist etwas, was nur ich selbst artikulieren und ausfindig machen kann. Indem ich sie

6 Taylor (1995), S. 93. 7 Der prozessual-produktive Charakter von Authentizität wird in verschiedenen Theoriebildungen immer wieder hervorgehoben und steht zudem in engem Zusammenhang mit dem Inszenierungsaspekt, der Authentizität immer auch innewohnt. Vgl. zum Herstellungscharakter von Authentizität in künstlerischen Zusammenhängen etwa Koethen (2011), S. 120. Vgl. zum ambivalenten Inszenierungsaspekt von Authentizität etwa Fischer-Lichte (2000), S. 23f. 8 Taylor (1995), S. 35.

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artikuliere, definiere ich zugleich mich selbst. Damit verwirkliche ich eine Möglichkeit, die ganz eigentlich mir selbst gehört.9

Das Ausloten und Auswählen dieser Möglichkeit ist wiederum Teil eines SelbstWissens, „self-knowledge“10, und somit ein wesentlicher Faktor der Identitätsbildung.11 Dass die Identifizierung und Auswahl der eigenen Daseinsmöglichkeit auch die (Er)Kenntnis der eigenen Begrenzungen, also den Umriss der jeweils eigenen Bedingungen in Form der Selbst-Akzeptanz umfasst, bleibt bei Taylor zwar implizit, soll hier jedoch mit Blick auf die Verbindung zwischen Authentizität, Selbst-Akzeptanz und Identitätsbildung herausgestellt werden. Dabei gilt es, schon mit Blick auf die Analysen, hervorzuheben, dass die eigenen Grenzen sowohl von innen als auch von außen erfahren werden können, in der Immanenz und Einkehr ebenso wie in der Überschreitung. Der Aufgabencharakter von Authentizität betont in Taylors Argumentation nicht nur ihren ethischen, sondern auch ihren kontingenten Zuschnitt. Sowohl Authentizität als auch Identität könnten mit Taylor als Experimente des Selbst begriffen werden, denen die Potentialität der Erfüllung ebenso innewohnt, wie ein offenes Ende; ebenso wenig wie es im Projekt ‚Identität‘ darum gehen kann, zu einem fest umrissenen Wesenskern vorzudringen, zielt die ‚Aufgabe Authentizität‘ darauf ab, eine Daseinsweise abschließend zu leben und zu verkörpern. In dem Maße wie er der Authentizität Aufgabencharakter zuschreibt, formuliert Taylor in seinem Ansatz Ideale ethischen Handelns. Wenngleich diese als Appelle implizit bleiben, ist ihnen doch ein Plädoyer für ein kreatives, bisweilen widerständiges Verhalten eingeschrieben – die Suche nach dem Eigenen und seine Anerkennung erfordert Differenz und Abweichung, ohne sich dabei gänzlich aus dialogischen Aushandlungsprozessen zu verabschieden. Insofern erlangt Authentizität bei Taylor den Status eines relationalen Konzeptes, es birgt eine grundlegende ‚Verwiesenheit‘ auf Andere bzw. Anderes.12 Es mag das Konzept von Authentizität als Lebensform sein, das dieses Ausloten zwischen Widerstand und Differenz einerseits und Dialog und Aushandlung andererseits in einen dynamischen Begriff bringt. Ein solchermaßen gefasstes Authentizitäts-Konzept „[…] gestattet uns (zumindest der Möglichkeit nach), ein erfüllteres und differenzierteres Leben zu führen, weil wir es in hö9 Ebd., S. 39. 10 Taylor (1989), S. 179. 11 Auch Luckner definiert die Erkenntnis der eigenen Seinsmöglichkeiten als Voraussetzung zur Herstellung von Authentizität. Vgl. Luckner (2007), S. 20. 12 Vgl. zu einem relationalen Authentizitätsbegriff auch Funk (2011), S. 228 und Wortmann (2018), S. 211.

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herem Maße wirklich unser eigen nennen können.“13 Die ethische Aufgabe Authentizität erfüllt sich also vorläufig im stetigen Prozess der Identifizierung des Eigenen und in der Akzeptanz der eigenen Daseinsmöglichkeiten; beides sind wesentliche Aspekte der Selbst-Definition und zugleich Ausgangsmomente sozialer Einbindung.

Introspektion und Selbst-Marginalisierung – Zur Herstellung von Authentizität bei Guadalupe Nettel Sowohl in ihren Romanen als auch in ihren Erzählungen14 entwirft Guadalupe Nettel Figuren, die sich gleichermaßen durch eine ‚andere‘ Körperlichkeit und ein hohes Maß an Selbstreflexion auszeichnen: Die Ich-ErzählerInnen ihrer Texte denken über die Konstruktion von körperlicher Differenz und Außenseitertum nach, ebenso wie über zwischenmenschliche Nähe und Distanz; sie hinterfragen bzw. vollziehen nicht zuletzt die Setzung und Subversion gesellschaftlicher Normen. Hierbei inszenieren sich vielfach Prozesse einer Wendung nach innen, die die Protagonistinnen im Zuge einer schrittweisen Wieder-Annäherung an ihr Selbst einen Weg der Selbst-Akzeptanz einschlagen lassen. Für Nettels gesamtes narratives Werk kann das Verhältnis zwischen Individuum und Körper als ein oszillierendes und ambivalentes bestimmt werden. Häufig wird die verkörperte Differenz dabei in der Figur des Anderen repräsentiert, zu der sich die Protagonistinnen verhalten müssen. Dieses ‚Andere‘ kann als körperlicher Defekt oder Deformierung, aber auch unter dem Signum der gefühlten Fremdinvasion bzw. der Verhaltensauffälligkeit auftreten.15 In dem Roman El huésped, der im Folgenden genauer beleuchtet werden soll, zeigt sich eine besondere Typologie der sogenannten verkörperten Differenz: Das Andere ist hier als Doppelgänger kodiert. Diese metaphorische Inszenierung der geistig-körperlichen Abweichung, die sich bereits im Titel des Romans ankündigt, erhält im Textverlauf eine dreifache, bewusst diffus gestaltete Qualität als Effekt schizophrener Wahrnehmung, Chiffre der schleichenden Erblindung der Protagonistin sowie Ausdruck der erlebten körperlichen und psychischen Veränderungen während der Pubertät. Der Roman erzählt die kontinuierliche Invasion der Protagonistin Ana durch ein fremdes Wesen, das „La Cosa“ genannt wird. Ana, die nach dem Tod ihres 13 Taylor (1995), S. 85. 14 Das Werk von Nettel umfasst bisher die Romane El huésped (2006), El cuerpo en que nací (2011) und Después del invierno (2014) sowie die Erzählbände Pétalos y otras historias incómodas (2008) und El matrimonio de los peces rojos (2013). 15 In früheren Veröffentlichungen habe ich das ‚Andere‘ im Werk von Nettel vorrangig unter dem Fokus der Disability Studies betrachtet. Vgl. Callsen (2018) und (2020).

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Bruders Diego Lehrerin in einer Blindenschule in Mexiko-Stadt wird, sieht sich einem ambivalenten Verhältnis zu La Cosa ausgesetzt, das sich zwischen Entfremdung und Momenten einer verzweifelten Vertrautheit bewegt. Die autodiegetische Erzählinstanz berichtet über ihre innersten Sorgen und Hoffnungen in Bezug auf den unliebsamen Gast, der auch als „parásito“16 betitelt wird; der Text erscheint so als eingängige, tagebuchähnliche Dokumentation der Gedankengänge der Protagonistin. Der konfessionsähnliche Charakter legt jedoch nicht nur Zeugnis ab von Anas emotionalen Reaktionen, sondern erweist sich als Repräsentations- und Erprobungsmodus einer Reihe von strategischen Überlegungen, die Ana anstellt, um ein Zusammenleben mit La Cosa zu ermöglichen. Im Sinne einer allmählichen Akzeptanz der körpereigenen Differenz ist es entscheidend, dass es ihr hierbei nicht darum geht, sich des zweifelhaften Gastes gänzlich zu entledigen. So besteht ein wesentliches Vorgehen von Ana darin, sich ein visuelles Archiv von Erinnerungen, Beobachtungen und Bildern anzulegen, um einen imaginären Rückzugsraum zu schaffen, der sie sowohl vor La Cosa als auch vor der drohenden Blindheit schützt: „Así, mi actividad principal – una actividad oculta a ojos de los demás – consistía en recolectar hallazgos visuales para resistir a una Cosa ciega que sería incapaz de apreciarlos.“17 Hierbei kommt Anas Körper eine entscheidende, wenn auch mehrdeutige Funktion zu: Zwar ist er Wohnstatt von La Cosa, zugleich wird er nun jedoch auch zum Empfänger und Träger von Bildern, die er absorbiert und aufbewahrt, damit Ana sie mental und körperlich stets von Neuem erleben kann: „Más que ningún otro vidente, yo apreciaba las imágenes, la posibilidad de absorber los colores y las formas, de incrustarlas en mi memoria, en mi propio cuerpo. Casi nadie se imagina la suerte que eso implica.“18 Dass die Strategien des Zusammenlebens mit dem Anderen, ebenso wie die Modi der Selbst-Akzeptanz noch brüchig sind, zeigt sich in jenen Momenten, in denen das Verhältnis zwischen Ana und La Cosa sich eher als entfremdete Relation denn als wechselseitige Duldung präsentiert. In diesen Momenten erscheint auch der Körper als wenig vertrauenswürdiger Gefährte, denn er verändert sich unter dem Einfluss von La Cosa: En el espejo, mi cara se veía casi esquelética: dos pómulos salientes, irreconocibles, ocupaban el lugar de los cachetes que nunca volvería a tener. No era mi rostro ya, sino el del huésped. Mis manos crispadas, a forma de caminar, reflejaban ahora una torpeza pastosa, la lentitud de quien ha dormido muchas horas e intenta despabilarse de golpe. Al mismo tiempo, descubría con asombro una sensualidad nueva. Mis caderas y mis 16 Nettel (2006), S. 164. 17 Ebd., S. 55. 18 Ebd., S. 76.

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pechos, antes totalmente pueriles, eran cada vez más prominentes, como si los dominara una voluntad ajena. Poco a poco, el territorio pasaba bajo su control.19

Von diesem Moment an, in dem sich die Motive von Fremdinvasion und pubertärer Veränderung des Körpers überlagern und Zeugnis ablegen von einer regelrechten Metamorphose der Protagonistin, die sie selbst in allen Details registriert und beschreibt, beginnt ein ambivalentes, bisweilen konfliktives Verhältnis zwischen Ana und La Cosa in den Vordergrund zu treten. Sie evozieren sich als ungleiches Paar, das in einer ebenso engen wie abtrünnigen Beziehung gefangen ist: „[…] éramos presas de una misma tormenta, unidas por una ley extraña que me hacía hundirme cuando ella salía al flote y respirar cuando ella zozobraba.“20 Immer wieder gelingt es La Cosa nun, Ana ihren Willen aufzunötigen; wie fremdbestimmt läuft sie in diesen Situationen durch die Straßen. Schließlich wählt Ana buchstäblich den Weg in den Untergrund und entschließt sich zu einem Leben in den Metro-Stationen von Mexiko-Stadt. Diese Parallelwelt konstituiert sich im Roman in analoger Funktion zum Bildarchiv als ein schützender Raum, den Ana aufsucht, um sich für das Zusammenleben mit La Cosa dauerhaft zu wappnen. Ana grenzt sich ab, um auf diese Weise die körpereigene Differenz zu assimilieren, sie identifiziert ihre Daseinsmöglichkeit in der Isolation. Diese Strategie der Selbst-Marginalisierung erweist sich als ein effektives Vorgehen in der Verhandlung der körpereigenen Differenz und kann als Faktor einer beginnenden Selbst-Akzeptanz der Protagonistin gelesen werden. Denn Ana ist glücklich in diesem neu eroberten Raum: Desde ahora, el metro sería mi hogar. Mientras yo permanecía sentada en esa escalera sin rumbo, mi mente se fue despejando. Poco a poco, el miedo desapareció en favor de un estado muy distinto. Ya no veía las formas, pero la luz comenzó a volverse más intensa. Había una transparencia inusitada en el aire. Esa claridad me envolvió por completo, como una lucidez insospechada, la sensación armoniosa de un orden inapelable o quizá la convicción de que conmigo se haría justicia. […] Durante varios minutos La Cosa y yo escuchamos juntas el murmullo de los metros que iban y venían, uno después de otro, pero siempre iguales, como un mismo tren que regresa sin cesar.21

In diesem Bild der Einigkeit zwischen Ana und La Cosa, mit dem der Roman endet, scheint die Protagonistin zudem das Motto des Textes zu erfüllen, ein auf Spanisch zitierter Satz aus Jean Paulhans Les incertitudes du langage, der folgenden Appell präfiguriert: „Comprenda que se trata de salvarse entero con todo lo que un hombre puede tener de inconsistente, de contradictorio, de absurdo. Todo esto es lo que se necesita poner a la luz: el loco que somos.“ 19 Ebd., S. 124. 20 Ebd., S. 85. 21 Ebd., S. 188f.

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Im pathetisch formulierten Anspruch einer umfassenden ‚Rettung‘ des Selbst ist dennoch eine Reihe von Faktoren auszumachen, die auch Taylor in seinen Überlegungen zur Authentizität thematisiert: So setzt der Akt der Selbst-Rettung, oder der Selbst-Akzeptanz, zunächst die Wiedergewinnung eines Selbst-Kontaktes, die (Er-)Kenntnis der eigenen Innerlichkeit (mit ihren Brüchigkeiten, Widersprüchen, Inkonsistenzen und Absurditäten) und vor allem ihre Sichtbarmachung und Offenlegung vor sich selbst und vor anderen voraus. Dass damit ambivalente Aus- und Verhandlungsprozesse hinsichtlich dieser inneren und äußeren Differenzen einhergehen, führt Nettels Roman in eingängiger Weise vor. Er zeigt ebenso, dass Selbst-Akzeptanz und Authentizität sowohl von der Identifizierung der eigenen Daseinsmöglichkeiten als auch durch das Erkennen der eigenen Grenzen und das Umsetzen der daraus folgenden Begrenzungen bestimmt werden. Ähnlich wie in anderen Texten von Nettel wird in El huésped schließlich ein Selbstfindungsprozess der Protagonistin vorgeführt, in dessen Verlauf sich die Akzeptanz der eigenen (körperlichen) Unzulänglichkeit und Versehrtheit eröffnet. Die ‚Rettung‘ in die Welt der eigenen Vorstellungskraft und visuellen Fantasie einerseits und der abtrünnige Rückzug in einen marginalen und dunklen Raum urbaner Katakomben andererseits werden dabei zu Ermächtigungsstrategien der Protagonistin. Beides erhält im Hinblick auf die Erblindung von Ana zudem eine allegorische Funktion. An dieser Stelle soll noch ein Ausblick auf den autofiktionalen Text El cuerpo en que nací eingefügt werden. Inspiriert von der Biographie der Autorin, erzählt er die Geschichte eines Mädchens, das mit einem Sehfehler im rechten Auge geboren wird. Seine Kindheit und Jugend sind von der eingeschränkten Sehfähigkeit stark beeinträchtigt; es muss sich wiederholt ärztlichen Untersuchungen und medizinischen Behandlungen aussetzen, um sein Sehvermögen kontinuierlich zu verbessern. In der Schule erlebt es Situationen sozialer Ausgrenzung aufgrund der Behinderung. Durch die Inszenierung eines therapeutischen Settings, in dessen Mittelpunkt der retrospektive Selbst-Bericht der Protagonistin steht, wird der Leser Zeuge der Erinnerungen und Interpretationen ihres eigenen Lebens. Hierbei werden die Reaktionen der z. T. direkt adressierten Therapeutin ausgeblendet, sodass ein introspektiver Monolog entsteht, der ausschließlich die Selbstreflexionen der namenlosen Hauptfigur wiedergibt. Im Rahmen dieses rückblickenden SelbstGesprächs erlebt sie einschneidende Erfahrungen verkörperter Differenz und Momente der Marginalisierung erneut, gelangt jedoch schließlich zu einer anders gelagerten Interpretation dieser Situationen und Erlebnisse: So erkennt sie das Erlebte als Teil einer zwar schmerzhaften, jedoch produktiven Erfahrung, mit deren Hilfe sie ein besonderes Selbst- und Lebens-Wissen erlangt hat. Ähnlich wie in El huésped werden somit Vorgehensweisen und Erkenntnisschritte auf

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dem Weg zur individuellen Selbst-Akzeptanz der körperlichen Differenz vorgeführt, die zugleich Teil einer authentischen Existenzweise im Sinne Taylors sind. Die Protagonistin gelangt zu folgendem Schluss: Después de todo, doctora Sazlavski, las dudas no me dan tanto miedo. Poner en cuestión los acontecimientos de una vida, la veracidad de nuestra propia historia, además de desquiciante, debe tener algo saludable y bueno. […] El cuerpo en que nacimos no es el mismo en el que dejamos el mundo. No me refiero sólo a la infinidad de veces que mutan nuestras células, sino a sus rasgos más distintivos, esos tatuajes y cicatrices que con nuestra personalidad y nuestras convicciones le vamos añadiendo, a tientas, como mejor podemos, sin orientación ni tutorías.22

Wandel und Differenz des Körpers werden hier als Ausweise des gelebten Eigenen betrachtet und akzeptiert. So kann eine Wiederannäherung und Wiederaneignung des eigenen/anderen Körpers stattfinden, in deren Zentrum das handelnde Individuum steht. Das Schlusszitat des Romans zeigt damit in kondensierter Weise das Bewusstsein einer ethischen Positionierung auf, die die Verwobenheit und wechselseitige Bezogenheit von Individuum und versehrtem Körper (an)erkennt. Sowohl in El huésped als auch in El cuerpo en que nací beobachten die Figuren ihre Körper höchst aufmerksam und nehmen eine detaillierte Dokumentation ihrer Gedanken, Gefühle und Strategien hinsichtlich der dabei registrierten Differenzen und Abweichungen vor. Die Texte repräsentieren auf diese Weise eine ambivalente Dynamik von Ferne und Nähe zwischen Körper und Subjekt. Es ist eben dieses Oszillieren zwischen Vertrautheit und Entfremdung, das aufzeigt, dass Authentizität sich sowohl aus Differenz und Abweichung als auch aus Wiederannäherung und Wiederaneignung von Selbst und Anderem speist. Sie stellt eine Existenzform in Aussicht, die die Haltung zum Selbst in stetiger, jedoch produktiver Weise überdenkt und hinterfragt. Authentizität, so zeigen es die Texte, ist nicht das Ergebnis von Selbst-Akzeptanz, sondern gleichbedeutend mit ihrem prozessualen Vollzug.

22 Nettel (2011), S. 195f.

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Vehemenz und Überschreitung – Zur Herstellung von Authentizität bei Patricia de Souza Patricia de Souza hat ein umfangreiches fiktionales und essayistisches Werk hinterlassen, in dessen Zentrum der weibliche Körper mit seinem erotischen Begehren einen gewichtigen Platz einnimmt.23 Insbesondere in ihrem essayistischen Werk vertritt de Souza feministische Standpunkte und untersucht etwa die Konstruktion des weiblichen Körpers unter einem männlichen Blick; zugleich zeigt sie Strategien auf, die diesen male gaze durchbrechen und unterwandern können. Die Ausgestaltung der weiblichen Figuren ihrer Romane, die sie oftmals trotz (oder gerade wegen) ihrer körperlichen Versehrtheit mit vehementer Stimme sprechen lässt, verfolgt in der Herstellung von Authentizität immer auch eine emanzipierende Komponente. Ist die Verklammerung von Authentizität und feministischer Positionsbestimmung ausgeprägter als bei Nettel, so teilt de Souza doch grundsätzlich die Diktion der Konfession und Geheimnisoffenbarung mit der mexikanischen Autorin. An dieser Stelle soll der Roman El último cuerpo de Úrsula (2000) genauer in den Blick genommen werden. Ähnlich wie in den zuvor analysierten Texten von Nettel kann der Roman als Chronik eines sich verändernden Körperverhältnisses der im Titel genannten Protagonistin gelesen werden. Die autodiegetische Erzählinstanz verfolgt hier augenscheinlich eine selbstaufklärerische Motivation: Die in einem Brief an ihre Freundin Irene dargelegten Gedanken dienen dazu, einen neuen Körper- und Selbstbezug nach einem folgenschweren Unfall auszuloten. Das schriftlich Niedergelegte wird somit sowohl zur Offenbarung des Vergangenen als auch zur Formulierung zukünftiger Aufgaben und Herausforderungen, denen das schreibende Ich sich stellt: „Creo que no le diría a nadie lo que estoy escribiendo ahora: tengo que encontrar el misterio de querer seguir existiendo a pesar de que conozco la rigidez de un cuerpo y la sensación de estar mutilada.“24 Als physischer Erfahrungsbericht von Verletzung, Lähmung, Taubheit der Extremitäten und Abwesenheit sexueller Lust beleuchtet der Roman die Konstellation von verkörperter Differenz und Authentizität unter dem Blickwinkel einer transgressiven Perspektive. Ausgangspunkt hierfür ist jedoch zunächst die elementare Erfahrung einer körperlichen Fragmentierung, die nicht nur eine

23 Paradigmatisch für diesen thematischen Schwerpunkt stehen die Texte El último cuerpo de Úrsula (2000), Electra en la ciudad (2006), Erótika, escenas de la vida sexual (2008) und Mujeres que trepan a los árboles (2017). 24 De Souza (2000), S. 59.

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erhöhte Wachsamkeit für den Körper, sondern auch eine tief empfundene innere Trennung und emotionale Abspaltung bedingt: […] pero cuando ocurrió el accidente, comprendí algo que estaba más allá de todas las ideas que podría haber aprendido o hasta inventado; comprendí que existía únicamente como carne, materia, moléculas condenadas a transformarse en partículas que ignorarían la sutileza de mis sentimientos; comprendí que dentro de mí estaba la muerte, y así conocí el odio que nace de esa frustración. Cuando ocurrió el accidente, entendí lo esencial; que el final empieza por la ausencia de placer.25

Die Zäsur des Unfalls führt zu einer regelrechten Zersplitterung des schreibenden Ichs und zu einer Trennung von Geist und Körper. Sie zieht ein stetiges Sehnen nach körperlich-geistiger Vollständigkeit und (sexueller) Empfindsamkeit nach sich, das die Selbst-Aufklärung und die Suche nach neuen Daseinsmöglichkeiten der Protagonistin wesentlich bestimmt: Todo misterio que no es revelado engendra una especie de locura o una pasión desenfrenada. Yo deseaba mi libertad a cualquier precio; mientras esto no sucediese, seguiría prisionera del misterio que me imponía la relación con mi cuerpo, y yo quería terminar con ese misterio, tenía sed de ser, era la única forma como podía terminar de reconocerme. Es agotador luchar siempre contra sus deseos, es insoportable.26

Das Ausloten und Neu-Bestimmen der eigenen (körperlichen) Bedingungen erhalten hierbei oft die Signatur des Kämpfens; die Ich-Erzählerin ringt mit sich und ihrem Körper. Diese Auflehnung wird zum paradoxen Symptom der beginnenden Selbst-Akzeptanz. Dabei erscheint der versehrte Körper zunächst als Entfremdeter, der sich einem kontrollierenden Zugriff entzieht: Mi cuerpo me sorprendía como un extraño y revelaba la vida en sus formas más secretas y despóticas negándole a mi voluntad la posibilidad de satisfacer mis necesidades físicas y psicológicas. La peor negación: no sentir placer. Así, postrada sobre una cama, tuve que aprender a dialogar con mi cuerpo, un diálogo en el cual él estableció las reglas, por lo menos al principio. Después, aprenderé a dominarlo, ya verán de qué manera.27

Zugleich deutet sich hier die allmähliche Verschiebung eines Macht- und Dominanzverhältnisses an. Während die Protagonistin unmittelbar nach dem Unfall ihrem eigenen Körper zunächst als Unterlegene passiv ausgeliefert scheint, ihr der Körper und letztlich auch die emotionalen Empfindungen zunehmend verschlossen bleiben und sie sich einzig in einem Körperverhältnis der Annullierung gefangen sieht, entwickelt sie aus dieser Situation des Zusammenbruchs schließlich eine neue Art der körperlichen Bezugnahme. Der Dialog, 25 Ebd., S. 13. 26 Ebd., S. 99. 27 Ebd., S. 14.

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in den Úrsula nun mit ihrem Körper tritt, verschreibt sich der ständigen Überschreitung. Die Auflehnung gegen den eigenen Körper wird zur Grenzerprobung. Hierbei vollzieht die Protagonistin, sei es durch autoaggressive Akte, sei es durch gewaltvolles Verhalten gegenüber Anderen, wiederholt einen Ausbruch aus den Grenzen der eigenen körperlichen Bedingungen. In dieser vehementen Überschreitung körperlicher und moralisch-ethischer Kategorien sucht Úrsula nicht nur einen Ermächtigungsbeweis, sondern auch neue Formen der Selbst-Akzeptanz zu generieren. Die schriftliche Ausstellung von Vehemenz und Gewalt suggeriert sich fortan als Gegenkraft zum geschwächten und fragmentierten Körper. Die körperliche und seelische Gewalt, die sie gegenüber ihrem Geliebten ausübt und wegen der sie zu einer Gefängnisstrafe verurteilt wird, scheint zu einer Kompensationshandlung für den körperlichen Schmerz und die Abwesenheit von (sexueller) Lust zu geraten. Zugleich markiert die Gewalt neben der Versehrtheit ein weiteres Differenzmoment zum eigenen Ich und zum eigenen Körper; Gewalt wird somit auch zu einem Katalysator der Selbstentfremdung. Hier zeigt sich die grundlegende Ambivalenz der transgressiven Akte. So empfindet Úrsula Angst gegenüber ihrem eigenen Verhalten: No me reconozco en mis actos violentos, porque me asustan; yo he tenido mucho miedo de esa violencia sin dueño ni nombre que me ha obligado a acercar la mirada hacia mí misma, una mirada que se ha hecho cada vez más dura, más inmune a mis mecanismos de defensa, una mirada desnuda.28

Es deutet sich somit erneut ein Ausgeliefertsein an – die Protagonistin muss ihrem eigenen Blick standhalten und erfährt diesen als zunehmend unnachgiebig und schneidend. Vor diesem auto-zentrierten Blick, der sich sukzessive im gesamten Text ausbreitet, legt die Protagonistin ihre amoralischen Emotionen, Regungen und Reaktionen offen; sie unternimmt eine Autopsie ihres vehementen, ja gewaltvollen Denkens, Fühlens und Handelns und offenbart: „De esa misma manera aprendí a gozar con la violencia. Al ver mis rodillas hinchadas, decidí actuar: levanté el brazo y golpée una parte del rostro de mi adorado poetapintor.“29 Es ist der Ambivalenz der Transgression geschuldet, dass diese SelbstErzählung, die ohne Nachsicht das Ich entblößt, sowohl der selbstzentrierten Blick-Kontrolle entspringt und diese stärkt als auch eine neue Annäherung an das Ich und den Körper, eine neue Form der Selbst-Akzeptanz bewirken kann: Con la parálisis, en cambio, sucedió lo que nunca hubiese esperado: conocí el displacer, la rigidez y el frío del miedo; y lo que dije antes: la rabia, la felonía, el egoísmo. Ésas son las primeras cosas que tenía que decir, tenía que empezar por hablar de lo que me había

28 Ebd., S. 70. 29 Ebd., S. 85 [Hervorhebung i.O.].

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revelado mi nueva relación con el cuerpo… He amado, he odiado a causa de un cuerpo que me enseñó a ser yo misma. Nadie más que yo, sola.30

Der versehrte Körper wird somit einerseits zum Experimentierraum für eine neue Erkundung des Ichs, zum Laboratorium der Selbst-Akzeptanz und Authentizitätsherstellung; er bleibt jedoch andererseits widerständiges Element und ‚Fremdkörper‘. Im transgressiven Akt erscheint der Körper zugleich als Verbündeter und Gegner und markiert so in der Zweideutigkeit der Überschreitung auch ein ambivalentes Verhältnis zum Ich: „Ésta es la única manera como puedo aprender; el único laboratorio es mi cuerpo, que no es un apéndice del mundo, sino una parte que lo integra con cierta rabia. Con cierta rebelión.“31 Die transgressive Erkundung von (Körper-)Grenzen wird bei de Souza zum wesentlichen Motor der Authentizitätsherstellung. Vehemenz, Rebellion und Gewalt geben sich hierin als Daseinsmöglichkeiten zu erkennen, sie stoßen eine permanente Überschreitung des tauben Körpers an. Das Widerständige wird zum Antriebsmoment der Transgression; Selbst-Akzeptanz meint bei de Souza nicht lediglich das Erkennen und Annehmen, sondern auch das Überwinden der eigenen körperlichen Verfasstheit im Bewusstsein eines stets auf sich selbst zurückgeworfenen Ich: „Y, sin embargo, ¡me considero vehemente!“32 ruft die Protagonistin an einer Stelle aus und fährt fort: […] no sé si todas estas – así llamadas – mutilaciones, puedan terminar con mi avidez por las experiencias nuevas, por este deseo desenfrenado de llegar a ser lo más parecida a mí misma, yo, la que desea tanto y no está dispuesta a renunciar a nada.33

Diese literarisierte Form der Selbst-Annäherung im Zeichen des Überbordenden und Transgressiven hat de Souza weitreichende Reaktionen eingebracht, die sie noch knapp 20 Jahre nach Erscheinen des Romans in ihrem Essay Ecofeminismo decolonial y crisis del patriarcado (2018) reflektiert. In diesem Essay, der Weiblichkeitskonstruktionen in patriarchalen Strukturen v. a. in Peru und Frankreich diskutiert – zwei Kulturräume, denen die Autorin persönlich verbunden ist –, beleuchtet de Souza Erfahrungen von Marginalisierung und Stigmatisierung, die sie mit der Veröffentlichung ihres Romans in Verbindung bringt: Desde el principio he sentido la hostilidad que representa hablar de manera directa, no ser una mujer servil, aquella que acepta el paternalismo de una sociedad que te deja hablar cuando no molestas a nadie, cuando dices lo que tienes que decir. No, yo hablaba para reconstruir un yo descompuesto, para encontrar respuestas, para comprender.34 30 31 32 33 34

Ebd., S. 17. Ebd., S. 46. Ebd., S. 50. Ebd., S. 54. De Souza (2018), S. 10.

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Rückwirkend scheint de Souza hier noch einmal einem patriarchal vorgegebenen Gefälligkeitsgestus widersprechen zu wollen; zugleich prangert sie die im Zuge der Publikation erfahrene soziale Ausgrenzung und markttechnische Schmähung hier ebenso wie an verschiedenen weiteren Stellen ihres Essays an.35 Darüber hinaus nutzt de Souza diese erneute Bezugnahme auf El último cuerpo de Úrsula, um nachträglich noch einmal ihre Motivation zur Veröffentlichung offenzulegen. Neben dem oben genannten Bestreben, ein ‚zerfallenes Ich‘ („un yo descompuesto“) zusammenzuführen, liegt diese in der literarischen Erkundung einer ‚Metaphysik des Körpers‘ – „Desarrollar de manera alocada una metafísica del cuerpo.“36 Die Figur der Úrsula setzt diese Metaphysik in ihren Akten der Selbst-Überschreitung eindrücklich um. Sie handelt damit auch in de Souzas Namen. Die Durchbrechung eines idealtypischen Weiblichkeitskonstrukts, das vielfach einem männlichen Blick entspringt, erscheint als ein gewichtiger funktionaler Bestandteil dieser über-körperlichen Perspektivierung.37 Resümierend kann Folgendes festgehalten werden: Sowohl bei Nettel als auch bei de Souza befinden sich die Figuren mitten in der Selbstsuche. Sie arbeiten an der Wiederherstellung bzw. Neu-Ausrichtung eines Selbst-Kontaktes. Die damit einhergehende Identifizierung der eigenen (neuen) Lebensmöglichkeiten umfasst zwei wesentliche Erkenntnisschritte: Das Erkennen einer inneren Brüchigkeit und die Erfahrung der eigenen Begrenzung. Die autodiegetischen Erzählinstanzen vollziehen diese Selbst-Erkundungen als Grenzbewährungen oder aber als Grenzüberschreitungen. Die körperliche Differenz wird anerkannt, und zwar in dem Maße, wie sie erfahren, exponiert und überwunden wird – dies geschieht bei Nettel in der Introspektion, bei de Souza in der Überschreitung: Während Nettels Figuren letztlich als verständige Wesen auf sich selbst zurückgeworfen ihre mögliche Kongruenz suchen, strebt die Figur von de Souza nach dem transgressiven (Gewalt-)Erlebnis, das als Kompensationsbegehren funktioniert und – bei aller moralischen Fragwürdigkeit – neue Daseinsmöglichkeiten eröffnet. Nettel und de Souza inszenieren Prozesse der Selbst-Akzeptanz in ihren Figuren somit auf denkbar unterschiedliche Weise. Die eigene Anerkenntnis und Wiederannäherung an das Ich erfolgt zwar auf verschiedenen Wegen, der pro35 An anderer Stelle des Essays hält de Souza fest: „Incluso con el libro El último cuerpo de Úrsula se me ha marcado socialmente, se me ha señalado de forma silenciosa […].“ (2018, S. 77) und fährt in einer Fußnote fort: „Debo escribirlo para objetivar el hecho de que la publicación de este libro marcó mi inscripción como autora en la zona del No ser, de las personas que suelen atravesar los límites de lo admitido.“ (Ebd., S. 78) 36 Ebd., S. 80. 37 Romina Irene Palacios Espinoza hat diese Dekonstruktionsleistung eingehender untersucht und in Zusammenhang gebracht mit der Inszenierung der körperlichen Versehrtheit der Protagonistin. Vgl. Palacios Espinoza (2019), S. 122f.

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zessual-produktive Charakter von Authentizität ist den Handlungsweisen der Figuren aber gleichermaßen eingeschrieben. Die Idee des „auto-entes“, des Selbstvollendenden,38 ist in allen Erzählinstanzen präsent und weist auf einen selbstbestimmten und selbstvollzogenen Prozess der stetigen Annäherung an das Ich, der sich im Spannungsfeld von Differenz, Entfremdung und Versehrtheit bewegt. Neue Erzählformen des Realen sind bei beiden Autorinnen nicht zuletzt an auto-fiktionale Schreibweisen gebunden. Hierbei treten metafiktionale und ludische Komponenten39 tendenziell in den Hintergrund. Relevant wird jedoch besonders die von Ana Casas untersuchte experimentelle Komponente der AutoFiktion: So zeigt sich auch bei den hier vorgestellten Autorinnen, dass der fiktionale Selbst-Bericht zum Untersuchungsfeld wird, das eine Erweiterung der eigenen Lebensgeschichte ermöglicht. Der Mehrwert der (Teil-)Fiktionalisierung liegt im auto-zentrierten Erkenntnisgewinn, der in ihr angelegt ist und erst durch sie umsetzbar wird. Casas spricht von einer In-Eins-Setzung von „autoinvención“ und „autoconocimiento“.40 Mit dem Einsatz auto-fiktionaler Verfahren verhandeln die untersuchten Texte nicht zuletzt auch die Verbindung von Authentizität und Autorschaft in neuer Hinsicht.41

Bibliographie Primärliteratur De Souza, Patricia (2000): El último cuerpo de Úrsula. Lima: Factotum Editores Independientes. De Souza, Patricia (2018): Ecofeminismo decolonial y crisis del patriarcado. Santiago: Los libros de la Mujer Rota. Nettel, Guadalupe (2006): El huésped. Barcelona: Anagrama. Nettel, Guadalupe (2011): El cuerpo en que nací. Barcelona: Anagrama.

Sekundärliteratur Callsen, Berit (2018): „Cuerpo, des/uso y subjetivación en Hernández, Bellatin y Nettel“, in: Julio Checa / Susanne Hartwig (Hg.): ¿Discapacidad? Literatura, teatro y cine hispánicos vistos desde los disability studies. Berlin: Peter Lang, S. 223–238.

38 39 40 41

Vgl. Kalisch (2000), S. 32 und Fayet (2018), S. 10. Vgl. Schlickers (2010), S. 51 und Toro (2017), S. 313. Casas (2010), S. 209. Knaller (2007), S. 27f.

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Callsen, Berit (2020): „Cuerpo y mente extraordinarios: formas de inclusión y concepción de figuras en la obra cuentística de Guadalupe Nettel“, in: Susannne Hartwig (Hg.): Inclusión, integración, diferenciación. La diversidad funcional en la literatura, el cine y las artes escénicas. Berlin: Peter Lang, S. 105–120. Casas, Ana (2010): „La construcción del discurso autoficcional: procedimientos y estrategias“, in: Vera Toro / Sabine Schlickers / Ana Luengo (Hg.): La obsesión del yo. La auto(r)ficción en la literatura española y latinoamericana. Frankfurt a.M. / Madrid: Vervuert / Iberoamericana, S. 193–211. Fayet, Roger (2018): „Authentizität und Material. Eine Einleitung“, in: Roger Fayet / Regula Krähenbühl (Hg.): Authentizität und Material. Konstellationen in der Kunst seit 1900. Zürich: Scheidegger & Spiess, S. 8–27. Fischer-Lichte, Erika (2000): „Theatralität und Inszenierung“, in: Erika Fischer-Lichte / Isabel Pflug (Hg.): Inszenierung von Authentizität. Tübingen / Basel: A. Francke Verlag, 11–27. Funk, Wolfgang (2011): „Seltsame Schleifen und wahrhaftiges Erzählen – Authentizität im zeitgenössischen englischsprachigen Roman“, in: Wolfgang Funk / Lucia Krämer (Hg.): Fiktionen von Wirklichkeit. Authentizität zwischen Materialität und Konstruktion. Bielefeld: transcript, S. 225–244. Kalisch, Eleonore (2000): „Aspekte einer Begriffs- und Problemgeschichte von Authentizität und Darstellung“, in: Erika Fischer-Lichte / Isabel Pflug (Hg.): Inszenierung von Authentizität. Tübingen / Basel: A. Francke Verlag, S. 31–44. Knaller, Susanne (2007): Ein Wort aus der Fremde. Geschichte und Theorie des Begriffs Authentizität. Heidelberg: Winter. Koethen, Eva (2011): „Der künstlerische Raum zwischen Echtheitsanspruch und Stimmigkeit der Erfahrung“, in: Wolfgang Funk / Lucia Krämer (Hg.): Fiktionen von Wirklichkeit. Authentizität zwischen Materialität und Konstruktion. Bielefeld: transcript, S. 117–137. Luckner, Andreas (2007): „Wie man zu sich kommt – Versuch über Authentizität“, in: Julius Kuhl / Andreas Luckner. Freies Selbstsein. Authentizität und Regression. Göttingen: Vandenhoeck&Ruprecht, S. 9–48. Palacios Espinoza, Romina Irene (2019): „Schmerzhafte Erotik: kranke Körper und sexueller Genuss in El último cuerpo de Úrsula von Patricia de Souza“, in: promptus – Würzburger Beiträge zur Romanistik 5, S. 117–132. Schlickers, Sabine (2010): „El escritor ficcionalizado o la auto-ficción como autor-ficción“, in: Vera Toro / Sabine Schlickers / Ana Luengo (Hg.): La obsesión del yo. La auto(r)ficción en la literatura española y latinoamericana. Frankfurt a.M. / Madrid: Vervuert / Iberoamericana, S. 51–71. Taylor, Charles (1989): Sources of the Self. The Making of the Modern Identity. Cambridge, Massachussetts: Harvard University Press. Taylor, Charles (1995): Das Unbehagen an der Moderne. Übersetzt von Joachim Schulte. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Toro, Vera (2017): „Soy simultáneo“. El concepto poetológico de la autoficción en la narrativa hispánica. Frankfurt a.M. / Madrid: Vervuert / Iberoamericana. Wortmann, Volker (2018): „Authentizität als Wiedergänger. Die Konjunkturen eines ungeliebten Konzepts und ihre medialen Bedingungen“, in: Roger Fayet / Regula Krähenbühl (Hg.): Authentizität und Material. Konstellationen in der Kunst seit 1900. Zürich: Scheidegger & Spiess, S. 208–226.

Julia Brühne (Universität Bremen)

Un operativo de simulacro. Argentinische Realitäten oder Demokratie und Kontingenz in Damián Szifrons Fernsehserie Los simuladores (2002–2004)

„If you have a problem, if no one else can help, and if you can find them, maybe you can hire: the A-Team.“ Mit diesem Intro beginnt jede Folge der amerikanischen TV show The A-Team. Zwischen 1983 und 1987 produziert, erzählt die später zum Kultstatus avancierte Serie aus dem turbulenten Alltagsleben – oder was man dafür halten könnte – vier ehemaliger amerikanischer Soldaten, die sich im unübersichtlichen underground von Los Angeles versteckt halten. Grund dafür ist die Armee, die die vier wieder in das militärische Hochsicherheitsgefängnis verbringen möchte, aus dem sie zuvor geflüchtet waren, und dies offenbar mit Fug und Recht: Denn wie uns das Intro außerdem wissen lässt, wurde das Team während des Vietnamkriegs eines Verbrechens beschuldigt, das es nicht begangen hat. In ihrem neuen Leben als soldiers of fortune1 betätigen sich die in der Regel unter ihren Spitznamen agierenden Veteranen ‚Hannibal‘, ‚Face‘, ‚B.A.‘ und Murdock als Retter in der Not und befreien verzweifelte Klienten mit Mut, Einfallsreichtum, Humor und soldatischem Geschick aus jeder noch so aussichtslos scheinenden Situation – Unterfangen, die freilich nicht ohne eine beträchtliche Anzahl von Schießereien, Explosionen oder Verfolgungsjagden abgehen, dabei jedoch fast nie ernstere Verletzungen oder gar Todesopfer fordern.2 Die in den 80er Jahren vom sozialen und politischen Standpunkt aus äußerst relevante und somit für eine neue Form realistischen Erzählens durchaus taug1 Das vollständige Intro lautet: „Ten years ago, a crack commando unit was sent to prison by a military court for a crime they didn’t commit. These men promptly escaped from a maximumsecurity stockage to the Los Angeles underground. Today, still wanted by the government, they survive as soldiers of fortune. If you have a problem, if no one else can help, and if you can find them, maybe you can hire: the A-Team.“ Vgl. z. B. „Mexican Slayride“. Drehbuch. Frank Lupo / Stephen J. Cannell. Reg. Rod Holcomb. Prod. Stephen J. Cannell Productions. A-Team. St. 1, Ep. 1. USA, 00:00:00–00:00:23. 2 Zwar sind Morde mitunter die Auslöser für die Einsätze des A-Teams; jedoch kommt während des Einsatzes selbst, trotz mitunter erhöhten Feuerwaffenaufkommens, äußerst selten jemand zu Tode. Dies trägt zur Familien- und Nachmittagsfreundlichkeit der Serie bei, unterstreicht dabei aber auch die Distanz zu einer wie auch immer gearteten realistischen Darstellung.

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liche Frage nach der Reintegration ehemaliger Vietnamsoldaten in die Zivilgesellschaft3 wird hier auf eine Weise verhandelt, die durchaus Anleihen an die Realität macht: bspw. durch die hilfesuchenden Klienten, die aus vielen verschiedenen sozialen Schichten kommen, durch Sequenzen, in denen eine Reflexion über die Erlebnisse der Figuren in Vietnam stattfindet, oder auch durch die Besetzungspragmatik: George Peppard (Hannibal) und Mr. T. (B.A.) waren einst selbst Soldaten, Peppard beim United States Marine Corps, Mr. T. in der United States Army und im Military Police Corps. Die Serie verlässt jedoch im Laufe der jeweiligen Handlung meist rasch ‚realistische‘ Gefilde und bewegt sich dann überwiegend im Action- und Abenteuergenre. Etwas anders verhält es sich knapp 20 Jahre später bei der argentinischen Serie Los simuladores, die vom ATeam nicht unwesentlich inspiriert scheint, allerdings in mehrerlei Hinsicht anders gelagert ist: insbesondere, wenn es um die Abbildung, (Re-)Konstruktion, Nachahmung oder Simulation von Realität – oder sollte man sagen: Realitäten – geht. Für die Serie des Regisseurs Damián Szifrón – der 2014 auch den vielfach prämierten Film Relatos salvajes drehte – gilt dabei zudem noch mehr als für The A-Team, dass sie nicht ohne den politischen Kontext der letzten Dekaden des 20. Jahrhunderts und der ersten Jahre nach dem Millennium zu denken ist. Wie Nahuel Ribke es in einer der bislang wenigen ausführlicheren Betrachtungen zur Serie4 ausgedrückt hat: „[…] Los Simuladores appeared in open television during a major economic, political, and economic [sic.] upheaval […]. […] the stories developed in the series captured the zeitgeist of Argentinian society at the start of the new millennium.“5 Wie ich zeigen möchte, entfaltet sich in Los simuladores in einer Mischung aus Simulakrum, Stereotyp, Kontingenzbewältigung und demokratischer Enthierarchisierung eine Kategorie der Teilhabe am demokratischen Staatskörper, die in der Lebensrealität nur bedingt zu haben ist.6 Die simuladores sind, ebenso wie das A-Team, eine aus vier jüngeren Männern bestehende Gruppe, die in Buenos Aires eine Agentur für sogenannte operativos de simulacro betreibt. Leute mit den unterschiedlichsten Problemen – von Liebeskummer und Angst vor einer Ex-Affäre und Kredithaien, über Arbeitslosigkeit und drohendes Prüfungsversagen bis zur Impotenz des argentinischen 3 Diese Frage liegt implizit bspw. auch der erfolgreichen Serie Magnum, P.I. (1980–88) zugrunde. 4 Ribke (2020) beschäftigt sich in seinem Buch Transnational Latin American Television (2020) mit der Frage nach der Übertragbarkeit von Los simuladores und des argentinischen Lokalkolorits der Serie auf jene Länder, die Los simuladores mit eigenen Schauspielern adaptiert haben: Mexiko, Chile, Spanien und Russland. 5 Ribke (2020, n. pag.), Kap. „Conclusion“. Die offensichtlich aus Versehen zustande gekommene zweifache Nennung von „economic“ im ersten Teil des Zitats unterstreicht nichtsdestoweniger die Bedeutung der Wirtschaftskrise für die Serie und damit auch für deren realistische Anklänge. 6 Mossello (2019) weist auf eine weitere amerikanische Inspirationsquelle der Serie hin, nämlich die Serie Mission: Impossible (1966–73).

Argentinische Realitäten oder Demokratie und Kontingenz in Los simuladores

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Präsidenten höchstpersönlich – suchen die simuladores häufig auf mündliche Empfehlung hin auf und erbitten Hilfe. Nach umfassenden Recherchearbeiten, in denen die zu täuschende Person zuweilen bis ins letzte noch so kleine Detail durchleuchtet wird, setzen die simuladores ein kompliziertes Geflecht in Gang, in dessen Zuge ein eigens für die jeweilige Person konzipiertes Schauspiel vorgeführt wird. Die Inszenierung bewirkt eine Verhaltensänderung der getäuschten Person und verbessert damit die Ausgangslage des Klienten in einer bestimmten sozialen, emotionalen oder auch ökonomischen Gemengelage nachhaltig. Fühlt man sich an dieser Stelle dunkel an gewisse Begebenheiten in dem mehrfach als erstem realistischen Roman überhaupt betitelten Don Quijote (1605/1615) erinnert,7 so muss dies kaum wunder nehmen, denn die beschriebene Praxis rückt die simuladores in beträchtliche Nähe zu der Maßnahme, die der Barbier und der Dorfpfarrer bei Cervantes treffen, um den Titelhelden zur Vernunft bzw. zurück nach Hause zu bringen: Sie inszenieren eine eigens auf Don Quijote und dessen Phantasma zugeschnittene Situation, ein Schauspiel, das sich produktiv in Don Quijotes persönliche Realität einfügt und eine Verhaltensänderung im caballero de la triste figura bewirken soll. Anders als Pfarrer und Barbier in Cervantes’ Roman geht es unseren simuladores jedoch nicht darum, ihre Zielpersonen aus einem Phantasma in die Realität zurück zu befördern, ganz im Gegenteil: Die Realität soll verschleiert und aktiv mit phantasmatischen Konstellationen aufgefüllt werden. Das Leben der jeweils getäuschten Person soll durch das erfolgreiche Simulakrum mitunter eine erhebliche Änderung erfahren, die Simulationen also auch nach Abschluss der Operation weiterhin Teil ihrer Alltagsrealität sein: Ob im Guten, etwa durch ein nachhaltig gestärktes Selbstbewusstsein, oder im Schlechten, etwa durch die ungebrochene Angst davor, dass die Ereignisse aus der Simulation sie auch Jahre später noch einholen könnten.8 Die Klienten der simuladores wiederum verpflichten sich bei Vertragsabschluss jeweils zu zwei Dingen: Sie werden der Agentur genau das Doppelte der entstandenen Auslagen zahlen und an zukünftigen operativos als Darsteller oder Komparsen mitwirken. Ähnlich wie in Balzacs Comédie humaine, jenem realistischen Romanzyklus par excellence, wo aus anderen Romanen bereits bekannte 7 So schreibt Marcelino Menéndez y Pelayo 1905 über den Quijote, er sei das „primero y no superado modelo de la novela realista moderna“ (1947), S. 135. Fredric Jameson kommt über 100 Jahre später in Antinomies of Realism auf dieses Urteil zurück, wenn er dem Realismus die Funktion der Demystifikation zuspricht (2013), S. 4. 8 So verhält es sich z. B. in der Folge „El testigo español“: Ein skrupelloser spanischer Macho wird mithilfe eines fingierten Verbrechens daran gehindert, seiner argentinischen Ex-Affäre weiter nachzustellen. Er verlässt jedoch nicht nur Argentinien, sondern wird auch soweit eingeschüchtert, dass er sich aus Angst vor einer späteren Liquidation durch die vermeintlichen Verbrecher auch nicht traut, in sein altes Leben zurückzukehren. Stattdessen flieht er in ein Kloster. S. zu dieser Folge auch unten, „‚El testigo español‘“ & „‚El Pequeño Problema del Gran Hombre‘: Doppelte Simulation, Phantasma, Kontingenz und Ersatzdemokratie“.

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Figuren in neuen histoires immer wieder auftauchen, entsteht so ein der realistischen Anmutung förderlicher Wiedererkennungseffekt: Denn tatsächlich treten viele der ehemaligen Klienten im Rahmen anderer Episoden als Erfüllungsgehilfen der Simulationen wieder in Erscheinung. Anders als bei Balzac kann der episodenübergreifende Rückkopplungsmechanismus zwischen den unterschiedlichen Erzählebenen jedoch nicht vonstattengehen, ohne den Status des Realen in Los simuladores selbst anzugreifen: In dem Moment, in dem die Simulation zur besseren Variante der Realität wird, ist der reale Referent kaum noch ohne sein simuliertes Pendant denkbar. Doch ist die Betrachtung einer Serie, in der ein reales Problem vermittels eines kunstvollen alternativen Realitätsentwurfs gelöst wird, die bisweilen (ironische) Anleihen an Detektivplots oder auch den Film Noir nimmt und sich nicht scheut, Phantasmen zu inszenieren, überhaupt passend in einem Sammelband, der sich mit zeitgenössischen Verfahren realistischer Re-Konstruktion in der Romania auseinandersetzt? Ich glaube, ja und dies – abgesehen von den bereits erwähnten, wenn auch in gewisser Weise paradoxalen Parallelen zu Cervantes und Balzac9 – vor allem aus zwei Gründen: Erstens ist das, was die simuladores tun, im wahrsten Sinne eine (Re-)Konstruktion von Realität und damit, wie Warning es in Die Phantasie der Realisten ausdrückt, eine „ideologisch interessierte Modellierung von Wirklichkeit“, wie man sie auch im Realismus des 19. Jahrhunderts vorfinden kann.10 Zweitens zeichnet sich der argentinische Realismus darüber hinaus seit Langem durch eine grundlegende ästhetische und stilistische Hybridität aus.11 In Anlehnung an David Viñas, der 1974 die These aufgestellt hatte, die argentinische (National-)Literatur beginne mit der Gewalt, die Estéban Echevarrías El matadero eingeschrieben sei, folgert María Teresa Gramuglio, dass man dann konsequenterweise sagen müsse „que la literatura argentina nace realista“.12 Beim argentinischen Realismus hat man es ihr zufolge von Beginn an mit einem Genremix zu tun, der z. B. inmitten der romantischen Strömung, für die Echevarría steht, gewaltvolle realistische Darstellungen produziere. Diese der Literatur des nation building eingeschriebene Gewalt habe ihren außerfiktionalen Referenten „[en] las condiciones de violencia que predominaron desde la Independencia y que acentuarón bajo el regimen rosista […].“13 Gramuglio spricht daher von einer realistischen Hegemonie in der Literatur, die sich von den sich langsam herauskristallisierenden stilistischen Ausformungen des 19. Jahrhunderts in die Zeit der europäischen Avantgarden zu Beginn des 20. Jahrhunderts ziehe und dabei vor allem im regionalen Bereich mit „la copiosa producción 9 10 11 12 13

Zur Praxis der Einstufung des Quijote als erster ‚realistischer‘ Roman, s. oben, Anm. 4. Warning (1999), S. 38. Prestifilippo (2013), S. 446–447. Gramuglio (2002), S. 23. Ebd., S. 24.

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de narraciones criollistas y sentimentales que criculaban en folletín“ erfolgreich koexistiere.14 Auch wenn Julio Cortázar Ende der vierziger Jahre aufzeigte, dass eine neue literarische Epoche für den Roman begonnen habe, in der die poetische Ordnung über der referenziellen stehe, gehört Gramuglio zufolge auch ein Roman wie Cortázars Rayuela (1963)15 zu jenem erweiterten Realismus, der sich nach wie vor und vor allem durch „los aspectos referenciales y la crítica del presente“ auszeichne.16 Darüber hinaus aber wird der Realismus, zumindest was die Modellierung im discours angeht, auf avantgardistische bzw. postmoderne Schreibweisen ausgeweitet oder mit ihnen versöhnt, wie man an Rayuela sehen kann. Augustín Lucas Prestifilippo spricht in diesem Zusammenhang von einem Realismus zweiter Stufe17 und einer „torsión interna del realismo en la narrativa argentina contemporánea“18. Seine Analyse dreier argentinischer Romane aus den Jahren 2006, 2010 und 2011 baut denn auch auf dieser chimärenhaften Form des Realismus auf: Er vertritt die These, dass das den besagten Romanen zugrundeliegende Thema der Militärdiktatur (1976–83) und die von ihr ausgehende Gewalt jene spezifische Form des Realismus zweiten Grades verstärkt auf den Plan rufe. Dieser bestehe aus einer Mischung aus referentieller Aussage (enunciado) und selbstreflexiven literarischen Registern, die den nämlichen Referenten seiner Funktion entkleiden – etwa durch Ellipsen, durch die achronologische Anordnung der erzählten Ereignisse, durch mangelnde Wahrscheinlichkeit oder durch Figuren, denen man nur bedingt Glauben schenken kann: „la palabra circula, pero su sentido referencial se disuelve.“19 Der literarische Realismus hat daher in Argentinien offenbar zum einen eine andere Halbwertszeit als in Europa und ist zum anderen noch stärker als in der europäischen Tradition von einer bewussten Diskrepanz zwischen Gegenstand und Sprache gekennzeichnet – eine Diskrepanz, die zu einer Auffächerung der stilistischen Bandbreite jener Romane führt, die unter dem Begriff des realismo zusammengefasst werden. Los simuladores, wo der Realismus der Rahmenhandlung (das alltägliche, manchmal auch banale Problem) in der Binnenhandlung auf eine Ebene alternativer Realitätssimulation hin transzendiert wird, 14 Ebd., S. 26. 15 Rayuela ist eine Doppelgängergeschichte, in der der Protagonist Horacio, sein (etwaiger) Doppelgänger Traveler, dessen Freundin Talita und Horacios ehemalige Geliebte La Maga immer mehr miteinander verschwimmen und die Realität immer mehr den Wahnvorstellungen des Protagonisten untergeordnet wird. Die Handlung spielt in Paris und Buenos Aires. Der Roman besteht aus drei Teilen und insgesamt 155 Kapiteln, die in unterschiedlichen, vom Autor vorgeschlagenen Reihenfolgen gelesen werden können und so die aktive Mitwirkung des Lesers herausfordern. (Cortázar 1963). 16 Gramuglio (2002), S. 27. 17 So der Titel seines Artikels „Aporías del realismo literario de segundo grado“. 18 Prestifilippo (2013), S 445. 19 Ebd., S. 450.

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lässt sich somit durchaus als audiovisuelle Form jener „singularidad“ lesen.20 Doch welche Funktion nimmt nun der Realismus in seiner spezifischen Ausprägung hier ein? Was ‚will‘ die Serie? Sehen wir uns, um dieser Frage auf den Grund zu gehen, zunächst Inhalt und Struktur genauer an. In der Pilotfolge Tarjeta de Navidad (2002) werden die simuladores von einem mäßig erfolgreichen Maler, Bernardo, beauftragt, der von seiner Frau Claudia verlassen wurde und sie zurückgewinnen möchte. Die simuladores beschatten Claudia, hören private Telefonate ab und durchsuchen ihren Müll, um ihre Affektlage zu beurteilen und einschätzen zu können, ob es einen anderen Mann gibt. Als klar ist, dass dies nicht der Fall ist, beginnt die Simulation. Zunächst wird Bernardo dazu angehalten, Claudia nicht mehr anzurufen und nicht weiter zu versuchen sie zurückzuerobern. Einige Zeit später organisiert die Agentur dann ein bis ins Detail durchgeplantes Treffen zwischen den beiden. Auf der Taxifahrt zum Ort des Treffens, einem Café, kommen ‚zufällig‘ Lieder im Radio, die Claudia an glückliche Tage mit Bernardo erinnern – kein Wunder, denn der Taxifahrer ist einer der simuladores. In dem gleichfalls eigens für die Inszenierung präparierten Café tritt ein weiterer simulador als Kellner und sodann Bernardo als erfolgreicher, selbstbewusster Ex auf, der, frisch rasiert und im Anzug, angeblich einen bevorstehenden Geschäftstermin wegen eines seiner Bilder hat. Ein paar Tische weiter platzieren die simuladores zwei ältere Leute, die Claudia ein Paar vorspielen, das zunächst eine Auseinandersetzung hat, bald darauf aber wieder äußerst liebevoll miteinander umgeht. Gleichzeitig werden zwei attraktive junge Frauen beauftragt, auf der Straße an dem Fenster vorbeizugehen, an dem Bernardos und Claudias Tisch steht, und Bernardo einmal kurz, einmal intensiv anzuschauen, als seien sie an ihm interessiert oder gar bereits mit ihm bekannt. Während der ganzen Zeit kommunizieren die vier simuladores über Funkgeräte miteinander und stimmen die zeitliche Abfolge der Aufführungsdetails minutiös aufeinander ab, um die Simulation in Fluss zu halten und sämtliche Reaktionen Bernardos und der anderen Darsteller bestmöglich auf die Affektlage Claudias hin abzupassen. Als sie Bernardo fragt, ob er eine andere Frau habe, antwortet der wenig überzeugend mit nein und verschwindet, als sie nochmals nachfragt, auf der Toilette. Während er fort ist, klingelt sein Handy. Claudia nimmt nach einigem Zögern ab und hat eine Frauenstimme am anderen Ende der Leitung. Diese entpuppt sich zu ihrer Erleichterung jedoch nicht als neue Freundin Bernardos, sondern als angebliche Sekretärin eines an Bernardo interessierten Verlegers – natürlich wiederum einer der simuladores. Nachdem Claudia mitsamt Warteschleifenmusik zu ihm ‚durchgestellt‘ wurde – tatsächlich sitzen ‚Sekretärin‘ und ‚Verleger‘ um die Ecke in einem Auto und kommunizieren über ein und dasselbe Mobiltelefon – erfährt sie, dass Bernardo ein her20 Ebd., S. 445.

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vorragender Künstler sei und für die zu erstellenden Postkarten in einer Stunde das Originalgemälde in den Verlag bringen solle. Schließlich folgt der Höhepunkt der Simulation: Einer der simuladores stürmt als räuberischer Weihnachtsmann verkleidet das Café, fordert Geld, Schmuck und außerdem Bernardos Aktenkoffer, in dem sich – was Claudia zu diesem Zeitpunkt nicht weiß, da Bernardo sie explizit aufgefordert hat, nicht so neugierig zu sein – die titelgebende Weihnachtskarte befindet: ein Gemälde von Bernardo und Claudia als glückliches Paar, das nun vorgeblich landesweit Weihnachtspostkarten zieren soll. Als ein ‚Polizist‘ (natürlich ein weiteres Agenturmitglied) hinzukommt, nimmt der räuberische Weihnachtsmann Bernardo als Geisel. Der Polizist ist seinerseits nicht dazu zu bewegen, auf die Forderung des Diebes, seine Waffe wegzuwerfen, einzugehen, und provoziert so, dass Claudia sich schützend in die Schusslinie stellt und damit sich selbst und Bernardo zeigt, dass sie bereit ist, ihr Leben für das ihres Mannes zu opfern. Der Räuber, das vermeintliche Chaos ausnutzend, flieht daraufhin mitsamt dem Aktenkoffer, der Polizist läuft ihm nach. Auf der Rückfahrt im präparierten Taxi erkennt Claudia den falschen Weihnachtsmann plötzlich an einer Straßenecke wieder und sieht, wie er sich des Aktenkoffers entledigt. Sie bringt den Koffer zu Bernardo, der ihr endlich den Inhalt offenbart. Die Mission ist erfolgreich abgeschlossen, das Paar wieder glücklich vereint. Die anderen operativos funktionieren ähnlich: Im Falle des impotenten Präsidenten wird das Schauspiel durch dessen Ehefrau beauftragt und führt dazu, dass der Präsident nach einer Reihe sorgfältig aufeinander abgestimmter Ereignisse – z. B. eigens für ihn eingespielte Fernsehnachrichten, die vermelden, dass fast jeder Mann in seinem Leben schon einmal mit Impotenz zu kämpfen hatte – den Glauben an seine Virilität und Attraktivität wiederfindet. Im Falle einer verheirateten argentinischen Ärztin, die sich auf einer Geschäftsreise mit einem einigermaßen soziopathischen Spanier eingelassen hat, der sie nun stalkt, spielen die simuladores dem Mann einen mörderischen Kriminalfall vor, sodass dieser jedes Interesse an der Ärztin verliert und fluchtartig das Land verlässt. Der Plot jeder Episode besteht somit aus einer Rahmen- und mindestens einer21 Binnenhandlung, nämlich jener operativos de simulacro. Die Rahmenhandlung ist dabei durchaus realistischer Natur: Man befindet sich an unterschiedlichen Orten und Straßen in Buenos Aires und hat es mit „problemas de gente común“22, mit porteños aus unterschiedlichen sozialen Schichten, Positionen und Berufen zu tun: neben dem erfolglosen Künstler, der Ärztin und dem Staatsoberhaupt 21 Manche Episoden beginnen mit dem erfolgreichen Ende einer Simulation, die dann zur mündlichen Weiterempfehlung der Gruppe durch die zufriedene Kundschaft führt. Das Problem derjenigen Person, der die simuladores anempfohlen werden, wird dann zum eigentlichen Gegenstand der Episode. So verhält es sich bspw. direkt in der Pilotfolge „Tarjeta de Navidad“. 22 Mossello (2019), S. 19.

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z. B. auch der PR-Angestellte einer Milchfabrik, eine Arbeitertochter, die Bewohner eines Seniorenheims, ein Kind oder jugendliche Schüler. Rahmen- und Binnenhandlung folgen überdies einer realistischen, nachvollziehbaren Zeitstruktur.23 Auch die einzelnen Aufgaben, die die Gruppe im Rahmen eines operativo zu bewältigen hat, tragen zum realistischen Impetus der Rahmenhandlung bei. Der intellektuelle Kopf der Agentur, Santos (Federico D’Elía), ist für „logística y planificación“ zuständig, der charmante und wandelbare Ravenna (Diego Peretti) für die schauspielerische Ausgestaltung, will heißen die „caracterización“, der muskulöse und auf den ersten Blick etwas finster wirkende Lamponne (Alejandro Fiore) für „técnica y movilidad“, und Medina (Martín Seefeld), der stille Vierte im Bunde, für die im Grunde wichtigste Aufgabe: die „investigación“. Die Aufgabengebiete der vier, die so oder ähnlich auch in den credits mancher Filmproduktionen oder Reportagen zu finden sind, werden in jeder Episode an geeigneter Stelle als Text unter einem Standbild des jeweiligen Protagonisten eingeblendet und versehen die Rahmenhandlung, die die jeweilige Simulation umschließt, auf diese Weise mit außerfiktionalen Referenten bzw. einem dokumentarischen Charakter, der sich solchermaßen von der Binnenhandlung, also der Simulation, unterscheidet. Allerdings ist es nun gerade die Simulation, die, um die jeweils zu täuschende Person davon zu überzeugen, dass alles, was sie erlebt, wahr ist, am strengsten den Regeln der Wahrscheinlichkeit gehorchen muss, Realität mimetisch repräsentiert und somit die Erfordernisse an künstlerischen Realismus durchaus erfüllt. So wird beispielsweise eine inszenierte medizinische Untersuchung von einem Rekruten der simuladores ausgeführt, der selbst Arzt ist, also das Register perfekt beherrscht und die falsche Diagnose somit vollkommen glaubhaft übermitteln kann.24 Um einen Satz von Roland Barthes aus „L’effet de réel“ umzuformulieren: Der trügerische Zweck der jeweiligen Simulation – die mit großem künstlerischen und handwerklichen Geschick ausgeführt wird – ist völlig mit realistischen Imperativen durchsetzt.25 Die Realität der Simulation wirkt wiederum zurück auf die Rahmenhandlung und damit auf das, was innerhalb der Serie ursprünglich als nicht simulierte Realität gesetzt wurde. Das Ergebnis ist eine neue, von Simulakren durchsetzte Wirklichkeit.

23 Diese Merkmale gehören zu den von María Teresa Gramuglio aufgeführten grundlegenden Charakteristika realistischer Literatur (vgl. 2002, S. 21). 24 Es handelt sich um die 2. Episode der ersten Staffel, „Diagnóstico rectoscópico“, wo ein skrupelloser Kredithai mittels besagter inszenierter Operation davon abgebracht wird, seinen Gläubiger und dessen Kinder mit dem Tode zu bedrohen. 25 Bei Barthes geht es um Flauberts Beschreibung Rouens. Das Original lautet: „Toutefois, la fin estétique de la description flaubertienne est toute mêlée d’impératifs ‚realistes‘ […].“ (1973), S. 482.

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Realität und Modell, Nachahmung und Simulation Damit bewegt sich die Frage nach dem (neuen) Realismus der Serie im Grunde nicht sehr weit entfernt von jenen grundlegenden Diskussionen um Nachahmung, Darstellungsformen und Möglichkeiten von Realismus in der Literatur – die sich hier, so meine ich, auf das audiovisuelle Medium übertragen lassen.26 Wie Gerhard Neumann und Andreas Kablitz in ihrem Vorwort zu Mimesis und Simulation festhalten, ist für die Kategorie der Mimesis „im Grunde die Vergleichgültigung gegenüber ihrem referentiellen Gehalt charakteristisch. […] Nicht erst die Simulation subvertiert die Relation zwischen der Wahrheit und dem Zeichen, schon die Mimesis selbst problematisiert diese Beziehung, weil sie komplex wird.“27 Die Simulation ist also in gewissem Maße immer schon Bestandteil der künstlerischen Wirklichkeitsrepräsentation.28 Wolfgang Iser hat in 26 Wie Gardies und Bessalel in Anlehnung an Barthes feststellen, hat man es beim Film – bzw. bei der Serie – stets mit einer „double imitation“ zu tun: Anders als Barthes es für die Literatur beschreibt, gibt es beim audiovisuellen Medium nicht nur einen effet de réel, sondern zusätzlich einen „effet de réalité“: „Le film offre au spectateur une double imitation: une imitation iconique, fondée sur l’analogie visuelle et sonore des images et des sons enregistrés, et une imitation diégétique, qui repose, quant à elle, sur l’impression que donnent ces images et ces sons de constituer un univers homogène, certes fictif, mais dont le foncionnement apparaît calqué sur celui du monde réel. A l’imitation iconique se rattache l’‚effet de reel‘; à l’imitation diégétique, l’‚effet de réalité‘“ (1995), S. 75. Der Realismus, den die Serie entfaltet, wäre damit dem effet de réalité zuzuschlagen. 27 Kablitz/Neumann (1998), S. 13–14. 28 Baudrillard (1976) setzt das Zeitalter der Simulakren an den Beginn der Renaissance: Waren die Zeichen zuvor, in der mittelalterlichen Ordnung, noch feudalistisch starr, hierarchisch normiert und unbeweglich, so öffnet sich das Zeichen ab der Renaissance auf die beweglichere Phase der imitation bzw. der Mimesis (Simulakrum erster Ordnung): Die materielle Welt wird durch Imitationen nachgebildet. In der Phase des industriellen Zeitalters verschiebt sich die Imitation dann zur Produktion (Simulakrum zweiter Ordnung): Die Möglichkeit der seriellen Fertigung miteinander identischer Objekte lässt die Grenze zwischen Original und Nachbildung verschwimmen, sodass der ursprüngliche Referent bedeutungslos wird. Die dritte Phase ab Mitte des 20. Jahrhunderts schließlich ist das Zeitalter der Simulation (Simulakrum 3. Ordnung). Mit dieser Phase endet die Dialektik zwischen Signifikat und Signifikant; das Zeichen hat sich von jeglichem ursprünglichen Referenten entkoppelt (vgl. S. 77–128). Es ist das Zeitalter der von Baudrillard so bezeichneten hyperréalité, in der „[e]in Außen nicht mehr möglich [ist], weil die Frage nach Realität und Fiktion obsolet geworden ist.“ (Yeh (2013), S. 140). Im Falle der operativos de simulacro in unserer Serie ließen sich diese wohl unschwer mit Baudrillards letzter Kategorie verschwistern: Realität und Fiktion werden in der Simulation ununterscheidbar; die Getäuschten nehmen für bare Münze, was tatsächlich ein geschickt ersonnenes Schauspiel ist. Man könnte sogar sagen, dass die Simulationen Erfüllungsgehilfen des letzten von Baudrillard angeführten Stadiums sind, modifizieren sie doch bspw. den ohnehin fragilen Realitätsstatus des Medialen, wie etwa Fernsehnachrichtensendungen für ihre Zwecke aus und infiltrieren durch die Proliferation von Simulationsagenturen, wie oben beschrieben, mittelfristig zwangsläufig auch die Realität jenseits des jeweiligen Schauspiels. Wenn ich auf diesen Seiten dennoch weniger von Baudrillards denn von Isers Thesen zum Simulakrum ausgehe, dann weil diese stärker als Bau-

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diesem Zusammenhang die These vertreten, dass die Nachahmung eine performative Aktivität ist, die ihren – immer schon notwendigerweise sprachlich vermittelten – Gegenstand in Hinblick auf den Zweck, den dieser jeweils erfüllen soll, ausstattet und entsprechend funktionalisiert: Ja, vielleicht ist es sogar das zunehmende Ziel der Performanz im Mimesiskonzept, den nachzuahmenden Gegenstand mehr und mehr – wenngleich anfänglich uneingestandenermaßen – zu simulieren. Denn nur durch die Simulation wird er funktionsgerecht.29

Je mehr dieses Verhältnis zur Selbstreflexion kommt, so Iser weiter, desto unverkennbarer wird es, dass der Diskurs seinen Gegenstand nicht nur formt, sondern simuliert. „Die Nachahmung wird damit zur Inszenierung.“30 Sobald ein Gegenstand in einem bestimmten Kontext versprachlicht und damit für diesen Kontext funktionalisiert wird, befänden wir uns also bereits in der Sphäre des Simulakrums oder zumindest in dessen Peripherie. Späterhin dient der Gegenstand dann, so Iser weiter, nur noch „als Matrize [für] das Erzeugen von Phantomen“:31 Wenn die Simulation zur vollen Entfaltung kommt, ist der Gegenstand selbst nur noch in phantomisierter Form anwesend. Gleichzeitig verwandelt sich der jeweils vorherrschende Diskurs selbst dem Simulakrum an, funktionalisiert er doch seine Gegenstände ebenfalls gemäß des Zwecks, dem sie gerade dienen sollen, um:32 Was vor 50 Jahren noch Gegenstand eines negativen Diskurses war, kann in einem anderen zeitlichen Kontext und einer veränderten Gemengelage ins Gegenteil umschlagen und plötzlich positiv funktionalisiert werden, oder umgekehrt. Die Realität aber, oder mit Barthes gesprochen, das Denotat, muss zwangsläufig hinter die jeweilige Funktionalisierung zurücktreten. In Los simuladores haben wir es mit einer offen so betitelten Simulation zu tun, die – sicherlich noch befördert durch die von Jean Baudrillard konstatierte Herrschaft des Simulakrums in der postmodernen Medienwelt33 – bei den Personen, denen das Simulakrum gilt, auf äußerst fruchtbaren Boden fällt. Der Reiz der Serie liegt denn auch nicht zuletzt darin zuzusehen, wie die Agentur referenzialisierbare Gegenstände (wie eine Weihnachtskarte, eine Visitenkarte oder eine Physikar-

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drillard der antiken Mimesistheorie und damit der Frage nach dem historischen Status von Realität in künstlerischen Abbildungen von Welt verpflichtet sind. Eine Betrachtung von Los simuladores unter dem Banner (literarischer) Realismustheorien erlaubt darüber hinaus eine klarere Abgrenzung von argentinischem und europäischem Realismus, als dies in Baudrillards weitgefasstem Kulturmodell eines in kontinuierliche Phasen aufgeteilten kapitalistischen Westens möglich wäre. Iser (1998), S. 674. Ebd., S. 674–675. Ebd., S. 676. Vgl. ebd., S. 677. Vgl. Baudrillard (1994).

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beit) und Situationen (ein Verbrechen, ein Flirt, eine Darmspiegelung) für ihre Zwecke funktionalisiert und somit eine Phantomrealität erschafft, die lückenlos funktioniert. Die Wirkung, die dieses Unterfangen auf den Zuschauer haben kann, scheint eine doppelte: Zum einen bringen die stets erfolgreichen Simulationen das befriedigende Gefühl der Kontingenzbewältigung mit sich: Verhalten ist steuerbar, Realität ist an bestimmte Situationen anpassbar; die Subjekte sind ihr nicht einfach ausgeliefert. Was in dysphorischen Kulturanalysen ein grundlegend negatives Phänomen ist – die Ersetzung eines realen Referenten durch „die Maschinerie einer Produktion von Simulakren“34 –, wird im Zuge der Kontingenzbewältigung positiv gewendet. Zum anderen führt die Möglichkeit einer perfekten Nachahmung der Realität allerdings durchaus eine ontologische Unsicherheit ins Feld, denn wie oben schon angedeutet, beschränkt sich die Fiktion nicht zwangsläufig auf die Binnenhandlung. Die vielen Klienten der Agentur, die auf unbestimmte Zeit bei künftigen Simulationen mitwirken, haben eine gewissermaßen zivile Vervielfältigung von ‚Simulanten‘ zufolge, deren Anzahl für die einzelnen Involvierten wahrscheinlich kaum zu überblicken ist. Hinzu kommt, dass sich auch das Geschäft der simuladores selbst vervielfältigt. Folge fünf der ersten Staffel, „El Jóven Simulador“, endet damit, dass der besagte Jugendliche, dem die Agentur soeben mit mehr oder weniger zweifelhaften Methoden dabei geholfen hat, das Klassenziel zu erreichen, mit ein paar Klassenkameraden eine eigene Nachwuchsgruppe von simuladores gründet. Darüber hinaus gibt es ab der letzten Folge der ersten Staffel die sogenannte Brigada B, ein Team aus ehemaligen männlichen Klienten, die fortan die weniger wichtigen bzw. komplizierten Fälle übernehmen soll. Das Geschäft mit der Simulation macht also Schule. Die ‚eigentliche‘ Realität scheint somit Gefahr zu laufen, immer häufiger von ihrem eigenen Simulakrum heimgesucht zu werden und so eine Art Matrixcharakter anzunehmen.35 Wir haben es daher mit einem paradoxalen double bind zu tun: Kontingenzbewältigung und Selbstermächtigung einerseits, verschwimmende Grenzen zwischen Realität und Fiktion und damit unsichere Ontologie andererseits. Auf die Frage nach Kontingenzbewältigung36 und Beglaubigung von Realität in der Kunst hebt auch Rainer Warning ab, wenn es in seiner Phantasie der 34 Kablitz/Neumann (1998), S. 13. 35 Aus feministischer Perspektive könnte man anfügen, dass es sich aufgrund des Agenturpersonals bei den Simulationen zudem um ‚männliche‘ Realitätsentwürfe handelt. Allerdings sind auch die von Problemen heimgesuchten Klienten häufiger Männer als Frauen; die jeweilige Realität der Rahmenhandlung scheint es mit den männlichen porteños also besonders häufig schlecht zu meinen – nicht nur, was ihren Erfolg bei den Frauen angeht. 36 Zur realistischen Literatur und ihrer Funktion der Kontingenzbewältigung, vgl. ausführlicher Warning (2001).

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Realisten um die Definition des französischen Realismus geht. Mit Hans Blumenberg37 skizziert er zunächst die historische Entwicklung des Wirklichkeitsbegriffs von der 1) antiken „Realität der momentanen Evidenz“, zur 2) mittelalterlichen „garantierten Realität“, wo eine zwischen Subjekt und Objekt vermittelnde dritte Instanz für die Gültigkeit des Wirklichen bürgt, sodann zur 3) frühneuzeitlichen „Realität als Resultat einer Realisierung“ bzw. der Realisierung eines bestimmten individuellen und damit nicht allgemein gültigen Kontexts. Die vierte und letzte Kategorie dann hängt unmittelbar mit der dritten zusammen: Sie bildet den Widerstand bzw. die Widersprüche ab, auf die das Subjekt bei der Kontextrealisierung stoßen kann, und definiert 4) Realität folglich „als das dem Subjekt nicht gefügige“.38 Der Roman brilliere in dieser Konstellation als Gattung, die die Unmöglichkeit der Realisierung einstimmiger Kontexte ironisch-reflexiv erst zum Thema mache und so den Gegensatz von Realität und Fiktion aufhebe: Der Roman realisiert sich folglich als „Fiktion der Realität von Realitäten“.39 Auch wenn es in Anbetracht von Blumenbergs diachron ausgerichteten Überlegungen vielleicht zunächst anachronistisch scheinen mag, lassen sich die unterschiedlichen Wege, auf denen in Los simuladores Realität modelliert wird, meines Erachtens durchaus hier einreihen – davon zeugt nicht zuletzt die oben beschriebene strukturelle Verwandtschaft zum frühneuzeitlichen Quijote. Szifróns Simulationsagentur operiert zu Beginn der 2000er Jahre in einer, wenn man so will, post-postmodernen Welt, in der die Kontingenz der Ereignisse, die sich der Subjekte bemächtigen und sie in den emotionalen Abgrund reißen oder auch, wie im Falle des oben erwähnten PR-Arbeiters, vor existentielle ökonomische Probleme stellen, umgewandelt wird in eine ‚garantierte Realität‘. Ähnlich wie die ebenfalls im 19. Jahrhundert aufkommende Figur des allwissenden, nahezu unfehlbaren Detektivs, besetzen auch die simuladores jene vormals göttliche dritte Instanz, die die Wahrheit nicht nur garantiert, sondern ihr erst Form und Gestalt verleiht und sie somit absichert. Aus Kontingenz wird damit vielleicht nicht Providenz – zumindest aber wird die Zukunft innerhalb eines bestimmten Kontextes plötzlich berechenbar. Die Simulation selbst und vor allem, wie sie zustande kommt – durch Recherchen, minutiöse Abstimmung, Einfallsreichtum, schauspielerisches Talent und die Fähigkeit, normative Grenzen zu überschreiten –, lässt sich dann wiederum im Sinne Blumenbergs als Kontextrealisierung beschreiben. Die ‚Realität‘, die von den simuladores konstruiert wird, ist eine auf den individuellen Kontext, die individuelle Situation zugeschnittene, perspektivische Wirklichkeit par excellence: Die simuladores finden sich derart tief in die 37 Vgl. Blumenberg (1964), S. 9–27. 38 Vgl. Warning (1999), S. 12–13. 39 Ebd., S. 13.

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psychische Disposition und die Lebensumstände ihrer ‚Opfer‘ ein, dass ein Szenario, das auf andere möglicherweise unrealistisch gewirkt hätte, dem Individuum, für das es gebaut ist, nicht nur wahrscheinlich, sondern wirklich vorkommt. In dieser Hinsicht ist ihnen die Realität denn auch ‚stets gefügig‘, um es erneut mit Blumenberg zu sagen: Die operativos schlagen nie fehl, die Kontextrealisierung funktioniert immer, weil sie, wie Warning anlässlich von Balzacs Geschichtsschreibungsprojekt konstatiert, „auf Gesetzmäßigkeiten abhebt“40 – v. a. psychologische Gesetzmäßigkeiten wie Neugierde, Unsicherheit, Eifersucht, Freude etc., die angesichts bestimmter Situationen ‚garantiert‘ auftreten – zumindest aber innerhalb des Serienuniversums.

„El Testigo Español“ & „El Pequeño Problema del Gran Hombre“: Doppelte Simulation, Phantasma, Kontingenz und Ersatzdemokratie Der Umstand, dass die Simulationen vor allem deswegen so gut funktionieren, weil sie auf eine individuelle Kontextrealisierung zielen, führt uns zu einer der Strategien, mit denen die Serie – ganz im Sinne des Realismus – Kritik an ihrer Gegenwart übt. Dies ist besonders schön in der oben bereits kurz erwähnten vierten Episode der ersten Staffel, El testigo español, zu sehen. Alicia, eine junge Ärztin aus Buenos Aires, im Grunde glücklich verheiratet und Mutter eines Sohns und einer Tochter, lernt auf einer Geschäftsreise in Miami Carlos, einen spanischen Augenarzt kennen. Die beiden verbringen eine Nacht miteinander, doch schon am nächsten Morgen erkennt Alicia, dass es sich bei Carlos um einen egozentrischen, selbstverliebten Mann handelt, der zudem eine sadistische Freude an Alicias Schuldgefühlen gegenüber ihrem Ehemann zu haben scheint. Als Alicia längst wieder in Buenos Aires ist, steht Carlos eines Abends plötzlich vor der Tür, stellt sich als Kollege und Freund vor, lädt sich bei der Familie zum Abendessen ein und mutiert rasch zum Kumpel und Golfpartner des arglosen Gatten. Gleichzeitig sucht er außerhalb der Hauptstadt nach einem Anwesen, auf dem er sich niederlassen kann, um von dort – statt vom weit entfernten Spanien – aus jederzeit Zugriff auf Alicia zu haben. Die wiederum kann, weil sie Angst hat, ihrem Mann die Wahrheit zu sagen, nichts weiter tun, als gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Die simuladores nehmen sich Alicias Fall an und nutzen für ihre Simulation Carlos’ Suche nach einer chacra aus. Eines Tages in der Dämmerung, nach einer vielversprechenden Besichtigung, hat Carlos’ Mietwagen plötzlich auf dem Rückweg nach Buenos Aires einen Platten (Medina hat ihm unbemerkt 40 Ebd., S. 35.

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mittels eines gut gezielten Wurfgeschosses dazu verholfen). Fernab jeder Siedlung erreicht der verärgerte Carlos zu Fuß eine Tankstelle, wo er auf zwei Männer trifft, die ihm versprechen, einen Abschleppwagen zu rufen. Carlos nutzt die Gelegenheit, sich zunächst mit der ihm eigenen Arroganz über die argentinischen Autovermietungen und schließlich über die hiesigen Getränkelieferanten zu echauffieren, denn als er sich aus dem Kühlschrank bedient, spritzt ihm beim Öffnen der Dose das Tonic Water aufs Hemd – kein Wunder, denn die Helfer der simuladores haben sämtliche Dosen vorher kräftig geschüttelt. Carlos, der nun wohl oder übel die auf dem Hof liegende Toilette aufsuchen muss, wird durch das Klofenster Zeuge, wie drei Männer (Lamponne und Martín, der Klient aus einer vorherigen Folge, sowie der vermeintliche Tankstellenbesitzer) miteinander diskutieren. Lamponne bedroht beide mit einer Waffe und ‚erschießt‘ sie dann auf kurze Entfernung, ganz wie bei einer Hinrichtung. Der spanische Augenarzt, zitternd vor Entsetzen, traut seinen Augen nicht: und gleichzeitig doch, denn schließlich entspricht das mörderische Schauspiel Lamponnes und seiner Helfer genau seinem Phantasma: Für Carlos ist Argentinien ein rückständiges, gefährliches, korruptes und ‚wildes‘ Land, in dem Situationen wie die eben erlebte jederzeit passieren können. Die Simulation bedient Carlos’ tiefste Vorurteile. Doch es kommt noch ärger. Ein Kommissar (Santos) und einige Streifenpolizisten (unter ihnen Medina) erscheinen, doch anstatt den Todesschützen zu verhaften, spüren sie Carlos in seinem Versteck in der Toilette auf, stoßen ihn unsanft nach draußen, schreien und bedrohen ihn und nehmen ihn mit aufs Kommissariat (ein eigens zu diesem Zweck präpariertes Gebäude, versteht sich). Beim Verhör ist auch der vermeintliche Killer von zuvor anwesend, entpuppt sich als oficial Cosetti, also als Polizist, und erhält vom Kommissar die Möglichkeit, allein mit Carlos zu ‚sprechen‘. In diesem Moment stößt endlich ein Anwalt – Ravenna – hinzu und befreit den mittlerweile stark eingeschüchterten Carlos aus seiner Misere. Lange währt die Erleichterung indes nicht, denn der ‚Anwalt‘ eröffnet Carlos, dass der gesamte Polizeiapparat korrupt und in Verbrechen verstrickt sei und er mit massiven Problemen rechnen müsse, wenn er etwas gesehen habe – gleichgültig, ob er dies vor den Polizisten zugebe oder nicht. Außerdem sei er weder in Argentinien noch in Spanien oder anderswo mehr seines Lebens sicher, da die Exekutive wisse, wer er sei, wo er wohne, wie seine Reisepläne aussehen usw.: „Te van a encontrar y te van a matar“, resumiert er lakonisch. Es gelingt ihm, mit Carlos das Revier zu verlassen, doch sie kommen nicht allzu weit. Bei einem dramatischen Showdown auf einer Autobrücke in der Stadt ‚erschießt‘ Lamponne alias Cosetti den vermeintlichen Anwalt und bringt Carlos damit dazu, in einem Taxi – gefahren von Bernardo, dem liebeskranken Künstler aus der Pilotfolge – Hals über Kopf zum Flughafen Ezeiza zu flüchten. In der letzten Szene sieht man Carlos in Mönchskleidung in einem abgelegenen Kloster, wie er sich von einem Jungen ein Paket mit seinem Lieblingsgetränk,

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agua tónica, aushändigen lässt – die letzte Verbindung zu seinem früheren Leben. In dieser Episode, so ungünstig sie auch für den Spanier endet, geben die simuladores diesem genau das, was er sehen möchte: Sie bedienen sein Phantasma bis ins letzte Detail. Der vermeintliche Realismus der Folge zielt damit auf die Bestätigung eines Stereotyps. Die, mit Baudrillard gesprochen, Hyperrealität des Verbrechens beruht nicht zuletzt darauf, dass die simuladores sich Handlungen und Dialoge zu eigen machen, die so oder ähnlich in jedem Thriller vorkommen können, der Korruption in einem entsprechenden politischen Ambiente zum Thema hat. Daher gelingt es ihnen auch mühelos, zwei zufällig vorbeifahrende wahrhaftige Polizisten davon zu überzeugen, dass man gerade einen Film drehe und die Tankstelle als Kulisse diene – was ironischerweise der Wahrheit entspricht, nur dass der Film einzig für Carlos’ Augen bestimmt ist. Aufgrund der medialen Vorgeprägtheit des Themas fällt die Inszenierung bei Carlos daher auf noch fruchtbareren Boden als dies vermutlich allein durch seine Vorurteile möglich gewesen wäre. Doch der kritische Impetus der Folge zielt in mehrere Richtungen: Schließlich ist Carlos nicht der einzige mit Vorurteilen. Die argentinischen Figuren in der Folge mögen selbst davon nur wenig belastet sein; was dafür jedoch umso mehr ins Gewicht fällt, ist die Ebene der Rezeption. Genauso übertrieben wie sich Carlos’ Argentinienphantasma realisiert, werden mögliche Vorbehalte des Serienpublikums gegenüber des arroganten, seine Umwelt terrorisierenden spanischen macho bedient.41 Die performance der Simulation und die in ihr ausgestellte, auch medial geprägte Hyperrealität fällt chiastisch auf das Bild zurück, das sich die Zuschauer von Carlos machen, denn dieses bedient ebenso stereotype Phantasmen wie das eigens für Carlos inszenierte Verbrechen. Die übertriebene und doch so realistisch scheinende Verbrechensfiktion erweist sich, so scheint mir, in der Retrospektive als ideologische Verdopplung der Rahmenhandlung: Beide, Rahmen- und Binnenerzählung, überschießen die Realität in einer Weise, die jede Form von unhinterfragter Ideologie zur eigentlichen Zielscheibe der Kritik in dieser Episode macht. In Isers Terminologie: Sowohl Rahmen- als auch Binnenerzählung funktionalisieren ihren Gegenstand in einer Weise, dass er sich unserer und der Ideologie der Figuren anpasst, und sie damit gleichzeitig infrage stellt. Genau genommen, gibt

41 Dass die Darstellung der spanischen Ex-Affäre zumindest in Teilen phantasmatisch ist, wird bereits zu Beginn der Episode durch eine ironisch gefärbte Rückblende signalisiert, die uns, mit entsprechend pathetischer Musik unterlegt, an der ersten Begegnung zwischen Alicia und Carlos teilhaben lässt. Die Inszenierung des ersten Augenkontakts als coup de foudre entspricht kaum dem realistischen Modus, dem die Rahmenhandlungen in der Serie sonst zumeist unterworfen sind und lenkt unser Augenmerk somit subtil auf den Umstand, dass wir unserem eigenen Blick im Folgenden nicht rückhaltlos glauben sollten.

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es in dieser Folge statt einer zwei operativos de simulacro – die eine gilt Carlos, die andere dem Zuschauer. Die Folge um das Dilemma des impotenten Präsidenten zielt zwar auf andere Punkte ab als „El Testigo Español“, doch auch sie fordert Deutungen auf mehreren Ebenen heraus. Zunächst erlaubt diese Episode, den Präsidenten von seinem corpus mysticum bzw. corpus politicum42 entkleidet und reduziert auf sein corpus naturale zu sehen: Der Staatschef versagt im Bett und wir sehen zu: Größer kann die Profanierung des politischen Körpers kaum sein. Besieht man sich in diesem Zusammenhang die politische Landschaft in Argentinien nach der Militärdiktatur, so lässt sich hier ein allegorischer Zusammenhang vermuten, denn die ‚Aura‘ des Demokratischen hat mehr als einmal Schaden genommen. Bezeichnenderweise überschreibt Luis Alberto Romero in seiner History of Argentina in the Twentieth Century das Kapitel zur Regierung des Präsidenten Raúl Alfonsín (Unión Cívica Radical) ab 1983 mit den Worten „the democratic illusion“. Die Bevölkerung, so Romero, gab sich der Idee hin, dass die Rückkehr zur Demokratie die Lösung aller Probleme bedeute – tatsächlich aber blieben viele Probleme bestehen, insbesondere in der ökonomischen Sphäre.43 Auch die Regierung unter Carlos Menem war nicht frei von Ambiguitäten und Unsicherheiten bezüglich der Integrität der demokratischen Ordnung. Während seiner Amtszeiten kam es zu mehreren Korruptionsskandalen; außerdem führte das Verhalten Menems im Krieg zwischen Peru und Ecuador 1995 dazu, dass Fakten und Diskurs in der öffentlichen Wahrnehmung auseinanderdrifteten. So kam ans Tageslicht, dass Argentinien Waffen und Munition an Ecuador geliefert hatte, obwohl Menem zuvor gesagt hatte, Argentinien bleibe in diesem Konflikt neutral.44 Die infragestehende Episode von Los simuladores wurde 2002 während der Amtszeit von Eduardo Duhalde ausgestrahlt, der während Menems erster Amtszeit bereits als Vizepräsident gewirkt hatte und in einer äußerst unruhigen Situation sein Amt antrat: Er war der fünfte Präsident innerhalb von nur 13 Tagen und überdies nicht durch Wahlen ins Amt gekommen, sondern als Resultat einer von diversen Interimslösungen, nachdem Fernando de la Rua im Dezember 2001 als Folge wirtschaftlicher und politischer Krisen zurückgetreten war.45 Unsere Serie entsteht also in einer Zeit erheblicher politischer oder zumindest präsidentieller Instabilität und Kontingenz und hat darum auch eine stärkere implizite politische Agenda, als die Plots vielleicht zunächst vermuten lassen würden. Bedenkt man die Fluktuation von Präsidenten zwischen 2001 und 2002, so ließe sich sagen, dass die simuladores, indem sie sich des sehr privaten Problems 42 Zu den zwei Körpern des Königs und später des demokratischen Staatsoberhaupts, vgl. grundlegend Kantorowicz (1957) und Manow (2008). 43 Vgl. Romero (2013), S. 255. 44 Vgl. Lewis (2001), S. 165–169. 45 Vgl. Epstein/Pion-Berlin (2006), S. 12.

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des Staatsoberhaupts annehmen, nicht nur dem corpus naturale des Präsidenten, sondern auch seinem corpus politicum zu einer Stabilität verhelfen, der dieses zuvor ermangelte. Wenn der Präsident sein körperliches Problem im Griff hat, so die implizite Aussage der Folge, dann ist auch seine politische Performance stark und widerstands- sowie begeisterungsfähig. Solange es die simuladores und ihre Problemlösekompetenz gibt, solange kann also auch der Kontingenz des Politischen entgegengewirkt werden. Auf einer weiteren, nicht weniger wichtigen Ebene hebt die Episode um den impotenten Präsidenten auf ein Motiv ab, das die Bedeutung der Serie für das demokratische Unterfangen Argentiniens zu Beginn des 21. Jahrhunderts und für ihre Zuordnung zu realistischer Kunst in einem politischen Sinne nochmals unterstreicht. Die Rede ist von dem kompensatorischen Moment der Entdifferenzierung und Enthierarchisierung. Die Teilhabe am ‚realistischen‘ Alltag des im Privaten normalerweise unerreichbaren Präsidenten schafft die Illusion einer Gleichheit von Bürgern und Staatsoberhaupt vor einer anderen, mächtigeren Instanz. Diese dritte Instanz ist indes – womit wir wieder bei Blumenbergs mittelalterlicher „garantierter Realität“ wären – nicht Gott oder der Papst, sondern, natürlich, die simuladores. In der Zusammenschau von Kontingenzbewältigung und ontologischer Unsicherheit lässt sich nun auch eine Vermutung darüber wagen, worauf die ontologische Unsicherheit, die sich aus dem oben beschriebenen Rückkopplungseffekt zwischen Rahmen- und Binnenebene ergibt, eigentlich abzielt: Denn was im von Ambivalenz gekennzeichneten politischen Geschehen der letzten Jahrzehnte und der Gegenwart von 2002 mit teils grundlegender Unsicherheit durchsetzt ist, ist die Verfasstheit der Demokratie. Korruptionsskandale, eine zweideutige Exekutive46 und die Wirtschaftskrise tragen dem demokratischen Unterfangen einen Mangel ein, der sich zu Beginn des neuen Jahrtausends in der Frage nach der Besetzung des Präsidentenpostens und im Zuge geradezu inflationärer Amtsrücktritte mit neuer Dringlichkeit stellt. Wenn wir mit diesem Befund zum Schluss schließlich zu Jacques Rancière übergehen, so wird offenbar, dass der Realismus der Simulationen, aber auch die jeweilige Ausgangssituation in der Rahmenhandlung der Serie als nachgerade demokratisches Unternehmen im Sinne Rancières beschrieben werden kann. Ruft man sich in Erinnerung, dass dieser in „Der Wirklichkeitseffekt und die Politik der Fiktion“ die These aufstellt, der literarische Realismus des französischen 19. Jahrhunderts sei eine genuin demokratische Strömung, weil er jedem 46 1992 und 1994 ereigneten sich in Buenos Aires zwei terroristische Anschläge auf die israelische Botschaft und ein jüdisches Gemeindezentrum. Die Schuldigen konnten nie zur Verantwortung gezogen werden, was erneut den Verdacht der Korruption nährte. Vgl. Lewis (2001), S. 169. Bei der korrupten Polizei in „El Testigo Español“ könnte es sich durchaus um eine Anspielung auf diesen oder ähnliche Fälle handeln.

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Menschen jeder sozialen Klasse die Fähigkeit zuschreibe, „jegliche Art von Gefühl – sei es erhaben oder abstoßend – zu empfinden“,47 dann wird deutlich, dass in Los simuladores genau die umgekehrte Bewegung stattfindet. Anstatt, wie etwa in Flauberts Un cœur simple, die Gefühlswelt einer Dienerin für die zeitgenössische (bourgeoise) Leserschaft zu thematisieren, öffnet Szifrón mit der Präsidentenepisode die Gefühls- und sogar Sexualwelt des argentinischen Staatschefs für den Normalbürger bzw. den Serienzuschauer. Dieser wird ebenso unwissentlich Protagonist der folgenden Charade wie die getäuschten Personen der vorherigen Folgen und seine Reaktionen sind für die simuladores genauso problemlos berechen- und vorhersehbar wie z. B. die Reaktionen der ihres Ehemanns müden Claudia aus dem Piloten, des hypochondrischen Kredithais aus der zweiten Folge oder des selbstbewussten Spaniers aus „El Testigo Español“. Mit den Problemen mannigfaltiger Natur und den Leuten unterschiedlichster Couleur und gesellschaftlicher Stellungen, mit denen es die Agentur zu tun bekommt, findet in der Serie eine Demokratisierung statt, die ihren Ausgang ganz im Sinne Rancières bei der realistischen Darstellung nimmt. Damit kompensiert die Serie, indem sie Sicherheit und ‚Providenz‘ setzt, wo in der soziopolitischen Realität vielfach Unsicherheit und Kontingenz vorherrschen, ein Gefühl des Mangels in der demokratischen Ordnung, die nach der Militärdiktatur mit großer Hoffnung willkommen geheißen worden war und in den darauffolgenden Jahrzehnten, genauso wie bei Szifrón die simuladores, mit den unterschiedlichsten sozialen, ökonomischen oder kulturellen Problemen umzugehen hatte: ein Problem, das, so viel scheint sicher, beileibe kein Alleinstellungsmerkmal der Demokratien Argentiniens oder Lateinamerikas ist.

Literaturverzeichnis Audiovisuelles Material Los simuladores (2002–2003). Reg. Damián Szifron. Tao Films – Televisión Federal (Telefe), Argentinien. The A-Team (1983–1987). Prod. John Ashley. Stephen J. Cannell Productions, USA.

Primärliteratur Cortázar, Julio (1963): Rayuela. Buenos Aires: Ed. Sudamericana.

47 Rancière (2010), S. 146.

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Sekundärliteratur Barthes, Roland (1973): „L’effet de réel“, in: Ders.: Œuvres completes. Tome II. 1966–1973. Edition ètabile et présentée par Éric Marty. Paris: Seuil, S. 479–484. Baudrillard, Jean (1976): L’échange symbolique et la mort. Paris: Gallimard. Baudrillard, Jean (1994): Simulacra and Simulation. Ann Arbor: Michigan UP. Blumenberg, Hans (1964): „Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans“, in: Hans Robert Jauß (Hg.): Nachahmung und Illusion (Poetik und Hermeneutik I). München: Fink, S. 9–27. Epstein, Edward / Pion-Berlin, David (2006): Broken Promises? The Argentine Crisis and Argentine Democracy, Lanham, MD: Lexington. Gardies, André / Besalel, Jean (1995): 200 mots-clés de la théorie du cinéma. Paris: Cerf. Gramuglio, María Teresa (2002): „El realismo y sus destiempos en la literatura argentina“, in: Dies. (Hg.): Historia crítica de la literatura argentina, Vol. 6: El imperio realista. Buenos Aires: Emecé, S. 15–38. Iser, Wolfgang (1998): „Mimesis >>> Emergenz“, in: Andreas Kablitz / Gerhard Neumann (Hgg.): Mimesis und Simulation. Freiburg/Br.: Rombach, S. 669–684. Jameson, Fredric (2013): The Antinomies of Realism. New York / London: Verso. Kablitz, Andreas / Neumann, Gerhard (1998): „Vorwort“, in: Dies. (Hg.): Mimesis und Simulation. Freiburg im Breisgau: Rombach, S. 10–16. Kantorowicz, Ernst (1957/2016): The King’s Two Bodies. A Study in Medieval Political Theology. Princeton: Princeton U.P. Lewis, Daniel K. (2001): The History of Argentina. Westport, Conn.: Greenwood. Manow, Philip (2008): Im Schatten des Königs. Die politische Anatomie demokratischer Repräsentation. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Melana, Marcela / Mossello, Fabián Gabriel (2019): El policial como transgénero. Procesos polifónicos y transpositivos en prácticas policiales contemporáneas. Villa María: Eduvim (EPUB). Menéndez y Pelayo, Marcelino (1947): „Cultura literaria de Miguel de Cervantes y elaboración del ‚Quijote‘“, in: Rodríguez Marín (Hg.): Estudios cervantinos. Madrid: Atlas, S. 97–144. Prestifilippo, Agustín Lucas (2013): „Aporías del realismo literario de segundo grado“, in: Germán Casetta / Andoni Ibarra (Hg.): Representacio´n en ciencia y arte. Vol. IV. Córdoba, Argentina: Editorial Brujas, S. 445–456. Rancière, Jacques (2010): „Der Wirklichkeitseffekt und die Politik der Fiktion“, in: Dirck Linck / Michael Lüthy / Brigitte Obermayr / Martin Vöhler (Hgg.): Realismus in den Künsten der Gegenwart. Zürich: diaphanes, S. 141–157. Ribke, Nahuel (2020): Transnational Latin American Television: Genres, Formats and Adaptations. Oxon/New York: Routledge. Romero, Luis Alberto (2013): A History of Argentina in the Twentieth Century. Updated and Revised Edition. Pennsylvania: Pennsylvania State U.P. Warning, Rainer (1999): Die Phantasie der Realisten. München: Fink. Warning, Rainer (2001): „Erzählen im Paradigma“, in: Romanistisches Jahrbuch 51–1, S. 176–209.

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Yeh, Sonja (2010): Anything goes? Postmoderne Medientheorie im Vergleich. Die großen (Medien-)Erzählungen von McLuhan, Baudrillard, Virilio, Kittler und Flusser. Bielefeld: transcript.

Lara Toffoli (Università Ca’ Foscari Venezia / Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg)

Tra “roman documentaire” e “relato real” alle soglie degli anni Zero: L’Adversaire (2000) di Emmanuel Carrère e Soldados de Salamina (2001) di Javier Cercas Introduzione Nel contesto dell’esaurimento delle poetiche postmoderne e del “ritorno alla realtà” – delineato in Italia dal collettivo Wu Ming1 e dai redattori della rivista Allegoria2 a partire dal successo internazionale di Gomorra (2006) di Roberto Saviano – possono essere inclusi anche due libri pubblicati rispettivamente in Francia e in Spagna all’inizio degli anni Duemila, con simile risonanza sia di pubblico sia di critica: L’Adversaire (2000) di Emmanuel Carrère e Soldados de Salamina (2001) di Javier Cercas. In merito alla ricezione nazionale, L’Adversaire è stato presto collocato all’interno del variegato panorama dell’“écriture du ‘réel’”3, nell’ambito di un dibattito sorto proprio in quegli anni attorno al concetto di “renouveau du ‘réalisme’”4. Con Soldados de Salamina, invece, Cercas ha inaugurato un rinnovamento della novela histórica incentrata sulla guerra civile spagnola, collocandosi tra quei giovani scrittori che a metà degli anni Novanta tornavano a confrontarsi con la storia, muovendosi verso nuove forme di realismo, seppur ricondotte da certa critica spagnola all’interno del contesto postmoderno5. Il presente contributo propone un’analisi comparata di queste due opere, tra le quali si possono evidenziare alcuni parallelismi utili a illuminare le questioni del 1 Wu Ming (2009). 2 La sezione tematica del numero 57 di Allegoria (2008) ha inaugurato in Italia il dibattito sul “ritorno alla realtà” nella letteratura italiana a partire dagli anni Novanta. Successivamente, al tema del realismo nella letteratura contemporanea sono stati dedicati anche i numeri 71–72 (2016) della stessa rivista. Cfr. Donnarumma / Policastro / Taviani (2008); Rivoletti / Tortora (2016). 3 Viart / Vercier (2008), pp. 211–269. 4 Schober (2002); Asholt (2002); Asholt (2013). Inoltre, per una contestualizzazione de L’Adversaire nell’ambito di un “nouveau réalisme” cfr. Rabaté (2002), pp. 120–121. 5 Masoliver Ródenas et al. (2000); Gracia / Ródenas (2011), pp. 242–249; Toro (2017), p. 244. In particolare, per il concetto di “realismo posmoderno” cfr. Oleza (1996). Infine, per quanto riguarda il rinnovamento della novela histórica cfr. Pozuelo Yvancos (2017), pp. 249–282.

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nuovo realismo in ambito europeo6. Oltre a collocarsi in uno snodo fondamentale per le singole tradizioni letterarie nazionali, L’Adversaire e Soldados de Salamina rappresentano, infatti, una cesura all’interno della produzione dei singoli autori, in quanto segnano un passaggio verso una scrittura impegnata sul fronte della cronaca e della storia, e portatrice di rilevanti cambiamenti sotto il profilo formale. In particolare, recuperando da un lato il modello del non-fiction novel di Truman Capote – il “roman documentaire”7 con cui si confronta soprattutto Carrère – e dall’altro mettendo in discussione la capacità della forma romanzo di rappresentare la realtà, i due autori approdano a una modalità di scrittura afferente al campo della non-fiction, per la quale Cercas ha coniato il termine “relato real”8. Se lo studio di questo fenomeno è risultato secondario rispetto al rinnovato interesse per il quotidiano in Francia e alla rilettura della storia recente in Spagna, esso è stato argomento principale del dibattito italiano sul “ritorno alla realtà”, il quale si è fin da subito incentrato sugli “oggetti narrativi non-identificati”9 o “narrazioni documentarie”10, di cui Gomorra è un caso esemplare. Tali opere tendono a porsi al di fuori dei meccanismi della fiction, mettendo in pratica strategie finalizzate ad affermare la credibilità della voce narrante, come avviene per i generi non-fiction o referenziali (ad esempio il reportage giornalistico, il saggio, l’autobiografia, la biografia ecc.), i quali sono soggetti a giudizio di verità11. Allo stesso tempo, pur ricorrendo ad un patto di lettura tipico dei generi non letterari, queste scritture non possono essere intese come opere storiografiche, bensì aspirano comunque ad essere ritenute letterarie12. Per offrire un quadro del fenomeno in prospettiva comparata, L’Adversaire e Soldados de Salamina verranno dunque analizzati sia all’interno del rispettivo

6 Per un inquadramento generale del fenomeno in ottica comparata cfr. Re / Cinquegrani (2014), pp. 7–20, 195–214; Rivoletti (2016 a). 7 Carrère (2016), p. 266. 8 Cercas (2000); Cercas (2001); Cercas (2014). 9 Wu Ming (2009), pp. 10–14. 10 Donnarumma (2014), pp. 121–128. 11 Cfr. Cohn (2000), p. 15: “[T]he definitional adjective nonreferential allows one to discriminate between two different kinds of narrative, according to whether they deal with real or imaginary events and persons. Only narratives of the first kind, which include historical works, journalistic reports, biographies, and autobiographies, are subject to judgments of truth and falsity. Narratives of the second kind, which include novels, short stories, ballads, and epics, are immune to such judgments. [Corsivi nell’originale]”. 12 Donnarumma (2014), p. 124. Marchese (2019), pp. 112–113, pp. 273–274. In particolare, secondo Lorenzo Marchese, tali scritture non soddisfano i requisiti di oggettività della storiografia moderna, non essendo sottoposte al vincolo del controllo delle fonti e in quanto caratterizzate da una forte presenza della soggettività autoriale. Inoltre, per un’analisi della dimensione letteraria in Gomorra cfr. Rivoletti (2016 b), pp. 108–114.

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contesto nazionale sia prendendo in considerazione i principali caratteri delle “narrazioni documentarie” individuati dal dibattito italiano.

1.

Carrère: la fine del roman di fronte a Romand

1.1

La Classe de neige (1995) e L’Adversaire (2000): il bivio

All’interno della tendenza della letteratura francese denominata da Dominique Viart “écriture du ‘réel’”13, L’Adversaire viene annoverato fra quei testi che, a partire dalla metà degli anni Novanta, si confrontano con il fait divers per tentare di ristabilire un legame con la realtà e fare luce sui fenomeni più significativi della società odierna14. Come avviene per i corrispettivi italiani pubblicati negli stessi anni, tra cui ad esempio L’abusivo (2001) di Antonio Franchini, il ricorso ai fatti di cronaca è finalizzato alla costruzione di un discorso critico, il quale aspira al raggiungimento di una forma di verità non solo fattuale, ma soprattutto etica, in contrasto con la spettacolarizzazione della rappresentazione mediatica15. A tale proposito, Viart ha messo in rilievo una differenza fondamentale da parte di questi autori nell’uso della cronaca rispetto ai romanzieri del realismo ottocentesco, che sfruttavano il fait divers come spunto narrativo per una “mise en récit romanesque”16, cioè come ampliamento delle possibilità della fiction. Le scritture del realismo contemporaneo operano in modo opposto, rifiutando la componente romanzesca e scegliendo di attenersi il più possibile alla dimensione fattuale della cronaca: […] Un fait divers, Prison, Mariage mixte, L’Adversaire, qui répugnent au romanesque, signalent le fait divers comme tel, notamment à travers les comptes rendus de presse ou de télévision auxquels il donne lieu et dont d’importants fragments sont explicitement cités dans les romans. […] Loin d’exacerber la fiction narrative, ces textes maintiennent la dimension factuelle de façon aussi explicite que possible […].17

Tale adesione alla realtà fattuale si traduce nel caso di Carrère nell’abbandono definitivo della fiction a partire da L’Adversaire, il cui ruolo cruciale nell’opera dello scrittore francese può essere esemplificato dalla formula “le roman cède

13 Viart / Vercier (2008), pp. 211–212. 14 Tra gli altri testi inclusi nella categoria della narrativa del fait divers si segnalano: L’Invention du monde (1993) di Oliver Rolin, Un fait divers (1993) e Prison (1997) di François Bon, Mariage mixte di Marc Weitzmann (2000). Cfr. Viart/Vercier (2008) pp. 235–251. 15 Ibidem, pp. 236, 242, 251. Per il contesto italiano cfr. Donnarumma (2014), pp. 118, 165, 186– 189; Ricciardi (2011), pp. 81–102. 16 Viart /Vercier (2008), pp. 236–237. 17 Ibidem, p. 237.

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devant Romand”18, con cui Dominique Rabaté ha segnalato la messa in crisi della forma romanzo rispetto all’affaire Romand, il caso di cronaca su cui è incentrato il libro. Ciononostante, è necessario tenere in considerazione che L’Adversaire è il risultato di un percorso intricato che contempla sia la possibilità del romanzo sia quella della non-fiction. Infatti, l’interesse dello scrittore francese per il caso di cronaca che nel 1993 aveva sconvolto la Francia è legato non solo alle sue implicazioni etiche, ma anche a un’ambigua fascinazione per il suo protagonista Jean-Claude Romand, una figura dall’alto potenziale romanzesco, perfettamente compatibile con l’universo narrativo dell’autore: dopo avere finto per quasi vent’anni presso parenti ed amici di essere un medico e ricercatore dell’Organizzazione Mondiale della Sanità, sul punto di venire scoperto egli aveva assassinato tutti i membri della sua famiglia, cioè la moglie, i due figli e i propri genitori. Romand si era trovato in bilico fra due esistenze parallele, fra l’identità reale e quella fittizia, cioè in quella stessa condizione – definita da Carrère la “bifurcation”19 – che aveva portato alla follia o all’alienazione i protagonisti di alcuni dei suoi romanzi precedenti, come La Moustache (1986) e Hors d’atteinte? (1988). In questo senso, il futuro protagonista de L’Adversaire rappresentava per lo scrittore francese non solo una trasposizione nella realtà dei suoi tipici personaggi, ma ne era addirittura un’estrema esasperazione. Per queste ed altre ragioni che verranno esposte, l’affaire Romand è all’origine di due progetti opposti: La Classe de neige (1995) da un lato, un romanzo di genere in linea con la produzione precedente dell’autore, e L’Adversaire (2000) dall’altro. All’interno de L’Adversaire, Carrère ricostruisce la complessa vicenda dell’elaborazione di entrambi i libri, partendo dal momento in cui ha preso la decisione di occuparsi del caso Romand: L’enquête que j’aurais pu mener pour mon compte, l’instruction dont j’aurais pu essayer d’assouplir le secret n’allaient mettre au jour que des faits. Le détail des malversations financières de Romand, la façon dont au fil des ans s’était mise en place sa double vie, le rôle qu’y avait tenu tel ou tel, tout cela, que j’apprendrais en temps utile, ne m’apprendrait pas ce que je voulais vraiment savoir: ce qui se passait dans sa tête durant ces journées qu’il était supposé passer au bureau; qu’il ne passait pas, comme on l’a d’abord cru, à trafiquer des armes ou des secret industriels; qu’il passait, croyait-on maintenant, à marcher dans les bois. […] Cette question qui me poussait à entreprendre un livre, ni les témoins, ni le juge d’instruction, ni les expertes psychiatres ne pourraient y répondre, mais soit Romand lui-même, puisqu’il était en vie, soit personne. Après six mois d’hésitations, je me suis

18 Rabaté (2016), p. 54. 19 Carrère (2000), pp. 66, 99. Per un’analisi della “bifurcation” nei romanzi precedenti di Carrère cfr. Rabaté (2002), pp. 126–127.

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décidé à lui écrire, aux bons soins de son avocat. C’est la lettre la plus difficile que j’ai eu à faire de ma vie.20

Come si legge nel passo riportato, il mistero al centro dell’interesse di Carrère – a che cosa pensasse Romand nelle lunghe giornate che trascorreva camminando nei boschi, mentre gli altri lo credevano al lavoro – non riguarda tanto un accertamento di come si sono svolti i fatti, bensì una verità di carattere etico ed esistenziale. Ciò che importa maggiormente a Carrère è anche ciò che rende così terribile questa vicenda: il vuoto di significato dietro alle azioni di Romand, che coincide con un vuoto d’identità, ovvero il fatto che all’origine della lunga serie di menzogne accumulatesi in vent’anni non vi sia la necessità di nascondere alcuna doppia vita. Se, dunque, da un lato Carrère si rende conto dell’insufficienza di un’indagine giornalistica per rispondere agli interrogativi sollevati dalla vicenda di Romand21, dall’altro intravvede in tale vuoto lo spazio di manovra del romanziere, che è dato proprio dall’assenza di informazioni reperibili attraverso le fonti. Una simile teorizzazione dell’azione del romanziere era già stata esposta da Carrère nella biografia di Philip K. Dick Je suis vivant et vous êtes morts (1993), dove, commentando una lacuna documentale di due settimane, insinuava il desiderio di colmare quel “trou” con l’immaginazione: Je ne veux pas ici extrapoler. Je ne m’en ferais pas faute si j’écrivais un roman : j’aurais été tenté, je l’ai été, d’en situer le déroulement au cours des deux semaines dont prendra soin ce seul paragraphe. Ces deux semaines sont un trou dans la biographie de mon héros, et je ne crois pas qu’on puisse être romancier sans rêver de faire son nid dans un tel trou [Cors.d.A.]: […] Une magie puissamment romanesque s’attache au temps écoulé sans témoins.22

In confronto alle due settimane senza testimoni di Dick, le lacune nella biografia di Romand risultano estremamente invitanti per un romanziere: egli non potrebbe chiedere di meglio di fronte a tutti quei momenti della quotidianità che il sedicente medico trascorreva solo, senza alcun testimone. Tuttavia, così come in Je suis vivant et vous êtes morts le regole del genere biografico non lasciano spazio all’invenzione, nel caso de L’Adversaire la decisione di mettersi in contatto con Romand tiene aperta la possibilità della non-fiction e pone Carrère di fronte al bivio tra due ipotesi di scrittura: Je me disais : si par extraordinaire Romand accepte de me parler […], alors mon travail m’engagera dans des eaux, dont je n’ai pas idée. Si, comme il est plus probable, Romand 20 Carrère (2000), p. 33. 21 Carrère ha sempre affiancato alla produzione letteraria una prolifica attività giornalistica, testimoniata in particolare dal volume Il est avantageux d’avoir où aller (2016) che raccoglie una selezione dei suoi saggi e articoli di giornale. 22 Carrère (1993), p. 227.

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ne me répond pas, j’écrirai un roman ‘inspiré’ de cette affaire, je changerai les noms, les lieux, les circonstances, j’inventerai à ma guise : ce sera de la fiction.23

Carrère è consapevole che se riuscirà effettivamente a entrare in contatto con Romand, si troverà a confrontarsi con una situazione imprevedibile, nella quale dovrà astenersi dall’inventare. Allo stesso tempo non è disposto a rinunciare alla suggestione narrativa che il caso di cronaca produce in lui, essendo pronto a trarne un romanzo d’invenzione, nel caso in cui non dovesse ottenere risposta da parte di Romand. In questa situazione di stallo e dopo numerosi ripensamenti e progetti abbandonati, lo scrittore francese riesce a riconvertire il coacervo emotivo suscitatogli dal caso Romand nel romanzo La Classe de neige (1995), dove gli aspetti più atroci della vicenda vengono proiettati nelle fantasie lugubri e macabre di un ragazzino su cui aleggia un terribile destino: quello di avere un padre omicida. In questo libro, Carrère recupera le congetture romanzesche che gli inquirenti avevano ipotizzato per colmare le lacune nella biografia di Romand e tentare di spiegare l’assurdità della sua doppia vita24: il padre del protagonista è un oscuro rappresentante di materiale chirurgico, sempre in viaggio per lavoro, che si rende responsabile di orrendi crimini. Inoltre, La Classe de neige presenta una costruzione narrativa ben calibrata e basata sulla suspense, dispositivo romanzesco a cui Carrère rinuncia ne L’Adversaire, dove fin dal prologo svela l’intera vicenda.

1.2

Carrère contro Capote: questo non è un non-fiction novel

Come si è anticipato, L’Adversaire ha prodotto uno scarto radicale all’interno della produzione di Carrère, così definito dallo stesso autore: Il y a eu deux moments pour moi. Celui où j’écrivais des romans et où j’allais vers la fiction la plus “fictionnante”. Puis la phase documentaire dans laquelle je suis encore actuellement, à partir de L’Adversaire en effet. J’ai l’impression qu’il y a encore quelque chose à faire pour moi dans cette voie-là, qui est un mixte de travail documentaire et de récit autobiographique [Cors.d.A.].25

In questo brano tratto da un’intervista rilasciata ad Alain Schaffner, Carrère evidenzia le due peculiarità fondamentali della sua nuova modalità di scrittura – il lavoro di ricostruzione documentaria e l’elemento autobiografico – che ritornano in tutte le sue opere successive a L’Adversaire e diventano i cardini di una vera e propria poetica. 23 Carrère (2000), p. 35. 24 Tra queste vi erano ad esempio le ipotesi che Romand fosse un trafficante d’armi, una spia o un terrorista. Cfr. ibidem, pp. 33, 118. 25 Carrère / Schaffner (2016), p. 140.

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La seconda caratteristica, il patto autobiografico, è la risposta formale elaborata da Carrère di fronte alla questione più ardua nell’elaborazione de L’Adversaire: quale prospettiva sia giusto (eticamente) assumere rispetto a Romand stesso e ai lettori per raccontare la sua storia. Infatti, nel momento in cui riesce effettivamente a inaugurare uno scambio epistolare con Romand, lo scrittore parigino si vede costretto a subordinare le proprie istanze narrative a quelle etiche, come sottolinea in una lettera indirizzata a Romand e riportata nella parte conclusiva de L’Adversaire: Mon problème n’est pas, comme je le pensais au début, l’information. Il est de trouver ma place face à votre histoire. En me mettant au travail, j’ai cru pouvoir repousser ce problème en cousant bout à bout tout ce que je savais et en m’efforçant de rester objectif. Mais l’objectivité, dans une telle affaire est un leurre. Il me fallait un point de vue.26

Le tracce della ricerca di tale punto di vista si possono ritrovare anche nell’incipit del libro, dove la narrazione è condotta dalla prospettiva di un amico di famiglia dei Romand, Luc Ladmiral, attraverso un narratore di terza persona: per un intero capitolo, dopo il prologo in prima persona, il lettore è immerso in medias res nella vicenda e scopre insieme a Luc – che ne era all’oscuro – la verità su Romand e sulla tragedia che si è appena consumata. In questa prima parte del libro, dunque, l’oscillazione della voce narrante riproduce esattamente la difficoltà dell’autore nel trovare un narratore a lui congeniale27. Allo stesso tempo, tale narrazione, ottenuta “en cousant bout à bout”28 il materiale raccolto e che aspira a intrecciare punti di vista diversi tramite la regia di un narratore esterno alla vicenda, si rifà al modus operandi del principale modello narrativo de L’Adversaire, ovvero In Cold Blood (1966), il non-fiction novel di Truman Capote, un libro affine per le tematiche trattate e per il lavoro di documentazione che implica un rapporto diretto con gli assassini. La relazione con quest’opera che Carrère definisce come “roman documentaire”29 viene esplicitata dallo scrittore parigino in un articolo dal titolo “Capote, Romand et moi”, pubblicato per Télérama nel 2006 e poi successivamente raccolto nel volume Il est avantageux d’avoir où aller (2016), che testimonia il ruolo cruciale giocato dal confronto con Capote nella stesura de L’Adversaire La definizione di non-fiction novel secondo Capote – “a narrative form that employed all the techniques of fictional art but was nevertheless immaculately

26 Carrère (2000), p. 205. 27 Per un resoconto più approfondito delle oscillazioni del narratore e del punto di vista ne L’Adversaire cfr. Cinquegrani (2016), pp. 63–64. 28 Carrère (2000), p. 205. 29 Carrère (2016), p. 266. Per una ricostruzione dettagliata della ricezione del non-fiction novel di Capote da parte di Carrère, anche in relazione a Gomorra di Saviano, cfr. Rivoletti (2016 b), pp. 103–107.

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factual”30 – si basa sulla differenza fra il concetto di fiction – concepita come invenzione – e quello di narrazione – da intendersi come ricorso alle tecniche narrative, ovvero all’‘effetto di narratività’. Se, dunque, il carattere documentario è riferito alla fabula, quello romanzesco interessa l’intreccio, cioè l’organizzazione dei fatti narrati attraverso strategie romanzesche quali anticipazioni, analessi e colpi di scena31. In questa struttura, un elemento decisivo per chi come Carrère volesse imitare Capote è dato dal sistematico occultamento nella narrazione del lavoro di indagine svolto dall’autore, che si traduce a sua volta nella scelta di un narratore eterodiegetico, il quale tende a sparire dietro ai personaggi e alla narrazione dei fatti, come dichiara lo stesso Capote: My feeling is that for the nonfiction-novel form to be entirely successful, the author should not appear in the work. Ideally. […] I think the single most difficult thing in my book, technically, was to write it without ever appearing myself, and yet, at the same time, create total credibility.32

Tale “principio di poetica oggettivista” – così lo ha definito Raffaele Donnarumma – è basato sul modello del romanzo “flaubertiano e naturalista”33 e si fonda, secondo Carrère, su di un inganno: nascondendo la propria presenza, Capote aveva raccontato una versione alterata dei fatti, tradendo così un principio fondamentale della sua opera, ovvero quello di essere fedele alla verità34. Carrère sottolinea, infatti, come il rapporto personale con i due assassini, Perry e Dick, avesse inevitabilmente modificato lo sguardo di Capote sulla vicenda, portandolo a sviluppare un’ambigua empatia verso i due criminali, un sentimento di cui si vergognava e che per questo gli risultava inconfessabile: Il [Capote] rapporte tout ce qui est arrivé à Perry et à Dick de leur arrestation à leur pendaison en omettant le fait que durant leurs cinq années de prison il a été la personne la plus importante de leur vie et qu’il en a changé le cours. Il choisit d’ignorer ce paradoxe bien connu de l’expérimentation scientifique : que la présence de l’observateur modifie inévitablement le phénomène observé – et lui, en l’occurrence, était beaucoup plus qu’un observateur, mais un acteur de premier plan. Et je pense que cette histoire-là, celle des relations de Capote avec ses personnages, il ne l’a pas seulement gommée du livre pour des raisons esthétiques, parnassiennes, parce que le “je” lui semblait haïssable, mais aussi parce qu’elle était trop atroce pour lui, et au bout du compte inavouable.35

30 Capote / Plimpton (1966), p. 48. 31 Rientrano tra le tecniche narrative adottate da Capote anche alcuni dei precetti del new journalism, come la costruzione di scene degli eventi – in luogo del resoconto sintetico –, la riproduzione integrale dei dialoghi e l’assunzione del punto di vista dei personaggi coinvolti nella vicenda. Cfr. Wolfe (1975), pp. 30–32; Bertoni (2015), p. 57. 32 Capote / Plimpton (1966), p. 55. 33 Donnarumma (2014), pp. 193–194. 34 Carrère (2016), p. 270. 35 Ibidem, pp. 270–271.

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Per cercare di rimanere fedele alla verità, Carrère, al contrario di Capote, decide di non tacere il suo rapporto con Romand, assumendo pienamente il proprio punto di vista attraverso un narratore di prima persona che è anche personaggio, con le conseguenze che ciò comporta: l’esposizione di sé e del proprio coinvolgimento personale ed emotivo nella vicenda, che fa di lui un vero e proprio protagonista de L’Adversaire affianco a Romand36. Tale risoluzione a favore di un narratore autobiografico viene presentata in forma di riflessione metanarrativa anche all’interno de L’Adversaire stesso, dove lo scrittore francese riporta una lettera a Romand su tale argomento: C’est n’est évidemment pas moi qui vais dire “je” pour votre compte, mais alors il me reste, à propos de vous, à dire “je” pour moi-même. À dire, en mon nom propre et sans me réfugier derrière un témoin plus o moins imaginaire ou un patchwork d’informations se voulant objectives, ce qui dans votre histoire me parle et résonne dans la mienne.37

Questo genere di narratore-personaggio che esibisce la propria mediazione soggettiva a garanzia della veridicità della sua stessa indagine è una peculiarità di diverse “narrazioni documentarie” italiane, basate su quella che Donnarumma ha definito “poetica testimoniale”38. È il caso ad esempio di Gomorra, per cui lo stesso Saviano ha invocato il modello del non-fiction novel senza in realtà aderirvi propriamente: infatti, come ha messo in evidenza Christian Rivoletti39, la presenza del narratore-testimone di prima persona accomuna Gomorra a L’Adversaire, segnando così uno scarto rispetto all’operazione di Capote.

2.

Cercas: tra romanzo e “relato real”

2.1

Soldados de Salamina (2001): una soglia

Soldados de Salamina (2001), il libro che ha conferito a Javier Cercas il successo internazionale, ha incontrato fin da subito anche l’apprezzamento della critica, in particolare del premio Nobel Mario Vargas Llosa, che in una celebre recensione ha salutato con favore il ritorno di una letteratura impegnata in un panorama letterario dominato – a partire dalla caduta del franchismo – da storie minime e

36 Cfr. ibidem, p. 272: “En consentant à la première personne, à occuper ma place et nulle autre, c’est-à-dire à me défaire du modèle Capote, j’avais trouvé la première phrase et le reste est venu, je ne dirais pas facilement, mais d’un trait et comme allant de soi”. 37 Carrère (2000), p. 206. 38 Donnarumma (2014), pp. 121, 125–128. 39 Rivoletti (2016 b), pp. 104–105.

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individuali che eludevano il confronto con le tematiche politiche e sociali, secondo il gusto postmoderno40. Soldados de Salamina è infatti incentrato su un episodio marginale ed oscuro della guerra civile spagnola (1936–1939), che vede come protagonista Rafael Sánchez Mazas, scrittore, ideologo della Falange e futuro ministro del governo di Franco, il quale riuscì miracolosamente a scampare a una fucilazione di massa da parte dei repubblicani, rifugiandosi nell’area boschiva presso il luogo dell’esecuzione, il santuario di Collell, vicino a Gerona. Durante la fuga venne sorpreso da un miliziano repubblicano che avrebbe potuto ucciderlo o segnalarlo e che invece decise inspiegabilmente di lasciarlo andare. Partendo da questo episodio minimo, ma dall’alto potenziale romanzesco41, Cercas è riuscito a raccontare non solo la storia del falangista Sánchez Mazas, ma soprattutto quella del suo salvatore, Miralles, incarnazione degli eroi sconfitti durante la guerra civile e poi dimenticati. Si tratta di un tema molto presente nell’opinione pubblica spagnola, dal momento che la transizione dal regime dittatoriale al governo democratico dopo la morte di Franco nel 1975 si era basata su meccanismi di oblio rispetto ai fatti recenti, per consentire un passaggio meno drammatico alla democrazia. La sensibilità verso tale argomento da parte della generazione più giovane che non aveva preso direttamente parte ai fatti, i cosiddetti nietos de la guerra civil, è tra le ragioni del fenomeno che Nora Catelli ha definito come “efecto Cercas”42, ovvero la pubblicazione – a partire dal successo editoriale di Soldados de Salamina – di un numero sempre crescente di opere incentrate sulla guerra civile spagnola, con una progressiva riaffermazione del romanzo storico43. Nonostante Cercas abbia rifiutato la definizione di novela histórica44, Soldados de Salamina segna l’ingresso nella produzione letteraria dello scrittore e saggista spagnolo della dimensione storica e di quella etico-politica, che avranno un ruolo fondamentale nel seguito del suo percorso. In questo processo di allontanamento dai modelli di scrittura postmoderna ha giocato un ruolo cruciale l’attività

40 Cfr. Vargas Llosa (2001): “Quienes creían que la llamada literatura comprometida había muerto deben leerlo para saber qué viva está, qué original y enriquecedora es en manos de un novelista como Javier Cercas”. Per un quadro generale del contesto letterario spagnolo dopo il franchismo cfr. Gracia / Ródenas (2011), pp. 225–297. 41 Cfr. Pozuelo Yvancos (2017), p. 269: “Hay en esa escena una dimensión literaria puesto que tiene todos los ingredientes de lo novelesco [Corsivo nell’originale]. Es un episodio fortuito, pero no deja de ser necesario. […] Está concentrada en esta escena, que lo es de un incidente pequeño, una fuerza simbólica tremenda”. 42 Catelli (2002). 43 Cogotti (2012), pp. 1–2, 11–12; Pozuelo Yvancos (2017), pp. 249–266. 44 Cercas / Trueba (2003), p. 21; Cercas (2010).

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giornalistica, testimoniata dal volume Relatos reales (2000) che raccoglie le “crónicas”45 scritte per El País, come ricorda Cercas stesso: Sì, quel libro [Soldados de Salamina] produce un grande cambiamento. […] è accaduto che El País mi ha chiesto di scrivere degli articoli a metà tra il racconto e il reportage. Per me è stata una rivoluzione assoluta, che mi ha costretto a uscire per strada e […] a confrontare la scrittura con la realtà […]. Ed è stato così che ho scoperto due cose fondamentali: la prima è che il passato è una dimensione del presente […]. La seconda cosa che ho scoperto è che il collettivo è una dimensione del personale; senza il collettivo, non si capisce nemmeno il personale. Questi due elementi implicano l’apparizione della politica e della storia nei miei libri. […] [I]o parto da una visione postmoderna, giocosa, astorica (alla quale comunque non rinuncio), e arrivo non a una letteratura realista, ma a una letteratura che ha a che fare con la realtà.46

Nella produzione successiva di Cercas si osserva quindi l’abbandono delle storie minime dei primi romanzi – El móvil (1987), El inquilino (1989), El vientre de la ballena (1997) – incentrati principalmente sul gioco metanarrativo e la parodia, in particolare del genere poliziesco –, a favore di tematiche legate alla Storia e/o a questioni di forte impatto morale. Per definire la nuova modalità di scrittura inaugurata da Soldados de Salamina lo scrittore spagnolo reinterpreta il concetto di “relato real”, una teorizzazione paradossale e in continua evoluzione attraverso la sua opera, inizialmente elaborata per la scrittura giornalistica nell’omonimo Relatos reales, ma che si consolida nella direzione della non-fiction solo a partire da Anatomía de un instante (2009). Tuttavia, il passaggio a una scrittura che “ha che fare con la realtà”47 non comporta – come nel caso di Carrère – la scelta esclusiva della nonfiction rispetto alla forma romanzo. Dopo il 2001, Cercas continuerà a praticare entrambe le possibilità, ma distinguendole in modo netto: da un lato quella del romanzo vero e proprio, come nel caso di Las leyes de la frontera (2012), e dei recenti polizieschi Terra Alta (2019) e Independencia (2021), e dall’altro quella del “relato real” o “novela sin ficción”48 a cui si possono ascrivere, oltre ad Anatomía de un instante (2009), anche El impostor (2014) e infine El monarca de las sombras (2017). Soldados de Salamina è un’opera in bilico fra queste due possibilità, in quanto presenta alcuni elementi di finzione che non potrebbero essere accolti all’interno 45 Cercas (2000), pp. 7–18. Uno dei reportages raccolti in questo volume, Un secreto esencial, accenna all’episodio della mancata esecuzione di Sánchez Mazas e viene indicato in Soldados de Salamina come nucleo di scrittura originale del libro stesso. Cfr. ibidem, pp. 153–156; Cercas (2001), pp. 24–26. 46 Cercas / Arpaia (2013), pp. 18–19. 47 Ibidem, p. 19. 48 Cercas (2014), pp. 23, 30. Tali definizioni vengono impiegate da Cercas per Anatomía de un instante e per El impostor.

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di un reportage narrativo e tantomeno in un saggio storico. È il caso del narratoreprotagonista che la critica spagnola ha interpretato come autofinzionale, ovvero una simulazione ironica dell’autore reale49. Infatti, oltre alla coincidenza onomastica con l’autore, al Cercas-personaggio – che è anche narratore in prima persona della vicenda – sono attribuiti sia dati effettivamente appartenenti alla biografia dell’autore che fatti fittizi50. Ciononostante, se si prendono in considerazione definizioni più restrittive del termine autofiction, come quelle di Donnarumma e Marchese51, gli elementi di finzionalità relativi al narratore di Soldados de Salamina risultano meno riconoscibili rispetto a quelli reali, essendo per lo più di natura privata, come se Cercas volesse davvero far credere al suo lettore di essere di fronte a un libro di non-fiction. Tuttavia, l’infrazione più rilevante rispetto al “relato real” in Soldados de Salamina è rappresentata dall’invenzione dell’incontro con Miralles, l’eroe che salva Sánchez Mazas, di cui si tratterà nel prossimo paragrafo.

2.2

Il “relato real” in Soldados de Salamina: un paradosso

Per indagare le modalità di commistione fra fiction e non-fiction nell’opera e nella poetica di Cercas, risulta utile analizzare il significato che l’espressione “relato real” assume in Soldados de Salamina. Adottando una prospettiva interna alla finzione narrativa, si prenda innanzitutto in considerazione la struttura tripartita dell’opera, caratterizzata da una cornice – la prima e la terza parte – in cui si svolge l’indagine del narratore autofinzionale attorno all’episodio della mancata fucilazione di Sánchez Mazas, e un nucleo centrale – la seconda parte – che riporta la ricostruzione storica della stessa vicenda. Nella prima parte del libro, “Los amigos del bosque”52, il giornalista e scrittore in crisi Javier Cercas – affascinato dalla storia di Sánchez Mazas e della sua rocambolesca fuga da Collell –sostiene di voler scrivere un “relato real” su tale vicenda: 49 Pozuelo Yvancos (2017), pp. 272–275; Toro (2017), pp. 243–249. In particolare, la critica spagnola include il narratore autofinzionale tra gli aspetti che rendono Soldados de Salamina un caso di docufiction oppure di factual fiction / faction, ovvero un testo che mescola fatti storici a fatti inventati, senza la presenza di indizi interni al testo stesso che consentano di distinguere la realtà dalla finzione. Cfr. ibidem, pp. 112–117; Alberca (2007), pp. 167–168. 50 Tra i dati autobiografici che fanno propendere per un’identificazione fra autore e narratorepersonaggio, vi è l’attribuzione a quest’ultimo del romanzo d’esordio di Cercas El móvil e del successivo El inquilino. Cfr. Cercas (2001), p. 145. 51 Donnarumma (2014), p. 30; Marchese (2014), p. 10. La riconoscibilità degli elementi artefatti è una delle condizioni dell’autofiction, a fianco alla sovrapposizione fra autore, narratore e personaggio tipica dell’autobiografia. 52 Cercas (2001), pp. 15–74.

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Me intrigaba esa época final de retiro y displicencia, pero sobre todos los tres años de guerra, con su peripecia inextricable, su asombroso fusilamiento, su miliciano salvador y sus amigos del bosque, y un atardecer de Cancún […] decidí que, después de casi diez años sin escribir un libro, había llegado el momento de intentarlo de nuevo, y decidí también que el libro que iba a escribir no sería una novela, sino sólo un relato real, un relato cosido a la realidad, amansado con hechos y personajes reales, un relato que estaría centrado en el fusilamiento de Sánchez Mazas y en las circunstancias que lo precedieron y lo siguieron.53

Il “relato real” viene inteso dal Cercas-personaggio come un tipo di scrittura che impiega tecniche tipicamente narrative per trattare di fatti e persone reali sulle quali si è condotta un’indagine basata su fonti documentali o testimoniali. Secondo queste stesse modalità è costruita la seconda parte del libro, “Soldados de Salamina”54, che coincide proprio con il “relato real” che il narratore aveva dichiarato di voler scrivere55 e consiste in una sorta di biografia di Sánchez Mazas incentrata in particolare sul periodo più oscuro e meno documentato della sua vita, ovvero i tre anni della guerra civile. Si tratta di un resoconto con un narratore esterno alla vicenda e in stile prevalentemente impersonale, che fa ricorso all’uso di tecniche narrative come la costruzione di scene nei passaggi cruciali della vicenda e l’assunzione del punto di vista di uno o più personaggi, secondo modalità presenti nel genere della biografia romanzata, oltre che nel modello messo a punto da Capote con In Cold Blood.56 In questa parte del libro, l’invenzione concerne, quindi, la sfera della disposizione narrativa dei fatti e interviene su elementi – come l’attribuzione di emozioni e pensieri ai personaggi – che non possono essere dedotti dalle fonti e che perciò non si addicono a un’opera storiografica57. Si tratta comunque di ricostruzioni verosimili, la cui plausibilità storica è rafforzata dall’indagine che il Cercas-personaggio aveva condotto nella prima parte del libro, nella quale aveva recuperato il diario che il falangista aveva tenuto in quel periodo e raccolto le testimonianze di alcuni degli “amigos del bosque”, i giovani repubblicani che avevano aiutato Sánchez Mazas dopo la fuga da Collell.

53 Ibidem, p. 52. 54 Ibidem, pp. 75–140. 55 Nella prima parte, il Cercas-personaggio fa menzione del titolo che vorrebbe attribuire al suo “relato real”, ovvero “Soldados de Salamina”, lo stesso titolo che Rafael Sánchez Mazas avrebbe voluto dare ad un libro mai scritto proprio su questa vicenda. Cfr. ibidem, pp. 73–74. 56 Dietro la definizione stessa di “relato real” come racconto fattuale si cela un riferimento al capostipite del non-fiction novel, che verrà esplicitato soltanto a partire da El impostor (§ 2.3). 57 Cohn (2000), pp. 109–131; Hamburger (1977), pp. 72–78. Cfr. Rivoletti (2016), p. 105: “Fare un’incursione nella soggettività di personaggi ‘esterni’ rispetto a colui che racconta, attribuendo loro sentimenti o pensieri, significa inevitabilmente inventare, ed è dunque un chiaro indizio di finzionalità [Corsivo nell’originale]”.

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La terza parte, “Cita en Stockton”58, ritorna sulle vicende del Cercas-personaggio il quale, insoddisfatto del suo “relato real”, si mette alla ricerca dell’ingranaggio mancante per far funzionare il meccanismo del suo libro. I suoi interrogativi si concentrano in particolare sulla figura del miliziano che risparmiò la vita a Sánchez Mazas, la cui identità è sconosciuta: infatti, l’episodio di maggiore forza narrativa ed etica di tutto il libro risulta anche il più lacunoso sul piano documentario, essendo basato solamente sul racconto orale dello stesso Sánchez Mazas. Si tratta proprio di quel vuoto documentale – il “trou” di cui scriveva Carrère e che Cercas definisce con l’espressione “punto ciego”59 – in corrispondenza del quale si apre la possibilità della fiction. Lo spunto narrativo nasce da alcune conversazioni con lo scrittore cileno Bolaño, che il Cercas della finzione incontra per un’intervista. Questi gli racconta la storia di Miralles, un uomo che aveva conosciuto in un campeggio sulla costa catalana e che durante la guerra civile spagnola aveva militato nelle file dei repubblicani, per finire poi a combattere i nazisti in Africa nella Legione Straniera francese60. Affascinato da tale figura, il narratore inizia a elaborare l’ipotesi – storicamente improbabile – che Miralles possa essere proprio il miliziano della vicenda di Sánchez Mazas. In questo modo, il Cercas-personaggio smette di ragionare in termini di mera ricostruzione dei fatti storici, in quanto si rende conto di avere bisogno non tanto di Miralles, bensì di ciò che egli rappresenta: un eroe dimenticato della guerra civile, un soldato che ha combattuto per la libertà, senza chiedere nulla in cambio; un uomo a cui può essere attribuito un gesto di generosità pari a quello del miliziano che salvò la vita a Sánchez Mazas. Per questo motivo Bolaño lo invita a percorrere la strada della fiction e inventare la storia di Miralles, essendo oramai quasi impossibile rintracciarlo: – Tendrás que inventártela – dijo. – ¿Qué cosa? – La entrevista con Miralles. Es la única forma de que puedas terminar la novela. […] Renunciando a recordarle de nuevo a Bolaño que mi libro no quería ser una novela, sino un relato real, y que inventarme la entrevista con Miralles equivalía a traicionar su naturaleza, suspiré: – Ya. […]

58 Cercas (2001), pp. 141–209. 59 Cercas (2016), p. 54. 60 Il Bolaño di Soldados de Salamina deve essere inteso come un personaggio finzionale, a parità del narratore-protagonista. Ciononostante, lo scrittore cileno ha veramente raccontato a Cercas la storia di Miralles, il quale è realmente esistito e ha effettivamente militato nella Legione Straniera, anche se Cercas non ha potuto rintracciarlo. Cfr. Cercas / Trueba (2003), pp. 116–132.

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– Es la única forma – repitió, seguro de haberme convencido –. Además, es la mejor. La realidad siempre nos traiciona; lo mejor es no darle tiempo y traicionarla antes a ella. El Miralles real te decepcionaría; mejor invéntatelo: seguro que el inventado es más real que el real.61

È a questo punto che le strade del Cercas-personaggio e del Cercas-autore, fino ad ora sostanzialmente sovrapponibili, si dividono. Nella finzione Cercas conduce effettivamente l’indagine e incontra Miralles in un ospizio per anziani, riuscendo a realizzare il suo “relato real”, mentre nella dimensione dell’autore reale questa stessa indagine è un’invenzione e rappresenta un’infrazione alle regole del “relato real” stesso62. Tuttavia, l’epilogo sancisce la corrispondenza fra il libro di Javier Cercas e quello che il suo omonimo personaggio fittizio intende scrivere, come già suggeriva la coincidenza onomastica dei titoli. La struttura metanarrativa viene quindi a sommarsi a tutti quegli elementi del testo – la sovrapposizione fra autore e narratore-personaggio, la citazione di fonti documentali e orali – che portano il lettore a considerare Soldados de Salamina (nell’unità delle sue tre parti) come “relato real”, ovvero come narrazione fattuale. Senza prendere in considerazione dati extratestuali e dichiarazioni di poetica dell’autore non è possibile distinguere con chiarezza il doppio binario su cui si muove la costruzione del testo: da un lato quello della finzione narrativa in cui un narratore con funzione testimoniale conduce un’indagine su cui realizza un racconto fattuale; dall’altro quello dell’autore che, posto di fronte a un bivio – provare a mettersi sulle tracce del vero Miralles o inventarsi un personaggio a lui ispirato – opta per la fiction. Dopo il successo del suo libro, Cercas ha tentato di spiegare questa scelta in diverse occasioni, facendo riferimento alla differenza esistente fra scrittura storiografica e romanzo, fra fiction e non-fiction: En Soldados de Salamina hay un punto en que ya la historia no puede iluminar más, porque la historia trabaja con documentos, con hechos, con la verdad histórica que es una verdad factual, concreta, precisa. […]. La novela no trata de eso, trata de una verdad moral, universal, que les ocurre a todos los hombres y a todas las mujeres. La historia tiene prohibido inventar; la novela tiene la obligación de inventar. Entonces, en Soldados de Salamina, por ejemplo, había un episodio que con los instrumentos de la historia o del periodismo no se podía iluminar porque había un momento en que ya no se podía saber más (quién era el soldado).63

Il “punto ciego” che la ricerca storica non riesce a illuminare non si configura solamente come lacuna documentale: esso solleva degli interrogativi – chi era il 61 Cercas (2001), pp. 169–170. 62 Fino a questo punto l’indagine sulla vicenda di Sánchez Mazas da parte del narratore corrisponde sostanzialmente con quella che l’autore ha effettivamente condotto nella realtà. Per una ricostruzione di tutta la vicenda e un confronto fra finzione narrativa e realtà fattuale nell’elaborazione del libro cfr. Cercas / Trueba (2003), pp. 11–22; 59–70; 116–132. 63 Cercas / Samson (2013), p. 159.

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miliziano e perché aveva agito in quel modo? – che non esigono tanto delle risposte di ordine fattuale, bensì di carattere etico ed esistenziale, le quali sono di pertinenza del romanzo64. In questo modo, Cercas sottoscrive la sentenza di Bolaño – “seguro que el [Miralles] inventado es más real que el real”65 – affermando il primato della fiction e giungendo a definire il “relato real” come un paradosso e una scelta impossibile, almeno per quanto riguarda Soldados de Salamina66. Il libro viene perciò ridefinito dal suo autore come romanzo tradizionale, nonostante il narratore avesse affermato il contrario, proprio in virtù della possibilità di mentire all’interno di un’opera di fiction67. Tuttavia, il fatto che lo scrittore spagnolo sia tornato più volte a riflettere su tale concetto nelle sue opere successive denota la consapevolezza di essersi sempre mosso – già a partire da Soldados de Salamina – al limite fra fiction e non-fiction, cioè fra patti di lettura opposti.

2.3

Il ‘patto con il diavolo’: Capote, Carrère, Cercas

Se in Soldados de Salamina il “relato real” risultava depotenziato di fronte alla capacità del romanzo di esprimere l’intento etico dell’autore, tale concetto viene riabilitato prima in Anatomía de un instante, in cui Cercas tratta l’evento più rilevante della storia nazionale contemporanea – il tentativo di colpo di Stato del 1981 – e infine ne El impostor, dove invece affronta il caso di Enric Marco, un uomo che nel 2005 era stato al centro di uno scandalo di risonanza internazionale per essersi finto vittima dell’Olocausto, sostenendo di essere sopravvissuto all’internamento nel campo di concentramento di Flossenbürg. La natura del tema trattato ne El impostor – il confronto con una figura tanto ambigua e moralmente discutibile – porta l’autore a prendere in considerazione come modelli formali proprio L’Adversaire di Carrère e il suo antecedente, il nonfiction novel di Capote, entrambi riconosciuti come casi esemplari di due modalità differenti di “novela sin ficción o relato real”68. In particolare, la riflessione di Cercas si concentra sulla scelta da parte di Carrère di raccontare la vicenda di Romand senza assentarsene, in prima anziché in terza persona, contrariamente 64 Cfr. Cercas / Arpaia (2013), pp. 42–43: “È a partire da quello sguardo tra il miliziano e Sánchez Mazas, da quel vuoto creato dall’impossibilità di rispondere alla domanda sul perché il miliziano salvi la vita al falangista, da quel ‘punto cieco’, che può partire il suo [del romanziere] percorso immaginativo”. 65 Cercas (2001), p. 170. 66 Cercas / Trueba (2003), p. 90. 67 Cercas / Arpaia (2013), pp. 42–43; Cercas (2014), p. 358. 68 Cercas (2014), pp. 170–171. Per una lettura de L’Adversaire come antecedente di El impostor cfr. Cinquegrani (2016), pp. 61–77.

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allo stile impersonale di Capote. La modalità formale messa a punto dallo scrittore parigino è anche quella prediletta da Cercas nello stesso El impostor e nel successivo El monarca de las sombras: essa si concretizza in una struttura bipartita che affianca alla narrazione dei fatti la ricostruzione dell’indagine e dell’elaborazione del testo stesso dal punto di vista dell’autore. Se il narratore autofinzionale di Soldados de Salamina aveva una funzione prettamente testimoniale e serviva da catalizzatore di un’istanza collettiva69, ne El impostor questa figura che arriva a coincidere con l’autore ha il ruolo di esplicitare il forte coinvolgimento personale di quest’ultimo, dovuto alle implicazioni etiche del confronto con l’impostore Marco. Tuttavia, Cercas mette in dubbio che questa stessa esposizione di sé e delle proprie ragioni possa davvero svolgere la funzione che Carrère aveva auspicato, cioè assolvere l’autore dalla vergogna di avere scritto un capolavoro grazie alla frequentazione di un criminale: ¿Tiene razón Carrère? ¿Se salvó él como persona, además de salvarse como escritor – El adversario es también una obra maestra –, al incluirse en su relato de la impostura criminal de Jean-Claude Romand? ¿Iba a salvarme yo, como escritor y como persona, si […], al menos no hacía como Capote y no contaba en tercera sino en primera persona mi relación con el protagonista de mi libro, sin repudiar las dudas y los dilemas morales que enfrentaba al escribirlo, igual que había hecho Carrère? […] ¿Bastaba reconocer la propia vileza para que ésta desapareciese o se convirtiese en decencia? ¿No había que asumir simplemente, honestamente, que, para escribir A sangre fría o El adversario, había que incurrir en algún tipo de aberración moral y por lo tanto había que condenarse? […] En definitiva: ¿era posible escribir un libro sobre Enric Marco sin pactar con el diablo? [Cors. d. A].70

Raccontare la storia di Enric Marco in prima persona non esenta l’autore dal contaminarsi con l’impostore; viene così a stabilirsi una corrispondenza diabolica fra romanziere e mentitore, laddove la tipica facoltà della fiction – la libertà d’invenzione – viene letta come un elemento carico di ambiguità e potenzialità negative. Del resto, un’identificazione dello scrittore con l’assassino-impostore Romand era già presente ne L’Adversaire di Carrère, tanto che la decisione di parlare a proprio nome, anziché a quello di Romand, è anche legata al desiderio di sfuggire al vuoto d’identità che si cela dietro a quest’ultimo, come ha messo in evidenza Alessandro Cinquegrani nella sua indagine sul rapporto fra verità e menzogna all’interno delle opere dei due autori71. Tale strategia non è sufficiente secondo lo scrittore spagnolo per liberarsi dal peso di una simile identificazione: per Cercas il ‘patto con il diavolo’ non prevede alcuna possibilità di assoluzione.

69 Cercas / Trueba (2003), pp. 22–27. 70 Cercas (2014), p. 173. 71 Cinquegrani (2016), pp. 66, 68–69, 84–85. Il titolo stesso del libro di Carrère è un riferimento all’Avversario biblico, ovvero il diavolo. Cfr. Carrère (2000), p. 26.

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Melanie Koch-Fröhlich (Albert-Ludwigs-Universität Freiburg)

Dégager la syntaxe du réel: Ivan Jablonkas texte-recherche im Grenzbereich zwischen Geschichtsschreibung und Literatur

1.

Einleitung

Wie kontrovers das Verhältnis von Geschichtsschreibung und Literatur diskutiert werden kann, sollen eingangs die Thesen zweier Historiker belegen, die in der Frage nach der Bewertung dieser komplexen Beziehung zu höchst unterschiedlichen Ergebnissen kommen. „Il n’empêche“, so schreibt Pierre Nora in Présent, nation, mémoire, que, par principe, les deux genres sont irréductiblement séparés et s’opposent même radicalement. Il est entendu que le roman ne relève que de la pure imagination, qu’il est affranchi des contraintes de la réalité temporelle […]. Deux ambitions concurrentes de connaissance de l’homme et de la société, donc, différentes et contraires: l’une historique et scientifique, l’autre existentielle et artistique.1

Unter gänzlich anderen Prämissen begreift dagegen Patrick Boucheron das Interesse der Geschichtswissenschaft an fiktionalen Texten, deren vorrangiges Ziel es sei, im Dienst der Erkenntnis über das Leben zu stehen: Le roman, notamment, naît (et renaît sans cesse) de sa volonté farouche de dire le vrai sur notre temps. Et sa vérité, parce qu’elle frappe l’imagination et s’inscrit dans l’expérience vécue du lecteur, est d’une essence supérieure à celle qu’établit péniblement l’historien, qui n’est rien d’autre qu’une exactitude vétilleuse.2

In dieser historiografischen Debatte um das epistemologische Potenzial literarischer Deutungs- und Gestaltungsweisen von Geschichte situiert sich der hier im Mittelpunkt stehende Historiker und Schriftsteller Ivan Jablonka in geistiger Nähe zu Boucheron. Ohne die seinem Verständnis nach legitime Trennung von fiktionalem und historischem Erzählen in Zweifel zu ziehen, bringt Jablonka beide Darstellungsformen von Vergangenheit in einen produktiven Dialog, der Gegenstand des vorliegenden Beitrags ist. Mit seiner 2012 publizierten Famili1 Nora (2011), S. 117. 2 Boucheron (2011), S. 42.

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enbiografie Histoire des grands-parents que je n’ai pas eus erhebt der Autor Anspruch auf ein Genre, das der in seinen Augen längst hinfällig gewordenen Differenzierung zwischen Geschichtsschreibung und Literatur ein neues Disziplinverständnis entgegensetzt. Schon die dem Titel eingeschriebene Absenz – stilles Gedenken an den Tod der polnischen Großeltern in Auschwitz – verweist auf ein Geschehnis, das es aus dem bruchstückhaften Wissen des Nachgeborenen so wahrheitsgetreu wie nur irgend möglich zu rekonstruieren gilt. Zur unverzichtbaren Quellenakribie des Wissenschaftlers gesellt sich die Erzählkunst eines Schreibers, der das narrative Arsenal des Philologen als erkenntnistheoretisch relevanten Zugang zur Vergangenheit begreift. Entstanden nach den Vorgaben der in L’Histoire est une littérature contemporaine (2014) zwei Jahre später offengelegten Theorie, schuf Jablonka mit der Histoire des grands-parents ein Gattungsgrenzen überschreitendes Werk, dem ein Individualschicksal zum besseren Verständnis kollektiver Geschichte dienen soll und umgekehrt. Der Artikel setzt sich zum Ziel, die spezifischen Techniken dieser disziplinübergreifenden Verfahrensweise auf ihre Wirksamkeit und Funktionalität hin zu befragen: Welche fiktionalen Instrumente erweisen sich zur Sichtbarmachung und Vermittlung historischer Zusammenhänge als besonders effizient und welchen Zwecken dienen sie? Inwiefern ist die das Objektivitätsgebot der Geschichtswissenschaft missachtende Rehabilitierung des Subjekts der angestrebten Wahrheitssuche förderlich? Zur Diskussion steht außerdem die Frage, ob die vom Autor erprobte Gattungsform jenen methodologischen Grundsätzen Genüge leistet, die der texte-recherche der eigenen Theorie gemäß erfüllen soll. Um zu verstehen, wie und wo sich Jablonkas methodologischer Ansatz innerhalb des Felds der Geschichtswissenschaft verorten lässt, gilt es zuallererst, aktuelle Entwicklungen und Tendenzen einer im Wandel begriffenen Disziplin zu beleuchten.

2.

Gedächtnis und Geschichte: von Widersachern zu Bündnispartnern

Den Status quo der Geschichtswissenschaft hat vor wenigen Jahren der Historiker Nicolas Offenstadt festgehalten. Unter dem schlichten Titel L’Historiographie resümiert der Autor mit der für die Publikationsform gebotenen Präzision – der Band erschien 2017 in der enzyklopädischen Reihe Que sais-je – die Herausforderungen und Chancen einer Disziplin, die seit Noras unzweideutiger Rede von der „tyrannie de la mémoire“3 in ein Konkurrenzverhältnis mit all 3 Dieses vielzitierte Diktum schließt Noras dritten Band zu den Lieux de mémoire: Nora (1992), S. 4715.

Dégager la syntaxe du réel: Ivan Jablonkas texte-recherche

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jenen Diskursen getreten sei, die sich unter dem Sammelbegriff der Erinnerungskulturen subsumieren lassen.4 Während der einleitend beispielhaft zitierte Nora die Einmischung höchst unterschiedlich organisierter Erinnerungsgruppen in die Geschichtswissenschaft als Gefahr für deren Anspruch auf Homogenität und Objektivität erachtet,5 plädiert hingegen Offenstadt für einen vorurteilsfreien Dialog zwischen sämtlichen an der Aufarbeitung der Vergangenheit beteiligten Akteuren: A l’opposition ‚la mémoire divise et l’histoire seule réunit‘ […], il convient plutôt de substituer une relation dialogique, faite de tensions créatrices, de fécondations réciproques et parfois, aussi, nécessairement, de mises à distance et de désaccords.6

Eine solche von Neugierde und Offenheit geprägte Wissenschaftspraxis habe mittlerweile unter Historikern die Oberhand gewonnen, seien diese doch mehrheitlich gewillt, der sozialen Dimension von Vergangenheit sowie der eigenen Subjektivität größere Beachtung als bislang zu schenken. Zunehmend entstünden Texte, die – ähnlich wie Jablonkas Histoire des grands-parents – persönliche Familiengeschichten zum wissenschaftlichen Untersuchungsgegenstand erklärten. Eng verbunden mit der Forderung nach mehr Subjektivität ist bei Offenstadt die Frage nach dem Untersuchungsmaßstab. Wohingegen äußerst eng gefasste Analyseradien den Einfluss der italienischen microstoria verrieten, unterzögen wesentlich breiter angelegte Untersuchungsblickwinkel das gewählte Thema einer geografischen, kulturellen oder auch methodischen Öffnung.7 Diese in Gestalt und Umfang teils erheblich voneinander abweichenden Beobachtungsmaßstäbe müssten einander nicht widersprechen, sondern versprächen ganz im Gegenteil gerade dann einen besonderen Erkenntniswert, wenn man sie als komplementär erachte.8 Auf die Vorzüge einer derart synthetischen Betrachtungsweise hat auch Jablonka hingewiesen. Zwar folge seine

4 Die 2005 vom französischen Staat erlassenen lois mémorielles werden den beiden Historikern Offenstadt und Nora zum Anlass, in erinnerungskultureller Hinsicht getrennte Wege einzuschlagen. Während Nora als Zeichen des Protests gegen die staatliche Einmischung in das nationale Erinnerungsgeschehen zum Mitbegründer der Initiative Liberté pour l’histoire avanciert, positioniert sich Offenstadt innerhalb des Comité de vigilance face aux usages publiques de l’histoire für eine um Konsens bemühte Neuauslotung der Beziehung von Geschichte und Gedächtnis. Zur Kontroverse um die lois mémorielles vgl. auch Ledoux (2017), insbesondere S. 113–115. 5 Bereits 1978 führt Nora die Kategorie des Gedächtnisses in den wissenschaftlichen Geschichtsdiskurs ein und legt damit die Grundlage für die von diesem Zeitpunkt an kontinuierlich weiterverfolgte Hierarchisierung von histoire und mémoire: „L’histoire s’écrit désormais sous la pression des mémoires collectives.“ Nora (1978), S. 400. 6 Offenstadt (2017), S. 118. 7 Vgl. ebd., S. 90–92. 8 Vgl. ebd., S. 92–94.

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Histoire des grands-parents einer „historiographie du minuscule“,9 der gewählten thematischen Beschränkung zum Trotz aber reflektiere die großelterliche Biografie den Lebensweg zweier Menschen vor der soziopolitischen Kulisse der Makrogeschichte, um aus diesem maßstabsübergreifenden Deutungswinkel einen neuen Sinnzusammenhang zu generieren: […] l’enjeu étant d’inventer de nouvelles formes d’écriture et de transmission, tout en approfondissant la réflexivité historienne. J’ai aussi énuméré mes questionnements: la dialectique entre individus, génération et structures sociales; l’interpénétration entre identité juive, culture yiddish et militantisme communiste; la cohérence d’un parcours à la fois libre et contraint ; l’échec d’une intégration ; le lien entre trois types de persécution, anti-communiste, anti-étrangers et antisémite. Si certaines de ces pistes débouchent sur une global history transversale et rétive aux découpages préétablis, d’autres mènent à la micro-histoire.10

Ja, unmissverständlich warnt der Familienbiograf anderenorts vor den Risiken einer mit unangemessener Kurzsichtigkeit agierenden Mikrogeschichte: En définitive, le murmure du quotidien n’est intéressant, la fixation de l’éphémère et de l’inimportant n’est utile que s’ils donnent lieu à un jeu de focale qui varie les points de vue, emboîte les contextes, renoue les passés, ne dédaigne pas une interrogation sur la généralité et le représentatif. Surtout, ce type d’expérience exige d’être fondé scientifiquement.11

Dem bei Offenstadt geschichtshistorisch rekapitulierten Konfliktgefälle zwischen histoire und mémoire nimmt Jablonka seine vermeintliche Brisanz, indem er sich auf eine zwischen beiden Polen um Ausgleich bemühte Mittlerposition begibt, die seinem Selbstverständnis als Vertreter einer „nouvelle historiographie de la Shoah“12 gerecht wird. Für den mit dieser Bezeichnung suggerierten Paradigmenwechsel sei das Prädikat „nouvelle“ in gleich zweierlei Hinsicht konstitutiv: So beziehe es sich erstens auf eine neue Form von Geschichtsschreibung, die von der sogenannten dritten Generation – „l’historiographie des petits-enfants“13 praktiziert und vorangetrieben werde (Jablonka selbst ist Jahrgang 1972). Gleichzeitig stünde es zweitens für einen methodischen Erneuerungsimpuls und damit für eine Historiografie, die mémoire und histoire als dynamische epistemologische Einheit denke: […] la mémoire se nourrit de savoir, elle n’est rien sans lui et court le risque de s’appauvrir en se coupant de la recherche. Par conséquent, le renouvellement de l’historiographie nourrit une autre manière de se souvenir. Au ‚devoir de mémoire‘, préférons la liberté de 9 10 11 12 13

Jablonka (2012b), S. 56. Jablonka (2013), S. 98. Jablonka (2012b), S. 56f. Jablonka (2013), S. 91. Ebd., S. 102.

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241

l’histoire […]. C’est en ce sens que la biographie familiale que j’ai tentée, fondée sur des archives et des entretiens, permet de lutter contre l’ossification de la mémoire.14

Vehement widerspricht Jablonka der Vorstellung eines Zuviels an Erinnerung15 oder – bezugnehmend auf Roussos Le syndrome de Vichy16 – der seiner Meinung nach falschen Intention, dem Kollektivgedenken an die Shoah einen pathologischen Charakter unterstellen zu wollen: „La France n’est pas malade de son passé. Et ce passé ne doit pas ‚passer‘: il doit rester un objet d’étude, une source de réflexion, mais aussi une béance, une stupéfaction.“17 Mit der Frage, wie dem Historiker eine solch kontinuierliche Erneuerung der Erinnerungsmodi gelingen kann, befasst sich Jablonka ausführlich in seinem programmatischen Essay L’Histoire est une littérature contemporaine.

3.

Der texte-recherche zwischen Historiografie und Literatur

Schon im Titel verweist Jablonka auf den maßgeblichen Beitrag der Literatur an diesem Innovationsprozess. Mit seinem Essay unternimmt der Autor den Versuch, der lange vor ihm bereits durch andere Intellektuelle wie Hayden White und Paul Ricœur angestoßenen Debatte über die Literarizität der Historiografie18 neue richtungsweisende Impulse zu verschaffen. In Fortsetzung der zentralen These seiner Vordenker, wonach narratologische Strukturen als sinnstiftendes Element der Geschichtsschreibung aufzufassen sind, verteidigt Jablonka eine Aufbereitung und Verfügbarmachung von Geschichte, an der Literatur und Historiografie aus gemeinsamem kognitivem Interesse heraus in gleichem Maße partizipieren müssten: L’écriture de l’histoire: évidence ou péril? Toute histoire serait littérature? Aucune histoire ne serait littérature? La seule manière d’échapper à ce balancement stérile, c’est de faire en sorte que l’aspiration littéraire du chercheur ne soit pas un renoncement, une récréation après le ‚vrai‘ travail, un repos du guerrier, mais un bénéfice épistémologique; qu’elle signifie progrès réflexif, redoublement d’honnêteté, surcroît de rigueur, mise au jour du protocole, discussion des preuves, invitation au débat critique.19

Dringlicher noch als White und Ricœur aber legt Jablonka dabei Wert auf den Stellenwert des Schreibens als elementarem Teil der Wissensgenese. Jedweden 14 Ebd., S. 97. 15 In diesem Sinn zeugt Régine Robins Buch La mémoire saturée von der Schwierigkeit, das richtige Maß an Erinnerung zu finden: „Si l’on fait un rapide tour du monde, il est difficile de trouver un endroit où on tendrait vers une juste mémoire.“ Robin (2003), S. 9. 16 Rousso (1987). 17 Jablonka (2013), S. 103. 18 Vgl. insbesondere White (1973) und Ricœur (1991). 19 Jablonka (2014), S. 13.

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Bestrebungen, zwischen einer rein ästhetisch geleiteten écriture und einer ausnahmslos der Wahrheit verpflichteten méthode trennscharf differenzieren zu wollen, erteilt er eine klare Absage; stattdessen führt er beide Instrumente der Erkenntnis im Kompositum der „écriture-méthode“20 zusammen. Das Ergebnis ist eine Verstehensweise, die wissenschaftliche Methodik und ästhetisches Kalkül nicht nur aufeinander zubewegt, sondern aus ebendieser Verbindung einen epistemologischen Mehrwert erzeugt: „[…] l’intelligence du passé a expressément besoin d’intrigue, de mise en scène, de descriptions, de portraits, de figures de style“.21 Erst mittels der Sprache, so Jablonka weiter, sei der für die Wissensproduktion zwingend notwendige Verarbeitungsprozess vom historischen Faktum als beziehungsloser Rohmaterie (le „réel“) zur historischen Erkenntnis („le vrai“) erfolgreich zu vollziehen: Un gouffre sépare le petit fait vrai, donné comme tel, et la production de connaissances. […]. Le réel est la chose brute donnée dans son in-signification, alors que le vrai, résultat d’une opération intellectuelle et facteur de connaissance, concourt à l’intelligibilité.22

Wie aber kann es gelingen, aus der Masse an bloßen Fakten die im Titel des Beitrags prominent erwähnte „syntaxe du réel“23 zu dechiffrieren? An ebendiesem Punkt kommt bei Jablonka die écriture ins Spiel: Ihr falle die wichtige Aufgabe zu, all jene Mittel bereitzustellen, mithilfe derer aus dem inkohärenten Anfangsmaterial ein sinnhaftes Ganzes herzustellen sei. Derartige von Jablonka als „fictions de méthode“ benannten Instrumente der Fiktionalisierung24 dürfe der Historiker demnach nicht als ästhetischen Selbstzweck, sondern als bedeutungstragende Kategorie des geschichtlichen Denkens verstehen: „Quand je dis une histoire plus littéraire, j’entends plus rigoureuse, plus transparente, plus réflexive, plus honnête avec elle-même. Car l’histoire est d’autant plus scientifique qu’elle est littéraire“.25 Für die noch ausstehende Analyse der Histoire des grands-parents sind drei dieser narrativen Strategien von besonderem Interesse.

20 Ebd. 21 Ebd., S. 106. Vgl. hierzu auch ebd., S. 139: „La narration n’est donc pas le carcan de l’histoire, son mal nécessaire; elle constitue au contraire l’une de ses plus puissantes ressources épistémologiques.“ 22 Ebd., S. 128. 23 Ebd., S. 140. 24 Dem etymologischen Ursprung nach geht fiction auf das lateinische Verbum facere zurück. Auf der Grundlage dieses Entstehungskontexts charakterisiert Jablonka Prozesse der Fiktionalisierung primär als zweckdienlichen und schöpferischen Akt, anstatt diese mit Künstlichkeit und Imagination zu assoziieren: „Tous ces outils sont des fictions de méthode, au sens initial de fictio, c’est-à-dire des fabrications intellectuelles capables de s’écarter des faits précisément pour penser les faits“ (ebd., S. 206). 25 Ebd., S. 212.

Dégager la syntaxe du réel: Ivan Jablonkas texte-recherche

3.1

243

Estrangement

Unter Zuhilfenahme des Brechtschen Verfremdungseffekts weist Jablonka dem bereits gefallenen Begriff der „stupéfaction“ die Funktion eines erkenntnistheoretisch relevanten Fiktionalisierungsmittels zu. Damit verbunden ist ein Appell an den Historiker, vermeintlich Wohlvertrautes in seiner stets wandelbaren Andersartigkeit zu reflektieren. Erst die so errichtete kritische Distanz erlaube es dem Forschenden, die dem Untersuchungsgegenstand zugrundeliegende Tiefenstruktur vollumfänglich zu durchleuchten. Für die Auslösung eines solchen „processus de défamiliarisation“26 wiesen die schon in der Literatur des Siècle des Lumières bemühten Figuren des Fremden und des Reisenden eine besondere Eignung auf, ebenso wie auch jene des von Hannah Arendt positiv instrumentalisierten wissensdurstigen Parias.27

3.2

La plausibilité

Zu den größten an den Historiker gestellten Herausforderungen aber gehöre es, die zu erzählende Geschichte in ihrer Prozesshaftigkeit und Wahrscheinlichkeit darzustellen: „L’histoire peut parfaitement se conjuguer au conditionnel“.28 Diese Vorgehensweise setze den kontinuierlichen Dialog mit einem Leser voraus, der in die Erschwernisse der Recherche involviert sein müsse. Für eine erschöpfende mise en récit der Vergangenheit sei der Mut zur Hypothese unabdingbar: La recherche historique que je propose est livrée dans son entier – sculpture, burin et éclats –, dans la durée de son travail (comme on dit qu’une structure ‚travaille‘), dans l’épaisseur de sa genèse, de sa réalisation et de son inachèvement, tant il est vrai que le résultat d’une recherche est inséparable non seulement du processus épistémologique qui y conduit, mais des difficultés méthodologiques qu’elle a soulevées et continue de soulever.29

In Übereinstimmung mit Jablonka plädiert auch die Historikerin Mona Ozouf für eine an den Regeln der Wahrscheinlichkeit orientierte Praxis der Geschichtsschreibung: „Il n’est pas inutile de refaire l’histoire avec des ‚si‘.“30 Ein

26 Ebd., S. 198. 27 Ebd., S. 162. So sei allein dem Paria gegeben, die „wahren Realitäten“ des Lebens zu erkennen. Vgl. Arendt (1959), S. 210. 28 Ebd., S. 200. 29 Jablonka (2012b), S. 44. 30 Ozouf (2016), S. 18. Auch so manch ein Romancier scheint sich dieses Credo des „Was-wäregewesen, wenn“ auf die Fahnen geschrieben zu haben. Man denke insbesondere an Laurent

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solcher Wissenschaftsgestus mache sich dadurch verdient, historische Unbestimmtheiten nicht zu kaschieren, sondern Geschichte in ihrer Kontingenz begreiflich zu machen: Elle [la fréquentation des romanciers] les contraint à reconnaître la part du contingent et de l’intempestif dans l’histoire des hommes. A lutter aussi contre une de leurs plus constantes tentations: le fait de connaître la fin de l’histoire qu’ils racontent les inclinent en effet à croire que tout menait de façon inéluctable à cette fin et pas à une autre […]. La pente de la rationalité explicative, en histoire, est de conclure que ‚ce n’est pas un hasard si…‘ La pente du romancier est de montrer qu’une fois les personnages embarqués sur le tapis roulant du roman il peut leur arriver n’importe quoi.31

3.3

Le Je de méthode

Ohne ein subjektiv intervenierendes Ich aber führe, so Jablonka, der soeben geschilderte „historische Nachdenkprozess“32 in eine epistemologische Sackgasse: „Le ‚je‘ est ce pronom tabou qui fait passer du mode objectif au mode réflexif […].“33 Damit bereichert Jablonka den wissenschaftlichen Diskurs um eine Instanz, der die Historikerzunft unter Verweis auf die methodisch gebotene Objektivität traditionell höchste Skepsis entgegenbringt.34 Er selbst aber erklärt ein solches Misstrauen für kontraproduktiv und argumentiert: Nur wer emotional an seinen Forschungsgegenstand gebunden sei, könne den für das gute Gelingen des Projekts erforderlichen Eifer an den Tag legen: En intégrant la subjectivité du chercheur dans la narration, le ‚je‘ rend le propos plus objectif: il éclaire la position d’où l’on parle, les circonstances de l’enquête, les tenants et aboutissants du raisonnement, les certitudes et les doutes.35

Welche Rolle den genannten Verfahren der reflexiven Distanzierung und Subjektivierung sowie der Frage nach Kontingenzen in Jablonkas Familienbiografie beikommt, sollen die nachfolgenden Überlegungen zeigen.

31 32 33 34 35

Binets kontrafaktische Fiktionen Le septième fonction du langage (2015) und Civilizations (2019). Ebd., S. 18. Fickers (2017), S. 32. Jablonka (2014), S. 290. Vgl. etwa Dominique Viart: „Il n’est pas d’usage pour un historien de travailler sur son propre cas, au risque de confondre méthode historique et bricolage mémoriel […].“ Viart (2016), S. 88. Jablonka (2014), S. 301–302.

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4.

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Histoire des grands-parents que je n’ai pas eus: une enquête

Ein kurzer Blick in Jablonkas großelterliche Biografie genügt, um die hybride Werkstruktur zu überschauen. Auffallend ist zunächst das durch Umfang und Quellenvielfalt hervorstechende Endnotensystem. Noch in Temps et récit befand Ricœur die Quellenkonsultation als jenes Alleinstellungsmerkmal der Historiografie, das diese vom Roman unwiderlegbar scheide: „[…] le recours au document signale une ligne de partage entre histoire et fiction: à la différence du roman, les constructions de l’historien visent à être des reconstructions du passé.“36 Mittlerweile aber haben diese trennscharfen Grenzen kaum noch Bestand, denn auch Schriftstellerinnen und Schriftsteller rekurrieren immer häufiger, so die leicht überprüfbare Beobachtung Viarts, auf historisches Quellenmaterial, um ihr subjektives Wissen entweder zu erhärten oder auch zu korrigieren: „[…] la littérature actuelle s’attache […] à des ‚documents‘ et se fait littérature d’archives, d’enquête, d’investigation […], elle s’appuie sur des traces matérielles.“37 In Jablonkas Biografie ist die historische Akribie mit einer literarischen Eleganz gepaart, die schon das Incipit kultiviert und sich im weiteren Verlauf des Buchs konsequent fortsetzt.38 Die Hybridität des texte-recherche belegen dabei nicht nur die Verflechtungen zwischen historiografischer Recherche und Ästhetik, zwischen Wissenschaftsanspruch und Affekt, sondern auch jene zwischen Mikro- und Makrogeschichte: „La distinction entre nos histoires de famille et ce qu’on voudrait appeler l’Histoire, avec sa pompeuse majuscule, n’a aucun sens. C’est rigoureusement la même chose“.39 Zwar rekonstruiert Jablonka das persönliche Schicksal seiner Großeltern; diesem individuellen Untersuchungsblickwinkel zum Trotz aber wird das von ihnen Erlebte Teil einer gesamtgesellschaftlichen Dimension. Denn schließlich könnten die Ida und Matès in Polen und Frankreich widerfahrenen Mechanismen der Ausgrenzung nur dann in ihrer Spezifizität beurteilt werden, wenn sie im vergleichenden Blick auf andere zeitgenössische Schicksale sozialhistorisch eingeordnet würden: „[…] car une biographie ne vaut que si elle donne lieu à des compar36 Ricœur (1991), S. 253. 37 Viart (2009), S. 26. 38 Augenfällig ist bei Jablonka der ausgeprägte Hang zum Metaphorischen. Diese Neigung manifestiert sich schon im Incipit, und zwar in Form eines Appels zum Gedenken der Verstorbenen: „Ces poussières du siècle ne reposent pas dans quelque urne du temple familial; elles sont en suspension dans l’air, elles voyagent au gré des vents, s’humectent à l’écume des vagues, paillettent les toits de la ville, piquent notre œil et repartent sous un avatar quelconque, pétale, comète ou libellule, tout ce qui est léger en fugace. Ces anonymes, ce ne sont pas les miens, ce sont les nôtres. Il est donc urgent, avant l’effacement définitif, de retrouver les traces, les empreintes de vie qu’ils ont laissées, preuves involontaires de leur passage en ce monde.“ Jablonka (2012), S. 10. 39 Ebd., S. 163.

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aisons entre individus: l’étude de la neige humaine doit révéler à la fois la force d’entraînement de l’avalanche et la délicatesse irréductible du flocon.“40 Fraglos liegt Jablonkas überdurchschnittlich hohe Betroffenheit in der Wahl des Forschungsgegenstands begründet. Den theoretischen Prinzipien der L’Histoire est une littéraire contemporaine gemäß aber wirke sich diese außerordentlich produktiv auf die angestrebte Wahrheitssuche aus: J’ai cherché à être non pas objectif – cela ne veut pas dire grand-chose, car nous sommes rivés au présent, enfermés en nous-mêmes –, mais radicalement honnête, et cette transparence vis-à-vis de soi implique à la fois la mise à distance la plus rigoureuse et l’investissement le plus total.[…] Il est vain d’opposer scientificité et engagement, faits extérieurs et passion de celui qui les consigne, histoire et art de conter, car l’émotion ne provient pas du pathos ou de l’accumulation de superlatifs: elle jaillit de notre tension vers la vérité. Elle est la pierre de touche d’une littérature qui satisfait aux exigences de la méthode.41

Zusätzlich verstärkt wird diese emotionale Nähe durch eine Bindung geografischer Natur, beherbergt doch das Pariser Stadtviertel Belleville-Ménilmontant nicht nur Jabonkas gegenwärtige Zuhause, sondern auch jenen im Stadtgedächtnis noch präsenten letzten Unterschlupf der Großeltern, der am Tag ihrer Deportation ins Internierungslager Drancy einer Polizeirazzia anheimfiel. Alltag und Gedenken sind folglich für den Familienbiografen allein schon räumlich betrachtet eins. Kein Wunder also, dass Jablonka der „passage d’Eupatoria“ – jener Sackgasse, die sich für Ida und Matès buchstäblich als Einwegstraße in den Tod erweisen sollte – in einem aufwändig recherchierten Kapitel mit dem sinnträchtigen Titel „passage d’Eupatoria – mode d’emploi“ eigens nachgeht. Auch wenn es dem Historiker verwehrt bleibt, die exakten Umstände der am 25. Februar 1943 erfolgten Verhaftung zu identifizieren und er bei einer lückenlosen Rekonstruktion zwangsläufig auf die bequeme Hilfe seiner Fantasie angewiesen wäre,42 so gelingt es ihm doch, ein nahezu vollständiges Gesamttableau über die rasch wechselnde Bewohnerschaft jener Jahre zu skizzieren: Je présente dans les lignes qui suivent la synthèse de leurs témoignages [ceux des descendants des anciens habitants] croisés avec les recensements de population, en essayant de dresser pour l’année 1942–1943 un tableau d’autant plus hypothétique que,

40 Ebd., S. 95. 41 Ebd., S. 363–364. 42 „Je pourrais inventer un bruit de pas dans l’escalier, des coups assénés contre la porte, un réveil en sursaut. Mais je veux que mon récit soit indubitable, fondé sur des preuves, au pire des hypothèses et des déductions, et, pour honorer ce contrat moral, il faut tout à la fois assumer ces incertitudes comme faisant partie d’un récit plein et entier et repousser les facilités de l’imagination, même si elle remplit merveilleusement les blancs“ (ebd., S. 265).

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comme dans tous les taudis du monde, les locataires vont et viennent. Passage d’Eupatoria, mode d’emploi.43

Im Rekurs auf Georges Perec, der mit La vie, mode d’emploi für ein Pariser Mietshaus eine ähnlich komplexe Inventarisierung ersonnen hatte,44 begibt sich Jablonka auf die fast schon detektivische Spurensuche nach Überbleibseln in einer Stadt, die – wie so viele andere urbane Räume auch – im Laufe der Jahrzehnte ihr Gesicht mancherorts bis zur Unkenntlichkeit verändert hat.45 Auf seinen Streifzügen durch das Paris des 21. Jahrhunderts betreibt er jene Archäologie des „infra-ordinaire“,46 welche die unter der sichtbaren Stadtlandschaft ruhenden (Erinnerungs-)Schichten Stück für Stück zutage fördert: De cette pièce louée au nom de Constant il ne reste rien aujourd’hui: les hommes ont été détruits en premier, ensuite les murs derrière lesquels ils tentaient de se cacher. C’est bien après la guerre, dans les années 1960, que les bulldozers entrent en action. […] Le 37 rue des Couronnes, le premier gourbi de mon père (peut-être un hôtel borgne), disparaît lors des travaux d’élargissement de la rue Vilin, la rue d’enfance de Perec, elle-même raccourcie aux trois quarts pour faire place aux massifs de fleurs du parc de Belleville, cette oasis urbaine où je lis W ou le souvenir d’enfance de Perec pendant que mes filles courent comme des folles avec leurs copines.47

Das Ergebnis ist ein gigantisches Stadtpalimpsest, dessen verschachtelte Architektur, die Vergangenes und Gegenwärtiges ineinanderschiebt, nicht nur Erinnerungen an den im Text namentlich genannten Perec, sondern auch an die literarisch konzipierten Stadtphilosophien einer Cécile Wajsbrot oder eines Patrick Modiano zu wecken vermag.48 Jenseits möglicher Parallelen aber macht Jablonkas urbanes Erinnerungskonstrukt insbesondere ersichtlich, wie sehr der Historiker auf jene Bereitschaft zur Hypothesenbildung angewiesen ist, von der in der theoretischen Hinführung zur Histoire des grands-parents bereits die Rede war. Das permanente Jonglieren mit Wahrscheinlichkeiten zählt daher zu den epistemologischen Grundprinzipien des Buchs. Vielfach sieht sich der Biograf zur Formulierung von Thesen gezwungen, die im Helldunkel der Hypothese verbleiben. Wo Zweifel am Gesagten bestehen, bietet sich der Rekurs auf Literatur, Film und Fotografie als ein ebenso willkommener wie adäquater Kunst43 Ebd., S. 243. 44 Vgl. Perec (1978). 45 Der kosmopolitische Charakter des Viertels aber blieb über die Zeit hinweg erhalten. Das Belleville der 1930er Jahre beschreibt Jablonka als „un patchwork de populations, une tour de Babel étendue sur 5 kilomètres carrés“ (ebd., S. 145). 46 Der Begriff spielt an auf Goerges Perecs gleichnamiges Buch: Perec (1989). 47 Jablonka (2012), S. 242. 48 Dass die genannten Autorinnen und Autoren nur zwei Beispiele unter vielen sind, beweist die von Ursula Bähler zu den figurations de la ville-palimpseste herausgegebene Publikation: Vgl. Bähler (2012).

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griff an, um Vermutetes noch einleuchtender erscheinen zu lassen. Mit welchen Worten Jablonkas Urgroßvater die kommunistischen Umtriebe seines Sprösslings Matès einst vermaledeite, wird dem Enkel für immer ein Rätsel sein. Wohl aber lässt sich dieser für Zeit und Milieu nicht untypische Generationenkonflikt umso plausibler rekonstruieren, als andere zeitgenössische Quellen von vergleichbaren familiären Zerwürfnissen sprechen: Cette scène est un lieu commun. On la trouve dans l’admirable Jazz Singer d’Alan Crosland (1927), premier film parlant de l’histoire du cinéma, qui raconte la révolte d’un jeune jazzman contre son père chantre de synagogue. Pour se représenter l’altercation entre Matès et le vieux Shloymè, il suffit de remplacer ‚jazz‘ par ‚communisme‘.49

Ein weiterer Anlass zum synchronen Vergleich ergibt sich bei der Schilderung von Matès’ notgedrungener Flucht aus Polen ins französische Exil: Wie viele andere osteuropäische Juden sieht auch er dem in der Heimat schwelenden Antisemitismus mit immer größerer Besorgnis entgegen. Dieser schwindelerregenden Angst spürt der Enkel nach, indem er Fotografien des in Russland geborenen Roman Vishniac studiert – Bilder von ungeschminkter Krudität, die das prekäre jüdische Leben in Mittel- und Osteuropa vor der Zeit des Nationalsozialismus mit besonderer Drastik eingefangen haben: Rien ne reflète mieux ces années crépusculaires que les photographies de Roman Vishniac. De 1936 à 1938, pressentant que l’ombre du nazisme va s’abattre sur le continent, ce Juif russe réfugié à Berlin sillonne l’Europe de l’Est pour immortaliser les marchands ambulants, les porteurs d’eau, les vendeurs de beygels, les étudiants penchés sous leur lampe à pétrole, les vieillards clochardisés errant dans les rues, les enfants aux yeux agrandis par la faim.50

Nachfolgend ruft Jablonka wiederholt ins Gedächtnis, wie sehr sich Matès’ Außenseiterdasein – vom riskanten Leben eines in Polen verfolgten Mitglieds der Kommunistischen Partei hin zur Marginalisierung eines in Westeuropa unerwünschten Juden – ins Negative gewandelt hat: Ehemals verurteilt für das, was er tat, kämpft er im Frankreich der Vorkriegsjahre um das nackte Recht auf Existenz: Car le sans-papiers de Ménilmontant n’est plus le technik de Parczew: le second cesse d’être inquiété s’il décide de mettre un terme à ses activités, alors que le premier est d’emblée condamné à être coupable, n’étant autorisé ni à quitter le territoire ni à y demeurer. Au-delà du prétendu délit, c’est le déraciné qui est visé, l’intrus, le Juif dont personne ne veut, l’innocent qu’il faut maquiller en criminel.51

49 Jablonka (2012), S. 69. 50 Ebd., S. 100. 51 Ebd., S. 166.

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Die Beschreibung von Matès’ letzten Tagen in Auschwitz stellt Jablonka vor eine ungleich höhere Herausforderung. Die Lückenhaftigkeit seines Wissens akzeptierend bleibt dem Enkel nichts anderes zu tun, als eine ganze Serie an potenziellen Todesursachen – „typologie de destins possibles“ – in Betracht zu ziehen und diese Vielfalt an Hypothesen dem Leser auch als eine solche vorzuführen: On peut tout imaginer, liquidation, typhus, épuisement, suicide, évasion ratée, mais en vérité sa vie et mon récit n’ont pas de fin; Matès cesse d’être, sa vie s’effiloche comme les lambeaux de cadavres qui se mêlent à la terre des charniers, son existence quitte le monde. À la vérité, il n’y a pas de vérité, pas de lieu, pas de fait, seulement un no man’s land entre la vie et la non-vie, une absence soudaine, une volatilisation dont on ne prend conscience qu’une fois la paix revenue: Matès Jablonka n’est plus là.52

Ganz offensichtlich stößt Jablonka hier an die Grenzen des von dem italienischen Historiker Carlo Ginzburg formulierten Indizienparadigmas:53 Allen Errungenschaften der an der Shoah vollbrachten Erinnerungsarbeit zum Trotz konnte die von der Naziherrschaft bis zur Obsession betriebene Anonymisierung des Menschen nicht in Gänze verhindert werden: „Ce ‚paradigme indiciaire‘, consubstantiel de toute pratique historienne, devient écrasant lorsqu’on s’approche de la Shoah: le génocide nazi consistait à supprimer non seulement des vies humaines, mais les preuves du crime et jusqu’à la mémoire des victimes.“54 An den ins Feld geführten Beispielen hat sich gezeigt, welch großen emotionalen Eifer Jablonka investiert, um aus seiner ichbetonten Analyse den größtmöglichen epistemologischen Nutzen zu ziehen: „Avant de déterminer ce que nos problématiques doivent à la vie que nous vivons, il faut admettre que notre ‚moi de recherche‘ est partout présent, fût-ce silencieusement, et qu’il féconde chaque étape de l’opération historiographique.“55 Dass derart gefühlsgeleitete Forschungsimpulse bei Historikern oftmals auf Befremdnis, wenn nicht gar auf Ablehnung stießen, verschweigt Jablonka in diesem Kontext nicht: Mais il est rarissime que ces chercheurs parlent de leur famille en tant que chercheurs. Il y a, dans ce choix, un parti pris qui semble contraire aux bonnes mœurs académiques : faute de goût, manifestation de vanité, mégalomanie?56

Gleichwohl dürfe der Wissenschaftler nicht in die Versuchung geraten, den wissenschaftlichen Klarblick zu verlieren und die affektive Befangenheit auf ein unverhältnismäßig hohes Maß zu steigern:

52 53 54 55 56

Ebd., S. 355. Vgl. Ginzburg (1979). Jablonka (2012b), S. 59. Ebd., S. 43. Ebd., S. 46.

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Quels garde-fous dresser avant d’entreprendre l’histoire de ses proches? Détachement, non, sans doute, c’est trop demander; mais recul et discernement sont des ingrédients sine qua non. Pour être acceptable, l’affectivité en histoire ne requiert pas nécessairement des troisièmes personnes du singulier. En revanche, elle exige qu’on tourne le dos à l’apologie ou, dans mon cas, à la martyrologie.57

Angesichts der profunden Literaturkenntnis von Jablonka überrascht es nicht, dass er seine aus Sicht des Historikers geschriebene Theorie der Familienbiografie in die geistige Nähe all jener literarischen Produktionsprozesse rückt, die Schriftstellerinnen und Schriftsteller mit nicht minder gewichtigen Fragen konfrontiert haben. Sicherlich nicht ohne Grund evoziert Jablonka die mehrfach autobiografisch erprobte Annie Ernaux, deren intime Retrospektiven vielerorts soziologisch unterfüttert sind.58 Diese Sichtbarmachung der Verschränkung von individuellen, sozialen und historischen Gegebenheiten ist auch für Jablonkas Schreiben wesentlich: Un moi-problème construit sous le regard des sciences sociales. Incarné dans un texte, le moi devient un ‚je‘ compatible avec la méthode, point de contact entre un individu et le monde, intégration de tous les points de vue qu’il adopte, garantie d’un plus grand recul critique.59

5.

Fazit

Was aber bleibt, wenn am Ende der sorgfältig recherchierten Biografie jenes Gefühl der Ohnmacht buchstäblich das letzte Wort behält, das die optimistisch in Aussicht gestellte Narrativierung der Methode quasi für gescheitert erklärt? Pourtant, je n’éprouve aucune satisfaction. Je ne sais rien de leur mort et pas grand-chose de leur vie. Ils sont bourrelier et couturière, révolutionnaires du Yiddishland, persécutés pour ce qu’ils sont et pour ce qu’ils font, jusqu’à la fin de leur tragique existence; je suis un chercheur parisien, social-démocrate, presque un bourgeois. Mon franco-judaïsme assimilé contre leur judéo-bolchévisme flamboyant. Nous n’avons aucune langue en commun. Ce n’est pas seulement pour cela que je suis condamné à rester extérieur à leur vie. Il suffit de se prendre soi-même en exemple pour sentir le caractère dérisoire de mon pari: la somme de nos actes ne révèle pas ce que nous sommes, et quelques actes épars ne révèlent rien du tout. Après avoir brassé, réuni, comparé, recousu, je ne sais rien.60

Sehr zum Erstaunen des Lesers klafft in dieser Passage unvermittelt jene Diskrepanz zweier diametral einander gegenüberstehenden Lebensrealitäten auf, 57 58 59 60

Ebd., S. 49. Vgl. ebd., S. 46. Jablonka (2018), S. 47. Jablonka (2012), S. 364.

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die im scharfen Kontrast zu der dem Buch zugrunde gelegten methodologischen Prämisse steht, Gedächtnis und Geschichte als zwei sich wechselseitig befruchtende Formen der Vergangenheitserkenntnis zu begreifen. Ungeachtet dessen aber gelingt es dem Verfasser, den texte-recherche als ein probates Genre auszuweisen, um den Doppelcharakter der Familienbiografie zwischen Historie und Literatur samt des mit diesem Zwitterstatus verbundenen Erkenntnisinteresses glaubhaft zu vertreten. Und da gerade die das schreibende Ich lähmenden Zweifel als konstitutiv für die vielseitigen Formen zeitgenössischen historischen Erzählens betrachten werden dürfen,61 ist es womöglich nur konsequent, derlei Skrupel auch dem Historiker einzuräumen und diese als legitimen Bestandteil einer bei Jablonka primär dynamisch definierten Disziplin zu akzeptieren: „Nous nous projetons dans une réflexion toujours en mouvement, où le présent, rejointé au passé qui l’aspire, est une étape avant d’autres points de fuite.“62 Jedenfalls erfährt die Grundthese von der epistemologisch wertvollen Fiktionalisierung des Faktischen durch Jablonkas unverhohlen ausgesprochenes Eingeständnis des Misserfolgs keinen Abbruch. Allenfalls aber ruft dieses finale Verdikt noch einmal das Recht – und eben nicht die in bedeutungsleeren Ritualen zu versteinern drohende Pflicht – des Menschen auf Erinnerung ins Gedächtnis: „[…] car la mémoire n’est pas une maladie, mais un droit et un levain.“63 Dabei handelt es sich letzten Endes um ein Recht, das die Erinnerung vom Vorwurf des Übermaßes losspricht und zum unverzichtbaren hermeneutischen Instrument auch des geschichtlichen Denkens macht: „Nous avons le droit d’être meurtris, hantés, et celui d’exprimer notre peine en tant que fils, filles, petits-enfants, Juifs, historiens ou citoyens […].“64 Zwar gerät auch die gewählte Gattungsbezeichnung unter Jablonkas Selbstkritik ins Wanken: Biographie de mes grands-parents? Les mots sont mensongers. A peine prononcés, ils trahissent le foisonnement des êtres, bafouent leur liberté. Quand je dis ‚Juifs‘, je referme sur mes grands-parents la chape identitaire que, toute leur vie, ils ont voulu faire sauter pour embrasser l’universel.65

Nichtsdestotrotz lässt sich auch diesen ernüchternden Worten eine positive Wahrheit abgewinnen, erhebt doch Jablonkas Biografie den Anspruch – hierin ganz dem etymologischen Wortsinn entsprechend –, das an multiplen identitären Zugehörigkeiten teilhabende Leben der Großeltern nicht aus der Endper-

61 Vgl. etwa Mertz-Baumgartner: „C’est l’objectif principal du roman métahistorique […] de mettre en relief le clivage existant entre les événements du passé et leur appropriation rétrospective (individuelle et/ou collective).“ Mertz-Baumgartner (2010), S. 124. 62 Jablonka (2014), S. 135. 63 Jablonka (2013), S. 95. 64 Jablonka (2013), S. 95. 65 Ebd., S. 366.

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spektive des an den Juden verübten Genozids, sondern von der ihm eigenen Fülle und Vitalität her zu beschreiben: „Dans cette microhistoire familiale, les protagonistes sont des vivants, avec leurs révoltes et leurs échecs, leurs parcours et leur normalité, et non des êtres-pour-la-mort.“66 Aus ebendiesem Betrachtungsblickwinkel kann dann auch die von Viart dem récit de filiation attestierte „éthique de restitution“ in der Histoire des grands-parents ihren doppelten Sinngehalt entfalten, verstanden als narrative Ethik der Rekonstruktion wie auch als eine der Ehrerweisung: Au sens où dans ces textes le travail de restitution s’exerce selon les deux acceptions du terme: il s’agit à la fois de restituer une existence qui ne s’est pas dite, qui n’a donné lieu à aucun récit, à aucune transmission, parce que ceux qui l’ont vécu ne se sont pas accordés à eux-mêmes la légitimité suffisante pour le faire, ou parce que l’Histoire, en démentant leurs croyances et leurs idéaux, les a proprement délégitimés. Et, c’est le second sens de ‚restitution‘, de rendre par le récit leur dignité à ces vies défaites, ‚indignes‘, brisées par l’Histoire.67

In diesem zweifachen Sinn bleibt zu hoffen, dass die von Jablonka und anderen Historikerinnen und Historikern erfolgreich vorangetriebene Literarisierung von Geschichte auch weiterhin publikatorisch Wirkung zeigt. Neuere geschichtsund sozialwissenschaftliche Schriften scheinen dieser Tendenz zu folgen. Sie alle eint der Wunsch, die historisch gesicherte Erkenntnis um Wissensformen zu ergänzen, die auf subjektiv-emotional erlangten Einsichten basieren.68 Dass auch das literarische Feld ein ungebrochen hohes Interesse an der Entneutralisierung historischer Fakten zeigt, beweisen all jene Jury- und Publikumserfolge, die unlängst (auto)biografischen Familiengeschichten zuteilwurden.69 „Quelle croyance“, so bringt es die von Prousts Erinnerungspoetik hochgradig inspirierte Annie Ernaux in ihrem allerletzten autobiografischen Text in Form der Maxime auf den Punkt, „sinon celle que la mémoire est une forme de connaissance.“70

66 Ebd., S. 100. 67 Viart (2009), S. 28. 68 Zu nennen wären etwa La leçon de Vichy von Pierre Birnbaum (2019) und Une histoire de France von Nathalie Heinich (2020). 69 Beispielhaft sei verwiesen auf die Familienbiografien von Jean-Luc Coatalem (La part du fils, 2019), Santiago Amigorena (Le Ghetto intérieur, 2019) sowie Le Clézio (Chanson bretonne, suivi de L’enfant et la guerre, 2020). 70 Ernaux (2016), S. 88.

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Sekundärliteratur Bähler, Ursula / Peter Fröhlicher / Patrick Labarthe / Christina Vogel (Hg.) (2012): Figurations de la ville-palimpseste. Tübingen: Narr. Fickers, Andreas / Rüdiger Haude / Stefan Krebs / Werner Tschacher (Hg.) (2017): Jeux sans frontières? Grenzgänge der Geschichtswissenschaft. Bielefeld: transcript. Ginzburg, Carlo (1983): Spurensicherung. Die Wissenschaft auf der Suche nach sich selbst. Berlin: Wagenbach. Jablonka, Ivan (2014): L’Histoire est une littérature contemporaine. Paris: Seuil. Ivan Jablonka / Annette Wieviorka (Hg.) (2013): Nouvelles perspectives sur la Shoah. Paris: PUF. Jablonka, Ivan (2012b): „Ecrire l’histoire de ses proches“, in: Genre humain 52, S. 35–59. Ledoux, Pierre (2017): „La mémoire, mauvais objet de l’histoire“, in: Le Vingtième Siècle. Revue d’Histoire, S. 113–128. Mertz-Baumgartner, Birgit (2010): „Le roman métahistorique en France“, in: Wolfgang Asholt / Marc Dambre (Hg.): Un retour des normes romanesques dans la littérature française contemporaine. Paris: Presses Sorbonne Nouvelle, S. 123–132. Nora, Pierre (2011): Présent, nation, mémoire. Paris: Gallimard. Nora, Pierre (1992): Les Lieux de mémoire. De l’archive à l’emblème. Bd. 3. Paris: Gallimard. Nora, Pierre (1978): „Mémoire collective“, in: Jacques Le Goff (Red.): La Nouvelle Histoire. Paris: CEPL, S. 389–401. Offenstadt, Nicolas (2017): L’Historiographie. Paris: PUF.

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Kirsten von Hagen (Justus-Liebig-Universität Gießen)

Schreiben gegen das Vergessen – Alice Zeniters Rekonstruktion des Realen in Juste avant l’oubli (2015)

Wie Thomas Klinkert und Christian Rivoletti in ihrem Aufsatz in diesem Band konstatieren, ist seit 2000 eine Mode des realistischen Romans in Frankreich beobachtbar. Merkmale dieses neuen realistischen Romans sind Emotionalisierung und Subjektivierung, wie in Alice Zeniters Roman Juste avant l’oubli (2015). Anders als bei Bolaño und Auster, die im Stil des Infrarealismus oder des postmodernen Spiels ebenfalls fiktive AutorInnen entwerfen (oder auch als bei Borges in seiner Kurzgeschichte „Pierre Menard, autor del Quijote“, 1939), wirken die Figuren von Zeniter aber realistischer, deutlicher ist hier die Emotionalisierung spürbar, die Klinkert als Signum des neuen realistischen Schreibens ausgemacht hat. In Zeniters Juste avant l’oubli geht es um ein Anschreiben gegen das Vergessen. Ein berühmter Autor von Kriminalromanen ist verschwunden, Donnell, das Meer hat ihn verschluckt. Damit er nicht aus dem literarischen Gedächtnis getilgt wird, werden in regelmäßigem Abstand Tagungen, „Journées d’Études internationales sur Galwin Donnell“1, abgehalten. Seine JüngerInnen pilgern dafür nach Mirhalay, eine menschenleere Insel der schottischen Hebriden am Ende der Welt, um sich während einiger Tage dem ‚Meister‘ nahe zu fühlen. Auch die WissenschaftlerInnen erleben sich wie eine Familie, in der man den anderen und seine Fehler kennt. Da wetteifern Psychoanalyse und Hermeneutik um den richtigen Ansatz, da wird auch schon einmal verführt und gehasst. Émilie, die zugleich an- wie abwesende Protagonistin, gehört ebenfalls zu diesem illustren Kreis der ExegetInnen von Donnells Werk und beschließt, an diesem weltentlegenen Ort ihre Dissertation zu schreiben und dafür Paris und ihren Freund, Franck Lemercier, zurückzulassen.

1 Zeniter (2015), S. 81.

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1.

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Realistisches Schreiben im Kontext von Autofiktionen

Zeniter lässt in ihrem Roman eben jenen Außenseiter dieses Wissenschaftsbetriebs, Franck, das jährliche Donnell-Treffen schildern: „Ils se connaissaient tous de vue ou de nom […] Ils se battaient pour planter des drapeaux de conquérants sur le même territoire : l’œuvre de Galwin Donnell […], un cadavre littéraire offert en pâture à leurs études, à leurs esprits analytiques, à leurs méthodes de dissection.“2 Franck, der bewusst Krankenpfleger und nicht Arzt wurde, reist seiner Freundin Émilie nach, um diese wieder für sich zu gewinnen. Die Entfremdung zwischen den beiden ProtagonistInnen wird zum zentralen Motiv des Romans. Franck, der enttäuscht ist, dass Émilie ihr Leben lieber der Dissertation über Donnell widmet, als weiter mit ihm in Paris zu leben, sieht den gesamten Kult um den Autor eher skeptisch. Er ist befremdet ob der Aufmerksamkeit, die man dem ‚Meister‘ zollt, irritiert ob der Ernsthaftigkeit, mit der man hier jeden noch so kleinen Schnipsel des Autors untersucht. Deshalb verwundert es nicht, dass er sich mit einem anderen Außenseiter, dem Museums- oder besser Inselwärter Jock anfreundet, der zwar mit Donnell sein Leben verdient, aber diesen zugleich auch zum Sündenbock seines eigenen Scheiterns stilisiert: „Je sentais une énergie électrique m’envahir, me brûler. Je riais […] en regardant le village devenir une place de mort – ce qu’il était déjà en fait.“3 Der Roman liest sich wie eine Autofiktion eines am Leben Gescheiterten und zugleich wie die Biographie eines Kultautors, ist gespickt mit Fußnoten und Verweisen auf ein imaginäres Œuvre und einen fiktiven Autor und spiegelt damit zugleich den aktuellen Literaturbetrieb mit seinen Moden wider, man denke nur an Delphine de Vigans Roman D’après une histoire vraie, im selben Jahr und Monat erschienen wie der Text Zeniters und 2018 von Roman Polanski verfilmt. Welche narrativen Strategien zum Einsatz kommen, um diese Rekonstruktion des Realen einzuschreiben in ein Genre, das vielleicht am stärksten mit einem Effekt der Authentizität, der écriture de soi behaftet ist, soll im Folgenden näher ausgeführt werden. Serge Doubrovsky, auf den der Begriff der autofiction zurückgeht, nennt folgendes Merkmal des Genres: autofiktionale Texte seien „nicht Autobiographien, nicht ganz Romane, gefangen im Drehkreuz, im Zwischenraum der Gattungen, die gleichzeitig und somit widersprüchlich den autobiographischen und den romanesken Pakt geschlossen haben“4. Nach Philippe Lejeune könnte man auch von einem fingierten „autobiographischen Pakt“5 sprechen, schreibt sich doch der fiktive Autor Donnell durch die Paratexte in den 2 3 4 5

Ebd., S. 84. Ebd., S. 140. Doubrovsky (2008), S. 126. Lejeune (1975).

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Text ein, wie die folgende Analyse zeigt. So eröffnet einer der fiktiven WissenschaftlerInnen, der sich mit dem Werk Donnells beschäftigt, seinen Vortrag mit einem Paradox: Warum nur möchte man soviel über einen Autor wissen, wenn zugleich dessen Abwesenheit in den eigenen Romanen immer wieder hervortritt? Warum stellen LiteraturwissenschaftlerInnen immer wieder die Frage: „Qu’estce qui a constitué la vie réelle de Donnell?“6 Nun ist Franck ebenfalls nicht nur Krankenpfleger, sondern zugleich selbst Autor zahlreicher unveröffentlichter Romane, in denen es jedoch nicht darum geht, möglichst realistisch noch das kleinste Detail nachzuzeichnen, sondern im Stil von John Ronald Reuel Tolkiens Fantasy-Trilogie Lord of the Rings (1937) imaginäre Welten, „continents imaginaires“7, zu entwerfen, in denen jede Figur über die notwendige Portion an Magie verfügt, um ihre Aufgaben zu meistern: Donnell ist deshalb in seinen Augen ein nicht besonders einfallsreicher und zudem depressiver Schriftsteller: Un écrivain, selon Franck, avait pour tâche de mettre son pouvoir d’invention au service d’un agrandissement du monde au lieu de s’acharner à le rétrécir. Or Donnell lui donnait toujours l’impression de décrire un monde qu’il aurait vu de trop près, et sans amour. Il avait l’écriture d’un dépressif myope.8

Damit obliegt es ihm, der zugleich für den Großteil des Romans als Fokalisierungsinstanz fungiert,9 selbstreflexiv die Poetik des Textes von Zeniter festzuhalten. Diese scheint zugleich stellvertretend für zahlreiche aktuelle Texte, die autofiktionale ebenso wie realistische Elemente beinhalten, Geltung zu beanspruchen: Dass es immer auch zugleich um das geht, was Warning als „Phantasie der Realisten“10 beschrieben hat und was Stendhal in seiner Biographie Vie de Henry Brulard ebenso reflektiert hat, wie in seinem Roman Le Rouge et le Noir am Beispiel der Spiegelmetapher. Im vorangestellten Motto von Kapitel 13 heißt es: „Un roman : c’est un miroir qu’on promène le long d’un chemin“11 (hier SaintRéal zugeschrieben). Die Metapher impliziert zunächst einen einfachen Abbildungscharakter: der Roman als Spiegel der Wirklichkeit. An eben diesem simplen Abbilden wird aber Kritik geübt, wie ja auch deutlich wird durch die Inszenierung der Hauptfigur, die etwa in der Verführung Mathildes die großen Gesten der Opéra-Comique ebenso nachahmt und imitiert, wie sie auch ohne eigene kreativ-imaginative Leistung einfach Liebesbriefe kopiert. In dem Roman

6 7 8 9

Zeniter (2015), S. 91. Ebd., S. 73. Ebd. Nur an wenigen Stellen ist Émilie Reflektorinstanz, etwa wenn unmittelbar ihre Sicht auf den Vortrag geschildert wird. 10 Warning (1999). 11 Stendhal (1960), S. 76.

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geht es gerade nicht um das bloße Abbilden, sondern immer schon um das genaue Schildern der eigenen imaginativen Reaktion und Wahrnehmung. So heißt es bereits in der postum, 1890, erschienenen Autofiktion La Vie de Henry Brulard: „je ne prétends pas peindre les choses, en elles-mêmes, mais seulement leur effet sur moi“12 und an anderer Stelle: „je ne prétends nullement écrire une histoire, mais tout simplement noter mes souvenirs […]“13.

2.

Der Roman als intertextuelles Spiel

Romanhaftes realistisches Erzählen im 19. Jahrhundert ist wirklichkeitsnah, erschließt unbekannte und verdrängte Bereiche der inneren (psychischen) wie der äußeren (sozialen) Wirklichkeit, ist aber zugleich mehr als ein bloßes Abbilden dieser. Wie Warning konstatierte: „Natürlich ist auch der literarische Text und also auch der realistische Roman einem je historischen Wissen verpflichtet, aber er bildet es nicht einfach ab, ist vielmehr immer schon imaginative Reaktion.“14 Der gesamte Text von Zeniter ist ein intertextuelles Spiel mit den LeserInnen, mit Literatur und dem Wissen über sie. Auch die Paratexte interagieren mit dem Text, wie die jeweils vorangestellten Mottos, d. h. fiktiven Zitate in Stendhals Le Rouge et le Noir.15 So ist denn auch eines der Schlüsselkapitel, das zugleich als Scharnierstelle in diesem vexierspielartig angelegten Text fungiert, überschrieben mit: „Réalité de la fiction“. Zu Beginn des Kapitels heißt es: „Il est étrange de penser que sur Mihalay un mort (Galwin Donnell) ou un personnage de fiction (Adrian Dickson Carr) a tout autant de réalité d’existence, si ce n’est plus, que les vivants qui se trouvent de l’autre côté de la mer.“16 Insbesondere der Autofiktion sind darüber hinaus immer wieder auch selbstreflexive Momente eigen, die den effet de réel unterstreichen. So konstatiert Roland Barthes „ce même ‚réel‘ devient la référence essentielle dans le récit historique, qui est censé rapporter ‚ce qui s’est réellement passé‘ : qu’importe alors l’infonctionnalité d’un détail, du moment qu’il dénote ‚ce qui a eu lieu‘.“17 Dieses Detail ist in diesem Fall das verloren geglaubte Ende eben jenes Romans, der Donnell auf Grund seiner Fragmentarität überhaupt erst Kultstatus verliehen hat. Am Ende wird ausgerechtet Franck dieses Ende zusammen mit dem Ab12 13 14 15 16

Stendhal (1982), S. 671. Ebd., S. 735. Warning (1999), S. 8. Vgl. Grutman (2010), S. 139–153. Zeniter (2015), S. 100. Die Stelle befindet sich nicht zufällig nach den ersten 100 Seiten, also nach fast einem Drittel des Textes; das gesamte Kapitel nimmt nur eine Seite des Textes ein, was für ein Kapitel ungewöhnlich kurz ist, auch in diesem Roman. 17 Barthes (1968), S. 87.

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schiedsbrief des Inselwärters Jock erhalten und mit sich ringen, wie er mit diesem kulturellen Erbe umgehen soll. Den folgenden Ausführungen liegt die These zu Grunde, dass der Roman sich zwar teils postmodern anmutender Mittel bedient, diese aber in den Dienst einer in ihrer Summe realistisch wirkenden écriture stellt. Im Gegensatz zum Realismus als Epochenbegriff der französischen Literaturgeschichte, die zumeist zwischen 1830–1880 angesetzt wird und die als Abkehr vom Idealismus (und damit auch von der Romantik18) eher randsta¨ ndige Gruppen, Sujets und Themen in den Blick rückt, gibt es einige übergreifende Merkmale, die für eine écriture réaliste, d. h. für einen realistischen Stil unabhängig vom Epochenbegriff 19 im Sinne eines Merkmalsbündels, d. h. einer Minimaldefinition nach Eleanor Rosch als grundlegend angenommen werden können. Wie also auch bei Gattungen soll dabei herausgestellt werden, dass es sich hierbei um eine Konstruktion handelt, die dem Konstruktcharakter der kulturellen und wissenschaftlichen Ordnungen entspricht, wie Ansgar Nünning ausführt: „Wenn es sich bei Gattungen nicht um vorgefundene reale Objekte, sondern […] Konstrukte handelt, wie die Gattungstheorie einhellig meint, dann ist die Frage, nach welchen Kriterien und Verfahren sie gebildet werden, von zentraler Bedeutung.“20 Dabei rekurriere ich auf das gegen Ende des 20. Jahrhunderts von Rosch entwickelte Prinzip der „Prototypensemantik“21. Diese geht davon aus, dass literarische Genres – und man könnte hinzufügen Formen – nicht über notwendige und hinreichende Merkmale definiert werden; vielmehr wird zunächst ein ‚Bündel‘ aus signifikanten Merkmalen eruiert, welche für die Gattungszugehörigkeit als konstituierend gelten dürfen. Dieses Bündel dient der Beschreibung des prototypischen Gattungsexemplars bzw. der protypischen Form, auch wenn keineswegs alle gattungs- oder formzugehörigen Texte sämtliche dieser Eigenschaften aufweisen. Anhand des Merkmalsbündels kann aber der Roman von Zeniter über die Anzahl der jeweils tatsächlich vorhandenen Merkmale als typischer oder untypischer Vertreter des Genres bzw. der realistischen Form oder écriture (zumeist ist in Bezug auf den historischen Realismus von realistischer Strömung, Ästhetik oder vom realistischen Stil die Rede22) identifiziert werden (abhängig davon, wie viele Merkmale er aufweist).23 Man könnte auch formulieren, wie im Dictionnaire 18 Vgl. Van Gorp (2001), S. 401. 19 Vgl. ebd. 20 Nünning (2007), S. 73. Zu den Aufgaben der allgemeinen Gattungstheorie vgl. auch Zymner (2003). Vgl. ferner Lamping (2009). 21 Vgl. Rosch (1975), S. 532–547. Vgl. diesbezüglich auch den aufschlussreichen Artikel „Gattungstheorie im 20. Jahrhundert“ von Zipfel (2010), S. 213–216, hier S. 13. 22 Vgl. Van Gorp (2001), S. 402. 23 So folgt bei der Definition der Gattung Novelle auch Hugo Aust der Prototypensemantik, wenn er mögliche Novellen-Identifikationsmerkmale sammelt, um dann einzelne literarische Texte im Abgleich mit dem Merkmalsbündel als typischere oder untypischere Novellen in

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des termes littéraires zu lesen ist, dass jede Epoche bestimmt, was als realistisch zu gelten hat: „[…] en d’autres mots, est réaliste, ce qui est apprécié comme tel à une époque donnée.“24 Folgende Merkmale lassen sich im Sinne einer Minimaldefinition nach Rosch festhalten:25 – Modellierung der Wirklichkeit – Versuch der objektiven Darstellung, welche intersubjektiv vermittelt sein sollte – Das Erzielen einer lifelike illusion durch präzise und oftmals detaillierte Beschreibungen – Kulturhistorische Einbettung durch zahlreiche Referenzen und eine intertextuelle Verweisungsstruktur Oder wie Chris Baldick formuliert: „a mode of writing that gives impression of recording or ‚reflecting‘ faithfully an actual way of life“26. Dabei würde ich indes nicht von einem ‚Neo-Realismus‘ mit VertreterInnen wie Michel Houellebecq sprechen wollen, als vielmehr von einer realistischen Schreibweise, die sich in unterschiedlichen Formen und Formaten einer großen Popularität erfreut und die auch für den vorliegenden Roman konstitutiv ist.

3.

Donnell – Dem Kultautor auf der Spur

Franck ist nicht nur die zentrale Fokalisierungsinstanz des Romans, er ist zugleich Beobachter und sein heimlicher Held, was eng mit der Frage der korrekten Bezeichnung bzw. des sprechenden Namens verknüpft ist. Franck hadert seit seiner Geburt mit seinem Namen. Obwohl er weiß, dass ihn der Name Franck Lemercier zu einem Leben der Mediokrität bestimmt, lässt er sich zunächst von seiner Mutter zu der Annahme verleiten, der Name könne auch Größe bezeichnen. Als Beispiele führt sie aber zum einen sehr eklektische Namen von Musikergrößen wie Frank Zappa und Franck Sinatra an, zum anderen Namen, die zwar klingen mögen wie Franck, also eine gewisse Poesie des homophonen Klangs aufweisen, die aber, schaut man sich ihre Schreibweise genauer an, nichts damit gemein haben: Namen berühmter PolitikerInnen etwa wie Benjamin Franklin. Während der Schulzeit ist Franck denn auch der Einzige, der der Frage seines Lehrers nach der Bedeutung der Zeile von Gertrude Steins „Rose is a rose is a rose seine Abhandlung einzubeziehen. Die Identifizierung der Gattungszugehörigkeit schafft so die Grundlage für die Analyse der spezifischen Ausformung vorhandener Merkmale des jeweils vorliegenden Exemplars. Vgl. Aust (1990), S. 1–17. 24 Van Gorp (2001), S. 402. 25 Vgl. Rosch (1975), S. 532–547. 26 Baldick (2015), S. 1.

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is a rose“27 nachhängt, jenes berühmten Gedichtes „Sacred Emily“ von 1913 (veröffentlicht 1922 in dem Gedichtband Geography and Plays). Derart webt der Text von Zeniter ein intertextuelles Netz, das für belesene LeserInnen eine Karte bereitstellt von Texten der Weltliteratur, aber auch von Populärkultur, wie Star Wars, Youtube-Katzenbabyvideos, Dr. House. So trägt auch die Protagonistin, die anders als Franck zu Höherem bestimmt zu sein scheint, ein Mädchen von exquisiter Schönheit und in der Projektion Francks ganz der Laura Petrarcas entsprechend, den Namen Émilie. Émilie möchte nach einem unglücklichen Versuch, SchülerInnen die Liebe zur Literatur zu lehren, mit nunmehr dreißig Jahren, ihre Dissertation über den, wie es heißt, berühmtesten Kultautor des Jahrhunderts schreiben, über Galwin Donnell. Zeniter konstruiert Donnell in einem Porträt, das zugleich ein ironischer Verweis auf den Starkult aktueller AutorInnen ist. Donnell ist ein Zyniker, der wenig von sich preisgibt, seine LeserInnen wie seine Mitmenschen schlecht behandelt, ein Misanthrop mit zugleich ausgeprägten misogynen Tendenzen, der AutorInnen wie Houellebecq ähnelt, aber auch Dylan Thomas. Zur Ikone avanciert Donnell – und hier ist das postmoderne Spiel ausgesprochen ironisch – da besonders sein letzter Text Fragment bleibt, was seinen Starkult ebenso begründet wie die Tatsache seines frühen und mysteriösen Todes: er verschwindet einfach im Meer, noch bevor er seinen Roman beendet hat. Mit dem fiktiven Autor Galwin Donnell schreibt sich der Text nicht nur ins kulturelle Gedächtnis ein und zitiert in einem intertextuellen Verweisungsspiel andere Größen des polar wie Arthur Conan Doyle oder Raymond Chandler, sondern verfasst zugleich eine Meta-Geschichte und Kritik des Kriminalromans, des roman policier. Galwin Donnell kreiert mit seinem Protagonisten Carr nicht den scharfsinnigen Detektiv nach dem Modell Sherlock Holmes oder den hardboiled-detective wie Chandler in der Roman-Noir-Tradition, sondern eine ungleich mittelmäßigere und zugleich düsterere Figur, die als Privatdetektiv zugleich stets danach trachtet, ihren Geldgeber zufrieden zu stellen. Damit spiegelt Zeniters Roman die aktuelle Entwicklung von SerienheldInnen oder auch Thrillern vornehmlich skandinavischer Provenienz wider.28 Carr löst Fälle vornehmlich, um sich von den eigenen pädophilen Neigungen abzulenken. Der fiktive Autor Donnell ist nicht nur mit Paratexten, Titeln früherer fiktiver Werke – zehn sind es insgesamt – präsent, es wird über ihn zugleich eine beachtliche Anzahl metakritischer Werke, teils wissenschaftlicher, teils publizistischer Art verfasst. Als Donnell sich für 50.000 Pfund den Ring von Conan Doyle, dem Schöpfer der wohl berühmtesten Detektiv-Serien-Figur Sherlock Holmes, er27 Stein (1993), S. 187. 28 Vgl. Götting (2000), S. 80f. und S. 87f.

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steigert, reagieren die psychoanalytisch orientierten LiteraturwissenschaftlerInnen ebenso prompt mit psychoanalytischen Deutungen dieser Aneignung, wie die nach Skandalen suchenden JournalistInnen.29 Zeniter verweist, ganz wie es für eine wissenschaftlich genaue Art der Autofiktion üblich ist, indem sie Fußnoten, Verweise auf fiktive Zeitungsartikel und Interviews, d. h. Paratexte einfügt, wie den Folgenden: „Interview de Galwin Donnell par Peter Spencer, By the Book n°25, Édimbourg, 1963, p. 18“.30

4.

Literatur und Wissenschaft – Interferenzen

Die Verweisungsstruktur, die für den Effekt des Realen sorgt, liest sich streckenweise wie ein postmodernes Spiel, macht die LeserInnen zu Co-AutorInnen. Die Paratexte – das Motto, das den einzelnen Kapiteln vorangestellt wird ebenso wie die Fußnoten und Texte fiktiver Werke – korrespondieren häufig mit dem Text und erstellen derart eine komplexe Verweisungsstruktur. Der enzyklopädisch angelegte Roman verweist neben fiktiven Interviews einzelner KritikerInnen, Aufsätzen und Monographien über den fiktiven Autor Donnell und sein literarisches Universum immer auch auf reale Werke oder Texte, wie den Wikipedia-Artikel über einen angeblichen Terminus Donnells „porc-chien“, der Eingang fand ins kulturelle Gedächtnis und dabei der bekannten Matrix der populären freien Online-Enzyklopädie gehorcht: „Porc-chien est un terme créé par l’écrivain écossais Galwin Donnell et utilisé de façon récurrente par le personnage central de ses dix romans.“31 Damit stellt der Roman zugleich eine Aktualisierung jener schon von Klinkert als Signum realistischer Texte herausgestellten Verwissenschaftlichung her, eine Reprise der von Balzac vorgenommenen Nobilitierung des Romans durch ein Wechselspiel der beiden ursprünglich getrennten Bereiche Literatur und Wissenschaft.32 Die Metakritik Donnells schreibt sich ein ins Reale. Einige Kapitel sind fiktiven Vorträgen über den Kult-Autor gewidmet, die zugleich die Methodendiskussion des Faches spiegeln und Praxen des Wissenschaftsbetriebs in einer ironischen Zuspitzung inszenieren: „Il y avait Judith Maroon, professeur de gender studies, demi-lunettes aiguë et figure sans âge, qui parlait de l’avancée du transgenre et du recul du féminisme à son voisin, Markus Mann, un criminologue

29 Vgl. Zeniter, S. 175. 30 Ebd., S. 79. 31 Ebd., S. 142. Tatsächlich findet sich auf Wikipedia nur ein Eintrag zu „porc“, vgl. https://fr.wi kipedia.org/wiki/Porc. 32 Vgl. Klinkert (2010), S. 138.

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de Berlin.“33 So sind einzelne Kapitel wie Vorträge gestaltet, der Vortrag von Émilie zu den Frauenfiguren Donnells wird dabei fast vollständig wiedergegeben. In gleicher Weise wird ihre Angst vor dem Vortrag, das Einstudieren vor dem Spiegel reflektiert, das in einer an eine filmische Parallelmontage erinnernden Collagetechnik mit Francks Fernbleiben von eben diesem Vortrag kontrastiert34 und in der Trennung der beiden kulminiert. Selbst die Adaptationsproblematik wird angesprochen, Donnell als ein Autor dargestellt, der den Adaptationen seiner Werke kritisch gegenübersteht, aber eine pornographische Neuinterpretation eines seiner Texte veneriert.35 Der Text avanciert streckenweise selbst zum Polar, schreibt die LeserInnen in seine Codes des roman noir ein, bei dem es Indizien zu sammeln gilt, um ein Rätsel zu lösen. Derart knüpft der Roman aber auch an die Tradition realistischer Literatur an; zu nennen wäre hier etwa Honoré de Balzacs Novelle Sarrasine, die die LeserInnen ebenfalls zu Co-AutorInnen macht und sie an der Auffindung des Rätsels um die Identität des unbekannten Alten beteiligt.36 Wenn intrafiktional das Motto Doyles aus dem Roman Le Mystère de Thor Bridge deutlich macht, dass ein gelöstes Rätsel zwar SchülerInnen interessieren vermag, LeserInnen aber langweilt, so verdeutlicht der Text von Zeniter metareflexiv, dass es letztlich keine befriedigende Lösung der aufgezeigten Rätsel gibt – weder für den Liebeskonflikt Émilies, noch für den Tod des fiktiven Autors Donnell. Das Kapitel, in dem Franck die letzten Minuten vor dem Sturz von den Klippen zu rekonstruieren versucht, verdeutlicht das einmal mehr. Letztendlich sind alle Optionen, dass der zehnjährige Jock ihn von den Klippen gestürzt hat, dass ein russisches Unterseeboot ihn entführt hat oder er mit Hilfe eines selbstgebauten Gleitschirms geflohen ist, gleich wahrscheinlich bzw. unwahrscheinlich: „On ne saura jamais. Une seule chose est sûre: Le Pont des anguilles a une fin. Et elle est dans les mains de Franck.“37

33 Zeniter (2015), S. 82. Auch einzelne Kapitel deuten bereits in den Paratexten, d. h. den Kapitelüberschriften an, dass es hier jeweils um eine(n) andere(n) TeilnehmerIn der Tagung, d. h. einen anderen methodischen Zugang geht, vgl. S. 91: „Un trou à la place des souvenirs fondateurs. Journées d’études – Philipp Anderson“. 34 Vgl Zeniter (2015), S. 161–166; S. 145–149, S. 151–160. 35 Vgl. ebd., S. 119. 36 Vgl. Ette (1997), S. 46f. 37 Zeniter (2015), S. 271f.

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Rekonstruktion oder Fiktion – die Wahrheit über die letzten Stunden des Autors

Der Text von Zeniter kreiert permanent Spuren, die die LeserInnen einzelne Indizien über das Werk und den zu frühen Tod Donnells sammeln lassen, die schließlich zwar zur Auflösung des Falls führen – zumindest für Franck und die LeserInnen, die zu ZeugInnen seines Wissens avancieren, sie bleiben aber einem vorläufigen Wissen verhaftet, das nicht in eine für alle gültige Ordnung, einem wie auch immer gearteten globalen Wissen über Autor und Werk überführt wird. Zwar wird wie bei Balzacs Sarrasine und anders als bei E.T.A. Hoffmanns oder Théophile Gautiers phantastischen Erzählungen, das Rätsel am Ende aufgelöst, verschiebt sich aber zugleich zugunsten einer anderen Frage, die sich vor allem an die Ehefrau des Autors knüpft: der Gleichsetzung von Autor und seiner Hauptfigur. Der Text versammelt fiktive Aussagen wie die der Ehefrau Lorna, die eine Biographie über ihren Mann verfasst (Living with GD) und die hervorhebt, wie sie daran gescheitert ist, dass alle ihren Ehemann mit seinem Werk, genauer seiner pädophil veranlagten Hauptfigur Carr, gleichsetzen. Damit reagiert der Roman zugleich auf eine Tendenz der literarischen Kritik, die allzu gerne AutorIn und literarische Figur identifiziert und wie bei Marcel Proust oder Houellebecq, um zwei prominente Beispiele herauszugreifen, danach sucht, beide übereinanderzulegen: „Les gens n’ont jamais réussi à savoir où s’arrêtait Donnell et où commençait Carr. Ils supposaient que le second n’était que le jumeau de papier de son auteur.“38 Dies aber habe, so die Ehefrau Donnells, dazu geführt, dass alle perversen Tendenzen der fiktionalen Hauptfigur Carr auf den Autor Donnell und seine Relation zur ehemaligen Schauspielerin Lorna übertragen wurden „Et toutes les choses dégeulasses que A. D. Carr fait dans les romans ils se disaient que Galwin, lui, les avait imaginées et que c’était aussi sordide.“39 Sie führt damit einen Gedankengang fort, den man bereits in den Buch-im-Buch-Reflexionen realistischer AutorInnen wie Gustave Flaubert vorfindet, man denke nur an Madame Bovary oder Bouvard et Pécuchet.40 Derart liest sich der Roman auch als Replik, als Aktualisierung und Fortschreibung von Flauberts Ästhetik. So ging es Flaubert darum, eben gerade nicht mit seinem Werk gleichgesetzt zu werden; das ihm zugeschriebene Diktum „Emma Bovary, c’est moi“41, ist somit also höchst ambivalent einzustufen. Die Tendenz des „livre sur rien“, das ebenso deutlich mit dem Schaffen Flauberts verknüpft wird, führt da weiter: „Ce qui me semble beau, ce que je voudrais faire, 38 39 40 41

Zeniter (2015), S. 175. Ebd. Vgl. Klinkert (2010), S. 172. Leclerc (2014).

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c’est un livre sur rien, un livre sans attache extérieure, qui se tiendrait de luimême par la force interne de son style“.42 Wie Yvan Leclerc ausführt, wünscht Flaubert damit auch die Verbindung zum AutorInnen aufzuheben, um einen autonomen Text zu kreieren, der aus sich selbst heraus Bestand hat, derart einer Maschine gleich: „Flaubert rêve d’une œuvre abstraite, sans objet et sans sujet. […] c’est en ce sens qu’elle s’autonomise, qu’elle fonctionne toute seule, qu’elle se passe même de la conjugalité avec son auteur.“43 Wenn also Zeniter diesen Konflikt zu einem der zentralen Themen avancieren lässt – mit allen Konsequenzen – so liest sich dies zugleich als Autoreflexion der eigenen Ästhetik. Sie verleiht ihrem Roman zwar den Anschein eines realistischen Textes, der nur aufzeichnet, verfasst aber zugleich ein Plädoyer für die Autonomie der Kunst und des Kunstwerks. Sie führt damit zugleich den Gedanken Flauberts konsequent weiter: Selbst da, wo die AutorInnen sich nicht, wie Flaubert dies fordert, mit ihren eigenen Meinungsäußerungen zurückhalten, sondern sie sich – und sei es auch nur scheinbar wie bei Autofiktionen – deutlich zu Wort melden, sollen nicht vorschnell die AutorInnen mit ihren ProtagonistInnen gleichgesetzt werden. Zeniter verwendet damit eine ähnliche Strategie wie der chilenische Schriftsteller Roberto Bolaño oder der amerikanische Autor Paul Auster, die ebenfalls fiktive AutorInnen und ein gesamtes Universum der Metakritik entwerfen, aber stärker im Surrealen, im Magischen Realismus oder postmodernen Spiel zu verorten sind, als Zeniter, deren écriture mit realistischen Effekten sich folgendermaßen resümieren lässt: – Funktionen der Paratexte: Fußnoten, Querverweise, Artikel, Motto (aus Interviews und Werken des fiktiven Autors Donnell) – Häufig korrespondieren Haupt- und Nebentext (Bsp. Kapitel und Motto, Traum und Realität) – Selbstreferentielle und metareflexive Momente, das Genre wird diskutiert, die Funktion der konkreten Benennung (Name von Franck, Gedichte, unvollendetes Werk durch zu frühen Tod des Autors) – Verweisungsstruktur, Intertextualität: es werden Werke aus der Populärkultur wie Star Wars ebenso erwähnt wie Werke aus dem literarischen Kanon, diese verleihen dem fiktiven Autor Donnell einen Realitätseffekt – Reale und fiktive Figuren treten gemeinsam auf Besonders hervorzuheben ist in dem Zusammenhang die Metakritik, d. h. die fiktiven Werke über Donnell, teils mit exakter Angabe der Fußnote, aber auch als Teil einzelner Kapitel und der Vorträge im Rahmen der Journées d’études über Donnell und seinen Kultroman. Zeniter schreibt ihren Roman ins kollektive 42 Flaubert (1980), S. 31. 43 Leclerc (2011), S. 132.

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Gedächtnis Frankreichs ein und entwirft eine Figur, die vor allem Teil des Wissenschafts- und Literaturbetriebs ist. Die Rätselstruktur tritt dahinter zurück, die Auflösung über den rätselhaften Tod des Autors Donnell wird eher en passant erzählt und Franck, der Außenseiter, ist schließlich der Einzige, der an diesem Wissen partizipiert und beschließt, es für sich zu behalten und den Starkult um Donnell nicht zu gefährden. Die letzten, fehlenden Seiten des zehnten, des letzten (fiktiven) Romans von Donnell Les pont des anguilles werden so niemals den Weg in die literarische Öffentlichkeit finden: Il sait qu’il pénalise non seulement Émilie mais des millions de lecteurs. Il sait qu’il décide pour des millions de gens en cet instant. Il est en train de mentir sur à des millions de gens. Ne serait-ce que par omission. […] Il est difficile de croire que ces dix-sept pages puissent constituer un des grands mystères de la littérature contemporaine.44

Franck übergibt die Zeilen dem Ring, den er Émilie als Zeichen der ewigen Verbundenheit hatte schenken wollen und den er ihr angesichts ihrer Entscheidung für die Dissertation in Cambridge und damit gegen ein gemeinsames Leben mit ihm niemals überreicht hat. Das Meer nimmt sich des Rings an, wie es zuvor auch die Kadaver von Donnell und Jock verschlungen hat: „L’encre bave en taches grises. Déjà, on ne peut plus rien lire. Le texte disparaît.“45 Dabei markiert der Tod des Inselwärters Jocks zugleich eine Schlüsselstelle selbstreferentieller Verdichtung: der Moment, da den TeilnehmerInnen der Journées d’Études bewusst wird, dass Fiktion umschlägt ins Reale und gleichzeitig die Realität sich ausnimmt wie ein Film Noir. Die Grenze zwischen Realität und Fiktion verschwimmt: „Il était extrêmement improbable, songea Franck, que ce dialogue eût pu être prononcé un jour ailleurs que dans un film et sans une once d’affectation. Pourtant, cela venait d’arriver. Tous ces spécialistes de Donnell était désormais plongés dans une scène de roman noir.“46 Wörter wie Polizei („police“) oder Kadaver („cadavre“) wollen den zuvor noch fröhlichen LiteraturtouristInnen nun gar nicht mehr leicht über die Lippen kommen. Sie, die zunächst in mehr oder weniger fein ziselierten Vorträgen über Donnells Romanuniversum und die mysteriösen Umstände seiner Hauptfigur räsoniert haben, sind angesichts dieser realen Katastrophe sprachlos. Doch das Vergessen bzw. Nicht-Vergessen verläuft, so die Ironie des Romans, zugleich über das Erzählen, das Einschreiben einer persönlichen Geschichte in die Seele eines anderen. Jock, der Wärter der Insel, der das Monument des Gedenkens an den Kultautor Donnell ebenso wenig verlassen durfte wie seine Eltern, zu einem Leben in ewiger Klausur und Einsamkeit verdammt, sucht sich ausgerechnet Franck aus, um ihm seine persönliche Geschichte zu erzählen. Er 44 Zeniter (2015), S. 276. 45 Ebd., S. 277. 46 Ebd., S. 259.

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erhofft, in ihm die Sympathie des Zuhörers zu wecken und damit sicherzustellen, wie der Titel des Romans ankündigt, nicht vergessen, sondern erinnert zu werden: „Maintenant, il semblait à Franck que cette étrange intensité qu’il avait lu dans les yeux du gardien dès leur premier rencontre n’était que l’expression de cet espoir: qu’un autre devienne suffisamment proche de lui pour qu’il puisse le blesser en mourant.“47 Franck trauert um Jock, der sich stets über die Verehrung der LiteraturwissenschaftlerInnen für Donnell mokiert hat und dabei zugleich wusste, dass sie die Grundlage für seine Existenz auf dieser verlorenen Insel war. Juste avant l’oubli markiert so zugleich auf mehreren Ebenen das zentrale Programm des Romans, der Personen, Texte, fiktive, reale oder fiktionale, dem Vergessen entreißt durch die Tatsache, dass es zumindest eine(n) LeserIn ihrer Geschichte gibt. Wie Franck der einzige Zeuge der gemeinsam mit Émilie erlebten Geschichte ihrer Liebe ist: Et il semble à Franck, sur le pont du bateau, qu’il connait le même processus d’effacement, que tout ce qu’il avait pensé avoir écrit d’immuable dans sa vie pâlit à présent jusqu’à s’évanouir. En perdant Émilie, il a perdu le témoin de son existence, ce qui ne lui laisse rien sinon un corps qui ne parvient plus à se définir.48

Der Roman ist Autobiographie, polar und roman sentimental in einem, wobei zu diskutieren bleibt, wie das für dieses Genre konstitutive triangle amoureux aussieht: Ist es die Beziehung zwischen Émilie, Franck und dem einflussreichen Professor aus Cambridge, die im Zentrum steht, oder vielmehr die zwischen Émilie, Franck und dem Meister des polar, Donnell. Letzte Lesart wird im Roman noch durch die Ähnlichkeit zwischen Franck und dem jungen Autor betont. Émilie stellt sich gar vor, das Foto des Autors beizeiten durch das des gealterten Franck zu ersetzen: Elle avait eu l’espoir qu’elle vieillirait aux côté de Franck et que lorsqu’il atteindrait l’âge qu’avait Donnell sur cette image, quand il aurait son visage d’homme, ce visage unique auquel nul ne peut plus échapper – au contraire des traits lisses de la jeunesse qui portent encore le flou du futur et de tous les devenirs possibles –, quand le dessin de son visage serait fixé (ou quand l’histoire de son visage serait écrite) comme l’était celui de l’auteur en 1961, elle prendrait à son tour une photo de lui qu’elle glisserait dans son portefeuille.49

Das Foto, das einen bestimmten temporären Moment auf Dauer stellt, kann anders als das Erzählen oder auch die Kinematographie eben nicht den Verlauf, die Zeitlichkeit an sich darstellen. So gelingt es Émilie nicht, die beiden geliebten 47 Ebd., S. 266. 48 Ebd., S. 278. 49 Ebd., S. 247f.

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Männer Franck und Donnell zumindest in ihrem realistischen Abbild, in ihren jeweiligen photographischen Repräsentationen übereinanderzulegen und derart den zeitlichen Verlauf umzukehren. In einem Kapitel, das mit einem Zitat Conan Doyles eröffnet wird und das als eines der wenigen (zusammen mit „À l’intérieur“) durchgängig aus Émilies Perspektive erzählt wird, wird deutlich, dass die Dissertation über die weiblichen Figuren im Werk Donnells, Thema zugleich ihres Vortrags, sie nicht nur in dem bewundernden Blick der Anderen erscheinen lässt, sondern ihr auch die Erfüllung ihrer Liebe zu Donnell / Franck in Aussicht stellt: „Elle voulait qu’il la voit pour ce qui était pour elle la pleine réalisation de son être et qu’il l’en aime d’un amour accru.“50 Doch Franck lässt sich von Jock abhalten, er wird dem Vortrag Émilies nicht beiwohnen, was den Bruch der beiden markiert, ebenso wie das unbedingte Begehren des Professors aus Cambridge für seine Schülerin, das einmal nicht den Umweg über Worte geht, sondern sich direkt im begehrenden Blick des Anderen offenbart. Damit reflektiert der Text erneut eine Heterochronie, wie sie auch schon für den Roman am Ende des 19. Jahrhunderts konstitutiv war, in dessen Tradition sie sich ja nicht zuletzt durch die Anspielungen an Conan Doyle auch konsequent einschreibt. Elisabeth Strowick schreibt in ihrer 2019 erschienenen Studie Gespenster des Realismus: Es ist qua Dynamisierung literarischer Darstellungsverfahren, dass Realismus die Herausforderung der wissenschaftlich-technologischen Moderne aufnimmt und ästhetisch-poetologisch daran mitarbeitet: In spezifischen Modi von Beschreibung, dynamisch-szenischen Anordnungen, seriellem Erzählen und Rahmentechniken inszenieren realistische Texte den bewegten Blick, Wahrnehmung als déjà vu, Dauer und Langeweile und zeitigen derart ein Wirkliches, das sich der Präsenzlogik entzieht, und dessen genuin zeitliche Signatur sich in Figuren des Übergänglichen, von Flüchtigkeit, Wiederkehr, Nachträglichkeit und Heterochronie darstellt.51

Der Roman steht damit zugleich in der Tradition des französischen Skeptizismus, der das Konzept des amour passion gleichzeitig aufzeigt wie hinterfragt, einer Tradition mithin, die von Abbé Prévosts Manon Lescaut über Choderlos de Laclos’ Liaisons dangereuses, Flauberts L’Éducation sentimentale und Prousts Recherche bis hin zu den ironischen Filmen Truffauts und Rohmers führt. Bianca Fontana konstatiert: […] l’amour ne peut exister que sous une forme éphémère de recherche ou de déception. [..] nous ne pouvons désirer que ce qui se trouve hors de notre portée et que notre désir de posséder ceux que nous aimons détruit notre capacité de garder avec eux des relations dans la réalité.52 50 Ebd., S. 148. 51 Strowick (2019), S. 10. 52 Fontana (1996), S. 89.

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Franck rekonstruiert nach Jocks Tod die letzten Lebensstunden des Autors Donnell und ist sich doch bewusst, dass es genauso gut ganz anders gewesen sein könnte, dass am Ende alles pure Fiktion bleibt, ebenso wie seine Liebe zu Émilie: Au moment où nous nous séparons, tout ce que nous avons connu semble devenir faux, c’est comme si je l’avais inventé, comme si tu l’avais inventé. […] Parce qu’au moment même où il lâche prise et où il accepte de se jeter dans l’Oubli, au moment où il pourrait hurler à l’Oubli de le prendre et l’effacer […] il sent aussi quelque chose au fond de lui prêt à se réveiller, quelque chose qui refuse l’abandon et le renoncement et qui partira à la recherche d’autres témoins, d’autres existences auxquelles se mêler.53

Er ist sich somit sicher, sich erneut im Blick eines/einer Anderen ebenso gefangen wie aufgehoben zu wissen. Zeniters Roman beteiligt die LeserInnen als Co-AutorInnen an der postmodern anmutenden Spurensuche des fiktiven Autors Donnell, die sich aus Wikipedia-Artikeln, fiktiven Interviews des Autors, Vorträgen über ihn und Artikeln und Werken von und über ihn zusammensetzt. Gleichzeitig aber wird ein intertextuelles Verweisungssystem geknüpft, das den Text und damit die Figur ins Reale einschreibt. Insbesondere durch die Paratexte – Motto, Fußnoten, Titel – erhält der Text eine wissenschaftliche Signatur, die auf einer Metaebene mit der Mode der Autofiktion ebenso spielt wie mit der zunehmenden medialen Präsenz und Selbstinszenierung von SkandalautorInnen wie Michel Houellebecq, bei denen die Grenze zwischen Text und AutorIn, Figur und AutorIn in Auflösung begriffen ist. Zwei weitere Denkfiguren sind zentral für diesen Text: die der Beobachtung und der Zeitlichkeit. Der Roman von Zeniter knüpft an Erzählmodi des Realismus an, bei denen ebenfalls literarische Darstellungsverfahren und Anordnungen als Techniken der Beobachtung der Wahrnehmung fungieren und sich im Wechselspiel mit anderen Diskursen und Medien in ihrer Modernität herausbilden, führt diese aber konsequent weiter, indem die Ambivalenz zwischen einer Kultur inszeniert wird, die einerseits fixiert zu sein scheint auf schriftliche Spuren, andererseits aber den Sprung ins Medienzeitalter beschwört. Der Roman als Möglichkeit, neue Wahrnehmungsmodi, wie sie mit der Darstellung von Wirklichkeit bereits im 19. Jahrhundert einhergehen, zu reflektieren, ist immer auch von einer besonderen Form der Zeitlichkeit markiert. Wahrnehmungsexperimente unterliegen in besonderer Weise der Zeitlichkeit, die ja auch durch präkinematographische serielle Bildverfahren und den frühen Film prägnant formuliert werden und in dem Jahrhundert der zunehmenden Mobilisierung von Körpern und Daten im Kontext neuer Fortbewegungs- und Kommunikationsmedien erneut virulent werden. Aber auch der Roman als 53 Zeniter (2015), S. 280.

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zentrales Medium des 19. Jahrhunderts reflektiert diese Prozesse. Zeniter greift dies auf anhand des Mediums der Fotografie, die ja eben nicht, wie der Film Zeit und Bewegung verbindet, sondern lediglich einen Moment festhält im Modus des ‚so ist es gewesen‘, wie Proust und Roland Barthes reflektiert haben. Bei Proust wird das Foto als Medium kritisiert, das eben nicht in der Lage sei, mehr als einen Augenblick zu rekonstruieren, das vermag letztlich nur die Schrift, das Romanprojekt des Ich-Erzählers, das diesen Moment mit anderen in einem zeitlichen Gewebe verknüpft, das voller Assoziationen, Synthesen, aber auch voller Brüche ist. Nicht zuletzt durch die Fotografie gelingt es Proust, seine Schreibweise und intermediale Ästhetik zu begründen.54 Gleichzeitig wird die Fotografie wie auch schon das Telefon in besonderer Weise zu einem Medium der Präfiguration des Todes, ihr wird eine Signatur des Gespenstischen verliehen, wie auch bei Barthes. Barthes erkennt in der Fotografie eine unmittelbare Verknüpfung mit ihren ReferentInnen und sieht hierin ihre Eigentümlichkeit begründet: „[…] je ne voyais que le référent, l’objet désiré, le corps chéri“55. Anders als Malerei und Film, gebe sich die Photographie nicht als vermittelndes Medium zu erkennen, sie erfinde nichts, sondern erscheine als das „Wirkliche in seinem unerschöpflichen Ausdruck“ („Le Réel, dans son expression infatigable“56). Gleichzeitig wird der Fotografie aber auch eine Magie bescheinigt, auf die Zeniter hier ebenfalls rekurriert. So beschreibt Barthes „cette chose un peu terrible“57, einen „unheimlichen Beigeschmack“58, der jeder Fotografie zu eigen sei: „le retour du mort“59. Volker Roloff hat jüngst noch einmal auf die Nähe von Barthes und Proust aufmerksam gemacht, wenn er konstatiert, dass es darum gehe, eine Ästhetik der Lektüre zu begründen, eine Lust an der Entschlüsselung. Barthes habe folgerichtig die Konzeption seines Seminars über „Proust et la photographie“ folgendermaßen begründet: „La photo […] va fonctionner comme un affrontement du Rêve, de l’Imaginaire de lecture, au Réel.“60 Welches sind die idealen Speichermedien, sind sie analog oder digital? Fragen wie diese reflektiert der Roman, indem er mit unterschiedlichen Wissensmedien, von Tagebüchern, über Briefe, youtube-Videos, Wikipedia- und Zeitschriften-Artikel und natürlich auch Fotografien spielt und derart auch auf eine Lust an der Entschlüsselung zielt. Auch hier lässt die Fotografie den Traum, das Imaginäre der Lektüre, auf das Reale treffen. Derart bleibt Donnell ein Wiedergänger, wie auch Franck allmählich Teil der Erinnerung Émilies wird. 54 55 56 57 58 59 60

Vgl. Albers (2019), S. 19 und Roloff (2020), S. 107. Barthes (1993), S. 1113. Ebd., S. 1112. Ebd., S. 1114. Barthes (1989), S. 17. Barthes (1993), S. 1114. Barthes (2003), S. 397.; vgl. Roloff (2020), S. 108.

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Franck wird am Ende des Romans von Zeniter die letzten Seiten des Kultromans von Donnell eben nicht der Wissenschaft überlassen. Derart möchte er verhindern, dass sie sich hermeneutisch, psychoanalytisch oder mit welchem theoretisch-methodischen Zuschnitt auch immer sein Werk buchstäblich einverleiben. Stattdessen möchte er die unveröffentlichten Seiten, die überhaupt erst zum Kultstatus des Autors beigetragen haben der Vergänglichkeit allen Seins überlassen, genauer der Insel Mirhalay mit ihren Gezeiten: „Comme s’il ne s’était jamais rien passé.“61

Bibliographie Primärquellen Flaubert, Gustave (1980): Correspondance. Bd. II. Hg. v. Jean Bruneau. Paris: Gallimard. Stein, Gertrude (1993): Geography and Plays. Madison: University of Wisconsin Press. Stendhal (1960): Le Rouge et le Noir. Hg. v. Henri Martineau. Paris: Garnier Frères. Stendhal (1982): Œuvres intimes. Bd. II. Hg. v. V. del Litto. Paris: Gallimard. Zeniter, Alice (2015): Juste avant l’oubli. Paris: Flammarion.

Sekundärliteratur Albers, Irene (2019): „Prousts photographisches Gedächtnis“, in: ZFSL 111, S. 19–56. Aust, Hugo (1990): Novelle. Stuttgart: Metzler. Baldick, Chris (2015): Oxford Dictionary of Literary Terms. Oxford: Oxford University Press. Barthes, Roland (2003): La Préparation du Roman I et II. Cours et séminaires au Collège des France (1978–1979 et 1979–1980). Hg. v. Éric Marty / Nathalie Léger. Paris: Seuil. Barthes, Roland (1993): Œuvres complètes. Bd. 3. Hg. v. Éric Marty. Paris: Seuil. Barthes, Roland (1989): Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Doubrovsky, Serge (2008): „Nah am Text“, in: Kultur & Gespenster: Autofiktion 7, S. 123– 133. Ette, Ottmar (1997): „Macht und Ohnmacht der Lektüre: Bild-Text-Relationen in Balzacs Novelle Sarrasine“, in: Markus Heilmann / Thomas Wägenbauer (Hg.): Macht, Text, Geschichte: Lektüren am Rande der Akademie. Würzburg: Königshausen & Neumann, S. 36–47. Fontana, Biancamaria (1996): Politique de Laclos. Ann Arbor: Kimé. Götting, Ulrike (2000): Der deutsche Kriminalroman zwischen 1945 und 1970: Formen und Tendenzen. Marburg: Tectum Verlag. 61 Zeniter (2015), S. 277.

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Grutman, Rainier (2010): „How to do things with mottoes: Recipes from the romantic era (with special reference to Stendhal)“, in: Neohelicon37(1), S. 139–153. Klinkert, Thomas (2010): Epistemologische Fiktionen: zur Interferenz von Literatur und Wissenschaft seit der Aufklärung. Berlin/New York: De Gruyter. Lamping, Dieter (Hg.) (2009): Handbuch der literarischen Gattungen. Stuttgart: Kröner. Leclerc, Yvan (2011): „Flaubert et le style célibataire“, in: Annette Runte (Hg.): Machine littéraire, machine célibataire et ‚genre neutre‘. Würzburg: Königshausen & Neumann, S. 125–133. Lejeune, Philippe (1975): Le pacte autobiographique. Paris: Seuil. Nünning, Ansgar (2007): „Kriterien der Gattungsbestimmung“, in: Marion Gymnich / Birgit Neumann / Ansgar Nünning (Hg.): Gattungstheorie und Gattungsgeschichte. Trier: WVT, S. 73–99. Roloff, Volker (2020); „Marcel Proust und Roland Barthes“, in: Proustiana XXXI, S. 96–114. Rosch, Eleanor (1975): „Cognitive reference points“, in: Cognitive Psychology 7, S. 532–547. Strowick, Elisabeth (2019): Gespenster des Realismus. Leiden: Wilhelm Fink. Van Gorp, Hendrik / Delabastita, Dirk / D’hulst, Lieven (Hg.) (2001): Dictionnaire des termes littéraires. Paris: Champion. Warning, Rainer (1999): Die Phantasie der Realisten. München: Wilhelm Fink Verlag. Zipfel, Frank (2010): „Gattungstheorie im 20. Jahrhundert“, in: Rüdiger Zymner (Hg.): Handbuch Gattungstheorie. Stuttgart: Metzler, S. 213–216. Zymner, Rüdiger (2003): Gattungstheorie. Probleme und Positionen der Literaturwissenschaft. Paderborn: Mentis.

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Tobias Berneiser (Universität Siegen)

Marseille: Repräsentationen der sozialen Wirklichkeit einer Stadt zwischen literarischer Dokumentation, Netflix und YouTube

1.

Einleitung

In Diskussionen um Realismus und realistische Darstellungsweisen in der europäischen Literatur des frühen 21. Jahrhunderts wird ein Werk aus dem Jahr 2006 besonders häufig angeführt: Roberto Savianos Gomorra. Viaggio nell’impero economico e nel sogno di dominio della camorra. Dieser Text über die Machenschaften der neapolitanischen Camorra zeichnet sich generisch durch eine „forma ibrida“1 aus, wie sie beispielsweise von Christian Rivoletti untersucht wurde. Ob als docu-fiction bzw. non-fiction novel im Sinne Truman Capotes, als romanzo d’inchiesta, als Reportage-Roman oder gar als Autofiktion, es scheint gerade jene Schwierigkeit einer klaren Gattungszuweisung zu sein, die auf formaler Ebene zum enormen Publikumserfolg von Gomorra beigetragen hat.2 So hat Christiane Conrad von Heydendorff in ihrer Studie zum hybriden Realismus des Werks herausgearbeitet, wie Saviano die Hybridität zwischen Faktualität und Fiktionalität bzw. Literarizität für eine realistische Vermittlung des süditalienischen Mafia-Milieus und seiner internationalen Netzwerke fruchtbar gemacht hat.3 Die neuen Wege, die Gomorra auf diese Weise in der Tradition der literarischen Aufarbeitung von organisierter Kriminalität beschritten hat, haben aber auch transmediale Nachwirkungen hervorgerufen, die es gar rechtfertigen, von einer ‚Marke Gomorra‘4 zu sprechen: Neben einem gleichnamigen Theaterstück sowie dem auf der literarischen Vorlage aufbauenden Film Gomorra von Matteo Garrone aus dem Jahr 2008 strahlt Sky Italia seit 2014 eine mittlerweile vier Staffeln umfassende, vor allem in Italien äußerst erfolgreiche Gomorra-Serie aus, an deren Drehbuch auch Saviano selbst mitwirkte.5 1 2 3 4 5

Vgl. Rivoletti (2015). Vgl. hierzu u. a. Gatti (2009), Ricciardi (2011). Vgl. Conrad von Heydendorff (2018), S. 281–405, bes. S. 288–300. Vgl. Benvenuti (2018). Zu den transmedialen Fortsetzungen von Gomorra vgl. ebd. sowie Guerra / Martin / Rimini (2018).

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Stellen Neapel und das umliegende Kampanien die vornehmlichen Handlungsorte in Savianos Werk und seinen transmedialen Fortsetzungen dar, so konzentriert sich der vorliegende Beitrag mit der französischen Hafenstadt Marseille auf eine andere, aufgrund ihrer mediterranen Kultur, aber auch ihrer kriminellen Strukturen oftmals mit Neapel verglichene Mittelmeermetropole, deren Repräsentation in literarischen und filmischen Medien der Gegenwart aufgearbeitet werden soll. Ein Kriterium für die Auswahl der hierbei berücksichtigten Text- und Filmmedien ist in ihrer Verflechtung mit dem ‚Phänomen Gomorra‘ zu sehen: Als ein in Ansätzen der literarischen Vorlage Savianos gegenüberstellbares Werk wird dieser Artikel die engagierte Monographie La fabrique du monstre (2016) von Philippe Pujol untersuchen, die sich der Aufarbeitung der sozialen Notstände in den nördlichen Stadtvierteln Marseilles sowie deren politischen und sozialen Ursachen widmet. Im Anschluss daran wird mit der Netflix-Produktion Marseille (2016–2018) eine fiktionale Serie behandelt, die zwar der Repräsentation der gesellschaftlichen Wirklichkeit der cité phocéenne weniger Rechnung trägt als ihrer politischen Strukturen, jedoch aufgrund ihrer internationalen Vermarktung und Reichweite durch die Bereitstellung über den US-Streamingdienst einflussreich an der Verbreitung von Diskursen über die französische Metropole partizipiert. Schließlich soll mit der seit 2015 ausgestrahlten YouTube-Serie Marsiglia eine Krimi- bzw. Actionreihe vorgestellt werden, die von ihren Produzenten als ein Anti-Format zur Netflix-Serie wahrgenommen wird und sich – in Anlehnung an Gomorra – auf die kriminellen Elemente städtischer Wirklichkeit konzentriert. Inwiefern Literatur und Film im 20. sowie frühen 21. Jahrhundert das Bild der cité phocéenne als ville noire beeinflusst und damit eine Grundlage für gegenwärtige Marseille-Diskurse geliefert haben, soll zunächst in einem einführenden Kapitel erarbeitet werden.

2.

Filmische und literarische Inszenierungen einer ville noire im 20. und frühen 21. Jahrhundert

Die nach Paris einwohnerreichste Metropole Frankreichs und größte Hafenstadt des Landes verfügt ohne Zweifel über eine „mauvaise réputation“.6 Hierzu beigetragen haben die Geschichte des einstigen Kolonialhafens als Umschlagplatz für den internationalen Drogenhandel, die Wahrnehmung der nördlichen Stadtbezirke als sozialer Krisenherd, der wachsende Einfluss des Front National und rechtsextremer Gruppierungen seit den 1990er Jahren, die politische Macht lokaler Vertreter des organisierten Verbrechens sowie zahlreiche Skandale und

6 Zum ‚schlechten Ruf‘ Marseilles vgl. Boura (2001).

Marseille: Repräsentationen der sozialen Wirklichkeit einer Stadt

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Korruptionsprozesse öffentlicher Würdenträger. Den Mythos Marseilles als französische Hauptstadt des Verbrechens, dem Michel Samson in einer neueren Studie ausführlich nachgegangen ist,7 haben nicht nur Pressemeldungen und TV-Berichterstattungen, sondern insbesondere ästhetische Medien in Form von Filmen ausgeprägt. Zwar entstehen schon in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verschiedene Kriminalfilme mit Marseille als Schauplatz, doch insbesondere ab den Sechzigerjahren häuft sich die Zahl von Spielfilmen, die die cité phocéenne als Ort verbrecherischer Handlungen inszenieren und deren erfolgreichste Beiträge in den jeweils zweiteilig angelegten Erfolgsfilmen French Connection (1971 / 1975) und Borsalino (1970 / 1974) zu sehen sind: Während die amerikanische Produktion French Connection, vornehmlich der zweite Teil, Marseille als mediterranes Zentrum für den internationalen Heroinhandel mit seinen politischen Implikationen repräsentiert, rückt Borsalino die Strukturen des lokalen Verbrechermilieus – auch als la pègre marseillaise bezeichnet – in den Vordergrund und verarbeitet auf diese Weise die historische Einflussnahme der korsischen Mafia auf die Stadtverwaltung sowie die in den Sechzigerjahren ihren Höhepunkt erreichenden Auseinandersetzungen der ortsansässigen Clans.8 Daniel Winkler hat in seiner aufschlussreichen Studie über die Darstellung Marseilles in der Filmgeschichte nachgezeichnet, wie das von den beiden äußerst populären Kriminalfilmen geprägte Bild der Mittelmeermetropole als hochgradig konfliktreiche, nicht mehr regierbare ville noire im Laufe der folgenden Jahre von zahlreichen weiteren Kriminalfilmen übernommen wurde, bei denen es sich nicht ausschließlich um französische, sondern ebenfalls ausländische Produktionen – z. B. auch zwei Sendungen der deutschen Tatort-Reihe – handelt.9 Im Rekurs auf Arbeiten des Ethnologen Rolf Lindner verdeutlicht Winkler, dass das Medium Film „gerade wegen seines virtuellen und haptischen Charakters mittels Repräsentation und Reproduktionen bei der Herausbildung des urbanen Imaginären eine besondere Rolle einnimmt“10 und im Falle Marseilles neben zumeist exotistisch anmutenden Bildern einer mediterranen Idylle den Antimythos einer kriminell-gewalttätigen Wirklichkeit der Stadt geprägt hat.11 In seinen Studien arbeitet er allerdings vor allem heraus, wie das städtische Imaginäre der cité phocéenne gerade durch jene filmischen Beiträge positiv beeinflusst werden konnte, die den „Fluch des Kriminalfilms“12 abgestreift und stattdessen Bilder der Stadt akzentuiert haben, in denen populärkulturelle, auf Marcel Pagnol re7 Vgl. Samson (2017). 8 Zur Präsenz mafiöser Strukturen und organisierter Kriminalität in Marseille vgl. D’Arrigo (2012). 9 Vgl. Winkler (2007), S. 11–16. 10 Ebd., S. 40. 11 Vgl. ebd., S. 32–42. 12 Winkler (2013), S. 11.

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kurrierende Elemente oder auch der multiethnische Charakter Marseilles in den Vordergrund rücken.13 Trotz dieser Akzente und den Bemühungen um einen städtischen ‚Imagewandel‘ wird die diskursive Kriminalisierung der Hafenmetropole über das Medium des Kriminal- und Actionfilms auch im 21. Jahrhundert fortgeführt, sie scheint vor allem in den letzten Jahren wieder einen neuen Trend gefunden zu haben: So rollt die französische Produktion La French aus dem Jahr 2014, deren deutsche Version über den aussagekräftigen Untertitel „Mörderisches Marseille“ verfügt, die Geschichte der French Connection mit einer in den Siebzigerjahren spielenden Actionhandlung wieder neu auf. Demgegenüber repräsentiert der von Netflix produzierte Actionthriller Bronx (2020) die cité phocéenne in der Gegenwart als Schauplatz eines brutalen Drogenkriegs zwischen korsischer Mafia, einflussreichen Caïds aus den quartiers nord und korrupten Polizisten. Dass auch im Ausland kollektive Vorstellungen von Marseille weiterhin durch die filmisch inszenierte Assoziation der Stadt mit Kriminalität geprägt werden, lässt sich beispielhaft an Deutschland illustrieren: Hier wurde Bronx im November 2020 von Netflix unter dem Titel Die Banden von Marseille veröffentlicht, wenige Wochen zuvor lief aber auch bereits im deutschen Fernsehen die Erstausstrahlung des von der ARD produzierten Actiondramas Spurlos in Marseille (2020), in dem ein deutsches Ehepaar auf Urlaubsreise mit der brutalen Gewalt der Marseiller pègre konfrontiert wird. Ist der Film als das wohl einflussreichste Medium für die Prägung kollektiver Vorstellungen von der französischen Mittelmeermetropole anzusehen, so muss auch der Literatur zugestanden werden, an der Pflege des kriminellen Images von Marseille mitgewirkt zu haben. In diesem Rahmen hat sich mit dem sog. polar marseillais ein eigenes Subgenre der französischen Kriminalliteratur herausgebildet, als dessen Ausgangspunkt der Erfolg der Romantrilogie Total Khéops (1995), Chourmo (1996) und Solea (1998) von Jean-Claude Izzo erachtet wird.14 Die ab den Neunzigerjahren entstehenden polars marseillais behandeln zwar Verbrechen in der cité phocéenne, die Darstellung der kriminellen Schattenseiten Marseilles ist allerdings zumeist auch an den Anspruch gebunden, auf die sozialen und politischen Probleme der städtischen Wirklichkeit aufmerksam zu machen. Als exemplarisch für diese Kriminalerzählungen mit mediterranem 13 Nach einer Aufarbeitung des provenzalischen Marseilles bei Marcel Pagnol fokussiert Winkler das politische Kino Paul Carpitas, die Repräsentation des Marseiller Alltags bei René Allio, die filmische nouvelle vogue marseillaise ab den Achtzigerjahren sowie das sozialkritische Kino von Robert Guédiguian. 14 Als Gründungswerke des polar marseillais sind neben Izzos Trilogie die noch zuvor publizierten Romane Les chapacans (1994) von Michèle Courbou und Trois jours d’engatse (1994) von Philippe Carrese sowie der 1996 veröffentlichte Roman La faute à Dégun von François Thomazeau (1996) zu erachten. Vgl. Guillemin (2003), Ireland (2004) sowie Kalt (2018), S. 227–280.

Marseille: Repräsentationen der sozialen Wirklichkeit einer Stadt

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Lokalkolorit, die darüber hinaus über einen engagiert-aufklärerischen Gestus verfügen, lassen sich vor allem Izzos Romane ansehen.15 Ihre soziopolitische Dimension geht besonders auf die Thematisierung der Lebensverhältnisse in den quartiers nord zurück, deren Bewohnerinnen und Bewohnern sich der Protagonist Fabio Montale empathisch verbunden fühlt. Die Kritik an der Vernachlässigung der lokalen Problembezirke seitens der Politik, an der verfälschenden Darstellung dieser Bezirke durch die Medien sowie an der bedrohlichen Erstarkung des rechtsextremistischen Lagers in der cité phocéenne treten am deutlichsten im Roman Chourmo zutage, der Ibrahim Ali, einem 1995 von Unterstützern des Front National getöteten Jugendlichen aus Marseille, gewidmet ist. Bei Izzo lässt sich außerdem eine an die Idealisierung der Marseiller Populärkultur gebundene Skepsis gegenüber den großen urbanistischen Veränderungen der Mittelmeermetropole konstatieren, die sich seit Mitte der Neunzigerjahre mit dem Beginn des riesigen Städtebauprojekts Euromediterranée andeuten und in anderen Werken des polar marseillais noch intensiver verarbeitet werden. Stellvertretend hierfür lässt sich Annie Barrières Roman Une belle ville comme moi (1999) anführen, in dem ein allzu deutlich auf Euromediterranée anspielendes Bauprojekt kritisch beschrieben und in einen Kriminalplot eingebunden wird. Die Veränderung der städtischen Struktur aufgrund wirtschaftlicher Erwägungen sowie die damit verbundenen Konsequenzen für das kulturelle Leben in Marseille sind ebenfalls zentrale Themen im frühen Romanwerk JeanPaul Delfinos: Während Tu touches pas à Marseille (2000) den von lokalen Rechtspopulisten eingefädelten Verkauf des Vieux-Port an einen kriminellen Oligarchen aus Russland zum Gegenstand einer satirischen Kriminalgeschichte macht, dreht sich die Handlung von Embrouilles au Vélodrome (2002) um ein Komplott innerhalb der Reihen des die kulturelle Identität der Stadt repräsentierenden Fußballvereins Olympique de Marseille.16 Der von politischer Seite aus für die cité phocéenne vorgesehene Imagewandel, der mit Euromediterranée eingeleitet und auf das Jahr 2013 projiziert wurde, in dem Marseille den Titel der Kulturhauptstadt Europas innehatte, ist in der Literatur weitgehend kritisch betrachtet worden. Als repräsentativ für die Infragestellung der mit Marseilles Transformation zu einer cultural city verbundenen Veränderungen lassen sich beispielsweise die von Cédric Fabre herausgegebenen Erzählungen der Anthologie Marseille Noir (2014), vor allem aber sein eigener Roman Marseille’s Burning (2013) rezipieren.17 Die literarische Hinterfragung der Identität der postindustriellen Hafenstadt hat gerade im vergangenen Jahr15 Zur Nostalgie der mediterranen Kultur bei Izzo vgl. Winkler (2010), zu seinen sozialkritischen Tendenzen vgl. Fleury (2001). 16 Zu den Romanen Barrières und Delfinos vgl. Kalt (2018), S. 267–272. 17 Vgl. hierzu ebd., S. 278–280.

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zehnt verschiedene Werke Marseiller Autorinnen und Autoren hervorgebracht, die sich deutlicher noch als die Texte von Fabre durch eine subversive Grundhaltung auszeichnen. Das satirische Pamphlet De la sardinitude. Éloge de l’esprit marseillais (2015) von Henri-Frédéric Blanc lässt sich in diesem Zusammenhang exemplarisch für die sog. Nouvelle Littérature Marseillaise Mondiale anführen, deren Vertreterinnen und Vertreter sich zu einer literarischen Programmatik bekennen, die sie als Overlittérature bezeichnen: „Littérature crue, iconoclaste, qui se caractérise par son réalisme burlesque, son mauvais goût assumé, son irrespect total, sa marseillitude joyeuse loin de tout régionalisme et le recours méthodique aux armes de la dérision, de la finesse graveleuse et de la satire.“18 Der ‚burleske Realismus‘ der Overlittérature, den neben Blanc vor allem Gilles Ascaride in seinem Erzählwerk – z. B. in Un Roi à Marseille (2003), La malédiction de l’Estrasse dorée (2009), La Conquête de Marsègue (2014) oder L’Espleen de Marseille (2020) – pflegt, übersetzt Eindrücke zur gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Entwicklung der cité phocéenne in groteske und karnevaleske Narrationen.19 Dieses Verlachen einer als problematisch empfundenen städtischen Wirklichkeit steht im Gegensatz zu den im Folgenden untersuchten Ansatz, den Philippe Pujol für seine dokumentarisch-investigative Auseinandersetzung mit den Problemen Marseilles wählt, die sich vor dem Hintergrund der im vorliegenden Band fokussierten Tendenzen des „Neuen Realismus“20 situieren lässt. Die darauffolgende Beschäftigung mit den Serien Marseille und Marsiglia wird zwei unterschiedliche Herangehensweisen an die filmisch-fiktionale Darstellung städtischer Realität illustrieren.

3.

Philippe Pujol und die monströse Wirklichkeit der Stadt

Der 1975 geborene Philippe Pujol ist seit dem Jahr 2003 als Journalist tätig und arbeitete über zehn Jahre für die Tageszeitung La Marseillaise. Im Rahmen dieser Beschäftigung entstand seine preisgekrönte Artikelserie Quartiers Shit über die sozialen Probleme der nördlichen Viertel Marseilles, für die er im Jahr 2014 den Prix Albert-Londres, die höchste journalistische Auszeichnung Frankreichs, erhielt. Im gleichen Jahr erschien auch seine erste Monographie unter dem Titel French deconnection. Au cœur des trafics (2014), die eine Zusammenstellung des Materials seiner Quartiers Shit-Artikel darstellt. Nach dem hieran thematisch anknüpfenden Buch La fabrique du monstre von 2016, das in der Folge aus18 Vgl. hierzu den Blog der Nouvelle Littérature Marseillaise Mondiale. 19 Zu den Romanen Gilles Ascarides vgl. Popovic (2014). 20 Zur literaturwissenschaftlichen Aufarbeitung des „Neuen Realismus“ vgl. exemplarisch den Sammelband von Fauth / Parr (2016).

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führlicher behandelt werden soll, hat sich Pujol auch mit anderen Themen literarisch und investigativ auseinandergesetzt. So hat Mon cousin le fasciste aus dem Jahr 2017 das Leben des militanten französischen Faschisten und Wortführers der ultranationalistischen Radikalgruppierung Œuvre française Yvan Benedetti zum Gegenstand. Neben einer Analyse der französischen Rechtsradikalenszene, der Machenschaften des Front National und anderer rechtspopulistischer Vereinigungen nehmen Ich-Erzählung und die Integration autobiographischen Materials in Mon cousin le fasciste noch einen größeren Raum ein als in La fabrique du monstre, da es sich bei Yvan Benedetti in der Tat um den leiblichen Cousin des Autors handelt. Demgegenüber hat man es bei Pujols 2018 veröffentlichter Monographie Marseille 2040. Le jour où notre système de santé craquera mit einem roman d’anticipation oder Science-Fiction-Doku-Roman zu tun, der ein fiktives Szenario zu medizinischer Versorgung im Zeitalter künstlicher Intelligenz entwickelt. Ebenfalls im Jahr 2018 strahlte France 2 Pujols zusammen mit Édouard Bergeron produzierten Dokumentarfilm Marseille, ils ont tué mon fils aus, der drei Mütter zu Wort kommen lässt, die über den Tod ihrer Söhne in der kriminellen Welt des Marseiller Nordens berichten, und sich somit als filmische Ergänzung zu La fabrique du monstre betrachten lässt. Auch Pujols Arbeiten aus dem Jahr 2019 knüpfen an die Auseinandersetzung mit den sozialen und politischen Problemen seiner Heimatstadt an: Während das Buch La chute du Monstre. Marseille année zéro sich den im November 2018 acht Todesopfer fordernden Einsturz zweier maroder Gebäude im Marseiller Viertel Noailles zum Ausgangspunkt nimmt, um die krisenhafte Situation der Mittelmeermetropole und den zukunftsweisenden Charakter der im Sommer 2020 anstehenden Bürgermeisterwahlen zu erörtern, fokussiert Pujols Dokumentarfilm Péril sur la ville die Lebensbedingungen im quartier La Butte Bellevue, der als mithin ärmstes Viertel der Republik gilt.21 Im Jahr 2020 erschien mit Alta Rocca Pujols erstes rein fiktionales Werk in Form eines historischen Romans, der die Geschichte zweier Brüder aus der titelgebenden Region Korsikas erzählt. Für eine Auseinandersetzung mit alltäglicher Kriminalität und prekären Lebensverhältnissen in Marseille sowie ihrer Verknüpfung mit politischen Faktoren erweist sich Pujols La fabrique du monstre als eine äußerst aufschlussreiche 21 Péril sur la ville–in Deutschland unter dem Titel Marseille – eine Stadt in Not in den Mediatheken von Arte und ARD abrufbar – repräsentiert das Leben im Viertel La Butte Bellevue, in dessen Nähe Pujol selbst aufwuchs. Der Film zeigt klar auf, wie die städtische Politik die Bedürfnisse der im Viertel ansässigen Bevölkerung nicht nur konsequent ignoriert, sondern ihr Prekariat durch diverse Baumaßnahmen und infrastrukturelle Veränderungen sogar noch verschärft. Neben den Problemen der Bewohnerinnen und Bewohner, die in Interviews klar zur Sprache kommen, thematisiert die Dokumentation aber vor allem die positiven Impulse der kulturellen Vielfalt in La Butte Bellevue und porträtiert die dort lebende interkulturelle Gemeinschaft.

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Quelle, deren konkreter Gegenstand im Untertitel der Monographie explizit benannt wird: 10 ans d’immersion dans les quartiers nord de Marseille, l’une des zones les plus inégalitaires de France. Jenes zehnjährige ‚Eintauchen‘ in die sich über das 13., 14., 15. und 16. arrondissement der Stadt erstreckenden quartiers nord22 bezieht sich auf die während seiner dortigen investigativen Tätigkeiten gewonnenen Erfahrungen Pujols, die im Werk aufgearbeitet werden. Die Schilderung der prekären Lebensverhältnisse im städtischen Norden erfolgt somit speziell über die persönlichen Erlebnisse der Erzählinstanz, was sich exemplarisch am „Les mains noires“ betitelten Eingangskapitel veranschaulichen lässt, das die Herstellung und lokale Vermarktung von Drogen behandelt. Den Ausgangspunkt des Kapitels bildet der Besuch des Ich-Erzählers in dem zur DopeHöhle umfunktionierten Keller eines Sozialwohnkomplexes, wo Jugendliche mit dem Strecken und Verpacken von Haschisch beschäftigt sind. Der Aufstieg in die höheren Etagen des Gebäudes führt ihn zu den Familien der minderjährigen Dealer, in deren Wohnungen verzweifelte Mütter ihr Leid klagen und ihm kleine Mädchen riesige Ratten als ihre Spielgefährten präsentieren: „Et j’ai beau, dans mon boulot, être régulièrement confronté à des scènes de crimes pas beaux à voir, ce sera cette petite fille et ses rats qui m’auront le plus chamboulé.“23 Die Gefühle und Anteilnahme des Erzählers an den von ihm beobachteten Verhältnissen in Marseille treten an verschiedenen Stellen zutage und lassen sich als Beleg dafür anführen, La fabrique du monstre nicht bloß als einen sachlichen Bericht, sondern als einen Essay zu betrachten, der zwischen den autobiographischen Rückblicken eines investigativ arbeitenden Journalisten, narrativ integrierten Testimonialquellen sowie gesellschaftlicher und kommunalpolitischer Dokumentation anzusiedeln ist. Indem die Erzählinstanz Pujols ihre lokalen Nachforschungen wiedergibt und zur Veranschaulichung der prekären Zustände in Marseille die tragischen Lebenswege sowie kriminellen Karrieren persönlicher Bekanntschaften aus den quartiers nord nacherzählt, orientiert er sich auch an der Darstellungsform von Savianos Erfolgsbuch, der das System der Clans ebenfalls anhand der Lebens- und Todesumstände ausgewählter Personen, wie z. B. des Schneiders Pasquale oder der ermordeten Annalisa Durante, erläutert.24 Während man es in Gomorra jedoch mit einem Ich zu tun hat, „das in einem kontinuierlichen Crescendo nach und nach mehr Raum im erzählten Raum einfordert“25, ist die Ausprägung der Präsenz des Ich-Erzählers in La fabrique du monstre an die Thematik des jeweiligen Kapitels gebunden. So wird man in den Drogen- und Bandenkriminalität behandelnden Kapiteln, beispielsweise „Les 22 23 24 25

Zur Geschichte der quartiers nord vgl. Peraldi / Duport / Samson (2015), S. 53–63. Pujol (2016), S. 14–15. La fabrique du monstre wird in der Folge unter der Sigle FM zitiert. Zur Rolle der Nebenfiguren bei Saviano vgl. Conrad von Heydendorff (2018), S. 323–332. Zur Konstruktion des Ich-Erzählers in Gomorra vgl. ebd., S. 308–323, hier S. 308.

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mains noires“ (FM, S. 9–28), „La tête en vrac“ (FM, S. 29–41), „Caïd jetable“ (FM, S. 59–74) oder „La rumeur“ (FM, S. 75–93), mit einer deutlicher in Erscheinung tretenden Erzählinstanz konfrontiert, deren Narration sich auf Gespräche mit Dealern oder Besuche bei Opferfamilien und in Gefängnissen stützt. Demgegenüber treten die persönlichen Erfahrungen des Erzählers in den speziell die Verflechtungen von Kommunalpolitik, Immobilienwirtschaft und Korruptionsskandalen nachzeichnenden Kapitel, z. B. „Dieu le maire“ (FM, S. 157–178) oder „Les bétonneurs“ (FM, S. 199–225), zugunsten der Vermittlung lokalpolitischer Entwicklungen oder der Dokumentation relevanter Statistiken eher in den Hintergrund. Pujol setzt sich mit La fabrique du monstre den Anspruch, durch die textuelle Abbildung der sozialen Realität Marseilles auf die fahrlässigen politischen Fehler in seiner Heimatstadt und die Mechanismen eines korrupten Systems aufmerksam zu machen. Bei seiner Darstellung der gesellschaftlichen Wirklichkeit bedient er sich verschiedener „effets de réel“, beispielsweise wenn er Aussagen von interviewten Personen oder auch Briefe in den Text wortgetreu integriert, ohne dass grammatikalische und orthographische Fehler oder kolloquiale Ausdrucksweisen angepasst werden. Exemplarisch hierfür lässt sich eine Passage anführen, die ein vom Erzähler belauschtes Handytelefonat reproduziert, bei dem die Exekution von Nadir Berrouag, der seinen ermordeten Sohn Kader rächen wollte, lebhaft wiedergegeben wird: C’est pas Allili qu’a tué son fils, mais c’est lui qu’a payé… D’où t’y as vu que c’est juste, une vengeance?! De t’façon, le clando, il a dit qu’il les niquerait tous… Eh ouais… En fait y s’est suicidé, le gadjo. Y s’est suicidé à la kalachnikov… Deux chargeurs… Y restait que la tête… Le corps, c’était de la viande… Les mecs en tirant y z’ont gueulé: ‚Tu l’as cherché, enculé!‘ […] C’était à la sortie de l’autoroute, juste avant l’embouteillage… Y en a qui disent qu’un mec est descendu du Picasso du clando, puis qu’une voiture l’a poussé contre la glissière, t’as vu… Sont sortis à deux… Et z’ont tiré… Tadadadadadadadadada!… Devant tout le monde, à l’heure de la sortie des bureaux… Y avait un embouteillage et les gens y prenaient des photos… hé! Tu le sais… Ça excite, le sang… (FM, S. 82)

Die Wiedergabe des telefonischen Tatberichts gewinnt nicht nur durch die Transkription der Aussprache des Sprechers, sondern auch durch die onomatopoetische Nachahmung der Schusslaute eine Authentizität, die sogar die Faszination des berichtenden Augenzeugen unheimlich anklingen lässt. Pujol zielt allerdings nicht nur auf eine authentische Abbildung der sozialen Wirklichkeit, sondern er problematisiert auch in verschiedenen Kapiteln, wie die Repräsentation prekärer gesellschaftlicher Verhältnisse ebenso einer entsprechenden Rezeption bedarf, um zur Beseitigung von Missständen dienen zu können, und akzentuiert die Verantwortung des Journalisten. So zitiert der Ich-Erzähler bereits zu Anfang des ersten Kapitels die Worte eines Mittelsmanns, der ihm Zu-

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gang zum Drogenkeller eines Wohnhauskomplexes verschaffte: „‚Vous me faites un bon article sur les dealers du B, comme ça à la mairie, ils finiront bien par le détruire ce putain de bâtiment, et ça arrangerait du monde.‘ C’est son deal avec moi. Le journalisme, c’est aussi se laisser manipuler un peu, en conscience et en contrôle“ (FM, S. 9). Handelt es sich in diesem Fall noch um eine Manipulation, die der Erzähler in Kauf nimmt, da sie ihm investigative Fortschritte verspricht, werden in La fabrique du monstre auch gefährliche Rezeptionsweisen journalistischer und dokumentarischer Texte aufgezeigt. Die Darstellung eines kriminellen Vorfalls in einem Presseartikel mag bei manchen Leserinnen und Lesern Bestürzung oder vielleicht auch ein Bewusstsein für die Notwendigkeit gesellschaftspolitischer Veränderungen auslösen, sie kann aber auch genauso gut dem self-fashioning der Delinquenten dienlich sein, weshalb der Ich-Erzähler auch eingestehen muss, durch seine Berichterstattung über Verbrechen in Marseille zahlreichen jungen Kriminellen Material für ihren ‚Gangster-Lebenslauf‘ geliefert zu haben: Un choix de carrière. Ces nombreux braquages n’étaient donc que des épreuves du feu pour les candidats criminels ravis de brandir le journal local qui allait, dès le lendemain, enrichir leurs curriculum vitae en contant leurs exploits. ‚Ce vol à main armée, c’est moi !‘ Moi-même, en dix ans de faits divers marseillais, j’en ai écrit tant des CV… (FM, S. 67– 68)

Neben solchen autoreferentiellen Passagen, in denen die Erzählinstanz die eigene Tätigkeit als Chronist der gesellschaftlichen Entwicklung Marseilles hinterfragt, wird in La fabrique du monstre die Abbildung der sozialen Wirklichkeit der Stadt sowohl durch textuelle als auch vor allem bildliche Medien regelmäßig zum Gegenstand der Reflexion. So kommentiert der Erzähler den Moment, als er zum ersten Mal die Videoaufnahme von der Ermordung des jungen Dealers Kader Berrouag sieht, folgendermaßen: Quelques jours plus tard, à l’hôtel central de police de Marseille, un enquêteur me montrera les images des caméras de surveillance du Campanile. Dessus, on verra le tueur, cagoulé, non identifiable. Il y a dans ces images moches de vidéosurveillance un supplément de réalisme qui fait bien comprendre que ce qui se passe là n’est pas du cinéma. (FM, S. 54)

Während der Erzähler von der Unmittelbarkeit des Tatvideos und seiner nüchtern-sachlichen Glossierung durch den Polizeibericht ergriffen ist, erinnert er jedoch auch direkt daran, dass die von ihm sofort vollzogene Unterscheidung zwischen der Aufnahme eines in der Realität stattgefundenen Mordes und der Tötung in einem Kinofilm von vielen seiner jugendlichen Bekanntschaften aus den Problemviertel überhaupt nicht wahrgenommen würde:

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En voilà une vidéo qui ferait un carton sur Facebook. Avec le cul, la violence, c’est le passe-temps préféré des gamins désœuvrés. La violence, ça les excite, ces abrutis qui se filment à se taper sur la gueule ou à humilier l’autre, ça les fait bien rire. Une petite dose de plaisir en plus quand une vidéosurveillance montre un arrachage de sac devant une banque ou une agression en groupe dans un bus. Il vaut mieux s’accoutumer à la violence dans laquelle on vit quotidiennement. (FM, S. 55)

Der medialen Repräsentation von Kriminalität und Gewalt kommt in La fabrique du monstre somit noch ein anderes Referenz- und Identifikationspotential zu als im „Hollywood“-Kapitel von Gomorra.26 Schildert Saviano ebendort, wie Camorra-Anhänger Mafia-Filme mythisieren und die Leinwand-Existenzen von Tony Montana und anderen fiktiven Gangstern hyperrealistisch nachzuleben versuchen,27 sind die von den Marseiller Jugendlichen im kriminellen Umfeld glorifizierten Videos real und können es durch mediale Verbreitung ihren Handlungsträgern ermöglichen, den Status von lokalen Verbrecherlegenden in den sozialen Netzwerken zu erlangen: „Le mythe est le carburant de l’ambition. Et l’ambition, le moteur de toute délinquance“ (FM, S. 34). La fabrique du monstre bildet den kriminellen Alltag in den quartiers nord sowie die Probleme der dort lebenden Menschen ab und analysiert die hierfür ausschlaggebenden sozialpolitischen und städtebaulichen Fehler in Marseille, deren Verantwortliche – neben Bürgermeister Jean-Claude Gaudin werden zahlreiche weitere Politiker namentlich genannt – im Text denunziert werden. Pujols Monographie erweist sich somit als eine engagierte Narration, die sich über eine intertextuelle Referenz auf Saviano als Vorbild beruft: So findet sich im Kapitel „Usual suspects“, das die politische Korruption in Marseille behandelt, die Beschreibung einer Kommunalverbandssitzung, in deren Rahmen der UMPVertreter Renaud Muselier einen Handlanger des für illegale Immobiliengeschäfte berüchtigten Politikers Jean-Noël Guérini mit einer Ausgabe von Gomorra bewirft.28 Savianos Intertext wird somit in seiner materiellen Buchform als ein Zeichen des Protests in La fabrique du monstre eingeführt, auf den auch Pujol mit seiner Publikation zielt. Seine Erzählinstanz geht zwar auf zum Teil äußerst grausame Delikte ein, die auf den Straßen der südfranzösischen Metropole verübt werden, dennoch werden die Marseiller Drogendealer, Straßendiebe und Killer im Text nicht angeklagt, sondern als Produkte ihres Milieus beschrieben. Dieser deterministische Ansatz schlägt sich am deutlichsten in einer den Buch26 Vgl. Saviano (2006), S. 266–282. 27 Zum ‚verkehrten‘ Hyperrealismus in Savianos intertextuell und intermedial angelegtem „Hollywood“-Kapitel vgl. Conrad von Heydendorff (2018), S. 389–399. 28 „Au moment des fuites de la presse sur l’affaire de la décharge du Mentaure – qu’on appellera l’‚affaire Guérini‘ – Renaud Muselier, le candidat UMP qui a vu échapper la présidence de MPM, jettera sur Eugène Caselli, lors d’une assemblée communautaire, le livre Gomorra traitant de la Camorra, la pègre italienne“ (FM, S. 192).

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titel aufgreifenden Passage nieder, die die fiktive Apologie eines gewaltbereiten Jugendlichen aus dem Marseiller Norden darstellt: On cache les monstres que l’on crée. Alors oui, je suis devenu de ces cramés qui ne prennent du plomb dans la tête qu’avec de puissantes détonations. Il en faut bien qui meurent, sinon qu’écriraient les journalistes, que raconteraient les politiques, que penseraient les gens, les honnêtes citoyens que les premiers veulent comme lecteurs et les seconds comme électeurs? Je suis une arme politique, et on m’a fabriquée pour exploser au bon moment. (FM, S. 114)

Die Identifikation des jugendlichen Straftäters mit einem ‚Monster‘ weist diesen als moralisch und gesellschaftlich von der Gruppe der „honnêtes citoyens“ abweichende Figur aus, die durch ihre Anormalität von verschiedenen Akteuren des öffentlichen Diskurses instrumentalisiert wird:29 Die Gewaltbereitschaft und Verbrechen des kriminellen ‚Monsters‘, die zum Gegenstand journalistischer Berichterstattung werden, können durch die Schlagzeilen der Presse ein Schockpotential innerhalb einer sich als bedroht fühlenden Leserschaft der bürgerlichen Gesellschaft entfachen, von dem dieselben Politiker für Wahlkampfzwecke profitieren, die durch ihre Vernachlässigung sozialpolitischer Aufgaben die Bedingungen für Kriminalität in den städtischen Problemvierteln fördern. Die titelgebende ‚Monsterfabrik‘ bezieht sich somit auf das politische System in Marseille, das für seinen Klientelismus und seine Gleichgültigkeit gegenüber Werten urbanen Zusammenlebens textuell angeklagt und als Urheber der prekären Verhältnisse in der Mittelmeermetropole beschuldigt wird. Im „Frankenstein“ betitelten Abschlusskapitel deutet die Erzählinstanz an, dass das in Marseille sein Unwesen treibende ‚Monster‘ jedoch kein lokales Phänomen darstelle, sondern vor einem nationalen Hintergrund zu betrachten sei, zumal die Probleme Marseilles auch auf ähnliche Weise in anderen französischen Städten präsent seien. Seine Darstellung der sozialen und kriminellen Wirklichkeit der Stadt möchte demnach keinen weiteren Stoff für das berüchtigte „Marseille Bashing“ in Presse- und TV-Berichten liefern, sondern legt das in nationalen bzw. Pariser Medien verbreitete negative Bild der „französischen Hauptstadt des Verbrechens“ als einen Diskurs offen, der die cité phocéenne als ein ‚Sicherheitsventil‘, „une sorte de soupape de sûreté pour libérer la pression trop forte des problèmes refoulés dans l’Hexagone“ (FM, S. 264) gebraucht. Insofern gelangt Pujol auch zu der sein Buch abschließenden Diagnose: „Cette ville n’est tout simplement que l’illustration visible des malfaçons de la République française“ (FM, S. 265). La fabrique du monstre ist demnach als eine 29 Den wohl einschlägigsten Beitrag zur Auseinandersetzung mit Diskursen der Monstrosität und Anormalität hat Michel Foucault mit seiner Vorlesungsreihe Les Anormaux (1999) aus den Jahren 1974 und 1975 beigesteuert. Zur Verwendung des Monstrositätsdiskurses in literarischen und massenmedialen Texten vgl. Parr (2009).

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Warnung angesichts der gesellschaftspolitischen Entwicklung Frankreichs zu lesen, das in Marseille geschaffene ‚Monster‘ soll damit auch im Sinne seines etymologischen Ursprungs als ein Mahnzeichen begriffen werden.

4.

Marseille – städtische Wirklichkeit im Netflix-Format?

Nachdem sich Pujol durch seine Quartiers Shit sowie La fabrique du monstre einen Ruf als ausgewiesener Kenner der gesellschaftlichen und politischen Strukturen seiner Heimatstadt erwerben konnte, wurde er im Jahr 2016 von der französischen Produktionsfirma Federation Entertainment für die Mitarbeit am Drehbuch zur zweiten Staffel der von Netflix vermarkteten Serie Marseille (2016– 2018) angeworben.30 Mit der zweimal acht Episoden umfassenden und aufwendig beworbenen Reihe präsentierte das US-Streaming-Portal seine erste französische Serienproduktion, die auf einem Drehbuch von Dan Franck basiert und unter der Regie von Pascal Breton und Florent Siri entstanden ist.31 Der einen Monat vor der Erstausstrahlung veröffentlichte Trailer32 verspricht eine spannungsgeladene Handlung um den Machtkampf zweier Männer, die sich um das Bürgermeisteramt in Marseille streiten. In diesem zweiminütigen Videoclip werden bereits Aufnahmen wie der aus der Vogelperspektive gefilmte historische Stadtkern und der Vieux Port, Innenaufnahmen aus dem Rathaus, kurze Ansichten auf das Fußballstadion Stade Vélodrome sowie ein Sozialwohnkomplex gezeigt, die auch im Verlauf der einzelnen Episoden immer wieder als Übergang zwischen unterschiedlichen Szenen eingeblendet werden. Den Ausgangspunkt des Plots von Marseille stellt das Ende der Amtszeit des mehr als zwei Jahrzehnte die cité phocéenne regierenden Bürgermeisters Robert Taro, verkörpert von Gérard Depardieu, dar, der sich wenige Wochen vor den Neuwahlen mit der Verabschiedung eines prestigereichen Großbauprojekts im Bereich der städtischen Hafenanlagen ein Denkmal setzen möchte: Durch die Baugenehmigung für ein großes Kasino, einen neuen Jachthafen und Nobelhotels beabsichtigt er, „que

30 In einem Interview aus dem Jahr der Erstausstrahlung der zweiten Staffel geht Pujol auf Distanz zu der Netflix-Serie, indem er erklärt, dass im endgültigen Drehbuch kaum noch etwas von seinen Beiträgen übernommen wurde: „Après l’écriture d’une première version du scénario, il se replonge dans ses autres projets. Repris par une seconde équipe de scénaristes, le résultat à l’écran semble assez loin de ce qu’il avait imaginé. ‚Je n’ai écrit aucun dialogue ni épisode‘, précise Philippe Pujol, pour qui le rendu final correspond surtout à la vision de la production française Federation Entertainment.“ Vgl. Elziere (2018). 31 Zu den Promotionaktionen zählte beispielsweise die Installation der Aufschrift „Marseille“ auf einem Marseiller Hügel, die dem berühmten Hollywood Sign der Hollywood Hills nachgebildet war. 32 Vgl. „Marseille | official trailer #1“ (2016).

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Marseille devienne la capitale de l’Europe du Sud“.33 Neben diesem deutlich auf Euromediterranée anspielenden Projekt plant Taro, auch nach dem Ausscheiden aus dem Amt die Geschicke der Stadt weiter zu lenken, indem er seinen politischen Ziehsohn und premier adjoint Lucas Barrès, gespielt von Benoît Magimel, als Strohmann verwenden und bei den anstehenden Wahlen als Bürgermeisterkandidat unterstützen will. Doch Barrès düpiert seinen Lehrmeister, indem er mit seinem entscheidenden Votum gegen den Bau des neuen Hafenkomplexes stimmt, und nutzt das Scheitern des Projekts als politische Kampfansage an Taro, der in der Folge seinen geplanten Ruhestand verwirft, um noch einmal bei den Bürgermeisterwahlen anzutreten. Im Zentrum der ersten Staffel von Marseille steht somit der Wahlkampf der beiden Politiker, wodurch der Eindruck erweckt wird, dass sich die Produzenten vom Erfolg der zur gleichen Zeit äußerst erfolgreichen US-Politserie House of Cards (2013–2018) inspirieren ließen. Die beiden Hauptfiguren von Marseille geben zwar immer wieder ihre Verbundenheit mit der Stadt und die Sorge um ihre Zukunft als Grund für ihre Kandidatur an, verfügen jedoch in der ersten Staffel vornehmlich über andere Motive: Geht es Taro um die Perpetuierung seiner Macht und seiner Rolle als paternalistisches Oberhaupt Marseilles, sinnt Barrès auf die Erfüllung langjähriger Rachegelüste, da – wie im Laufe der Staffel aufgedeckt wird – sein politischer Ziehvater Taro auch zugleich sein leiblicher Vater ist, der den Sohn aus Unwissenheit in einem Waisenhaus aufwachsen ließ. Neben politischer Macht lässt sich somit als zweiter zentraler Themenbereich der Netflix-Serie familiäre Verantwortung konstatieren, mit deren Vernachlässigung Taro nicht nur von Barrès, sondern auch von seiner Frau Rachel konfrontiert wird, da er Marseille stets Priorität gegenüber seiner eigenen Familie eingeräumt habe. Geht man davon aus, dass die konkrete Titelwahl eine über die bloße Funktion des Handlungsschauplatzes hinausgehende Bedeutung der cité phocéenne für die Serie suggeriert, so gilt es zu hinterfragen, auf welche Weise sie die Stadt für ein internationales Netflix-Publikum repräsentiert. Dabei fällt auf, dass der materielle Stadtraum Marseilles in Marseille verhältnismäßig selten gezeigt wird: Die regelmäßigen, zumeist kurzen Einblendungen des Vieux Port, der Cathédrale de la Major, des Stade Vélodrome, des Château d’If, der Calanques oder das häufige Schwenken der Kamera über das städtische Häusermeer aus der Perspektive der Marienstatue von Notre-Dame de la Garde verweisen zwar als bekannte touristische Motive eindeutig auf Marseille. Dennoch spielen sich die meisten Szenen der Serie in den Innenräumen von Verwaltungsgebäuden, politischen Büros, Privathäusern oder Restaurants ab, die allenfalls eine Verortung in Marseille erlauben, wenn durch ein Fenster oder von einer Terrasse aus eines der genannten Wahrzeichen in der Ferne sichtbar wird. Einblicke in die Stadt als ein 33 Franck (2016–2018), Staffel 1 / Folge 1, 11:44.

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‚gelebter Raum‘, durch die die lokale Bevölkerung in ihrem Alltag zum Vorschein kommen kann, sind in der Netflix-Serie gänzlich unterrepräsentiert. Die Marseiller Volkskultur, für die die beiden Protagonisten häufig ihre Zuneigung ausdrücken, wird allenfalls durch die Darstellung von Fußballfans vertreten oder bei einem Wahlkampfauftritt der beiden Bürgermeisterkandidaten auf dem Fischmarkt am Vieux Port gezeigt,34 während man Aufnahmen aus den Straßen der belebten Innenstadt – beispielsweise von der Canebière – vergeblich erwartet. Demgegenüber treten die kaum bildlich repräsentierte Bevölkerung und städtische Kultur der Mittelmeermetropole sehr häufig als Referenzen in den Worten der Protagonisten auf, z. B. wenn sie die Liebe zu Marseille und seinen Menschen als Antriebsfeder ihres politischen Handelns angeben. Insbesondere die zweite Staffel, die verschiedene Krisen- und Gefahrenmomente des Lebens in Marseille behandelt – darunter der zunehmende politische Einfluss des rechtsextremen Parti Français oder die Bedrohung durch einen islamistischen Terroranschlag –, inszeniert die Rolle der beiden sich im Handlungsverlauf aussöhnenden Bürgermeisterfiguren als Beschützer ihrer Heimatstadt. Diese Funktion der beiden Protagonisten wird alleine schon dadurch evoziert, dass Marseille auch in der Tat als eine schutzbedürftige Stadt dargestellt wird: Die Geschicke der cité phocéenne werden in der Netflix-Serie weitgehend von einer Allianz aus skrupellosen, machthungrigen Politikern – allen voran die intrigierende Abgeordnete Vanessa d’Abrantès sowie in Staffel 2 der Rechtspopulist Marciano – und der Marseiller pègre bestimmt, die vor Erpressung, Mord und Anschlägen nicht zurückschrecken, um die Entscheidungen im Stadtrat zu ihren eigenen Gunsten zu beeinflussen. Damit rekurriert Marseille auf das Bild der ville noire und repräsentiert die Stadt als einen Raum ohne Ordnung, in dem Macht gewaltsam ergriffen werden muss. Dies spiegelt auch die im Netflix-Trailer zur Serie angekündigte Devise „Power is not given, it’s taken“35 wider, die speziell für die beiden Protagonisten Gültigkeit besitzt: Vor allem in der ersten Staffel schreckt der von Vanessa d’Abrantès manipulierte Barrès nicht davor zurück, mit dem Mafioso Ange Cosini sowie dem Gangsterboss Farid zu paktieren, um das Bürgermeisteramt zu erlangen, und auch der Altbürgermeister Taro beschreibt sich im Wahlkampf als „un cocodrile […] [p]rêt à mordre, à tuer, à dévorer“.36 Während die erste Serienstaffel die Verstrickung von Politik und Kriminalität als ein natürliches und für Marseille unvermeidliches Phänomen präsentiert und die Protagonisten als ambivalente Figuren in Erscheinung treten, werden in der zweiten Staffel Differenzierungen hinsichtlich der Bewertung politischen Handelns vorgenommen, durch die eine klare Rollenverteilung der politischen Ak34 Vgl. ebd., Staffel 1, Folge 4, 9:45–11:32. 35 „Marseille | official trailer #1“ (2016). 36 Franck (2016–2018), Staffel 1 / Folge 3, 29:36–29:42.

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teure in Marseille entsteht. Dies erfolgt durch den im Plot der zweiten acht Episoden stärker in den Vordergrund rückenden Parti Français, der als unübersehbare Anspielung auf den Front National die antagonistische Seite der städtischen Politik verkörpert, während das sich wieder annähernde Vater-SohnGespann Taro / Barrès für ein Marseille als Ort des sozialen Miteinanders und des friedfertigen Zusammenlebens einsteht. Obwohl im Zentrum der Serie politische Machtkämpfe sowie Intrigen stehen und Marseille eher auf spannungsgeladene Unterhaltung als auf authentische Einblicke in die Kultur der Mittelmeermetropole ausgerichtet zu sein scheint, lassen sich dennoch vereinzelte Bemühungen zur Repräsentation städtischer Wirklichkeit in der Netflix-Produktion erkennen. Der Titel der ersten Folge „Vingt ans“ bezieht sich auf die zum Handlungsbeginn bereits 20 Jahre andauernde Amtszeit des Protagonisten Robert Taro als Oberhaupt der Stadt – genau die gleiche Zeitspanne regierte auch zum Serienstart der von 1995 bis 2020 das Amt des Bürgermeisters von Marseille bekleidende Jean-Claude Gaudin. Es erscheint insofern naheliegend, in Taro eine Anspielung auf Gaudin zu sehen, dessen Wesenszüge vereinzelt für die Serienfigur übernommen wurden: Hat der ehemalige französische Premierminister Jean-Pierre Raffarin dem Marseiller Stadtoberhaupt einmal „le charme de Pagnol et les griffes d’un tigre“37 als Eigenschaften zugeschrieben, so findet man die Raubtiermetaphorik auch in Taros Selbstverständnis als politisches ‚Krokodil‘ wieder, während er zugleich in der Öffentlichkeit das Image eines volksnahen bonhomme pflegt. Obwohl der in Gaudins Interviews und öffentlichen Auftritten deutlich hervortretende Marseiller Akzent von Gérard Dépardieu für die Serienrolle nicht übernommen wurde, lassen sich dennoch auf rhetorischer Ebene Ähnlichkeiten zwischen dem fiktionalen und dem realen Bürgermeister der cité phocéenne konstatieren, sodass letzterer gar in einem Interview mit Le Parisien gefragt wurde, ob er sich in Robert Taro wiedererkenne.38 Gerade in den letzten Jahren seiner sich über zwei Dekaden erstreckenden Amtszeit wurde Gaudin immer wieder mit dem Vorwurf der Vernachlässigung der quartiers nord konfrontiert, für deren prekäre Lebensbedingungen ihn beispielsweise Pujol in einem „Dieu le maire“ betitelten Kapitel (FM, S. 157–178) in La fabrique du monstre verantwortlich macht. Ein Bezug zwischen der Politik des Altbürgermeisters Taro und den städtischen Problemvierteln wird in Marseille hingegen nicht explizit hergestellt, allenfalls angedeutet. Jedoch werden in unterschiedlichen Folgen der ersten Staffel die sozialen Verhältnisse in der zu den ärmsten Vierteln Frankreichs zählenden cité Félix-Pyat thematisiert, über die die als Journalistin tätige Bürgermeistertochter 37 Vgl. Fulda (2014). 38 Die Antwort Gaudins lautete erwartungsgemäß: „[J]e ne me reconnais absolument pas dans ce rôle“. Vgl. Leras (2018).

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Julia Taro eine Reportage verfassen möchte. Bei einer Autofahrt durch Félix-Pyat präsentiert Julias Ex-Freund Érik ihr – und damit auch dem Serienpublikum – seinen Heimatort: Aus dem vorbeifahrenden Wagen nimmt die Kamera Jugendliche auf, die zwischen riesigen Wohnbaublöcken, Kränen, unvollendeten Gebäudekomplexen und graffitigesäumtem Beton ihre Zeit totschlagen. Ebenso werden auf der Straße hinterlassene Essensreste und Sofas gezeigt sowie Erwachsene, die im Hintergrund betätigungslos auf Treppen sitzen oder zwischen Abfall herumstehen.39 Die Konfrontation der großbürgerlich aufgewachsenen Julia mit den ihr als Teil der sozialen Wirklichkeit ihrer Heimatstadt vorgestellten Straßen von Félix-Pyat löst bei ihr Betroffenheit aus. Die stereotypisierten Bilder aus der cité werden in der gleichen Folge durch eine Szene ergänzt, in der Julia alleine nach Félix-Pyat zurückkehrt und eine interkulturelle Gemeinschaft von Jugendlichen beobachtet, die vor einem Betonhintergrund Freude an Break Dance und Hiphop-Musik haben.40 In ihrem vergeblichen Bemühen, nicht vor der lokalen Gruppe als Auswärtige aufzufallen, nimmt Julia einen Joint des Dealers Sélim an, mit dem sie später auch eine Affäre beginnen wird. Die beiden kurzen Szenen aus Félix-Pyat geben nicht nur einen sehr oberflächlichen Eindruck vom Leben in den quartiers nord wieder, sondern stellen tatsächlich auch die mithin repräsentativsten Einblicke innerhalb der sehr spärlichen Bezugnahme von Marseille auf das städtische Prekariat dar. Nicht von ungefähr fasst daher auch ein exemplarisch für die nahezu ausschließlich negativen Rezensionen zur Netflix-Serie stehender Beitrag auf Zeit Online die Wirklichkeitsdarstellung von Marseille unter der Überschrift „Kein Realismus, sondern Stereotype“41 zusammen. Auf Figurenebene lässt sich diese stereotypisierende Darstellungsweise am Beispiel von Sélim illustrieren, der seine kriminelle Vergangenheit abstreifen will, sentimentale Gedichte schreibt und schließlich nach der Stimmabgabe für Taro vor dem Wahllokal von Julias Ex-Lover Érik niedergestochen wird. Zum Kampf der beiden jungen Männer und einstigen Freunde aus Félix-Pyat kommt es vor dem Hintergrund einer auch von Pujol beschriebenen politischen Praxis, lokale Banden in den quartiers nord für den ‚Kauf‘ von Wählerstimmen einzusetzen, was in Marseille insbesondere im Kontext der Affäre um die Politikerin Sylvie Andrieux öffentlich denunziert wurde.42 Doch Sélims Tötung durch Érik ist gerade eben nicht auf kriminelle oder politische Motive, sondern auf Eifersucht und erotische Frustration zurückzuführen, und steht somit für die deutliche Priorität privater bzw. familiärer Konfliktfelder gegenüber sozialen Konfliktfeldern in der ersten Staffel von Marseille. 39 40 41 42

Vgl. Franck (2016–2018), Staffel 1 / Folge 1, 12:17–13:14. Ebd., 15:43–16:34. Vgl. Ströbele (2016). Zum Klientelismus sowie den Verbindungen Marseiller Politikerinnen und Politiker mit lokalen Caïds zum ‚Stimmenkauf‘ vgl. Peraldi / Duport / Samson (2015), S. 61–63.

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Für die zweite Staffel von Marseille haben die Drehbuchautoren der Kritik an der nur spärlichen Bezugnahme auf gesellschaftliche Probleme offensichtlich Rechnung getragen und für die acht Episoden aus dem Jahr 2018 den politischen Machtkampf in der Hafenmetropole um zusätzliche Themen ergänzt. Mit der Gefahr des Rechtsextremismus in Marseille greift die Serie ein Phänomen auf, das spätestens seit den 1990er Jahren den öffentlichen Diskurs über die Stadt geprägt hat und auch bereits seit Izzo literarisch im polar marseillais verarbeitet wird. Parallel zur Inszenierung der Skrupellosigkeit rechtspopulistischer Politiker sprechen sich die Protagonisten Taro und Barrès für eine Vision ihrer Heimatstadt als Schutzraum für die von den Anhängern des Parti Français nicht tolerierten Gruppen der städtischen Bevölkerung aus. Hierzu zählen neben der homosexuellen Fußballvereinsbeauftragten Rubi, die bei einem von Rechtsextremisten angezettelten Stadiontumult ums Leben kommt, vor allem die in Marseille lebenden sans papiers. Der Werdegang des jungen Geflüchteten Todd, dessen alleinerziehendem Vater die Abschiebung droht und für den sich Taros Ehefrau Rachel fürsorglich einsetzt, steht dabei für eine offene Kritik an der französischen Migrationspolitik, wobei die Vertreter des Staats in Form der Polizei in der Serie durchaus recht negativ gezeichnet werden. In dieser Hinsicht lässt sich der Netflix-Produktion in der Tat eine engagierte Botschaft zusprechen, die von Barrès in der Auseinandersetzung mit xenophoben Bürgern explizit verteidigt und auf die städtische Identität übertragen wird: „[L]a force de Marseille, c’est le mélange des cultures. C’est ça qui fait la force, son identité. C’est toutes ces vagues de migrants.“43 Die deutliche Evokation der topischen Bilder Marseilles als Zufluchtsstadt und „Symbol der Weltgemeinschaft“44, durch die das speziell in der ersten Staffel aufgerufene Motiv der ville noire scheinbar überwunden wird, verleiht dem Serienende einen nahezu didaktischen Anspruch. Die Emphase des von Taro und Barrès vertretenen Toleranzgedankens lässt zwar die beiden Charaktere in einem deutlich positiveren Licht erscheinen als noch zu Handlungsbeginn, zugunsten der Harmonisierung des Plots blendet die zweite Staffel jedoch die Probleme von Armut und Kriminalität in den cités weitgehend aus:45 Das zu Serienbeginn noch angedeutete Prekariat in den quartiers nord hat in den zweiten acht Episoden keinen Platz mehr, wodurch ein den öffentlichen Diskurs über die cité phocéenne bestimmendes Thema aus dem Drehbuch verschwindet. Das Serienfinale von Marseille mag ein wiedervereintes Vater-Sohn-Duo präsentieren, das die geliebte Stadt gemeinsam in eine bessere Zukunft führen möchte, doch dieses Happy End wird gerade dadurch möglich, 43 Franck (2016–2018), Staffel 2, Folge 6, 23:14–23:17. 44 Vgl. Edeling (2012), S. 263. 45 Eine Trübung der Harmonie zu Serienende entsteht lediglich dadurch, dass sich in der Schlussszene ein Erpressungsversuch des neuen Bürgermeisters Barrès durch Farid, den Caïd von Félix-Pyat, andeutet.

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dass der Blick auf die soziale Wirklichkeit der Mittelmeermetropole verstellt wird.

5.

Marsiglia – „une série réaliste, une vraie, sur Marseille“

Bereits ein Jahr vor der Erstausstrahlung von Marseille startete ein gegenwärtig noch nicht abgeschlossenes Serienprojekt unter dem Titel Marsiglia, dessen erste Folgen seit 2015 auf dem Videoportal YouTube angeschaut werden können.46 Nach der Veröffentlichung von zwei Episoden der dritten Staffel im Jahr 2019 haben die Produzenten auf der Facebook-Seite der Serie im Jahr 2020 ein TVFormat als Fortsetzung angekündigt, das als französisch-italienisches Projekt eine Verbindung der kriminellen Strukturen von Marseille und Neapel inszenieren soll und französischen Fernsehanstalten als Konzept vorgelegt wurde.47 Die Italianisierung der französischen Hafenstadt im Serientitel sowie die die einzelnen Folgen einleitende süditalienische Musik sind zweifellos als Referenzen auf das Genre des Mafia-Films zu verstehen.48 Während Marseille primär die Handlungen der Vertreterinnen und Vertreter des politischen Establishment in der cité phocéenne beleuchtet und nur am Rande auf das Leben und die Gefahren in den lokalen Problemvierteln eingeht, widmet sich Marsiglia der auf Netflix vernachlässigten Repräsentation der quartiers nord und speziell ihrer Kriminalität, die anhand der Verbrecherkarrieren der verschiedenen Charaktere aufgearbeitet wird. Im Zentrum der als ein „Anti-Netflix-Format“49 wahrgenommenen Webserie steht der zu Beginn aus dem Gefängnis von Les Baumettes entlassene korsischstämmige Protagonist Vinci, der in die cité L’Estaque zurückkehrt und gemeinsam mit seinem Freund Younes sowie anderen Kameraden wieder kriminell aktiv wird. Nachdem Vinci mit seiner Bande zum Ende der ersten Folge eine Drogenlieferung der Clan-Bosse Enzo und Alberto Padovani ausraubt, entsteht eine Rivalität, die in einen Kreislauf der Gewalt mündet. Die Polizei ist den kriminellen Akteuren zwar stets auf den Fersen, erweist sich jedoch als machtlos oder gar selbst als korrupt. Vinci und seine Gefolgsleute können im Verlauf der ersten Staffel den Bandenkrieg für sich entscheiden, indem sie durch die Unterstützung des aus Korsika stammenden Waffenhändlers Tantu und einen Pakt mit dem Mafioso Filippi die Padovani-Brüder schließlich töten. In der 46 Während die ersten beiden Staffeln jeweils sechs Folgen umfassen, sind von der dritten Staffel zwei Folgen verfügbar. Der YouTube-Kanal von Marsiglia la serie ist online abrufbar unter: https://www.youtube.com/channel/UCAYECiAwIIub1rvz9sL5XKA/featured. 47 Vgl. hierzu den Facebook-Auftritt von Marsiglia la serie unter https://www.facebook.com/Ma rsiglia-la-serie-499200350227879. 48 Zur Kultur der italienischen Mafia und ihrer filmischen Repräsentation vgl. Dietz (2008). 49 Vgl. Amsellem (2016).

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zweiten Staffel entstehen neue Konflikte durch die Konkurrenz eines maghrebinischen Clans, vor allem jedoch löst sich die kriminelle Partnerschaft mit Filippi auf, der nun zum neuen Gegenspieler Vincis aufsteigt. Dieser Antagonismus, der auch auf den verschiedenen Titelbildern zur Serie – wie z. B. auf Abbildung 1 ersichtlich – dargestellt wird, steht schematisch für das Handlungsmuster von Marsiglia: Der Plot basiert grundlegend auf dem brutalen Schlagabtausch zwischen den rivalisierenden Banden, bei dem das VendettaPrinzip für jegliche Gewalttat oder Ehrverletzung einen Gegenschlag einfordert. Dadurch ist die Serie von einer hohen Anzahl an gewalttätigen Sequenzen geprägt, sodass Mordanschläge und Entführungen zu den Handlungselementen jeder Folge gehören. Die meisten dieser Gewaltdelikte – hierzu gehören zahlreiche drive-by-shootings auf Motorrädern oder aus Autos, KalaschnikowSchießereien auf Marseiller Straßen oder auch ein blutiges Attentat auf Vinci in einem Supermarkt – finden im öffentlichen Raum statt. Dadurch wird allzu deutlich das topische Bild Marseilles als ville noire heraufbeschworen, die im Sog der Gewalt zu versinken droht, was innerhalb der Webserie auch durch die Einblendung von Fernsehberichten über die von Vincis Bande verübten Verbrechen evoziert wird.50 Somit zeichnet sich in Marsiglia eine deutliche Absenz staatlicher Autorität innerhalb der cité phocéenne ab, denn auch wenn die Polizei die Gangster aus den quartiers nord stets beobachtet, erweisen sich ihre Bemühungen als vergeblich, sodass einzelne Polizeimitglieder selbst Opfer von Anschlägen oder von Erpressungen durch die Clans werden. Als offensichtliche Vorlage und Inspirationsquelle für die YouTube-Serie lässt sich zweifelsohne die wiederum auf Roberto Savianos Buch und Matteo Garrones Film basierende, seit 2014 von Sky Italia ausgestrahlte Serie Gomorra nennen. Allerdings kann Marsiglia im Hinblick auf die Ausgestaltung der Handlungsstruktur und die Komplexität der Charakterzeichnung nicht als eine qualitativ ebenbürtige Adaptation der italienischen Serie betrachtet werden.51 Während Gomorra bei der Figurenzeichnung mit „Strategien der verhinderten Empathie“ arbeitet,52 um eine Identifikation mit den Protagonisten zu vermeiden, werden den Zuschauenden die Handlungsmotive der brutal agierenden MarsigliaHauptfigur Vinci beispielsweise durch Rückblenden auf traurige Momente seiner Kindheit als plausibel vermittelt. Der Vinci-Darsteller Marcantonio Vinciguerra verkörpert in der Webserie jedoch nicht nur die Hauptfigur, sondern er ist zugleich der Regisseur und Drehbuchautor von Marsiglia, dem die Idee zur Serienkonzeption während seiner Zeit als Gefängnisinsasse kam, als es ihm 50 Vgl. hierzu beispielsweise Vinciguerra (2015), Folge 5, 0:01–0:041. 51 Zur Anlehnung des Plots von Gomorra – la serie an Elemente klassischer Tragödien vgl. De Gaetano (2018). 52 Vgl. hierzu Weber (2015), speziell S. 201–212.

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Abb. 1: Titelbild Marsiglia – la serie (2017).

durch seinen Haftaufenthalt verwehrt wurde, eine Rolle in der erfolgreichen TVSerie Mafiosa (2006–2014) zu übernehmen.53 Nach seiner Entlassung, jedoch weiterhin mit einer elektronischen Fußfessel ausgestattet, begann Vinciguerra im Jahr 2015 seine Serienidee auf Independent-Basis umzusetzen und die ersten Folgen von Marsiglia an Schauplätzen in den quartiers nord zu drehen. Angesichts des zu Anfang äußerst geringen Budgets bestand die Serienbesetzung von Beginn an nur aus einem sehr kleinen Teil professioneller Schauspielerinnen und Schauspieler, sodass es sich bei den meisten Darstellerinnen und Darstellern von Marsiglia um für den Dreh rekrutierte Freunde und Bekannte der Produzenten sowie über Facebook gecastete Laien handelte. Die Verkörperung von Marseiller Gangstern durch cité-Bewohner, die über keine Schauspielausbildung verfügen, sondern die für die Darstellung auf ihre eigenen Erfahrungen mit kriminellen Handlungen zurückgreifen – nach Angaben des Regisseurs handelt es sich bei 53 Vgl. Tanguy (2016).

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80 Prozent der an Marsiglia Mitwirkenden um ehemalige Gefängnisinsassen54 – verleiht der Webserie einen erhöhten Authentizitätsgrad, der von den Produzenten bewusst angestrebt wurde: „C’est une série qui parle des quartiers et qui est faite avec les gens des quartiers“, erklärt der Drehbuchautor und Schauspieler Jean-François Regazzi in einem Gespräch mit der Tageszeitung La Marseillaise und ergänzt: „Nous n’avons pas de protocole de production, on donne le scénario le jour-même. Les acteurs ne jouent pas et c’est ce qui donne de la crédibilité.“55 Jene „crédibilité“ wird auch von einer Vielzahl der Zuschauerinnen und Zuschauer wahrgenommen, deren Zahl nach 12 Folgen bereits an die 4,8 Millionen betrug und die Produzenten dazu motivierte, einzelne Folgen der dritten Staffel öffentlich in einem Kino des Viertels L’Estaque auszustrahlen. Auch wenn der Erfolg der Serie für den Dreh der zweiten Staffel eine bessere technische Ausrüstung als noch zu Beginn ermöglichte, sind es gerade die noch in den ersten Folgen primitiv und amateurhaft wirkenden Bild- und Tonaufnahmen sowie die verhältnismäßig einfachen Requisiten, die bei den Rezipientinnen und Rezipienten einen realistischen Eindruck hinterlassen, sodass sich beispielsweise im Internet Kommentare finden, die Marsiglia als „[u]ne série réaliste, une vraie, sur Marseille“56 zelebrieren. Das Selbstverständnis der Produzenten, ein Gegenmodell zur Netflix-Serie geschaffen zu haben – „On est un peu l’anti Netflix“57 – wird mit der Fokussierung auf die sozial benachteiligten Viertel der cité phocéenne begründet. Tatsächlich werden die in Marseille allzu häufig gezeigten Wahrzeichen der Stadt wie Notre-Dame de la Garde oder der Vieux Port in Marsiglia nur in einigen ausgewählten Szenen eingeblendet, sodass die auf ein Netflix-Publikum gemünzten ‚Postkartenmotive‘ durch die kargen urbanen Landschaften zwischen den quartiers nord und die städtischen Verwaltungsgebäude durch Shisha-Bars sowie verlassene Fabrikgebäude ersetzt werden. Auch auf sprachlicher Ebene weicht die YouTube-Serie von der Politserie deutlich ab, denn die Herkunft der Darstellerinnen und Darsteller von Marsiglia ist stets hörbar: So sprechen zahlreiche Figuren entweder mit einem typischen Marseiller Akzent oder haben italienische Versatzstücke in ihrem gesprochenen Französisch, während manche Dialoge sogar ganz in der Fremdsprache gesprochen und parallel in Untertiteln übersetzt werden, wodurch eine weitere Parallele zu der weitgehend mit neapolitanischen Dialogen produzierten Gomorra-Serie hergestellt wird. Als Motivation für sein Projekt nennt der Regisseur Vinciguerra die Absicht, die ‚dunkle Seite‘ seiner Heimatstadt zu beleuchten: „Je voulais parler du côté 54 55 56 57

Vgl. Delabroy (2019). Amsellem (2016). Delabroy (2019). Amsellem (2016).

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obscur de Marseille, montrer que ce qui se passe dans les cités, cette violence qu’on lit et voit dans les journaux“.58 Vom Leben der nicht in die kriminellen Aktivitäten von Drogenhandel und Raubüberfälle verwickelten Bewohnerinnen und Bewohner der quartiers nord erzählt Marsiglia allerdings verhältnismäßig wenig. Eine Ausnahme bildet beispielsweise eine Szene der zweiten Folge von Staffel 2, in der eine Gruppe von Frauen die zweite Hauptfigur Younes anspricht und ihn darum bittet, sich eines Mannes, der seine Freundin verprügelt, anzunehmen, doch auch die Rolle des Caïd als Ordnungsinstanz in seiner cité illustriert nichts weiter als den in der Serie omnipräsenten Kreislauf der Gewalt. Die in Marsiglia jederzeit als äußerst gewalttätig repräsentierte ville noire stellt für die Serienproduzenten die authentische Wirklichkeit Marseilles dar, die sie in ihrem Drehbuch abbilden wollen: „Cette ville est comme un marigot qui s’assèche“, erklärt der ehemalige Plus belle la vie-Darsteller Regazzi hierzu und ergänzt, „[l]es corps vont remonter à la surface“.59 Eine solch düstere Vision der Hafenmetropole, die ein in den Problemvierteln vorherrschendes moralisches Vakuum inszeniert, erinnert an die in La fabrique du monstre erzählten Schicksale aus den quartiers nord, weshalb es nicht überrascht, dass sich auch Pujol zu Marsiglia geäußert hat: „Ils racontent les vrais lieux, les faits réels, là-dessus ils sont très bons. Chacun rêve de faire le The Wire marseillais, eux ils l’ont fait.“60 Der Realismus einer brutalen Alltagswirklichkeit in den nördlichen Vierteln Marseilles lässt sich als eine Warnung an die städtischen Autoritäten rezipieren, den in Kriminalität und Gewalt mündenden Lebensbedingungen sozialpolitisch entgegenzuwirken.61 Stattdessen dokumentieren jedoch verschiedene Rezeptionszeugnisse eine andere Wirkung des Realismus von Marsiglia auf Zuschauerinnen und Zuschauer, wenn nämlich die Grenze zwischen realistischer Verbrechensfiktion und krimineller Alltagswirklichkeit verschwimmt. So berichten die Darsteller von Marsiglia, dass sie häufiger schon beim Dreh von Jugendlichen aus den quartiers nord im Hinblick auf eigene kriminelle Erfahrungen angesprochen wurden: „Tu as vu, ce que tu as fait, j’ai fait les mêmes conneries là, au même endroit!“62 Ein vorschnelles Lob der als authentisch empfundenen Darstellungsweise urbaner Verbrechensformen übersieht die Gefahren einer identifikatorischen Rezeptionshaltung des Serienpublikums, durch die filmischer Realismus auf die Realität übertragen und sich das mimetische Verhältnis zwischen Fiktion und Lebenswirklichkeit verkehrt. Indem Serien wie Marsiglia oder 58 59 60 61

Delabroy (2019). Tanguy (2016). Delabroy (2019). Vinciguerra leugnet zwar eine didaktische Funktion seines Serienprojekts, allerdings nicht den warnenden Charakter der Kriminalitätsrepräsentation von Marsiglia: „Je ne suis pas un éducateur. Je raconte juste comment ça finira“. Vgl. Tanguy (2016). 62 Delabroy (2019).

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auch Gomorra ihre Protagonisten zu Verbrecherlegenden stilisieren, kann eine auf kritische Reflexion verzichtende Rezeption zur Heroisierung von Figuren wie Vinci, Gennaro Savastano oder Ciro Di Marzio führen, als deren gravierendste Konsequenz die Nachahmung der fiktionalen Handlungen durch Serienfans in ihrer Lebenswelt zu betrachten ist. Dieser Gefahr von „Mediengewalt“63, auf die bereits Saviano am Beispiel von Mafia-Filmen in seinem „Hollywood“-Kapitel eingegangen ist, sind speziell jene Rezipientinnen und Rezipienten von Marsiglia ausgesetzt, die durch ihre Herkunft aus den sozialen Brennpunktvierteln der Mittelmeermetropole bereits in ihrem Lebensalltag mit lokalen Kriminalitätsformen konfrontiert werden. Somit zeigt die YouTube-Serie auch die Schattenseite fiktionalen Realismus auf, dessen Nähe zur Realität schlimmstenfalls zur Nachahmung der mythisch verklärten Gangster und ihrer kriminellen Abenteuer führen kann.

6.

Konklusion

Mit Philippe Pujols La fabrique du monstre wurde im Rahmen der vorliegenden Studie ein Text untersucht, der auf Roberto Savianos erfolgreiches Narrationsmodell eines Faktualität und Literarizität kombinierenden, hybriden Realismus zur Repräsentation der sozialen Wirklichkeit von Marseille zurückgreift. Gleich dem erzählenden Ich aus Gomorra mischt Pujols Erzählinstanz die Berichte über die persönlichen Erfahrungen im Rahmen investigativer Nachforschungen mit der narrativen Aufarbeitung der Lebenswege von Personen aus dem Umfeld seiner Recherche und liefert zudem zahlreiche Erläuterungen zu politischen Hintergründen. Die offene Kritik an der städtischen Politik sowie konkret an bestimmten Vertreterinnen und Vertretern des als ‚Monster‘ verbildlichten Systems zeichnen die Monographie als engagierten Text aus, der die sozialen Missstände in Marseilles quartiers nord dokumentiert. La fabrique du monstre zeugt von Pujols Anspruch, mit seinem Werk auf authentische Weise Zeugnis über die prekären Verhältnisse in seiner Heimatstadt abzulegen, gleichzeitig reflektiert der Ich-Erzähler jedoch auch an verschiedenen Stellen über die Re63 Der Begriff der Mediengewalt stammt von Martin Andree (2006), der diesen zur Kennzeichnung radikaler Formen von Medienwirkung verwendet: „Wie keine andere Form der Medienrezeption insistieren diese Lektüren auf der bloßen Realität des bloßen Texts, indem sie diese Realität in einem Akt imitativer Gewalt überhaupt erst herstellen“ [Hervorhebung i. O.]. Vgl. Andree (2006), hier S. 23. Anders als die literarischen Beispiele aus Andrees Untersuchung hat man es im Falle von Marsiglia mit einer filmischen Erzählung zu tun, die aufgrund ihrer Konzeption schon von vornherein über einen hohen Realismusgehalt für die potentiellen Imitatoren krimineller Handlungen verfügt, sodass die Gleichsetzung von realistischer Serienfiktion und Realität wesentlich leichter hergestellt werden kann.

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zeptionsweise von Realitätsdarstellungen und weist zudem auf die Problematik hin, dass realistische Vermittlung – z. B. von kriminellen Straftaten – auch über ein Nachahmungspotential für die Alltagswirklichkeit verfügt. Gerade dieser Aspekt lässt sich am Beispiel der YouTube-Serie Marsiglia problematisieren, deren Authentizität bei der Repräsentation der kriminellen Welt Marseilles speziell darauf beruht, dass die meisten Darsteller keine Berufsschauspieler, sondern ehemalige Gefängnisinsassen und verurteilte Straftäter sind. Indem der Alltag der Serienprotagonisten in den quartiers nord vor allem von kriminellen Delikten und brutaler Gewalt bestimmt ist, birgt eine unreflektierte Rezeption von Marsiglia die Gefahr einer identifikatorischen Heroisierung der Marseiller Gangster mit sich. Ein solches Identifikationspotential ist hingegen bei der Netflix-Produktion Marseille nicht gegeben. Ihre Darstellung städtischer Wirklichkeit ist vornehmlich auf Elemente des politischen Alltags in der cité phocéenne zu beziehen. So lassen sich beispielsweise Anspielungen auf das Großbauprojekt Euromediterranée oder den Klientelismus Marseiller Politikerinnen und Politiker konstatieren, und auch die Hauptfigur der Serie ermöglicht es, vereinzelte Bezüge zum langjährigen Bürgermeister Jean-Claude Gaudin herzustellen. Im Übergang von der ersten zur zweiten Staffel hat die Serienkonzeption von Marseille hingegen auffällige Veränderungen erfahren, durch die die allzu deutliche Schwerpunktsetzung der ersten Folgen auf die persönlichen und privaten Konflikte der Figuren zugunsten einer stärkeren Bezugnahme auf öffentliche Problemfelder in Ansätzen überwunden wird. Indem die Thematik des Rechtsextremismus und populistische Politiker als Antagonisten in der zweiten Staffel eingeführt werden, nimmt das Drehbuch von Marseille eine Transformation der Figurenkonzeption vor, in deren Folge die anfänglichen ‚Anti-Helden‘ Taro und Barrès zu Vertretern einer weltoffenen, toleranten und sozialen Stadtpolitik aufgewertet werden. Erhält die Netflix-Produktion auf diese Weise schließlich gar einen didaktischen Anspruch, so lässt sich der oftmals auf Klischees zurückgreifenden Repräsentation städtischer Wirklichkeit in Marseille dennoch kein allzu hoher Authentizitätsgrad zuweisen. Gerade der harmonisierende Serienausgang legt einen verkürzenden Blick auf die gesellschaftliche Realität der Mittelmeermetropole offen, denn das Happy End mit hoffnungsvollen Aussichten auf eine positive Zukunft der Stadt unterschlägt mit dem in Staffel 1 noch angedeuteten sozialen Prekariat in den quartiers nord gerade jenes Problem, das ganz oben auf der politischen Agenda der Protagonisten stehen sollte. Im Abschlusskapitel von Pujols Ende 2019 erschienener Monographie La chute du Monstre, die noch schärfer als La fabrique du monstre Kritik an der Vernachlässigung der Stadt durch die lokalen Politiker – insbesondere Gaudin –

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übt, steht der Ich-Erzähler neben einem Angler am Meeresrand.64 Im Gegensatz zu den optimistischen Marseille-Protagonisten Taro und Barrès blickt er in eine ungewisse Zukunft und kann auf den titelgebenden ‚Sturz des Monsters‘ nur warten. Diese Wartezeit, die über die Geduld der beiden Männer beim Betrachten der Angelschnur verbildlicht wird, hat auf der letzten Seite des Buchs noch kein Ende gefunden. Ein politischer Richtungswechsel in Marseille deutete sich jedoch im Juli 2020 mit dem Ausgang der mitten in der Covid-Pandemie abgehaltenen Kommunalwahlen an: Nachdem sich Gaudin nach 25-jähriger Amtszeit nicht mehr aufstellen ließ, wurde mit Michèle Rubirola zum ersten Mal eine Frau zum Stadtoberhaupt Marseilles gewählt, die als Kandidatin eines Linksbündnisses für einen inhaltlichen Bruch mit der Politik des Altbürgermeisters und seines Lagers steht. Wie sich dieser politische Machtwechsel auf die gesellschaftliche Wirklichkeit der cité phocéenne auswirkt, wird die Zukunft zeigen.

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64 Vgl. Pujol (2019), S. 275–279.

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Jan Rhein (Europa-Universität Flensburg)

Räume und Realitäten bei Jean-Philippe Toussaint

1.

Zur Einführung: Etiketten

Die fein austarierte, ironisch gebrochene, intertextuell durchdrungene Prosa Jean-Philippe Toussaints wurde von Literaturwissenschaft und -kritik mit einer Vielzahl von Labels belegt – das vom retour du réel gehört eher nicht dazu. Die meisten der besagten Zuschreibungen gehen auf die Frühphase seines Werks zurück, das so einflussreich war, dass es zum Namensgeber einer ganzen génération salle de bain wurde.1 Dieser Titel, der sich auf Toussaints Debütroman bezieht,2 in welchem der Erzähler sich in seiner Badewanne einrichtet, signalisiert schon die Abkehr vom realistischen, realitätsgesättigten oder -bezogenen Erzählen: Weder will sich die Figur dem réel der erzählten Welt stellen, noch ist diese Welt realistisch. Auch andere Labels wie jene von den auteurs de minuit oder der nouveaux nouveaux romanciers3 verweisen darauf, indem sie Toussaint in der Nachfolge des Nouveau Roman situieren. Nach dessen Absage an ein realistisches Erzählen in der Tradition des 19. Jahrhunderts bog die französische Literatur in verschiedene Richtungen ab. Stellt sich etwa Michel Houellebecq etwa insbesondere gegen Alain Robbe-Grillet,4 so versteht Toussaint, der im Hausverlag Robbe-Grillets und Michel Butors publiziert, den Editions de Minuit, den Nouveau Roman als ‚Türöffner‘ für sein Schreiben, ohne sich explizit in dessen Gefolge situieren zu wollen.5

1 2 3 4 5

Vgl. Huglo / Leppik (2010), S. 34. Toussaint (1986). Vgl. Prévost / Lebrun (1990), Ammouche-Kremers / Hillenaar (1994), Schoots (1997). Vgl. den Beitrag von Asholt in diesem Band. „En 1985, on pouvait […] écrire un roman qui ne racontait pas d’histoire avec très peu de personnages. En même temps, je ne m’inscrits pas du tout dans une continuation étroite du Nouveau Roman: je me sens complètement libre. Mais je constate que tout ce que RobbeGrillet développe dans Pour un Nouveau Roman passe maintenant pour des évidences.“ Toussaint / Viart (2012), S. 247.

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Die Abgrenzung des Nouveau Roman vom Erzählen des 19. Jahrhunderts erfolgt insbesondere über die Frage nach der Repräsentationsfunktion literarischer Objekte und Details der Personenbeschreibung. So notiert etwa Nathalie Sarraute in L’ère du soupçon zum Realismus Balzacs: Quelque chose d’insolite, de violent, se cachait sous ces apparences familières. Tous les gestes du personnage en retraçaient quelque aspect; le plus insignifiant bibelot en faisait miroiter une facette. […] Plus fortement charpenté, mieux construit, plus richement orné était l’objet, plus riche et nuancée était la matière.6

Eine solche literarische Realitätserzeugung, die die literarische Welt ausgestaltet und beglaubigt („All is true“7, wie es zu Beginn von Balzacs Père Goriot heißt), interessiert auch Toussaint scheinbar nicht. Eher ließe er sich der Seite RobbeGrillets zuschlagen, der zwischen Realismus und einer von der Literatur erzeugten monde réel unterscheidet8 und den Roman als literarische Versuchsanordnung beschreibt: Der Roman „n’exprime pas, il recherche“9, der Autor zeigt sich selbst als Erbauer dieser Welten: „Je ne transcris pas, je construis“10. Noch die aktuellsten Selbstäußerungen Toussaints weisen in eine ganz ähnliche Richtung: „J’ai toujours considéré mon travail comme une recherche. […] C’est cela la difficulté : recréer un monde qui m’est propre […]“.11 So wenig wie für RobbeGrillet scheint also für Toussaint der „vérisme […], le petit détail qui ‚fait vrai‘“12, eine relevante Kategorie zu sein. Oberflächlich betrachtet, mag seine Literatur oberflächlich erscheinen, weshalb etwa Pierre Jourde sie polemisch einer littérature sans estomac zuordnet: „on garde le cadre (narration traditionnelle, personnages, effets de réel) mais on le vide de son contenu“13. Diese ‚Oberflächlichkeit‘ ist in den Romanen Toussaints zunächst leicht auszumachen: So wirken etwa die oft kunstvoll und rhythmisiert eingesetzten Objektbeschreibungen in den Romanen der M.M.M.M.-Tetralogie,14 die je dreifache Erwähnung von „la petite serviette

6 Sarraute (2009) [1956], S. 64–65. 7 Balzac (1976) [1834], S. 50. 8 „La littérature, d’ailleurs, consisterait toujours, et d’une manière systématique, à parler d’autre chose. Il y aurait un monde présent et un monde réel ; le premier serait seul visible, le second seul important“ (Robbe-Grillet 1961a, S. 179). Vgl. dazu auch Asholt (2013), S. 24. 9 Ebd., S. 174. 10 Ebd., S. 177. 11 Czarny (2020). 12 Robbe-Grillet (1961a), S. 177. 13 Jourde (2002), S. 164. 14 Unter dieser Oberbezeichnung wurden die vier zusammengehörigen Romane Faire l’amour (Toussaint 2009a [2002]), Fuir (Toussaint 2009b [2005]), La vérité sur Marie (Toussaint 2013a [2009]), Nue (Toussaint 2017a [2013]) erst einzeln veröffentlicht, dann 2017 auch noch einmal in einem Band.

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blanche en nid d’abeille“15 oder „des lunettes de soie lilas de la Japan Airlines“16 eher wie Oden an die Dinge und ihre Materialität selbst. Sie ließen sich als Paradebeispiele für eine von Barthes proklamierte Ambition „de vider le signe“17 lesen, als Dinge, die im Sinne des Nouveau Roman „einfach sind“18, auch als Elemente eines „effet de vide“19. Doch anders als Toussaints frühe Romane, die man als „Spiele“20 in der Folge der nouveaux romanciers lesen kann, zeigt sich ab den M.M.M.M.-Romanen eine deutlicher psychologisch fundierte Figurenzeichnung. Zwar wirken die Figuren noch immer losgelöst von der Welt,21 doch ist diese Losgelöstheit in der Erzählung selbst angelegt. Nicht nur sind sie wie auch die frühen Figuren Toussaints dauernd in der Fremde, „ailleurs“, „à part“, „déplacé“, „en déplacement“ und „de passage“.22 In den M.M.M.M.-Romanen hat der zwischen Asien, Paris und der Insel Elba hin- und herreisende Erzähler mit Trauer, Liebeskummer, Kulturschock, Jetlag und Erkältung zu kämpfen, was seine gedämpfte Wahrnehmung der Außenwelt plausibel macht. In einem solche Kontext ließen sich die genannten ‚leeren‘ Objekte auch als ‚Erkennungszeichen‘ in einer fremden Umgebung lesen, die ihren entwurzelten Protagonisten eine Verbindung zur Welt erlauben: „le signe semble retrouver sa part de transparence, sa capacité à nous relier au monde et à nous permettre de lui donner sens.“23 Passender als das Label von der littérature sans estomac ist demnach ohne Zweifel das vom roman impassible.24 Denn es kann so verstanden werden, dass die Texte sehr wohl eine Ebene des réel besitzen, diese aber nicht unbedingt freigeben: Schließlich kann nur unzugänglich sein, was überhaupt vorhanden ist. 15 Toussaint (2009b), S. 157, 159, 161. 16 Toussaint (2009a), S. 23, 24, 27. 17 Vgl. Barthes (1968), S. 89: „alors qu’il s’agit au contraire, aujourd’hui, de vider le signe et de reculer infiniment son objet jusqu’à mettre en cause, d’une façon radicale, l’esthétique séculaire de la ‚représentation‘.“ Vgl. dazu auch Asholt 2013, S. 26. 18 „Or le monde n’est ni insignifiant ni absurde. Il est, tout simplement. […] Autour de nous, défiant la meute de nos adjectifs animistes ou ménagers, les choses sont là. Leur surface est nette et lisse, intacte, sans éclat louche ni transparence.“ Robbe-Grillet (1963b) [1956], S. 21. 19 Bertho (1994), S. 16. 20 Vgl. Viart / Vercier (2008), S. 414–416, die den frühen Toussaint dem Roman „‚impassible‘ et ludique“ zurechnen; Vgl. auch Flügge (1993). 21 Julia Encke (2007) etwa fühlt sich angesichts der entrückten, schwebenden Atmosphäre des Romans Faire l’Amour an den Film Lost in Translation erinnert. 22 Vgl. Huglo 2007, Abschnitte 1 und 6. 23 Xanthos 2013, Abschnitt 36. Ähnlich auch Loignon, die die Kulissenhaftigkeit der asiatischen Städte und die wiedererkennbaren Namen im Stadtbild als Zeichen der Entfremdung und Unsicherheit des Erzählers liest: „Le morcellement du temps aboutit à une histoire fragmentée dont les manques accentuent l’incertitude. […] Le monde apparaît dès lors factice, tel un décor de théâtre, ou déréalisé : la description, très présente, de l’espace urbain, propice à l’errance du personnage, est parcourue de notations sur des couleurs vives, agressives […]. C’est un monde urbain indéchiffrable, où s’inscrit la loi de la lutte pour la vie, ses heurts et ses détours […].“ Loignon (2006), S. 32. 24 Viart / Vercier (2008), insbes. S. 414–416.

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Diese Grenzziehungsstrategien werden sowohl vom Autor wie von seinen Figuren betrieben. Insbesondere in den späten Romanen findet sich eine ‚Enthaltungs-Haltung‘ als bewusst gewählte Strategie: „Je n’ai pas envie d’entrer dans les détails“25 verfügt etwa der Erzähler in Fuir gleich zu Beginn. Diese Haltung steht in Zusammenhang mit der Poetik Toussaints, wie im Folgenden gezeigt wird.

2.

Indirekt aufscheinende Orts- und Gegenwartsbezüge

Trotz des Eindrucks der impassibilité, die sowohl Erzähler wie Autor an den Tag legen, sind Toussaints Romane in der Regel zeitlich und räumlich genau zu situieren.26 Relevanter als die Kategorie des réel scheint für ihn ein ‚Gegenwartsbezug‘ der Literatur zu sein. Seine Texte sind in ihrer jeweiligen Zeit verankert, zugleich nähern sie sich dieser Gegenwart auf Umwegen, wie Toussaint selbst betont: [J]’aimerais que mes livres, mine de rien, proposent un portrait de l’époque, ma manière de procéder n’est pas frontale, ma façon d’observer est oblique, décalée, solipsiste. Ce n’est pas particulièrement autour de moi que je regarde le monde, c’est en moi. Ce que je cherche à saisir est à l’intérieur de moi-même, et non à l’extérieur.27

Das Zitat ist in mehrfacher Hinsicht aufschlussreich: Es unterstreicht nicht nur die Ambition der Gegenwartsrepräsentation, sondern auch den mittelbaren, seitlichen Zugang des Autors dazu. In diesem Sinn erscheint Realität(-sbezug) bei Toussaint als etwas, das ‚aufscheint‘ und das sich nicht mühelos ergibt: Es bedarf dazu einer bestimmten Haltung, einer Kombination aus urgence und patience, die sich im Zusammenfallen von Geschick und Glück, Planung und Zufall einstellt, wie im Spiel28 oder Traum29: A l’état de veille, le livre s’est inscrit dans le cerveau avec la précision d’une position d’échecs, et, la nuit, quand on dort, l’étude des variantes se poursuit, comme un ordinateur qu’on laisserait tourner en permanence pour étudier l’immensité des calculs en

25 Toussaint (2009b) [2005], S. 11. 26 Nicht immer so präzise wie in La Clé USB, wo das Datum einer Computeroperation sekundengenau genannt wird: „[2016–12–15 22:26:23] Starter cgminer 2.7.5“ Toussaint (2019), S. 121. 27 Toussaint / Viart (2012), S. 248. 28 Toussaints Werk ist durchzogen von Anspielungen auf Spiele, sei es Schach oder Bowling. Man kann etwa die folgende Szene eines Bowlingspiels als Schreibmetapher verstehen: „Depuis que je jouais, j’étais transporté dans un autre monde, un monde abstrait, intérieur et mental, où les arêtes du monde extérieur semblaient émoussées, les souffrances évanouies.“ Toussaint (2009b) [2005], S. 92. 29 Vgl. auch die Schreibmetapher vom ‚Träumen mit offenen Augen‘: „Je peux fermer les yeux en les gardant ouverts, c’est peut-être ça écrire“; Toussaint (2012a), S. 134.

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jeu dans l’opération […]. Mais inutile de s’acharner sans fin, seul le temps lave vraiment le regard.30

Die Schwierigkeit, Realität zu erfassen, wird auch in den Romanen an zahlreichen Stellen in Form von Medien- und Autoreflexionen thematisiert.31 So in L’appareil photo, wo ein ideales Selbstportrait wie folgt beschrieben wird: „quelque chose comme un portrait, un autoportrait peut-être, mais sans moi et sans personne, seulement une présence, entière et nue, douleureuse et simple, sans arrière-plan et presque sans lumière“32. Als Gegenmodell dazu wird das deutliche, ausgeleuchtete, frontale Foto eines Pärchens als „réalité brute et obscène“33 kritisiert. Gelungene Weltabbildung bewegt sich demzufolge zwischen Präsenz und Absenz34 und kann auch hier nicht unmittelbar erfolgen. Sie ist gerade nicht oberflächlich. Deutlich wird dies auch in der Inszenierung von Repräsentationsorten: In La télévision besucht der Erzähler die Gemäldegalerie in BerlinDahlem, wo ihn sein mitgebrachtes Sandwich mindestens so sehr beschäftigt wie die ausgestellten Dürer-Gemälde.35 Erkenntnis stellt sich erst ein, als er in die Gänge des Wachpersonals eindringt und ein – über einen Videoüberwachungsschirm kaum zu erkennendes – Gemälde Christoph Ambergers betrachtet, das sich vor seinem geistigen Auge hier erst richtig entfaltet.36 Die Repräsentationsfunktion von Museum und Malerei wirkt hier, wie jene der Photographie, nur indirekt.

3.

intime vs. privé

Die ‚weiche Grenze‘ zwischen Subjekt und Welt bietet auch dem Subjekt einen Sichtschutz: Insbesondere in Toussaints autofiktionalen Texten wird dies deutlich, die vor allem Nebensächliches berichten. In seinem Band Autoportrait (à l’étranger) wird alles vermieden, was dem ‚Privatmann‘ Toussaint nahekommen könnte, stattdessen geht es u. a. um den Kauf einer Sülze in einer Berliner Metzgerei oder den Sieg bei einem korsischen Boules-Turnier.37 Es zeigt sich hier eine weitere wichtige Kategorie Toussaints, die Unterscheidung von Intimität und Privatheit: 30 31 32 33 34 35 36 37

Toussaint (2012b), S. 30. Vgl. Winter (2002). Toussaint (1988), S. 112. Ebd., S. 120. Vgl. Winter (2002), S. 205. Toussaint (2002) [1997], S. 189–191. Ebd., S. 196. „Mais, trêve de confidences“ heißt es in diesen Bekenntnissen Toussaints lapidar; Toussaint (2012d) [2000], S. 33.

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Les grands écrivains, justement, doivent aller très loin dans l’intime. […] C’est là qu’on touche au cœur de l’humain, aux choses les plus intéressantes de la personne, mais cela ne se justifie, ce n’est acceptable que s’il y a une forme qui protège. C’est la forme qui sera le vêtement qui va cacher le côté obscène éventuellement de l’intimité et en tout cas impudique. Moi, j’essaie d’aller assez loin dans les révélations intimes tout en restant toujours très pudique.38

Diese Haltung lässt sich auch auf die erzählten Subjekte in seinen Romanen beziehen. Schon dass – mit Ausnahme von Monsieur – alle Romane in der 1. Person erzählt sind, erleichtert den Figuren ihre restriktive Informationspolitik.39 Sie stehen in einer langen Traditionslinie der Krise des Subjekts von Huysmans über den Nouveau Roman bis zu Houellebecq, mit deren Figuren sie ‚Entfremdungserfahrungen‘ und die vermeintlich ‚gleichgültige Distanz‘ zur Welt teilen.40 Doch erstens hat das distanzierte Weltverhältnis der Figuren Toussaints – anders als für die oben genannten – keinerlei negative Folgen: Ihr Gemütszustand ändert sich im Verlauf der Romane nicht. Und zweitens ergibt sich ein Unterschied über die Raumdimension der Romane. Anders als etwa die Figuren Robbe-Grillets, die einer ‚generalisierten‘ Fremdheitserfahrung ausgesetzt scheinen,41 stellt sich das Rauminventar und die Raumerfahrung bei Toussaint deutlich differenzierter dar.

4.

Räume und Raumwahrnehmungen

Sowohl die innerliterarische Grenze zwischen Subjekt und réel, als auch die Grenze zwischen Text und außerliterarischer Realität wird einerseits scharf gezogen, erweist sich andererseits in ‚günstigen Augenblicken‘ als semipermeabel. Die impassibilité bei Toussaint ist demnach sowohl eine Figureneigenschaft wie eine Kategorie des literarischen Raums.

38 Toussaint im Interview mit Albright (2011), Fußnote 15. 39 Deutlich wird dies vor allem, wenn sie ironisch gebrochen wird, so wie in La Télévision: So sieht der Erzähler sich selbst wie ein Heiligenbild – „la chaude lumière dorée de la lampe tombait sur mon crâne avec exactitude et auréolait ma calvitie d’une sorte de duvet de caneton du meilleur effet“; Toussaint (2002) [1997], S. 29 –, während Außenstehende ihn nüchterner beurteilen: „Un chauve, disait l’autre, un chauve en pyjama“; ebd., S. 32. Aus dieser Informationspolitik entsteht der Eindruck seiner Losgelöstheit von allen Zusammenhängen. Die Szene zeigt aber auch, dass eine psychologisch oder realistisch grundierte Leseweise durchaus möglich ist, allerdings indirekt: Der Erzähler präsentiert sich hier als Mann mit gutem Ego. 40 Matzat (2003), S. 527. 41 Als solche liest Matzat etwa in Le Voyeur die Wahl einer nicht lokalisierbaren Insel als Schauplatz, in La Jalousie das exotische Dekor; vgl. ebd., S. 526.

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Es erscheint plausibel, dass Robbe-Grillet Raum und Ort – anders als „Le Personnage“ oder „L’Histoire“ – nicht den notions perimées der Literatur zurechnet.42 Anders als das sich bei Toussaint unzuverlässig und undurchschaubar zeigende Subjekt handelt es sich um eine Kategorie, von der man annehmen darf, dass sie noch immer einen effet de réel erzeuge, „en fournissant à la fiction cadre, ancrage et arrière-plan vraisemblable“43. Im Folgenden soll diskutiert werden, ob dies auch in Bezug auf Toussaint und seine Poetik des Aufscheinens gilt. In einem letzten Schritt soll schließlich die Raumdimension auf andere Medien im Werk Toussaints ausgeweitet werden.44

4.1

Aufscheinende Topographie

Dank der umfangreichen Dokumentation der Manuskripte Toussaints auf seiner Homepage kann man nachvollziehen, dass die Raumdimension seines Werks präzise geplant ist.45 Die Schauplätze Toussaints sind zwar exakt durchdacht, repräsentieren jedoch nicht in jedem Fall real existierende Orte. Gemäß oben beschriebenem Selbstverständnis des Autors als Verwandler von Gegenwart ist die literarische Topographie eine Melange aus realen und imaginierten, öffentlichen und privaten, prominenten und banalen Orten, die sich im Roman zu einer literarischen Realität ausformen und im Wortsinn konstruiert sind. In seinem Essay Comment j’ai construit certains de mes hôtels beschreibt er, wie er etwa einen literarischen Ort aus realen Erinnerungsversatzstücken zu „un bâtiment hybride, fantasque et littéraire, une construction immatérielle d’adjectifs et de pierre, de métal et de mots, de marbre, de cristal et de larmes“ zusammenfügt.46 Den Konstruktionsbegriff verwendet Toussaint auch für seine Stadtdarstellungen, und ist darin dem Programm Robbe-Grillets („Je ne transcris pas, je construis“, s. o.) nahe. Dabei zeigt sich eine Evolution vom frühen zum späteren Werk. In La Salle de bain etwa haben die Städte Paris und Venedig nur die Funktion des ‚Anderen‘, des ‚Draußen‘, das sich der Erzähler von der Badewanne oder dem Hotelzimmer aus imaginiert.47 Cannes (in Monsieur) oder London (in 42 Vgl. Robbe-Grillet (1963c) [1957]. 43 Hamon (1989), S. 26. Diese These ist Teil der Argumentation, aus der Philippe Hamon seine sehr detaillierte Raumanalyse für die Literatur des 19. Jahrhunderts entwickelt. 44 Dazu bedarf es einer erweiterten Raumdefinition, wie jener von Ryan / Foote / Azaryahu (2016): Raum im Sinne eines medienüberschreitenden „narrative space“; vgl. S. 4–5. 45 Dies zeigen z. B. seine Entwürfe des Friedhofs zur Begräbnisszene in Nue; vgl. http://www.jpto ussaint.com/nue.html. 46 Toussaint (2006); wiederveröffentlicht in Toussaint (2012a), S. 47–54. vgl. dazu auch Albright (2011). 47 Vgl. Toussaint (2013b): „Mais Paris, dans mon premier livre, n’est pas une ville réelle, elle n’a pas d’existence matérielle autonome, elle n’a pratiquement pas de réalité physique.“

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L’appareil photo) werden ebenso vage beschrieben. Toussaint subsummiert diese Städte unter der Bezeichnung „villes inconscientes“. Als Gegensatz formuliert er einen mentalen Zugang zu den Städten in den späteren Büchern La Télévision (das Berlin der 1990er Jahre) und den M.M.M.M.-Romanen (asiatische Metropolen wie Tokyo und Shanghai). Diese nennt er „villes conscientes“, was in diesem Fall meint, dass sie dem Autor „par l’imagination, le souvenir ou la réminiscence“ zugänglich sind: L’écrivain peut alors, il doit, en convoquant le passé, recréer la ville de toutes pièces, la rebâtir en mots dans les pages de son livre. C’est cette alchimie particulière qui est à l’œuvre dans l’écriture : transformer la pierre, le métal et le verre des villes réelles en cet or immatériel et abstrait qu’est l’or de la langue littéraire.48

Wie die literarische Intuition scheinen die Orte außerhalb der Verfügungsgewalt des Autors, aber auch seiner Figuren zu liegen. Als Raum-Denkbilder sind sie zugleich konkret und instabil, wie in dieser unzuverlässigen Schilderung zu Beginn von Faire l’Amour: „A Paris, sept ans plus tôt, j’avais proposé à Marie d’aller boire un verre quelque part dans un endroit encore ouvert près de la Bastille, rue de Lappe, ou rue de la Roquette, ou rue Amelot, rue du Pas-de-laMule, je ne sais plus.“49 In derartigen, detaillierten, zugleich aber unzuverlässigen Ortsangaben zeigt sich das Erzählen als eine Kombination aus Erinnerung und Intuition. Der Gegensatz zum Raumerzählen etwa eines Balzac könnte größer kaum sein, bei dem das räumliche réel und das Subjekt in Eins fallen („toute sa personne explique la pension, comme la pension implique sa personne“, wie es zu Beginn des Père Goriot heißt50) oder klar gegeneinander stehen („[à] nous deux maintenant“51, wie der berühmte Schlusssatz lautet). Für Toussaint hingegen liegt das réel in einem nur in Fragmenten aufscheinenden Sperrbezirk.52 Dies lässt sich nicht nur an Stadttopographien zeigen, sondern auch an einzelnen Räumen. Dabei gilt: Je ‚persönlicher‘ (oder: privater) ein Raum, desto weniger ergibt sich eine Deckung von Subjekt und Ort.

48 49 50 51 52

Ebd. Toussaint (2009a) [2002], S. 13. Balzac (1976) [1834], S. 54. Ebd., S. 290. Xanthos (2009) fasst es so zusammen: „Le réel de Toussaint, en revanche, n’est pas humain“, und stellt dies gegen die „humanisation du réel balzacien“. S. 94. Vgl. dazu auch Gelz (2002), der die Konfrontation Monsieurs in Abgrenzung zu Balzac beschreibt, sowie Toussaint (2013b) selbst, der die Schlussszene des Père Goriot wiederum von der Stadtwahrnehmung in La Salle de bain abgrenzt.

Räume und Realitäten bei Jean-Philippe Toussaint

4.2

311

„Foutre la paix“: Private Öffentlichkeit, öffentliche Privatheit

Wenn seine Figuren nicht gleich in Hotels leben, wie z. B. in La Réticence, in M.M.M.M. oder in La Clé USB, so geben die wenigen erwähnten Privaträume nichts über sie preis. In Monsieur ist die Vergangenheit übertüncht: Le nouvel appartement de Monsieur, qui comptait trois grandes pièces, était quasiment vide et sentait la peinture. Dans sa chambre seule se trouvaient un ou deux meubles, quelques sièges de camping. Toutes les autres pièces étaient désertes, à l’exception du vestibule, où il avait entreposé ses valises, ainsi que deux caisses de revues, une machine à écrire portative.53

Geschichten erzählen immer die Räume der anderen: Monsieur besichtigt ein Mietzimmer, das in seiner ‚Belebtheit‘ und ‚Abgelebtheit‘ wie ein Gegenentwurf zum eigenen Appartement wirkt. Ist die Außenwand noch im raumsemantischen Sinne ‚neutralisiert‘ („La façade, terne et propre, venait d’être repeinte“54), so ist das Haus im Inneren mit Geschichte(n) besetzt und „la pension implique sa personne“, wie bei Balzac: Le parquet, en bois foncé, paraissait plus sombre encore dans la pénombre. C’est la chambre de ma mère, dit M. Leguen à voix basse. […] Contre le mur se trouvait un meuble à miroir, très ancien, creusé d’une cuvette. Un crucifix pendait au-dessus du lit, et quelques photos noircies, dans des cadres ciselés, reposaient çà et là. M. Leguen, après avoir allumé la lampe de chevet, ouvrit l’armoire pour montrer les étagères à Monsieur, très propres, que recouvrait du papier fleuri punaisé.55

Hier erzählt im Sinne Sarrautes „le plus insignifiant bibelot“ (s. o.) eine Geschichte – bezeichnenderweise aber die einer anderen Figur.56 Eigentlich öffentliche Orte hingegen können zu Orten der Reflexion, der Ruhe – mithin zu privaten Orten werden. Gerade an solchen Orten, die Blickfeld und Bewegungsradius einschränken, scheint die Toussaintsche Figur geradezu ‚ideal‘ aufgehoben.57 Es handelt sich um Raststätten, Telefonzellen, Hotelbadezimmer – gerade an non-lieux, die etwa die Figuren Houellebecqs in tiefe Depressionen zu stürzen geeignet wären, ergibt sich eine Deckung von Ich und Welt.58 So etwa in 53 54 55 56

Toussaint (1992), S. 32. Ebd., S. 41. Ebd., S. 44. Weitere Beispiele finden sich auch in La Réticence, wo der Erzähler in die Privatwohnung eines von ihm eines Verbrechens verdächtigten Mannes eindringt (vgl. Toussaint [1991], S. 59), oder in La Télévision, wo er die Wohnung seiner verreisten Nachbarn inspiziert; vgl. z. B. Toussaint (2002) [1997], S. 128. 57 „Assis là depuis un moment déjà, le regard fixe, ma foi, je méditais tranquillement, idéalement pensif“ ; Toussaint (1988), S. 31. 58 Vgl. Claudel (2012), S. 138: „[Toussaint] ne parle pas de l’époque contemporaine, ne l’ouvre pas comme un ventre, ne pointe pas ses vices, ses vides, ses schèmes, ses apories – comme le

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folgender Toilettenszene – einer der zahlreichen in Toussaints Werk: „Du moment que j’avais un siège, moi, du reste, il ne me fallait pas dix secondes pour que je m’éclipse dans le monde délicieusement flou et régulier que me proposait en permanence mon esprit […]“59. Der Ort ermöglicht einen ‚freien Fluss‘ der Gedanken: La pensée, me semblait-il, est un flux auquel il est bon de foutre la paix pour qu’il puisse s’épanouir dans l’ignorance de son propre écoulement et continuer d’affleurer naturellement en d’innombrables et merveilleuses ramifications qui finissent par converger mystérieusement vers un point immobile et fuyant.60

Das Ende des Romans verbindet den begrenzten Ort – hier eine Telefonzelle – mit einer Präsenzerfahrung und einer Metapher zum Festhalten von Wirklichkeit: […] assis derrière les vitres de cette cabine déserte, je regardais le jour se lever et songeais simplement au présent, à l’instant présent, tâchant de fixer encore une fois sa fugitive grâce – comme on immobiliserait l’extrémité d’une aiguille dans le corps d’un papillon vivant. Vivant.61

Mit dem Bild des aufgespießten Schmetterlings verweist die Szene nicht nur auf die Literatur (man denke etwa den Schmetterlingssammler Vladimir Nabokov), sondern auch auf museale Repräsentationsformen (der Schmetterling in der Vitrine als Teil einer naturhistorischen Sammlung). Wie in oben erwähnter Museumsszene entsteht eine ‚Medienkonkurrenz‘ zwischen verschiedenen Formen der Realitätserfassung, aus der der öffentliche, ‚stille Ort‘ als Sieger hervorgeht. Dafür ist die Beschränkung des Blickfelds verantwortlich, die er erzeugt: […] [ j]’allai regarder dehors par la vitre, commençai à dessiner pensivement des rectangles avec mon doigt sur le carreau, des rectangles superposés comme autant de cadrages différents de photo imaginaires, avec tantôt un angle très large qui découpait dans l’espace la perspective des immeubles vis-à-vis, tantôt un cadrage très serré qui isolait une seule voiture, une seule personne […].62

Ähnliche Szenen Kreativität auslösender Ausgeschlossenheit finden sich auch in den M.M.M.M.-Romanen, die von zahlreichen Fensterblicken, etwa aus Hotelzimmern oder dem Schnellzug Shinkansen, durchsetzt sind.63 Bildet aber in L’appareil photo der Erzähler selbst eine Art fixe chambre claire, so lässt sich

59 60 61 62 63

font […] avec vertige les romans de Michel Houellebecq […]. Dans Faire l’amour, les personnages ne ressemblent qu’à eux-mêmes, ils glissent sur un monde inconnu […]. Ils n’ont pas d’autre exigence, pas d’envergure supplémentaire. Ils fonctionnent en circuit fermé, dans les codes d’un genre. Ils ne sont pas.“ Toussaint (1988), S. 31. Ebd., S. 32. Toussaint (1988), S. 126–127. Ebd., S. 110. Vgl. Dupuy (2017), S. 170.

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anhand der Raumdimension der späten Romane der oben erwähnte Wandel im Werk bekräftigen: In M.M.M.M. ist die Welt aus den Fugen geraten, die Perspektiven kippen, und können nicht mehr festgehalten werden: „nos repères temporels et spatiaux s’étaient dilués“.64

4.3

Kulissen im Text, Kulissen des Texts

Nicht nur besitzen die Erzähler ein ausgeprägtes Interesse für die Privaträume Anderer, sie ignorieren auch jedes ‚Kein Zugang‘-Schild an öffentlichen Orten, etwa in oben erwähnter Museumsszene, oder auch in La Clé USB, wo der Erzähler verbotenerweise in ein chinesisches Rechenzentrum eindringt.65 Die ‚Kulissen‘ von Repräsentationsorten zeigen deren Funktionsbedingungen. Schon oben wurde deutlich, dass die Formen der Realitätsaneignung im Roman auch als autoreflexive Kommentare zum Entstehen von Literatur zu verstehen sind. In diesem Sinne lässt sich das literarische Interesse Toussaints für die Rückseite der Orte auch mit seinem (nicht nur literarischen) Gesamtwerk zusammenbringen.66 Auf seiner mit Manuskriptvorstufen, Interviews, makingof-Filmen, Bibliographien reich befüllten Internetseite stellt Toussaint wie kaum ein anderer Autor die ‚Rückseite‘ der Literatur aus, ja macht sie zum integralen Bestandteil seines Werks – auch in dieser Hinsicht erscheint Pierre Jourdes Zuschreibung von der littérature sans estomac als fragwürdig.67 Einzelne literarische Ereignisse seiner Romane entwickelt Toussaint in anderen Medien weiter. So beginnt der Roman Nue mit der Episode einer Modeperformance, bei der eine Frau ein Kleid aus Honig und Bienenwaben trägt.68 Ein Foto dieser – zunächst als gewöhnliche literarische Episode rezipierten – Kunstaktion findet sich auf der Taschenbuchausgabe des Romans von 2017.69 Erst mit dem Folgebuch Made in China (2018) erklärt sich dieses Foto als Standbild aus einem von Toussaint inszenierten Kurzfilm namens The Honey Dress (2015), der genau diese Episode ins Bild setzt. Made in China handelt von den Dreharbeiten zu besagtem Film. Am Ende des Buchs findet sich ein Link, der zur Internetseite Toussaints führt, auf welcher der Kurzfilm zu sehen ist.70 Das Erzählen ragt aus dem Buch hinaus, 64 Toussaint (2009a) [2002], S. 33. 65 Vgl. Toussaint (2019), S. 120–121. 66 Auch in seinem Fotoprojekt Mardi au Louvre blickt er hinter die Kulissen, indem er das Museum und seine Mitarbeiter am Tag der wöchentlichen Schließung porträtiert; vgl. Toussaint (2012b), S. 178–181. 67 Vgl. dazu Toussaint (2014). 68 Vgl. Toussaint (2017a) [2013], S. 11–25. 69 Ein Copyright-Hinweis schreibt Toussaint die Urheberschaft zu. 70 The Honey Dress. http://honey.jptoussaint.com/. Vgl. zur ‚Honigkleidepisode‘ auch Rhein (2021), S. 166–167.

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und bleibt doch virtuell. Weil diese transmedial ausformulierte Episode auch autobiographische und -fiktionale Elemente (der Filmemacher Toussaint, sein Bericht in Made in China) beinhaltet, löst sich in ihr die Frage nach dem réel gewissermaßen auf: Anders als eine Literatur, die im Sinne des Nouveau Roman „Realität […] vom realen Weltganzen ab- und in die Sprache hineingezogen“71 hat, könnte man das spätere, autofiktionale, psychologisch grundierte und transmediale Erzählen Toussaints als eine Überwindung dieser Schule sehen. Es steht für eine Literatur, die sich „gerade nicht mehr darüber [konstituiert], nur ein Effekt des Zeichensystems zu sein“, sondern „im Gegenteil rückgebunden an den Autor und an die Geschichte“ ist.72

5.

Fazit

‚Leere‘ Zeichen, ‚weiche‘ Grenzen, ‚aufscheinender‘ Weltbezug: Für Toussaint kann man in Bezug auf das réel eine „transitivité repensée“73 feststellen, ein Nebeneinander verschiedener Formen des Realitätsbezugs. Dafür ist insbesondere eine doppelte impassibilité verantwortlich zu machen, die sich in den literarischen Verfahren Toussaints so sehr manifestiert wie in der Psychologie seiner Figuren: Es handelt sich um ein verdecktes réel, das gelegentlich ‚aufscheint‘, und dem sich auf Umwegen zu nähern ist. Dies zeigt sich auf der Raumebene sowohl in der ‚mentalen‘ Konstruktion literarischer Orte, wie in einem Rauminventar, das (beschränkte und beschränkende) Nicht-Orte aufweist. Die ‚Kulissen‘ des Schreibens und die transmediale Dimension seines Werks erlauben den Zugang zu einem réel außerhalb des Buchs, aber innerhalb der Erzählung. Mit derartigen Manövern befreit sich Toussaint aus der Einflusssphäre des Nouveau Roman. Die „rein gehaltene poiesis [kippt] in ihr Gegenteil um und wird wieder zur mimesis.“74 So erscheint es als durchaus bezeichnend, dass der Erzähler Toussaint in Made in China die Nachricht vom Tode Alain Robbe-Grillets erhält.75

71 72 73 74 75

Gödel / Lamp (2020), S. 112. Ebd. Vgl. Xanthos (2013), S. 92. Gödel / Lamp (2020), S. 112. Vgl. Toussaint (2017), S. 21.

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Bastian Piejko (Johannes Gutenberg-Universität Mainz)

Realismus zwischen Kontingenzexposition und neuer Sinnstiftung. Von Flauberts Feier der Ästhetik zu Houellebecqs sensus socialis

Literatur, Sprache und Wirklichkeit Als Frankreich im Jahr 2017 Gastland auf der Buchmesse in Frankfurt war, überschrieb Iris Radisch ihren Leitartikel im Literatur–Beiheft der Zeit mit „Die neue Aufrichtigkeit“. Sie bezog sich auf die mit großer Begeisterung aufgenommene (Neu?)-Stimmung der französischsprachigen Literatur auf einen autobiographischen Grundton, die mit dem „Gestus schonungsloser Selbstentblößung“ der „Dauerironisierung des eigenen Lebens“ entgegentrete. Radisch kontrastiert diese scheinbar radikale Offenlegung mit dem, so schreibt sie, „Houellebecq-Schock“. Michel Houellebecq stehe für „brillant anti-moderne Gesellschaftssatiren“ und somit für eine Geisteshaltung „die alles immerzu in unsichtbare Anführungszeichen setzte“.1 Genau daraus befreie sich nun allerdings die neue Aufrichtigkeit und „folgt [damit] dem Geist der Zeit, der – nicht zuletzt nach der Erschütterung durch die jüngsten Terroranschläge – die Dauerironie hinter sich lassen möchte und sich nach raffiniert zubereiteter Rohkost aus der wirklichen Wirklichkeit sehnt.“2 Mir schien das tautologische Insistieren auf der Wahrhaftigkeit von Literatur ein passender Anlass zu sein, die Fragestellung des Sammelbandes zu einer (Re-) Konstruktion des Realen, hier verstanden als ‚Wirklichkeit‘, zu fokussieren. Mein Eindruck ist, dass die zu Tage tretende Problematik des Wirklichkeitsbezuges symptomatisch für eine zeitgenössische Annäherung an den Begriff des Realistischen ist. In ihm drückt sich das Bedürfnis aus, nicht irgendeine Darstellung der Welt, sondern einen qualitativ echten sowie versichert ‚eigentlichen‘ Zugang zu erhalten. Ich möchte nach dem Warum hinter diesem Bedürfnis fragen und vor allem aufzeigen, dass Houellebecq entgegen Radischs Einschätzung durchaus mit dieser Frage hadert und damit gerade kein Realist im historischen Sinne ist, wie der Vergleich mit Flaubert zeigen wird. 1 Radisch (2017), S. 20. 2 Ebd., S. 21 [Hervorhebung d.V.].

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Stellt man der Ironisierung literarischen Schreibens eine vermeintliche Aufrichtigkeit gegenüber, so birgt dies eine recht übersichtliche Opposition, aus der allzu leicht ein Realismus-Begriff abzuleiten wäre. Wo es ‚uneigentliche‘ Rede in Form der Ironie gibt, da müsste auf der anderen Seite die ‚eigentliche‘ Sprache existieren, die in Verbindung mit dem Realen steht. Hinzu kommt eine Erwartungshaltung gegenüber der Gesamtstruktur erzählerischer Texte, sie solle auch auf Ebene der histoire eine Form der Sinnhaftigkeit erzeugen, die eben nicht ausschließlich fiktional ist, sondern nachgerade ontologischen Ansprüchen gerecht wird. Das Ergebnis entspräche jener raffinierten Zubereitung, bei der jede sprachliche Zutat ihren unverfälschten Geschmack beibehält und im Gesamten ein ‚authentisches‘ Gericht entsteht. Beides indes birgt seine Tücken. Zunächst wäre da die Sprache selbst, die nach dem linguistic turn und poststrukturalistischen Theoremen längst „nicht mehr als transparentes Medium zur Erfassung von Wirklichkeiten [erscheint], sondern als unerläßliche Bedingung ihrer Hervorbringung“.3 Der Erzählliteratur kann zwar darüber hinaus eine „illusion référentielle“ gelingen, wie Roland Barthes es 1968 in seinem Aufsatz zum effet de réel beschreibt, doch genau in diesem Moment wird der Realitätseffekt zum reinen Selbstzweck und ist als reiner Marker des Realen nicht sinnhaft mit der Narration verknüpft.4 Wo also Sprache wie auch Narration ihre „Unschuld der Repräsentation“5 verloren haben, wies Rita Schober nicht ohne Grund schon Anfang der 2000er im Zusammenhang mit Houellebecq darauf hin, dass eine heutige écriture réaliste sich dieser Opazität des Realen und der Wahrheit annehmen müsse.6 In Houellebecqs Tausch der Metaphysik gegen die Quantenmechanik sieht sie die dementsprechende Reaktion und eine zeitgemäße Anpassung der narrativen Techniken. Möchte man nun also den historischen Begriff im Zuge eines solchen renouveau du réalisme7 unter neuen Vorzeichen re-aktualisieren, gilt es meiner 3 Jünke (2003), S. 13. 4 Barthes (2002), S. 32 [Hervorhebung i.O.]. 5 Vgl. hierzu Rainer Warning im Hinblick auf Flaubert: Zusammen „mit der Unschuld der Diskurse [verliert] auch die Narration die Unschuld der Repräsentation.“ Warning (1999), S. 172f. 6 Vgl. hier und nachfolgend Schober (2003), S. 205. „[Au] système linguistique supposé ‚neutre‘ s’est substituée une parole idéologiquement pervertie. Une écriture réaliste doit donc se fixer pour but de s’attaquer à l’opacification du réel et de la vérité en introduisant des techniques narratives appropriées.“ 7 Vgl. Schober (2003). Wolfgang Asholt legte wiederholt die Schwierigkeit dar, den totalisierenden Anspruch, der dem historischen Realismus zugeschrieben wird, auf die heutigen Ansätze zu übertragen. Der heutige Realismus benötige deshalb immer ein qualitatives Attribut, wie ‚sozialer‘, ‚kreatürlicher‘, ‚paradoxer‘ oder auch ‚subversiver‘ Realismus. In dieser Beobachtung würde ich durchaus eine Anpassung des Paradigmas ‚Realismus‘ an postmoderne Ansprüche sehen, die das Nebeneinander verschiedener Schreibweisen des Realistischen zu betonen versucht. Vgl. Asholt (2013), S. 28f., S. 32f.

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Ansicht nach für diese spezielle Fragestellung zwei Dinge voneinander zu scheiden: So mag einerseits seit dem 19. Jahrhundert das Bewusstsein über den zitierten ‚Unschuldsverlust‘ der Sprache extrem gestiegen sein und somit ihr schwieriges Verhältnis zum Realen einen dringlich virulenten Charakter angenommen haben. Andererseits bleibt die daraus hervorgehende Problematik einer mit literarischen Mitteln schier nicht zu bändigenden Wirklichkeit dieselbe und war auch den klassischen Realisten durchaus bewusst. Gerade für den realistischen Roman ist die Gleichzeitigkeit einer vordergründig sinnstiftenden Narration und einer distanzierten Haltung gegenüber dem Glauben an die unzweifelhafte Referenzialität der Sprache, wie sie sich im effet de réel widerspiegelt, immer schon konstitutiv gewesen. Ich möchte deshalb diese ‚neue alte Form‘ unter drei Gesichtspunkten befragen, um zu einer differenzierten Einschätzung einer heutigen literarischen Rekonstruktion des Realen im Zeichen realistischen Erzählens zu gelangen. Meiner These nach zeigt sich die Verbindung sowie die entscheidende Differenz zwischen klassischem und neuem Realismus am Kreuzungspunkt erstens der narrativen Gesamtstruktur eines Textes mit zweitens dessen rhetorischer Ausgestaltung, woraus sich wiederum in einem dritten Schritt die poetologische Konzeption des Erzählens ableiten lässt.

Von der Kontingenzbewältigung zur Kontingenzexposition – und zurück? Die Basis dieses Ansatzes legte Rainer Warning 2001 in seinem Aufsatz zum „Erzählen im Paradigma“.8 Er spricht sich gegen die landläufige Annahme aus, Erzählliteratur wäre per se syntagmatisch organisiert und würde dementsprechend einer teleologischen Zeitstruktur gehorchen, die letzten Endes immer die Kontingenz der Wirklichkeit zu bewältigen suche. Anstatt dieser Konzeption von Narration die überwiegend paradigmatische Organisation poetischer Sprache gegenüberzustellen, begreift Warning die Ähnlichkeitsbeziehung des Paradigmas nicht rein formal, sondern auch semantisch. Diese althergebrachte ZweierTypologie löst sich so zugunsten einer neuen historisch-hermeneutischen Teilung auf. Mit den französischen Realisten des 19. Jahrhunderts und deren neuer Erzählstruktur findet demnach ein Wechsel von jener syntagmatischen Kontingenzbewältigung hin zu einer paradigmatischen Kontingenzexposition statt. Spätestens nach Flaubert, so Warning, gehe Erzählen immer auch mit einem „spezifisch modernen, ateleologischen Zeitbewußtsein“ einher.9 Die Ausrichtung auf die semantisch-strukturelle Ebene des Erzählens lässt eine genealogi8 Vgl. hier und nachfolgend Warning (2001), S. 176–180. 9 Ebd., S. 199.

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sche Folge der sonst als entgegengesetzt begriffenen Stile von Realismus und Nouveau Roman zu, wobei letzterer schließlich die Ausrichtung auf eine paradigmatische Erzählung als poetologisches Prinzip absolut setzte.10 Anstatt also einen „‚Kampf mit der Konstruktion der Welt‘“11 zu führen, wäre postmodernes Erzählen einer selbstreferentiell feierlichen Ästhetik oder wahlweise negativer Hermeneutik zugetan, die beide jedoch kein teleologisches Erzählen mehr zu kennen scheinen. Trotz der offen ausgetragenen Rivalität zwischen dem ‚neuen Realisten‘ Houellebecq und dem nouveau roman müsste eine derartige Lektüre anstatt des inszenierten Bruchs lediglich eine Re-modellierung nach altem Vorbild in den Romanen Houellebecqs hervorbringen. Wie ich später an La carte et le territoire zeigen werde, ist die semantisch-strukturelle Ausrichtung der Texte durchaus dominant auf eine paradigmatische Ähnlichkeit hin konstruiert und nicht auf sinnhafte Progression. Daran kann auch eine scheinbar teleologisch strukturierte histoire zunächst nicht viel ändern – was Xuan Jing am Nachfolgeroman Soumission (2015) bereits anschaulich herausgearbeitet hat.12 In diesem Aufsatz verfolge ich nun die Hypothese, dass Houellebecqs Erzählen dort nicht endet, sondern vielmehr auf rhetorischer Ebene die paradigmatische Grundstruktur resyntagmatisiert. Dieser Blick in die Eingeweide der Texte offenbart eine gegenläufige Dynamik, die noch bei Flaubert vergleichsweise eindeutig war. Wie ich an der schon oftmals poetologisch gelesenen Erzählung Un cœur simple darlegen möchte, korreliert bei Flaubert die paradigmatische Grundstruktur mit einem allgemeinen Kontiguitätsprinzip, das sich bspw. in Asyndeta und Metonymien äußert und mit einer entsprechend offen denunziatorischen Absicht gegenüber den zeitgenössischen Diskursen13 auftritt. Diese so bloßge10 „Es scheint, postmodernes Erzählen habe diese Möglichkeit in zweierlei Hinsicht exploriert: einmal unter dem Aspekt einer rein spielerischen Kontingenz, bei der eine hermeneutische Einstellung dem bloßen Vergnügen im Sinne einer Ästhetik der Oberfläche geopfert wird, zum andern unter dem Aspekt einer negativen Hermeneutik, d. h. als permanent suggerierte und permanent dementierte Möglichkeit sinnhafter Besetzung.“ Ebd., S. 208. 11 Ebd., S. 180. Mit dieser Formel beschreibt Warning die Raumtheorie Jurij M. Lotmans, die er zur Darlegung seines paradigmatischen Erzählens gebraucht. Im Zuge einer besseren Lesbarkeit verzichte ich hier darauf, die Begriffe zusätzlich einzuführen. 12 Xuan Jing verfolgt in ihrem Aufsatz zu Soumission das dort thematische Konversionsnarrativ. Dieses versuche zwar „wieder den Anschluss an das kollektive Heilstelos zu finden“ und sonach progressive Zeitstrukturen einzuführen, werde aber im Roman selbst paradigmatisch wiederholt und ende schließlich in einer Konversion im Konjunktiv. Flaubert führt sie dabei ebenfalls als Beispiel der Abkehr von einem teleologischen Narrativ an und unterstreicht dahingehend Houellebecqs Ausnahmestellung im zeitgenössischen französischen Literaturbetrieb, die dieser durchaus ernst zu nehmende Rückgriff auf teleologische Strukturen mit sich bringt. Xuan (2015), S. 127, und vgl. S. 128. 13 Ich gebrauche den Begriff Diskurs in Anlehnung an Michel Foucault, um die sprachliche Ebene eines bestimmten epistemologischen Dispositivs zu bezeichnen. Ein Diskurs ist damit Ausdruck einer wahrheitsspendenden gesellschaftlichen Ordnung und lässt so bspw. litera-

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legte prekäre Sinnhaftigkeit der Sprache wird poetologisch gänzlich euphorisch aufgenommen und resultiert in einem autonomen Ästhetik-Begriff. Bei Houellebecq ist indes gut ein Jahrhundert später von dieser Euphorie nicht mehr allzu viel übrig. Vielmehr ist die lutte als Kampf mit den Diskursen14 und der Wirklichkeit wieder programmatisch geworden – nur dass nicht einmal die kühnste gentechnische Revolution dem Menschen einen sinnhaften Bezug zur Wirklichkeit zurückzugeben vermag.15 Im Künstlerroman La carte et le territoire, der bereits früh als doppeltes Selbstportrait des Autors gelesen wurde,16 wird diese Begrenztheit realistischen Erzählens nun anhand eines fiktiven Werkes des Künstlers Jed Martin gedoppelt. Durch diese Verdichtung mit teils ekphratischen, teils diskursiv-theoretischen Kunst-Betrachtungen zeichnet sich schließlich die Kontur einer neuen poetologischen Haltung ab. Gegen die reine Nachbarschaftsbeziehung, die aus der Kontingenz zur ästhetischen Feier anhebt, werden allegorische Strategien ins Feld geführt. Auch diese bauen offen auf einem Kontingenz-Prinzip auf, begreifen doch aber den Realismus als eben fiktionale Konstruktion von Wirklichkeit, statt ihn dahingehend zu dekonstruieren.17 So entsteht meiner Ansicht nach der künstlerische Versuch, auf einer zweiten Verständnisebene soziale Sinnhaftigkeit herzustellen und so ein neues wiederum soziales Telos zu etablieren.

Flaubert (1): Die ästhetische Verwechslung – Kontingenz und Nachbarschaft Un Cœur simple ist die erste Erzählung der Trois Contes und schreibt sich mit diesem Übertitel zunächst weniger in eine Roman-Tradition ein, als in eine der Sagen und Heiligenlegenden. In welchem Maße sie dennoch Auskunft über die

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rische Sprache als dazu relativ erscheinen – entweder in konformer oder gerade gegenstrebender Weise. Zum Begriff des Diskurses vgl. Foucault (2003), sowie im Kontext des Realismus bei Warning (1999), S. 150–153. So die Formulierung von John McCann in Anlehnung an die von Houellebecq im Titel seines ersten Romans ausgerufene ‚Kampfzone‘. Vgl. McCann (2007). So bspw. in Les particules élémentaires (1998) und besonders in La possibilité d’une île (2005). Dort will sich trotz einer gentechnischen Perfektionierung für den 25ten Klon des Protagonisten Daniel keine beständige Zufriedenheit mit seinem Zustand einstellen, weshalb er schließlich aus seiner perfekt organisierten Behausung ausbricht, um sich in der Hoffnung auf Liebe mit der Außenwelt zu konfrontieren. Zum Künstler- und Selbstportrait vgl. Gipper (2012) und Schlüter (2012). Asholt beendete seine Betrachtung zum renouveau du réalisme mit der auf Lotman zurückgehenden Feststellung, dass im Realismus immer schon die Struktur des Text-Raumes mit derjenigen des Welt-Raumes enggeführt wurde und der Realismus die Literatur wohl allein schon deshalb immer wieder heimsuchen werde. Auf genau diesen Struktur-Gedanken möchte ich hier aufbauen. Vgl. Asholt (2013), S. 33.

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Verfahrensweisen realistischen Schreibens gibt, lässt sich bereits daran erkennen, dass Barthes ausgerechnet an dieser kurzen Erzählung den effet de réel konkretisierte.18 Das titelgebende einfache Herz ist bereits die synekdochale Ankündigung seiner Trägerin und Protagonistin des Textes, der Dienstmagd Félicité. Wie Raymonde Debray Genette in ihren Flaubert-Studien herausarbeitete, ist dieser metonymische Auftakt nur der Beginn einer ganzen Reihe von paradigmatischen Ähnlichkeiten, die schon im ersten Kapitel eigentlich die weitere Lektüre obsolet machen.19 Bereits hier zu Beginn erscheint uns Félicité als selbstlos im doppelten Sinne: als demütig hingebungsvolle Dienerin bei ihrer Herrin Mme Aubain, aber auch als absolute Leerstelle von autonomer Subjektivität.20 Wenn sie im letzten Absatz dieses Kapitels schließlich als „femme en bois, fonctionnant d’une manière automatique“ (CS, S. 22) beschrieben wird, lässt diese Automatisierung bereits zu diesem Zeitpunkt statt auf eine syntagmatische Entwicklung mehr auf eine unweigerliche Wiederholung schließen. In der Tat könnte die Kontingenz auf Strukturebene größer nicht sein. Den Aufbau des Plots fasste Flaubert selbst in einem Brief anhand der affektiven Anbindungen Félicités zusammen.21 Diese lösen sich in steter Enttäuschung gegenseitig ab, substituieren sich lediglich und enden zumeist mit dem Tod der entsprechenden Bezugsperson. Debray Genette weist auf die erstaunliche Zahl von 10 Toten innerhalb einer solch kurzen Erzählung hin, die allerdings trotz ihrer prominenten Häufung keinen erzählerischen Eigenwert haben, sondern einen ‚schon wieder‘-Effet bilden. Als Victor, der Neffe Félicités, in Kuba an der Behandlung seines Gelbfiebers stirbt, weil nicht weniger als vier Ärzte ihn gleichzeitig zur Ader lassen, ruft der chef lediglich aus: „Bon! encore un!“ (CS, S. 51) Ähnlich entfährt es auch dem Hausarzt vor Ort, als die Tochter Mme Aubains, Virginie, nach kurzzeitiger gesundheitlicher Besserung doch wieder eine fluxion de poitrine erleidet: „‚Pas encore!‘ dit le médecin“. (CS, S. 52) Die

18 Zugleich fügt der Gattungsverweis der Heiligenlegende eine zusätzliche Meta-Ebene der Konventionalität und Diskursivität mit ein. Diese ‚katachetische Starre‘, so der Begriff von Barbara Vinken, kulminiert schließlich im missglückten Erweckungstod der Protagonistin Félicité. Vinken (2009), S. 358. Jonathan Culler beginnt seine große Flaubert-Studie mit einem Zitat Ezra Pounds, der befand, dass Un Cœur simple alles beinhalte, was man über das Schreiben wissen müsse und also Aufschluss über die poetologische Konzeption des Flaubert’schen Realismus geben könne. Vgl. Culler (2006), S. IX. 19 Debray Genette (1988), S. 264, sowie 286f. Eine solche ana- und kataphorische Konzeption ist für Warning Ausdruck einer weitestgehenden Paradigmatisierung der vormals als linearsyntagmatisch begriffenen Narration. Vgl. Warning (2001), S. 179. 20 „In der Entäußerung ihres Selbst verliert sich die Figur des Menschlichen ins Idiotische, ins Tierische, ins rein stofflich Verwesende wie den Schlamm, ins leer Mechanische.“ Vinken (2009), S. 358. 21 Vgl. hier und nachfolgend zu Flauberts Briefwechsel und den Toten: Debray Genette (1988), S. 266, S. 279f.

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Kapitel reihen sich so wie unzusammenhängende Episoden aneinander, während der Zeitfluss nichts voranzubringen oder an Sinn zu produzieren scheint.22 So dominiert im Großen wie im Kleinen, auf Struktur- wie auf Textebene, eine „contiguïté problématique“.23 Eine direkte Spiegelung der paradigmatischen Gesamtstruktur sind sicherlich die asyndetisch gereihten Informationen, die allenthalben den Text bevölkern. So auch auf der Anrichte der Pächter Mme Aubains: Un dressoir en chêne supportait toutes sortes d’ustensiles, des brocs, des assiettes, des écuelles d’étain, des pièges à loup, des forces pour les moutons; une seringue énorme fit rire les enfants. (CS, S. 34)

Krüge und Teller des Menschen stehen direkt neben den Futternäpfen für das Vieh, daneben eine große Spritze, die wir als Klistier verstehen dürfen. Die Aufzählung der ustensiles allein wäre wohl als effet de réel zu bezeichnen. Als „plages insignifiantes“ wäre sie interesselos und sonach auch hermeneutisch unfruchtbar, was Barthes an diesem historischen Moment als regressives Festhalten an einer Referentialität liest, bevor das Zeichen in der späteren Moderne endgültig entleert würde.24 Genau diese Entleerung findet jedoch mit dem Zusatz der ‚großen Spritze‘ auf diskursiver Ebene bereits statt. Der ‚Lesefehler‘25 der kindlichen Perspektive bleibt auf semantischer Ebene erhalten, während auf pragmatischer Ebene damit das Klistier ironisch als Bestandteil eines veralteten medizinischen Diskurses ausgestellt wird. So war der Einlauf im 18. Jahrhundert noch modisches Allheilmittel der hohen Gesellschaft und ist im 19. Jahrhundert dann praktisch bedeutungslos geworden. Die im Durcheinander hervortretende kontingente Nachbarschaftlichkeit der Dinge findet ihre Vollendung in der Austauschbarkeit der diskursiven Bestandteile, die zu ihrer ‚eigentlichen Form‘

22 „[L]e lien entre les episodes est effacé, le sens échappe non seulement au héros, mais au lecteur; le temps semble ne rien produire, ne pas faire ‚avancer‘ (ni le héros, ni le récit), mais ballotter le personnage de hasard en hasard.“ Ebd., S. 269. Dieses bereits erzählerisch unproduktive Verhältnis zur Zeit konkretisiert sich gleichsam historisch, da selbst politische Großereignisse wie die Revolutionen 1830 und ’48 keine tatsächlichen Wendungen in Leben und Text bilden. Die hier nur angedeutete Entzauberung einer von historischer Notwendigkeit getriebenen revolutionären Erzählung durch deren Paradigmatisierung und Verknüpfung mit romantischer Liebe führt Warning ausführlich anhand der Éducation sentimentale aus. Vgl. Warning (2001), S. 185–190. 23 Debray Genette (1988), S. 264. 24 Zitat und vgl. Barthes (2002), S. 27, S. 32. 25 Die Uneigentlichkeit der Umschreibung für das medizinische Instrument ist der kurzzeitigen Einnahme der kindlichen Perspektive geschuldet und lässt sie ironisch werden. In der sonst transparent-eigentlichen Benennung der Dinge hebt sich der uneigentliche Ausdruck ‚insular‘ ab, ist aber nur dann als „rhetorische Solidarisierungstrategie“ mit dem Leser wirksam, wenn dieser als dritter mit seinem Wissen mitgedacht wird. Warning (1999), S. 159.

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zurückfinden und gerade dadurch statt sinnhaft nur noch grotesk-komisch wirken. Im selben Maße wie die angedeutete kindliche Perspektive als eine Art Kontrastmarker für die diskursive Gemachtheit der Dinge fungiert, so dient auch Félicité durch ihre Undeterminiertheit in dieser ‚Polyphonie der Diskurse‘26 als ein solches Moment der Brüchigkeit. Allerdings macht sie das nicht unbedingt zum Opfer der Ironie, sondern eher zu einem solidarischen Anker im Text,27 der, so würde ich argumentieren, uns damit die eigene Kontingenzerfahrung aufzeigt und möglicherweise sogar abnimmt. An Félicités Unverständnis stellen sich selbst mathematisch exakte Bewältigungsmechanismen der Wirklichkeit als unzureichend heraus. Statt einer deckungsgleichen Erfahrung bleibt eine arbiträre Repräsentation, die auf nichts zu verweisen vermag. Die später bei Houellebecq nochmals relevant werdenden Karten spielen hier bereits eine Rolle. Nachdem Félicités Neffe Victor als Schiffsjunge nach Kuba gereist war, bittet sie daraufhin M. Bournais, den zwielichtigen Anwalt und Freund der Familie, ihr diesen Ort im Atlas zu zeigen: Il atteignit son atlas, puis commença des explications sur les longitudes; et il avait un beau sourire de cuistre devant l’ahurissement de Félicité. […] [Ce] réseau de lignes coloriées fatiguait sa vue, sans rien lui apprendre; […] elle le pria de lui montrer la maison où démeurait Victor. Bourais leva les bras, il éternua, rit énormément; une candeur pareille excitait sa joie; et Félicité n’en comprenait pas le motif. (CS, S. 48f.)

Die Repräsentationen von Wirklichkeit, die sie ja eigentlich erfahrbar machen sollten, werden an Félicités einfachem Charakter in ihrer gesamten ermüdenden28 Kontingenz ausgestellt. Die lignes coloriées entpuppen sich als ästhetischer Schein, dessen Wahrheitsanspruch an sich selbst zerbricht. Was als sinnstiftende Ähnlichkeit entworfen ist – wie im Falle der Karten gewissermaßen die mathematische Proportion und Geometrie als tertium comparationis auftreten – sitzt bereits einer vorläufigen Täuschung auf. Point d’une métaphore qui ne passe par une métonymie. Selon qu’on va, dans la construction du récit, de l’asyndète à la métonymie à la métaphore, on peut produire une abscence de sens […] un sens indécis, ou un sens plus marqué.29

Diese poetologische Strategie findet auf nahezu allen Ebenen Anwendung und kreuzt hierbei oftmals ein intertextuell angelegtes christlich-romantisches Dispositiv. Die beiden Kinder Paul und Virginie der Dienstherrin Mme Aubain 26 Vgl. bereits den Titel von Jünke (2003). 27 Vgl. Culler (2006), S. 211. 28 Auch an anderer Stelle im Text ist es ein solches asyndetisches Nebeneinander, das Félicité erschöpft über die Komplexität des Katechismus einschlafen lässt: „Le curé discourait, les enfants récitaient, elle finissait par s’endormir“ CS, 27. 29 Debray Gentte (1988), S. 287.

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verweisen unmissverständlich auf den gleichnamigen Roman Bernardin de Saint-Pierres von 1788, womit ihnen zunächst ein naturromantischer Vorschuss gegeben wird. Auch Félicité scheinen die Kinder wie aus einer „matière précieuse“ (CS, S. 11) geformt, doch bereits die tatsächliche Verwandtschaft der beiden hinterlässt auf der vormals platonischen Geschwisterliebe einen inzestuösen Beigeschmack. Zwar folgt Virginie mit einem frühen Tod ihrem historischen Vorbild, doch entsteht dadurch, wie oben bereits gezeigt, statt eines moralischen Sinns nur ein wiederkehrendes encore.30 Immer wieder werden diese konventionalisierten Mechanismen der Romantik bemüht, um Subjekt und Schöpfung zusammenzuführen. Fast jeder Ausflug in den Außenraum wird zu einer Art Naturschau und birgt die Hoffnung auf einen allumfassenden göttlichen Reaktionsraum („la voûte immense du ciel recouvrait tout cela“31). Doch der Himmel bleibt leer und Félicité allein zurück: „Elle se jeta par terre, poussa des cris, appela le bon Dieu, et gémit toute seule dans la campagne jusqu’au soleil levant.“ (CS, S. 10) Schließlich wird diese prinzipiell poetische Haltung gegenüber der Natur, in der sich Nebelschwaden wie ein Schal um die Windungen der personifizierten Landschaft legt,32 nicht nur enttäuscht, sondern entpuppt sich sogar als gefährlich: C’était un taureau, que cachait le brouillard. Il avança vers les deux femmes. (CS, S. 16) Le taureau avait acculé Félicité contre une claire-voie; sa bave lui rejaillissait à la figure, une seconde de plus il l’éventrait. Elle eut le temps de se couler entre deux barreaux, et la grosse bête, toute surprise, s’arrêta. (CS, S. 17)

Das brutale und unkontrollierte Ausbrechen der animalischen Natur aus dem poetischen Schleier scheint mir ein deutliches Signal zu sein, dass die prinzipielle Ähnlichkeitsbeziehung der romantischen Metapher lediglich auf einer ‚ästhetischen Verwechslung‘ fußt und deshalb in diesem diskursiven Geflecht nicht nach einer Sinnhaftigkeit zu suchen ist.

30 In de Saint-Pierres Roman Paul et Virginie ist Virginies Tod der Preis dafür, dass sie sich bis zuletzt ihre Keuschheit und Scham bewahrt. Trotz der nahenden Havarie des Segelschiffes vor ihrer Heimatinsel weigert sie sich, sich ihres Kleides zu entledigen und so den Blicken der anderen auszusetzen. Die teils irreführende Semantik der ‚sprechenden‘ Namen kann dabei sowohl für Félicité selbst, als auch für ihre erste Liebe Théodore weiterführend ausgedeutet werden. Dieser Bedeutungszuschuss der Namen wird später bei Houellebecq wiederum in sinnstiftender Weise eine Rolle spielen. 31 „Elle [la mer] était brillante de soleil, lisse comme un miroir, tellement douce qu’on entendait à peine son murmure; des moineaux cachés pépiaient, et la voûte immense du ciel recouvrait tout cela.“ (CS, S. 21). Zum Konzept romantischer Naturschau siehe Matzat (1990), S. 98–108. 32 „La lune à son premier quartier éclairait une partie du ciel, et un brouillard flotait comme une écharpe sur les sinuosités de la Toucques.“ (CS, S. 16).

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Flaubert (2): Poetik – Feier der autonomen Ästhetik Am christlichen Heilsdiskurs schließlich legt der Text beispielhaft den illusorischen Mechanismus diskursiver Repräsentation offen und wendet sich poetologisch auf sich selbst. Unfähig, sich den Heiligen Geist als Feuerzunge, Taube und Atem zugleich vorzustellen, wird Félicités Haustier, der Papagei Loulou, zuerst im Lebendigen, später auch ausgestopft dessen lebensweltliche Ersatzfigur. Bereits der Anlass dieser Verwechselung liegt auf der Ebene ästhetisch vermittelter Repräsentation, denn er basiert auf einer ekphrastischen Deutung. Auf dem Epinal-Bildchen, das in Félicités Kammer direkt neben dem ausgestopften Vogel auf der Kommode steht, sind es die „ailes de pourpre“ und der „corps d’émeraude“ (CS, S. 70) der Taube, die sie im wechselnden Blick immer mehr mit den Farben Loulous verbindet, so wie ihr auch das Sprachvermögen des Papageis dem Heiligen Geist viel eher angemessen scheint als das einer Taube. Zuerst ist es nur ein verstohlener Blick in der Andacht, zuletzt betet Félicité im vorangeschrittenen Alter statt dem Heiligen-Bildchen dann gänzlich Loulou an. [Elle] implorait le Saint-Esprit, et contracta l’habitude idolâtre de dire ses oraisons agenouillées devant le perroquet. Quelquefois, le soleil entrant par la lucarne frappait son œil de verre, et en faisant jaillir un grand rayon lumineux qui la mettait en extase. (CS, S. 72f.)

Das Symbol der Taube, eigentlich eine religiöse Präsenzfigur, die die Anwesenheit einer göttlichen Ordnung in der Welt garantieren soll, wird von Félicité in eine scheinbar metaphorische Ähnlichkeitsbeziehung umgedeutet, die sich jedoch als reine Metonymie entpuppt und so profaniert wird.33 Somit wird jegliches Versprechen auf eine göttliche Ordnung und also auf einen wahrheits- und bedeutungsspendenden Diskurs als rein kontingente Nachbarschaftsbeziehung aufgezeigt und das inkompatible Moment der Repräsentation bloßgelegt. Der letztlich ekstatische Tod Félicités am Rande der Fronleichnamsprozession, während dessen sie „dans les cieux entr’ouverts“, einen „perroquet gigantesque“ (CS, S. 73) über sich sieht, ist zwar als Illusion entlarvt, bringt aber eine Wende mit sich.34 Denn gleichzeitig transzendiert diese Dynamik die eigene ironische 33 Vgl. Debray Genette (1988), S. 287. „C’est le seul moment du récit où règne la métaphore, encore est-elle fruit de la métonymie.“ Zum metonymischen Verhältnis von Loulou und dem Heiligen Geist vgl. ebd., S. 267. Barbara Vinken bezeichnete die Ersetzung der Taube durch den Papageien als Lesefehler, der in Anknüpfung an die erotische Tradition des Papageien den immanenten Körper der transzendenten Verkündigung vorzieht. Vgl. Vinken (2009), S. 401ff. 34 Zum besseren Verständnis, hier der letzte Abschnitt in Gänze: „Une vapeur d’azur monta dans la chambre de Félicité. Elle avanca les narines, en la humant avec une sensualité mystique; puis ferma les paupières. Ses lèvres souriaient. Les mouvements de son Cœur se ralentirent un à un, plus vagues chaque fois, plus doux, comme ne fontaine s’épuise, comme

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Brechung und es bleibt, wie Warning es an anderer Stelle beschrieben hat, die Manifestation „eines autonom gewordenen ästhetischen Scheins“35, der keinesfalls ironisch sein muss. In diesem Sinne verstehe ich die „Enthüllungsabsicht“36 Flauberts durchaus als eine Befreiungsdynamik, die der spielerischen Kontiguität und also einer paradigmatischen écriture unbedingt den Vorzug gibt, um damit eine ästhetische Offenheit zu etablieren. Wie die fast taube und blinde Félicité von Krankheit und Weihrauch berauscht in einer „sensualité mystique“ (CS, S. 73) schließlich die finale Epiphanie erfährt, mag sicherlich eine komische Verdrehung kunstreligiöser Erfahrung sein.37 Doch die künstlerische Operation, die dahinter steht, löst sich damit nur endgültig von jeglicher Dienlichkeit zur Sinnstiftung ab. Man darf freilich die Konsequenz daraus zwiespältig betrachten und im verlorenen Glauben an einen sinnhaften Zugang zur Welt alles Weitere als Augenwischerei abtun. Doch dominanter scheint mir, dass realistisches Schreiben hier als Autonomisierungsprozess des Ästhetischen entworfen wird, das gerade im momenthaft zweckfreien Erlebens seine neue Freiheit genießt.

Houellebecq (1): ‚Il y a un manque monstrueux dans le second degré‘ Die Bloßstellung der Unproduktivität von Zeit, Diskursen und Politik zugunsten einer ästhetischen Dynamik darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass Flauberts poetologische Positionierung durchaus stark in ihrer Zeit verhaftet ist.38 Auch

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un écho disparaît; et, quand elle exhale son dernier soufflé, elle crut voir, dans les cieux entr’ouverts, un perroquet gigantesque, planant au-dessus de sa tête.“ (CS, S. 73). Warning (1999), S. 173. Jünke (2003), S. 10. Zur historischen Konzeption der Kunstreligion zwischen Autonomie und Zweckdienlichkeit hinsichtlich einer religiösen Erfahrung vgl. Detering (2011). Auf die Möglichkeiten einer historisch-hermeneutischen Einordnung einzugehen würde den Rahmen dieses Aufsatzes sprengen, doch bereits eine kurze Skizze der gesellschafts-politischen Situation im Erscheinungsjahr 1877 kann hilfreich sein. Als die Trois Contes erscheinen, zeichnet sich mit dem Sieg der Republikaner im Senat und bei den Kommunalwahlen erstmals wieder eine möglicherweise längerfristige Konsolidierung der Republik ab, die jedoch noch einige Zeit im selben Maße wie die Restaurationsbewegungen in einer Warteposition gefangen ist. In dieser bizarr latenten Gleichzeitigkeit der politischen wie auch gesellschaftlichen Ordnungssysteme, überdies eingeläutet durch die brutale Niederschlagung der Kommune zu Beginn der III. Republik, manifestierte sich nach einem Jahrhundert der Systemwechsel einmal mehr das Scheitern einer neuen stabilen Ordnung. Zur ‚attente monarchique‘ und der Etablierung der Republik im Laufe der 1870er und 80er Jahre vgl. u.A. Zeller (2016), S. 166. Zu Warnings politischer Deutung der Éducation sentimentale vgl. ders. (2001), S. 185–190.

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Warning lokalisierte Flaubert an einem historisch fragilen Ort der Übergangszeit „zwischen einem abgeschiedenen Alten und einem noch nicht absehbaren Neuen“.39 Die noch unentschiedene diskursive Gemengelage bringt schließlich die nötige Offenheit hervor, auf ästhetischer Ebene Einsicht in die sozial vermittelte Künstlichkeit der Dinge zu erlangen und sich davon autonom zu machen. In diesem gesamtgesellschaftlichen Ringen wird Flauberts oftmals distanzierte Außenperspektive, die diese Kontingenz spielerisch exponiert, um sich davon abwenden, zu einem konterdiskursiven Potential. Was nun aber, wenn diese Erkenntnis der allgemeinen Uneigentlichkeit, der Distanz, des Zitats, der spielerischen Ästhetik, kurzum ein Denken im discours indirect libre zum „état cognitif normal“40 und damit eine Sprecherposition im second degré selbst zur Konvention geworden ist? Nicht erst rückblickend werden die 1990er Jahre als Stagnation begriffen, die entweder euphorisch als endgültiger Sieg der liberalen Weltordnung, oder eher dysphorisch als Wendepunkt der postmodernen Paradigmen gelten, wo die „Insuffizienz der Logik des Nebeneinanders“ und die ethisch-moralische Beliebigkeit an ihre Grenzen stoßen.41 In der Feier des „sacre du présent“ scheint sich gleichzeitig ein „manque d’avenir“ herausgebildet zu haben.42 Man kann es demzufolge als „geschichtsphilosophische[…] Dialektik“43 begreifen, dass das neue Jahrtausend sich fortan in Paradoxien der Unsicherheit bricht: „[de] frivolité et d’anxiété, d’euphorie et de vulnérabilité, de ludique et d’effroi.“44 Houellebecqs Schreiben ist symptomatisch für diese Zeit, da eine permanente Unsicherheit die Freude an dekonstruktiver Ungewissheit kreuzt und das Bedürfnis nach einem gesicherten Sinnzusammenhang der Wirklichkeit stärker wird – die gegebenen Diskurse und Repräsentationen von Welt dem aber nicht genügen.45 39 Er bezieht sich hierbei hauptsächlich auf die Ironie und deren Konterdiskursivität, auf die ich nachfolgend kurz zu sprechen komme. Vgl. Warning (1999), S. 150–184, Zitat S. 164. 40 Bellanger (2010), S. 121. McCann hat diesbezüglich eine treffende Erweiterung des Houellebecqschen Diktums von der „Welt als Supermarkt“ vorgenommen: „on est consommateur du langage d’un autre comme on est consommateur de produits ou d’images que quelqu’un a crées pour nous.“ Er zieht daraus allerdings den falschen Schluss, dass die Pluralität der Diskurse uns Autonomie und Wahlfreiheit verschaffen würde. Zitat und vgl. McCann (2007), S. 370. 41 Zitat und vgl. Conrad von Heydendorff (2018), S. 34f. 42 Lipovetsky (2004), S. 83, S. 95. 43 Lukács (1987), S. 32. 44 Lipovetsky (2004), S. 91. 45 Einer solchen Hypothese folgend wäre es gewissermaßen unmöglich, das Reale über die Intensität literarischer Sprache abzubilden und so das bislang ungehörte inouï erfahrbar zu machen, wie es bspw. Dominique Viart in „Écrire le réel“ forderte. Es überrascht nicht, dass er Houellebecq einen derartigen Zugang zum Realen gleichzeitig abspricht, indem er ihn als Zyniker gegenüber dem „mal-être“ der Gesellschaft auf seinen Platz außerhalb des Realen verweist. Vgl. Viart (2005), S. 212f., S. 224.

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Angesichts dieser neuen Umstände möchte ich daher prüfen, wie der eingangs erwähnte Kampf mit der Konstruktion der Welt wieder aufgenommen werden könnte und ob Houellebecqs Texte, wie Radisch dies andeutete, lediglich ironische Nutznießer dieser Destabilisierung sind. Wenn der Autor selbst anlässlich seiner Poesie davon spricht, dass Schreiben letztlich immer aus der Wahrnehmung eines „manque monstrueux et global (qu’on peut voir comme affectif, social, religieux, métaphysique […])“ heraus geschieht, möchte ich dies umso mehr für seine Romane geltend machen und die Annahme stützen, dass er es sich trotz allem nicht im second degré bequem macht.46 Diese Einschätzung wird seit geraumer Zeit zumindest vereinzelt auch in der Forschung diskutiert. Julia Pröll argumentierte bereits 2007 im Vergleich mit dem Existentialismus, Houellebecq versuche durchaus engagiert gegen die postmoderne Inauthentizität anzuschreiben, während Youssef Ferdjani später von Houellebecqs Suche nach einer neuen Ontologie und einer neuen Form der Transzendenz sprach.47 Auch Sabine van Wesemael sieht in den Romanen eine nostalgische Sehnsucht nach sinnhaft konsistenten Figuren und Erzählungen, die der Entfremdung und der fehlenden Ernsthaftigkeit entgegen wirken könnten.48 Auch wenn ich diese Einschätzungen grundlegend teile, scheint mir eine Anpassung dahingehend notwendig zu sein, was wohl als Gegenentwurf zur beklagten Entfremdung dienen könnte. So groß die Sehnsucht auch sein mag, hat die Geschichte seit dem 19. Jahrhundert doch gerade gezeigt, dass es weder ein authentisches Subjekt noch gar eine natürliche Ordnung der Welt und zuletzt auch keine eigentliche Sprache gibt, die nicht bereits selbst diskursiv vermittelt und konventionell wäre. Oder wie Bruno Viard es lakonisch zusammenfasst: „[Le] geste authentique est perdu depuis longtemps“.49 Es wäre nun also ein Leichtes, Houellebecqs Realismus als nostalgische Regress-Bewegung zu einem Ideal-Bild des Erzählens im Syntagma zu lesen, doch wie an Flaubert deutlich wurde, entspräche dies weder dem historischen Vorbild des Realismus, noch würde es Houellebecqs Schreiben gerecht. Ich werde deshalb in einer poetolo46 „Au fond, si j’écris des poèmes, c’est peut-être avant tout pour mettre l’accent sur un manque monstrueux et global (qu’on peut voir comme affectif, social, religieux métaphysique; et chacune de ces approches sera également vraie). C’est peut-être que la poésie est la seule manière d’exprimer ce manque à l’état pur, à l’état natif […]. C’est peut-être pour laisser le message minimal suivant: ‚Quelqu’un, au milieu des années 199…, a vivement ressenti l’émergence d’un manque monstrueux et global; dans l’incapacité de rendre compte clairement du phénomène, il nous a cependant, en témoignage de son incompétence, laissé quelques poèmes.‘“ Houellebecq (2016a), S. 966. Zu Houellebecqs eigener Kontrastierung von Formalismus und seiner wieder der Welt zugewandten, theoriefreudigen Erzählliteratur siehe auch Wolfgang Asholts Beitrag in diesem Band, insbesondere zu Houellebecqs Text „Coupes de sol“. 47 Vgl. Pröll (2007), Ferdjani (2010), S. 410. 48 Vgl. van Wesemael (2015), S. 218f. sowie dies. (2013), S. 330. 49 Viard (2011), S. 91.

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gischen50 und allegorischen Lektüre von La carte et le territoire eine dritte Option vorschlagen. Meiner Ansicht nach übernimmt Houellebecq die Strategien der Kontingenzexposition von Flaubert und deren kritisches Potential auf einer ersten Ebene, leitet daraus aber in einem zweiten Schritt keinen autonomen Ästhetikbegriff ab, sondern stellt die Exposition wiederum in den Dienst einer Kontingenzbewältigung im Modus der Uneigentlichkeit. Der Realismus entpuppt sich so nicht als Mittler zu einer Metaphysik der Wirklichkeit, sondern verbleibt als zugänglicher aber offen fiktionaler sensus litteralis innerhalb des sozial vermittelten Gefüges. Gerade dadurch wird schließlich ein sensus allegoricus lesbar, der als eine Art neuer, wie ich es nennen möchte, sensus socialis sinnstiftend wirken kann.

Houellebecq (2): Vom Vermessen der eigenen Kontingenz Von Beginn an ermutigt der Text den Leser, eine kritische Haltung gegenüber dem mimetischen Pakt einzunehmen und legt damit sowohl die eigene Kontingenz, als auch die poetologischen Ansprüche offen. Wenn der Roman mit „Jeff Koons venait de se lever […]“ (CT, S. 9) anhebt, bildet diese erste Phrase eine realistische Referenz an den weltberühmten Künstler gleichen Namens und die detaillierte Beschreibung der Gesprächssituation mit seinem nicht minder bekannten Kollegen Damien Hirst wäre zu diesem Zeitpunkt noch beispielhaft geeignet, um die illusion référentielle des effet de réel zu erläutern. Als jedoch Jed Martins Pinsel ins Bild drängt und das Gesicht Koons’ verwischt, entpuppt sich die aufgebaute Referentialität als Ekphrasis51 und öffnet damit die eigentliche Diegese-Ebene, was uns, poetologisch gesprochen, auf die Produktionsseite des Realismus zieht. Wir sehen also einem Künstler bei der Arbeit zu. Der Text handelt sogleich von den Schwierigkeiten, eine Person für deren künstlerische Repräsentation ‚richtig zu greifen‘ und erklärt, weshalb dies bei dem eher stereotypen Hirst (Typ „artiste révolté“, oder „fan de base d’Arsenal“, Hervorhebung i.O., CT, S. 10) leichter gelingen mag als bei Koons. Auch die zahlreichen fotografischen Vorlagen können daran nichts ändern und obwohl Martin selbst unter anderem auch Fotograf ist, kann er der Technik zu Portrait-Zwecken nichts abgewinnen.

50 Auch Viard beschreibt den Roman als Reflexion über die „représentation de la représentation“, und den Roman sonach wie folgt: „[C’]est donc aussi un art poétique“ Vgl. ebd., S. 87. 51 Dass Bildbetrachtungen Anlass zu ästhetischer Verwechslung geben, ist an dieser Stelle bereits durch Flaubert hinreichend bekannt.

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Depuis longtemps d’ailleurs les photographes exaspéraient Jed, en particulier les grands photographes, avec leur prétention de révéler dans leur clichés la vérité de leurs modèles. (Hervorhebung i. O., CT, S. 10f.)

Die Kursivsetzung der ‚großen Fotografen‘ und ihres Wahrheits-Anspruchs reicht aus, um beides als Diskurs-Fragmente und „mots ‚en plastiques‘“ abzuqualifizieren.52 Dass zusätzlich für die Fotografien ausgerechnet der ambivalente Begriff clichés gewählt wurde, unterstreicht gerade in diesem Kontext einmal mehr die schwierige Ausgangslage jeder Form von wahrheitssuchendem Realismus.53 Der fotografische Abzug als Klischee wird, auch im Hinblick auf Hirst, als Oberflächen-Ähnlichkeit ausgestellt und damit seine falsche Behauptung von sinnhafter Verknüpfung oder gar ontologischer Kontinuität bereits auf Seite zwei des Romans offengelegt. Diese Demontage, letztlich auch des eigenen Vorhabens, würde ich nicht nur durch den pragmatisch-ironisch orientierten Stil in einer Traditionslinie zu Flaubert und dessen Kontingenzexposition einordnen. Eine solche grundlegend paradigmatische Ausrichtung spiegelt sich auch auf der Strukturebene des Romans. Die Narration ist als Künstlerroman am Leben und Schaffen des Fotografen und Malers Jed Martin ausgerichtet und überlagert sich im dritten Teil anlässlich der brutalen Ermordung der Romanfigur Michel Houellebecq mit einer Art Kriminalroman. So sehr diese Volte auch ein offenes, hermeneutisches Problem in die Handlung einführt – wer war der Täter? – so wenig ändert sie etwas an der Paradigmatik in Jed Martins Werdegang. Wie schon bei den Trois Contes bildet diese Kreuzung in sich auch nur ein weiteres Gattungs-Nebeneinander. Wie schon das Leben Félicités aus sich gegenseitig substituierenden Affekt-Bindungen bestand, so ist auch dasjenige Martins von sukzessiven Verlusten geprägt, die den Roman strukturieren – anfangs zeitlich 52 Martina Stemberger spricht allgemein von der Strategie der Kursivsetzung als permanentes Abrutschen ins Metasprachliche, das den konventionalisierten Überbau der Worte hervorhebe. Gleichzeitig komme in dieser „parodie métalinguistique“ eine „inquiétude ontologique“ zum Ausdruck. Zitat und vgl. Stemberger (2013), S. 312f. 53 Dass der Begriff durchaus in dieser zweideutigen Weise eingesetzt wird, zeigt zum einen der weitere Gebrauch, bspw. als Martin und seine spätere Partnerin Olga nach dem ersten Rendezvous zu Martins Atelier fahren: „Il n’était que trop facile alors de l’inviter chez lui pour lui montrer d’autres clichés.“ Die Szene ist bereits zuvor wie aus einem romantischen Baukasten gesetzt und durch teils regelrecht petrarkistische Elemente übercodiert: So sind Olgas Lippen von einem „rose clair, légèrement nacré“ (CT, S. 67). Zum anderen nutzte Houellebecq im bereits erwähnten Text „Coupes de sol“, in dem er sein Verhältnis zu Robbe-Grillet erläutert, abschließend den Begriff des cliché um den schmalen Grad von Konvention und Neuerung für sein Schreiben zu definieren: „À l’opposé, en ouvrant ma littérature aux conceptions théoriques qu’on peut élaborer sur le monde, je m’expose constamment au risque du cliché – et même à vrai dire je m’y condamne, ma seule chance d’originalité consistant (pour reprendre les termes de Baudelaire) à élaborer des clichés neufs.“ Houellebecq (2016b), S. 1087. Vgl. dazu ebenfalls erneut den Aufsatz von Wolfgang Asholt in diesem vorliegenden Band.

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gerafft, späterhin eher gedehnt erzählt. Diese private Seite, so wird uns früh mitgeteilt, überlagert sich bald mit Martins professionellem Werdegang, also mit der Kunst. „Jed consacra sa vie (du moins sa vie professionnelle, qui devait assez vite se confondre avec l’ensemble de sa vie) à l’art […].“ (Hervorhebung i.O., CT, S. 37) Wie am gewählten Verb confondre deutlich wird, ist hier keine sinnhafte Beziehung zwischen Privatem und Beruflichem zu erwarten, eine sich befruchtende Symbiose, oder überhaupt eine sinnzusammenhängende Gesamtheit des Lebens. Vielmehr handelt es sich schlicht um eine Verwechslung. In eben diesem Modus des zufälligen Nebeneinanders erscheint nun auch Martins künstlerische Produktion über den gesamten Roman hinweg. Als nach dem Prolog das erste Kapitel mit den frühen künstlerischen Versuchen Martins beginnt, werden diese parallel mit dem Verlust der Mutter erzählt, die sich das Leben nahm, als Martin gerade sieben Jahre alt war. Dieses Muster wird anschließend in unterschiedlich dominanten Variationen wiederholt. So ist der Tod von Martins Großmutter der Grund für eine Fahrt in die französische Provinz, im Laufe derer er an einer Tankstelle eine regelrechte „révélation ésthetique“ (CT, S. 51) erfährt und beginnt, Michelin-Karten zu fotografieren. Später wird sein melancholisches Umherirren nach der Trennung von seiner Partnerin Olga ihn in der Nähe ihrer alten Wohnung vor einen Künstlerbedarf führen (CT, S. 115), wo er auf gut Glück ein Einsteigerset Ölfarben ersteht und sich daraufhin 10 Jahre seiner größten Serie widmet: Malereien, die den zeitgenössischen Produktionsprozess in Portraits festhalten. Der Tod seines Vaters und der Romanfigur Houellebecq stehen wiederum nach vielen Jahren der Unproduktivität erzählerisch vor Martins letzter Arbeit, mit der er die natürliche Vergänglichkeit des Menschen und seiner Welt in einem komplexen Mehrkanal-Video nachzubilden versucht. In einer psychoanalytischen Lesart würde man wohl versuchen die künstlerische Tätigkeit Martins als Sublimationsstrategie der frühen Mangelerfahrung zu deuten, die sich immer wieder bei einer erneuten Konfrontation mit Verlust kraftvoll erneuert. Indes wird im Text selbst weder eine direkte Motivation aus den Verlusten gezogen, noch stehen sie inhaltlich oder technisch in einem direkten Zusammenhang. Die quasi-romantische occasio als Anlass der Schöpfung täuscht ihre Verbindung lediglich vor und bleibt durch Kontiguität motiviert. Auch abseits der Makrostruktur ziehen sich derartige Nachbarschaften und Ähnlichkeiten durch den Text.54 Zwar mag Martin kein cœur simple sein, doch

54 Zu einem späteren Zeitpunkt im Roman erfahren wir, vermittelt wieder über den Erzähler, von Kommissar Jasselins Lektüre der Erinnerungen eines Privatdetektives in Bangkok. Dort sei es gerade die Einfallslosigkeit des Autors und dessen Mangel an Variation „qui lui donnait un parfum unique d’authenticité, de réalisme.“ (CT, S. 294). Gemessen an der sonst ebenfalls starken poetologischen Ebene des Romans, ist dies sicher auch als Kommentar zum Ver-

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aus seiner distanziert beobachtenden Position heraus fungiert er ähnlich wie Félicité als Medium der Kontingenzexposition. Als er am irischen Flughafen Shannon auf seinen Flug wartet, nachdem er ‚Houellebecq‘ besucht hatte, um ihn nach einem Vorwort für seinen Katalog zu bitten, betrachtet er dort eingehend die ausgehängten Karten: Ainsi, le libéralisme redessinait la géographie du monde en fonction des attentes de la clientèle, que celle-ci se déplace pour se livrer au tourisme ou pour gagner sa vie. À la surface plane, isométrique de la carte du monde se substituait une topographie anormale où Shannon était plus proche de Katowice que de Bruxelles, de Fuerteventura que de Madrid. Pour la France, les deux aéroports retenus par Ryanair étaient Beauvais et Carcassonne. S’agissait-il de deux destinations particulièrement touristiques? Ou devenaient-elles touristiques du simple fait que Ryanair les avait choisis? (CT, S. 148)

Konnte Félicité zuvor aus dem Anblick der Atlas-Karten keine Schlüsse auf die echte Welt und ihre Ausdehnung ziehen, fällt es hier ebenfalls schwer die Darstellungsvarianten überhaupt zu durchblicken. Die Weltkarte wird zu einer Überlagerung, die als Basis zwar eine als ‚normal-isometrisch‘, d. h. mit Konstanten arbeitende Karte hat, aber darüber eine neue Zeichnung gelegt sieht, die sich mehr an der Erfahrungswelt der Fluggäste orientiert. In einer klassischen Huhn- oder Ei-Frage wird jedoch auch diese erste normative Perspektive als unsicher markiert. Was als Weltbewältigung gemeint ist, lässt schließlich Ratlosigkeit über deren Eigentlichkeit zurück. Die Nachbarschaftsbeziehung Flughafen und Touristenziel bleibt in einem Wechselspiel gefangen, ohne dass ein motivierter Ursprung, ein valides Signifikat oder zumindest ein überzeugendes Tertium comparationis ersichtlich wäre. Dabei wäre Kartographieren, oder auch Mapping, herkömmlich als „Strategie der Weltbewältigung im Allgemeinen“ mit einer langen, nicht nur literarischen Tradition zu begreifen.55 Mit einer solch paradigmatischen Konzeption realistischen Schreibens und dem Willen zu deren Offenlegung wäre bislang wenig Unterschied zur Kontingenzexposition bei Flaubert auszumachen. Doch die fehlende euphorische Wende ins Ästhetische macht meiner Ansicht nach den entscheidenden Unterschied.

hältnis der kontingent-paradigmatischen Wirklichkeit zur Erzählliteratur des Realismus zu lesen. 55 Stemberger sieht in der Technik des Mapping einen roten Faden in Houellebecqs bisherigem Werk, was allerdings ob der hier gezeigten Kontingenzexposition zumindest auszudifferenzieren wäre. Vgl. und Zitat Stemberger (2014), S. 172.

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Houellebecq (3): Réalisme, écriture transitive, oder das soziale Telos als Bewältigungsstrategie In der Tat ließe sich Martins lethargisch melancholische Grundhaltung als die eingangs erwähnte Sehnsucht nach dem ‚Echten‘ deuten, die den ewigen second degré als „une histoire sécularisée de perte de paradis“ wahrnimmt.56 Tatsächlich aber wird anhand seiner Figur und seiner künstlerischen Produktion im Gegensatz zu der vorangegangenen Ohnmacht vor der Kontingenz der äußeren Welt nun die säkulare Variante einer biblischen Erzählung ausgebreitet – womit die religiöse Narration gewissermaßen die allegorische Folie für ein diesseitiges Anliegen bildet. In diesem Bereich ist der Text unterlegt mit einem teils offenen, teils eher verhaltenem Heilsnarrativ und einer religiös gefärbten Poetologie. Jed Martin als messianische Figur wird dabei schon früh in Stellung gebracht, wenn auch eher beiläufig. Zwar erfährt er eine katholische Sozialisierung auf einem jesuitischen Internat und hat auch späterhin ein enges wenngleich kompliziertes Verhältnis zur Kirche, doch nach dem Recht der Halacha wäre Jed Martin Jude. In nur drei Sätzen wird zu Beginn die Familiengeschichte von Martins Mutter, „issue d’une famille de la petite bourgeoisie juive“, erzählt und damit auch, woher Jed seinen Namen hat: „prénommé Jed en hommage à son oncle.“ (CT, S. 41) Jed ist die Kurzform des Zweitnamens Salomo Jedidja und bedeutet in dieser biblischen Tradition so viel wie ‚der Liebling Gottes‘.57 Mit dieser Herleitung aus dem Namen Gottes Jahwe, steht der Künstler hier allegorisch in der Gnade und der schöpferischen Tradition des Gottes selbst, womit die allegorische bereits mit der poetologischen Ebene verquickt ist. In dieser mehrdeutigen Lesart ist auch die bereits zitierte „révélation ésthétique“ (CT, S. 51) Martins anzusiedeln, wobei bereits bei der ersten Beschreibung der Michelin-Karten deren gesamtes Ausmaß deutlich wird. Cette carte était sublime; bouleversé, il se mit à trembler devant le présentoir. L’essence de la modernité, de l’appréhension scientifique et technique du monde, s’y trouvait mêlée avec l’essence de la vie animale. Le dessin était complexe, beau, d’une clarté absolue, n’utilisant qu’un code restreint de couleurs. Mais dans chacun des hameaux, des villages, représentés suivant leur importance, on sentait la palpitation, l’appel, de dizaines de vies humaines, de dizaines ou de centaines d’âmes – les unes promises à la damnation, les autres à la vie éternelle. (CT, S. 51f.)

So profan das Setting, so ekstatisch die Erweckung. Aus dem reposoir, auf dem der metonymische Loulou seinen Platz während der Prozession fand, ist hier nun ein présentoir geworden – der Verkaufsständer fungiert als neuer Altar. Die darin anklingende Kapitalismus-Kritik ist indessen nicht unbedingt tonangebend. 56 Stemberger (2013), S. 313. 57 Vgl. Lemma ‚Jed‘ und ‚Jedidja(h)‘ in: Historisches Deutsches Vornamenbuch (1998), S. 538f.

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Stattdessen erblickt Martin, hier im discours indirect libre wiedergegeben, in der vereinfachten Repräsentation der Karte eine biblische Dimension. Als perfekte Mischung von rationaler Darstellung und transzendentem Überbau scheint sie das Reale nicht mehr als Ausgangspunkt, sondern als Nebenprodukt zu betrachten. Dass die Karte in ihrer simplen Schönheit dabei in einem code restreint gehalten ist, verstehe ich als metareflexives Augenzwinkern bezüglich des eigenen oft als schlicht getadelten Codes Houellebecqs.58 Es hat durchaus etwas neoromantisches, dass der Künstler wie ein poeta vates einen göttlichen Grund von Verdammnis und Ewigkeit in der sich ihm bietenden occasio sieht – jedoch ist die Verschiebung entscheidend, wo er dies sieht. Da der Zugang zur Realität in der ewigen Verstrickung in die Diskurse sowieso unmöglich geworden ist, gilt der wahrheitssuchende Blick des Künstlers den menschengemachten Objekten seiner Zeit, um dann über sie hinauszugelangen. Was also tut Martin mit diesen Karten? Anstatt sich wie Félicité der Verwechslung aufgrund der reinen Oberflächenähnlichkeit hinzugeben, findet die ästhetische Transformation mit einer abermaligen Repräsentation über das Medium Fotografie nun erst statt: Il avait utilisé un axe de prise de vues très incliné, à trente degrés de l’horizontale, tout en réglant la bascule au maximum afin d’obtenir une très grande profondeur de champ. C’est ensuite qu’il avait introduit le flou de distance et l’effet bleuté à l’horizon, en utilisant des calques photoshop. (CT, S. 63)

Die gleichförmige, isometrische Ausdehnung der Karte, die eigentlich kein Ende kennt und paradigmatisch funktioniert, wird gebrochen durch die Wiedereinführung einer Perspektive. Was hier beschrieben wird, ist ein s.g. ‚tilt-Effekt‘, der durch die Neigung des Kamera-Balges entgegen dem Film-führenden Rückteil der Linhof-Kamera zustande kommt. Eigentlich wurde er zur Korrektur der Linsen-Verzerrung entwickelt, wird nun vor allem aber in der Fotografie von Modellansichten verwendet. Mit diesem mechanischen Verfahren kann eine extreme Tiefe und eine entsprechende Unschärfe erzeugt werden, was wiederum ein großes räumliches Ausmaß suggeriert. Schließlich fügt Martin zum Horizont hin, angelehnt an die Technik der Renaissance-Maler, Verblauung und Unschärfe (Sfumato) anhand von Photoshop-Filtern hinzu und erzeugt so das Bild einer echten Landschaft. Damit verleiht er der Repräsentation auf zweiter Ebene eine

58 Die Begriffe sind dem sozial-linguistischen Modell Basil Bernsteins entlehnt. Demnach steht dem ‚restringierten Code‘, der einfach gehalten ist und von den unteren Klassen gesprochen wird, der ‚elaborierte Code‘ der oberen Klassen entgegen, den man landläufig eher mit literarischem Schreiben verbinden würde. Bezüglich Houellebecq wird aufgrund dessen eher nüchterner, teils mit umgangssprachlichen Ausdrücken angereicherter Sprache immer wieder deren Literarizität diskutiert, abgesprochen oder verteidigt. Siehe beispielhaft dazu die Gegenpositionen von Célestin (2007) und Noguez (2003).

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neue syntagmatische Dimension die, wie Schober forderte, zeitgemäße Mittel nutzt. So ironisch sich die Hyperbel der Erweckung auch liest, ist das Anliegen, das daraus spricht, doch durchaus ein ernstes. Die Kontingenz der Repräsentation wird nicht einfach nur exponiert, sondern eben syntagmatisch neu geordnet. Eine zunächst etwas kryptische Auslegung dieser Fotografien, wenngleich im Text selbst als „pas bête“ gekennzeichnet (CT, S. 82), wird dem auch realiter bekennenden Konvertiten und katholischen Fürsprecher Patrick Kéchichian in den Mund gelegt: Dès ses premières lignes, il [Kéchichian] assimilait le point de vue de la carte – ou de l’image satellite – au point de vue de Dieu. Avec cette profonde tranquillité des grands révolutionnaires […] l’artiste […] s’écarte, dès la pièce inaugurale par laquelle il nous donne à entrer dans son monde, de cette vision naturaliste et néopaïenne par où nos contemporains s’épuisent à retrouver l’image de l’Absent. Non sans une crâne audace, il adopte le point de vue d’un Dieu coparticipant, aux côtés de l’homme, à la (re)construction du monde. […] Entre l’union mystique au monde et la théologie rationnelle, Jed Martin a choisi. Le premier peut-être dans l’art occidental depuis les grands renaissants, il a, aux séductions nocturnes d’Hildegarde de Bingen, préféré les constructions difficiles et claires du ‚bœuf muet‘, comme ses condisciples le l’université de Cologne avaient coutume de surnommer l’Aquinite. (CT, S. 81f.)

Jed Martin wird seinem messianischen Legat also gerecht und erhebt sich an die Stelle eines co-partizipierenden Menschen-Gottes. Stand Flauberts poetologische Demonstration an Félicité noch unter dem Zeichen einer quasi-mystischen Verzückung (hier beispielhaft durch Hildegard von Bingen vertreten), die sich im metonymischen Spiel zur reinen Ästhetik ausformte, steht die vorgeführte künstlerische Praxis Martins in eher nüchtern scholastischer Tradition (die Gegenseite des Thomas von Aquin). Vergleichsweise offen wird hier ein Anspruch verdeutlicht, nicht aus einem sinnlichen Erlebnis eine Form göttlicher Wahrheit zu erfahren, sondern durch logisch oder auch technisch funktionierende Konstruktionen dorthin zu gelangen; in diesem Falle also Sinnstiftung durch syntagmatisch bildgebende Verfahren zu erreichen. In dieser Positionierung Martins zeigt sich meines Erachtens die eigentliche Volte des Houellebecq’schen Realismus. Ein derartiges realistisches Schreiben, so lapidar es klingen mag, ist nicht mehr interesselos oder intransitiv, sondern folgt einem (sozialen) Zweck. Es wird hier auf einer poetologischen Ebene ausformuliert, was an Houellebecqs Begeisterung für Auguste Comte und dessen religion positiviste bereits diskutiert wurde.59 Comte bezieht sich selbst in seinem catéchisme positiviste auf den hier angeführten Thomas von Aquin als mittelalterlichen Vorläufer, wenn es darum geht, Wissenschaft und Religion fruchtbar zu

59 Vgl. bspw. Chabert (2002).

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verknüpfen.60 Der von Comte im gleichen Atemzuge genannte Roger Bacon, Zeitgenosse von Aquins, brachte bereits 1267 in seinem Opus maius die Relevanz einer logischen Konstruktion von Welt in divinis utilitas auf den Punkt: „Impossibile enim est quod sensus spiritualis sciatur, nisi fuerit literalis scitus.“61 (Denn es ist unmöglich den spirituellen Sinn zu verstehen, wenn nicht der literale Sinn verstanden worden ist. Übersetzung d.V.) Eine zweite Ebene der Erkenntnis, die so auch über die reine Referentialität der Sprache hinausgeht, kann demnach überhaupt nur entstehen, wenn diese erste literale Ebene verständlich ist. Wo Bacon im 13. Jahrhundert die gerade wieder entdeckten Prinzipien der Geometrie und Mathematik in den Dienst der Theologie stellen wollte, möchte ich nun für Houellebecq eine Indienstnahme des literarischen Realismus für eine religion sociale veranschlagen. Dass mit einem renouveau du réalisme auch der renouveau eines mehrfachen Schriftsinns einhergeht, wird dabei im Text selbst in einem zweiten Artikel Kéchichians suggeriert. Nachdem Jed Martin mit den Michelin-Karten zunächst nur einen neuen Blickwinkel im Zeichen des Realismus vorgeschlagen hat, erzeugt er mit seinen Malereien schließlich eigenständige neue Bilder dieser sozialen Realität.62 Anlässlich des s.g. ‚Bugatti-Bildes‘ mit dem Titel L’ingénieur Ferdinand Piëch visitant les ateliers de production de Molsheim sieht Kéchichian den vormals noch co-partizipierenden Künstler-Gott auf die Erde hinabgestiegen: Dans l’attitude du mécanicien de gauche quittant son poste de travail pour suivre l’ingénieur Ferdinand Piëch, comment ne pas reconnaître, insistait-il, l’attitude de Pierre laissant ses filets en réponse à l’invitation du Christ: ‚Viens, et je te ferai pêcheur d’hommes‘? Et jusqu’à l’absence de la Bugatti Veyron 16.4 à son stade de fabrication

60 Comte (1966), S. 32. 61 Bacon (1964), S. 210. Bacon spricht im Kapitel mathematicae in divinis utilitas über die Nützlichkeit der Geometrie und Mathematik bei der Repräsentation theologischer Fragestellungen. Zur möglichen Bedeutung Bacons für die weitere Entwicklung der Zentralperspektive und allgemeiner der Renaissance-Malerei in Florenz zu Beginn des 15. Jahrhunderts vgl. Edgerton (2002), S. 21–27. 62 Der soziologische und ethnologische Gesichtspunkt des Œuvres Martins wird im Roman selbst bereits hervorgehoben. Im Katalogtext Houellebecqs hebt dieser ebenfalls zu einer allegorischen Lesart des Bildes La conversation de Palo Alto an, auf dem sich Bill Gates und Steve Jobs über die Zukunft der Informatik unterhalten. Mit dem Vorschlag eines neuen Titels Une brève histoire du capitalisme und einer diesbezüglichen Verteilung kapitalistischer Grundhaltungen auf die beiden Figuren tritt diese uneigentliche Lesart mehr als deutlich zu Tage. Wolfgang Asholt griff dies in einer erweiterten Deutung auf, indem er die einzelnen Bildelemente, speziell den Hintergrund des Gemäldes, als Darstellung der Naturalisierung des Kapitalismus interpretierte. Wenn diese sonst schwer greifbaren Vorgänge nun in einer künstlerischen Darstellung erfahrbar werden, sehe ich in einer derartigen Lektüre eine Bestätigung des hier dargelegten Ansatzes. Vgl. Asholt (2016), S. 77f.

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ultime, il discernait une référence à la Jérusalem nouvelle. (Hervorhebung d.V., CT, S. 196f.)

Als Katholik ist Kéchichian umständehalber noch in der Lage, diesen mehrfachen Schriftsinn auszudeuten – wenn er es auch im Sinne seiner Kirche tut. Ob indes ein himmlisches Jerusalem angerufen wird, bleibt offen. Über Comte schreibt Houellebecq in seinen „Préliminaires au positivisme“ er sei „le premier, absolument, à tenter de donner au monde social une nouvelle base religieuse“.63 Diese Religion wird indes nicht ausbuchstabiert und darf wohl nicht mit dem Versuch verwechselt werden, einen neuen Glauben im transzendenten Sinne aus der Taufe zu heben. Vielmehr lese ich die beständig in La carte et le territoire geführten Metadiskurse zu Sozialreformern wie William Morris, dem französischen saintsimonisme64 oder auch dem Bauhaus als Hinweise darauf, dass die diskursiv strukturellen Muster der katholischen Religion, ähnlich wie für Comte, lediglich als metaphorische Blaupause dienen. Mit diesem ins Soziale gewendeten Telos findet die Kontingenzbewältigung nicht auf einer metaphysischen Stufe als eine Art Versöhnung mit der Welt statt, sondern auf dem ewig gescholtenen second degré. Erst dort offenbart sich die Einsicht in die Relativität unserer Erkenntnis und der nach innen gerichtete Glauben an die Gesellschaft als Gemeinschaft und deren Strukturbedürftigkeit.65 So wie Martin es letztlich selbst formuliert: D’un tableau à l’autre j’essaie de construire un espace artificiel, symbolique, où je puisse représenter des situations qui aient un sens pour le groupe. […] Ce que je fais, en tout cas, se situe entièrement dans le social. (CT, S. 145)

Man kann fragen, ob all dies nun eine Parodie auf den nach Transzendenz und Sinnhaftigkeit dürstenden Kulturbetrieb und dessen immer schon marktstrategisch eingebundene Diskurs-Maschinerie ist. Auszuschließen ist dies sicher nicht. Mir zumindest will es im Hinblick auf die Frage nach dem Realismus aber doch fruchtbarer erscheinen, La carte et le territoire als einen Künstlerroman zu lesen, der die eigenen poetologischen Prinzipien von Sinn-Konstruktion beleuchtet, um zu einer uneigentlichen Lektüre des gesamten Œuvres anzuregen.

63 Houellebecq (2005), S. 12. 64 Zu den Einflüssen der frühen französischen Sozialisten auf Houellebecq vgl. Viard (2013), S. 60–87. 65 Die Konversion und das katholische Begräbnis der Romanfigur Houellebecq wären wohl in diesem Sinne zu lesen. Vgl. CT, S. 308ff.

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Wolfgang Asholt (Humboldt-Universität zu Berlin)

Michel Houellebecq: eine ‚Wiederentdeckung‘ des Realismus?

Vor 20 Jahren erschien in der RZLG ein Aufsatz mit dem Titel „Weltsicht und Realismus in Michel Houellebecqs utopischem Roman Les particules élémentaires“ von Rita Schober, dem unmittelbar danach in einem Sammelband ihr Beitrag „Renouveau du réalisme? Ou de Zola à Houellebecq“ folgte, und ich habe zur gleichen Zeit beim Frankoromanistentag in Dresden (2000) zu der Sektion „Der französischsprachige Roman heute“ einen Vortrag mit dem Titel „Die Rückkehr zum Realismus? Écritures du quotidien bei François Bon und Michel Houellebecq“ beigesteuert.1 Seitdem prägen zwei Begriffe die Debatten um den inzwischen weltweit am meisten wahrgenommenen französischen Autor: auf der einen Seite der des ‚Skandals‘, wobei Jochen Meckes Beitrag zum Münchener Romanistentag (2001), „Der Fall Houellebecq: Zu Formen und Funktionen eines Literaturskandals“ die Referenz bildet.2 Die Kontinuität der Skandale, die Mecke mit den Particules élémentaires (1998) und Plateforme (2001) beginnen sieht, setzt sich in der Tat bis zu Soumission (2015), wenn auch zu größeren Teilen ungewollt, fort. Es fragt sich jedoch, ob man heute noch, so wie Mecke vor mehr als 15 Jahren, Houellebecq weitgehend mit der Funktion als Skandalautor identifizieren kann.3 Auf der anderen Seite der Begriff des ‚Realismus‘, in dessen Zusammenhang Houellebecq immer häufiger gestellt wird, ich verweise auf Dominique Viart, der Houellebecq als den Vertreter eines „réel malade“ betrachtet, und die beiden von Jörn Steigerwald (im ersten Fall mit Agnieszka Komorowska) koordinierten lendemains-Dossiers „Michel Houellebecq: Questions du réalisme d’aujourd’hui“ und „Problèmes du réalisme dans la littérature française contemporaine“, in dem Thomas Pavel Houellebecq einen „unusual realism“ attestiert.4 Das „Écrire le monde / Écrire le réel“ bildet bei Viart eine der 1 Schober (2001), Schober (2002), Asholt (2002). 2 Mecke (2003). 3 Für die Bedeutung Houellebecqs im literarischen Feld symptomatisch: Novak-Lechevalier (2017). 4 Viart (2008), S. 230, Steigerwald / Komorowska (2011) und Steigerwald (2013), Pavel (2013), S. 20.

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drei Formen des „Renouvellement des Questions“ im Gegenwartsroman (S. 29– 304), auch wenn „Écrire le réel“ und Realismus nicht gleichgesetzt werden können und die effets de réel (Roland Barthes) in beiden Konzeptionen eine unterschiedliche Rolle spielen. Vielleicht kann man den Zusammenhang zwischen den historischen Realismen und jenen Houellebecqs mit dem letzten Satz in Komorowskas und Steigerwalds Dossier-Einleitung präzisieren: „Au lieu de donner une ‚théorie‘ du réalisme, comme le faisait Robbe-Grillet [in seiner Diskussion mit Michel Butor Ende der 1950er Jahre],5 il [Houellebecq] préfère modéliser ses romans réalistes chacun d’une manière diverse pour poser les questions du réalisme d’aujourd’hui et non pas pour y répondre explicitement“6, wir werden sehen, inwieweit das der Fall ist.

Gegen den Nouveau Roman: für den Realismus? Die Diskussion, wenn man es so nennen kann, mit den Nouveaux Romanciers, und d. h. vor allem Alain Robbe-Grillet, wie Houellebecq Schüler des Agro (Institut National Agronomique), hilft, den ‚Realismus‘ Houellebecqs besser zu verstehen. In einem aus Anlass des Todes Robbe-Grillets (2008) für Artforum geschriebenen Artikel („Coupes de sol“) setzt sich Houellebecq mit der Konzeption seines ‚Mitschülers‘ auseinander und präzisiert ihre unterschiedlichen Positionen. Robbe-Grillet sieht er durch das Verfahren der Bodenkunde charakterisiert: „Alain Robbe Grillet me rappelait les coupes de sols.“7 Wenn er die „coupes de sols“ so beschreibt: „La qualité de science aurait déjà été lui faire trop d’honneur ; c’était, tout au plus, une discipline d’observation.“ (CS, S. 280), zielt dies auf Robbe-Grillet, dem er schon in Frageform vorgeworfen hatte, „Répétaitil contre toute évidence que Balzac correspondait à une période de stérilité, de glaciation dans la littérature française ?“ (CS, S. 278).8 Die eigentliche Kritik ist aber, Robbe-Grillet habe die Methode der Bodenkunde auf die Literatur übertragen: „Ainsi, à travers la coupe de sol, l’étudiant en agronomie se forme à cette discipline austère consistant à porter un regard neutre, purement objectif sur le monde : n’est-ce pas exactement ce qu’Alain Robbe-Grillet a tenté de faire, plus tard, en littérature ?“ (CS, S. 281). Und für Sérotonine gewinnt diese Feststellung des Jahres 2008 dadurch an Bedeutung, dass der weitgehend autofiktionale 5 6 7 8

Butor (1959) und Robbe-Grillet (1963). Steigerwald / Komorowska (2011), S. 15. Houellebecq (2008), S. 279. Worin sich Robbe-Grillet bekanntlich von Michel Butor (Balzac et la réalité [1960]) unterscheidet. Houellebecq bekennt sich dagegen überschwänglich zu dem großen Realisten: „Je portais aussitôt Balzac au pincale, affirmant qu’il étatit le deuxième père de tout romancier.“ (CS, S. 278)

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Protagonist und dessen bester Freund ehemalige Schüler des Agro sind und die soeben zitierte Einschätzung bestätigen. Houellebecq geht in seiner RobbeGrillet-Kritik allerdings noch einen Schritt weiter: Arthur Comte, eine seiner Lieblingsreferenzen, zitierend, wirft er Robbe-Grillet vor: „Une compilation fastidieuse et vide de sens de données expérimentales: n’est-ce pas, très exactement, ainsi qu’on pourrait décrire la littérature d’Alain Robbe-Grillet ?“ (CS, S. 281). Houellebecq unterstellt dem Nouveau Romancier, der seit 1956, dem Jahr von Nathalie Sarrautes L’ère du soupçon, auch als Theoretiker hervorgetreten ist („Une voie pour le roman futur“ wird in Pour un nouveau roman (1963) aufgenommen), theoretische Inkompetenz: „Se refusant à toute théorie préalable à l’observation, Alain Robbe-Grillet se prémunit ainsi de tout cliché […].“ (CS, S. 281) Für Robbe-Grillet gibt es, wie bei den coupes de sols, eine „signification immédiate des choses“: „C’est sur elle que portera désormais l’effort de recherche et de création“,9 man sieht die Verbindung zu der von Houellebec abgelehnten „écriture“.10 Der ‚Theoretiker‘ des Nouveau Roman, Jean Ricardou, bestätigt dies: „C’est comme une course contre le sens que peuvent se lire maintes œuvres contemporaines.“11 Wenn Robbe-Grillet also für den Nouveau Roman einen „réalisme nouveau“ reklamiert,12 so handelt es sich für Houellebecq um einen Realismus der „compilation fastidieuse et vide de sens“ (CS, S. 281). Insgesamt können diese Qualifikationen Robbe-Grillet als Ansatzpunkt im Sinne Erich Auerbachs dienen, um a contrario Houellebecqs ‚Realismus‘ zu bestimmen. Wenn es Robbe-Grillet darum geht, zu beobachten – für ihn ist die Literatur so wie die Agronomie „une discipline d’observation“ – lehnt Houellebecq den „regard neutre, purement objectif sur le monde“ ab. Ein solcher Blick auf die Welt ist eine Illusion, zumal wenn er sich mit dem écriture-Konzept verbindet. Denn in diesem sieht Houellebecq den umfassenden Ausdruck der Verantwortungslosigkeit und der Überflüssigkeit der Literatur: „le roman, prisonnier d’un comportementalisme étouffant, finit par se tourner vers sa seule, son ultime planche de salut: ‚l’écriture‘“.13 Wenn man bedenkt, was Jean Ricardou als die zentrale Innovation des Nouveau Roman bezeichnet hat: „Ainsi le roman est-il pour nous moins l’écriture d’une aventure que l’aventure d’une écriture“,14 ist die Einschätzung Houellebecqs nicht überraschend. Der Nouveau Roman 9 Robbe-Grillet (1963), S. 142. 10 In der „Lettre à Lakis Proguidis“, in: Houellebecq (1998), S. 149–156, hier: S. 154, mokiert sich Houellebecq: „au cours d’une conversation littéraire, lorsque le mot d’‚écriture‘ est prononcé, on sait que c’est le moment de se détendre un peu. De regarder autour de soi, de commander une nouvelle bière.“ (Zuerst in: L’Atelier du roman, Heft 10 [1997]). Es handelt sich um die Antwort auf einen kritischen Artikel von Proguidis in Heft 9. 11 Ricardou (1967), S. 109. 12 Robbe-Grillet (1963), S. 140. 13 Houellebecq (1998), S. 153. 14 Ricardou (1967), S. 111. [Hervorh. im Orig.]

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bildet für Houellebecq die von der Literatur selbst gewollte Weigerung, sich mit der Realität auseinanderzusetzen, Wissen, Wissenschaft und das Wirkliche schließt die écriture aus, um sich ihrer „gratuité, son élégance, ses jeux formels“ zu widmen, und noch deutlicher: „je n’ai jamais pu, pour ma part, assister sans serrement de cœur à la débauche de techniques mises en œuvre par tel ‚formaliste Minuit‘ pour un résultat final aussi mince.“15 Für den Nouveau Roman-Theoretiker Robbe-Grillet gilt: „Les objets de nos romans n’ont jamais de présence en dehors des perceptions humaines“, und er akzeptiert den Vorwurf der „description trop neutre, trop objective“.16 Die Wahrnehmungen als solche sollen im Zentrum stehen. Houellebecq ironisiert diese Position in La Carte et le territoire, wenn er den Protagonisten, den Maler Jed Martin, der überlegt, einen Heizkörper zu malen, sich an Michel Houellebecq, den er in Irland besucht, um ihn ein Vorwort für einen Katalog zu bitten, wenden lässt: „Vous, je ne sais pas si vous pourriez faire quelque chose, sur le plan littéraire, avec le radiateur“, um literaturvergleichend anzuschließen: „Enfin si, il y a Robbe-Grillet, il aurait simplement décrit le radiateur…“ Houellebecq antwortet mit der Anspielung auf Baudrillards Forget Foucault (1976) mit „Oublions Robbe-Grillet“,17 und improvisiert ein Roman-Skript um einen HeizkörperHandel, um zu resümieren: „Même si mon vrai sujet était les processus industriels, sans personnages je ne pourrais rien faire.“ (CT, S. 143), bekanntlich zählt Robbe-Grillet den „personnage“ zu den „notions périmées“ der Literatur. Diese Privilegierung der Beobachtung, die discipline de l’observation, bildet für RobbeGrillet die Grundlage seines Verhältnisses zum Realismus, das er mit dem Aufsatz „Du réalisme à la réalité“ perspektiviert. Für Houellebecq hat dieser „regard neutre, purement objectif sur le monde“ (CS, S. 281) keine Chance, mehr als die erwähnte „compilation fastidieuse et vide de sens“ zu werden. Denn es fehlt ihm die entscheidende Voraussetzung sowohl des Balzacschen wie des Zolaschen ‚Realismus‘, die Houellebecq mit ihnen teilt: „en ouvrant ma littérature aux conceptions théoriques qu’on peut élaborer sur le monde, je m’expose constamment au risque du cliché – et même à vrai dire je m’y condamne.“ (CS, S. 281) Aber allein mit dem Klischee, oder dem was Houellebecq „élaborer des clichés neufs“ (CS, S. 281) nennt, wird für ihn ein ‚Realismus‘ möglich, der sich der Realität annähert. In einem Beitrag zum Houellebecq-Dossier von lendemains hat Jutta Weiser in der „wertneutralen, distanzierten Beschreibung des Menschen“, die „eine eindeutige moralische Stellungnahme verweigert“, das Spezifikum des Houelle-

15 Houellebecq (1998), S. 153. 16 Robbe-Grillet (1963), S. 147 und 148. 17 Houellebecq (2010), S. 141.

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becqschen Schreibens gesehen.18 Markus Messling hat jedoch gezeigt, dass es bei Houellebecq so etwas wie ein mit der „régulation de la perception“ verbundenes „comportement éthique“ gibt, und die Houellebecq-Passagen zu Robbe-Grillet illustrieren, wie sehr er sich vom wertneutralen distanzierten Beschreiben unterscheiden möchte.19 Messling verweist auf die Politique de la littérature (2007) Jacques Rancières, um zu verdeutlichen, in welchem Maße „[c]e réalisme montre la pulvérisation des grands idéaux de liberté, d’amour et de vérité dans le broyeur de la société matérialiste“,20 diese Feststellung trifft zweifelsohne auch auf Sérotonine zu. In Hinblick auf den ‚Realismus‘ Houellebecqs scheint mir aber eine fast sprichwörtlich gewordene These Rancières aus Le partage du sensible (2000) noch aufschlussreicher. Rancière setzt dort Fiktion und Wirklichkeit miteinander in Beziehung: „Le réel doit être fictionné pour être pensé.“21 Eben das unternehmen alle Romane Houellebecqs, und darin unterscheiden sie sich grundsätzlich von der Histoire der Romane Robbe-Grillets. Anders als der Robbe-Grillet des coupes de sol-Verfahrens nimmt Houellebecq für sich in Anspruch, der romanesken Fiktion eine Theorie zugrunde zu legen, und zwar „en ouvrant ma littérature aux conceptions théoriques qu’on peut élaborer sur le monde“. Und in seinen frühen ‚theoretischen‘ Aufsätzen geht Houellebecq noch einen entscheidenden Schritt weiter. In den ‚Ratschlägen‘ für angehende Schriftsteller, „Frapper là où ça compte“ von 1997, fordert er: „Vous êtes responsables du corps de la société. […] dites tout simplement la vérité, ni plus ni moins.“22 Damit stellt er sich zumindest implizit in die Tradition des AvantPropos à la Comédie humaine und des Roman expérimental, auch wenn damit nicht mehr der Anspruch verbunden ist, die Gesellschaft als Ganzes zu erklären und zu verstehen. Bekanntlich betrachtet sich Balzac als den ‚Sekretär‘ der französischen Gesellschaft und will geleitet von Wahrheiten schreiben, und was bei ihm die Theorien Geoffroy Saint-Hilaires sind und der Vererbung und der Experimentalmedizin Claude Bernards bei Zola, sind für Houellebecq der Positivismus Auguste Comtes, zumindest in seinen ersten Romanen (bis zu La Carte et le territoire), und bis heute der Pessimismus Arthur Schopenhauers.23 Erst eine Literatur „aux conceptions théoriques“ ist also zu einem ‚neuen Realismus‘ in der Lage, oder, wie es Houellebecq zu Ende der „Coupes de sols“ etwas

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Weiser (2011), S. 83. Dazu auch, allerdings mit anderen Wertungen als bei Messling: Novak-Lechevalier (2018). Messling (2016), S. 52 und 53. Rancière (2000), S. 61. Houellebecq (1997), S. 26 und 27. Zu Arthur Comte: Bourdeau (2017), S. 343–348, und zu Schopenhauer: Houellebecq (2017), mit einem instruktiven Vorwort von Agathe Novak-Lechevalier zur Bedeutung Schopenhauers für Houellebecq.

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bescheidener formuliert, und damit endet der Band der Interventions 2: eines Realismus, der fähig ist, „à élaborer des clichés neufs.“ (CS, S. 282).

Sérotonine: ein ‚neuer‘ Realismus? Sérotonine (2019) ist in vieler Hinsicht weniger spektakulär und weniger skandalös als fast alle anderen Romane Houellebecqs, insbesondere wenn man ihn mit seinem Vorgängerroman Soumission (2015) vergleicht. Die ersten Kritiken von Sérotonine betonen auffallend häufig den ‚Realismus‘ dieses Romans, die vier Kritiker von „Le Masque et la Plume“ etwa äußern sich folgendermaßen: „sa façon dont il perçoit avant les autres et qu’il met une forme que la réalité va se charger de vérifier“ (Nelly Kaprièlan); „il pointe ce qu’il faut dire de notre époque“ (Patricia Martin); „une espèce de référence herméneutique pour comprendre son époque“ (Michel Crépu); „Personne n’a été aussi loin dans la représentation du réel“ (Arnaud Viviant).24 Und Jean Birnbaum resümiert in Le Monde, eine Woche vor Erscheinen des Romans: „Houellebecq entremêle roman réaliste, prose autobiographique, polar, parole pamphlétaire, reportage social“.25 Die Zugehörigkeit dieses Romans zu dem „Écrire le réel“ Viarts scheint also außer Frage zu stehen. Es fragt sich allerdings, weshalb das bei diesem Roman in noch stärkerem Maße der Fall ist, als bei seinen Vorgängern. Dies liegt zum einen daran, dass Houellebecq mit diesem Roman zu seinen Anfängen zurückkehrt: der Extension du domaine de la lutte von 1994, ein (auch) ‚Sozialroman‘, dessen „pathologie sociale et individuelle renvoie implicitement au modèle zolien“.26 Zum anderen an der Gegenwartsorientierung: Im Unterschied zu vielen anderen Romanen, entwickelt er keine Utopie oder Dystopie näherer oder fernerer Entwicklungen, sondern spielt in der unmittelbaren Gegenwart, was zu Beginn des Romans betont wird: „Nous étions au début de l’été, sans doute vers la mi-juillet, plutôt vers la fin des années 2010 – il me semble qu’Emanuel Macron était président de la République.“27 Diese mit der Gegenwart der Leser identische Zeitebene verlässt die Histoire nur für mehrere Analepsen, die bis in die späten 1990er Jahre zurückführen: Fast alle Leser kennen also die soziale und kulturelle Situierung der Protagonisten. Und schließlich daran, dass Sérotonine zu großen Teilen in der Provinz, genauer der Normandie spielt, womit ebenfalls die Extension wieder aufgenommen wird.

24 Le Masque et la Plume (2019). 25 Birnbaum (2018). 26 Ich verweise in diesem Kontext auf meinen Beitrag zu dem Houellebecq-Dossier von Steigerwald / Komorowska, Asholt (2011), S. 22. 27 Houellebecq (2019), S. 13.

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Der in vieler Hinsicht autofiktionale Protagonist stellt sich zu Beginn des Romans vor: „J’ai quarante-six ans [was ihn von dem 1958 geborenen Houellebecq unterscheidet], je m’appelle Florent-Claude Labrouste et je déteste mon prénom“ (S, S. 10). Er ist wie Houellebecq (und Robbe-Grillet) ein Ehemaliger der Grande École des Agro (Institut National Agronomique) und arbeitet nach seinem Studium zuerst bei Montsanto, womit ein erstes Mal auf Gegenwartskonflikte verwiesen wird, dann bei der DRAF (Direction régionale de l’alimentation, de l’agriculture et de la forêt) in Caen und schließlich als (privilegierter) Vertragsangestellter im Landwirschaftsministerium. Über der Grande École-Vergangenheit des Erzählers wird aber fast immer sein Nachname, der des Architekten der Bibliothèque Sainte Geneviève und der alten Nationalbibliohek, Henri Labrouste, mit dem explizit auf das 19. Jahrhundert und Literatur angespielt wird, vergessen. Die häufig von Houellebecq inszenierte Ironie gilt auch dem eigenen autofiktionalen Unternehmen. So kommentiert Labrouste nach metaphysischen Reflexionen: „enfin je m’égare revenons à mon sujet qui est moi, ce n’est pas qu’il soit spécialement intéressant mais c’est mon sujet.“ (S, S. 181), womit er zugleich Montaignes autobiographisches Projekt ironisiert: „je suis moi-même la matière de mon livre“.28 Die Erzählgegenwart setzt mit dem Sommer 2018 ein und der Roman endet im Herbst 2019: zum Zeitpunkt der Veröffentlichung (4. Januar 2019) liegt das Ende des Romans also (noch) in einer allerdings überschaubaren Zukunft. Drei Analepsen situieren sich in den Jahren um die Jahrtausendwende, so dass eine Ellipse von etwa 15 Jahren entsteht. Es ist wohl kein Zufall, wenn dieser Zeitraum genau jenem entspricht, der in Flauberts Éducation sentimentale zwischen der Histoire des Romans und dem Epilog liegt, womit implizit auf den großen „Klassiker“29 (Hugo Friedrich) des Realismus verwiesen wird. Allerdings situiert sich in dieser Ellipse der überwiegende Teil des beruflichen Lebens des Protagonisten von Sérotonine, doch wie bei Flaubert geht es bei Houellebecq um den Besuch, diesmal bei zwei ehemaligen Geliebten. Und wie bei Flaubert ist die „éducation sentimentale“ für Florent-Claude Labrouste wichtiger als seine berufliche Situation oder die historischen Entwicklungen während der Jahre der Analepse oder in der Erzählgegenwart: Im Sommer 2019 reagiert er wie Frédéric Moreau angesichts der Revolution von 1848: Les débats de Politique matin m’aidaient indiscutablement à me laver, au vrai je ne pouvais prétendre en avoir une compréhension complète, je confondais constamment La République en marche et La France insoumise, de fait ça se ressemblait un peu, les deux appellations avaient en commun de dégager une impression d’énergie presque insupportable (S, S. 322). 28 Montaigne (1938), S. 3. 29 Friedrich (1950).

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Florent-Claude partizipiert also an der gleichen in Teilnahmslosigkeit umschlagenden ‚Regression der Erfahrung‘ wie Frédéric Moreau. Und eine weitere Parallele besteht zwischen dem Roman der romantischen Desillusionierung und Houellebecqs Gegenwartsprotagonisten. Im Moment des Juni-Aufstandes unternimmt Frédéric bekanntlich mit seiner Geliebten Rosanette einen Ausflug nach Fontainebleau, was Dolf Oehler kommentiert: „Die Massaker der einen [also der Juni-Aufständischen] bilden das genaue Komplement des Glücks der anderen.“.30 Bei Houellebecq kommt es im Frühjahr 2019 auf der Autoroute de Normandie zu einem Zusammenstoß zwischen protestierenden Bauern, unter ihnen Florent-Claudes Freund Aymeric d’Harcourt-Olonde, der mit einem Feuergefecht zwischen einem Teil der Bauern und den CRS endet, bei dem sein Freund stirbt. Doch hier bringt der Tod des einen nicht das Glück des anderen: Florent-Claude beobachtet das Geschehen aus einiger Entfernung ganz darin Frédéric Moreau ähnelnd, der zu Ende der Éducation sentimentale teilnahmslos zuschaut, wie sein revolutionärer Freund von der Polizei erschossen wird. Natürlich verläuft der Zusammenstoß zwischen den bewaffneten Bauern und den CRS anders als jener zwischen der Armee und den republikanischen Gegnern des Staatstreichs vom 2. Dezember 1851. Aber die realen und symbolischen Folgen ähneln sich. Als Reaktion auf den Tod Dussardiers, des Freundes Frédérics, „Il tomba sur le dos, les bras en croix“ heißt es: „Un hurlement d’horreur s’éleva de la foule.“ (S, S. 418) Und die Situation bei Houellebecq ist fast identisch. Auf das „Son corps s’abattit vers l’arrière“ folgt: „Frank poussa un hurlement et déchargea son arme.“ (S, S. 262) Sowohl die Position der Erschossenen, die auf den Rücken fallen, als auch die Reaktionen des „hurlement“ gleichen sich und lassen einen Realismus erkennen, bei dem der Erzähler, ob heterodiegetisch oder autodiegetisch, mit der Beschreibung auch Position bezieht. Mit der Position des dem Gekreuzigten ähnelnden Revolutionärs und des ebenfalls nach hinten fallenden adligen Bauern sowie dem Aufschrei der Beteiligten wird ein Bild der Vergangenheit und Gegenwart im Sinne einer Geschichte der Verlierer entworfen, mit denen sich Flaubert und Houellebecq als realistische Erzähler nicht ‚solidarisieren‘, dessen „Ausnahmezustand“31 (Benjamin) sie aber dokumentieren.

30 Oehler (1988), S. 341. 31 Benjamin (1940).

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Race, milieu, moment Wie wichtig die Referenz zum positivistischen 19. Jahrhundert für Houellebecq von Beginn an ist, zeigt trotz aller Ironie ein Zitat aus der Extension du domaine de la lutte: „Cette phrase est digne de Claude Bernard, et je tiens à la lui dédier.“32 Claude Bernard verweist auf Zola und so wie Houellebecq sich auf Auguste Comte bezieht, beruft sich Zola auf Hippolyte Taine; die drei Referenzen bilden eine ‚positivistische‘ Konstellation. Es ist erstaunlich, wie sehr Taines berühmte Trias Race, Milieu, Moment, die er als „Trois sources différentes [qui] contribuent à produire cet état moral élémentaire“33 definiert, für Sérotonine operationalisiert werden kann. Wenn unter Race nicht ein wie auch immer gearteter Rassismus, sondern ererbte und erfahrene kollektive kulturelle Dispositionen verstanden werden, also so etwas wie ein kulturelles Gedächtnis, dann operiert Houellebecq in Sérotonine vielleicht noch viel mehr als in seinen anderen Romanen mit diesem Konstrukt. Es ist auffällig, dass der autobiographische Protagonist für sich selbst ebenso wie für seine wichtigen Protagonisten (Yuzu, Kate, Claire, Camille und Aymeric) ausführlich als eine Art ‚Vorgeschichte‘ den familiären Kontext berichtet, und zwar umso ausführlicher, je wichtiger diese Roman-Figuren für ihn sind. Von den beiden Ausländerinnen, der Dänin Kate und der Japanerin Yuzu, erfahren wir wenig: Je ne savais pas exactement ce que foutaient ses parents mais ils étaient indéniablement riches (une fille unique de parents riches ça donne des gens comme Yuzu, quel que soit le pays, quelle que soit la culture) probablement pas extrêmement riches, je n’imaginais pas son père chairman de Sony ou de Toyota, plutôt fonctionnaire, un fonctionnaire de rang élevé. (S, S. 49)

Unabhängig von der konkreten Situation des familiären Kontexts ist es das „de parents riches ça donne des gens comme“, das den „état moral élémentaire“, von dem Taine spricht, konditioniert. Wenn in Hinblick auf das Schloss, in dem Aymeric d’Harcourt-Olonde wohnt, erwähnt wird, „oui, ça appartenait à sa famille aussi, mais c’était bien antérieur à Thury-Harcourt, le château avait été détruit une première fois en 1204, puis reconstruit au milieu du XIIIe siècle.“ (S, S. 142) ist es fast nicht mehr nötig, auf den Wikinger-Ursprung der Familie hinzuweisen. Besonders aufschlussreich wird der familiär-kulturelle Kontext bei Camille, der großen Liebe Florent-Claudes. Camille ist das älteste Kind einer portugiesischen Familie („d’origine agricole comme tout le monde“, S, S. 186), die den einzigen Tabac-Presses von Bagnoles-de-l’Orne führt, und in diesem Zusammenhang verweist der Erzähler explizit auf die mit der Race verbundenen

32 Houellebecq (1994), S. 108. 33 Taine (1873), S. XVIII.

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kollektiv-kulturellen Dispositionen und sein eigenes Verfahren: „Le récit de vie d’humains appartenant aux générations immédiatement antérieures offre souvent ce genre de configuration où l’on peut observer le fonctionnement d’un dispositif devenu presque mythique jadis connu sous le nom d’‚ascenseur social‘.“ (S, S. 186) Camille, die Veterinärmedizin in Maisons-Alfort studiert, bestätigt also das Dispositiv. Für die Einschätzung der Race scheint aber das Adverb „jadis“ entscheidend. Denn das Modell einer sich permanent modernisierenden Gesellschaft ist an ein Ende gekommen und die Frage stellt sich, was aus den kollektiv-kulturellen Dispositionen der Race unter veränderten Bedingungen werden wird. Das Milieu spielt für die grundlegenden kollektiv-kulturellen Dispositionen eine entscheidende Rolle, sowohl familiär wie professionell und sozial. Trotz aller Unterschiede gehören mit Ausnahme des Solitärs Aymeric alle Protagonisten verschiedenen Schichten des Bürgertums an: von Kate angefangen, die nach einem abgeschlossenen Jura-Studium Ärztin wird, um in einer ONG zu arbeiten, über Yuzu, die es sich leisten kann, in Frankreich als Mitarbeiterin des Japanischen Kulturinstitutes zu dilettieren, und Claire, die dank ihres Immobilienbesitzes eine Schauspiel- und Filmkarriere versuchen kann, bis zu der seriösen Camille, die ein letztes Beispiel des sozialen Aufstiegsmodells darstellt. FlorentClaude hingegen repräsentiert das französische Modell par excellence: dank der sozialen und kulturellen Möglichkeiten seiner Eltern kann er ein Elitegymnasium und eine Grande École besuchen und muss sich für den Rest des Lebens keine finanziellen oder sozialen Sorgen machen. Das Milieu spielt aber auch insofern eine Rolle, als die Protagonisten regional in einer Weise verankert und konditioniert sind, wie es zu Taines Zeiten vielleicht selbstverständlich, in der Gegenwartsliteratur aber, von Ausnahmen wie Jérôme Ferrari abgesehen, ausgesprochen selten ist. Die beiden Französinnen und die männlichen Protagonisten werden durch ihr Herkunftsmilieu erklärt. Die aus einer großbürgerlichen Familie stammende Claire kann sich künstlerisch betätigen, die aus der portugiesischen Einwandererfamilie der Basse Normandie stammende Camille studiert regional und familiär bedingt Tiermedizin, Aymeric ist seiner regionalen normannischen Herkunft bis hin zu seinem Tod verpflichtet, und in dem aus Senlis stammenden Florent-Claude Labrouste, der auch insofern Frédéric Moreau ähnelt, verbindet sich provinzielle Herkunft mit der Nähe zu Paris, so dass er ebenso gut oder schlecht in der Provinz (erneut der Basse Normandie) wie in Paris lebt. Eine Mikro-Analyse der jeweiligen Wohnorte, etwa des Loft, den Claire im 20e geerbt hat, oder der Tour Totem im 15e oder der Hotels und Wohnungen im 13e, in denen der Ich-Erzähler wohnt, der im Roman die einzige Person ist, die sozial und kulturell Grenzen überschreitet, würde weitere Differenzierungen des Milieus und entsprechender Dispositionen zulassen.

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Welche Bedeutung das Milieu haben kann, zeigt das Haus, in dem FlorentClaude zwei Monate lang mit Camille in Clécy südlich von Caen lebt: „ce n’est qu’après l’arrivée de Camille que j’eus l’impression qu’il s’agissait, véritablement, de ma maison – et uniquement parce que c’était la sienne“ (S, S. 170) und nachdem der Erzähler retrospektiv die „douceur du foyer“ des Landlebens geschildert hat, kommt er zu der Überzeugung: „J’étais heureux, jamais je n’avais été aussi heureux, et jamais plus je ne devais l’être autant.“ (S, S. 172) Auch mit dem bescheidenen Haus für das kurze Glück mit Camille distanziert sich Houellebecq von Robbe-Grillet, der in der Nähe (weniger als 20 km) 1963 das Schloss von Mesnil-au-Grain aus dem 17. Jahrhundert gekauft hatte. Und als der Protagonist in der Erzählgegenwart das Haus in der Nähe von Bagnoles-del’Orne sieht, in dem Camille nun lebt, fragt er sich: „Aurais-je pu vivre pendant des années seul avec Camille, dans cette maison isolée au milieu des bois, et être heureux? Oui, je savais que oui.“ (S, S. 311–312). Der Grund dafür liegt ebenso in der Race wie im Moment. Obwohl er daran denkt, ist es für ihn unmöglich, Camille zu bitten, das Studium abzubrechen und „devenir femme au foyer“ (S. 172), denn: „je n’avais pas été formaté pour une telle proposition, ça ne faisait pas partie de mon logiciel, j’étais un moderne.“ (S, S. 172). Die Modernität hat ihren Preis: „le monde social était une machine à détruire l’amour.“ (S, S. 173). Und später kommentiert der autofiktionale Erzähler das Milieu der Moderne so: „pour le dire dans les termes du barde communiste“, also Aragon im Roman inachevé (1956): „est-ce ainsi que les hommes vivent ?“ (S, S. 297) Dass dies unmöglich ist, liegt auch am ‚Momentum‘, in dem der ‚Zeitgeist‘ kumuliert. Wie in vielen anderen Romanen situiert Houellebecq die Protagonisten von Sérotonine in einer Moderne, die kein Projekt mehr hat und deren Widersprüche durch die Globalisierung noch potenziert werden. Die zeitweilige Lebensgefährtin Yuzu („une Japonaise jeune, sexy, appartenant à une famille japonaise éminente et de plus en contact avec les milieux artistiques les plus avancés des deux hémisphères“, S, S. 32), die eine transgressive Passion für „soirées libertines“ besitzt, personifiziert die eine Seite der Globalisierung, sie repräsentiert die ökonomisch-kulturelle Elite der Gesellschaft der Spektakel, die in allen Metropolen zu Haus ist. Der adlige Freund Aymeric repräsentiert die andere Seite. Die Agrarpolitik der Europäischen Union führt dazu, dass er den 1000-jährigen Familienbesitz nach und nach verkaufen muss, eine Politik, die Florent-Claude auf den Punkt bringt: [C]e qui se passe en ce moment avec l’agriculture en France, c’est un énorme plan social, le plus grand plan social à l’œuvre à l’heure actuelle, mais c’est un plan social secret, invisible, où les gens disparaissent individuellement, dans leur coin.. (S, S. 248)

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[U]ne fois qu’on sera aux standards européens, on n’aura toujours pas gagné, on sera même au seuil de la défaite définitive, parce que là on sera vraiment en contact avec le marché mondial, et la bataille de la production mondiale on ne la gagner pas. (S, S. 249).

Für Houellebecq sind die Europapolitik und die Politik der EU für die „défaite définitive“ verantwortlich: „Depuis septembre 1992, où nous avons commis l’erreur de voter oui à Maastricht, un sentiment nouveau s’est répandu dans le pays : le sentiment que les hommes politiques ne peuvent rien faire, n’ont aucun contrôle réel sur les événements“ erklärt er in einem Interview,34 und ein Vierteljahrhundert später personifiziert Aymeric die Konsequenzen dieser Politik.

Sérotonine , die Phantasie eines Realisten? In einem Aufsatz seiner Phantasie der Realisten vergleicht Rainer Warning die „Beschreibungsverfahren bei Balzac und bei Robbe-Grillet“, und einer der wichtigen Unterschiede betrifft die mit den Beschreibungen verbundenen Wahrnehmungsbilder bei beiden Autoren.35 „Ungleich deutlicher als bei Balzac,“ so Warning, „geht es auch hier [bei Robbe-Grillet] um prätendierte Wahrnehmungsbilder“36. Bei Michel Houellebecq handelt es sich notwendigerweise auch um prätendierte Wahrnehmungsbilder, doch dank permanenter effets de réel und ihrer Konnotationen von Wirklichkeit versucht er, dem „beständigen Fehlschlagen von Wahrnehmungsbewußtsein“, wie Warning Merleau-Ponty zitiert, zu entkommen bzw. dieses ‚Fehlschlagen‘ zu überspielen: „Wo ein Erzähler auf reduktive Interpretation von Wirklichkeit aus ist, da muß er die sprachliche Konstitution dieser seiner Interpretation verschleiern, muß das Zeichen in seiner referentiellen Funktion aufgehen lassen. Eben dies macht Robbe-Grillet nicht mehr mit.“37 Wenn sich Balzac und Robbe-Grillet eben darin unterscheiden, steht Houellebecq eindeutig auf der Seite Balzacs, in einem FAS-Interview von 2015 erklärt er: „Ich berufe mich auf Balzac und Flaubert. Das meine ich, wenn ich sage, dass ich mich dem 19. Jahrhundert nahe fühle.“38 . Für Warning kommt es bei Robbe-Grillet zur „Transformation des traditionellen ‚récit d’une histoire‘ in eine ‚proliferation des histoires‘, in eine serielle ‚production du sens anecdotique‘, und darin liege, um mit Jean Ricardou zu sprechen, die ‚description créatrice‘ des Nouveau Roman.“39 Auch in dieser Hinsicht vertritt Houellebecq eindeutig die Position der ‚großen Realisten‘. Warning erblickt abschließend in 34 35 36 37 38 39

Houellebecq (1996), S. 118. Warning (1999), S. 77–88. Ebd., S. 82. Ebd., S. 84. Houellebecq (2015), S. 33. Warning (1999), S. 86.

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der seriellen Proliferation Robbe-Grillets die „Selbstbefreiung des Autors wie des Lesers von genau dem, was sie seriell proliferieren: von den Mythen und Phantasmen, von den Traumata unserer Zeit“40, eben jenen Erscheinungsformen des ‚Zeitgeists‘ die für Houellebecq zentral sind. Doch Warning fügt einen entscheidenden Satz hinzu: „Wieweit solche Selbstbefreiung gelingt, wie weit sie gelingen kann, das ist eine zweite Frage.“41 In gewisser Weise personifizieren Houellebecq und sein Erfolg die Antwort auf diese Frage. Die Leser wollen wohl weniger von der Auseinandersetzung mit den ‚Traumata unserer Zeit‘ ‚selbstbefreit‘ werden, als vielmehr sich mit ihnen auseinandersetzen. Warning spricht in einem anderen Aufsatz der Phantasie der Realisten („Der Chronotopos von Paris bei den ‚Realisten‘“) davon, dass Flaubert in seiner „Absage an das Neue weit radikaler als Zola“ sei.42 In dieser Hinsicht entspricht Houellebecqs Verhältnis zu Zola zweifelsohne jenem Flauberts. Und Warning sieht bei Zola „das Schema der Apokalypse in der vitalistischen Überformung des Mortalismus“ sich manifestieren, woraus für ihn folgt: „Eben damit wird gerade der Autor, der von allen ‚Realisten‘ die dramatischsten Bilder des Untergangs inszeniert, der am wenigsten provokative.“43 Houellebecq nimmt eine Position zwischen Flaubert oder Balzac und Zola ein: zwar entwirft auch er „dramatische Bilder des Untergangs“, doch es kommt zu keiner „vitalistischen Überformung“, auch und gerade nicht in dystopischen Romanen wie Les particules élémentaires (1998) oder La possibilité d’une île (2005). Insofern stellt sich bei ihm die Frage nach dem „von der Chronotopik des Textes bereitgestellten imaginären Potentials in Form lesender ‚Rekreation‘.“44 Dieses imaginäre Potenzial ist bei Houellebecq zweifelsohne begrenzt, von einem ‚radikalen Imaginären‘ im Sinne von Castoriadis, auf den sich Warning zu Beginn dieses Aufsatzes bezieht, kann in Sérotonine keine Rede sein. Wenn Warning Castoriadis zitiert: „Time is essentially linked to the emergence of alterity“,45 so resultiert aus den Houellebecqschen Chronotopoi, dass die Zeit für Emergenzen von Alterität, und damit sowohl jene des ‚radikalen Imaginären‘ wie seiner lesenden Rekreation vorüber ist: Die Gesellschaft lässt keinen Platz mehr für Alterität, sie bietet allerdings die Möglichkeit, mit Antidepressiva diesen Zustand individuell und sozial erträglich zu gestalten: „permettant aux patients d’intégrer avec une aisance nouvelle les rites majeurs d’une vie normale au sein d’une société évoluée“ (S, S. 12). Das „Magma von Bedeutungen“, das das radikale Imaginäre produziert, soll individuell wie sozial ausgeschaltet werden. Wenn man so will, gehört das ‚radikale 40 41 42 43 44 45

Ebd., S. 88. Ebd. Warning (1999), S. 310. Ebd., S. 312. Ebd. Er zitiert Castoriadis’ Aufsatz: „Time and creation“ (1988). Warning (1999), S. 276.

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Imaginäre‘ für Houellebecq zu den verlorenen Illusionen der Moderne. An die Stelle der Lösung der gesellschaftlichen wie individuellen Probleme in einer schönen neuen Welt der Zukunft, wie in den ersten Romanen, ist die vom Serotonin bewirkte persönliche Zufriedenheit und Gelassenheit getreten, deren Funktion es (auch) ist, imaginäre Potenziale insbesondere in ihrer radikalen Form gar nicht erst erfahrbar zu machen. Für Warnings Konterdiskursivität „manifestiert sich der Flaubertsche Mortalismus nicht in Untergangsphantasmen, sondern wiederum in der écriture selbst“.46. Zumindest in Sérotonine kommt es zu einer Apotheose des Todes und einem Mortalismus, doch beruht dieser weder auf Zolasschen Untergangsphantasmen oder „einer mortifizierenden écriture“, sondern im Gegensatz zu solchen Diskursen in einem skeptisch-nihilistischen Hinnehmen von Aussichtslosigkeit und Sinnlosigkeit. Die Kunst wird nicht mehr „zum einzig verblieben Refugium vor diesem Tod“ (RW, 345), so der letzte Satz Warnings, eine solche Kunstreligion gibt es für Houellebecq nicht mehr. Kunst legt vielmehr nach eineinhalb Jahrhunderten Moderne und Modernisierung Zeugnis ab vom Scheitern der damit verbundenen Projekte. In der Extension du domaine de la lutte reflektiert der Ich-Erzähler die Gattung derer er sich bedient: „La forme romanesque n’est pas conçue pour peindre l’indifférence, ni le néant; il faudrait inventer une articulation plus plate, plus concise et plus morne“ sowie die „écriture“, die er bei solchen „Romanen“ für angemessen hält: „Elle [l’écriture] retrace, elle délimite. Elle introduit un soupçon de cohérence, l’idée d’un réalisme.“ (EDL, S. 49 und 19.) Diesen durch welches Adjektiv auch immer relativierten ‚Realismus‘ versteht Houellebecq nicht als ‚reduktive Interpretation von Wirklichkeit‘, sondern als eine Suche nach Wirklichkeit mit Hilfe der Verbindung von effets de réel und Fiktionalisierung. Damit nimmt er Mitte der 1990er Jahre eine der Thesen des (philosophischen) ‚Neuen Realismus‘ vorweg. Für Maurizio Ferraris tritt „das Wirkliche nicht nur als Widerständigkeit und Negativität in Erscheinung“, er konstatiert die Existenz der sozialen Gegenstände gerade in ihrer „Widerständigkeit in einer Umwelt“.47 Eben um diese Widerständigkeit sozialer Gegenstände und die „Umwelt“ der mit ihnen konfrontierten und auf sie reagierenden Subjekte geht es dem Houellebecqschen ‚Realismus‘ Ob er mit jedem seiner Romane zur Artikulation einer „neuen“, ‚platten‘ und ‚düsteren‘ Gattung beigetragen hat, kann bezweifelt werden. Mit Sérotonine ist ihm dies aber gelungen. In diesem Roman zeigt er, was er vor 25 Jahren unter der ‚Idee‘ eines Realismus verstanden hat, insofern hat er zu einer „Wiederentdeckung des Realismus“, sei es der „unsual realism“ (Pavel)

46 Ebd., S. 344. 47 Ferraris (2014), S. 64 und 69.

Michel Houellebecq: eine ‚Wiederentdeckung‘ des Realismus?

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oder das „réel malade“ (Viart), beigetragen, die Rita Schober schon vor 20 Jahren kommen sah.

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Kurzbiographien der Beiträgerinnen und Beiträger sowie der Herausgeberinnen

Prof. Dr. Wolfgang Asholt, bis 2011 Professur für Romanische Literaturwissenschaft in Osnabrück, 2012 Senior Fellow am FRIAS (Freiburg), seit 2013 Honorarprofessor am Institut für Romanistik der HU. Forschungsschwerpunkte sind: Literaturen des 19. und 20. Jahrhunderts, europäische Avantgarden und ihre Theorien, Konzeptionen der europäischen Literatur sowie (französische) Gegenwartsliteratur. Dr. Tobias Berneiser ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Romanischen Seminar der Universität Siegen. Mit einer Arbeit zur französischen CervantesRezeption im späten 18. Jahrhundert wurde er 2016 an der Goethe-Universität Frankfurt promoviert. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen die literarische Repräsentation von städtischen Räumen und Kulturen, mediale Erinnerungskulturen, bukolische Literatur sowie Tendenzen des Gegenwartsromans. Aktuell widmet er sich einem Habilitationsprojekt zur Verarbeitung der Neapolitanischen Republik von 1799 in Literatur und Film. Prof. Dr. Julia Brühne ist seit 2019 Juniorprofessorin für Transnationale Medienliteraturwissenschaften in Bremen. Sie wurde 2014 mit einer Arbeit zum spanischen neorrealismo der 50er und 60er Jahre promoviert. Derzeit arbeitet sie an einem Buch zu Sprache, jouissance und Spiel in der französischen Literatur des 19. Jahrhunderts. Seit 2021 leitet sie das Projekt „Bild, Sprache, Demokratie: Zur Krise der res publica in zeitgenössischen Filmen und Serien der Romania“, das von der Zentralen Forschungsförderung der Universität Bremen gefördert wird. Zu ihren Forschungs- und Lehrschwerpunkten zählen außerdem Theater und Novellistik des spanischen Siglo de Oro, Stummfilm, Film noir und Nouvelle Vague, phantastische Literatur sowie zeitgenössische audiovisuelle Phantastik, Psychoanalyse und politische Allegorie, Postmoderne, Affekt und Populärkultur.

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Andrea Brondino è dottorando in Italian Studies presso University of Warwick. Nella sua tesi si occupa di ironia nel romanzo storico italiano recente. Alcuni suoi articoli hanno per oggetto Il pendolo di Foucault di Umberto Eco e L’arcobaleno della gravità di Thomas Pynchon; il paratesto di Gioventù cannibale; l’ironia in Eco e Richard Rorty. Nella sua ricerca si interessa anche di letteratura comparata, Luca Rastello, Apocalisse e letteratura, postmodernismo. Jun.-Prof. Dr. Berit Callsen lehrt Romanische Kulturwissenschaft an der Universität Osnabrück. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören: literarische Visualität in interdisziplinärer Perspektive, Repräsentationen von Körperlichkeit in der hispano- und frankophonen Literatur und Kultur des 20. und 21. Jahrhunderts sowie Subjektkulturen der spanischen Moderne im europäischen Kontext. Dr. Christiane Conrad von Heydendorff ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Nach dem Studium der Romanistik (Italienisch, Französisch) und Germanistik auf Lehramt in Mainz und Bologna, wurde sie mit einer Arbeit zum Neuen Realismus in Italien bei Prof. Dr. Dietrich Scholler promoviert. Der Schwerpunkt in der Post-Doc-Phase liegt auf Untersuchungen im französischen Mittelalter. Prof. em. Dr. Gisela Febel unterrichtete Romanistik/Literatur- und Kulturwissenschaft an der Universität Bremen. Ihre Forschungsschwerpunkte sind: Moderneforschung, Kulturtheorie, Literaturen der Gegenwart, Frühe Neuzeit, postkoloniale Studien, Intermedialität und Bild-Text-Relationen, Beziehungen von Philosophie und Literatur, Aufklärungsrezeption, Humanismus-Konzepte, Stadtrepräsentationen, transkulturelle Ästhetik. Filippo Gobbo è dottorando in Italianistica presso l’Università di Pisa in collaborazione con la Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Nel 2017 ha conseguito un Master in Filologia moderna presso l’Università di Padova, dove si è concentrato sulla rappresentazione della nazione in American Pastoral di Philip Roth e Paradise di Toni Morrison. L’obiettivo principale della sua ricerca attuale è quello di indagare la rappresentazione dell’Italia nella narrativa italiana contemporanea. Prof. Dr. Thomas Klinkert ist Romanist und lehrt französische Literatur an der Universität Zürich. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehört die Erzählliteratur des 20. und 21. Jahrhunderts; er hat u. a. zu Marcel Proust, Luigi Pirandello, Elio Vittorini, Alberto Moravia, Jorge Semprún, Georges Perec, Claude Simon, Italo Calvino, Daniele Del Giudice, Danièle Sallenave und Patrick Mo-

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diano gearbeitet und befasst sich mit Fragen der Literaturtheorie (Memoria, Fiktionstheorie, épistémocritique). Dr. Melanie Koch-Fröhlich war von 2013–2017 an verschiedenen Einrichtungen der Universität Freiburg tätig, seit 2017 arbeitet sie als Wissenschaftliche Mitarbeiterin am dortigen Romanischen Seminar. 2015 wurde sie mit einer Arbeit über das Werk des jüdischen Schriftstellers Albert Cohen an der Universität Potsdam promoviert. Ihre Forschungsinteressen gelten insbesondere jüdischem Schreiben im 20. und 21. Jahrhundert sowie der Literarisierung von Geschichte im französischen Gegenwartsroman. Dr. Lorenzo Marchese è assegnista di ricerca in letteratura italiana contemporanea presso l’Università dell’Aquila dal 2018, e docente a contratto di letterature comparate presso l’Università di Chieti-Pescara. Ha pubblicato i libri L’io possibile. L’autofiction come paradosso del romanzo contemporaneo (2014) e Storiografie parallele. Cos’è la non-fiction? (2019). Le sue ricerche attuali vertono sulle retoriche dell’autenticità nelle narrazioni contemporanee, Primo Levi, Cesare Pavese, Pier Paolo Pasolini. Bastian Piejko ist Doktorand am Romanischen Seminar der Johannes Gutenberg-Universität Mainz und ebendort Lehrbeauftragter für französische und spanische Literaturwissenschaft. Er forscht zu zeitgenössischen Fragen der Subjektivität, insbesondere in den Romanen Michel Houellebecqs. Seit 2018 ist er Promotionsstipendiat der Konrad Adenauer-Stiftung. Jan Rhein ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter für französische Literatur- und Kulturwissenschaft am Romanischen Seminar der Europa-Universität Flensburg. Er lehrt und forscht zur französischen Literatur des 19. bis 21. Jahrhunderts, zu Literatur- und Übersetzungsvermittlung und zu Wechselspielen zwischen Literatur und Museum. Von 2009 bis 2015 arbeitete er als DAAD-Fachlektor in Nantes und leitete das Deutsch-Französische Kulturzentrum Nantes. Er ist außerdem als Literaturübersetzer tätig. Prof. Dr. Christian Rivoletti ist Inhaber des Lehrstuhls für Romanistik, insbes. italienische Literatur- und Kulturwissenschaft im europäischen Kontext an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen die literaturtheoretische Reflexion zum Realismus sowie die italienische und französische Gegenwartsnarrativik (I. Calvino, M. Tournier, E. Carrère, R. Saviano). Er hat u. a. Forme del realismo nella letteratura italiana tra modernismo e contemporaneità (2016) herausgegeben.

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Dr. Cora Rok ist seit Oktober 2021 Akademische Mitarbeiterin am Romanischen Seminar der Universität Heidelberg, wo sie im Bereich der italienischen und französischen Literaturwissenschaft lehrt und forscht. 2019 wurde sie in dem trinationalen Graduiertenkolleg der Universitäten Bonn, Florenz und Paris-Sorbonne mit einer Dissertation über Darstellungen der Entfremdung in Arbeitskontexten in der italienischen Gegenwartsliteratur promoviert. Dr. Fabian Scharf ist Literaturwissenschaftler, Fachprüfer am Staatlichen Prüfungsamt für Übersetzerinnen und Übersetzer Berlin sowie stellvertretender Schulleiter am Französischen Gymnasium Berlin. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören Naturalismus und Verismus, der französische und italienische Roman des 19. Jahrhunderts, historische Diskurse in zeitgenössischen literarischen und filmischen Texten sowie utopische und dystopische Diskurse in komparatistischer Perspektive. Prof. Dr. Dietrich Scholler lehrt französische und italienische Literaturund Kulturwissenschaft an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz und ist Herausgeber der Zeitschrift PhiN. Philologie im Netz. Aktuelle Forschungsschwerpunkte: Nationenbildung in der Literatur der Vormoderne, Stadtdarstellung in Literatur und Film, Intermedialität in der Gegenwartsliteratur. Lara Toffoli è dottoranda in Italianistica presso l’Università Ca’ Foscari Venezia, in cotutela con la Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Si è laureata in Filologia e Letteratura Italiana presso l’ateneo veneziano con una tesi dedicata al dibattito sul ‘ritorno alla realtà’ e al rapporto fra fiction e nonfiction nelle opere di E. Carrère, J. Cercas, R. Saviano e H. Janeczek. La sua ricerca attuale è incentrata sul romanzo-saggio e i suoi sviluppi nella letteratura contemporanea, secondo una prospettiva comparata. Prof. Dr. Kirsten von Hagen lehrt seit 2013 Romanische Literatur- und Kulturwissenschaft an der Universität Gießen. Zu ihren Arbeitsschwerpunkten gehören die Französische und Spanische Literatur und Kultur des 19. und 20. Jahrhunderts, Interkulturalität und Intermedialität, insbesondere Literaturverfilmungen, Formen medialisierter Kommunikation im Roman und die Schnittstellen zwischen Oper, Film und Literatur.