Raus aus der Ohnmacht: Das Konzept Neue Autorität für die schulische Praxis [2 ed.] 9783666459139, 9783525459133


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Raus aus der Ohnmacht: Das Konzept Neue Autorität für die schulische Praxis [2 ed.]
 9783666459139, 9783525459133

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Haim Omer / Regina Haller

Raus aus der Ohnmacht Das Konzept Neue Autorität für die schulische Praxis

Haim Omer/Regina Haller

Raus aus der Ohnmacht Das Konzept Neue Autorität für die schulische Praxis

Mit vier Abbildungen

Vandenhoeck & Ruprecht

Israelische Textvorlagen übersetzt von Rachel Grünberger

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. 2., durchgesehene Auflage © 2020, 2019, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Maglara/Shutterstock.com Satz: SchwabScantechnik, Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-666-45913-9

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Kapitel 1: Ein neues Autoritätsverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Veränderung der gesellschaftlichen Erwartungen an Erziehende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2  Kinder wachsen an Herausforderungen . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3  Lehrkräfte und Eltern – Partner statt Feinde . . . . . . . . . . . . 1.4  Traditionelle und Neue Autorität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Kapitel 2: Präsenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1  Präsenz in der Klasse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2  Präsenz in der Schule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tipps für Lehrkräfte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

37 40 51 56 57

18 18 20 22 34

Kapitel 3: Lehrkräfte und Eltern: das unerlässliche Bündnis . 59 3.1  Ungelöste Konflikte sind schädlich! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 3.2  Die Lehrer-Eltern-Diplomatie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 3.3  Das persönliche Gespräch mit Eltern . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 Tipps für Lehrkräfte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 Kapitel 4: Kooperation unter Lehrkräften . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1  Vier Glaubenssätze von Lehrkräften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Fachlehrkräfte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3  Erzieherinnen und Erzieher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4  Kontinuität herstellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tipps für Lehrkräfte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

111 117 127 131 133 140 141

Inhalt

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Kapitel 5: Gemeinsam für eine sichere Schule und ein lernförderliches Schulklima . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1  Teampräsenz vermittelt Sicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2  Die Mobilisierung der Schülerschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tipps für Lehrkräfte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kapitel 6: Die Schulleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1 Zwei Welten − ein Ziel: Die Einführung der Neuen Autorität an zwei Schulen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Der Schulentwicklungsprozess: ein Wegweiser für Schulleitungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3 Die Neue Autorität als Führungsmodell . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4  Umgang mit elterlicher Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tipps für Schulleitungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Kapitel 7: Mehr als nur Sanktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 7.1  Selbstkontrolle, Aufschub und Deeskalation . . . . . . . . . . . . 201 7.2  Neue Autorität in der Praxis – Methoden zur Umsetzung . 210 7.3  Die Wiedergutmachung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 Tipps für Lehrkräfte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 Schlusswort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239

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Inhalt

VORWORT

Liebe Leserin, lieber Leser, als ich vor ein paar Jahren eher zufällig an einem Kongress mit dem Titel »Stärke statt Macht« teilnahm, hatte ich keine Ahnung, wie prägend dessen Inhalte für meine Entwicklung als Schulleiterin und die Entwicklung meiner Schule werden sollten. Damals hatten wir im Schulteam bereits die alte Hausordnung durch unseren Schulkodex ersetzt mit dem Grundgedanken, unerwünschtes Verhalten nicht zu verbieten, sondern erwünschtes Verhalten zu benennen und zu fördern. Der Haltungswechsel gelang, und im Rückblick war dies der Beginn eines neuen pädagogischen Verständnisses, einer anderen Schulkultur. Bald aber standen wir vor der Frage: Was ist zu tun, wenn der Schulkodex missachtet wird? Ein gemeinsames Vorgehen war gefragt, denn die Pädagoginnen und Pädagogen fühlten sehr wohl, dass eine gemeinsame Haltung des gesamten Schulteams die Position jedes einzelnen Mitglieds stärken würde. Wir investierten einen ganzen Tag in den Versuch, verbindliche Sanktionen auszuarbeiten. Die Mühe war ganz und gar vergeblich. Für das Übertreten von Regeln und Grenzen sind die Gründe so vielfältig wie die Kinder und Jugendlichen selbst. Zudem sind wir eine Schule, nicht die Justiz. Trotz dieser Erkenntnisse wurde immer wieder ein einheitliches Vorgehen gefordert. Natürlich! Es fehlte an Alternativen, und ich als Schulleiterin hatte keine Antworten … bis ich jenen Kongress im November 2011 besuchte und entdeckte, dass es noch etwas anderes gibt als unsere herkömmliche Vorstellung von Autorität. Vorwort

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Mit dem Konzept der Neuen Autorität von Haim Omer und Arist von Schlippe konnte ich dem Team einen Erziehungsansatz präsentieren, der unseren Vorstellungen entsprach. Er spiegelt unsere Haltungen, Werte und Normen und schuf einen gemeinsamen Nenner. Auf diesen konnten sich alle an der Schule tätigen Lehr- und Betreuungspersonen einigen und sich an ihm orientieren. Traditionelles Autoritätsverständnis baut auf Verbote und Sanktionen und verfolgt das Ziel des blinden Gehorsams. Im Gegensatz dazu fördert die Neue Autorität Eigenverantwortung, Empathie, Urteils- und Kritikfähigkeit der Kinder und Jugendlichen. Sie unterstützt ihren Entwicklungsprozess hin zu mündigen Menschen. Dieser lernfördernde Ansatz entspricht dem Verständnis einer modernen Pädagogik. Der Begriff Neue Autorität unterstreicht gleichzeitig die Legitimation respektive die Notwendigkeit einer pädagogischen Führung, um die Aufsichts- und Fürsorgepflicht für das einzelne Kind und für Kindergruppen wahrzunehmen. Kinder und Jugendliche sollen sich frei entfalten können, sie haben aber auch das Recht auf Schutz, Orientierung, Führung und Begleitung. Die ersten Erfolge mit der Neuen Autorität ermutigten uns, auf dem eingeschlagenen Weg zu bleiben. Wir haben heute nicht nur ein gemeinsames und gesellschaftstaugliches pädagogisches Konzept im Umgang mit destruktivem Verhalten von Schülerinnen und Schülern, die Interventionen sind auch wirkungsvoller, flexibler und vielseitiger als unsere herkömmlichen Vorgehensweisen. Die Zusammenarbeit im Team und mit den Eltern stärkt zudem die Autorität der einzelnen Erziehungspersonen, und das beugt Resignation und Erschöpfung vor. Bereits 2002 veröffentlichte der Familientherapeut Haim Omer ­seinen Bestseller »Autorität ohne Gewalt« (Omer u. von Schlippe 2002/2017) über das Wiedererlangen der Autorität von Eltern. Damals wurde er gebeten, auch ein Buch für Pädagoginnen und Pädagogen zu schreiben. Als er mir anbot, als Co-Autorin mitzuwirken, habe ich sehr gern zugesagt. Die Herausforderungen, einen ordent8

Vorwort

lichen Schulbetrieb aufrechtzuerhalten, nehmen gleichermaßen zu wie die Ansprüche der Gesellschaft an die Schulen in Bezug auf ihren Erziehungsauftrag und ihre Erziehungsmethoden. In diesem Buch stecken viele Jahre Erfahrung aus Schulen in Israel, der Schweiz, Deutschland und anderen Ländern. Ich freue mich, wenn Sie, liebe Leserin, lieber Leser, von diesen Erfahrungen profitieren und Ideen mitnehmen können, die zu Ihrer Rolle als Pädagogin, als Pädagoge und zu Ihrer Organisation passen. Die Anwendung des Konzepts der Neuen Autorität im schulischen Kontext hat Haim Omer bereits in seinem Buch »Stärke statt Macht« (Omer, 2010/2016) aufgegriffen. Ebenfalls im Verlag Vandenhoeck & Ruprecht erschienen ist »Neue Autorität – Das Handbuch« (Körner et al., 2019) mit einem Kapitel zum Praxisfeld Schule. Martin Lemme und Bruno Körner publizierten ihre Erfahrungen mit der Neuen Autorität 2016 in der Reihe »Spickzettel für Lehrer« (»›Neue Autorität‹ in der Schule. Präsenz und Beziehung im Schulalltag«). Das Konzept stärkt die Autorität der Erziehungspersonen, ist kompatibel mit der Reformpädagogik und kombinierbar mit aktuellen Trends der heutigen Schul- und Organisationsentwicklung. Vieles in diesem Buch wird Ihnen darum bekannt vorkommen. Das ist gut so! Sie fangen nicht bei null an, und es ist weit effektiver, auf Bestehendem aufzubauen und Schulentwicklungsprojekte zu verbinden, statt alles neu zu erfinden. Ich wünsche Ihnen eine spannende, anregende Lektüre und natürlich viel Erfolg bei der Umsetzung. Regina Haller

Vorwort

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EINLEITUNG

Helen Bony/Shutterstock.com

Die Neue Autorität von Lehrkräften (und Eltern) stellt einen positiven Wert dar in der Entwicklung von Kindern und Jugendlichen. Sie gibt ihnen Orientierung, Begleitung und Schutz. Dazu braucht es erwachsene Führungspersonen, die in ihrer Rolle diese Verantwortung übernehmen wollen und vor allem übernehmen können. Die nötige Stärke (Hier bin ich, hier bleibe ich), Sicherheit (Ich habe den Überblick, die Lage unter Kon­trolle) und Zuversicht (Das kommt gut, du schaffst das) können Erziehende nur authentisch vermitteln, wenn es auch ihnen selbst gut geht. Auch andere namhafte Familientherapeuten wie zum Beispiel der Däne Jesper Juul setzen auf diese Haltung: Erziehende, die ihre eigenen Bedürfnisse genauso ernst nehmen wie die der ihnen anvertrauten Kinder und Jugendlichen, erweisen diesen einen größeren Dienst als Erziehende, die sich ständig aufopfern und die eigene Befindlichkeit hintanstellen. Um dies zu verstehen, brauchen wir nicht einmal einen Erziehungsratgeber. Wer je mit dem Flugzeug gereist ist, kennt die Anweisung: Im Notfall sorgt die erwachsene Person zuerst für sich, dann erst soll sie sich um das ihr anvertraute Kind kümmern.

Abbildung 1: Anweisungen zum Nutzen einer Sauerstoffmaske im Flugzeug

Einleitung

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Die Logik ist bestechend einfach. Wenn uns die Luft ausgeht, können wir unserer Fürsorgepflicht – im schulischen Kontext unserer Aufsichts-, Bildungs- und Erziehungsaufgabe – nicht mehr nachkommen. Wie soll eine Lehrkraft, die selbst am Ende ihrer Kräfte ist, Zuversicht oder gar Stärke ausstrahlen? Wie soll ein System mit ständig wechselndem und von immer neuen Anforderungen ausgelaugtem Personal Kindern und Jugendlichen Orientierung und Sicherheit bieten? Eltern, aber auch Journalisten oder Politikerinnen, sollten bedenken, dass sie mit Angriffen gegen die Schule und deren Mitarbeitende letztlich den Schülerinnen und Schülern schaden. Nun ist dieses Buch zwar auch, aber nicht in erster Linie für Eltern gedacht, auch nicht für Politiker und Politikerinnen oder Medienschaffende. Es ist für uns geschrieben, die wir in der Schule arbeiten! Zu unserem eigenen Wohl – und damit zum Wohl unserer Schülerinnen und Schüler – müssen wir uns auf unsere Stärken und unsere eigenen Möglichkeiten besinnen. Genau hier setzt dieses Buch an; bei jeder einzelnen Lehrkraft bis hin zum gesamten Lehrkörper. Es geht nicht um schwieriges Verhalten von Schülerinnen und Schülern, es geht darum, wie in der Schule Tätige unerwünschtem Verhalten von Schülerinnen und Schülern vorbeugen und bei dessen Auftreten eingreifen. Es geht in diesem Buch nicht um ADHS oder Verhaltensanalysen von Kindern und Jugendlichen aus einem problematischen familiären Umfeld, sondern es geht um Interventionen, um gemeinsame Haltungen und Zusammenarbeit, um klare Botschaften und deren Wirkung. Es geht um die Stärke von Pädagoginnen und Pädagogen durch die Erweiterung des persönlichen und gemeinsamen Handlungsspielraums, wenn herkömmliche Vorgehensweisen nicht mehr greifen. Raus aus der Ohnmacht! bedeutet, unabhängig vom Verhalten oder der Reaktion der Schülerin oder des Schülers, unabhängig von weiteren Ursachen agieren und reagieren zu können. Die beschriebenen Methoden basieren auf dem Konzept der Neuen Autorität von Haim Omer und Arist von Schlippe. Es um12

Einleitung

fasst die Prinzipien Präsenz, Selbstkontrolle, Widerstand, Vernetzung und Öffentlichkeit, Aufschub und Deeskalation, Beharrlichkeit und Wiedergutmachung. Sie werden in ▶ Kapitel 1.4 näher ausgeführt. Die Neue Autorität ist kein starres Konzept, das nur in seiner Gesamtheit funktioniert. Im Gegenteil, es ist sehr flexibel einsetzbar. 1. Es ist möglich, einzelne Elemente (zum Beispiel die Wiedergutmachung oder die Vernetzung) zu priorisieren, damit anzufangen und dann das Konzept Element für Element weiter auszubauen. 2. Jede Pädagogin, jeder Sozialpädagoge kann unabhängig vom Rest des Teams damit beginnen, das Konzept im Arbeitsalltag anzuwenden. Natürlich verstärkt sich die Wirkung, je größer der Kreis derer wird, die ihre Arbeit an den Prinzipien der Neuen Autorität ausrichten. 3. Die Neue Autorität ist gut kombinierbar mit anderen Ansätzen, zum Beispiel der gewaltfreien Kommunikation von Marshall B. Rosenberg (2013), dem lösungsorientierten Ansatz von Steve de Shazer (1982) und dem Zürcher Ressourcen-Modell von Maja Storch und Frank Krause (2016). 4. Die Prinzipien eignen sich für alle Bereiche und Institutionen mit einem Erziehungsauftrag, unabhängig vom Alter der Kinder, der Schulstufe oder dem Schulsystem. Im ▶ Kapitel 1 erörtern wir die zunehmende Kritik an der Schule und die veränderte Haltung in der Gesellschaft gegenüber Autorität in der Erziehung. Wir stellen den wesentlichen Merkmalen autoritären Handelns die Prinzipien der Neuen Autorität gegenüber. Im ▶ Kapitel 2 gehen wir auf den Begriff der Präsenz und ihre zentrale Rolle im Konzept der Neuen Autorität ein. Wir zeigen auf, wie Lehrkräfte Präsenz erhöhen und gezielt einsetzen können. ▶ Kapitel 3 ist der Kooperation zwischen in der Schule Tätigen und Eltern gewidmet. Wir weisen auf die negativen Auswirkungen einer konfliktbelasteten Schule-Eltern-Beziehung hin und richten unseren Fokus auf Elemente und Wirkung einer gelungenen Zusammenarbeit. Einleitung

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Einzelkämpfertum von Lehrkräften gehört der Vergangenheit an. Die gemeinsame Verantwortung im Kollegium und Möglichkeiten der gegenseitigen Unterstützung sind Thema in ▶ Kapitel 4. Im ▶ Kapitel 5 erfahren Sie, wie lohnend und wirkungsvoll es ist, gemeinsam mit der Schülerschaft ein positives Schulklima zu schaffen. Im ▶ Kapitel 6 beleuchten wir die Rolle der Schulleitung und erläutern, wie das Konzept der Neuen Autorität als Schulentwicklungsprojekt implementiert werden kann. Zum Schluss beschreiben wir in ▶ Kapitel 7, wie die Prinzipien der Neuen Autorität die Notwendigkeit von Sanktionsmaßnahmen relativieren, wie mit dem Element der Wiedergutmachung Frieden gestiftet werden kann und wie damit Lernprozesse in Gang gesetzt werden. Ein guter Lesefluss ist uns wichtig. Ab Kapitel 1 werden wir auf Doppelnennungen wie geschätzte Leserin, geschätzter Leser verzichten. Wenn möglich verwenden wir neutrale Begriffe wie Lehrkraft oder nutzen einen willkürlichen Wechsel zwischen weiblicher und männlicher Form, um beide Geschlechter gleichermaßen anzusprechen (zum Beispiel: Die Schülerinnen hörten dem Referenten nur bedingt interessiert zu). Das Schulsystem ist im Wandel. In vielen Gemeinden ist das Betreuungsangebot für Kinder und Jugendliche im schulpflichtigen Alter ins Schulsystem integriert. In der Stadt Zürich zum Beispiel spricht man vom Lebensraum Schule und Betreuungspersonal gehören zum Schulteam. Ob separate Einrichtung oder Bestandteil der Schule, im Umgang mit herausfordernden Kindern ist eine Zusammenarbeit zwischen Lehr- und Betreuungspersonen immer hilfreich, und selbstverständlich lassen sich auch alle in diesem Buch vorgestellten Inhalte, Beispiele und Abläufe auf den Betrieb einer Tagesbetreuung übertragen. Die im Buch verwendeten Beispiele stammen aus verschiedenen Schulen, vor allem aus Israel, Deutschland und der Schweiz. Natürlich lassen sich die Beispiele nicht eins zu eins auf jedes Land und auf jede Schulstufe übertragen. Die Haltung und die Prinzipien sind 14

Einleitung

aber allgemein gültig, und das pädagogische Handeln funktioniert in adaptierter Form in jedem Schulsystem und auf jeder Altersstufe. Alle Beispiele sind vollständig anonymisiert. »Um ein Kind zu erziehen, braucht es ein ganzes Dorf.« Wer kennt es nicht, dieses afrikanische Sprichwort. Übersetzt ins Konzept der Neuen Autorität steht es für die Elemente Vernetzung und Öffentlichkeit. Der »Fels in der Brandung« ist ein Synonym für Widerstand oder Selbstkontrolle (Hier bin ich, hier bleibe ich, das ist meine Funktion, egal, wie stark der Sturm tobt), »Steter Tropfen höhlt den Stein« erinnert an die Beharrlichkeit und spätestens beim Lesen von ▶ Kapitel 3.2 zum Thema Lehrer-Eltern-Diplomatie weiß man den Satz einzuordnen: Wir sitzen alle im selben Boot. Das Konzept der Neuen Autorität baut auf unserem Vorwissen auf. Wahrscheinlich werden sich etliche Leserinnen und Leser in ihrem Tun wiedererkennen, bestätigt fühlen und durch unsere Ausführungen neue Ideen entwickeln, eigene festigen, weiter ausbauen und im Schulteam verbreiten. Wir wünschen gutes Gelingen!

Einleitung

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KAPITEL 1: Ein neues Autoritätsverständnis

Vor einigen Jahren sorgte in Israel ein Fall für Schlagzeilen, bei dem ein Mädchen brutal und über längere Zeit von einer Gruppe Jugendlicher vergewaltigt worden war. Opfer und Täter besuchten dieselbe Schule. Verschiedene Zeitungen brachten über zwanzig Leitartikel, in denen die an der Schule Tätigen angeprangert wurden. Sie warfen den Lehrkräften Versagen vor und behaupteten, sie hätten das Mädchen nicht ausreichend geschützt. Die Wahrheit war ganz anders. Die stellvertretende Direktorin deckte den Fall auf, gerade weil sie aufmerksam und sensibel genug war, um die Veränderungen im Verhalten des Mädchens wahrzunehmen. Sie wandte sich direkt ans Sozialamt, und die tatverdächtigen Jugendlichen wurden noch am selben Tag von der Polizei verhört. Die Schule schuf ein Unterstützernetzwerk für das Mädchen und ihre Familie. Später prüften zwei unabhängige Untersuchungskommissionen – eine kommunale und eine staatliche – den Fall. Nach monatelangen Recherchen bestätigten beide, dass die Lehrkräfte und die Direktorin die Situation erkannt, richtig gehandelt und angemessen sowie verantwortungsvoll reagiert hätten. Über die vollständige Entlastung der Schule durch die Untersuchungsberichte stand nichts in den Medien, welche die Schule vorher so harsch kritisiert hatten. Diese Nachricht machte keine Schlagzeilen. Ähnliche Fälle kennen wir auch aus Westeuropa. Es ist heute im Trend, über Lehrkräfte oder Schulen herzuziehen.

Ein neues Autoritätsverständnis

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1.1 Veränderung der gesellschaftlichen Erwartungen an Erziehende Die allgemeine Kritik an Lehrkräften und Eltern gründet auf tiefgreifenden ideologischen Veränderungen, was die Erwartungen an Erziehende angeht. Früher genügte es, wenn sich diese um die praktischen Bedürfnisse des Kindes kümmerten und ihm Grundwerte und Grundwissen vermittelten. Verhielt sich das Kind trotz sichtbarer Bemühungen des Erziehenden auffällig, galt dies nicht automatisch als dessen Versagen. Als Grund für das problematische Verhalten nahm man vielmehr eine Grunddisposition oder negative Einflüsse auf das kindliche Verhalten an. Heute sollen Lehrkräfte und Eltern auch die Persönlichkeit des Kindes formen, die Verantwortung für Erfolge res­pektive Misserfolge in seinem (Erwachsenen-)Leben übernehmen. Diese Haltung erzeugt Druck auf die Erziehenden. Fast automatisch wird ihnen die Schuld zugesprochen, wenn Kinder und Jugendliche sich nicht wie erwünscht entwickeln. Früher war eine solche Schlussfolgerung undenkbar. Niemand hätte Geppetto für ­Pinocchios Verhalten verantwortlich gemacht, auch nicht die Familie von Max und Moritz, die unter den Streichen der beiden genauso litt wie Nachbarn und Lehrer. Sie waren halt unartige Buben. Das Verhalten dieser Kinder galt als vermeintlich angeborene Böswilligkeit, Naivität und Verspieltheit. Vielleicht gab es Verführer mit schlechtem Einfluss. Mit den Erziehungsleistungen der Eltern oder anderer Bezugspersonen wurde es nicht in Verbindung gebracht.

1.2  Kinder wachsen an Herausforderungen In den 1960er Jahren setzte man zunehmend auf antiautoritäre Erziehung. Mit der Zeit erwuchs daraus ein Misstrauen gegenüber jeglicher Form von Autorität. Die freie Erziehung stand für eine spontane und somit optimale Entwicklung. Verhielt sich ein Kind problematisch, suchte man aus diesem Verständnis heraus die unter18

Ein neues Autoritätsverständnis

drückende Instanz, die die natürliche und positive Entwicklung verhinderte. Der Traum von einer antiautoritären Erziehung erwies sich allerdings als trügerisch. Hunderte von Studien belegen, dass Kinder, die ohne Grenzen und Anforderungen heranwachsen, sich weniger gut entwickeln als traditionell erzogene. Sogenannte frei erzogene Kinder haben nicht nur eine niedrigere Frustrationstoleranz, brechen öfters die Schule ab und sind anfälliger für verschiedene Risikofaktoren, sie haben auch ein geringeres Selbstwertgefühl. Die Erfahrung, dass es Schwierigkeiten überwinden kann, macht ein Kind stark, fehlt sie, fühlt es sich später inkompetent und weniger wert. Wie kommt es dazu? Das Selbstbild entwickelt sich nicht allein durch positive Reflexion. Diese ist zwar ein wichtiger Faktor, das Selbstbild basiert aber auch auf der Erfahrung, dass Schwierigkeiten überwunden werden können. Ein Kind begegnet vielen herausfordernden Situationen, etwa dem Eintritt in den Kindergarten, der Einschulung, der Notwendigkeit, Regeln und Vorschriften akzeptieren oder die Befriedigung eigener Bedürfnisse aufschieben zu müssen. Anfangs sind Kinder damit vielleicht überfordert. Die meisten lernen, damit umzugehen. Die Bewältigung der Herausforderungen verhilft ihnen zu einem persönlichen Erfolg und damit zu einem Entwicklungsschritt. Kindern, die in einem übermäßig permissiven Erziehungsumfeld aufwachsen, bleiben diese positiven Erfahrungen verwehrt. Permissiv bedeutet, dass dem Kind eine Aufgabe abgenommen wird, sobald es sie ablehnt oder als zu schwierig empfindet. Diesem Kind fehlen die Erfahrungen, die ihm ein Gefühl von Kompetenz vermitteln. Entwicklung ist in einem hohen Maß das Ergebnis von Anstrengungen zur Bewältigung der Schwierigkeiten auf unserem Lebensweg. Von Lehrkräften und Eltern wird immer noch erwartet, dass sie keine Autorität ausüben und in ihrer Erziehung lediglich auf ihre wohltuende Anwesenheit und ihr persönliches Charisma setzen. Es gibt Lehrkräfte und Eltern mit ausreichend Präsenz und Ausstrahlung, die ein Kind oder eine Klasse selbst in schwierigsten Situationen führen können. Die allermeisten von uns sind aber irgendwann mit einer Situation konfrontiert, in der wir auf Unterstützung, Vernetzung und Kinder wachsen an Herausforderungen

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Zusammenarbeit angewiesen sind, um den Erziehungsauftrag und die Fürsorgepflicht adäquat wahrnehmen zu können.

1.3  Lehrkräfte und Eltern – Partner statt Feinde Die Stellung von Lehrkräften und Eltern wird nicht nur durch die kritische öffentliche Meinung geschwächt, sondern auch durch die Vereinzelung in unserer Gesellschaft. Eltern sind heute weniger denn je in Gemeinschaften eingebunden. Lehrkräfte sind von Berufs wegen eher Einzelkämpfer1. Sie arbeiten im eigenen Klassenzimmer und nicht in Gruppen, wie es in anderen Berufen üblich ist. Dies begünstigt Rivalität statt Solidarität und vertieft damit das Gefühl der Vereinsamung. Parallel zur Wachstumsrate der städtischen Bevölkerung werden größere Schulen gebaut, die Anonymität nimmt zu. Der Lehrer war früher eine vertraute Figur in der Gemeinde. Das sicherte ihm ein gewisses Maß an Zugehörigkeit und Unterstützung. Heute haben Lehrkräfte nicht mehr per se eine tragende Rolle in der Gemeinde. Angst vor Kritik drängt Menschen in die Defensive. Lehrkräfte ziehen sich darum lieber zurück. Eltern wiederum fürchten, für negatives Verhalten ihrer Kinder in der Schule kritisiert zu werden. Sie verhalten sich der Schule gegenüber abwehrend. Die beiderseitige Angst vor Schuldzuweisungen ist Nährboden für Feindseligkeiten und gegenseitige Abwertung in Bezug auf die Arbeit mit dem Kind. Es entstehen Denkmuster wie: »Nicht wir Eltern sind schuld, sondern die Lehrkräfte, die nichts verstehen und ihre Arbeit falsch machen!« Oder: »Wir Lehrer sind nicht schuld, sondern die Eltern, die ihre Kinder falsch erziehen!« Das Problem verschärft sich, wenn beide Seiten die zwingende Partnerschaft in der Erziehung des Kindes aufgeben und sich im schlimmsten Falle als Feinde begegnen. Der deutsche Neurobiologe Joachim Bauer schreibt dazu: 1 Viele Schweizer Schulen sind bereits dabei, diese traditionelle Rolle des Einzelkämpfers aufzubrechen, zum Beispiel mit dem Einsatz von Teamteaching-Stunden oder dem Aufbauen von pädagogischen Teams.

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Ein neues Autoritätsverständnis

»Wo Schule und Eltern nicht kooperieren, bleibt das Kind auf der Strecke. Wie soll es in die Lage kommen, sich innerlich auf die Schule einzulassen, Motivation aufzubauen und sich mit den Bildungszielen zu identifizieren, wenn es spürt, dass ­Eltern Vorbehalte gegenüber der Schule haben, dass die Eltern meinen, das Kind vor den Lehrern schützen zu müssen, oder wenn die Eltern gar mehr oder weniger offenen Krieg gegen die Schule führen? Motivation einerseits und aktuelle Beziehungen mit Erwachsenen andererseits sind für das Kind untrennbar miteinander verbunden: Es lernt – aus Sicht seiner neurobiologischen Motivationssysteme – durchaus für den Lehrer bzw. für die Lehrerin. Das Kind wird aus einer Hand, die ihm eine Person (Lehrerin oder Lehrer) reicht, für die seine Eltern keinen Respekt empfinden, nichts annehmen« (Bauer, 2007, S. 93 f.). Eine Atmosphäre des Misstrauens zwischen Schule und Eltern beeinträchtigt die Arbeit der Lehrkräfte. Auch ohne diese Erschwernis ist die Klassenführung heutzutage eine besondere Herausforderung. • Neue Verantwortlichkeiten (zum Beispiel Sucht- oder Schuldenprävention oder die integrative Förderung) werden an die Schule delegiert. Damit wachsen auch die täglichen Aufgaben rund um die Klassenführung. • Herkömmliche Erziehungsmethoden sind nicht mehr legitim. Wenn Lehrkräfte im Bemühen um einen geordneten Unterricht trotzdem darauf zurückgreifen, setzten sie sich nicht nur der Kritik der Eltern, sondern auch der vorgesetzten Stellen aus. • Die allgemein kritische Haltung von Eltern und Gesellschaft gegenüber der Schule stellt die funktionale Autorität der Lehrkräfte zusätzlich infrage. Kein Wunder, dass Lehrkräfte wie kaum eine andere Berufsgruppe von Burnout gefährdet sind. Die berufliche Überbelastung beeinträchtigt nicht nur ihre Lebensqualität und Gesundheit, sondern auch die Qualität des Unterrichts. Es muss gelingen, die Autorität Lehrkräfte und Eltern – Partner statt Feinde

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der Pädagoginnen so wiederherzustellen, dass sie den erzieherischen Werten einer freien Gesellschaft entspricht. Das dient dem Berufstand der Lehrer sowie den Kindern und Jugendlichen – und damit der ganzen Gesellschaft.

1.4  Traditionelle und Neue Autorität Normen, Werte und Haltungen unserer Gesellschaft haben sich in den vergangenen Jahrzehnten verändert. Die sogenannte traditionelle Autorität findet darin keinen Platz mehr. Die folgende Übersicht über einige Glaubenssätze der traditionellen Autorität zeigt deutlich, weshalb dieser Ansatz ausgedient hat – auch an unseren Schulen. Distanz: Früher war sie ein wichtiges Merkmal der Autorität. Der Lehrer war eine Respektsperson, die keine Nähe zuließ und zu der die Schülerinnen aufzusehen hatten. Die Autoritätsperson stand sozusagen auf einem Podest. Gesellschaftliche Umgangsformen unterstrichen die Kluft zwischen Kind und Erwachsenem. Heute ist die Distanz als pädagogischer Leitsatz nicht mehr angebracht. Lehrer interessieren sich für die Lebenswelt der Kinder, lassen Nähe zu und sind authentisch. Die Ablehnung von Distanz als Grundlage der Autorität stellt uns aber auch vor schwierige Fragen: Ist Autorität ohne Distanz überhaupt möglich? Geben Lehrkräfte oder Eltern nicht ihre Stellung auf, wenn sie dem Kind nahestehen? Machen sie sich durch die Nähe zum Freund des Kindes und verlieren dadurch ihre Erziehungsfähigkeit? Diese Fragen sind nicht belanglos. Die frühere Distanz war ein klarer Leitsatz, während die heute gewünschte Nähe viel verschwommener ist. Es ist klar, dass wir nicht zum damaligen Zustand der Distanz zurückkehren wollen, jedoch stellt sich die Frage, wie wir die Nähe und die Autorität unter einen Hut bringen. Kontrolle und Gehorsamkeit: Früher übten Lehrkräfte Kontrolle aus, und Kinder hatten zu gehorchen. Gute Erziehung wurde mit braven Kindern gleichgesetzt. Nicht so heute: Wir wollen eigenständige, unternehmungslustige und kreative Kinder. Sie sollen 22

Ein neues Autoritätsverständnis

selbst denken, kritisch sein und selbstverantwortlich handeln und lernen. Die gehorsamen Kinder aus der Zeit der Industrialisierung sind in unserer Berufswelt nicht mehr gefragt, beruflicher Erfolg verlangt heute andere Kompetenzen. Wir schrecken vor strenger Kontrolle zurück, verleiht diese der Autoritätsperson doch eine uneingeschränkte Macht und verwandelt das Kind in ein Objekt ohne die Fähigkeit, selbst Verantwortung zu übernehmen. Wir fragen uns, wie viel Freiheit für eine gesunde Entwicklung des Kindes zulässig ist. Ist eine Autorität, die weder Kontrolle noch Gehorsam anstrebt, überhaupt möglich? Sind Macht und Gehorsam nicht das Grundwesen jeder Form von Autorität? Hierarchie: Früher herrschte eine klare und eindeutige Hierarchie. Die Autoritätsperson musste keine Rechenschaft ablegen. Lehrkräfte hatten absolute Macht im Klassenzimmer, die Eltern hatten absolute Macht zu Hause. Beide wurden nicht kritisiert. Heute beansprucht die Gesellschaft das Recht zu prüfen, was in der Schulklasse oder zu Hause geschieht, insbesondere dann, wenn es Anzeichen für einen Machtmissbrauch gibt. Die Lehrkraft genießt also nicht mehr uneingeschränkte Autorität in der Klasse. Es ist legitim, ihre Entscheidungen infrage zu stellen. Früher war die Einsamkeit des Lehrers eine vornehme. Heute ist die Lehrkraft einsam, weil sie allein vor der Klasse steht, angreifbar und ohne unterstützendes Netzwerk. Wir stehen vor einem Dilemma: Die hierarchische Struktur ist aufgebrochen, das Geschehen in der Klasse wird einem kritischen Blick unterzogen. Erschüttern wir damit nicht die Autorität der Lehrkräfte in ihren Grundfesten? Prinzip der unmittelbaren Bestrafung: Früher bestraften Autoritätspersonen jedes negative Verhalten, zuweilen schmerzhaft, und – als klares Zeichen der Autorität – unmittelbar. Nur durch sofortige Bestrafung erwirkt man Gehorsam. Diesen Mechanismus finden wir bereits in der griechischen Mythologie. Zeus beherrscht die Welt mithilfe des Blitzes, dem Symbol tödlicher und unmittelbarer Bestrafung. Heute gilt das Prinzip der unmittelbaren Bestrafung als falsch. Sie geschähe nämlich in einem Moment höchster emotionaTraditionelle und Neue Autorität

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ler Erregung – meistens Wut – auf beiden Seiten. Wird die Strafe genau dann verhängt, besteht ein hohes Eskalationsrisiko, besonders bei aufsässigen Schülerinnen. Eine unmittelbare Bestrafung verhindert, dass sich Erziehende die nötige Zeit nehmen, um über eine angemessene Intervention nachzudenken. Schließlich sollen Lehrkräfte nicht mehr schnell und schmerzhaft strafen wie früher. Weder die Mittel noch die pädagogische Haltung entsprechen unseren heutigen Werten. Falls überhaupt, wird heute mit Bedacht bestraft. Sanktionen, zum Beispiel eine Suspendierung vom Unterricht, müssen oft über bürokratische Kanäle genehmigt werden. Das Nachsitzen am Mittwochnachmittag muss mit den Eltern abgesprochen und mit den diversen Freizeitbeschäftigungen des Kindes koordiniert werden. Mit diesen Hindernissen schützt unsere Gesellschaft Kinder vor der Willkür von Autoritätspersonen. Es sind notwendige Veränderungen, aber auch sie werfen die Frage auf: Wird die Autoritätsperson durch den Verzicht auf unmittelbare Sanktionen nicht entmachtet? Die Ablehnung dieser Grundpfeiler eines veralteten Autoritätsverständnisses ist heute eine unbestrittene Tatsache. Und jetzt? Wir wissen, dass antiautoritäre Erziehung ein utopischer Versuch war, Kinder ohne Grenzen und Anforderungen zu erziehen. Die Mittel der traditionellen Autorität sind nicht mehr legitim. Und trotzdem brauchen wir eine Form von Autorität, um unseren pädagogischen Auftrag zu erfüllen. Das Modell der Neuen Autorität beschreibt einen Weg aus diesem Dilemma. Es ermöglicht Erziehenden, ihre Position, ihre Stärke und ihren Einfluss auf eine Art und Weise zu etablieren, die unseren heutigen Haltungen, Normen und Werten hinsichtlich der modernen Erziehung entspricht. Im Folgenden stellen wir die Prinzipien der Neuen Autorität als Alternative zum traditionellen Autoritätsverständnis vor. Präsenz – anstelle von Distanz: Im Verständnis der Neuen Autorität ersetzen entschlossene Präsenz, Anteilnahme und Fürsorge die Distanz. Ein Kind spürt elterliche Präsenz vor allem in schwierigen Situationen; dann, wenn das Verhalten der Eltern ihm folgende Botschaft vermittelt: »Ich bin deine Mutter, dein Vater. Du kannst mir 24

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weder kündigen noch kannst du mich wegschicken. Ich bin hier, und ich bleibe hier!« So spürt das Kind, dass es echte Eltern hat und nicht nur Lieferanten von Geld und Dienstleistungen. Und ebenso wichtig: Der Vater, die Mutter fühlen sich präsent und bedeutungsvoll. Ähnlich funktioniert Präsenz im Sinne der Neuen Autorität für Lehrkräfte. Die Schüler sehen und spüren die physische und mentale Anwesenheit der Lehrkraft, nehmen sie als interessiert wahr, aber auch als wachsam und entschlossen im Umgang mit Problemen in der Klasse. Je präsenter eine Lehrkraft ist, desto weniger können Schüler sie missachten oder ignorieren. Hier bin ich, hier bleibe ich! als Botschaft der Präsenz Eine Lehrerin übernahm vier Monate vor Schuljahresende eine schwierige sechste Klasse. In der ersten Stunde fragten die Schülerinnen und Schüler: »Wie lange bleiben Sie?« Die Lehrerin antwortete: »Bis zu den Sommerferien.« Darauf erwiderten die Anführer der Klasse keck: »Das sagte Ihre Vorgängerin auch.« Es stellte sich heraus, dass die Klasse in einem Schuljahr bereits vier verschiedene Lehrkräfte gehabt hatte. Die Lehrerin wusste zwar nichts von Neuer Autorität und der wichtigen Botschaft der Präsenz, aber sie war wegen eines längeren Auslandaufenthalts in finanzieller Bedrängnis und brauchte den Job. Sie beschied der Klasse: »Ihr könnt euch benehmen wie ihr wollt, aber ich bleibe hier, darauf könnt ihr euch verlassen!« In dieser Ankündigung »Da stehe ich und da bleibe ich – darauf könnt ihr euch verlassen« steckte viel mehr autoritäre Kraft, als sich die Lehrerin bewusst war. Am Ende des Schuljahres nach mehrheitlich guten Wochen der Zusammenarbeit bekannte der auffälligste Schüler der Lehrerin: »Sie hätten auch ein bisschen früher kommen können.« Gerade die verhaltensauffälligen Kinder und Jugendlichen schätzen Verlässlichkeit und diese Form der Autorität. Sie gibt ihnen Sicherheit und Orientierung – wie der sprichwörtliche »Fels in der Brandung«.

Mit welchen gezielten Maßnahmen Lehrkräfte ihre Präsenz verstärken können, erfahren Sie im ▶ Kapitel 2. Traditionelle und Neue Autorität

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Vernetzung – anstelle des Einzelkampfs: Statt des Prinzips einer allein verantwortlichen Autoritätsperson an der Spitze der Hie­ rarchie vertritt die Neue Autorität gegenseitige Unterstützung und Teamarbeit. Botschaften wie »Du tust, was ich sage!« ersetzen Lehrkräfte durch »Wir machen, was wir sagen!«. Das Wir kann sich je nach Kontext auf eine andere Gruppe beziehen, zum Beispiel auf ich und die Klassenlehrerin, ich und deine Eltern, oder wir, das Schulpersonal. Autorität ist nicht mehr allein Sache der einzelnen Lehrkraft. Sie entsteht auch aufgrund der Legitimation durch ihre Rolle, der damit einhergehenden Verantwortung, durch die Zusammenarbeit mit den Eltern, die Unterstützung des Kollegiums und durch gemeinsam getragene Konzepte und Verhaltensvereinbarungen. Selbst die Schülerschaft kann miteinbezogen werden bei der Förderung eines gewaltfreien Schulklimas. Mit dieser Basis gewinnt auch die einzelne Pädagogin an Stärke. Als Vertreterin eines Netzwerks hat sie um vieles mehr Einfluss und Gewicht denn als Einzelperson. Wie der Aufbau dieser Netzwerke gelingt, beschreiben wir in den ▶ Kapiteln 3, 4 und 5. Öffentlichkeit  – statt Verheimlichung: Sie kann als Begleiterscheinung, als bewusste Verstärkung der Vernetzung betrachtet und genutzt werden. Eltern, die mit ihrer Tochter im Konflikt sind, suchen die Eltern der besten Freundin ihrer Tochter auf und besprechen mit ihnen Fragen zur Nutzung des Mobiltelefons, zum Ausgang oder zum Taschengeld. Diese Eltern gewinnen an Stärke. Lehrkräfte in schwierigen Klassensituationen öffnen die Tür und bitten die Kollegin im Nachbarzimmer, dasselbe zu tun, oder sie laden Eltern zu einem Besuch ein. Diese Lehrkräfte sind weniger einsam. Fußballtrainer oder andere für die Familie und das Kind wichtige Bezugspersonen zum Elterngespräch hinzuzubitten, ist unterstützend und stärkt das Vertrauen in die Schule. Das Prinzip der Öffentlichkeit finden Sie in den meisten unserer Beispiele. Beharrlichkeit, Aufschub und Deeskalation – anstelle des Prinzips der unmittelbaren Reaktion: Die Neue Autorität basiert auf Beharrlichkeit und einem langen Atem. Die Zeit wird selbst zu einem Ele26

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ment der Stärke. Befreit von der Pflicht, sofort zu reagieren, gewinnt die Lehrkraft Zeit, ihre Schritte zu planen und Unterstützung zu suchen. Nicht zu vergessen ist die Botschaft an das Kind: »Ich habe es gesehen – ich dulde es nicht – ich werde mir Gedanken machen – ich komme darauf zurück!« Dieses Vorgehen schützt Erziehende nicht nur vor emotionalen und unüberlegten Maßnahmen, sondern hat auch noch andere Vorteile und Wirkungsfelder: • Das Kind oder die Kindergruppe hat Zeit, sich zum Vorfall eigene Gedanken zu machen, ohne dass eine vorschnelle Reaktion der Lehrkraft die Aufmerksamkeit schon auf die Lösung lenkt. • Die Lehrkraft zeigt, dass sie die Sache nicht vergisst und ihr nachgehen wird. Das Prinzip der Beharrlichkeit macht sie zu einer Figur der Kontinuität, die die Vergangenheit mit der Zukunft verbindet. Die Präsenz der Lehrkraft gewinnt an Entschlossenheit, Glaubwürdigkeit und Tiefe. • Das Prinzip der Beharrlichkeit beeinflusst auch die Familie. Plant die Lehrkraft eine Verhaltensveränderung beim Schüler langfristig, werden in der Regel auch die unterstützenden Aktionen der Eltern ausdauernder sein. • Sofortreaktionen schließen nur die unmittelbar Beteiligten mit ein, längerfristig ausgelegtes Vorgehen berücksichtigt auch diejenigen Personen, die für das Kind außerhalb der Unterrichtszeiten verantwortlich sind, zum Beispiel schulische Betreuungspersonen, Tagesmütter oder Sporttrainerinnen. Solche Maßnahmen werden gemeinsam abgesprochen und regelmäßig überprüft. Klassisch ist in der Schweiz das Vorgehen nach einem sogenannten Förderzyklus, welcher die Elemente Schulisches Standortgespräch, Förderplanung, Überprüfung und Neudefinition der Förderziele beinhaltet. Autorität, die auf Sofortreaktionen basiert, existiert nur im Augenblick. Sie wirkt oberflächlich und birgt zudem das Risiko einer ungeeigneten Intervention. Erhält die Lehrkraft in einer Sache oder einem Problem ihre Präsenz über einen längeren Zeitraum aufrecht, Traditionelle und Neue Autorität

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gewinnt sie immer an Stärke. Die Verzögerung betrifft die Maßnahme und nicht die Intervention im Moment, die nötig ist, um zum Beispiel akute Handgreiflichkeiten zu unterbinden. Da braucht es selbstverständlich ein sofortiges Eingreifen, ein Signal, das gewalttätiges Handeln stoppt. Anschließend folgt die Ankündigung: »Ich habe es gesehen, dieses Verhalten dulde ich nicht, ich komme darauf zurück.« Selbstkontrolle – anstelle von Kontrolle und dem Erzwingen von Gehorsam: Neue Autorität setzt auf Selbstkontrolle und die bewusste Verantwortung für die Rolle des Erziehenden. Eine Führungsperson, die Selbstkontrolle übt und Verantwortung übernimmt, achten und respektieren wir. Führungspersonen, die impulsiv, unsicher oder provokativ handeln, begegnen wir weder mit echter Anerkennung noch mit Vertrauen. Will eine Lehrkraft ihre Autorität (wieder-)herstellen, ist Arbeit an der Selbstkontrolle wichtig. Es ist hilfreich für Pädagogen, sich mit ihren Triggerpunkten und Eskalationsfallen vertraut zu machen. Das bedeutet eine bewusste Auseinandersetzung mit der persönlichen Fragestellung: »Was bringt mich aus dem Konzept?« und Nachdenken über mögliche Reaktionen. Das ist im Rahmen eines Coachings oder einer Intervision möglich und hilft, in schwierigen Situationen die Selbstkontrolle zu wahren. Eine Referendarin erzählte uns folgende Geschichte: Strategien auf Vorrat Bei ihrer Prüfungslehrprobe saß ein Junge in der Klasse, dessen Verhalten der Referendarin besondere Mühe bereitete. Im Stuhlkreis erheischte er die Aufmerksamkeit der Klasse, indem er sich immer wieder vom Stuhl fallen ließ. Am Tag vor der Prüfungsstunde wandte sich die Studentin an ihre Ausbildungslehrerin und fragte sie um Rat zum Umgang mit dem Jungen. Schließlich ging es um ihr Examen. Die Praktikumslehrerin wies die angehende Lehrerin an: »Denk daran, du hast fünf Pfeile im Köcher. Alle fünf Pfeile müssen ins Schwarze treffen, falls nötig. Überlege dir also fünf Möglichkeiten, wie du reagieren wirst, wenn der Knabe während deiner Prüfung vom Stuhl fällt und die anderen Kinder durch sein Verhalten ablenkt.« Die Referendarin tat wie

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geheißen und trat gewappnet zu ihrer Prüfung an. Zu ihrem Erstaunen fiel der Knabe nicht ein einziges Mal vom Stuhl, auch nicht in den folgenden Stunden, die sie in der Klasse unterrichtete.

Mit einer guten Vorbereitung beugen Lehrkräfte unliebsamen Überraschungen vor. Sie strahlen eine Stärke aus, die bereits präventiv wirkt. Tappen Lehrkräfte nicht in die Fallen provozierender Schüler, sondern bleiben dank Selbstkontrolle erfolgreich im Gleichgewicht – und damit souverän –, gelingt es ihnen besser, ihre Führungsrolle wahrzunehmen. Grundlage der Selbstkontrolle ist die Erkenntnis: Du kannst das Verhalten des Kindes nicht kontrollieren, nur dein eigenes. Der unter dem Stichwort »Vernetzung« formulierte Beispielsatz »Wir machen, was wir sagen« hat dieses Prinzip bereits vorausgenommen. Vielleicht wirkt die Umkehr unseres ursprünglichen Autoritätsverständnisses im ersten Moment anstrengend oder ernüchternd, bei genauerer Betrachtung aber weist sie den Weg hinaus aus der oftmals erlebten Ohnmacht von Erziehungspersonen. Diese Haltung macht sie nämlich unabhängig vom Verhalten eines Kindes oder eines Jugendlichen, und sie können frei über ihre Reaktion entscheiden. Im Laufe unserer Arbeit entstanden vier Kernsätze für eine gute Selbstkontrolle: • Man muss das Eisen schmieden, wenn es kalt ist! Mit diesem Leitsatz können Eltern und Lehrer verschärfende Reaktionen dort vermeiden, wo ihre Sofortreaktion vermutlich in eine Eskalation führen würde. • Ich bin nicht allein, ich kann mir Unterstützung holen. Dieses Wissen verleiht eine innere Stärke, die für das Kind und die Klasse spürbar ist. • Man muss nicht gewinnen, sondern nur beharrlich sein! Mit diesem Leitsatz beugen Erziehende Machtkämpfen mit dem Kind vor, aus denen beide nur als Verlierer hervorgehen können. • Fehler sind unvermeidbar, aber sie können korrigiert werden! Wir werden noch aufzeigen, dass die Bereitschaft, Fehler zuzugeben Traditionelle und Neue Autorität

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und zu korrigieren, neue Handlungsmöglichkeiten eröffnet. Niemand muss auf fehlerhaften Handlungen oder Einschätzungen beharren oder seine Meinung stur vertreten. Selbstkontrolle vermeidet überstürztes Verhalten und wirkt deeskalierend. So bleiben wir souverän. Für das Konzept der Neuen Autorität und jede Führungsposition ist Selbstkontrolle heutzutage unerlässlich. Widerstand und Wiedergutmachung – anstelle von Strafen: Schulische Interventionen haben immer einen geregelten Schulalltag und einen geschützten Rahmen für ein angstfreies Lernen zum Ziel. Unterrichtsstörungen oder Gewalt unter den Schülern soll deshalb entschieden nachgegangen werden. Aber anstelle von Strafen stellt gewaltfreier Widerstand das Lernen in den Fokus. Die Schule ist nicht die Justiz, sie hat einen Erziehungsauftrag. Diesen gilt es auch gegenüber Störenfrieden in der Schülerschaft zu erfüllen. Mit dem Prinzip der Wiedergutmachung erfahren Kinder und Jugendliche, dass sie zu ihren Fehlern stehen können, dass es Möglichkeiten gibt, diese wieder in Ordnung zu bringen und somit wieder Teil der Gemeinschaft zu werden. Regelübertretungen sind darum immer auch als Lernfeld zu betrachten. Mehr zu diesem Thema erfahren Sie im ▶ Kapitel 7. Im Gegensatz zum herkömmlichen Autoritätsverständnis von Distanz, Hierarchie und unmittelbarer Bestrafung wirken die Elemente der Neuen Autorität beziehungsstärkend und über den Unterricht hinaus. Verstärkte Präsenz verschafft der Lehrkraft über den direkten Kontakt hinaus Einfluss auf die Lernenden. Präsenz ist mehr als Anwesenheit Sandro hatte ein hohes Gewaltpotenzial. In der Primarstufe galt er als Schläger. Seinen Vater hatte er seit Jahren nicht mehr gesehen, seine Mutter arbeitete viel, hatte einen neuen Freund und nahm sich wenig Zeit für den Jungen. Dreimal die Woche trainierte Sandro in einem Kampfsportzentrum. Seine Sekundarschullehrerin zeichnete sich durch

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eine große Beziehungsfähigkeit und einen klaren Führungsstil aus. In der achten Klasse nach dem Sportunterricht geriet Sandro heftig in Streit mit einem Mitschüler. Er wurde dabei im Gesicht so stark verletzt, dass die Wunde genäht werden musste. Bevor er aber einen Arzt aufsuchte, ging er zu seiner Klassenlehrerin. Sie hatte ihr Zimmer im dritten Stock gleich nebenan. Sandro ging also blutend über den Pausenplatz, all die Treppen hoch, um der Lehrerin stolz mitzuteilen: »Ich habe nicht zurückgeschlagen! Ich wusste, dass Sie das nicht gutheißen würden.«

Ein Jugendlicher mit hohem Aggressionspotenzial wird enorm provoziert. Trotzdem schlägt er nicht zurück. Die virtuelle Präsenz seiner Lehrerin war selbst in einem Moment höchster Emotionalität so groß, dass er sein Verhalten in die Richtung steuern konnte, die seine Lehrerin von ihm erwartete. Es war, als säße die Lehrerin im Kopf des Jungen. Diese Wirkung zeigt eines der wichtigsten Ziele der Präsenz auf. Forschungsergebnisse aus Studien über Kinder mit hohem Risikopotenzial belegen, dass elterliche Präsenz verinnerlicht wird und das Kind auch in höchst kritischen Situationen schützt (Omer, 2015/2016). Dieselbe Wirkung erzielen Lehrkräfte mit Präsenz. Präsenz hat viel mit Beziehung zu tun. Im schulischen Kontext bedeutet dies neben der Zuwendung auch Führung; also das Vertreten von Werten, Aufzeigen von Grenzen, Einfordern von Leistungen, Erteilen von Kritik, Ermutigen, Unterstützen und Raumgeben für Entwicklung. Die außerordentliche Leistung von Sandro erklärt die aktuelle Hirnforschung so: »Um Leistung zu erbringen, brauchen wir Motivation. Die dazu nötigen Botenstoffe im Gehirn werden ausgeschüttet durch positive zwischenmenschliche Beziehungserfahrungen. Wir sind – aus neurobiologischer Sicht – auf soziale Resonanz und Kooperation angelegte Wesen und streben nach Anerkennung, Wertschätzung, Zuwendung und Zuneigung« (Bauer, 2007, S. 93 f.). Traditionelle und Neue Autorität

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Es ist verständlich, dass es Lehrkräften schwerfällt, eine positive Beziehung zu herausfordernden Schülern aufrechtzuerhalten. Gerade diese Schülerinnen haben jedoch sehr viel Nähe nötig. Auf Distanzierung oder gar Ausschluss reagieren sie mit noch heftigeren Provokationen. Sehr gute Erfahrungen machen wir, wenn die Schule bewusst und gezielt Ressourcen zur Verfügung stellt, um die Beziehung zwischen Schülerin und Lehrkraft zu stärken. Schulleitungen, die über flexibel einsetzbare Ressourcen verfügen, können zum Beispiel eine wöchentliche Einzelförder- oder Coaching-Stunde für die Schülerin bei der Klassenlehrkraft einrichten. Vordergründig dient die Stunde dazu, Wissenslücken aufzuarbeiten oder die Arbeitsorganisation zu optimieren. Ihr wahrer Wert besteht jedoch darin, die Beziehung zwischen Schülerin und Lehrkraft zu stärken und dem Kind eine Stunde mit ungeteilter Aufmerksamkeit zu gewähren. Auch die Lehrkraft wird das Kind besser kennenlernen und Qualitäten sowie liebenswerte Seiten entdecken, die sie nicht wahrnehmen kann, wenn sie sich gleichzeitig um zwanzig andere Schülerinnen und Schüler kümmern muss. Beziehungsstärkend wirken die Elemente der Neuen Autorität auch in Bezug auf das Umfeld des Kindes. Gesteigerte Selbstkontrolle reduziert Konflikte und Eskalationen sowohl mit den Schülern als auch mit Eltern. Genauso wie impulsives Handeln ähnlich impulsive Reaktionen beim Gegenüber auslöst, wird deeskalierendes Verhalten das Gegenüber zu gemäßigteren Reaktionen veranlassen. Lösen Lehrkräfte Konflikte mit Selbstkontrolle und Respekt für ihr Gegenüber, hat dies eine positive Wirkung auf ihre Beziehung und Zusammenarbeit mit den Eltern. Auch Eltern fühlen sich so weniger allein gelassen und besser unterstützt angesichts der Herausforderungen, die das Kind an sie stellt. Sie sind eher bereit, weiterführende Angebote wie zum Beispiel Erziehungsberatungen oder Ähnliches anzunehmen. Der Verhaltensbogen als konkretes Umsetzungsbeispiel:

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Ein neues Autoritätsverständnis

So ist es heute in der Schule gelaufen: , oder Schüler/in

Klassenlehrkraft

Fachlehrkraft

Montag Dienstag Mittwoch Donnerstag Freitag Jede Woche wählst du einen der drei Beobachtungspunkte aus und wir schauen eine Woche später, wie es geklappt hat.

Ich spreche so, dass ich niemanden beleidige oder verletze. Ich verhalte mich im Unterricht so, dass ich nicht störe. Es gibt keine Klagen anderer Kinder über meine Sprache oder Gewalt. Unterschrift: Abbildung 2: Verhaltensbogen

In diesem Beispiel wählt das Kind immer am Montagabend im Kurzgespräch mit der Klassenlehrerin eines der drei Ziele aus. Täglich schätzt sich das Kind selbst ein und erhält ein Feedback von der Klassenlehrkraft, einer Fachlehrkraft oder der zuständigen schulischen Betreuungsperson. Zu Beginn lohnt es sich, wenn alle Beteiligten (Lehrkräfte, Eltern, Betreuungspersonen, eventuell die Schulleitung oder weitere Bezugspersonen des Kindes) zweimal pro Halbjahr zusammenkommen und die Zielerreichung gemeinsam auswerten. Die Schulleitung oder die Klassenlehrkraft beurteilen das Ergebnis zuerst mit dem Kind und bereiten das Gespräch mit ihm zusammen vor. Das Kind kann die Auswertung den Erwachsenen im Gespräch selbst präsentieren. Die Frequenz der Gespräche wird der Situation angepasst, ebenso die Ziele. Dieses langfristige Vorgehen schafft Kontinuität. Das Kind weiß, dass sich die Erziehenden auch künftig um sein Verhalten kümmern. Wechselt die Klassenlehrkraft, kann der neue Lehrer zum Beispiel zum letzten Gespräch der abgebenden Klassenlehrerin beigezogen werden. Traditionelle und Neue Autorität

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ZUSAMMENFASSUNG Begriffe wie blinder Gehorsam, konsequente Unterordnung und mechanisch verhängte Strafen haben ausgedient. Ebenso wenig Erfolg verbucht die antiautoritäre Erziehungsphilosophie mit dem Ideal totaler Freiheit des Kindes. Dieses Buch stärkt Lehrkräfte in ihrer Arbeit und zeigt mit den Prinzipien der Neuen Autorität einen Weg aus dem Dilemma, das sich angesichts eines nicht mehr legitimen Autoritätsverständnisses ergibt. Die Neue Autorität lässt Raum für Eigenverantwortung, Urteilsund Kritikfähigkeit von Kindern und Jugendlichen. Eine gute Beziehung intensiviert die Zusammenarbeit aller Beteiligten. Gleichzeitig unterstreicht der Begriff Neue Autorität die Legitimation, respektive die Notwendigkeit einer autoritativen Haltung, um in der Rolle als Pädagoge die Aufsichtspflicht, die Fürsorge und die Führungsverantwortung sowohl für das einzelne Kind als auch für Kindergruppen wahrnehmen zu können. Die Elemente der Neuen Autorität im Überblick: Präsenz von Erziehungspersonen ist mehr als rein physische Anwesenheit. Die Autoritätsperson ist in ihrer Funktion und Rolle auch mental präsent; eine erwachsene Person, die ihrer Sorge- und Aufsichtspflicht für das Kind umfassend nachkommt. Widerstand leisten Erziehende in Krisensituationen. Sie nehmen destruktive, negative Verhaltensweisen wahr, benennen sie, stellen sich ihnen entgegen und reagieren darauf mit Präsenz, Entschlossenheit und Beharrlichkeit. Selbstkontrolle ist das zentrale Element, denn Kinder und Jugendliche werden gegen die Ankündigung protestieren. Im Mittelpunkt steht nicht die Aktion des Kindes, sondern die Handlung der Autoritätsperson. Wichtig ist dabei die Verinnerlichung folgender Erkenntnis: Ich kann die Reaktion, Gefühle und Gedanken des Kindes nicht bestimmen, nur meine eigenen. Aufschub und Deeskalation stehen in engem Zusammenhang mit der Selbstkontrolle. Sie stehen für eine überlegte und geplante Intervention: Das Eisen schmieden, wenn es kalt ist. Damit eröffnet sich 34

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die Möglichkeit, später auf die Forderung zurückzukommen, ganz ohne Drohungen oder Belehrungen. Beharrlichkeit bedeutet, ungelösten Situationen in Ruhe nachzugehen und den Mut zur offenen Positionierung zu zeigen. Beharrlichkeit ermöglicht eine allmähliche Veränderung des negativen Verhaltens ohne Gesichtsverlust. Vernetzung erleichtert das beharrliche Dranbleiben. Die Erwach­ senen handeln als Repräsentanten eines Netzwerks und vertreten gemeinsam dessen Werte. In der Schule Tätige holen sich Rat und Unterstützung im Team und fördern die Zusammenarbeit mit den Eltern. Öffentlichkeit heißt, die gemeinsame Haltung transparent zu machen und unter Erwachsenen kooperieren. Je mehr Personen von einem unerwünschten Verhalten wissen, desto mehr gemeinsame Präsenz entsteht, und entsprechend geringer ist die Wahrscheinlichkeit, dass das unerwünschte Verhalten des Kindes wieder auftritt. Andere Kinder fühlen sich sicherer, wenn sie merken, dass destruktiven Verhaltensweisen entschieden nachgegangen wird. Wiedergutmachung steht am Schluss des Prozesses. Sie verwandelt die Krise in eine Lernerfahrung. Dabei ist es unerlässlich, dass die Täterin offiziell wieder in die Gemeinschaft aufgenommen und ein Zeichen dafür gesetzt wird, dass der Fall nun abgeschlossen ist. Neue Autorität ist beziehungsfördernd. Präsenz als pädagogische Haltung findet sich in allen Elementen des Konzepts. Sie ist sozusagen der Kern dieses Ansatzes. Darum widmen wir ihr das nächste Kapitel.

Zusammenfassung

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KAPITEL 2: Präsenz Unter Mitarbeit von Vered Sutker

Pädagogische Präsenz findet auf drei Ebenen statt: auf der Ebene der einzelnen Schülerin, der Klasse und der Schule. Eine Lehrkraft, die auf allen Ebenen und somit an verschiedenen Orten in der Schule präsent ist, gewinnt in den Augen der Schülerschaft an Bedeutung. Sie verstärkt die Präsenz und somit die Autorität des ganzen Schulteams. Das gemeinsame Auftreten und Einfordern der schuleigenen Regeln und Werte macht es für die einzelnen Lehrkräfte einfacher, im eigenen Unterricht auf den gewünschten Verhaltensweisen zu bestehen. Die gemeinsame, verstärkte Präsenz wirkt sich zudem positiv auf die Sicherheit der ganzen Schule aus. Zum Beispiel entstehen weniger Konflikte im Anschluss an eine Pause, die für Ablenkung im Unterricht sorgen und die Aufgabe der Lehrkraft erschweren. Intervenieren sollen an Schulen Tätige bei Regelübertretungen aber nicht nur während ihres Aufsichtsdienstes. Jeder Gang über das Schulgelände dient ihnen und dem Team als Chance, Präsenz zu zeigen. Einfacher wird dies, wenn der Lehrer zumindest eine minimale Beziehung zur Schülerschaft hat. Konkret: wenn die Schülerinnen ihn als Mitglied des Schulteams erkennen. Besser ist es, wenn sie auch seinen Namen und seine Funktion kennen. In Schaukästen oder auf der schuleigenen Webseite können alle an der Schule Tätigen vorgestellt werden. Bestenfalls fand schon eine Begegnung zwischen Lehrer und Schüler in einem positiven Kontext statt, bei einem klassen- oder stufenübergreifenden Anlass zum Beispiel. Gerade in großen Schulen mit verschiedenen Abteilungen ist der Präsenzauftrag aufgrund der Anonymität eine besondere Herausforderung. Präsenz

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Abhilfe schafft zum Beispiel ein Namensschild oder sonst ein Erkennungszeichen. Angenommen, eine Schule veranstaltet keine gemeinschaftsbildenden Feste, ihr Team trägt kein Erkennungszeichen, und die Mitarbeitenden stellen sich nicht auf einem Fotoportal vor: Auch dann können Lehrkräfte, Schritt für Schritt, aus eigener Kraft dafür sorgen, dass sie von der Schülerschaft respektiert und als präsent wahrgenommen werden. Ein Lehrer erzählte uns seine persönliche Erfolgsgeschichte: Die weggeworfene PET-Flasche Auf dem Weg ins Schulsekretariat wies der Lehrer einen Schüler an, die achtlos weggeworfene PET-Flasche aufzuheben und richtig zu entsorgen. Der Junge war in einer Gruppe von etwa fünf Jugendlichen unterwegs. Er missachtete den Hinweis, machte einen flotten Spruch und ging unter dem Gelächter der Gruppe weiter. Der Lehrer erzählte, wie er in diesem Augenblick Wut in sich aufsteigen spürte. Es war vor allem die Respektlosigkeit des jungen Mannes, die ein Ohnmachtsgefühl in ihm auslöste und ihm zu schaffen machte. Er entschied, die Sache nicht auf sich beruhen zu lassen. Im Schulsekretariat fand er rasch heraus, welcher Klasse der Jugendliche angehörte. Er informierte die zuständige Kollegin über den Vorfall und bat sie um eine Unter­ redung. Die beiden fassten folgenden Beschluss: Der Lehrer würde in einer Stunde der Klassenlehrerin vorbeikommen und den Jungen zu einem Gespräch abholen. So bekam die ganze Klasse mit, dass der Lehrer der Sache nachging und auch die Klassenlehrerin im Bild war. Im Gespräch erläuterte der Lehrer dem Jugendlichen, dass er als Mitglied des Schulteams für ein sauberes Schulareal mitverantwortlich sei. Auch sei er der Meinung, die Schülerinnen und Schüler stünden mit in der Pflicht, schließlich sei die Schule auch ihr Arbeitsplatz und es seien genügend Entsorgungsstellen da. Im Einzelgespräch war der Jugendliche ganz einsichtig und zahm und stimmte dem Lehrer zu. Er gestand, die Zurechtweisung sei ihm peinlich gewesen, insbesondere vor einem Mädchen, das ihm sehr gefalle. Es entspann sich ein Gespräch über

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Präsenz

den Umgang mit Frauen. Schließlich trennten sich die beiden in gutem Einvernehmen. Der Lehrer kündigte an, die Klassenlehrerin darüber zu informieren und dass die Sache hiermit für ihn abgeschlossen sei. Gut möglich, dass der Jugendliche seiner Clique erzählte, dieser Lehrer sei gar kein so übler Kerl. Jedenfalls beschrieb der Lehrer spätere Begegnungen mit dem Jungen als respektvoll und entspannt.

Das Beispiel zeigt, wie wirkungsvoll die vor der Klasse öffentlich gemachte Vernetzung zwischen den beiden Lehrkräften zusammen mit den Elementen Beharrlichkeit, Selbstkontrolle und Deeskalation ist. Kinder – und übrigens auch Erwachsene – erwarten von einer Führungsperson, dass sie sie schützen kann. Ist die Führungsperson dazu nicht in der Lage, büßt sie an Ansehen ein, ihre Autorität nimmt Schaden. Studien zeigen, dass pädagogische Präsenz in allen Innen- und Außenräumen einer Schule eng mit einem erhöhten Sicherheitsgefühl sowie einer Abnahme von Gewalt und Vandalismus einhergeht. Eine Lehrkraft, die auch die verborgenen Orte auf dem Schulareal erreicht – d. h. jene Orte, die informell zum Reich der Schüler gehören –, wird nicht ignoriert. Die vier Wirkungsbereiche pädagogischer Präsenz

–– Körperliche Präsenz: Sie ist die grundlegende Voraussetzung. Anwesenheit manifestiert sich jedoch nicht nur als physische Präsenz im Unterricht, sondern auch im Wahrnehmen von Verpflichtungen an jedem Ort in der Schule, zum Beispiel während der Pausenaufsicht. –– Emotionale Präsenz: Sie bedeutet, dass die Erwachsenen sich für die Ereignisse auf dem Pausenhof oder in der Klasse interessieren und daran Anteil nehmen. Sie drückt Nähe aus und weist gleichzeitig auf Grenzen hin. –– Präsenz im Handeln: Emotionale Präsenz ist die Voraussetzung für Handeln. Die Lehrkraft bemerkt, dass ein Kind traurig oder aggressiv ist oder dass es die Schulregeln verletzt. Präsenz

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Der nächste Schritt ist die Handlung. Diese folgt unabhängig davon, ob das Kind oder die Kindergruppe zur eigenen Klasse gehört oder nicht. Eine Lehrkraft, die sich diese Haltung zu eigen gemacht hat, fühlt sich über ihr Kerngeschäft hinaus für alle Bereiche der Schule zuständig und agiert als Vertreterin des Schulteams. –– Interpersonelle Präsenz: Sie verwandelt das Ich bin präsent in ein vielstimmiges Wir sind präsent. Ein gemeinsames Regelwerk, ein gemeinsames Leitbild und auch Beratung im Kollegium stärken die Lehrkräfte in ihrem Handeln.

2.1  Präsenz in der Klasse Die Präsenz einer Lehrkraft in der Klasse hängt mit ihrer Auftrittskompetenz und ihrem Interesse an den Schülerinnen zusammen; dieses geht über die Stoffvermittlung hinaus. Voraussetzung ist eine gute Unterrichtsplanung und -organisation. Eine präsente Lehrkraft hat die Muße, zwischen den Schülerpulten umherzugehen, zu überprüfen, ob die Lernmaterialien bereitliegen, auf einen Schüler zuzugehen, der stört oder der Unterstützung braucht. Der amerikanische Forscher Fredric Jones (2000) wies in seinen Studien nach, dass der Lärmpegel in einer Schulklasse ganz direkt an die physische Präsenz der Lehrkraft gekoppelt ist. Sitzt der Lehrer hinter seinem Pult, so ist der Lärmpegel maximal hoch; geht der Lehrer zwischen den Schülertischen umher, sinkt der Lärmpegel auf ein Minimum. Jones misst einem zuvor wenig beachteten Detail große Bedeutung bei: den Abständen zwischen den Arbeitsplätzen der Schüler, sowohl in der Längs- als auch in der Querausrichtung. Sind sie so groß, dass die Lehrkraft sich ungehindert zwischen den Reihen bewegen kann, wird der Lärmpegel weniger hoch sein. Die Schüler wissen, dass die Lehrkraft mit ein paar wenigen Schritten direkt neben ihnen steht. 40

Präsenz

Ob stille Einzelarbeiten, Prüfungen oder Gruppenarbeiten, die Lehrkraft verbindet Aufsicht mit Unterstützung, wenn sie zwischen den Tischen umhergeht. Dem ängstlichen Schüler flüstert sie ein paar ermutigende Worte zu, einer Gruppe, die nicht weiterweiß, stellt sie eine gezielte Frage. Eine Lehrkraft in Bewegung wirkt wach, voller Energie und entschlossen. Das Umhergehen in der Klasse macht sie zu so etwas wie einer Führungsfigur innerhalb der eigenen Reihen statt einer distanzierten und unbeteiligten Person. Physische Präsenz im Klassenzimmer ist ein starkes Mittel zur Intensivierung der pädagogischen Autorität, sowohl aus der erzieherischen als auch aus der didaktischen Perspektive. Jones beschreibt ausführlich, wie Lehrkräfte sich Achtung verschaffen, indem sie klare Grenzen setzen und störenden Schülerinnen gegenüber verstärkt Präsenz zeigen. Gemäß Jones sollte sich jede Lehrkraft die Zeit nehmen, sich darüber bewusst zu werden, welche Störungen für sie eine Grenzüberschreitung darstellen. So fällt es ihr leicht zu entscheiden, wann sie auf eine Störung reagiert. Jones bezeichnet diese Grenze als rote Linie. Wird sie überschritten, ist die Qualität des Unterrichts beeinträchtigt und die Position der Lehrkraft infrage gestellt. Jetzt muss der Unterricht unterbrochen werden. Zeigt die Lehrkraft hier Präsenz und tritt Unterrichtsstörungen entschieden entgegen, stärkt sie ihre Stellung und wird schnell zum Unterricht zurückkehren können. Jones zeigt auf, dass Lehrkräfte, die ihre roten Linien definieren und im oben beschriebenen Sinn präsent sind, nicht nur Störungen reduzieren, sondern die Unterrichtszeit gezielter nutzen. Die zeitliche Investition in den Aufbau von Präsenz zahlt sich also für den Lehrer in Form von mehr effektiver Unterrichtszeit aus. Bereits der Prozess zur Bestimmung von roten Linien ist ein Grundstein der Autorität. In unserer Arbeit stellten wir fest, dass Eltern allein mit Diskussionen über rote Linien ein Stück ihrer angeschlagenen Autorität wiedergewannen. Sind die roten Linien festgelegt, teilen sie Eltern ihren Kindern und Lehrerinnen ihren Schülern klar und deutlich mit. Präsenz in der Klasse

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Fokussierte Präsenz nach Fredric Jones Für rote Linien gibt es keine universellen Regeln. Wo eine Lehrerin diese zieht, hängt von ihrem Charakter und ihren Ansichten ab. Leise Gespräche mögen im einen Fall stören, im anderen nicht. Die Linie ist vielleicht überschritten, wenn Kinder aufstehen und im Zimmer umhergehen. Oder die Grenze liegt dort, wo andere in ihrem Lernen gestört werden. Wo eine Lehrkraft die roten Linien zieht, ist weniger wichtig als dass sie sie definiert, kommuniziert und einfordert. Dazu eignet sich die ebenfalls von Jones beschriebene fokussierte Präsenz: Überschreitet eine Schülerin eine rote Linie, unterbricht die Lehrkraft den Unterricht, wendet sich mit dem ganzen Körper der Schülerin zu und nennt deren Namen. Die Lehrkraft bleibt an ihrem Platz stehen, schaut die Schülerin ruhig an und wartet, ohne eine Miene zu verziehen, bis diese sich wieder ihrer Aufgabe widmet. Die Lehrkraft bleibt in dieser Haltung etwa zwanzig Sekunden lang stehen. Die Bereitschaft, so lange ruhig abzuwarten, vermittelt entschlossene Präsenz. Hört die Schülerin nicht auf zu stören oder gibt eine kecke Antwort, verschärft die Lehrkraft die Intervention dadurch, dass sie sich der Schülerin langsam nähert und weitere zwanzig Sekunden lang ruhig neben ihr stehen bleibt. Die Körpersprache der Lehrkraft vermittelt die Botschaft: »Ich bin hier, und ich bleibe hier!« Mit einer Handbewegung kann sie der Schülerin signa­lisieren, dass sie sich wieder auf ihre Aufgabe konzentrieren soll. Kommt die Schülerin dieser Aufforderung nach, bleibt die Lehrkraft noch einige Sekunden lang neben ihr stehen und fährt dann mit dem Unterricht fort. In den nächsten Minuten wendet sich die Lehrkraft immer mal wieder mit dem ganzen Körper der Schülerin zu. Sie signalisiert damit die Ernsthaftigkeit der Intervention und macht sie nachhaltig. Ist das Ergebnis noch nicht zufriedenstellend, intensiviert die Lehrkraft ihre Intervention: Sie nähert sich der Schülerin erneut, diesmal mit einem Notizblock in der Hand. Darauf schreibt sie den Namen der Schülerin. Als Alternative kann sie auch einen Warnzettel auf das Schülerpult kleben. Wiederholt sich die Störung trotzdem, fordert die Lehrkraft die Schülerin am Ende des Unter42

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richts auf, im Klassenzimmer zu bleiben. Am besten stellt sich die Lehrkraft dazu am Ende des Unterrichts an die Tür und spricht die Schülerin beim Hinausgehen an. Sie positioniert sich damit als Herr im eigenen Haus, der die Verhaltensregeln in der Klasse bestimmt. Diese Vorgehensweise und die Botschaft: »Ich bin hier und bleibe hier!« stärken ihre Autorität gegenüber der gesamten Klasse. Physische Präsenz ist wirksam und eignet sich sehr gut, um Kindern aller Altersgruppen Grenzen zu setzen. Erfahrungen aus Grundund Sekundarschulen bestätigen das. Die Lehrkraft bedeutet dem Schüler, dass sie weitere Schritte unternehmen werde, falls sich sein Verhalten nicht bessere. Damit deutet sie an, dass sie bereit ist, andere Instanzen innerhalb der Schule oder auch die Eltern einzubeziehen. Tatsächlich kann ein vernünftiges Gespräch mit den Eltern oder deren Besuch im Unterricht die Präsenz der Lehrerin unterstützen. Auf diese Form der Intervention kommen wir später zurück. Hausarbeiten Sie sind ein Thema, das immer wieder Anlass zu Diskussionen gibt. Mit einer regelmäßigen Überprüfung der Hausaufgaben tun sich viele Lehrkräfte schwer. Im Kontext der Neuen Autorität leiden Unterrichtsqualität und Ansehen der Lehrkraft, wenn sie Hausaufgaben erteilt, aber nicht kontrolliert. Werden die Hausaufgaben nicht überprüft, entsteht der Eindruck fehlender Aufsicht und fehlenden Interesses an der Pflichterfüllung der Schüler. Wir stellen eine einfache Art der Erstüberprüfung von Hausarbeiten vor. Routinemäßig ausgeführt, erleben Schüler Präsenz und Aufsicht aufgrund der Regelmäßigkeit. Hausarbeiten zügig kontrollieren Die Schüler sind angewiesen, immer oben auf ihrem Blatt das Datum zu notieren und die zu lösenden Fragen bzw. Probleme sauber und übersichtlich darzustellen. Bei Unterrichtbeginn legen die Schüler ihre Hefte offen auf den Tisch, sodass die letzten Hausaufgaben auf einen Blick zu sehen sind. Ist die Klasse mit einem Auftrag beschäftigt, geht

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die Lehrkraft durch die Reihen und schaut sich die Schulhefte an, wobei sie die sichtbare Qualität prüft. Im Anschluss an den Gang durch die Klasse bittet die Lehrkraft eine Schülerin darum, ihre Lösung an die Wandtafel zu schreiben. Damit nimmt sie die Hausarbeit ernst, ohne unverhältnismäßig viel Zeit für Korrekturen aufwenden zu müssen. Die Schüler fühlen sich gewürdigt, da die Lehrkraft die geleistete Arbeit anerkennt. Diese wiederum stärkt ihre Position, indem sie die von ihr gestellte Aufgabe selbst ernst nimmt.

Die Führung in der Klasse etablieren Es empfiehlt sich, bereits zu Schuljahresbeginn ganz bewusst pädagogische Präsenz und damit Führung in der Klasse zu etablieren. Lehrkräfte, die ihr Klassenzimmer2 vor dem ersten Schultag vorbereiten, ihre Schülerinnen erwarten und beim Eintreten zum neuen Schuljahr begrüßen, vermitteln die Botschaft: Willkommen in meiner Klasse! Indem die Lehrkraft die Sitzordnung bestimmt, setzt sie ein erstes Signal dafür, wer in diesem Zimmer die Führung innehat. Ein noch deutlicheres Zeichen setzt sie, wenn sie zu Beginn der ersten Stunde jede Schülerin und jeden Schüler an der Tür begrüßt und zum vorgesehenen Platz begleitet. Auf den Pulten stehen Namensschilder, und die Lehrkraft hat eine Übersicht über die Sitzordnung in der Hand. Sie steckt symbolisch ihr Territorium ab. Die Lehrkraft gibt den Schülerinnen Orientierung und festigt ihre Führungsrolle, wenn sie nun ihre Erwartungen an die Klasse und deren Verpflichtungen formuliert. Arbeitsabläufe, Verhaltensregeln, Umgang mit unentschuldigten Fehlzeiten, Verspätungen, nicht erledigte Hausarbeiten und Störungen im Unterricht – die Schüler erfahren genau, woran sie sind. Jeder erhält ein Blatt mit den Regeln

2 Die im ersten Abschnitt formulierte Präsenzmethode funktioniert nur in Schulsystemen, in denen die Lehrkräfte über ein eigenes Schulzimmer verfügen und die Schüler/-innen bei Bedarf das Zimmer wechseln.

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und heftet dieses auf die Vorderseite seines Schulheftes oder Lernjournals. Pädagogische Präsenz erstreckt sich auch auf Aktivitäten außerhalb des Klassenzimmers, zum Beispiel sich auf einer Klassenfahrt geordnet, geräuscharm und höflich zu verhalten. Schon die Kleinsten im Kindergarten üben als Klasse geordnet in einen Bus einzusteigen. Die Schülerinnen trainieren im Unterricht, in welcher Reihenfolge sie in den Bus einsteigen werden, indem jeder Schüler beim simulierten Einsteigen den nächsten ankündigt. Größere Schülerinnen ersetzen das laute Ankündigen nach und nach durch Blickkontakte und lassen auch diese bald einmal weg, weil die Klasse die Reihenfolge kennt. Kindergarten- oder Unterstufenklassen in Zweierreihen sind ein vertrautes Bild. Allerdings wird oftmals vergessen, wie viel Übung hinter dem geordneten Ausflug der Kleinsten steckt. Auch mit höheren Klassen können Abläufe trainiert und Rituale bewusst eingesetzt werden. Eine führungsstarke Lehrkraft nimmt das so typische Chaos auf Ausflügen nicht einfach in Kauf. Sie überlegt sich im Voraus, wo sie auf neuralgische Punkte treffen wird, informiert die Klasse darüber und übt ein geordnetes Auftreten der Gruppe, ohne Drängeln und Schubsen. Pädagogische Präsenz fördert so auch den Zusammenhalt der Klasse. Pädagogische Präsenz beruht auf Nähe und Grenzen. In den Beispielen physischer Präsenz nähert sich die Lehrkraft dem Schüler auf eine semi-ritualisierte Art, wenn sie langsam auf den Schüler zugeht und sich für eine begrenzte Zeit ruhig neben ihn stellt. Zuvor hat sie aufgezeigt, wo für sie die Grenzen des Tolerierbaren sind. Lehrkräfte, die professionell Nähe zulassen und die Beziehung zu ihren Schülern bewusst gestalten, sind besser in der Lage, Grenzen zu setzen und unerwünschte Formen von Nähe aufzuzeigen. Jugendliche haben ein Faible dafür, Grenzen erwachsener Bezugspersonen immer wieder auszuloten, vor allem wenn sie im Verhalten der Lehrkraft eine Verunsicherung orten.

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Wie heißen Sie mit Vornamen? Nach seinem ersten Praktikumstag wurde der angehende Junglehrer von einer Schülerin der neunten Klasse angesprochen: »Guten Tag, ich bin die Sarah. Und wie heißen Sie mit Vornamen?« Wie soll der Student auf diese offensive Kontaktaufnahme mit dem Anklang der Grenzüberschreitung reagieren? Günstig wäre eine Antwort, die sowohl auf die Frage eingeht als auch die Rollenverteilung klarstellt, wie zum Beispiel: »Sarah, es freut mich, dich kennenzulernen. Ich heiße Jörg, für dich bin ich aber Herr Hartmann.« Nähe und Grenzen sind eng miteinander verbunden. Der Umgang damit muss und kann geübt werden. Kitakinder lernen persönliche Grenzen respektieren In der ersten Kitawoche machte die Erzieherin eine spielerische Übung mit den Kindern: Sie zog einen Kreis von ca. einem Meter Durchmesser um sich herum. Die Kinder bekamen Kreiden und zeichneten ebenfalls Kreise um sich herum. Dafür mussten sie etwas auseinanderrücken und ihren Sitzkreis erweitern. Die Erzieherin erklärte: »Mein Kreis ist mein Zuhause, und eure Kreise sind euer Zuhause. Bei euch zu Hause muss man sicher anklopfen, um eingelassen zu werden. So ist es auch bei uns. Um den Kreis eines anderen Kindes zu betreten, zum Beispiel um einander berühren zu dürfen, müsst ihr erst anklopfen und um Erlaubnis bitten. Ich habe für jedes von euch ein kleines Geschenk mitgebracht. Ihr werdet es bei mir abholen. Dazu rufe ich euch beim Namen, ihr kommt zu mir nach Hause, klopft an und bittet um die Erlaubnis, einzutreten.« So erfuhren die Kinder, wie man sich einander nähert. Sie lernten, die persönlichen Grenzen der anderen zu respektieren, aber auch, dass sie selbst ein Recht auf eigene persönliche Grenzen haben, die ohne ihre Erlaubnis nicht überschritten werden dürfen. Präsenz stärkt die Beziehung »Die Lehrer waren frech zu mir!«, antwortete Janis dem neuen Schulleiter, als dieser nach dem Grund für seinen Schulwechsel fragte. Wie er sich das vorstellen solle, hakte der Schulleiter nach, dieses Frechsein

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der ehemaligen Lehrer? »Wenn ich meine Hausarbeiten nicht gemacht hatte, schimpften sie«, erklärte Janis, »auch, wenn ich während des Unterrichts Wasser trinken wollte.« Der Schulleiter nahm sich die Zeit, Janis und seinen Eltern die Schule zu zeigen. Er informierte über die wichtigsten Regeln, machte auf Freizeitkurse aufmerksam und betonte, dass ihm die Zusammenarbeit mit den Eltern sehr wichtig sei. Sie dürften sich jederzeit an ihn wenden, wenn Fragen aufkämen oder Janis zu Hause etwas erzähle, das den Eltern Sorgen bereite. Er versprach, die Eltern am Ende der ersten Schulwoche über deren Verlauf zu informieren. Bereits in den ersten Tagen geriet Janis auf dem Pausenplatz in Konflikt mit anderen Kindern. Er trat sehr provokativ und aggressiv auf. Der Schulleiter informierte die Eltern und sagte, dass Janis wohl noch etwas Zeit und engere Begleitung brauche, um seinen Platz zu finden und sich mit der Schulkultur vertraut zu machen. Er schlug vor, dass Janis sich während der Pausen auf ein bestimmtes Areal beschränken solle. Die Lehrkräfte würden ihn im Auge behalten und bei Bedarf sofort einschreiten. Er versprach auch, dass eine Gruppe von Jungen aus der Klasse die Pausen zusammen mit Janis verbringen werde. Weiter teilte er den Eltern mit, der neue Klassenlehrer sei bereit, Janis wöchentlich eine private Nachhilfestunde zu erteilen. Es habe sich gezeigt, dass Janis’ Wissen Lücken aufweise – vermutlich aufgrund seiner Schwierigkeiten in der ehemaligen Schule. Die Lücken bestünden vor allem in den Sprachfächern, und es sei wichtig, dass Janis nicht durch schulischen Misserfolg frustriert werde. Die Eltern hatten den Schulleiter beim Eintrittsgespräch sehr positiv erlebt und nahmen diese Vorschläge dankbar an. Dank der Unterstützung des Schulpersonals gelang es Janis, neue Freundschaften zu schließen. Er gab das machohafte Verhalten auf, mit dem er seine Unsicherheit überspielt hatte. Die Nachhilfestunden beim Klassenlehrer erwiesen sich als sehr wirksam. In diesem Fall war für den Schulleiter das Aufarbeiten des Schulstoffes nicht die Hauptsache. Die Aussage »Die Lehrer waren frech zu mir!« hatte ihn auf die Idee gebracht, die Beziehung zwischen dem neuen Klassenlehrer und Janis zu festigen. So genoss Janis während einer Stunde pro Woche die uneingeschränkte Aufmerk-

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samkeit seines Lehrers. Es war nicht nötig, dass er sich diese durch auffälliges oder destruktives Verhalten im Unterricht holte. Durch die persönlichen Gespräche erfuhr der Lehrer so manches über seinen Schüler und verstand nun, weshalb Janis seine Hausaufgaben immer noch nicht zuverlässig erledigte. Schule und Eltern trafen in vertrauensvoller Zusammenarbeit Vorkehrungen, die Janis nachhaltig halfen.

Ähnliche Lösungen in außerordentlichen Situationen bedingen zwei Voraussetzungen: Die Schulleitung verfügt über flexibel einsetzbare Ressourcen, und die Lehrkräfte sind bereit, sich auf solche Vorschläge einzulassen. Es gehört zum pädagogischen Berufsalltag, durch Beziehungsgestaltung die Präsenz gegenüber einzelnen Schülern zu erhöhen. Damit stärken Lehrkräfte auch ihre Autorität. Die simpelste aller Möglichkeiten ist das Kennen von Namen. Nicht von ungefähr sind Rituale der Namensgebung in allen Kulturen von Bedeutung. Die Taufe hebt uns aus der Anonymität. Menschen wollen gesehen und wahrgenommen werden. Er hat sein Ansehen verloren oder Man würdigt ihn keines Blickes sind sinnbildliche Wortwendungen. Kinder und Jugendliche befinden sich in einem Entwicklungsprozess und haben deshalb ein besonders ausgeprägtes Bedürfnis, von erwachsenen Bezugspersonen gesehen und reflektiert zu werden. Sie suchen nach der Antwort auf die Frage, wer sie sind und wer sie in Zukunft sein könnten. Wie merken sich Lehrkräfte zu Beginn des Schuljahres die Namen ihrer Schüler? Praktisch sind Namensschilder, die am ersten Schultag auf den Tischen bereitstehen. So kann die Lehrerperson ihre Schüler ab der ersten Stunde beim Namen nennen. Beziehungsstärkend sind auch gemeinsames Handeln und gemeinsame Interessen. Fachlehrkräfte festigen ihre Beziehung zu Schülern und ihre Autorität, wenn sie zum Beispiel Klassenfahrten begleiten oder bei der Organisation der Schülerparty mithelfen. Pädagoginnen, welche ihre Beziehung zur Schülerschaft professionell gestalten, werden feststellen, dass diese Form der Präsenz 48

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ihnen in kurzer Zeit die Wertschätzung und Kooperation der Schüler einbringt. Sie haben ihre Autorität etabliert. Eine weitere, höchst wirkungsvolle Maßnahme zur Intensivierung der Präsenz gegenüber einzelnen Schülerinnen ist die Vernetzung der erwachsenen Bezugspersonen untereinander. Eine kurze, telefonische Kontaktaufnahme vor dem ersten Elterngespräch zu Schuljahresbeginn genügt. Die Lehrkraft sagt den Schülern, sie werde innerhalb der ersten Wochen ihre Eltern anrufen, um sie persönlich kennenzulernen. Diese Mitteilung stärkt ihre Autorität im Voraus. Durch den Kontakt zur Lehrkraft sind die Eltern indirekt im Schulalltag präsent und die Kinder und Jugendlichen wissen, dass diese Lehrkraft nicht zögern wird, auch bei Schwierigkeiten frühzeitig die Eltern einzubeziehen. Zur Gesprächsvorbereitung führt die Lehrkraft eine Liste mit jeweils drei Schülernamen pro Tag. Im Unterricht beobachtet sie die drei Schülerinnen, deren Eltern sie an diesem Tag anrufen wird. Sie unterhält sich kurz mit ihnen zu ihrer lernbezogenen und sozialen Befindlichkeit. Einen ersten Eindruck gewinnt sie durch einfache Fragen wie: »Mit wem in der Klasse bist du befreundet?«, »Welches Fach bereitet dir Schwierigkeiten?« oder »Welche Hobbys hast du?«. Im Gespräch mit den Eltern kann sie sich darauf beziehen. Am Telefon stellt sich die Lehrkraft den Eltern vor und erzählt von ihren ersten Eindrücken. »Mir ist aufgefallen, dass Ihre Tochter sehr sportlich ist!«, »Ich habe gesehen, dass Ihr Sohn gut zeichnet!«, oder »Er hat mir erzählt, dass er Briefmarken sammelt!« sind Aussagen, die den Eltern zeigen, dass sich die Lehrkraft für ihr Kind interessiert und seine Stärken erkennt. Die Lehrkraft beschließt das Gespräch mit der Frage nach einer besonderen Bitte oder einem bestimmten Anliegen. Nach längstens drei Wochen hat die Lehrkraft persönlich mit allen Eltern gesprochen. Das erste Gespräch mit den Eltern ist wichtig, noch wichtiger ist seine positive Gestaltung. Günstig ist, wenn die Lehrkraft bei ihrem Anruf sowohl die Mutter als auch den Vater erreicht. Ein unbelasteter Erstkontakt zahlt sich besonders dann aus, wenn die Lehrkraft im Präsenz in der Klasse

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Laufe des Jahres mit den Eltern über Verhaltens- oder Lernschwierigkeiten sprechen muss. Eltern sind nach einem positiven ersten Gespräch kooperationsbereiter. Die gleich zu Beginn des Schuljahres etablierte Beziehung zwischen Lehrkraft und Eltern stärkt auch deren Autorität. »Ich habe heute mit deiner Klassenlehrerin gesprochen! Ich freue mich, dass sie sich schon so früh persönlich gemeldet hat. Wir werden uns gegenseitig auf dem Laufenden halten!« So verankern Eltern ihre Präsenz im Bewusstsein des Kindes. Sind Lehrkräfte mit beiden Elternteilen in Kontakt, erreichen sie ein zusätzliches und wichtiges Ziel: Sie durchbrechen die unausgesprochene Regel, dass Mütter die Ansprechpartnerinnen der Schule sind. Väter reagieren oft überrascht, wenn die Lehrkraft mit ihnen sprechen will. Diese Überraschung kann durchaus der Anfang einer intensiveren Teilnahme des Vaters am Schulgeschehen sein. Auch Fachlehrkräfte profitieren von einem frühen Kontakt zu den Eltern. Sie klären mit der Kollegin des Vorjahres, welche Schülerinnen sich schwierig verhielten, und treten anschließend an deren Eltern heran. Die Fachlehrkraft baut eine Brücke zu den Eltern derjenigen Schülerinnen, die womöglich eine besondere Begleitung brauchen. Weiß die Lehrkraft um Schülerinnen, die besondere Aufmerksamkeit erfordern, kann sie sich besser auf potenzielle Schwierigkeiten vorbereiten. Sie sollte sich jedoch zwingend auch nach positiven Eigenschaften, erfolgreichen Zeiten und guten Erfahrungen erkundigen. Nur so erhält sie ein umfassendes Bild des Kindes und kann dessen Stärken und Ressourcen in ihre Überlegungen einbeziehen. Kenntnis der vorteilhaften Seiten verhindert eine Stigmatisierung dieser Schülerinnen und ist eine wichtige Komponente im Aufbau positiver Präsenz gegenüber dem Kind und seinen Eltern. In der Sekundarstufe sind die Eltern in der Regel überrascht, wenn sich die Lehrkraft schon früh im Schuljahr meldet. Auf dieser Altersstufe lässt die elterliche Präsenz eher nach. Allerdings sind Jugendliche vielen Risiken ausgesetzt und haben Aufsicht besonders 50

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nötig. Die Kontaktaufnahme der Lehrkräfte höherer Schulen ist ein Angebot zur gemeinsamen Steigerung von Präsenz und Aufsicht. Die Lehrkraft kann den Eltern direkt vorschlagen: »Wenn wir aufmerksam bleiben und uns auf dem Laufenden halten, erkennen wir Probleme frühzeitig und können ihnen vorbeugen!« Das ermutigt die Eltern, ihre Aufsicht zu intensivieren.

2.2  Präsenz in der Schule Aus Angst, die Privatsphäre vor allem älterer Schüler zu verletzen, halten sich Lehrkräfte und Eltern oft zurück, in typischen Territorien von Jugendlichen Präsenz zu zeigen. Damit fehlt der Schutz vor den Risiken, denen diese Altersgruppe ausgesetzt ist, und die Erwachsenen büßen an Autorität ein. Ein eindeutiges Zeichen nachlassender Autorität ist der Rückzug einzelner Lehrkräfte ins Teamzimmer, solange sie keine anderen Anweisungen erhalten. Dieser Rückzug aus dem öffentlichen Raum hinterlässt ein Führungsvakuum, in dem die Verhaltensregeln durch problematische Schülergruppen bestimmt werden, welche die Schule ihrem Diktat unterwerfen. Trifft ein Schulteam die Entscheidung, systematisch auch in den Grauzonen Präsenz zu zeigen, übernimmt es die Verantwortung für alle Bereiche des Schulareals. Damit verändern die an der Schule Tätigen ihre Stellung. Sie werden bald feststellen, dass die stille Mehrheit der Schülerinnen sich nun sicherer fühlt und diese Entscheidung begrüßt. Protestieren und sich der Veränderung der Machtverhältnisse widersetzen werden diejenigen, die ihren problematischen Einfluss schwinden sehen. Eine wesentliche Erkenntnis aus der Erforschung von Schulgewalt ist die folgende: Gewalt ereignet sich am häufigsten an Orten, an denen pädagogische Präsenz fehlt. Das sind Toiletten, Umkleideräume oder wenig frequentierte Ecken des Schulhofs. Eine systematische Erweiterung pädagogischer Präsenz auf diese Orte reduziert die Gewalt. Verstärkte Präsenz ist eine klare Ansage: »An dieser Schule haben wir Lehrkräfte das Sagen, wir bestimmen die Präsenz in der Schule

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Verhaltensregeln.« Diese Botschaft ist essenziell. Übernehmen an der Schule Tätige diese Rolle nicht, tun es die Mobber. Die gezielte Einführung von Präsenz auch in den entlegenen Ecken war für manche Schulen ein Wendepunkt, der die Machtverhältnisse wieder ins Lot brachte. Eine verantwortungsvolle pädagogische Führung beendete das Diktat einer Gruppe von Peinigern. Schüler und Schulpersonal fühlten sich in der Folge sicherer und empfanden mehr Zugehörigkeit zur Schule. Fokussierte Aufmerksamkeit Im Elternratgeber »Wachsame Sorge. Wie Eltern ihren Kindern ein guter Anker sind« (Omer, 2015/2016) wird erklärt, wie Eltern ihre Aufsicht verstärken können. Voraussetzung ist, dass sie Warnzeichen erkennen, die auf eine Gefahr für das Kind hinweisen. Laufen die Dinge gut, behalten die Eltern ein Grundniveau an Präsenz bei. Sie wissen über ihr Kind Bescheid, indem sie an seinen Aktivitäten und seinem Befinden interessiert sind, den alltäglichen Kontakt pflegen (zum Beispiel in Form eines gemeinsamen Abendessens, des Begleitens zu Nachmittagsaktivitäten oder der Teilnahme an Familientreffen) und mit anderen relevanten Personen im Umfeld des Kindes in Verbindung stehen (Lehrkräfte, Eltern von Freunden, Sporttrainer). Diese Form der Aufsicht wird als offene Aufmerksamkeit bezeichnet. Sie ist unaufdringlich und verzichtet auf Befragungen oder beabsichtigtes Überprüfen. Bei Anzeichen von Risiken verstärken die Eltern jedoch ihre Aufsicht und fordern Informationen gezielt ein. Diese Ebene der wachsamen Sorge wird fokussierte Aufmerksamkeit genannt. Die Eltern fragen das Kind direkt nach seinen Aktivitäten und Treffen mit Freunden, prüfen, ob es tatsächlich dort ist, wo es zu sein behauptet. In Extremfällen stehen sie in intensivem Telefonkontakt mit seinen Freunden respektive deren Eltern oder suchen gar nach ihrem Kind. Dieses Niveau der fokussierten Aufmerksamkeit ist eine einseitige Maßnahme, gedacht als Reaktion auf gravierende Ereignisse. Klingen die Warnzeichen ab und beruhigt sich die Situation, kehren die Eltern zur offenen Aufmerksamkeit zu52

Präsenz

rück. Ähnlich funktioniert es auch in der Schule. Lehrkräfte kennen Standardvorgehen, um präsent und wachsam zu sein. Mehren sich die Warnzeichen, ergreifen sie Notfallmaßnahmen, erhöhen den Grad der Aufsicht und zeigen intensive Präsenz. Die Notfallmaßnahmen stellen per Definition konzentrierte und fokussierte Anstrengungen dar, die jedoch vorübergehend sind. Eine gängige Standardmaßnahme zur Sicherstellung von Präsenz auf dem Schulgelände ist die Pausenaufsicht in den Korridoren und auf dem Schulhof. Die Anzahl der Personen und die ihnen zugewiesenen Bereiche richten sich nach der Größe der Schule. Heikle Orte, die sich für problematisches Verhalten anbieten, werden häufiger aufgesucht. Am besten wird eine Karte mit den verschiedenen Bereichen für die an der Schule Tätigen gezeichnet. Ein öffentlich sichtbarer Aufsichtsplan schafft zusätzliche Verbindlichkeit. In den bekannten Problemzonen empfiehlt es sich, die Aufsicht zu zweit zu führen. Unterstützend für das Schulpersonal sind klare Handlungsanweisungen für problematische Situationen. Sie helfen, angemessen zu reagieren. Teamweiterbildungen eignen sich für Absprachen und Übungen. Verweigern sich Schülerinnen zum Beispiel einer Anweisung oder reagieren provokativ, ruft die Lehrkraft vor Ort im Teamzimmer an und bittet einen Kollegen um Unterstützung. Entschlossene, pädagogische Präsenz funktioniert ohne Heldentaten, die Aufsichtspersonen in Gefahr bringen kann. Es ist kein Zeichen von Schwäche, in einer kritischen Situation Hilfe anzufordern. Im Gegenteil, es ist vernünftig und entspricht dem gesunden Menschenverstand – und zudem ist es eine erste wirkungsvolle Intervention. Der Rundgang Die Intervention Rundgang bedingt einen verbindlichen und für alle zugänglichen Aufsichtsplan. Die Grundschuldirektorin Sarah Kaplan und der Schulpsychologe Liron On entwickelten ihn zur Intensivierung pädagogischer Präsenz gegenüber Schülern mit schwierigem Verhalten in den Pausen. Nach einem Verstoß gegen die Schulordnung bekommt der Schüler ein Formular, worauf er die Präsenz in der Schule

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Unterschriften aller Lehrkräfte abholt, die an diesem Tag Aufsichtsdienst haben. Dabei erklärt er kurz, weshalb er auf dem Rundgang sei. Alternativ kann der Grund auch auf dem Formular vermerkt sein. Die Aufsichtspersonen unterzeichnen das Formular und nehmen kurz Stellung im Sinne einer positiven Verstärkung. Sie äußern sich auf keinen Fall negativ oder belehrend. Tadel und Moralpredigten wirken kontraproduktiv. Am Ende des Tages oder nach der Pause gibt der Schüler das Formular bei der Klassenlehrkraft, der Schulleitung oder im Schulsekretariat ab. Der Rundgang ist zeitlich begrenzt und der Schüler über die Zeitspanne informiert. Beim Rundgang bilden die unterzeichnenden Lehrkräfte so etwas wie ein Personalnetzwerk. Derart verstärkte Präsenz erzielt eine weit größere Wirkung, als es dieselbe Anzahl an Einzelpersonen vermöchte. Die Botschaft an den Schüler lautet: »Wir unterstützen dich, indem wir ein Auge auf dich haben.« Begrüßung zum neuen Schuljahr Ein wohlüberlegtes Ritual zum Schuljahresbeginn eignet sich sehr gut, um von Anfang an Präsenz zu zeigen. An den ersten drei Schultagen erwarten die Schulleitung, ihre Stellvertretung und wahlweise weitere Personen (zum Beispiel die Leitung der Nachmittagsbetreuung oder den Hausmeister) die Schülerschaft am Schuleingang. Die Lehrkräfte wiederum erwarten die Ankömmlinge an der Tür zum Klassenzimmer. Die Schülerinnen werden zweifach empfangen, einmal beim Betreten der Schule und einmal beim Betreten des Klassenzimmers. Das Schulpersonal begrüßt jeden Schüler einzeln, reicht ihm die Hand und wünscht ihm ein erfolgreiches Schuljahr. Falls nötig äußert es sich zu Verspätungen oder zu unangebrachter Kleidung und teilt der Schülerin mit, dass sich dies schon ab dem Folgetag zu ändern habe. Dieser Empfang positioniert die an der Schule Tätigen als Torwächter der Schule, sie stehen symbolisch für die Regeln und die Ordnung in der Schule. Diese Aktion vermittelt den Schülern: »Willkommen in unserer Schule! Wir sind das Schulpersonal, wir bestimmen die Regeln und achten darauf, dass sie eingehalten werden.« 54

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Priming-Effekt und Kleiderordnung Kleidervorschriften sind Anlass vieler Diskussionen. Im Sommer 2018 nahm eine große Schweizer Tageszeitung das Thema auf und publizierte Meinungen von Schülerinnen und deren Eltern. Diese ereiferten sich über die Kleiderordnung an Gymnasien und wähnten die Autonomie der Jugendlichen in Gefahr. Es gibt aber durchaus gute Gründe für eine Kleiderordnung an Schulen. In den letzten zwölf Jahren haben sich Forscher intensiv mit dem Thema Priming befasst. Der Priming-Effekt bezeichnet eine unbewusste Aufnahme von Informationen, die ebenfalls unbewusst unser Denken, Fühlen und nachfolgendes Handeln steuern. So hat auch die Art, wie wir uns kleiden, Einfluss auf unser Verhalten, meist ohne dass wir uns dessen bewusst sind. Eine Trainingshose suggeriert ein Gefühl von Bequemlichkeit und Freizeit. Im geeigneten Kontext, zum Beispiel am Sonntagnachmittag zu Hause, ist diese Art der Bekleidung angemessen. In der Schule ist sie es nicht. Indem eine passende Kleiderordnung durchgesetzt wird, unterstützt die Schule also die unbewusste Leistungsbereitschaft der Schülerschaft. Wenn eine Schulleitung an einem Elternabend den Priming-Effekt aufzeigt und erklärt, dass die Schule trotz zuweilen nervenaufreibenden Diskussionen keine Mühe scheut und alle Möglichkeiten einsetzt, die Jugendlichen beim erfolgreichen Lernen zu unterstützen, ist die Chance groß, dass die Eltern eine Kleiderordnung unterstützen. Eine Steigerung pädagogischer Präsenz stärkt auch die elterliche Präsenz, vor allem dann, wenn Schule und Eltern sich austauschen und zusammenarbeiten. Wie das genau funktioniert, steht im nächsten Kapitel.

Präsenz in der Schule

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ZUSAMMENFASSUNG Pädagogische Präsenz drückt sich sowohl physisch als auch mental aus. Als physisch präsent erleben Schüler ihre Lehrkräfte, wenn diese nah sind und im Klassenzimmer jeden Schüler problemlos erreichen können. Mentale Präsenz versetzt Lehrkräfte in die Gedanken der Schülerinnen. Diese wissen, dass auch sie im Bewusstsein ihrer Lehrkraft sind. Mentale Präsenz spielt eine entscheidende Rolle, wenn es darum geht, ein Gefühl wachsamer Sorge zu erzeugen. Es ist den Schülern klar, dass ihre Lehrkräfte sich für sie interessieren, dass sie darüber informiert sind, was in der Schule vor sich geht, und genau nachforschen, wenn etwas falsch läuft. Pädagogische Präsenz existiert auf der Ebene des Individuums, der Schulklasse und der ganzen Schule. Individuelle Präsenz prägt die persönliche Beziehung zwischen der Lehrkraft und einzelnen Schülern und Eltern. Auf Klassenebene unterstreicht pädagogische Präsenz, dass der Klassenraum das Territorium des Lehrers ist und dass er die Verhaltensregeln bestimmt. Sie stützt die Führungsposition der Lehrkraft und vermittelt den Schülern das Gefühl, dazuzugehören und geschützt zu sein. Auf der Ebene der Schule wird pädagogische Präsenz vor allem dann erlebt, wenn das gesamte Schulpersonal vertreten ist. Das Sicherheitsgefühl stellt sich vor allem bei Aktionen kollektiver Präsenz ein, wie zum Beispiel dem Rundgang, dem Ritual des Schülerempfangs oder der Pausenaufsicht in den Korridoren und im Schulhof. In (Ober-)Schulen kommt es zuweilen zu autoritätsfreien Räumen, in denen Jugendgangs das Sagen und Lehrkräfte nichts zu suchen haben. Manchmal ist die Lage so schwierig, dass die Pädagogen die Schule zurückerobern müssen, indem sie in allen Grauzonen der Schule intensiv Präsenz zeigen. Solche Interventionen sind Wendepunkte, die von den allermeisten Schülerinnen begrüßt werden. Eine Intensivierung pädagogischer Präsenz kann auch zu Hause Resonanz erzeugen und das Interesse der Eltern wecken. Laden Lehrkräfte Eltern zum gegenseitigen Austausch über das Kind ein, ermöglichen sie auch ihnen eine Stärkung der Präsenz. 56

Präsenz

TIPPS FÜR LEHRKRÄFTE •• Achten Sie darauf, wie Ihr Klassenzimmer eingerichtet ist. Sorgen Sie dafür, dass Sie genügend Raum haben, um sich Schülern physisch zu nähern, wenn diese stören oder Unterstützung brauchen. •• Vermeiden Sie es, lange frontal zu unterrichten und isoliert vor der Klasse zu stehen. •• Begegnen Sie Störungen ruhig und entschlossen, mit Präsenz und physischer Nähe. •• Bauen Sie zu jedem Schüler und seinen Eltern schon von Anfang an eine tragfähige, vertrauensvolle Beziehung auf. •• Lernen Sie die Namen der Schülerinnen und nutzen Sie positive Eigenschaften für persönliche Feedbacks. •• Nutzen Sie Methoden, die ein Gefühl des Zusammenhalts und des Stolzes in der Klasse erzeugen. Das stützt Ihre Führungsposition. •• Regelmäßige und sichtbare pädagogische Präsenz auf dem Schulhof und in den Gängen stärkt die Autorität aller Lehrkräfte. •• Reagieren Sie auf besorgniserregende Ereignisse mit einer intensivierten Aufsicht und Präsenz über einen längeren Zeitraum hinweg. Sie reduzieren damit das Risiko einer Eskalation. Die pädagogische Autorität der Schule wird gestärkt daraus hervorgehen. •• Seien Sie wachsam. Gibt es an Ihrer Schule bereits jugendliche Gruppen, die Kontrolle ausüben? Achten Sie auf erste Anzeichen, zum Beispiel wenn Lehrkräften inoffiziell der Zugang zu manchen Bereichen der Schule verwehrt wird. Solche Situationen erfordern zur Stärkung pädagogischer Präsenz ein koordiniertes Vorgehen des Schulteams.

Tipps für Lehrkräfte

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KAPITEL 3: Lehrkräfte und Eltern: das unerlässliche Bündnis Unter Mitarbeit von Irit Schorr-Sapir, Tal Fisher, Tal Maimon und Stefan Fischer

In diesem Kapitel beschreiben wir, wie ein Bündnis, eine enge Zusammenarbeit mit den Eltern, etabliert und gefestigt wird. Ergänzend führen wir Handlungsvorschläge und Beispiele für den Umgang mit anspruchsvollen Eltern an. Die Zusammenarbeit mit Eltern ist in den letzten Jahren herausfordernder geworden. Ging es vor knapp einem Jahrzehnt bei der Beratungsarbeit an Schulen noch vorwiegend um Themen rund um schwieriges Verhalten von Schülern, geht es heute größtenteils um das aus Sicht der Schulen problematische Verhalten von Eltern. Anspruchsvolle Eltern fordern die Lehrkräfte In einer Schule regte der Kursleiter im Workshop an, Lehrer sollten darauf hinarbeiten, auch die Beziehung zu besonders schwierigen Eltern zu verbessern. Darauf konterte eine der Lehrerinnen, dieses optimistische Ziel sei realitätsfern. Sie berichtete von einer Mutter, die systematisch alles tue, um die Position der Lehrkräfte zu untergraben. Der Fall sei nicht neu, bereits das dritte Kind dieser Frau besuche nun die Schule. Die Lehrerin veranschaulichte das Verhalten der Mutter: Immer wieder streite sie lautstark mit den Lehrern, mische sich in Unterrichtsinhalte ein, habe sich wiederholt bei der Schulleitung und der Aufsichts­behörde beschwert und verunglimpfe die Lehrer bei jeder Gelegenheit. Das Kollegium bestätigte den Bericht und ergänzte ihn mit weiteren Details. Alle waren sich einig, dass dieser Frau und ihresgleichen der Zutritt zur Schule verwehrt werden müsse oder ihre Sprösslinge gar der Schule verwiesen werden sollten. Jeder Versuch des Kursleiters, die Grundsätze eines diplomatischen Umgangs mit Eltern zu vertiefen, ging in der angeheizten Stimmung unter.

Lehrkräfte und Eltern: das unerlässliche Bündnis

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Die hitzige Atmosphäre des Workshops spiegelt die Hilflosigkeit vieler Lehrkräfte angesichts der feindseligen Haltung von Eltern wider.

Die Gründe für vermehrte Konflikte zwischen Schule und Eltern sind vielschichtig. In ▶ Kapitel 1 nennen wir zum Beispiel die Verunsicherung der Eltern in der Erziehung oder ihre Angst zu versagen. Eine gute Kooperation zwischen Schule und Eltern ist wichtig, und in den meisten Schulleitbildern finden sich Aussagen wie: »Wir schaffen ein Bündnis zwischen Schule und Eltern, um die Kinder in ihrer Entwicklung zu unterstützen.« Im Wort Bündnis steckt das Interesse am Erreichen eines gemeinsamen Zieles. Das Kind soll die Schule erfolgreich durchlaufen, soll lernen und sich zu einer mündigen, erwachsenen Person entwickeln. Das ist der kleinste gemeinsame Nenner, auf den sich wohl überall auf der Welt Eltern und Schulmitarbeitende einigen können. Die Ausgestaltung dieses Bündnisses variiert, Maß und Form der Zusammenarbeit unterscheiden sich von Fall zu Fall. Viele Kinder absolvieren die Schule, ohne dass eine intensivere Zusammenarbeit mit den Eltern nötig ist. Manchmal braucht es mehr Engagement von beiden Seiten, um das Ziel zu erreichen. Und: Jede Verbesserung dieser Kooperation verbessert nicht nur die Situation des Kindes, sondern stärkt auch die Stellung von Lehrkräften und Eltern. Jede Lehrkraft kann die Elemente der Neuen Autorität für sich allein einführen und umsetzen, so auch die Arbeit an der Beziehung zu den Eltern. Viel wirkungsvoller ist, wenn sich ein ganzes Schulteam mit dem Ansatz vertraut macht, sich über Erfahrungen austauscht, Mitteilungen an die Eltern gemeinsam reflektiert, Gesprächssituationen übt und koordiniert vorgeht. Das gemeinsame Vorgehen wird die Stimmung zwischen Schulteam und Elternschaft nach und nach verändern und kann schließlich die Stimmung eines ganzen Quartiers oder einer ganzen Gemeinde beeinflussen. Kooperation von Eltern und Schule ist zentral für eine positive Schulkultur und die Grundlage dafür, dass Interventionen bei Schü60

Lehrkräfte und Eltern: das unerlässliche Bündnis

lern mit herausforderndem Verhalten entwicklungsfördernd und nachhaltig gelingen. Aber werfen wir zuerst einen Blick darauf, was passiert, wenn Schule und Eltern nicht kooperieren oder sich gar feindselig begegnen.

3.1  Ungelöste Konflikte sind schädlich! Ungelöste Konflikte zwischen Eltern und Lehrkräften schaden allen Beteiligten – und ihre Tragweite wird oft unterschätzt. Die Lehrkraft verliert an Autorität Kommunikation nach einem Streit ist schwierig, sie ist gestört oder bricht ab. Das ist auch zwischen Lehrkräften und Eltern so. Das Kind weiß das – vielleicht war es während des Streits zugegen, vielleicht erzählten ihm die Eltern davon, um ihm ihre Loyalität zu beweisen (»Ich habe deiner Lehrerin gesagt, was ich von ihr halte!«), vielleicht belauschte es ein Gespräch zwischen den Eltern oder spürt ganz einfach die Spannung zwischen Lehrkraft und Eltern. Es erstaunt nicht, dass Kinder ein solches Machtvakuum zu nutzen wissen. Was immer dieses Kind tut, die Eltern werden ihm glauben, sein Verhalten gegenüber der Schule rechtfertigen und die Schuld der Lehrkraft zuweisen. Diese wiederum weiß, dass sie von diesen Eltern keine Unterstützung erwarten kann, oder schlimmer, dass sie ihr durch üble Nachrede oder Beschwerden bei übergeordneten Instanzen schaden können. Der ungelöste Konflikt untergräbt die Autorität der Lehrkraft gegenüber dem Kind. Ihre Verunsicherung erschwert es ihr zusätzlich, ihre Autorität geltend zu machen. Die Eltern verlieren an Autorität Eltern, die sich mit Lehrkräften streiten, sind sich kaum bewusst, dass dadurch auch ihre eigene Autorität Schaden nimmt. Gut möglich, dass sie erwarten, an Ansehen bei ihrem Kind zu gewinnen, weil sie ihm beweisen, dass sie auf seiner Seite stehen. Für den kurUngelöste Konflikte sind schädlich

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zen Moment der Bewunderung und vielleicht auch Dankbarkeit des Kindes zahlen sie aber den Preis einer Autoritätseinbuße. Autorität von Eltern gründet nämlich wesentlich auf deren Präsenz. Eltern müssen wissen, wie es ihrem Kind geht, wo es sich aufhält, zu wem es Kontakte unterhält und wie es sich außer Haus verhält. Streiten sich Eltern mit der Lehrkraft, ist diese weniger bereit, den Eltern über ihr Kind zu berichten. Unerwünschtes Verhalten des Kindes in der Schule wird sich auch auf das Verhalten zu Hause übertragen. (Wenn man in der Schule schlagen darf, weil einen die Mitschüler ärgern, dann darf man auch zu Hause schlagen, weil einen die Geschwister ärgern.) Es wird für Eltern schwierig, darauf zu bestehen, dass das Kind zu Hause nicht schlagen darf, wenn sie gleichzeitig ignorieren, dass sich ihr Kind in der Schule prügelt. Das Kind verhält sich noch problematischer Ist die Kommunikation zwischen Lehrkräften und Eltern einmal blockiert, hat das Kind sozusagen einen Freibrief für sein Verhalten. Es lernt nicht, sich adäquat zu benehmen. Damit wird auch sein schulisches Lernen behindert. Seine Schwierigkeiten werden sich verschärfen, was seiner Entwicklung schadet. Jüngere Kinder werden durch solche Konflikte noch unmittelbarer beeinflusst als ältere. Setzen sich zum Beispiel eine Mutter und eine Erzieherin lautstark auseinander, können wir davon ausgehen, dass sich das Kind noch aggressiver verhalten wird. Die ganze Klasse ist betroffen Nicht nur das eine Kind, sondern alle Schülerinnen und Schüler der Klasse spüren die Auswirkungen des Streits zwischen ihrer Lehrkraft und einem Elternpaar. Fühlt sich eine Lehrkraft infrage gestellt, scheut sie davor zurück, Probleme anzusprechen, und wird alles vermeiden, was weitere Kritik auslösen kann. Der Konflikt verschärft sich, wenn die Eltern ihre Kritik öffentlich machen. Die Lehrkraft fühlt sich in die Enge getrieben. Um sich weiteren Ärger zu ersparen, übergeht sie problematische Zwischenfälle in der Klasse, 62

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schaut weg und kehrt Probleme unter den Teppich. Damit verliert sie ihre Autorität. Unerwünschtes Verhalten in der Klasse wird sich steigern, ein geordneter Unterricht wird kaum mehr möglich sein. Darunter leiden alle Schülerinnen und Schüler. Gelingt es, ungelöste Konflikte zwischen Eltern und Schule zu reduzieren, stärken die an der Schule Tätigen damit ihre Stellung. Sie sorgen für ihr persönliches Wohl, sichern ihren Schülerinnen und Schülern eine gute Lernatmosphäre, und sie handeln im Interesse der ganzen Schule. Wie wird das erreicht, wie sieht ein entsprechendes professionelles Handeln aus? Alle Eltern sind an einer guten schulischen Entwicklung ihres Kindes interessiert. Wir setzen deshalb auch voraus, dass sie bereit sind, im Rahmen ihrer Möglichkeiten mit der Schule zu kooperieren. Der Kern einer erfolgreichen Zusammenarbeit mit Eltern ist die positive Einstellung der Lehrkräfte dazu. Sie zeigt sich in deren Verhalten durch die Pflege einer respektvollen Beziehung, gewaltfreie, lösungsorientierte Kommunikation und vertrauensbildende Maßnahmen. Die Eltern dürfen durchaus über die schädlichen Auswirkungen ungelöster Konflikte zwischen den Erwachsenen informiert werden. Das kann in Form eines Elternbriefes, einer Information bei der Elternratssitzung oder auch im Einzelgespräch mit den Erziehenden geschehen. Die Botschaft könnte etwa so lauten: »Wir werden alles tun, um eine respektvolle Beziehung und offene Kommunikation zwischen Eltern und Lehrern aufrechtzuerhalten. Das ist eines unserer Hauptziele an dieser Schule!« Dieser Erklärung müssen natürlich praktische Maßnahmen folgen, die wir im Weiteren darlegen.

3.2  Die Lehrer-Eltern-Diplomatie Der Begriff Diplomatie wirkt vielleicht befremdlich, er wurde aber ganz bewusst gewählt. Diplomatie bedeutet Verhandlungsgeschick, und zwar zwischen bevollmächtigten Repräsentanten verschiedener Gruppen. Genau diese Situation haben wir im schulischen Kontext. Die Lehrer-Eltern-Diplomatie

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Sowohl die Eltern als auch die Schule vertreten als bevollmächtigte Repräsentanten die Interessen des Kindes, wenn es um seine Erziehung und Bildung geht. Keine Partei ist gegenüber der anderen weisungsberechtigt. Sie begegnen sich auf Augenhöhe, jede Gruppe ist souverän. Diplomatisches Vorgehen ist darum eine wichtige Voraussetzung für die gelingende Zusammenarbeit zwischen der Schule und den Eltern. Undiplomatische Kommunikation endet im Konflikt An Frau Müller, Mutter von Michael »Ihr Sohn Michael kommt fast täglich zu spät und reagiert dabei weder auf Bitten noch auf Anweisungen oder Tadel. Er ist unverschämt und beleidigt Lehrer wie Mitschüler. Weiter ist er häufig in Streitigkeiten und Schlägereien verwickelt. Er hat seine Schulsachen nicht dabei und stört in fast jeder Unterrichtsstunde. Außerdem klebt er Kaugummi unter seinen Tisch. Kümmern Sie sich darum. Frau Meier, Klassenlehrerin« Hier die Antwort der Mutter: An Frau Meier, Klassenlehrerin »Ihr Schüler Michael wacht morgens nur schwer auf. Ich schaffe es erst nach langem Hin und Her, ihn aus dem Bett zu kriegen. Er isst kein Frühstück, sondern schnappt sich bestenfalls auf dem Weg nach draußen etwas aus dem Kühlschrank. Er bereitet seine Schultasche nicht vor und nimmt immer nur dieselben Sachen mit, ganz egal, was auf dem Stundenplan steht. Er weigert sich, seine Hausaufgaben zu machen. Zudem kommt er erst eine Stunde nach Unterrichtsende oder sogar noch später nach Hause, geht schnurstracks in sein Zimmer und sitzt dort stundenlang vor dem Computer. Mit mir spricht er nur, um Geld zu verlangen. Kümmern Sie sich darum. Frau Müller, Michaels Mutter«

Dieses Beispiel ist keine Ausnahme. Es gibt Lehrkräfte, die Eltern gern Echtzeitmitteilungen über das problematische Verhalten ihrer 64

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Kinder schicken. Durch die Wortwahl im Beispiel fühlen sich die Eltern von den Beschwerden der Lehrkraft völlig überfordert. Wie sollen sie von zu Hause aus Einfluss nehmen auf das, was in der Schule geschieht? Einige Eltern gewöhnen sich daran, Mitteilungen der Lehrkraft zu ignorieren, andere reagieren sogar wütend oder, wie Frau Müller, sarkastisch. Es braucht ein Angebot für eine konstruktive Zusammenarbeit, um die Eltern als echte Partner in schwierigen Situationen zu gewinnen. Wir sitzen im selben Boot! – der erste Kontakt zu den Eltern Die konstruktive, also wertschätzende, respekt- und vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen Schule und Eltern ist unbestritten der Schlüssel zu erfolgreichen Interventionen bei problematischem Verhalten von Schülerinnen. Es lohnt sich deshalb, ungewohnte Wege zu gehen und etwas zu wagen. Die Botschaft: Wir sitzen im selben Boot ist ein eingängiges Bild für das am Anfang des Kapitels beschriebene Bündnis zwischen Schule und Eltern. Das Boot kommt gut voran, wenn Lehrerinnen und Eltern gemeinsam in dieselbe Richtung rudern. Sabotieren sie sich gegenseitig, ist das Risiko hoch, Schiffbruch zu erleiden. Sie setzen damit das gemeinsame Ziel aufs Spiel, dem Kind eine gute Schullaufbahn zu ermöglichen. Bildlich gesprochen ist es das Kind, das letztlich in Gefahr ist, unterzugehen. Wann und wie platzieren wir die Botschaft Wir sitzen im selben Boot? Mitten in einer hitzigen Debatte werden Eltern sie als Ausdruck von Hilflosigkeit oder gar als Drohung aufnehmen. Gute Chancen auf eine positive Reaktion der Eltern haben wir, wenn die Aussage auf Empathie beruht und unsere aufrichtige Bereitschaft zum gemeinsamen Handeln ausdrückt. Der Kurswechsel »Sehr geehrte Frau Koller Ich habe mir Gedanken darüber gemacht, wie wir unsere Kooperation verbessern können. Mir ist klar, dass Sie und ich im selben Boot sitzen. Wir wollen beide, dass Tobias positivere schulische und soziale Erfah-

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rungen macht. Gemeinsam kann es uns gelingen, die Schwierigkeiten zu überwinden und Tobias Fortschritte zu ermöglichen. Das Wichtigste dabei ist, dass Tobias sich besser fühlen und besser verhalten wird. Ich werde Sie ab sofort über jede positive Veränderung seines Verhaltens informieren. Es ist mir wichtig, dass Sie verstehen, dass ich auf Tobias’ Seite stehe. Ich werde auch dann aufrichtig sein, wenn es Probleme gibt. Ich werde mich aber bemühen, dies auf eine respektvolle Art zu tun – Ihnen und Tobias gegenüber. Ich würde es begrüßen, wenn Sie auch Ihren Mann über mein Schreiben unterrichteten. Mit freundlichen Grüßen S. Huber, Klassenlehrerin«

Lehrkräfte befürchten, dass sie sich mit solchen Botschaften angreifbar machen. Die Anforderungen, die sie damit an sich selbst stellen, erscheinen ihnen als zu hoch. Sie argwöhnen, die Eltern würden nur darauf warten, dass sie sie nicht erfüllen können. Diese Ängste sind typisch für Beziehungen, die von Misstrauen geprägt sind. Hinter jeder positiven Geste lauert die Angst, die Gegenseite könne sie ausnutzen. Das trifft nur selten zu. Diese Mitteilung kommt für die Mutter unerwartet. Sie ist überrascht über die Botschaft, die einen Kurswechsel in der Zusammenarbeit ankündigt und anfangs vermutlich misstrauisch. Die Geste der Lehrerin lädt aber die Eltern ein, zuzuhören, denn eine wohlwollende und positive Sicht auf ihr Kind entspricht dem uneingestandenen Wunsch aller, auch der »berüchtigtsten« Eltern. Auf die Haltung kommt es an! Eine Erzieherin ist im Quartier und bei der Schulbehörde bekannt dafür, selbst mit schwierigsten Kindern und anspruchsvollsten Eltern zurechtzukommen. Wir fragten sie nach ihrem Geheimnis. Sie erzählte: »Vor jedem schwierigen Elterngespräch bitte ich meinen Schutzengel darum, dem Schutzengel der Eltern mitzuteilen, dass ich es mit dem Kind gut meine.« Das mag esoterisch klingen. Interessant ist aber die Erkenntnis, dass die Erzieherin nichts anderes tut, als sich auf diese

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Weise positiv auf das Gespräch einzustimmen. Der fiktive Schutzengel-­ Dialog zeigt, dass sie ganz selbstverständlich davon ausgeht, dass beide Seiten ein Interesse am Wohlergehen des Kindes haben.

Es ist unerlässlich, dass Lehrkräfte lernen, sich von negativen Erfahrungen mit Eltern zu distanzieren. Die Fokussierung auf Eltern als Gegner lähmt, erzeugt ein Ohnmachtsgefühl und macht handlungsunfähig. Das ist weder einer Lösung noch der Gesundheit zuträglich. Ein paradoxes Elterngespräch Eine Lehrerin übernahm die Stellvertretung an einer siebten Klasse. Ihr Vorgänger und die Schulleitung machten sie auf einen Jugendlichen aufmerksam. Dieser sei sehr intelligent und besitze Führungskompetenzen, aber er beeinflusse die Klasse negativ und störe den Unterricht massiv. Ganz besonders warnten sie vor dem Vater des Jugendlichen. Er sei bekannt dafür, seinen Jungen in Schutz zu nehmen und bei der geringsten Kritik an seinem Sohn aggressiv aufzutreten. Tatsächlich störte der Jugendliche im Unterricht der Stellvertreterin massiv. Sie beschloss, den Vater zu einem Gespräch einzuladen, und ignorierte die unverhohlene Drohung des Jugendlichen, sein Vater werde ihr dann schon die Meinung sagen. Die Lehrerin eröffnete das Gespräch mit folgenden Worten: »Herr Alba, ich freue mich, Sie endlich kennenzulernen, und ich gratuliere Ihnen zu Ihrem Sohn! Ich bin begeistert von seinem kognitiven Potenzial und seinen sozialen Fähigkeiten. Er ist der geborene Leader. Ich bin sicher, dass er eine großartige berufliche Karriere vor sich hat – wenn wir gut zusammenarbeiten. Es gibt noch ein paar Kleinigkeiten, die zu Stolpersteinen werden könnten. Ich bin jedoch überzeugt, dass wir das gemeinsam hinkriegen. Ich jedenfalls werde alles daransetzen, dass Ihr Sohn eine Lehrstelle findet, die seinem Potenzial entspricht, in einer Firma, die Talent zu schätzen weiß.« Daraufhin erzählte die Lehrerin Herrn Alba, wie sein Sohn den Unterricht störte, und von weiteren Vorkommnissen. Herr Alba wandte sich seinem Sohn zu und wurde

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laut: »Du hast so eine kluge, nette Lehrerin! Ich will nicht noch einmal hören, dass du Schwierigkeiten machst!« Und zur Lehrerin sagte er, sie solle sich sofort bei ihm melden, wenn sein Sohn Probleme mache. Er werde am nächsten Besuchstag vorbeikommen, um sich nach dessen Fortschritten zu erkundigen. Nach diesem Gespräch verhielt sich der Junge tadellos. Er nutzte sein Potenzial und setzte seine Fähigkeiten positiv ein.

Beziehung zu den Eltern pflegen Mit einer möglichst frühen, persönlichen Beziehung zu den Eltern legt eine Lehrkraft das Fundament zum gemeinsamen Arbeitsbündnis. Sie ruft zum Beispiel zu Beginn des Schuljahres alle Eltern ihrer Klasse an (▶ Kapitel 2). Die Kontaktaufnahme schafft Vertrauen und ist Basis für die weitere Zusammenarbeit. Eine Lehrkraft stärkt das Bündnis mit den Eltern, indem sie über die gängigen Informationskanäle, zum Beispiel die Feedback-App der Schul-Homepage, das Mitteilungsheft oder das Lernjournal, ab und zu einen persönlichen Bericht abgibt. Positive Berichte sind besonders wirksam. Es gilt zu bedenken, dass viele unpersönliche, negative Feedbacks mittels einer Feedback-App bei Eltern und Schülerinnen großen Stress auslösen oder eine inflationäre Wirkung haben. Kinder und Jugendliche mit Verhaltensauffälligkeiten, also Lernschwierigkeiten im sozialen Bereich, brauchen mehr an persönlicher Begleitung und Förderung als nur Einträge in einer Feedback-App. Im Rahmen einer Evaluation wurde in einer israelischen Inter­ nats­schule mit einer Schülerschaft aus Äthiopien die Haltung der Eltern gegenüber den Jugendleitern und Lehrern des Instituts eingeholt. Obwohl die Eltern, welche zum großen Teil wenig Kenntnisse hatten über päda­gogische Einrichtungen und in den meisten Fällen eine tiefe Kluft zwischen sich und den Pädagoginnen und Pädagogen empfanden, sprachen einige von ihnen sehr beeindruckt über einen Jugendleiter, der in ihren Augen wichtig war. Auf die Frage, weshalb sie gerade diesen Lehrer besonders schätzten, lautete die Antwort: »Er erzählt uns, wie es unserem Kind geht! Er erzählt 68

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Positives, berichtet aber auch über Probleme!« Dieses Ergebnis ist sehr bezeichnend. Die Tatsache, dass der Jugendleiter sich die Mühe machte, ihnen gelegentlich persönlich zu berichten, schuf Vertrauen. Bittet dieser Jugendleiter die Eltern, ihn im Umgang mit einem Verhaltensproblem des Schülers zu unterstützen, trifft er zweifellos auf hohe Kooperationsbereitschaft. Am Gymnasium tendieren Lehrkräfte dazu, positive Berichte an Eltern weniger wichtig zu nehmen. Vielleicht denken sie, dass ein junger Mensch in diesem Alter als reifer betrachtet und daher direkt angesprochen werden muss. Es ist richtig, dass man einem Heranwachsenden mehr Selbstverantwortung überträgt, dessen Eltern bleiben aber nach wie vor die logischen Verbündeten einer Lehrkraft. Positive Berichte nehmen die Eltern für die Lehrkraft ein. Nannten uns Eltern von Gymnasiasten eine Lehrkraft, die für sie und ihr Kind wichtig war, waren es ausnahmslos Pädagogen, welche die positiven Seiten des Jugendlichen erkannt und dies den Eltern auch gesagt hatten. In Kontakt bleiben und Eltern vertrauen Manchmal zögern Lehrkräfte, Eltern über Schulschwierigkeiten zu informieren, weil sie befürchten, die Eltern könnten dem Kind Gewalt antun. Der Verdacht mag gerechtfertigt sein. Die Entscheidung, mit den Eltern nicht in Kontakt zu treten, bleibt dennoch proble­ matisch. Das Unterlassen der Kontaktaufnahme untergräbt die Autorität der Eltern und der Lehrkraft. So wird das Schutz- und Fürsorgesystem eines Kindes destabilisiert. Wir gehen grundsätzlich davon aus, dass alle Eltern für ihr Kind das Beste wollen und es lieben, selbst wenn sie das nicht zum Ausdruck bringen können. Der italienische Psychologe Stefano Cirillo (1992) gehört zu den namhaftesten Therapeuten von Eltern, die wegen Vernachlässigung oder Gewalt verurteilt wurden. Er zeigt auf, wie sich Eltern kooperativer und verantwortungsvoller verhalten, wenn eine Therapeutin den Mut hat, die verborgenen positiven Gefühle der Eltern Die Lehrer-Eltern-Diplomatie

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anzusprechen. Das Anerkennen einer tragischen Verstrickung und einer komplizierten Beziehung zwischen Eltern und Kind ermöglicht eine empathische statt einer anklagenden Haltung. Im folgenden Beispiel kann die Lehrerin ihre Befürchtung offen ansprechen und gleichzeitig den Eltern ihr Vertrauen zusichern. Konkrete Anleitung hilft den Eltern, mit der Situation konstruktiv und gewaltfrei umzugehen. »Ich vertraue Ihnen an, was heute in der Klasse passiert ist. Es ist sehr wichtig, dass wir gemeinsam über eine angemessene Reaktion nachdenken. Ich bitte Sie daher, nicht wütend zu reagieren, denn das würde alles nur verschlimmern! Sagen Sie Ihrem Kind nur, dass Sie wissen, was heute passiert ist, und dass wir gemeinsam überlegen, was wir unternehmen wollen. Ihr Kind wird überrascht sein, sowohl darüber, dass ich Sie informiert habe, als auch über unseren weiteren Kontakt. Wenn wir am selben Strang ziehen, stärke ich Sie, und Sie stärken mich!«

Es gibt keine hundertprozentige Gewissheit, dass diese Eltern sich tatsächlich zurückhalten. Die Chancen stehen aber gut, weil die Lehrerin die Möglichkeit einer unbeherrschten Reaktion der Eltern anspricht. Sie bestärkt damit die Eltern, sich zurückzuhalten. Verbirgt die Lehrkraft etwas vor den Eltern, so steigert das nur deren Gefühl der Distanz und damit das Risiko einer unangemessenen Reaktion. Eine Berichterstattung im Sinn unseres Beispiels dagegen öffnet die Tür zu Kooperation und konstruktiver Reaktion. Besorgte Eltern ernst nehmen Häufen sich Beschwerden über ein Kind, denken Eltern bald einmal, ihr Kind werde stigmatisiert. Kinder spüren die Vorbehalte der Eltern sehr gut. Sie nutzen die Gelegenheit, durch weitere Erzählungen die Eltern für sich einzunehmen und von schlechten schulischen Leistungen oder dem eigenen konflikthaften Verhalten in der Schule abzulenken. So wird die Kluft zwischen Lehrkraft und Eltern breiter. 70

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Schwierigem Verhalten von Kindern und Jugendlichen ist meist nur in Kooperation mit den Eltern beizukommen. Es lohnt sich daher immer, elterlichem Misstrauen offen zu begegnen. Misstrauen Eltern der Schule, ist es hilfreich, sie zu ermutigen, eine Person ihres Vertrauens zum Gespräch mitzubringen. Dies kann ein bereits involvierter Therapeut oder die Kinderärztin sein. Diese Personen sind emotional weniger involviert und können den Eltern die Botschaften der Schule besser verständlich machen. Die Eltern fühlen sich in Begleitung einer Vertrauensperson sicherer. Das senkt ihren Stresspegel, und sie sind offener für eine Zusammenarbeit. Sind sie davon überzeugt, dass die Schule gegen ihr Kind agiert, können sie emotional mit folgenden Botschaften abgeholt werden: • »Wir nehmen Ihre Befürchtung ernst, dass Ihr Kind stigmatisiert werden könnte.« • »Wir werden auf positives Verhalten Ihres Kindes achten und Verbesserungen wahrnehmen.« • »Konflikte werden wir aus verschiedenen Blickwinkeln untersuchen, die Beteiligung anderer Kinder prüfen und auf die Version Ihres Kindes ernsthaft eingehen.« Eine solche Botschaft entspannt die Atmosphäre, das Misstrauen schwindet. Um glaubwürdig zu bleiben, muss die Schule den Worten auch Taten folgen lassen, zumal ein reales Risiko besteht, ein Kind zu stigmatisieren und ihm damit Unrecht zu tun. Diplomatie im Umgang mit den Eltern ist also eine vielversprechende Strategie und bedeutet: Früh mit Eltern in Kontakt treten, die Beziehung aufrechterhalten, auch wenn es schwierig wird, Positives sehen und den Eltern berichten, ihnen empathisch begegnen und ihre Sorgen und Anliegen ernst nehmen. Diese Haltung erspart der Lehrkraft Angriffe und Kritik, mehr noch, sie verschafft ihr Rückhalt bei den Eltern.

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Eine Entschuldigung ebnet den Weg Der Vater eines Achtklässlers stritt sich heftig mit der Klassenlehrerin, die seiner Ansicht nach mit ihrer Herablassung seinen Sohn verletzt hatte. Die Spannung zwischen den beiden wuchs so weit an, dass der Vater eines Tages in die Klasse stürmte und die Lehrerin in Anwesenheit der Kinder anschrie. Danach wandten sich der Vater und die Lehrerin unabhängig voneinander an den Direktor. Die Lehrerin verlangte eine sofortige Entschuldigung. Als der Direktor dem Vater diese Forderung übermittelte und sagte, sie entspreche auch seiner Erwartung, wurde der Mann auch ihm gegenüber laut. Daraufhin erklärte der Direktor: »Es ist für mich völlig unakzeptabel, dass Sie mich anschreien. Daher beende ich jetzt unser Gespräch! Wenn Sie wollen, können wir uns morgen noch einmal treffen, aber in einer anderen Atmosphäre!« Da der Vater sich nicht von seinem Stuhl erhob, stand der Direktor auf und verließ den Raum. Die Tür ließ er offen. Als er nach zwanzig Minuten zurückkehrte, hatte sich der Vater beruhigt und bat um eine Fortsetzung des Gesprächs. Der Direktor entgegnete ihm, das sei nicht möglich, da die Zeit für diesen Termin abgelaufen sei. Er sei aber bereit, für den nächsten Tag zur selben Zeit einen neuen Termin zu vereinbaren. Zunächst versuchte der Vater, auf seinem Vorschlag zu beharren. Dann aber stimmte er zu, am nächsten Morgen wiederzukommen. Einige Stunden später rief der Direktor den Vater an und fragte ihn, ob er ihn bei sich zu Hause empfangen würde. Der Vater war überrascht und erinnerte ihn daran, dass sie für den nächsten Morgen verabredet seien. Der Direktor entgegnete: »Ihr Sohn liegt mir sehr am Herzen und ich bin sicher, dass er auch Ihnen mehr als wichtig ist, daher würde es mich freuen, wenn wir die Sache nicht auf morgen verschieben. Sie müssen mir aber versprechen, dass Sie mich mit einer Tasse Kaffee und einem freundlichen Gesicht empfangen!« Schließlich nahm der Vater den ungewöhnlichen Vorschlag an. Das Gespräch fand nun in einer völlig anderen Atmosphäre statt. Der Direktor traf mit dem Vater eine einfache Vereinbarung: »Wenn Sie eine Kritik an der Lehrerin haben, wenden Sie sich an mich! Vor Ihrem Sohn, vor der Lehrerin, und ganz gewiss vor den anderen Kindern werden Sie sagen, die Lehrerin sei für

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die Klasse verantwortlich! Ich meinerseits verspreche Ihnen, jede Ihrer Beschwerden sehr ernst zu nehmen.« Der Vater ging auf diese Forderung ein. Bei der Verabschiedung fügte der Direktor noch hinzu: »Ich möchte, dass Sie darüber nachdenken, wie Sie das Problem beheben können, das durch Ihren Wutausbruch gegenüber der Lehrerin in der Klasse entstanden ist! Ich erwarte nicht, dass Sie sofort handeln, es ist mir jedoch wichtig, dass Sie darüber nachdenken!« Am nächsten Tag berichtete er der Lehrerin über sein Treffen mit dem Vater. Diese beharrte auf einer Entschuldigung. Der Direktor erklärte ihr: »Es wird keine schnelle Lösung geben! Aber ich stehe hinter Ihnen.« Ohne sonderlich überzeugt zu sein, verließ die Lehrerin den Raum. In den folgenden Wochen achtete der Direktor darauf, mit dem Vater in regelmäßigem Telefonkontakt zu bleiben. Als dem Jungen klar wurde, dass sein Vater, die Klassenlehrerin und der Direktor miteinander kooperierten, besserte sich sein Benehmen. Drei Wochen später rief der Direktor den Vater in sein Büro, um den nächsten Schritt zu vereinbaren. Mit Erlaubnis der Lehrerin kam der Vater in die Klasse und sagte den Schülern: »Ich denke, ihr und eure Lehrerin verdient eine Entschuldigung für den Zwischenfall vom letzten Monat. Inzwischen weiß ich, dass man an dieser Schule jeden Schüler und alle Eltern respektvoll behandelt. Daher steht eurer Lehrerin eine Entschuldigung von mir zu, und ihr habt das Recht, sie zu hören!« Dieses Ende, das für viele utopisch klingen mag, war der Beginn eines langjährigen Engagements des Vaters zum Wohl der Schule.

Dieses Vorgehen ist beherzt und wirkt aufwendig. Zeit und Energie für Interventionen nach Neuer Autorität sollen in einem vernünftigen Rahmen bleiben. Das Beispiel zeigt allerdings auch, dass dieser Vater sich danach aktiv zum Wohle der Schule einsetzte. Wahrscheinlich hielten sich Aufwand und Ertrag letztlich die Waage. Lehrkräfte stehen unbestritten zeitlich oft unter Druck. Meist ist aber nicht die zeitliche Belastung zermürbend, sondern es sind Konflikte mit Eltern und nervenaufreibende Situationen mit Schülerinnen und Klassen, die sich nicht verbessern. An der Schule Tätige, die sich Die Lehrer-Eltern-Diplomatie

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durch die Neue Autorität zu neuen und bis anhin ungewöhnlichen Maßnahmen inspirieren lassen, erzielen oft überraschende Erfolge. Das Erleben dieser neuen Selbstwirksamkeit gibt Energie, welche die anfänglich hohe zeitliche Investition wettmacht. Die Lehrer-Eltern-Diplomatie unter der Lupe: eine Fallanalyse Lehrer verbessern ihre Aussichten auf elterliche Kooperation, wenn sie sich der typischen Fallen bewusst sind, die sich in Gesprächen stellen. Uri Weinblatt ist weltweit einer der führenden Experten für verhängnisvolle Stolperfallen wie Kränkung, Demütigung und Beschämung. Die folgende Analyse und das Fallbeispiel stammen aus seinem Buch »Die Nähe ist ganz nah! Scham und Verletzungen in Beziehungen überwinden« (Weinblatt, 2016). Kommen Lehrkräfte und Eltern zusammen, um über die Proble­me eines Kindes zu sprechen, sind beide Parteien in hohen Maß verletzlich, noch bevor das erste Wort gefallen ist. Die Eltern haben gute Gründe, beschämt und verletzt zu sein. Sie haben das Gefühl, in ihrer Aufgabe versagt zu haben und von den Lehrkräften für schlechte Eltern gehalten zu werden. Aber auch der Lehrer fühlt sich verletzlich, weil es ihm nicht gelingt, das Kind professionell zu fördern. Er ist dadurch sehr empfindlich für unterschwellige oder offene Anschuldigungen der Eltern. Diese vorweggenommene Scham macht beide Parteien empfänglich für die leiseste Andeutung einer Herabwürdigung. Sie tendieren deshalb zu defensiven Reaktionen, was wiederum Missverständnisse begünstigt. In solch heiklen Situationen werden leicht auch neutrale Bemerkungen als beleidigend aufgefasst, ein Lösungsvorschlag als Bevormundungsversuch oder Schweigen als Kritik. Scham begünstigt Missverständnisse Lukas (12 Jahre) hat eine neue Klassenlehrerin. Er stört wiederholt den Unterricht und weigert sich, ihre Anweisungen zu befolgen. Die Lehrerin trifft sich mit seinen Eltern und schildert das problematische Verhalten von Lukas.

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Vater: »Seit wann geht das schon so?« Lehrerin: »Seit mehr als zwei Monaten.« Vater: »Warum haben Sie uns nichts davon erzählt?«

Die Lehrerin fasst die Frage des Vaters nicht als Bitte um Information auf, sondern als Anschuldigung. »Sie hätten uns früher davon erzählen müssen!« Der Vater ist sich nicht bewusst, wie die Lehrerin seine Worte aufnimmt. Er ist mit seinem eigenen Schamgefühl beschäftigt, da er die Schilderung des problematischen Verhaltens als versteckte Kritik empfindet. Durch seine Frage versucht er, seine Beschämung auszugleichen, indem er einen Teil seiner Scham auf die Lehrerin überträgt. Obwohl sie in guter Absicht zum Gespräch eingeladen hat, ist die Lehrerin nun verunsichert. Eine defensive Antwort wie: »Ich habe Ihnen durchaus davon erzählt!« oder »Das steht in der Feedback-App, und es ist Ihre Pflicht, sich dort zu informieren!« wird die Situation zuspitzen und die Chancen auf ein erfolgreiches Gespräch zunichtemachen. Es lohnt sich, solche Tretminen der Scham durch eine höfliche Wortwahl zu entschärfen, damit das Elterngespräch nicht in einen Machtkampf mündet. Die von beiden Seiten vorweggenommene Scham kann durch geschickte Eröffnungssätze aufgefangen werden. Ein Beispiel für einen günstigen Einstieg ins Gespräch könnte lauten: »Ich weiß es zu schätzen, dass Sie sich Zeit nehmen für dieses Gespräch. Ich kann mir vorstellen, dass Sie nicht erfreut waren über die Einladung. Deshalb möchte ich vorausschicken, dass mir das Wohlergehen und die schulische Karriere von Lukas ein großes Anliegen sind, das ich sicherlich mit Ihnen teile. Gemeinsam werden wir Lösungen finden.«

In unserem Beispiel beginnt die Lehrerin das Gespräch damit, die Verfehlungen von Lukas aufzuzählen. Damit drängt sie die Eltern in die Defensive. Trotzdem hätte sie der provokativen Frage des Vaters noch eine positive Wendung geben können:

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Lehrerin: »Sie haben recht. Es wäre wohl besser gewesen, wenn ich mich schon früher an Sie gewandt hätte. Aber ich dachte, die Probleme von Lukas würden vorbeigehen. Außerdem glaubte ich, ich könne allein damit fertigwerden, ohne Sie zu belästigen. Ich möchte dem Jungen unbedingt helfen und habe inzwischen verstanden, dass das sehr viel besser funktionieren wird, wenn Sie mich darin unterstützen.«

Darauf hätten die Eltern vermutlich positiv reagiert. Die Lehrerin war jedoch nicht in Höchstform, unter anderem, weil ihr eigenes Schamgefühl sie zu einer weiteren defensiven Reaktion verleitete. Ihrer Meinung nach erwiderte sie etwas Positives: »Der Zweck unseres heutigen Gesprächs ist es, Lukas zu fördern, und nicht, irgendjemanden zu beschuldigen.«

Der Versuch, dem Gespräch eine gute Wendung zu geben, misslang. Die Mutter hörte die Botschaft: »Ich kümmere mich hier um Ihren Sohn, während Sie nur darauf aus sind, mich zu beschuldigen!« Nun reagierte sie mit einem Versuch, das Gleichgewicht der Scham wiederherzustellen. »Wir wollen niemanden beschuldigen. Wir wollen nur verstehen, warum sich Lukas’ Probleme in diesem Schuljahr verschärft haben. Letztes Jahr lief es gut in der Schule …«

Damit steigert sie wiederum die Scham der Lehrerin. Diese fühlt sich von der Mutter im Vergleich zur Klassenlehrerin des Vorjahres herabgewürdigt. Zutiefst verletzt würde sie am liebsten sagen: »Von mir aus kann Lukas gern zu seiner ehemaligen Klassenlehrerin zurückgehen!« oder auch »Soweit ich weiß, gab es auch letztes Jahr nicht wenige Schwierigkeiten!«. Wenn sie versteht, dass solche Bemerkungen die Situation nur anheizen, schafft sie es, sich zurückzuhalten. Die Lehrerin selbst hätte sich sicher um vieles besser gefühlt, hätte sie im Gespräch Unterstützung und Wertschätzung erfahren. 76

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Zum Glück erinnert sie sich jetzt an ein Gespräch, das sie kurz zuvor mit zwei Kolleginnen geführt hatte. Diese hatten ihre Arbeit gelobt und sie in Bezug auf einen anderen problematischen Schüler um Rat gebeten. Die Erinnerung hebt ihr Selbstwertgefühl3 und ermöglicht ihr, sich zu sammeln und zu antworten: »Es tut mir leid, dass dieses Schuljahr weniger positiv verläuft als das letzte. Ich werde mich mit den Lehrern des Vorjahrs unterhalten, um zu hören, wie sie vorgegangen sind. Vielleicht haben sie eine Idee, wie ich Lukas fördern kann.«

Mit diesen Worten sendet die Lehrerin gleich mehrere wichtige Signale an die Eltern, welche die Tretminen der Scham entschärfen: a) Sie ist bereit, Probleme mit Lukas einzugestehen. b) Sie nimmt den Standpunkt der Eltern ernst. c) Sie signalisiert, dass sie sich beraten lassen und die Lehrer des Vorjahres um Unterstützung bitten will. d) Sie zeigt sich um Lukas besorgt. Auf diese Botschaften reagieren Eltern mit großer Wahrscheinlichkeit kooperativ. In unserem Beispiel sagt die Mutter: »Ehrlich gesagt hat es auch im vergangenen Jahr Probleme gegeben …« Und der Vater fügt an: »Genau genommen wissen auch wir nicht, wie wir seine Motivation stärken können.« Darauf antwortet die Lehrerin: »Ich bin sicher, dass es uns gemeinsam gelingen wird, Lukas zu fördern. Lassen Sie uns über nächste Schritte zur Verbesserung der Lage nachdenken.« 3 Das hier als zufälliger Anker beschriebene Instrument für eine Stärkung des Selbstwertgefühls kann zum Beispiel mittels dem Zürcher Ressourcen-­Modell, einem Selbst-Management-Training von Maya Storch und Frank Krause (Storch u. Krause, 2013), auch trainiert und bewusst eingesetzt werden.

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Diplomatie im Umgang mit Eltern erfordert also auch Sensibilität für die Würde und die Verletzlichkeit des Gegenübers. Gelingt es, Tretminen der Scham, also unbeabsichtigte Kränkung und Herabwürdigung, zu umgehen, gewinnt eine Lehrkraft eher die Kooperation der Eltern und wird in ihrem professionellen Handeln gestärkt. Erfolgreiche Elterngespräche zu führen, ist lernbar. Sensibilität mindert das Schamgefühl und erhöht die Kooperationsbereitschaft der Eltern. Nachfolgend erläutern wir eine gute Vorbereitung auf das Gespräch und ergänzen sie mit zwei Varianten von Elterngesprächen zu Verhaltensauffälligkeiten.

3.3  Das persönliche Gespräch mit Eltern Verhält sich ein Kind auffällig, birgt das persönliche Gespräch mit den Eltern großes Potenzial, die Situation zu verbessern. Es ist aber auch komplex und fordert von den Lehrkräften ein hohes Maß an Professionalität. Zeitdruck, eine aufgrund der Thematik angespannte Atmosphäre, die Verärgerung der Eltern über die Einladung oder die Unsicherheit der Lehrkraft sind Faktoren, die sich negativ auf den Gesprächsverlauf und somit auf das Ergebnis auswirken können. Erstens ist eine gute Vorbereitung die halbe Miete. Folgende Erkenntnisse stammen aus bewährter Praxis: Wir können davon ausgehen, dass Eltern gestresst sind, wenn sie wegen Verhaltensauffälligkeiten ihres Kindes zu einem Gespräch in die Schule eingeladen werden. Sind wir gestresst, fallen wir in alte Verhaltensmuster aus der Kindheit zurück. Großen Stress nimmt das Gehirn als Gefahr wahr. Das limbische System übernimmt und versetzt den Menschen in einen der drei bekannten Überlebensmodi: Angriff, Flucht, Erstarrung. Es ist also im Interesse der Lehrkräfte, Elterngespräche möglichst stressfrei zu gestalten. Eltern, die innerlich erstarren, gedanklich flüchten oder, wohl die bekannteste Erfahrung aller Schulmitarbeitenden, zum Angriff übergehen, sind nicht in der Lage, ein konstruktives Gespräch zu führen. 78

Lehrkräfte und Eltern: das unerlässliche Bündnis

Aufgrund des problematischen Themas lässt sich der Stress der Eltern natürlich nicht vollständig auflösen. Mit ein paar Rahmenbedingungen können Lehrkräfte oder Schulleitungen ihn aber reduzieren und somit die Eltern eher für eine Kooperation gewinnen. Verunsicherung und damit Stress entstehen, wenn jemand eine Situation nicht einschätzen kann. Im Umkehrschluss: Transparenz schafft Vertrauen. Eine gut aufgesetzte Einladung fördert Vertrauen und reduziert Stress. Die Einladung zum Gespräch erwähnt deshalb sowohl Thema und Teilnehmende als auch Rahmenbedingungen, d. h. Ort und Zeit. Wichtig ist auch die Botschaft, dass die Schule die Eltern als Partner betrachtet und man gemeinsam zu einer Lösung gelangen wolle. Zweitens sorgt eine gut formulierte Einladung für eine entspannte Atmosphäre. Hier ein Beispiel: »Sehr geehrter Herr Meier, sehr geehrte Frau Meier, in den letzten zwei Wochen hatte ich mit Evelyne zwei Gespräche, weil sie mit verschiedenen Kindern Streit hatte. Ebenfalls habe ich beobachtet, dass es Evelyne im Moment schwerfällt, sich im Unterricht zu konzentrieren. Sie wurde deshalb zweimal für eine Stunde in eine andere Klasse geschickt. Ich möchte Sie zu einem Gespräch einladen, um mit Ihnen gemeinsam zu überlegen, was wir tun können. Wir wollen Ihre Tochter unterstützen, damit sie weniger Konflikte hat und sich besser auf die Unterrichtsinhalte einlassen kann. Das Gespräch findet am Dienstag, 30. November 2018, um 17.00 Uhr im Klassenzimmer ihrer Tochter statt. Ich hoffe, Sie können sich den Termin einrichten, und bitte Sie um ein kurzes Feedback. Herr Zehnder, Evelynes Sportlehrer, wird ebenfalls am Gespräch teilnehmen. Er hat eine gute Beziehung zu Evelyne und wird uns helfen, passende Lösungen zu finden. Ich bin überzeugt davon, dass unsere gute Zusammenarbeit das Verhalten von Evelyne positiv beeinflussen wird. Freundliche Grüße H. Ingold, Klassenlehrer«

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Mit dieser Einladung steuert die Lehrkraft bereits das zentrale Ziel an, nämlich gemeinsames Handeln in die Wege zu leiten. Wir empfehlen, dass die Lehrkraft auch die Schülerin über das geplante Treffen mit ihren Eltern informiert und ihr mitteilt, ob und zu welchem Zeitpunkt sie am Gespräch teilnehmen soll. Die Lehrkraft bleibt dabei sachlich und lässt sich weder in ein weiteres Gespräch noch in Verhandlungen verwickeln oder gar zu drohenden Aussagen hinreißen, auch dann nicht, wenn die Schülerin provokativ reagiert. Die Lehrkraft kann eine Kollegin mit einer guten Beziehung zur Schülerin informieren. Diese sagt der Schülerin, sie habe gehört, dass ihre Eltern zu einem Gespräch kämen. Sie fände das begrüßenswert, und sie sei für die Schülerin da, falls sie das wünsche. Drittens ist das Führen des eigentlichen Gesprächs zentral für eine erfolgreiche Zusammenarbeit mit den Eltern. Ist das Vertrauen zwischen den Eltern und einer Lehrkraft angeschlagen, wird das Gespräch besonders schwierig. Dann kann die Schulleitung, eventuell auch die Schulpsychologin oder eine Vertrauenslehrerin, das Gespräch moderieren. Wer immer das Gespräch leitet, gute Erfahrungen haben wir mit zwei Klassikern der Gesprächsführung gemacht: der gewaltfreien Kommunikation nach Marshall B. Rosenberg (2013) und dem lösungsorientierten Ansatz nach Steve de Shazer (1982). Je besser die in der Schule Tätigen verschiedene Kommunikationstechniken beherrschen, desto sicherer fühlen sie sich beim Moderieren von Gesprächen. a) Lösungsorientierter Ansatz nach Steve de Shazer: Problem talk creates problems. Solution talk creates solutions. Damit ist eine Gesprächsführung gemeint, die sich auf Ziele und Ressourcen konzentriert anstatt auf Probleme und deren Entstehung. Natürlich müssen die Probleme auf den Tisch gelegt werden, allerdings möglichst kurz und kompakt. Hier machen wir gute Erfahrungen mit der zweiten Methode:

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b) Gewaltfreie Kommunikation nach Marshall B. Rosenberg: Beobachtungen nennen (nicht Wertungen): Was sehe ich, höre ich, nehme ich wahr, ohne mich selbst oder andere zu be- oder verurteilen. Das Verhalten des Kindes wird also nicht bewertet, sondern beschrieben. Beispiel: »Eric kommt immer zu spät!« Man spürt sofort, dass die Wertung »immer« wie ein Vorwurf klingt. Eine Beschreibung dagegen ist nicht nur präziser (das erleichtert auch eine Lösungsfindung), sondern auch neutraler: »Eric ist diese Woche viermal zu spät gekommen. Am Montag in der ersten Stunde dreißig Minuten, am Mittwoch nach der Zehn-Uhr-Pause zehn Minuten und am Donnerstagnachmittag fünfzehn Minuten im Fach Französisch.« Obige Ausführungen gelten für alle Elterngespräche. Also auch für solche, welche die Grundlage für eine schulische Förderplanung gemäß ICF4 bilden (in der Schweiz Schulisches Standortgespräch genannt). Das Konzept der Neuen Autorität arbeitet zusätzlich mit Methoden, die auf eine Intensivierung der Präsenz abzielen. Ausgangspunkt ist eine besondere Form des Elterngesprächs. Wir nennen es Elterngespräch mit Ankündigung. Elterngespräch mit Ankündigung Gemeinsam gegen unerwünschtes Verhalten Der siebenjährige Max verhielt sich vom ersten Schultag an sehr störend. Er lief im Klassenzimmer umher, befolgte Anweisungen nicht, behelligte andere Kinder beim Lernen und übernahm die Rolle des Klassenclowns. Er geriet oft in Konflikte und benutzte sexualisierte Schimpfwörter. 4 Die ICF (International Classification of Functioning, Disability and Health) ist ein Instrument zur Klassifikation der Phänomene Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit. Sie wurde im Jahr 2001 von der Vollversammlung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) verabschiedet.

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Die Eltern beobachteten das problematische Verhalten von Max im Unterricht. Sie versuchten, die Lehrerin zu unterstützen, indem sie Max Belohnungen versprachen. Als das nichts nützte, bestraften sie ihn für sein Verhalten in der Schule und sperrten seine Spielsachen weg. Irgendwann hatte Max keine Spielsachen mehr, sein Verhalten aber blieb unverändert. Die Lehrerin wandte sich zusammen mit den Eltern an die Schulleitung. Diese schlug eine Ankündigung im Rahmen eines Elterngesprächs vor. Einige Tage später fand das Elterngespräch statt: Neben den Eltern und der Klassenlehrerin waren eine Fachlehrerin, ein Mitarbeiter der Betreuung und die Schulsozialarbeiterin anwesend. Elterngespräch Teil 1 – ohne Max: Die Erwachsenen besprachen unter sich, welche Verhaltensweisen sie nicht mehr dulden wollten. Die Lehrerin formulierte drei konkrete Forderungen, die ihr besonders wichtig waren: • Am Ende der Stunde steht Max ruhig hinter seinem Stuhl. (Die Lehrerin hatte ein entsprechendes Ritual in der Klasse eingeführt, mit dem sie Unterrichtssequenzen abschloss.) • Max benutzt keine schlechten Wörter. • Max tritt keine anderen Kinder. Eltern und Lehrkräfte trafen eine Vereinbarung: Beim nächsten Vorfall würde die Lehrerin sofort aus dem Unterricht heraus jemanden aus dem Unterstützungsnetz anrufen und erzählen, was sich gerade abspielte. Diese Person würde später mit Max drüber sprechen und mit ihm eine Lösung suchen, wie er künftig dieses Verhalten vermeiden könne. Und in sechs Wochen würden sich alle wieder treffen. Elterngespräch Teil 2 – mit Max: Die Schulleiterin holte Max ins Büro und forderte ihn auf, sich neben sie auf den freien Stuhl zu setzen. Sie erzählte ihm, was die Erwachsenen besprochen hatten, und kündigte ihm an, dass alle Erwachsenen, die im Raum versammelt waren, sein Verhalten in der Schule nicht länger

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dulden würden. Sie überreichte ihm eine Karte, auf welcher die drei Forderungen der Lehrerin aufgeschrieben und von allen Erwachsenen zur Bestätigung unterschrieben waren. In den nächsten Tagen ging die Schulleiterin ab und zu in der Klasse vorbei und fragte die Lehrerin, ob sich Max an die Forderungen halte. Sie achtete darauf, dass Max sie dabei sah, und ermunterte ihn, so weiterzumachen. Nach drei Wochen holte die Schulleiterin Max in ihr Büro, und gemeinsam schrieben sie eine E-Mail an seine Eltern. Sie berichteten, dass sich sein Verhalten deutlich verbessert habe. Und die Lehrerin musste nie aus dem Unterricht heraus jemanden anrufen. Beim Gespräch sechs Wochen später lobten alle Max für seine großen Fortschritte.

Interessant ist die Tatsache, dass sich das Verhalten von Max grundlegend veränderte. Nicht schwatzen oder nicht umhergehen im Unterricht waren keine explizit formulierten Forderungen. Trotzdem wirkte sich die Ankündigung auch auf diese Verhaltensbereiche aus. Das Benehmen von Max verschlechterte sich nach ein paar Monaten zwar wieder, aber er fiel nie mehr so stark in seine negativen Verhaltensweisen zurück, wie er sie zu Beginn der ersten Klasse gezeigt hatte. Sowohl seine Eltern als auch alle an der Schule Tätigen wussten, dass Max sich im Unterricht gut verhalten konnte. Als im folgenden Schuljahr der neue Klassenlehrer der Schulleiterin berichtete, ein Schüler namens Max würde den Unterricht stören, und fragte, was zu tun sei, genügte ein kurzes, spontanes Gespräch der Schulleiterin mit Max auf dem Pausenhof, um die Situation für den Lehrer spürbar zu verbessern. Ablauf des Elterngesprächs mit Ankündigung 1. Eine persönliche Einladung sensibilisiert die Eltern für das Anliegen der Lehrkräfte und bereitet den Boden für eine Kooperation. 2. Das Gespräch selbst wird aufgeteilt in drei Themenfelder, wobei das Kind/die Jugendliche erst im dritten Teil anwesend ist. Das persönliche Gespräch mit Eltern

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a) Das Festlegen von Prioritäten, also die Einigung darauf, welche negativen Verhaltensweisen des Kindes keinesfalls toleriert werden, und die Einigung, sich auf diese Verhaltensweisen zu konzentrieren und weitere zu ignorieren. b) Absprachen zur Kommunikation. c) Die Ankündigung, also das gemeinsame Vertreten der vereinbarten Forderungen gegenüber dem Kind und seine Information über die Zusammenarbeit zwischen den Lehrkräften und den Eltern. 3. Niederschwellige Folgekontakte zum Kind gewährleisten die Nachhaltigkeit. Themen des Elterngesprächs mit Ankündigung Prioritäten setzen Prioritäten zu setzen ist für das Gelingen einer Ankündigung entscheidend. Eine klare Fokussierung auf wenige Ziele respektive eindeutig formulierte Anforderungen erhöht die Bereitschaft der Eltern für eine Zusammenarbeit. Zu umfassende Forderungen seitens der Schule bergen das Risiko der Überforderung, sodass die Eltern offen Widerstand leisten oder die Dinge passiv im Sand verlaufen lassen. Hauptakteure im Umgang mit Verhaltensproblemen von Schülerinnen und Schülern sind die Klassenlehrkräfte. Deshalb haben sie im Gespräch die Hauptrolle. Eine mögliche Einleitung: »Die letzte Zeit war für Ihren Sohn sicher nicht einfach. Ich habe darüber nachgedacht, wie wir ihm helfen können. Erst indem wir unsere Erwartungen an ihn klären und eingrenzen, geben wir ihm eine Chance auf Erfolg. Meines Erachtens gibt es eine Reihe von Verhaltensweisen, die wir vorerst einmal getrost ignorieren können. Dadurch können Sie und ich uns gemeinsam auf wenige Verhaltensmuster konzentrieren, die wir nicht akzeptieren wollen.«

Damit signalisiert die Klassenlehrkraft den Eltern, dass das Wohl des Kindes für sie an erster Stelle steht. Die Bereitschaft, über eine Reihe 84

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von Verhaltensmustern hinwegzusehen und sich nur auf diejenigen zu konzentrieren, die völlig unakzeptabel sind, versetzt die Lehrkraft den Eltern und dem Schüler gegenüber in eine positive Position und schafft Goodwill für ihre Bitte um Rückendeckung durch die Eltern. Eine Priorisierung und das vorläufige Ignorieren weiterer negativer Verhaltensmuster fällt manchen Lehrerpersonen schwer. Sie befürchten, dass diese Toleranz ihre Autorität untergräbt und eine negative Auswirkung in Form von Verunsicherung auf den Rest der Klasse haben könnte. Diese Vorbehalte sind durchaus verständlich. Sie lösen sich jedoch auf, wenn man den Unterschied zwischen einem proaktiven und einem reaktiven Verzicht versteht. Ein reaktives Übersehen bedeutet, dass der Lehrer aufgrund einer Vielzahl von Zwischenfällen nicht mehr konsequent reagiert – was seine Autorität tatsächlich schwächt. Ein proaktives Ignorieren ist eine vorläufige, bewusste Entscheidung, die gemeinsam mit dem übrigen Lehrkörper und den Eltern getroffen wird. Durch einen proaktiven Verzicht in Absprache mit den Eltern erhält die Lehrkraft zudem deren Unterstützung im Umgang mit völlig indiskutablen Verhaltensmustern des Sohnes oder der Tochter. Eine knappe, im Vorfeld mit den Eltern und der Schülerin abgesprochene Information in der Klasse schafft Transparenz, beugt damit möglichen Verunsicherungen vor und stärkt den Status der Lehrkraft zusätzlich. Diese könnte zum Beispiel so lauten: »Ihr habt sicher alle bemerkt, dass Eliane in letzter Zeit Probleme in der Schule hatte. Wir haben diese im Rahmen eines Elterngesprächs zusammen mit dem Schulleiter besprochen und uns für ein schrittweises Vorgehen entschieden mit Anforderungen, die für uns Priorität haben.«

Auf diese Weise zeigt sich eine Lehrkraft ihrer Klasse gegenüber handlungsfähig und tritt nicht allein, sondern als Repräsentantin eines Netzwerks auf. Verhaltensmuster, die man priorisieren respektive bei einem ersten Schritt übersehen muss, unterscheiden sich je nach spezifischen Das persönliche Gespräch mit Eltern

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Schwierigkeiten der Schülerin, sie unterscheiden sich von Lehrerin zu Lehrer und von Situation zu Situation. Oft erwarten Eltern, dass das gesamte Lehrerteam in gleichförmiger Konsequenz handelt und sich auf eine Prioritätenordnung einigt. So verständlich diese Erwartung auch ist, realistisch ist sie nicht. Lehrkräfte können nicht immer alle genau gleich reagieren. Sie sind Individuen mit unterschiedlichen Persönlichkeitsstrukturen. Wir empfehlen, dass die Lehrkraft sich vor dem Gespräch mit einigen Kolleginnen und Kollegen abspricht, deren Meinungen einholt und sie somit in die vereinbarte Prioritätenordnung einbezieht. Auch hier stärkt die selektive Fokussierung, anstatt zu schwächen. Der Ehrgeiz, eine schulübergreifende Koordination zu erreichen, verringert die Aussicht auf eine zwar unvollständige, jedoch bedeutungsvolle Kooperation. Auch eine Zusammenarbeit im Rahmen einer begrenzten Gruppe unterstützt die individuelle Lehrerperson erheblich. Es wäre falsch, einiger passiver Lehrkräfte wegen auf diese Stärkung zu verzichten. Man wird nie vom gesamten Team unterstützt werden, und das Bemühen um ein absolut vereinheitlichtes Vorgehen ist verfehlt. Im Elterngespräch geht es nun darum, die negativen Verhaltensformen zu priorisieren und die höchste Priorität jenen einzuräumen, denen man entschlossen entgegentreten will. Es ist ratsam, sich auf zwei Verhaltensformen zu konzentrieren, die gemeinsames Handeln rechtfertigen. Klassische Beispiele hierfür sind verbale oder physische Gewalt gegenüber Lehrkräften oder Mitschülern, Vandalismus, unerlaubtes Verlassen der Klasse oder Schwänzen. Man sollte darauf achten, dass der gemeinsame Widerstand nicht mehr als zwei dieser Bereiche umfasst. Damit steigen die Chancen auf Kooperation der Eltern. Eltern wie Lehrer sollen gestärkt werden. Dieses Ziel ist erreicht, wenn beide Parteien übereinstimmend auf die schwierigsten Verhaltensmuster reagieren. Durch das Setzen von Prioritäten positioniert sich die Lehrkraft als jemand, der das Gespräch zu einem greifbaren Ergebnis führt: praktisches Handeln und das Etablieren einer Kooperation zum Wohle des Kindes. Eine Prioritätenordnung vermittelt auch die 86

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wirkungsvolle Botschaft, dass nicht alle negativen Verhaltensformen gleichermaßen wichtig sind. Keine Hausaufgaben zu machen kann nicht mit physischer Gewalt gleichgesetzt werden und unerlaubt aufzustehen nicht mit der Weigerung, während des Unterrichts die Hefte aus der Tasche zu holen. Die Neigung, sämtliche abweichenden Verhaltensmuster in einen Topf zu werfen, verzerrt die Aussagen und erschwert ein gemeinsames Vorgehen. Sinnvoll Priorisieren – die Technik der drei Körbe (nach Ross Greene)

• Der grüne Korb: Dieses Verhalten ist ärgerlich, aber tolerierbar. In den grünen Korb gehört störendes Verhalten, das mit den Begrenzungen des Kindes oder des Jugendlichen zu tun hat. Wäre die Beziehung nicht so eskaliert, würde es für das Kindes- und Jugendalter beinahe als normal durchgehen. Oft haben diese Verhaltensweisen für Lehrkräfte oder Eltern durchaus einen hohen Stellenwert. Sie werden mit einem gewissen Bedauern, aber auch mit Erleichterung in den Korb gelegt: Ein aufgeräumtes Kinderzimmer wird von den allermeisten Eltern als wichtig eingeschätzt. Gleichzeitig kennen wir fast keine Familie, in der die Kinderzimmer wirklich ordentlich sind. Und so kommt in den grünen Korb das zwar ärgerliche Verhalten, das Eltern und Lehrkräfte aber vorläufig ignorieren: Darüber regen wir uns nicht mehr auf! Diese Entscheidung hilft, die einzelnen Verhaltensweisen von dem Grundsätzlichen zu trennen. Natürlich wird das Kind weiterhin an seine Pflichten erinnert und ermahnt, wenn es sie vernachlässigt. Doch es lohnt sich nicht, für dieses Verhalten eine Eskalation zu riskieren. • Der gelbe Korb: Dieses Verhalten ist langfristig nicht akzeptabel. In diesen Korb gehören Verhaltensmuster, die langfristig pro­ blematisch sind, die aber derzeit nicht im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen. Hier werden alle Verhaltensweisen gesammelt, bei denen die Lehrkräfte oder die Eltern bereit sind zu verhandeln, KomproDas persönliche Gespräch mit Eltern

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misse einzugehen, Entgegenkommen zu signalisieren. Sie sind wichtig, jedoch nicht so wichtig, um Gegenstand des gewaltlosen Widerstands zu werden. Sie werden später verhandelt und vorläufig als Thema in der Familie oder in der Schule bedeutsam bleiben. • Der rote Korb: Dieses Verhalten muss sich sofort ändern. Dieser Korb ist der kleinste. In ihn gehören die Verhaltensweisen, die Eltern und Lehrkräfte auf keinen Fall akzeptieren. Hier sind die Beschwerden versammelt, für die es sich lohnt, Widerstand zu zeigen und Maßnahmen zu ergreifen. Alle Aspekte kindlichen Verhaltens, die mit Sicherheit zu tun haben, gehören ganz gewiss hier hinein (Selbstgefährdung, Gefährdung der körperlichen Integrität anderer, zum Beispiel der Geschwister, Mitschüler, Eltern, Zerstörung von Gegenständen). Ein großer Teil der Beratungsarbeit wird darin bestehen, in diesen Korb maximal drei Verhaltensweisen hineinzulegen. Der jeweilige Aspekt muss so wichtig sein, dass die Erwachsenen bereit sind, dafür heftige Auseinandersetzungen in Kauf und die Mühe gewaltloser Widerstandsmaßnahmen auf sich zu nehmen (Omer u. von Schlippe, 2010/2016). Kommunikation vereinbaren

Stehen die Prioritätenordnung und zwei Hauptthemen fest, geht es darum, den Informationsfluss zwischen Schule und Eltern zu organisieren. Ein täglicher Austausch soll auf etwa drei Wochen begrenzt werden. Danach wird nur noch dann kommuniziert, wenn es nötig ist. Drei Wochen sind eine Zeitspanne, in der man – vorausgesetzt man beschränkt sich auf maximal zwei, drei zentrale Probleme − Ergebnisse beobachten kann. Wichtig ist, dass diese Kommunikation persönlich bleibt. Dabei muss eine Lehrermitteilung an die Eltern nicht lang sein, es sollen aber auch positive Verhaltensweisen des Kindes erwähnt werden, denn diese festigen das Bündnis zwischen Lehrkräften und Eltern. Zum Beispiel: »Heute hat sich Julian in der Mathematikstunde wirklich gut benommen«, oder »Lina hat bei der Vorbereitung der Festaufführung schön mit ein paar anderen 88

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Kindern der Klasse zusammengearbeitet«. Beim Auftreten problematischer Zwischenfälle werden die Eltern gebeten, ihren Kindern zu sagen, dass sie mit dem Lehrer gesprochen hätten, wüssten, was vorgefallen sei, und nun alle über eine angemessene Lösung nachdächten. Zum Beispiel: »Wir wissen, dass du ein Mädchen in deiner Klasse geschlagen hast. Wir werden mit deinem Lehrer zusammen darüber nachdenken, wie wir dafür sorgen können, dass so etwas nicht wieder vorkommt!« Je nach Situation lohnt es sich, die tägliche Kommunikation mit dem Elternteil aufzubauen, der bisher rund um die Geschehnisse in der Schule wenig aktiv war. Erstens wird so das Bündnis auch mit diesem Elternteil gestärkt, und zweitens besteht weniger die Gefahr, dass eine Mutter oder ein Vater in die alten Muster des bisherigen Austausches mit der Schule zurückfallen. Ermüdungserscheinungen aus vorhergehenden, negativ besetzten Kontakten mit der Schule sind nämlich hinderlich für die Verarbeitung und Weitergabe von Informationen an das Kind oder den Jugendlichen. Viele Eltern von Kindern mit problematischen Verhaltensmustern erzählen, dass ihr Blutdruck zu bestimmten Tageszeiten allein schon deshalb ansteige, weil sie einen Anruf von der Schule erwarten. Eine Lehrkraft kann aufgrund früherer Kontakte einschätzen, ob ein solches Ermüdungsrisiko besteht. Bei Bedarf geht sie im Rahmen des Elterngesprächs darauf ein, zum Beispiel mit folgender Botschaft: »Ich kann mir vorstellen, dass Telefonanrufe von der Schule Sie nervös machen. Darum werden wir diese Gespräche möglichst kurz und sachlich halten und jeden vorwurfsvollen Ton vermeiden. Sie, Frau Engeler, haben in den letzten Monaten viel von der Schule entgegennehmen müssen. Was halten Sie davon, Herr Engeler, wenn ich in der kommenden Woche Ihnen Bericht erstatte anstatt Ihrer Frau, die sich vielleicht ein wenig von all dem erholen muss?«

Das Angebot eines täglichen telefonischen Kontakts ist für Lehrkräfte zweifellos eine Zusatzbelastung. Die meisten sind aber für Das persönliche Gespräch mit Eltern

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einen vereinbarten und begrenzten Zeitraum zu diesem Aufwand bereit. Eine Lehrerin lieferte uns eine bestechende Erklärung: »Ich war mit dem Vorschlag einverstanden, weil sich das für mich lohnte. Ich habe diesen Eltern ohnehin schon fast täglich geschrieben oder mit ihnen gesprochen, wobei diese Gespräche mitunter sehr lang oder sehr unangenehm wurden. Eine fokussierte Definition der täglichen Kommunikation tut mir gut und spart mir Zeit!«

Für unseren Ansatz ist die Einsicht wesentlich, dass der Aufwand eine gute Investition ist und langfristig Zeit und Ärger spart. Die Leiterin eines großen Projekts in Deutschland erzählte uns, die Lehrkräfte hätten zunächst empört gefragt, wo sie all die Zeit hernehmen sollten. Einige Monate später aber sei diese Frage völlig irrelevant geworden. Sie hätten verstanden, dass sie mit dem Programm Zeit und Energie sparten und weniger Stress hatten. Im einführenden Beispiel von Max wurde auf eine tägliche Information verzichtet. Die Schulleitung zeigte mehr Präsenz, und es gab die Option eines Notfall-Telefonats. Je vertrauter man mit dem Konzept der Neuen Autorität ist, desto besser versteht man die Grundprinzipien und kann Gestaltungsspielräume nutzen, um das Vorgehen der Situation und dem einzelnen Setting anzupassen. Die Ankündigung

Die Ankündigung ist der erste für das Kind sicht- und spürbare Ausdruck der Kooperation zwischen der Lehrkraft und den Eltern. Im Gegensatz zur Vereinbarung handelt es dabei um eine einseitige Mitteilung, die nicht erwidert oder gar diskutiert wird. Sie zeigt auf, welchem negativen Verhalten des Kindes Lehrkräfte und Eltern fortan gemeinsam mit Entschlossenheit entgegentreten werden. Bei allen Interventionen nach dem Konzept der Neuen Autorität ist die Dramaturgie ein wichtiges Element. Auch bei der Ankündigung im Elterngespräch maximieren ein paar einfache Vorbereitungen den Erfolg. 90

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Wir empfehlen: • die Sitzordnung bewusst zu gestalten und Stühle in einem Kreis (falls möglich ohne Tisch in der Mitte) anzuordnen. Die Eltern setzen sich links und rechts neben die Lehrkraft. Diese Sitzordnung unterstreicht die gegenseitige Unterstützung und die Botschaft der gemeinsamen Haltung. Weitere Personen, zum Beispiel Hortmitarbeitende, die Schulsozialarbeiterin, Fachlehrkräfte etc., verteilen sich gleichmäßig links und rechts der Eltern. Der Stuhl für das Kind steht der Lehrkraft, welche die Ankündigung macht, genau gegenüber. • die vereinbarten Prioritäten in eine kurze schriftliche Mitteilung zu fassen, die die Lehrkraft dem Kind vorliest. Das verleiht der Situation einen offiziellen Anstrich und ermöglicht, sachlich und zielorientiert zu bleiben. • die Eltern (und andere Anwesende) auf die Ankündigung vorzubereiten und zum Beispiel Vorbehalte zur Sitzordnung vorab zu klären. Einigen Eltern macht es Mühe, sich so offensichtlich gegen das eigene Kind zu positionieren. Hier lohnt es sich, den Eltern nochmals zu erklären, dass sich die Ankündigung und damit auch die gemeinsame, durch die Sitzordnung sichtbar gemachte Positionierung ausschließlich auf die im Vorfeld gemeinsam besprochenen negativen Verhaltensweisen des Kindes beziehe und nicht auf das Kind als Person. Sollte das Kind zu Hause den Eltern Vorwürfe machen, könnten diese antworten: »Du weißt, dass wir dich liebhaben und dich immer beschützen werden. Und genau darum tolerieren wir dein Verhalten nicht länger und arbeiten bei den Themen, die du heute gehört hast, mit der Schule zusammen. Das ist nicht gegen, sondern für dich.«

Wir kommunizieren auch über unsere Mimik und Körperhaltung. Sie müssen mit dem Akt der Ankündigung übereinstimmen. Eltern tendieren instinktiv dazu, bei einer so ernsthaft gestalteten Sache dem Kind entschuldigend zuzulächeln oder ihm den Arm um die Das persönliche Gespräch mit Eltern

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Schulter zu legen, um es vor der unangenehmen Situation zu schützen. Das wäre der Botschaft eines gemeinsamen, entschlossenen Handelns gegen die negativen Verhaltensweisen des Kindes abträglich. Kinder nehmen sehr schnell wahr, wie ernst ihre Eltern die Zusammenarbeit mit der Schule nehmen. Die Eltern und alle anderen Anwesenden müssen wissen, dass die Lehrkraft diesmal das Kind nicht fragen wird, was es vom Gesagten halte und ob der Inhalt akzeptabel sei. Nach Verlesen der Ankündigung wird es aufgefordert, den Raum zu verlassen und in seine Klasse zurückzukehren. Nach der Ankündigung mit dem Kind darüber zu debattieren, schwächt die Wirkung merklich. Befürchten Eltern oder Lehrkraft Diskussionen, Unverschämtheiten oder Vorwürfe des Schülers, müssen die Eltern genau wissen, dass die Lehrkraft sich nicht darauf einlassen, sondern ganz einfach mit der Ankündigung fortfahren wird. Beispiel einer Ankündigung: »Wir, deine Eltern, die Fachlehrerin, die Schulsozialarbeiterin und ich, sind hier zusammengekommen, weil wir dein Verhalten der letzten Wochen nicht länger tolerieren. Gemeinsam mit deinen Eltern haben wir beschlossen, jeder verbalen Gewalt gegenüber dem Lehrerkollegium entschieden entgegenzutreten. Das Gleiche gilt für unerlaubtes Verlassen der Klasse. Deine Eltern und ich werden in dieser Angelegenheit täglich in Kontakt bleiben und nötigenfalls weitere Lehrkräfte mit einbeziehen. Du bist uns wichtig, und deshalb wollen wir an dieser Schule nicht auf dich verzichten, aber auch keine Nachsicht üben.«

Sowohl die Eltern als auch der Schüler erhalten eine Kopie der Ankündigung. Die Eltern bittet man, sie am Kühlschrank oder an einem anderen, gut sichtbaren Ort aufzuhängen. Wird die Ankündigung aus irgendeinem Grund verhindert, weigert sich zum Beispiel das Kind, den Raum zu betreten, vereinbart man einen neuen Termin. Dies gilt auch, wenn Eltern bereits zu Beginn des Gesprächs mitteilen, der Sohn könne leider nicht wie ver92

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einbart zum zweiten Teil des Gesprächs erscheinen, da er zum Fußballtraining gehen müsse. Die Variante der Ankündigung zu einem späteren Zeitpunkt ohne Anwesenheit der Eltern sollte nur in absoluten Notfällen gewählt werden. Alternativ teilen die Eltern bei der Ankündigung dem Kind mit, dass sie auch die Patin (oder eine andere wichtige erwachsene Bezugsperson des Kindes) informieren würden. Gerade Sporttrainer haben einen großen Einfluss auf Kinder und Jugendliche. Erfahrungsgemäß haben sie ein großes Interesse daran, dass ihre Schützlinge auch in der Schule erfolgreich sind. Eine Ankündigung ist kein trivialer Schritt. Sie will überlegt und geplant eingesetzt sein. Ist es bei anderen Vorkehrungen durchaus sinnvoll, den Dialog mit der Schülerin zu suchen, erweist er sich für eine Ankündigung im Elterngespräch als Stolperstein und beeinträchtigt die Botschaft und deren Wirksamkeit. Eine Ankündigung wirkt durch Präsenz und Vernetzung der Erwachsenen, und zwar unabhängig vom Einverständnis, der Einsicht oder dem Willen des Kindes zur Mitarbeit. Das wichtigste Element ist darum die Selbstkontrolle der Erwachsenen nach dem Grundsatz: Ich kann das Verhalten des Kindes nicht kontrollieren, nur mein eigenes. Für die meisten Erziehenden – ob zu Hause oder in der Schule – ist dies ein Paradigmenwechsel. In Situationen, in denen Eltern oder Lehrkräfte nicht weiterwissen, weil das Kind trotz vieler Gespräche, Zielvereinbarungen oder herkömmlicher Strafen nicht gehorcht und nicht einsichtig ist, ist genau dieser Paradigmenwechsel der Weg heraus aus der Ohnmacht. Eltern und Lehrer fragen sich mitunter, welche Sanktionen diese Ankündigung begleiten sollen, falls sich beim Kind keine Besserung einstellt. Auf geeignete Reaktionen gehen wir später ein. Zunächst nur so viel: Man muss verstehen, dass das wirkungsvollste Werkzeug zur Stärkung der Autorität von Eltern und Pädagogen allein schon die Demonstration gemeinsamer Präsenz und Entschlossenheit ist. Beobachtung, Kommunikation und Kooperation zwischen Lehrkräften und Eltern sind die wichtigsten Elemente zur Verringerung problematischer Verhaltensmuster. Die einfachste Reaktion auf einen Das persönliche Gespräch mit Eltern

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unerwünschten Vorfall ist daher die Mitteilung der Lehrkraft ans Kind, die Schule und seine Eltern würden gemeinsam über ihr Vorgehen gegen negatives Verhalten nachdenken. Die Eltern sagen dem Kind, dass sie über den Vorfall Bescheid wüssten, und fragen, was es zu tun beabsichtige, um die Situation zu verbessern. Dadurch demonstrieren Eltern und Lehrer, dass sie koordiniert handeln und die Entwicklungen gemeinsam beobachten. Weitere wirkungsvolle Reaktionen werden in ▶ Kapitel 7 detailliert geschildert. Dass wir das Verlaufsschema für ein Treffen zwischen Eltern und Lehrkräften so ausführlich darstellen, hat zwei Gründe: Erstens können Elterngespräche schnell mehr schaden als nützen, und zweitens erhöhen Vorbereitung und klare Struktur die Effizienz eines Treffens erheblich. Nicht umsonst stellen wir unser Programm im unmittelbaren Anschluss an das Thema Lehrer-Eltern-Diplomatie vor. Die Weisheit der Diplomatie dient genau dazu, potenzielle Eskalationen zu vermeiden und Begegnungen maximal nutzbringend zu gestalten. Das Einhalten von geregelten Abläufen erfordert zwar Engagement, verringert jedoch die Risiken und fördert die Erfolgsaussichten einer Begegnung ganz enorm. Entscheidet sich eine Schule für ein strukturiertes Vorgehen, das Vorbereitung, Ablaufschema und definierte Ziele umfasst, und achtet sie auf eine respektvolle Einleitung und eine Nachkontrolle der Beschlüsse, so stehen die Chancen für einen Erfolg sehr gut. Die Beziehung zu den Eltern festigen Inzwischen orientieren sich viele Schulen im In- und Ausland am Konzept der Neuen Autorität und legen Wert auf eine gute Beziehung zwischen Lehrkräften und Eltern. Eine Schule in Berlin mit Schülerinnen und Schülern vom Kindergartenalter bis zum Gymnasium und einem sehr durchmischten sozialen Umfeld führte ein Programm zur Stärkung der Lehrerschaft ein, das auf den Prinzipien der Neuen Autorität aufbaut. Dazu gehörte eine lange Reihe von Veranstaltungen mit dem Ziel, Eltern und Lehrkräfte einander näherzubringen. Hier einige Beispiele: 94

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• Die Schule lud alle Eltern ein, Besuchstermine zu vereinbaren, in die Klassen zu gehen und am Unterricht teilzunehmen. • Lehrer wurden wiederholt aufgefordert, den Eltern ihre Kontaktdaten mitzuteilen, sodass sie für Fragen, Anmerkungen und Bitten von Eltern problemlos erreichbar waren. • Der gesamte Lehrkörper wurde angewiesen, schon zu Beginn des Schuljahres persönlich mit den Eltern Kontakt aufzunehmen (in Form von Telefongesprächen und Hausbesuchen). • Die Schule verfasste einen Leitfaden zur Gestaltung von Elterngesprächen, der auf eine möglichst enge Kooperation mit den Eltern abzielte (die Gespräche wurden in Rollenspielen eingeübt). • Die Schule stand in regelmäßigem Kontakt mit den gewählten Elternbeiräten aus jeder Klasse und Jahrgangsstufe. • In sogenannten Eltern-Cafés besprachen Lehrkräfte mit Eltern der verschiedenen Jahrgangsstufen wichtige Fragen. Sie thematisierten zum Beispiel den Wechsel in die nächsthöhere Schulstufe, die elterliche Fürsorgepflicht gegenüber Heranwachsenden, Gefahren wie Internetsucht, Mobbing in sozialen Netzwerken etc. • Die Schule initiierte vergnügliche Anlässe für Eltern und Lehrkräfte, manche mit den Kindern zusammen und manche ohne sie. • Die Schule organisierte Kurse für Eltern und Kinder (Deutschkurse für Familien, gemeinsamer Computer- und Internetunterricht). • Die Schule regte einen Kochkurs mit den Eltern an, der Schwerpunkt lag auf ethnischer Küche. Die meisten Schulen warten bereits jetzt mit ähnlichen Veranstaltungen auf. Diese Beispiele sind als Anregungen zu verstehen und sollen Mut machen, diesen Weg konsequent und mit neuem Bewusstsein weiter zu verfolgen. Wir wiederholen, dass die Prinzipien der Neuen Autorität auf verschiedenen Ebenen umgesetzt können, beginnend bei einer individuellen Lehrkraft und einem Elternteil über eine Gruppe von Lehrkräften bis hin zu schulübergreifenden Initiativen. Die erwähnte Schule in Deutschland wurde aktiv, um auch Eltern Das persönliche Gespräch mit Eltern

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zu erreichen, die mit dem deutschen Schulsystem nicht vertraut und ihm bislang eher skeptisch oder gar misstrauisch begegnet waren. Die Schulleitung erkannte, dass die Schule ihren Problemen weiterhin ohnmächtig gegenüberstehen würde, wenn es nicht gelang, die Kluft zwischen diesen Eltern und den in der Schule Tätigen zu schließen. Die Annäherung ebnete den Weg für systematisches Handeln zur Stärkung von Lehrkräften und Eltern. Gewalt und Einfluss von Randgruppen nahmen deutlich ab. Stimmung und Befindlichkeit der Lehrkräfte wurden positiv beeinflusst. Letzteres stach vor allem angesichts der schwierigen Situation an anderen Schulen mit ähnlicher Demografie ins Auge. In den folgenden Abschnitten beschreiben wir einige der Prinzipien und Vorgehensweisen, die Lehrkräften einen Schulterschluss mit den Eltern ermöglichen − zum Vorteil aller Beteiligten, die sich dadurch weniger allein, sicherer und gestärkter fühlen und über ein breiteres Spektrum an Reaktionsmöglichkeiten verfügen. Schultüren für Eltern öffnen Eine wirksame Intervention in Fällen von schwierigem Verhalten ist die Elternpräsenz im Schulalltag. Manche Lehrkräfte beurteilen diese Maßnahme anfangs kritisch, weil sie negative Erfahrungen gemacht haben mit Eltern, die sich in ihre Arbeit einmischten. Die Vorbehalte sind verständlich. Wir wissen aber auch, dass mit zunehmendem Vertrauensverhältnis zwischen Schule und Eltern die Einmischungen abnehmen. Trotzdem wird Elternpräsenz im Klassenzimmer sinnvollerweise mit Lehrkräften lanciert, die offen dafür sind. Berichten diese Lehrkräfte an Teamweiterbildungen von ihren Erfahrungen, ermutigen sie andere Kolleginnen zur Erprobung. Das schrittweise Vorgehen lässt Raum für regelmäßige Reflexion und Evaluation. Elternpräsenz wirkt über die physische Anwesenheit hinaus Mircos Verhalten wurde im Laufe seiner Schulzeit immer schwieriger. Zwei Lehrerinnen teilten sich die Verantwortung für die Klasse. Nach

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etlichen Gesprächen mit den Eltern und verschiedensten Maßnahmen sprachen sie zu Beginn der sechsten Klasse bei der Schulleiterin vor und meldeten, dass Mirco so in der Klasse nicht mehr tragbar sei. Die Schulleiterin schlug ihnen vor, eine Intervention nach den Prinzipien der Neuen Autorität zu versuchen. Mit Zustimmung der Lehrerinnen lud sie die Eltern ein. Statt einer Ankündigung, wie oben beschrieben, wählten sie die Intervention »Elternpräsenz im Klassenzimmer«. Die Mutter von Mirco war bereit, sich darauf einzulassen und immer mittwochs von zehn bis zwölf Uhr den Unterricht zu besuchen. Anschließend würde sie sich in einem maximal zehnminütigen Gespräch im Beisein von Mirco mit den Lehrerinnen austauschen. Am Schluss des Elterngesprächs wurde die Vereinbarung Mirco mitgeteilt – ähnlich wie eine Ankündigung. Mit dem ersten Unterrichtsbesuch der Mutter veränderte sich Mircos Verhalten positiv, und zwar nicht nur, wenn seine Mutter im Unterricht präsent war (das war zu erwarten), sondern in allen Stunden, auch jenen der Fachlehrkräfte. Angespornt durch diesen Erfolg intervenierten auch andere Lehrkräfte auf dieselbe Weise, mehrheitlich mit gutem Erfolg.

In der Umsetzung von Elternpräsenz im Klassenzimmer sind folgende Punkte zu beachten: • Wöchentliche Unterrichtsbesuche immer zur gleichen Zeit (zum Beispiel immer mittwochs 10–12 Uhr). • Aufrechterhalten der Maßnahme über einen Zeitraum von 8 Schulwochen, auch wenn sich das Verhalten des Kindes schnell verbessert. • Einplanen eines Kurzgesprächs zwischen Elternteil, Lehrkraft und Kind im Anschluss an die Besuche. • Vor Beginn der Besuche Klärung der Rolle, welche die Eltern während ihrer Präsenz im Unterricht innehaben; manche Eltern ziehen es vor, das Geschehen im Klassenzimmer still zu beobachten, andere nehmen lieber eine aktive Rolle ein und unterstützen ihr Kind beim Lernen. Beides funktioniert. • Delegation der Aufgabe für den Fall, dass Mutter oder Vater einDas persönliche Gespräch mit Eltern

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mal verhindert sind, zum Beispiel an Großeltern oder andere erwachsene Familienmitglieder. • Vorbereitendes Elterngespräch, in dem obige Punkte vorab geklärt werden. Die Abmachungen werden in einem kurzen Protokoll festgehalten. Auch der Zeitpunkt des Auswertungsgesprächs wird terminiert. Das schafft Verbindlichkeit und betont die zeitliche Begrenzung der Intervention sowie die anschließende Neubeurteilung der Situation. Wir wollen die Stolpersteine nicht verschweigen: In einem Fall meldete eine Lehrerin nach kurzer Zeit, dass die Anwesenheit des Vaters ihr den Unterricht erschwere. Er mische sich bei Streitigkeiten seines Sohnes ein. Hier wurde die Aktion nach drei Wochen beendet, weil sich die Situation nicht beruhigte und die Lehrerin nur zusätzlichen Aufwand hatte. Auch der Vater merkte, dass ihn die ganze Sache enervierte.

Es kommt vor, dass eine Intervention abgebrochen werden muss. Geschieht das im gegenseitigen Einvernehmen, verschärft sich die Problematik nicht, und es gibt auch keinen Vertrauensbruch. Im beschriebenen Fall wurde in Absprache mit den Eltern eine konträre Maßnahme ergriffen und ganz auf tägliche oder spontane Meldungen an die Eltern verzichtet. Die Mutter kam aber alle zwei Wochen zu einem kurzen Gespräch und zur Einsicht in die Prüfungen in die Schule. Ganz umsonst war aber auch die Anwesenheit des Vaters im Unterricht nicht gewesen. Er hatte gegen verschiedene in der Schule tätige Personen Vorwürfe erhoben, die vermutlich auch sein Sohn mitbekommen hatte. Diese verstummten ganz. Der Vater hatte gesehen, dass sich die Lehrkraft mit voller Kraft für eine gute Klassenführung und die Förderung seines Sohnes einsetzte. Auch erkannte er, dass sich die Schule offen und engagiert für seine Anliegen zeigte. Die Situation beruhigte sich soweit, dass der Junge das Schuljahr ohne Versetzung in eine andere Schule abschließen konnte. 98

Lehrkräfte und Eltern: das unerlässliche Bündnis

Möglicherweise konkurrieren Eltern durch ihr Verhalten im Klassenzimmer mit der Rolle der Lehrkraft oder kritisieren im Anschluss an ihre Unterrichtspräsenz deren pädagogisches und didaktisches Know-how. In solchen Fällen schadet elterliche Präsenz im Klassenzimmer mehr als sie nützt. Das Kind empfindet so keinen Respekt vor der Lehrkraft. Deshalb ist vorab festzuhalten, dass die Rolle der Eltern im Klassenzimmer immer diejenige des Vaters respektive der Mutter ist und keinesfalls die einer Co-Lehrkraft oder der Aufsichtsbehörde, welche die Qualität des Unterrichts beurteilt oder kommentiert. Es lohnt sich, dieses Risiko im Vorfeld abzuschätzen und gegebenenfalls eine andere Intervention zu wählen. Als Falle erweist sich auch fehlende Verbindlichkeit seitens der Eltern. Die meisten erkennen im Gespräch die Dringlichkeit der Situation und erklären sich bereit, die zeitliche Investition zu leisten. In der Umsetzung jedoch kommt es immer wieder vor, dass Eltern Termine nicht wahrnehmen. Dadurch vermitteln sie ihren Kindern und Jugendlichen dreierlei: 1. Verbindlichkeit ist nicht so wichtig. 2. Die Situation ist für die Eltern nicht so relevant, dass sie sich dafür Zeit nehmen. 3. Du bist nicht so wichtig. Es versteht sich von selbst, dass solche Botschaften gerade bei Kindern und Jugendlichen in Krisensituationen nicht förderlich sind. Abklären, wie die Eltern sich organisieren können und welche Möglichkeiten sie haben, wenn ein Elternteil verhindert ist, gehört deshalb unbedingt zum Vorbereitungsgespräch. Eine niederschwellige Variante von Familienpräsenz wählte eine Schule in Israel. Wie das Beispiel zeigt, ist auch dieses Vorgehen wirksam. Beruhigende Präsenz der strickenden Großmutter Ein Junge (10 Jahre) mit einer Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung störte regelmäßig so massiv, dass ein Unterrichten nicht

Das persönliche Gespräch mit Eltern

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mehr möglich war. Nun begleitete ihn seine Großmutter. Jeden Tag saß sie während der letzten beiden Schulstunden vor der Tür im Korridor. Die Großmutter nutzte die Zeit, um einen Schal zu stricken, den der Enkel dann als Entschuldigung für sein Verhalten der Lehrerin schenken sollte. Dem Jungen sagte man, wenn ihm das Sitzen schwerfiele, dürfe er einige Minuten zu seiner Großmutter hinausgehen. In der Lehrersitzung einige Wochen später konnte die Klassenlehrerin eine revolutionäre medizinische Entdeckung verkünden: »Eine strickende Großmutter im Flur wirkt beruhigender als eine ganze Handvoll Ritalin-Pillen!«

Der Elternabend Das folgende Beispiel verdeutlicht, dass eine Zusammenarbeit zwischen Schule und Eltern auch bei negativen Verhaltensweisen größerer Gruppen wirksam und lohnend ist: Die Jungen einer 3. Primarklasse redeten immer häufiger abwertend und sexistisch. Klassen- und Einzelgespräche blieben erfolglos. Die Klassenlehrerin beschloss, die Eltern der Jungen einzuladen, und wies darauf hin, dass die Anwesenheit der Väter besonders wichtig sei. Die Bitte hatte Erfolg, alle Väter kamen zum Elternabend. Anwesend waren auch zwei Fachlehrerinnen, die Schulsozialarbeiterin, eine Vertretung des Betreuungsteams sowie die Jungen der Klasse. Bereits in der Einladung hatte die Lehrerin erwähnt, worum es am Elternabend gehen würde: »Es geht mir an diesem Abend nicht um eine Schuldzuweisung, sondern vielmehr um die Sensibilisierung aller Beteiligten zum Thema ›abwertende und sexistische Sprache‹. Auch wenn Ihr Kind solche Äußerungen selbst nicht macht, ist es diesen doch immer wieder ausgesetzt. Mir ist wichtig, dass wir als Erziehungsverantwortliche in dieser Sache zusammenarbeiten, uns austauschen und gleichzeitig auch Signale setzen. Wir wollen den Kindern beibringen, mit solchen Situationen umzugehen und sich adäquat zu verhalten.«

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Lehrkräfte und Eltern: das unerlässliche Bündnis

Zur Vorbereitung trug die Lehrerin der Klasse auf, folgende Fragestellungen zu beantworten: • Welche Schimpfwörter hast du schon einmal gesagt oder gehört? • Welche sind die schlimmsten Schimpfwörter, die du in der Klasse hörst? Den Ablauf gestaltete sie wie folgt: Zuerst wurden die Väter mittels eines Fake-Pingu-Films sensibi­ lisiert. In diesem Kurzfilm spricht die sonst so liebenswerte Pingu-­ Figur in einer ganz abscheulichen Sprache. Die Jungen befassten sich in dieser Zeit mit dem schulinternen Verhaltenskodex. Im Anschluss daran moderierte die Lehrerin ein Speed-Dating, wobei die Jungen den inneren, die Väter den äußeren Kreis bildeten und sich zu den Themen »sexistische Beschimpfungen und andere sprachliche Entgleisungen« austauschten. Es war wichtig, dass die Jungen auch mit den Vätern ihrer Klassenkameraden ins Gespräch kamen und diese allesamt die Ansicht vertraten, eine solche Sprache würden sie nicht gutheißen. Anschließend schredderten alle gemeinsam die schlimmsten Schimpfwörter, welche die Klasse tags zuvor eruiert und auf Papierstreifen geschrieben hatte. Jeder Vater gestaltete zusammen mit seinem Sohn ein Plakat. Darauf hielten sie ihr Versprechen fest, künftig diese und ähnliche Wörter nicht mehr zu verwenden. Sie hängten die Plakate im Klassenzimmer auf, wo sie bis zum Ende des Schuljahres blieben. Als Resultat dieser Intervention hörten sexistische Beschimpfungen und andere sprachliche Entgleisungen in dieser Klasse auf.

Entscheidend für den Erfolg waren diese Faktoren: • Gemeinsamer Auftritt der Schulmitarbeitenden: »An unserer Schule dulden wir solche Wörter und Äußerungen nicht!« • Auseinandersetzung mit dem Thema in der Klasse; • Aussage der Eltern: »Auch wir wollen das nicht!«; • Austausch zwischen Eltern und Kindern der Klasse (nicht nur zwischen Eltern und dem eigenen Kind); Das persönliche Gespräch mit Eltern

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• gemeinsames Zeichen setzen (Schreddern der Schimpfwörter als Ritual); • gemeinsame schriftliche Vereinbarung unter Einbezug der Eltern. Das Vorgehensschema wurde an weiteren Elternabenden ebenso erfolgreich eingesetzt, zum Beispiel zum Thema Mobbing unter Mädchen. Lehrkräfte müssen nicht perfekt sein In Konflikten zwischen Eltern und Lehrkräften verhalten sich auch Letztere zuweilen problematisch oder zumindest nicht optimal. Von Pädagogen wird aber ein professionelles Vorgehen erwartet. Kein Wunder, dass es ihnen schwerfällt, Fehler einzugestehen. Sie fürchten, damit ihren professionellen Status preiszugeben. Die Haltung zu Fehlern von Eltern hat sich verändert, und wir leiten daraus für Pädagoginnen dieselben wünschenswerten Veränderungen ab. Bis vor Kurzem herrschte in unserer Gesellschaft die Vorstellung einer perfekten Elternschaft. Eltern sollten stets hellhörig auf die Bedürfnisse ihres Kindes achten, immer verständnisvoll, unterstützend und liebevoll reagieren und das Kind in jeder Situation akzeptieren und ermutigen. Mangelnde Empfindsamkeit und Empathie, so die allgemeine Meinung, hinterlasse tiefe seelische Narben. Tatsache ist, dass diese hohen Erwartungen durch Eltern kaum zu erfüllen sind. Väter und Mütter haben zahlreiche Aufgaben zu bewältigen. Die Aufmerksamkeit für das Kind steht im Wettkampf mit anderen Herausforderungen wie Haushaltspflichten, Berufstätigkeit, Zuwendung für andere Kinder der Familie und nicht zuletzt auch mit der Befriedigung der elterlichen Bedürfnisse. Der Psychoanalytiker Donald Winnicott (1964) prägte einen der Begriffe, der die Eltern von diesem unmöglichen Ansinnen uneingeschränkter Aufmerksamkeit für ihr Kind befreite: eine ausreichend gute Mutter. Er erklärt, dass ein Kind sich gerade bei einer nahezu perfekten Mutter, die mit äußerster Empfindsamkeit und grenzen102

Lehrkräfte und Eltern: das unerlässliche Bündnis

loser Hingabe auf es eingehe und seine Bedürfnisse rundum erfülle, nicht richtig entwickeln könne. Jedes Kind brauche gewisse Lücken der elterlichen Aufmerksamkeit, um die Fähigkeit zu erlangen, selbst mit Schwierigkeiten umzugehen. So entfalte es zum Beispiel, wenn die Mutter zu beschäftigt sei, um es zu beruhigen oder zu trösten, gewisse Fertigkeiten der Selbstberuhigung, die für sein Gedeihen unerlässlich seien. Nur die ausreichend gute (nicht aber die perfekte) Mutter bietet dem Kind die Aufmerksamkeitslücken, die es unabhängig werden lassen. Seit Winnicott gelten diese elterlichen Unzulänglichkeiten nicht nur als zulässig, sondern als notwendig. Ganz anders verhält es sich mit den Erwartungen an Lehrkräfte. Ihnen werden keine Irrtümer zugestanden. Wie sollen sie da Fehler eingestehen? Es ist, als führte das Zugeben eines Fehlers unweigerlich zur Folgerung, die Lehrkraft eigne sich nicht für ihren Beruf. In der Schule Tätige wählen ihren Beruf, weil sie den Wunsch haben zu lehren und weil sie Kinder mögen. Doch die Realität des Schulalltags ist zermürbend: Große Klassen, vielleicht mangelnde Mittel, Isolation, fehlende Rückendeckung, unrealistische Erwartungen oder Auseinandersetzungen mit auffälligen Kindern, Jugendlichen und anspruchsvollen Eltern, Kritik von Kollegen − all das führt dazu, dass viele Lehrkräfte den Tag, die Woche oder die Zeit zwischen den Schulferien nur noch überstehen wollen. Sie ersehnen den stillen Augenblick mit ihrer Tasse Kaffee im Teamzimmer und denken zweimal darüber nach, ob sie sich wirklich auf ein zufällig aus dem Augenwinkel beobachtetes Geschehen – außerhalb des eigenen Klassenzimmers und damit außerhalb ihres eigentlichen Aufgabenbereichs – einlassen wollen. Ein Eingreifen bringt die Lehrkraft nämlich nicht nur um ihre verdiente Pause. Sie setzt sich damit möglicherweise der Kritik von Eltern aus, die ihr Kind ungerechtfertigt beschuldigt oder getadelt wähnen. Es ist unschwer zu erkennen, dass dieser Mechanismus einem guten Schulklima abträglich ist. Die Klassenführung jeder einzelnen Lehrkraft wird dadurch erschwert, was wiederum Eltern dazu bringt, noch mehr Druck auszuüben. Der Stress der in der Schule Tätigen nimmt weiDas persönliche Gespräch mit Eltern

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ter zu, und diese sind noch weniger bereit, außerhalb ihres Kernauftrages Verantwortung zu übernehmen. Kurz: Es entsteht eine Negativ-­Spirale, die langfristig niemandem dient. Der Ansatz der Neuen Autorität hat zum Ziel, alle Lehrkräfte zu unterstützen und ganz besonders diejenigen, die fast unter dem Druck zusammenbrechen und darum ihren Aufgabenbereich möglichst eng auslegen, um in diesem System überhaupt zu überleben. Unser Ziel heißt: Jede Lehrkraft kann besser arbeiten, ohne sich dabei als perfekt präsentieren zu müssen. Dies setzt einen positiven Umgang mit Irrtümern und Versagen voraus. Im Buch »Stärke statt Macht« fassen Haim Omer und Arist von Schlippe dieses Thema wie folgt zusammen: »Heutzutage erscheint schon der Versuch lächerlich, eine Fassade der Unfehlbarkeit aufrechtzuerhalten. Neue Autorität erfordert die Bereitschaft, Fehler zuzugeben und ihre Wiedergutmachung anzustreben. Die heutige Autoritätsperson ist kein Repräsentant der scheinbaren Vollkommenheit. Sie ist, wie jeder andere, aus Fleisch und Blut, bedarf manchmal einer Denkpause, benötigt bei gewissen Entscheidungen Hilfe und hat zugleich die Möglichkeit, Fehlentscheidungen rückgängig zu machen« (Omer u. von Schlippe, 2010/2016, S. 33). Fühlen sich Lehrkräfte unterstützt, fällt es ihnen leichter, Irrtümer einzugestehen. Fühlt sich eine Lehrkraft hingegen isoliert, angegriffen oder kritisiert, wird sie sich möglichst unauffällig verhalten und auch die kleinste Abweichung von der üblichen Linie tunlichst vermeiden. Lehrkräfte müssen sich von der Last der augenscheinlichen Vollkommenheit befreien, um bessere Lehrerinnen und Lehrer zu sein. Paradoxerweise ermöglicht gerade das Verstehen und Akzeptieren dieses Mangels an Vollkommenheit vielen Lehrkräften, aus der begrenzten Definition ihrer Aufgabe auszubrechen und ihre Arbeit wieder als bedeutungsvolle pädagogische Erfahrung zu erleben. 104

Lehrkräfte und Eltern: das unerlässliche Bündnis

Und nicht nur das: Das Eingestehen von Fehlern führt nicht, wie oft befürchtet, zu einem Autoritätsverlust. Im Gegenteil! Eine Lehrkraft, die Fehler offen zugibt, erlangt die Achtung der Schülerschaft und kann Situationen deeskalieren, wie folgendes Beispiel zeigt. Die Entschuldigung Herr Jost ist bereits der dritte Stellvertreter in Folge an einer achten Klasse. Nicht zuletzt aufgrund der häufigen Wechsel ist diese nicht einfach zu führen. Trotzdem bemüht sich Herr Jost, durch ausgefeilte Unterrichtsvor- und -nachbereitungen die Schülerinnen und Schüler im Fach Französisch auf ein gutes Niveau zu bringen. Schüler Tom machen die häufigen Wechsel der Lehrkräfte besonders zu schaffen. Er verbringt deshalb einen beträchtlichen Teil seiner Französisch-Stunden in einem besonderen Setting. Dort schreibt er auch ein paar Prüfungen, die schließlich seine Zeugnisnote im Fach Französisch ergeben. Kurz vor der Zeugnisabgabe teilt Herr Jost den einzelnen Schülerinnen und Schülern ihre Note mit. Nach dem Gespräch mit Tom sagt er vor der ganzen Klasse: »Tom, eigentlich hast du diese Note nicht verdient.« Tom, der durchaus ein gutes Lernpotenzial hat, fühlt sich zutiefst gekränkt, was er lautstark vor der ganzen Klasse kundtut. In der Zehn-Uhr-Pause sucht Herr Jost das Gespräch mit der Klassenlehrerin und dem Schulleiter und macht den Vorschlag, sich gleich in der nächsten Stunde vor der ganzen Klasse bei Tom zu entschuldigen. Die Klassenlehrerin äußert Vorbehalte, schließlich sei Tom ja nicht unschuldig an der Bemerkung, und sie habe Verständnis für die Äußerung des Kollegen Jost. Dieser aber beharrt auf seinem Vorschlag mit dem Hinweis, es gehe hier nicht um das Verhalten von Tom, sondern um sein eigenes. Und dieses sei nicht in Ordnung gewesen. Als der Schulleiter ein paar Tage nach der Entschuldigung des Lehrers Tom auf die Situation anspricht, brummt dieser etwas verlegen, der Lehrer Jost sei ganz in Ordnung und er – Tom – sei ja wirklich nicht immer der einfachste Schüler.

Das persönliche Gespräch mit Eltern

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Aufgaben – Verantwortungen – Kompetenzen (AVK): ein hilfreiches Modell Erfreulich ist, dass viele Eltern heutzutage gut über Schulthemen informiert sind. Manchmal verführt sie das aber dazu, sich ungefragt in die Unterrichtsgestaltung, die Personalführung oder, wie in unserem Beispiel, in die Klassenführung einzumischen. Die Frage nach der Kompetenz Die Mütter von Ervin und Patrick waren der Ansicht, Lehrerin Senn mische sich viel zu oft in die Streitereien der Kinder ein. Sie sagten, Konflikte zwischen Jungen in diesem Alter seien normal, und sie müssten lernen, selbstständig damit zurechtzukommen. Auf dem Weg zum Gespräch mit Frau Senn begegneten sie dem Schulleiter und taten ihm ihre Meinung kund. Der Schulleiter antwortete: »Und wie soll Frau Senn reagieren, wenn übermorgen die Mutter von Andreas bei ihr vorspricht mit der Forderung, sie solle sich endlich um die Konflikte in der Klasse kümmern, ihr Sohn leide darunter? Soll sie antworten, sie sei auch dieser Meinung, nur hätten ihr die Mütter von Ervin und Patrick untersagt, einzugreifen?« Die beiden Mütter sahen von ihrem Vorhaben ab und fragten stattdessen beim Gespräch mit Frau Senn, welche Rolle denn ihre Söhne in den Streitigkeiten spielen würden und wie sie die Lehrerin unterstützen könnten.

Zuweilen sind Schulmitarbeitende verunsichert, welche Aufgaben sie übernehmen müssen und sollen, welches ihre und welches die Kompetenzbereiche der Erziehungsberechtigten sind. In solchen Situationen bringt das Modell AVK Klärung. Wir zeigen dies an obigem Beispiel: Die Lehrerin Senn trägt die Verantwortung für ein gutes Klassenklima. Daraus resultieren verschiedene Aufgaben, zum Beispiel Anlässe zur Gruppenbildung zu organisieren, kooperative Unterrichtssettings einzuplanen, Klassenregeln einzuführen oder auch Streit zu schlichten. Da Frau Senn die Verantwortung für das gute Klassenklima obliegt, verfügt sie auch über die Kompetenz zu 106

Lehrkräfte und Eltern: das unerlässliche Bündnis

entscheiden, wie sie diese Aufgabe erfüllt, wie und wann sie in den Zwist der Jungen eingreift. Die Mütter von Ervin und Patrick standen kurz davor, diese Kompetenz für sich zu beanspruchen, obwohl sie weder die Verantwortung für das Klassenklima innehatten noch die zugehörigen Aufgaben übernehmen konnten. Der Schulleiter führt ihnen dies vor Augen mit seinem Hinweis: »Und was sagt Frau Senn, wenn sich die Mutter von Andreas bei ihr beschwert?« Nicht alle Schulleitungen sind so schlagfertig. Sie werden, wie Lehrkräfte auch, von solchen Übergriffen auf ihre Kompetenzen oft überrumpelt. Sie dürfen sich dann ohne Weiteres – und ganz nach dem Prinzip der Neuen Autorität – Bedenkzeit ausbedingen und sagen: »Das habe ich mir so noch nicht überlegt! Ich werde darüber nachdenken und gebe Ihnen morgen Bescheid, wie ich die Sache sehe.«

ZUSAMMENFASSUNG Konflikte zwischen Lehrkräften und Eltern schaden allen Beteiligten. Diese Erkenntnis sowie die Bereitschaft zu präventivem und korrektivem Handeln mildern den Druck auf Lehrkräfte und machen sie handlungsfähiger. Diplomatie im Umgang mit Eltern ist lernbar, und sie funktioniert vom Kindergarten bis zum Gymnasium. Ihre Wirksamkeit wird vervielfacht, wenn sie nicht nur von Einzelnen, sondern von ganzen Gruppen von Pädagoginnen angewandt wird. Die größte Wirkung entfaltet sie, wenn auch die Schulleitung diese Haltung teilt. Wenn es um problematisches Verhalten von Kindern geht, ist es unerlässlich, eine Begegnung mit den Eltern sorgfältig zu planen. Dazu gehört auch die systematische Überprüfung von Abmachungen, die im Gespräch getroffen werden. Eine gute Vorbereitung macht aus den meisten Begegnungen mit Eltern Ereignisse, die echte Veränderungen in der Arbeitsbeziehung zwischen Schule und Eltern herbeiführen. Das Streben nach vermeintlicher Vollkommenheit, die Vorstellung, dass jeder Ausrutscher einer Lehrkraft, und sei er noch so menschlich, ihren Status bedrohe, ist ein weit verbreitetes Fehlkonzept. Es Zusammenfassung

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hindert Lehrkräfte daran, erste Schritte auf die Eltern zuzugehen, wenn sie dies als Eingeständnis von Schwäche verstehen. Auch die engagierteste Lehrkraft macht Fehler. Verharrt sie in einer defensiven Haltung, erschwert sie damit die Beziehung zu den Eltern. Eine positive Fehlerkultur durchbricht die Isolation, und Pädagoginnen können nach einem Fauxpas Unterstützung annehmen. Lehrkräfte sind Menschen. Sie leisten gute pädagogische Arbeit, wenn ihnen die erforderlichen Rahmenbedingungen geboten werden. Wie Eltern erfüllt auch eine ausreichend gute Lehrerin ihren Auftrag – mehr noch: Erst das Unperfekte macht sie zu einer wirklich guten Pädagogin. Denn analog zu den Eltern ist eine »ausreichend gute« – also nicht immer nur einfühlsame – Lehrkraft das Beste, was einem Kind passieren kann. Es lernt, mit Herausforderungen umzugehen, Regeln und Vorschriften zu akzeptieren. Entwicklung erfolgt in hohem Maße durch die Anstrengung, Schwierigkeiten auf dem Lebensweg zu bewältigen.

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Lehrkräfte und Eltern: das unerlässliche Bündnis

TIPPS FÜR LEHRKRÄFTE •• Denken Sie bei jeder Interaktion mit Eltern daran, dass Sie beide im selben Boot sitzen. •• Ihre positive und emphatische Kontaktaufnahme baut die ablehnende Haltung von Eltern ab. •• Treten Sie möglichst frühzeitig und ohne nennenswerten Anlass in Kontakt zu den Eltern Ihrer Klasse. •• Kommunizieren Sie überlegt und wohldosiert mit den Eltern. Eine Flut von Nachrichten überfordert, und die Eltern gehen in die Defensive. •• Persönliche Kommunikation fördert die Beziehung, nutzen Sie digitale Kommunikationskanäle sparsam. •• Berichten Sie den Eltern Positives über ihr Kind, seien Sie aber offen und ehrlich, wenn etwas Problematisches vorgefallen ist. •• Lassen Sie sich von Kollegen unterstützen, wenn Sie mit Eltern in einen Konflikt geraten sind. •• Pflegen Sie einen konstruktiven Umgang mit Fehlern. Die Unterstützung ihres Teams wird es Ihnen leicht machen, Fehler einzugestehen und zu korrigieren. Sie erleiden dabei keinen Gesichtsverlust. •• Vernetzen Sie sich im Kollegium und handeln Sie gemeinsam, um Spannungen zwischen Eltern und Schule aus dem Weg zu räumen. •• Nutzen Sie Vermittlerdienste, zum Beispiel der Schulleitung, wenn Sie sich mit Eltern überworfen haben. •• Treten Sie mit Ihren Kolleginnen als Team auf. •• Sie können schwierige Eltern nicht von Grund auf verändern, Sie können jedoch deren Haltung gegenüber Lehrern und Schule beeinflussen und zumindest um eine Stufe verbessern. Sie können feindselige Eltern zu neutralen, neutrale Eltern zu interessierten, interessierte Eltern zu akzeptierenden und akzeptierende zu unterstützenden Eltern machen.

Tipps für Lehrkräfte

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KAPITEL 4: Kooperation unter Lehrkräften Unter Mitarbeit von Martin Fellacher, Irit Schorr-Sapir, Tal Fisher, Vered Sutker und Uri Weinblatt

»Wir sind junge Wölfe, ein Rudel gefährlicher Wölfe!«, krähte der Schüler, als er mit seinen Klassenkameraden vor der Sporthalle an der verdutzen Schulleiterin vorbeistürmte. Etwas beunruhigt über den Tumult und den Ausruf des Schülers suchte sie den Sportlehrer und fand ihn erschöpft und den Tränen nahe im Geräteraum. Wie kommt man einem Rudel junger Wölfe bei, die drauf und dran sind, den (Fach-)Leitwolf auszuhebeln? Die Antwort lautet: mit einer Gruppe erwachsener Wölfe! Macht das junge Rudel einmal die Erfahrung, dass es die Macht übernehmen kann, besteht die Gefahr, dass es dies auch andernorts versuchen wird. Ein Team, das nach Neuer Autorität arbeitet, ist wie ein schützendes Netzwerk, das die ganze Schulgemeinschaft umspannt. Wird Despektierlichkeit gegenüber einer einzelnen Lehrkraft zugelassen, schadet dies dem gesamten Lehrkörper. Das Netz der wachsamen Sorge hat ein Loch. Wir können von Kindern, und vor allem von Jugendlichen, viel lernen. Sie treten gern in Gruppen auf und erlangen so eine Stärke, der als Einzelperson zuweilen schwer beizukommen ist. Übernehmen Schulteams im Sinne der wachsamen Sorge gemeinsam Verantwortung für das Geschehen auch im Unterricht, beeinflusst dies nicht nur die Autorität der betroffenen Lehrkraft. Allmählich setzt eine positive Veränderung ein, die das ganze Team und die ganze Schulatmosphäre einschließt. Die Lehrkräfte stehen zwar weiterhin allein vor der Klasse, werden aber von den Kindern als Teil eines starken Kollektivs wahrgenommen. Sie selbst fühlen sich als Teil dieses Kollektivs, und die Sicherheit, die sie so erfahren, lässt sie selbstbewusster auftreten. Kooperation unter Lehrkräften

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Natürlich gibt es diverse Gründe dafür, wenn die Dinge aus dem Ruder laufen: eine schwierige Klassenkonstellation, Wechsel der Lehrkräfte, aber auch eine ungünstige Beziehungsgestaltung seitens der Pädagogen oder ein defizitäres Classroom-Management. Die Verantwortung des Kollektivs entbindet die einzelne Lehrkraft also nicht von ihrem pädagogischen Auftrag, sondern wirkt in herausfordernden Situationen unterstützend und verschafft Sicherheit, Raum und Zeit für Reflexion und Entwicklung oder zur Festigung des pädagogischen Führungsverhaltens. Im Beispiel unseres Wolfsrudels lud die Schulleiterin verschiedene Akteure aus der Schule und ihrem Umfeld ein: Nebst dem Sportlehrer waren die Klassenlehrerin, drei weitere Fachlehrkräfte der Klasse, ein Mitarbeiter der schulischen Betreuung, der Schul­ sozialarbeiter und die beiden Elternvertretungen anwesend. Im Gespräch gestanden alle Lehrkräfte ein, dass ihnen die Führung dieser Klasse zunehmend Mühe bereite. Die neun Erwachsenen vereinbarten, gemeinsamen vor die Klasse zu treten. Die beiden Elternvertretungen boten an, möglichst viele Eltern der Klasse zu informieren. Sie wollten das Einverständnis einholen, im Namen all dieser Eltern sprechen zu dürfen. Im Telefonat betonten sie, dass es nicht darum gehe, einzelne Kinder zu beschuldigen, sondern den Schülern mitzuteilen, welche Erwartungen sie als Eltern an ihre Kinder stellten. Am vereinbarten Termin gesellten sich spontan zwei weitere Väter zu dieser Gruppe. Gemeinsam betraten die elf Erwachsenen das Klassenzimmer. Die Schulleiterin erklärte den überraschten Kindern den Grund dieses Auftritts. Als Schulleiterin dieser Schule erwarte sie, dass jeder einzelne Schüler seine Arbeit hier ernst nehme. Die Arbeit der Schülerschaft sei es, zu lernen und sich auf den Unterricht zu konzentrieren. Anschließend sagte jede einzelne Lehrkraft, was ihr künftig in ihrem Unterricht besonders wichtig sei. Die Eltern schlossen sich in einem kurzen Statement den Aussagen des Schulpersonals an und betonten, dass sie im Namen aller Eltern sprechen würden. Der Hortleiter und der Schulsozialarbeiter bekräftigten die Aussagen, hoben das positive Verhalten 112

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der Klasse in anderen Settings hervor und ermutigten die Klasse, dort anzuknüpfen. Abschließend hielt die Schulleiterin fest, die Erwartungen an die Klasse seien geklärt. Sie kündigte einen weiteren Besuch durch diese Gruppe in zwei Wochen an. Dann wolle man hören, dass sich die Klasse an die Regeln halte und sich im Unterricht engagiere. Die Wirkung dieser Intervention war verblüffend, die Feedbacks der Lehrkräfte zum Verhalten der Klasse zwei Wochen später entsprechend positiv. Auch beim dritten Besuch der Gruppe vier Wochen nach der Intervention konnte sie die Klasse in ihrer positiven Veränderung durch Applaus und Lob bestärken. Eine solche Intervention wird auf die jeweilige Situation angepasst. Folgende Grundregeln sind jedoch allgemeingültig: • Die Erwachsenen stellen sich gemeinsam vor die Klasse. Setzen Eltern oder Schulmitarbeitende sich in die Reihen der Schülerinnen oder stehen abseits, schwächt das die Wirkung des Auftritts. • Die Statements der Erwachsenen sind kurz und prägnant. Sie verzichten auf Schuldzuweisungen und lange Mahnreden. Sie beschränken sich auf Aussagen wie: »Das wollen wir nicht mehr« und »Das erwarten wir«. • Alle Erwachsenen bekräftigen jeweils die Aussagen der einzelnen Beteiligten. Durch Kopfnicken, durch ihre Körperhaltung und Mimik geben sie deutlich zu verstehen, dass sie voll und ganz hinter dieser Aktion stehen. • Fehl am Platz sind Drohungen im Sinne von »Und wenn das nicht klappt, dann …«. Auch Aussagen wie »Ich hoffe, das wird jetzt besser …« sind nicht angebracht. Im Begriff hoffen schwingt ein Zweifel mit, für den wir keinen Platz lassen wollen. Die Erwachsenen sind voll und ganz überzeugt davon, dass die Kinder die formulierten Erwartungen erfüllen können und werden. • Die Ankündigung einer Überprüfung unterstreicht, dass die Erwachsenen es ernst meinen. Ähnlich wie bei den Hausaufgaben würdigen sie damit auch die Anstrengungen der Klasse. Der Zeitrahmen wird auf das Alter der Kinder und die Situation Kooperation unter Lehrkräften

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abgestimmt. Auch Zwischenkontrollen sind möglich. Zum Beispiel erhalten zwei Schülerinnen den Auftrag, den Erwachsenen täglich per E-Mail einen kurzen Bericht zu schicken oder der Schulleitung mündlich zu berichten. Günstig ist die Überprüfung durch dieselbe Gruppe von Erwachsenen. Ist dies nicht möglich, wird eine rollenkonforme Vertretung organisiert. Als Minimalvariante kann die Schulleitung eine schriftliche Botschaft von fehlenden Gruppenmitgliedern vorlesen. Es lohnt sich, die Dramaturgie bewusst zu gestalten. Deshalb ist es wichtig, den gemeinsamen Auftritt und die obigen Aspekte mit den Beteiligten im Voraus zu besprechen. Das folgende Beispiel veranschaulicht eine andere Form gegenseitiger Unterstützung im Schulteam: Der gedemütigte Lehrer Markus gab gern den Klassenclown. Er feixte, unterhielt und schikanierte abwechselnd seine Mitschüler ohne Unterlass. Bald beherrschten er und seine Nachahmer das Klima in der Klasse mit Spott und Demütigungen. Als sich sein störendes Verhalten ins Unerträgliche steigerte, forderte Klassenlehrerin Angela, er solle den Raum verlassen und sich beim Schulleiter melden. Markus weigerte sich. Angela drohte ihm eine schwere Strafe an. Er blieb störrisch, verschränkte demonstrativ die Arme und stieß einen Fluch aus. Früher hätte Angela diesen Zweikampf auf der Stelle entschieden, stand doch ihre Autorität vor der ganzen Klasse auf dem Spiel. Heute jedoch war ihr klar, dass Markus seine Provokationen nur noch weiter auf die Spitze triebe, wenn sie ihn direkt konfrontierte. Eine lautstarke Auseinandersetzung mit dem Jungen würde mehr Schaden anrichten, als sich Zeit für die Suche nach alternativen Lösungen zu lassen. Sie entschied sich für einen zeitlichen Aufschub ihrer Reaktion. (Man muss das Eisen schmieden, wenn es kalt ist!) Zu Markus sagte sie: »Ich werde mich mit meinen Kollegen beraten, wie es weitergehen soll, und dir dann mitteilen, was wir beschlossen haben!« Damit konnte sie ihren

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Unterricht hinlänglich geordnet beenden, obwohl die Atmosphäre anfangs noch spürbar angespannt war. Angela beriet sich mit mehreren Kollegen darüber, ob sie den Unverschämtheiten von Markus als Team entgegentreten wollten. Die meisten hatten die scharfe Zunge des Jungen bereits zu spüren bekommen und waren schnell für ein gemeinsames Vorgehen gewonnen. Der Sportlehrer hatte einen guten Draht zu Markus. Er war dabei, als Angela dessen Eltern anrief. In der Schule war es üblich, jeweils nur einen Elternteil über solch unerwünschte Vorfälle zu informieren. Angela aber sprach mit beiden Eltern. Sie schilderte den Vorfall und erklärte, dass ein gemeinsames Vorgehen den Weg für eine positive Lösung ebnen würde. Sie teilte den Eltern mit, dass einer ihrer Kollegen dieses Gespräch mithöre und auch am Treffen mit Markus und seinen Eltern teilnehmen werde. Als die Mutter fragte, wozu ein weiterer Lehrer beigezogen werde, entgegnete Angela: »Weil an unserer Schule das Prinzip gilt, dass Despektierlichkeit einem Lehrer gegenüber als Akt gegen den gesamten Lehrkörper betrachtet wird!« Diese Worte klangen nicht nur in den Ohren der Mutter nach, sondern auch bei Angela selbst. Sie verliehen ihr Mut und Stärke. Am folgenden Morgen erschien die Familie eine halbe Stunde vor Unterrichtsbeginn. Überrascht bemerkte Markus, dass auch der Sportlehrer anwesend war. Angela schilderte nochmals den Zwischenfall und erklärte: »Wir sind an einer positiven Lösung interessiert. Zunächst einmal verlangen wir von Markus ein Entschuldigungsschreiben. Wir schlagen vor, dass dieses auch Sie als Eltern unterschreiben. Markus wird sich dadurch unterstützt und nicht erniedrigt fühlen. Wir wollen ihm eine Chance geben, seinen Fehler wiedergutzumachen. Es ist nicht nötig, ihn zu demütigen, seine Selbstachtung ist uns sehr wichtig.« Es folgte eine kurze Diskussion über den Inhalt des Briefes. Angela stellte klar, dass sie nicht nur eine an sie gerichtete Entschuldigung erwartete, sondern auch eine an die Klasse. Markus hatte ihren Unterricht massiv gestört. Die Eltern und Markus willigten ein, er würde die Entschuldigung am nächsten Morgen vor dem Unterricht abgeben. Angela war noch nicht fertig: »Dieser Brief ist der erste Schritt zur Wiedergutmachung. Danach wird Markus noch etwas zum Wohl der

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ganzen Schulgemeinschaft tun müssen, um den Schaden zu beheben!« Nun wartete der Sportlehrer mit einer Lösung auf. Markus solle ihm während einer Woche nach dem Unterricht eine halbe Stunde lang helfen, den Turnsaal aufzuräumen. Am nächsten Morgen erschien Markus mit dem von ihm selbst und seinen Eltern unterschriebenen Brief. Noch am selben Tag war er dem Sportlehrer im Turnsaal behilflich. Nach ein paar Tagen begleiteten zwei Lehrer Angela in die Klasse. Sie informierte die Schüler über die Abmachungen zum Vorfall und berichtete über die Unterstützung von Markus’ Eltern sowie die anerkennenswerte Kooperation von Markus selbst. Sie betonte, dass der Zwischenfall damit abgeschlossen sei und Markus in jeder Hinsicht wieder als vollgültiges Mitglied der Klassengemeinschaft betrachtet werde, mit denselben Rechten wie alle. Die begleitenden Lehrkräfte eröffneten, dass sie diese Gelegenheit nutzen wollten, um gegen das aktuelle Klima von Spott und Demütigung in dieser Klasse und an der ganzen Schule vorzugehen. Sie betonten, dass alle Lehrer für jeden da seien, der sich über diese Unsitte beschweren wolle. Darauf entspann sich eine lebhafte Diskussion, etliche der Schüler äußerten ihren Unmut über die Kränkungen. Abschließend verkündeten die Lehrer, sie würden ein besonderes Auge auf die Klasse haben, um sicherzugehen, dass alle sich wohlfühlten. So war die Konfrontation mit Markus zum Anlass geworden, ein viel umfassenderes Problem anzupacken.

Wichtig an diesem Vorgehen ist sein Einfluss auf die Stellung der Lehrerin im Team. Obwohl sie zunächst als Bittstellerin bei ihren Kollegen auftrat, war sie doch die treibende Kraft im Bemühen um gegenseitige Stärkung. Sie war es, die den Prozess einleitete und die Gelegenheit schuf für eine gemeinsame Durchsetzungskraft. In gängigen pädagogischen Konzepten steht immer das Kind respektive seine Entwicklung im Zentrum. Bei der Neuen Autorität ist dies anders; das ist eines ihrer Hauptmerkmale. Es geht nicht nur um die Bedürfnisse des Schülers, sondern auch um die der erwachsenen Bezugsperson. Wir haben dies bereits in der Einleitung 116

Kooperation unter Lehrkräften

erwähnt: Wenn Eltern oder Lehrkräfte die Energie für die Erziehung und Bildung des Kindes fehlt, bleibt dieses auf der Strecke. Lehrkräfte lassen sich manchmal nur schwer davon überzeugen, Koalitionen mit Kollegen einzugehen. Hartnäckig hält sich die Vorstellung, eine Pädagogin müsse fähig sein, alle Probleme im Alleingang zu lösen. Dieses Fehlkonzept gilt es zu überwinden. Widmen wir uns einigen der Glaubenssätze, auf denen diese falsche Vorstellung beruht.

4.1  Vier Glaubenssätze von Lehrkräften Glaubenssatz 1: »Nur Schwächlinge bitten um Hilfe!« Diese Ansicht ist weit verbreitet, nicht nur unter Lehrkräften oder Eltern. Lehrkräfte argwöhnen, vor dem Kollegium und der Schülerschaft als Schwächlinge dazustehen, denn eine Lehrkraft mit echter Autorität braucht keine Unterstützung und solche ohne echte Autorität sind Versager. Sucht eine Lehrkraft Hilfe bei Kollegen, erntet sie nicht selten einen Blick, der besagt: »Mir wäre das nicht passiert!« Manche Kinder verstehen es, solche Sensibilitäten auszunutzen. Eine Lehrerin hörte zufällig folgende Unterhaltung zweier Schülerinnen mit an: »Heute ist unsere Lehrerin echt ausgeflippt. Jetzt läuft sie sicher wieder zur Klassenlehrerin und heult sich bei ihr aus!« Die Neue Autorität widerspricht diesen gängigen Paradigmen von Stärke und Schwäche. Die positive Stärke der Neuen Autorität hat nichts mit einer Machtdemonstration zu tun, sie ist nicht Peitsche, sondern Anker. Die Stimme des Pädagogen ist nicht stark, weil sie laut ist, sondern weil sie in einer Chorgemeinschaft erklingt. Viele Lehrkräfte beschleicht ein ungutes Gefühl, wenn sie sich mit Hilfe von Drohgebärden durchzusetzen versuchen. Wer auf diese Weise Autorität ausstrahlen will, klammert sich an einen Strohhalm. Die Erschöpfungszustände von zahllosen Lehrkräften rühren genau daher, dass sie sich bis an ihre Grenzen bemühen, Macht zu demonstrieren, während sie sich in Wahrheit ohnmächtig fühlen. Der anhaltend erVier Glaubenssätze von Lehrkräften

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höhte Adrenalinspiegel, die ständige Anspannung von Muskeln und Stimmbändern, dazu ein Gefühl von Frust und Ohnmacht – darin finden wir einen Hauptgrund für Krisen in diesem Beruf. Die Neue Autorität bietet einen Ausweg aus dieser unglückseligen Verstrickung. Neben Elementen wie Verzögerung, Beharrlichkeit, Vernetzung und Selbstkontrolle basiert die Neue Autorität auf öffentlicher Darstellung und Transparenz. Das ist eine ideale Voraussetzung für ihre Verbreitung. Sogar indirekte Erfahrungen durch Erzählungen von Kolleginnen wecken Interesse am Konzept und leiten erste Veränderungsprozesse ein. Schulleitungen können diesen informellen Vorgang befördern, indem sie zum Beispiel bei Teamsitzungen Zeitfenster einplanen, in denen Erfahrungen mit Interventionen der Neuen Autorität ausgetauscht werden. So sickert die neue Haltung allmählich ins Bewusstsein eines Schulteams ein. Autorität, die durch ein Netzwerk gegenseitiger Unterstützung sicht- und spürbar ist, wirkt auf das Kind als Aufforderung, sich anzuschließen und dazuzugehören. Der Pakt zwischen den verantwortlichen Erwachsenen ist ein einladendes Bündnis. Jedes Kind hat das Bedürfnis nach Zugehörigkeit. Das trifft auch zu, wenn es augenscheinlich Desinteresse und Gleichgültigkeit demonstriert. Die Attraktion, die Cliquen auf Jugendliche ausüben, ist nichts anderes als ein Ausdruck dieser Sehnsucht nach Zugehörigkeit. Das Geheimnis liegt darin, ein Wir von verantwortlichen Erwachsenen mit ebenso starker Anziehungskraft zu bilden. Strahlen Erwachsene diesen stabilen, energischen und einladenden Teamgeist aus, entsteht ein wahrer Wettstreit um Zugehörigkeit. Immer wieder gelingt es, Kinder, die zuvor im Bann von Cliquen gestanden hatten, positiv zu beeinflussen – und zwar immer dann, wenn Lehrkräfte und Eltern ihnen vermittelten: »Auch wir sind ein eigener Stamm, und du gehörst dazu!« Die Mafia-Familie Ein Teenager zog mit einer Clique jugendlicher Delinquenten umher. Aufgrund kritischer Vorkommnisse unterzog ihn seine Familie einer

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hartnäckigen und engmaschigen Überwachung. Nicht nur seine Eltern, sondern die ganze Verwandtschaft beteiligte sich daran. Letztere schreckte nicht einmal davor zurück, an den Treffpunkten der fragwürdigen Gang aufzutauchen und seinen Freunden klarzumachen, dass dieser Junge eine lange Schleppe von Begleitern hinter sich herziehe. Sehr bald distanzierte sich der Junge von der Clique und schloss sich wieder enger seiner Familie an. Schmunzelnd gab er dazu folgende Erklärung: »Was bleibt mir denn anderes übrig? Dieser Familie kann man nicht entkommen, die ist schlimmer als die Mafia!«

Am Anfang dieses Kapitels schilderten wir den Fall von Markus. Mehrere Signale luden ihn zur Rückkehr in die Gemeinschaft ein. Dass die Eltern den Entschuldigungsbrief mit ihm zusammen verfassen und einreichen sollten, zielte darauf ab, die Bindung zwischen dem Jungen und seiner Familie zu festigen. Auch die Aussage der Lehrerin, dass Markus’ Selbstachtung den Lehrkräften wichtig sei, sollte ihm das Gefühl geben, ihm werde die Hand gereicht. Mit der Beteiligung des Sportlehrers griff die Schule auf eine bereits bestehende Beziehung zurück und erweiterte sie. Schließlich besiegelte die Lehrerin den Vorgang mit dem ausdrücklichen Akt seiner Neuaufnahme in die Klassengemeinschaft und der entsprechenden Mitteilung an alle ihre Schüler. Das Lehrerteam trat entschlossen auf und beschied Markus, dass sein undiszipliniertes Verhalten keinesfalls länger geduldet würde. Gleichzeitig aber erlebte der Junge eine einladende Offenheit. Ganz allmählich verlagerte sich sein Bedürfnis. Anstatt Aufmerksamkeit durch abweichendes Verhalten zu erzwingen, verlegte er sich darauf, seinen Platz in der Schulgemeinschaft zu finden. Manche Lehrkräfte schrecken vor diesem Vorgehen zurück. Sie empfinden einladende Gesten als Auszeichnung oder Belohnung und damit als Bestätigung für negativ auffälliges Verhalten. Dem ist nicht so. Tatsächlich gewinnt das Kind nicht nur seine Würde zurück, sondern empfindet auch das angenehme Gefühl der Zugehörigkeit. Seine Leistung besteht darin, die Bereitschaft für eine NeueinVier Glaubenssätze von Lehrkräften

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gliederung zu beweisen. Aussichtslos bleibt das Unterfangen, wenn man dem Kind weiterhin mit Anschuldigungen und Moralpredigten begegnet. Tadel und Drohungen verwandeln das kooperationsbereite Entgegenkommen des Kindes in eine unerträgliche Kapitulation. Vor allem in der Pubertät ist die Angst, sich den Forderungen Erwachsener zu unterziehen, besonders ausgeprägt. Manche Kinder kennen sie jedoch schon im Kindergartenalter. Es verwundert deshalb nicht, wenn Kinder erst recht in ihrem auffälligen Verhalten verharren, sobald sie zum Nachgeben gedrängt werden. Mit unserem Ansatz können Lehrkräfte wie Eltern standhaft bleiben, ohne das Selbstwertgefühl des Kindes zu verletzen. Diese Form der Autorität hat mit Anbiederung oder Unterwerfung nichts zu tun. Glaubenssatz 2: »Bei Felix wird das nicht funktionieren!« Ein häufiger Vorbehalt gegen die Neue Autorität im Allgemeinen und gegen das Einbeziehen eines weiteren Umfelds im Besonderen manifestiert sich darin, dass Schüler als unmöglich abgestempelt werden. Lehrkräfte behaupten, bei diesem Schüler könne das Vorgehen keinesfalls erfolgreich sein. Aussagen wie »Dem ist doch völlig egal, was man über ihn denkt« oder »Bei Felix wird das nicht funktionieren!« gleichen einer Art selbsterfüllender Prophezeiung. Ähnlich reagieren Eltern, wenn zur Unterstützung weitere Personen einbezogen werden sollen. Es gibt aber keine Jugendlichen, denen die allgemeine Meinung gleichgültig ist. Die Heranwachsenden selbst nutzen die Strategie der öffentlichen Meinung sehr bewusst. Um den Standpunkt ihrer Eltern zu schwächen, argumentieren sie zum Beispiel: »Ihr seid die Einzigen, die das nicht erlauben!« Wir nennen diese Strategien Teenagerpropaganda. Wie kann man das Gespür der Heranwachsenden für die allgemeine Meinung in eine positive Richtung lenken, statt sie lediglich der Abhängigkeit bedenklicher Cliquen auszusetzen? Wir gehen davon aus, dass es auch in der Psyche eines besonders gefährdeten jungen Menschen konstruktive Stimmen gibt, selbst wenn diese vorübergehend schwach oder ungehört sind. Die Metapher vom Parlament der Seele verdeutlicht diesen Ansatz. In einem 120

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Moment dominieren dort die verführerischen Stimmen, die zu sofortigem Genuss, schwindelerregenden, emotionalen Stimuli und negativer Gesellschaft drängen. Aber selbst dann existieren in den Tiefen dieser Seele auch andere Stimmen, die in einem förderlichen Klima an Einfluss und Stärke gewinnen. Wenn Eltern beginnen, die gefährlichen Aktivitäten einer Jugendlichen systematisch im Auge zu behalten, stoßen sie mitunter auf heftige Reaktionen: »Wie könnt ihr es wagen? Ihr blamiert mich!« Indirekt hören die Eltern dabei aber ganz leise auch die entgegengesetzte Botschaft: »Hört nicht auf, geht nicht auf Distanz, gebt mich nicht auf!« Gebt mir Halt! Ein 15-jähriges Mädchen schlich sich Nacht für Nacht aus dem Haus und trieb sich herum. Eines Nachts traf sie auf ihre Eltern und weitere Familienmitglieder, die gezielte Anstrengungen unternahmen, mit ihr, ihren Freunden und deren Eltern in Kontakt zu treten. Die Jugendliche reagierte mit heftigen Ausbrüchen. Sie beschuldigte ihre Eltern, sie zu blamieren, und beschimpfte sie als Feiglinge und Denunzianten. Einige Wochen später musste ihr Blinddarm entfernt werden. Im Krankenhaus gestand sie ihrer Großmutter und ihrem Onkel, dass sie große Angst davor habe, nach ihrer Entlassung wieder in ihr altes Verhalten zurückzufallen. Der Onkel umarmte sie und antwortete: »Auch, wenn du wieder in diese Richtung gehst, werden wir dich nicht aufgeben und weiterhin nach dir suchen!« Das Mädchen reagierte mit einem Lächeln und erwiderte seine herzliche Umarmung. Thomas knurrt Thomas (16 Jahre) galt als Rädelsführer, der mit seinem despektierlichen Verhalten gegenüber Lehrkräften leicht Mitläufer gewann. Auf den Englischlehrer hatte er es besonders abgesehen. Sobald sich dieser von der Klasse abwandte, begannen ein paar Schüler zu knurren. Drehte sich der Lehrer wieder um, verstummte das Knurren augenblicklich. Thomas verstand es, sich in dieser von ihm angestifteten Gruppe zu verstecken. Der Lehrer konnte ihm nicht nachweisen, dass

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er die treibende Kraft hinter der Respektlosigkeit war. Er erkundigte sich bei seinen Kollegen, ob sie Ähnliches erlebt hätten und fand he­ raus, dass die Sache mit dem Knurren nach und nach in der gesamten Jahrgangsstufe um sich griff. Um dem Treiben ein Ende zu setzen, taten sich sechs Lehrkräfte zusammen. Eine Delegation von jeweils drei oder vier Lehrkräften besuchte die Klassen und sagte dieser Demonstration von Geringschätzung den Kampf an. Sie teilten den Klassen mit, das Kollegium habe beschlossen, das Thema gemeinsam anzugehen. Bestimmte Schüler würden ab sofort und mehrmals für einige Stunden in andere Klassen geschickt. Außerdem würden sie mit den Eltern einiger Schülerinnen sprechen. Sie würden den Eltern erklären, dass die Lehrkräfte ihr Kind genauer Beobachtung unterzögen. Damit würden sie sicherstellen, dass dieses Kind nicht in die fragwürdigen Aktivitäten gewisser Anstifter hineingezogen werde. So beteiligten die Lehrkräfte die Eltern an der Initiative, ohne deren Kinder direkt zu beschuldigen. Fragten Eltern, weshalb gerade ihr Kind im Fokus stehe, erklärten die Lehrer mit freundlicher Empathie: »Wir haben ganz einfach die Finger am Puls und wollen sichergehen, dass Ihr Kind nicht für etwas beschuldigt wird, was es gar nicht getan hat. Wir sind überzeugt davon, dass es negativen Einflüssen widerstehen kann, vor allem, wenn es weiß, dass Sie und wir miteinander kooperieren.« So sprachen die Lehrer auch mit den Eltern von Thomas. Diese Aktion setzte dem Phänomen ein Ende und reduzierte merklich den negativen Einfluss von Thomas auf die anderen Schüler.

Glaubenssatz 3: »Wir sind diskret, wir blamieren kein Kind!« In unserer Gesellschaft sind Privatsphäre und Diskretion unantastbare Werte. Stille und individuelle Lösungen sind fast immer die bevorzugte Option. Besteht die Möglichkeit, sich mit einem Schüler diskret zu einigen, wird dies einer öffentlichen Behandlung der Angelegenheit in der Regel vorgezogen. Pädagogen denken, jedes öffentliche Gespräch über auffälliges Verhalten stelle eine Persön122

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lichkeitsverletzung dar. Wir bezeichnen diese Haltung als Privatsphären-Reflex. Er spiegelt die Tendenz wider, Probleme im privaten, intimen Kämmerchen verborgen zu halten. Immer wieder kommt es vor, dass Pädagogen einem gewalttätigen Schüler zugestehen, der Vorfall werde nicht öffentlich, wenn sich dergleichen nicht wiederhole. Nach Neuer Autorität ist ein solches Zugeständnis völlig inakzeptabel. Das Recht auf Information sowohl der Gemeinschaft der Kinder als auch der Lehrkräfte wird beschnitten. Beiden wird die Sicherheit genommen, dass die Schule negative Vorkommnisse entschieden bekämpft. Jeder Fall von Gewalt, Demütigung, Ausgrenzung oder systematischem Mobbing betrifft die gesamte Gemeinschaft. Eine Klasse muss wissen, dass die Schule über Vorfälle unterrichtet ist und konsequent dagegen vorgeht, um sie zu schützen. Die Namen der involvierten Kinder müssen nicht genannt werden. Die Schüler kennen sie vermutlich. Es reicht, dass sie erfahren, was zur Lösung des Problems unternommen wird, und dass sich die Auseinandersetzung mit dem Problem nicht auf die zufällig direkt betroffene Lehrkraft beschränkt, sondern dass sich das ganze Lehrerkollegium daran beteiligt. Dieses Vorgehen verändert die Ökologie der Gewalt grundlegend. In anderen Worten: Es verändert die Umweltbedingungen, die ein Klima von Angriffen und Demütigungen zulassen und aufrechterhalten. Viele denken, die Blamage, die ein Kind durch Aufdecken problematischer Verhaltensmuster oder Schandtaten erleidet, füge diesem Schaden zu, sei gar eine schwere und traumatische Erfahrung. Eine diskrete Lösung zwischen Lehrkraft und Kind erscheine gerechtfertigt, weil sie dem Kind die Schande erspare. Diese Haltung gründet auf einem Fehlverständnis von Schamgefühlen respektive deren Auswirkung. Scham ist in der Tat eine unangenehme Erfahrung, aber sie ist nicht unbedingt schädlich. In der kindlichen Entwicklung spielt sie sogar eine zentrale Rolle. Scham ist ein Gefühl, das sachkundig reguliert sein will, mal nach oben, mal nach unten. In anderen Worten: Manchmal müssen Erwachsene ein Schamgefühl mildern (zum BeiVier Glaubenssätze von Lehrkräften

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spiel wenn ein Kind Opfer von Demütigungen geworden ist), in anderen Situationen müssen sie es verstärken (zum Beispiel wenn sich ein Kind mit seinen Schandtaten brüstet). In letzterem Fall ist eine Aufwärtsregulierung des Schamgefühls für die Entwicklung des Kindes notwendig. Voraussetzung ist, dass sich die Erwachsenen nicht ausgrenzend, sondern unterstützend verhalten. Zum Beispiel mit Worten wie: »Du bist uns wichtig, und wir glauben, dass du dich beherrschen kannst, aber diese Gewalt muss ein Ende haben!« Diese Botschaft spricht das Fehlverhalten ausdrücklich an, gleichzeitig signalisiert sie dem Kind Vertrauen und Beistand. Das Kind empfindet zwar Scham, erlebt diese aber in einem positiven Kontext, der es ihm ermöglicht, sie anzunehmen und zu verarbeiten. Wird ein Schamgefühl hingegen als Ausgrenzung erfahren, ist es nicht nur unangenehm, sondern auch schädlich. Zum Beispiel: »Was bildest du dir eigentlich ein, wer du bist? Solange du dich nicht entschuldigt hast, gehörst du nicht mehr zu dieser Klassengemeinschaft!« Für die richtige Umsetzung einer Intervention ist es unerlässlich, die unterschiedliche Einbettung von Schamgefühl zu beachten. Wir wollen das Schamgefühl in einem unterstützenden Umfeld erzeugen, in dem das Kind zur Zugehörigkeit eingeladen ist. Distanzierte und ausgrenzende Botschaften sind fehl am Platz. Das Erleben einer konstruktiven Scham, das heißt, eines Schamgefühls in unterstützender Umgebung, ist für Kinder jeder Altersstufe ein bedeutender Lernschritt. Scham ist schmerzhaft. Der positive Aspekt der Scham als Entwicklungsschritt ist metaphorisch in der Schöpfungsgeschichte beschrieben: Adam und Eva waren nackt, aber sie vermochten dies erst zu erkennen, nachdem sie eine Frucht vom Baum der Erkenntnis (sinnbildlich für Gehirnwachstum) gegessen hatten. In ihrer gesunden Ausprägung übernimmt Scham positive Aufgaben: • Dank der Scham entwickeln wir unser Moralgefühl und können unsere Integrität wahren. Gemeint ist die Scham nach einer Handlung, welche die Werte unseres eigenen Gewissens verletzt und unsere Erwartungen an uns selbst enttäuscht. 124

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• Scham verschafft uns Zugehörigkeit. Wir schämen uns, wenn wir uns peinlich verhalten und im Widerspruch zu den Erwartungen und Normen unserer Mitmenschen handeln. • Scham lässt uns unsere Grenzen erkennen und lehrt uns, sie zu schützen. Wir schämen uns, wenn wir zu viel von uns gezeigt haben. Die Würde von Kindern und Jugendlichen zu wahren, bedeutet nicht, ihnen Scham zu ersparen, sondern vielmehr: • einen schützenden Rahmen für die Erfahrung von Scham zu bieten; • Erfahrungen von Wiedergutmachung zu fördern, Reintegration in die Gruppe zu unterstützen; • das Verhalten der Person von der Persönlichkeit zu unterscheiden; • auf individuelle Schamgrenzen zu achten und zu erkennen, wenn die Schamerfahrung ins Negative kippt. Paul lernt, Grenzen zu respektieren Paul berührte gern die Geschlechtsteile anderer Kindergartenkinder. Schon im Vorjahr hatte es deshalb einen Aufruhr gegeben, und seine Eltern sahen sich gezwungen, ihn in einen anderen Kindergarten zu schicken. Dieses Mal beschloss die Leiterin der Kindergartenkette5, frühzeitig und schnell nach den Prinzipien der Neuen Autorität zu handeln. Sie bat drei weitere Erzieherinnen, mit Paul zu reden und ihm zu erklären, dass es verboten sei, andere Kinder auf diese Weise anzufassen. Die Erzieherinnen zeigten dem Jungen genau, welche Berührungen verboten waren. Die Erzieherin lud die Eltern zu einem Gespräch ein. Auch die Leiterin der Kette und die für frühkindliche Erziehung zuständige Psychologin nahmen daran teil. Sie erklärten den Eltern, der neue Kindergarten wolle alles tun, um Paul bei der Überwindung seines Pro­ 5 Wo die Kindergärten nicht eingebunden sind in ein größeres, schulisches System, ist es sinnvoll, dass sie sich zu einem Verbund zusammenschließen.

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blems zu helfen. Sie fragten nach einem Großelternteil, den Paul besonders gernhabe. Die Eltern lehnten den Vorschlag ab, da sie sowohl den Großeltern als auch Paul die unangenehme Scham ersparen wollten. Die Psychologin erklärte, dass sie die Großeltern anleiten werde, sich so zu verhalten, dass auch Paul ihre Beteiligung nicht als Beschämung empfinden werde. Sie betonte wiederholt, dass die aktuelle Situation Pauls Integration und weitere Entwicklung ernsthaft gefährde. Die empathischen Worte der Psychologin schmolzen den Widerstand der Eltern. Noch in derselben Woche traf sie sich mit ihnen, den Erzieherinnen und dem Großvater. Sie fragte ihn, ob er bereit sei, in den Kindergarten zu kommen, mit Paul zu sprechen und eine halbe Stunde lang bei dem Jungen zu bleiben, sollte sich dessen problematisches Verhalten wiederholen. Nach kurzer Beratung mit den Eltern stimmte der Großvater zu. Die Gespräche mit den Erzieherinnen und dem Großvater bewirkten in Pauls Verhalten eine große Wende. Nach seinem ersten Gespräch mit dem Kind musste der Großvater kein weiteres Mal in den Kindergarten kommen. Die intimen Berührungen gehörten der Vergangenheit an, und Pauls Integration im Kindergarten machte bedeutende Fortschritte.

Glaubenssatz 4: »An unserer Schule sorgt jeder nur für sich selbst!« Isolation und fehlende Unterstützung machen Lehrkräften besonders schwer zu schaffen. Folgende Aussage verdeutlicht ihre existenzielle Einsamkeit: »In dem Augenblick, in dem sich die Tür des Klassenzimmers schließt, bin ich nur noch auf mich selbst gestellt!« Das Gefühl, allein zu sein, verschärft sich noch mehr, wenn zum Beispiel die Atmosphäre im Teamzimmer durch Cliquenwirtschaft und Klatsch vergiftet ist oder ein autoritärer Schulleiter das Teile-und-herrsche-Prinzip lebt. Damit arbeitet er auf eine Spaltung des Teams hin, statt es zu einen und zu stärken. Gemeinsame Haltungen und Konzepte, das Wissen um gegenseitige Unterstützung und Präsenz der Schulleitung geben Lehrkräften trotz Einzelkämpfertum in den Klassen das Gefühl, Teil eines größeren Netzwerkes zu sein. In vielen 126

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Schulen sind inzwischen pädagogische Teams (zum Beispiel Jahrgangsteams) eingeführt, die einen Austausch unter den Lehrkräften sicherstellen. Weiterbildungen zur professionellen Fallbesprechung (Intervision) tragen ebenfalls zu einem effektiven Austausch bei.

4.2 Fachlehrkräfte Fachlehrkräfte erleben die Klassenführung als noch größere Herausforderung als Klassenlehrkräfte. Die Gründe dafür sind bekannt: • Im Gegensatz zur Klassenlehrkraft unterrichten Fachlehrkräfte ihre Schüler nur während ein paar wenigen Stunden pro Woche. Für sie ist es schwieriger, eine tragfähige Beziehung zu den einzelnen Schülerinnen aufzubauen und Verbindlichkeit einzufordern (zum Beispiel in Bezug auf das Abgeben von Arbeiten). • Sie unterrichten verschiedene Klassen, arbeiten zuweilen sogar an mehreren Schulen. Eine Zusammenarbeit mit den anderen Lehrkräften der Klassen und eine Vernetzung in den Schulteams ist für sie aufwendig. • Während für Klassenlehrkräfte die Zusammenarbeit mit Eltern, Informationsabende und Zeugnisgespräche Minimalstandards sind, sind Fachlehrkräfte – von den Elternsprechtagen einmal abgesehen – nicht verpflichtet, Elternkontakte zu pflegen. • Oft unterrichten Fachlehrkräfte Fächer wie Kunst, Sport oder Musik, die in der Wahrnehmung von Eltern und Schülern nicht besonders relevant sind. Entsprechend gering ist das Interesse der Eltern an einer ansprechenden Leistung ihrer Kinder in diesen Fächern. Fachlehrkräfte tendieren dazu, die Verantwortung für Disziplinarprobleme an die Klassenlehrkraft zu delegieren. Sie beschweren sich bei der Klassenlehrkraft über problematische Schüler und erwarten, dass diese sich um die Sache kümmert. Die Klassenlehrkraft wird in den Fachunterricht geholt, um für Ordnung zu sorgen. Dieser Mechanismus schadet jedoch mehr, als er nützt. Fachlehrkräfte

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Die Einseitigkeit belastet die Arbeitsbeziehung. Klassenlehrer sind sehr wohl auf regelmäßige Berichterstattung der Fachlehrkräfte angewiesen, stehen aber unter dem Druck, für das Verhalten ihrer Klasse verantwortlich gemacht zu werden und sich darum kümmern zu müssen. Die wiederholten Negativbotschaften frustrieren, die Erwartungen der Fachlehrkräfte belasten sie. Mit der Delegation der Probleme untergraben Fachlehrkräfte aber auch ihre Glaubwürdigkeit und ihre Autorität. Die Jugendlichen erleben sie nicht als Führungsperson, die imstande ist, die Verantwortung für einen geregelten Unterricht zu übernehmen. Es ist die Klassenlehrkraft, die mehr und mehr von außen das Verhalten der Klasse steuert. Es ist offensichtlich, dass dies nicht funktionieren kann. Wie also erhalten Fachlehrkräfte Hilfe, ohne die eigene Position zu schwächen? Als Erstes müssen sie sich von einer passiven und abhängigen Rolle verabschieden, sich für das Geschehen in ihrem Klassenzimmer zuständig fühlen und sich negativem Verhalten in ihrem Unterricht beharrlich entgegenstellen. Es ist aber nicht unbedingt nötig, die gängige Unterstützungspraxis durch die Klassenlehrkraft vollständig über Bord zu werfen. Es reicht bereits, dem Verlauf eine leicht andere Wendung zu geben. Fachlehrkräfte positionieren sich Der Schulleiter einer Grundschule beobachtete, wie sich bei einigen seiner Fachlehrkräfte ein problematisches Verhaltensmuster einschlich: Jedes Mal, wenn sie mit einem störenden Schüler nicht weiterkamen, riefen sie die Klassenlehrkraft, die das Kind aus der Klasse holen sollte. Der Schulleitung war klar, dass sich dieses Muster verändern musste, ohne dabei auf den stützenden Beitrag des Klassenlehrers zu verzichten. Sie führte daher neue Vorgaben ein: Sobald die Klassenlehrkraft eintraf, sollte der Fachlehrer dem Kind sagen: »Du störst so sehr, dass ich nicht mehr ordentlich unterrichten kann. Deswegen gehst du jetzt kurz zu deinem Klassenlehrer hinaus. Ich erwarte jedoch, dass du sobald wie möglich in die Klasse zurückkommst. Wir

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werden uns dann später noch um die Angelegenheit kümmern.« Der Schüler musste zwar den Raum verlassen, der Fachlehrer gab ihm jedoch zu verstehen, dass er später auf das Thema zurückkommen werde. Die neue Regelung besagte auch, dass die Fachlehrkraft für eine Wiedergutmachung respektive eine Konfliktbereinigung, zuständig war. Zur Unterstützung setzte der Schulleiter eine Arbeitsgruppe ein, die mit den Fachlehrkräften Ideen und Ablauf des Vorgehens erarbeitete. Die neue Regelung verhalf den Fachlehrkräften dazu, die Verantwortung wieder an sich zu nehmen und sich als präsente und beharrliche Pädagogen zu positionieren. Damit gingen auch die Störungen in ihrem Fachunterricht zurück.

Die Position von Fachlehrkräften lässt sich weiter stärken, wenn wir ihre besonderen Voraussetzungen in Bezug zu folgenden Elementen der Neuen Autorität setzen: Präsenz, Beharrlichkeit, Vernetzung, Selbstkontrolle, Transparenz. Präsenz und Vernetzung: Im ▶ Kapitel 2 umreißen wir, wie Präsenz intensiviert werden kann. Das Grundprinzip gilt auch für Fachlehrkräfte, die Ideen müssen aber variiert werden. Zum Beispiel ist für sie eine telefonische Kontaktaufnahme mit allen Eltern zu Schuljahresbeginn kaum leistbar. Am einfachsten ist es, wenn sie an den Elternabenden der neuen Klassen teilnehmen, sich und ihr Fach vorstellen und Bereitschaft für persönliche Kontakte signalisieren. Sie können auch ein persönliches Schreiben an die Eltern abgeben, in dem sie über das Jahresprogramm für ihr Fach und ihre Kontaktdaten informieren. Ergänzend können Fachlehrkräfte zu Schuljahresbeginn mit zwanzig zufällig ausgewählten Eltern auch telefonisch Kontakt aufnehmen, wie wir im ▶ Kapitel 2 ausführen. Haben sie Vorinformationen zu Schülerinnen, die besondere Aufmerksamkeit benötigen, können sie dem Zufallsprinzip etwas nachhelfen. Besonders zuträglich ist es der Präsenz von Fachlehrkräften, wenn sie an Elterngesprächen teilnehmen. Sie lernen die Eltern kennen, und die Eltern hören, wie sich ihr Kind im entsprechenden Fach verhält. Die Fachlehrkraft zeigt ihr Interesse an der allgemeinen Fachlehrkräfte

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Entwicklung des Kindes und erhält Informationen, die auch für das Lern- und Sozialverhalten in ihrem Unterricht relevant sind. Transparenz: Auch wenn Fachlehrkräfte öfter eigenverantwortlich handeln, muss die Klassenlehrkraft über problematische Vorfälle informiert sein. So kann sie die betreffende Schülerin ganz beiläufig wissen lassen, die Vorfälle im Fachunterricht seien ihr bekannt und sie erwarte, dass die Sache wieder in Ordnung gebracht werde. Auch wenn Eltern sich melden, um nachzufragen oder sich zu beklagen, kann die Aussage der Klassenlehrkraft die Fachlehrkraft stärken. Voraussetzung ist natürlich, dass sie den Eltern mitteilen kann, sie wisse Bescheid und billige das Verhalten des Kindes in keiner Weise, die Eltern dürften sich für weitere Auskünfte direkt bei der Fachlehrkraft melden. Meistens weiß die Klasse um unrechtmäßiges Verhalten. Die Transparenz ihr gegenüber stärkt die Autorität der (Fach-)Lehrkraft. Die Klasse hört, dass das Verhalten nicht geduldet wird, dass die Fachlehrkraft und die Klassenlehrkraft in Kontakt sind und am Abend mit den Eltern des betreffenden Schülers sprechen werden. Die Fachlehrkraft kündigt an, dass die Klasse von weiteren Schritten erfahren werde. Das gibt den Schülern Sicherheit. Es ist davon auszugehen, dass ein großer Teil der Schüler an den Inhalten des Unterrichts interessiert ist und unter den Störungen leidet. Die Information signalisiert, dass diese Lehrkraft ihre Funktion als Leader der Gruppe ernst nimmt und Regelübertretungen konsequent nachgeht. Selbstkontrolle: Diese Botschaften sind unaufgeregt und gleichzeitig deutlich vorzubringen, Nörgeleien, Predigten oder Drohungen sind immer schädlich. Es geht nie darum, was eine Schülerin oder eine Schülergruppe machen sollte, sondern immer darum, was die Lehrkraft tut oder zu tun gedenkt, unabhängig vom Verhalten der Kinder oder Jugendlichen. Beharrlichkeit: Interventionen nach Neuer Autorität erfordern oft einen langen Atem. Gerade bei der Umstellung auf neue Strategien werden Schüler die Standfestigkeit der Lehrkraft auf den Prüfstand stellen und testen, ob den Ankündigungen auch Taten folgen. Die Anstrengung lohnt sich und ist langfristig weit weniger energie130

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raubend als die Ohnmacht und Frustration, die viele Lehrkräfte in den gegenwärtigen Systemen erleben. Grundlage jedes Lernsettings ist eine gute Beziehung zwischen Lehrkraft und Schülerin. Fachlehrkräften empfehlen wir deshalb, ihre Schülerinnen auch außerhalb des Unterrichts kennenzulernen und Zeit mit ihnen zu verbringen. Gelegenheiten bieten sich auf Exkursionen, Klassenfahrten, Schulfesten oder in Projektwochen. Die zeitliche Investition wird sich im Unterricht auszahlen. Eine Hauswirtschaftslehrerin verschafft sich Autorität Die Klassenlehrerin der sechsten Klasse hörte sich wöchentlich die Klagen der Fachlehrerin für Haushaltskunde an; die Jugendlichen seien respektlos, faul und unzuverlässig. Sie selbst erlebte ihre Klasse anders und konnte die Beschwerden der Hauswirtschaftslehrerin nicht ganz nachvollziehen. »Es herrscht ein gefräßiges Schweigen«, hatte ein Schüler die Stimmung beim Mittagessen kommentiert. Darüber regte sich die Hauswirtschaftslehrerin furchtbar auf. Die Klassenlehrerin interpretierte die Bemerkung eher als sprachlich kreative denn als despektierliche Bemerkung. Wie auch immer, die Situation spitzte sich weiter zu. Schließlich entschieden die beiden Frauen, die Eltern zu einem Abendessen einzuladen, welches die Schüler im Hauswirtschaftsunterricht vorbereiten sollten. Die Hauswirtschaftslehrerin war außerordentlich fachkundig und besorgte in ihrer Freizeit das Catering für noble Gesellschaften. Sie willigte ein, und auch die Klasse war motiviert bei der Sache. Der Abend wurde ein Erfolg, das Essen schmeckte vorzüglich. Die beiden Lehrerinnen traten als Team auf, die Jugendlichen waren stolz auf ihre Leistung, und die Eltern auf ihre Sprösslinge. Kurz und gut: Man lernte sich kennen und schätzen – die Klagen der Fachlehrerin ließen nach.

4.3  Erzieherinnen und Erzieher Erzieherinnen und Erzieher sind oft noch isolierter als Lehrkräfte an Primar- oder Sekundarschulen. Häufig liegen Kindergärten weit auseinander. In einigen Ländern gehören sie nicht zur öffentlichen Erzieherinnen und Erzieher

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Schule. Daher fehlen eine institutionalisierte Struktur und Zeitfenster für die Zusammenarbeit. Erzieherinnen sind also viel mehr auf sich allein gestellt. Erschwerend kommt für sie hinzu, dass viele Eltern mit Beginn des Kindergartens ihr Kind zum ersten Mal der Obhut einer Institution anvertrauen und ihren Erziehungsauftrag teilen müssen. Das Risiko, dass Eltern sich auf dieser Stufe in den Aufgabenbereich der Lehrkraft einmischen, ist um vieles höher als in den anderen Stufen. In Ländern, in denen die Kindergärten nicht Teil der öffentlichen Schule sind, hat man gute Erfahrungen mit Kindergartenketten oder einem regionalen Supervisions- und Unterstützungsnetzwerk gemacht. Diese Strukturen holen die Erzieherinnen aus der Isolation. Sie schaffen eine Plattform für Zusammenarbeit und zur Entwicklung von gemeinsamen Regeln und Praktiken. Sie bieten den Erzieherinnen dieselbe Unterstützung wie ein Schulteam. Die Leitung einer Kindergartenkette kann zum Beispiel Gemeinschaftsprojekte mit Eltern anregen oder anspruchsvolle Gespräche begleiten. Gemeinsame Initiativen und Lösungen sind im Rahmen einer Kindergartenkette leichter zu verwirklichen. Wiedergutmachung im Kindergarten Zusammen mit zwei Fachkräften für pädagogische Psychologie regte die Leiterin einer Kette von sechs Kindergärten an, das Prinzip der Wiedergutmachung6 einzuführen. Die Erzieherinnen wurden instruiert, wie sie vorzugehen hätten, wenn Kinder andere Kinder verletzten. Sie lernten, die Kinder zu einer Wiedergutmachung anzuleiten. Diese verfassten zum Beispiel (mit Hilfe ihrer Eltern) ein Entschuldigungsbriefchen und bereiteten ein symbolisches Geschenk vor (eine Zeichnung, eine mitgebrachte Süßigkeit oder eine andere Aufmerksamkeit). Das Vorgehen wurde den Eltern erklärt, verbunden mit der Aufforderung, ihren Kindern bei der Ausführung der Wiedergutmachung zu helfen. 6 Das Prinzip der Wiedergutmachung wird in ▶ Kapitel 7.3 ausführlich dargestellt.

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Ausnehmend schwierige oder einmalige Vorfälle wurden auf Sitzungen besprochen, an denen alle Erzieherinnen der Kette teilnahmen. Das gab ihnen ein Gefühl von Partnerschaft. Im Verwaltungsgebäude stand gut sichtbar eine Tafel mit einer Sammlung von Entschuldigungsbriefen und Zeichnungen. Das Anheften neuer Briefe und Zeichnungen wurde zu einer positiv besetzten Zeremonie, an der sich die Kinder lebhaft beteiligten. Die Kleinen verstanden den Sinn der Wiedergutmachungen ganz ausgezeichnet. Die Chance, etwas wiedergutzumachen, wurde auch von Eltern begrüßt, die als problematisch galten. Der Begriff wieder gut machen und die gemeinsame Pinnwand verstärkten die Erfahrung von Gemeinschaft. Die Erzieherinnen fühlten sich als Teil davon und profitierten vom besseren Kontakt zu Kolleginnen, Fachkräften und Eltern.

4.4  Kontinuität herstellen Rituale, wiederkehrende Abläufe, allgemein Vertrautes verschaffen uns Orientierung und geben uns Halt. Veränderungen bedeuten immer auch Anstrengung und benötigen eine besondere Leistung unseres Gehirns. Diese wird als kognitive Flexibilität bezeichnet und ist eine der exekutiven Funktionen7. Sie entwickelt sich durch Übung und ist erst im jungen Erwachsenenalter ausgereift. Bei Kindern mit Verhaltensproblemen ist sie – wie die Selbststeuerung insgesamt – aus unterschiedlichen Gründen weniger weit entwickelt als bei Gleichaltrigen. Was für Erwachsene gilt, ist darum für Kinder und Jugendliche ganz besonders wichtig: Sie brauchen geregelte Abläufe und Rituale, Verlässlichkeit und stabile Beziehungen. Diese haben einen günstigen Einfluss auf ihr Verhalten. Fehlt diese Kontinuität, gibt es abrupte Wechsel im pädagogischen Umfeld der Kinder oder erhalten Jugendliche widersprüchliche Botschaften, so verschärfen sich Verhaltensprobleme. Gefühle der Entfremdung und Isolation machen sich breit. Besonders be7 Zu den exekutiven Funktionen gehören neben der kognitiven Flexibilität auch das Arbeitsgedächtnis und die Inhibition (Impulskontrolle).

Kontinuität herstellen

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droht sind das innere Gleichgewicht und die Funktionsfähigkeit von Kindern, die zu Hause wenig stabile Beziehungen erleben. Sie sind umso mehr auf Kontinuität im schulischen Umfeld angewiesen. Es ist also von Vorteil, wenn Pädagoginnen für einen geregelten Tagesund Wochenablauf sorgen und schulische Instanzen für möglichst wenig Strukturänderungen und Wechsel der pädagogischen Bezugspersonen. Nun ist dies nicht immer möglich. Wir kennen Beispiele verwaister Klassen, an denen eine stellvertretende Lehrkraft nach der anderen scheitert. Aufgrund obiger Ausführungen verwundert das nicht, und es hat weder mit den Klassen noch mit den stellvertretenden Lehrkräften zu tun. Es gilt vielmehr, Wege zu finden, wie sich trotz der Umstände ein Kontinuitätsempfinden einstellen kann. Damit wird sowohl den Kindern als auch den stellvertretenden Pädagoginnen die Frustration des Scheiterns erspart. Der Psychoanalytiker Heinz Kohut (1981) erkannte in den späten 1970er Jahren, dass das Ichbewusstsein von Patienten mit schwach ausgeprägtem Selbst häufig vom Gefühl bedroht ist, zu zerbrechen oder auseinanderzufallen. Er berichtet, dass diese Klienten Reaktionen der Erleichterung und innerer Organisation zeigten, wenn der Therapeut Kontinuität vermitteln konnte. Zum Beispiel: »Was Sie mir da sagen, erinnert mich an etwas, was Sie mir vor zwei Monaten erzählt haben«. Laut Kohut lässt ein Patient bereits Anzeichen von Stabilisierung, stärkerer Gegenwartsbezogenheit und wachsendem Selbstgefühl erkennen, bevor der Therapeut ihm erklärt hat, welchen Vorfall er genau meint. Er begründet das damit, dass der Patient fühlt, wie sich die verschiedenen Aspekte seines Lebens im Bewusstsein des Therapeuten zu einem Ganzen zusammenfügen. Nachdem der Therapeut eine Verbindung zwischen den verschiedenen Vorfällen, Zeiten und Bruchstücken seines Lebens hergestellt hat, empfindet auch der Patient ein Gefühl seelischer Kontinuität. Wir gehen davon aus, dass sich auch bei einem Kind Ähnliches abspielt, wenn seine wichtigsten erwachsenen Bezugspersonen ihm ein Gefühl von Kontinuität vermitteln und konsequent da134

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nach handeln. Gegenseitige Information der Erziehenden und koordinierte Ansätze sind für das Kind eine organisierende Erfahrung. Diese wird verstärkt, indem man sie dem Kind erklärt. Wenn die Klassenlehrerin sagt: »Ich habe gehört, dass du heute beim Laufen den Rekord geknackt hast«, oder wenn der Geschichtslehrer sagt: »Es freut mich zu hören, dass du in Mathematik sehr begabt bist«, macht das Kind eine integrierende Erfahrung. Diese macht es auch dann, wenn sich die gegenseitigen Informationen auf problematische Verhaltensmuster beziehen. Der Lehrer sagt zu einer Gruppe von Kindern: »Ich habe von eurer gestrigen Schlägerei gehört. Wir denken gemeinsam darüber nach, was wir tun können, damit sich so etwas nicht wiederholt«, oder zum Kind, das geschwänzt hat: »Deine Klassenlehrerin hat mir erzählt, dass du gestern nicht im Unterricht warst. Wir haben deine Eltern kontaktiert, damit so etwas nicht noch einmal vorkommt«. Das Kind spürt, dass ein ganzes Netzwerk von Menschen über alles unterrichtet ist, dass dieses enge Netz ihm Halt gibt und es davor bewahrt, durch die Maschen zu fallen. Die Erfahrung von Kontinuität unter seinen Erziehern schafft Ordnung und erzeugt in der Psyche des Kindes ein Empfinden von Sicherheit. Dieses Wissen kann neuen oder temporär angestellten Lehrkräften die Übernahme der Klassenführung erleichtern. In Übergabegesprächen – so sie denn stattfinden – liegt der Fokus gewöhnlich auf den Lerninhalten, der Leader-Rolle wird wenig Bedeutung beigemessen. Dadurch fehlt das Gefühl von Kontinuität, die Klasse betrachtet die Vertretung als vorübergehende Episode. Bereits niederschwellige Vorkehrungen wirken stabilisierend auf das System, da sie den Kindern ein Gefühl von Beständigkeit vermitteln. Nicole stellt Kontinuität her Petra, Klassenlehrerin einer sechsten Klasse, war schwanger und fiel für unbestimmte Zeit aus. Nicole übernahm die Stellvertretung und besuchte Petra im Krankenhaus. Sie wollte sich über die Klasse informieren. Petra nannte zwei Themen, deren Weiterführung ihr wichtig

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war: Zur Verbesserung des sozialen Umgangs und der Klassendynamik hatte sie Gruppenprojekte eingeführt. Die Schüler bearbeiteten einen Auftrag und reichten ein gemeinsames Endprodukt ein. Zudem hatte sie Vorkehrungen getroffen, um einem Kind mit Schulangst die Rückkehr und Reintegration in die Klasse zu ermöglichen. Drei Schüler mit einer freundschaftlichen Beziehung zu diesem Kind wechselten sich darin ab, ihm täglich die Hausaufgaben zu bringen. Petra entwarf eine Nachricht an die Klasse, die sich auf die Gruppenprojekte bezog, und eine weitere an die drei Schüler, die sich um das Kind mit Schulangst kümmerten. An ihrem ersten Unterrichtstag stellte sich Nicole der Klasse vor. Sie berichtete den Schülern sogleich von ihrem Treffen mit Petra und richtete ihnen aus, dass es ihrer Lehrerin zwar gut gehe, dass aber unklar sei, wann sie zurückkomme. Sie überbrachte Petras Nachricht zu den Gruppenprojekten und erklärte, diese würden auch während ihrer Zeit als Aushilfe fortgesetzt. Nicole sagte, wie sehr es sie freue, dass einige von ihnen sich für die Rückkehr des fehlenden Mitschülers in die Klasse engagierten. Sie bat diese drei Schüler nach dem Unterricht zu sich. Sie wollte Genaueres erfahren und ihnen Material für den Mitschüler übergeben. Nach vier Wochen Krankenhausaufenthalt kehrte Petra in ihre Klasse zurück. Sie erzählte, dass sie sich mit Nicole getroffen und ausgetauscht habe. Sie freue sich darüber, dass die Schüler das Gruppenprojekt abgeschlossen hätten und die Klasse wieder vollständig sei.

Bringt eine Vertretungslehrerin an ihrem ersten Tag der Klasse eine Nachricht der regulären Lehrkraft mit, stellt sie damit klar, dass sie über alle wichtigen Themen informiert ist. Sie sorgt für ein erstes Gefühl von Beständigkeit und stärkt mit der indirekten Botschaft ihrer Vernetzung die eigene Präsenz. Auch wenn sie es nicht ausspricht, spüren die Kinder, dass sich diese Lehrerin für sie interessiert. Gibt sie weiter zu verstehen, dass der Informationsaustausch auch bei der Rückkehr der regulären Lehrkraft stattfinden wird, ist sie keine isolierte Figur ohne Vergangenheit, Zukunft oder Zugehörigkeit, sondern Teil des Systems. 136

Kooperation unter Lehrkräften

Es lohnt sich für Schulen, neue und stellvertretende Lehrkräfte gezielt und systematisch einzuführen. Ihr Erfolg im Unterricht ist auch der Erfolg der Schule. Hier ein paar bewährte Erfahrungen aus der Praxis: 1. Berufseinsteiger erhalten eine Fachbegleitung. Eine erfahrene Lehrkraft aus dem Team unterstützt sie durch Feedbacks zum Unterricht oder in der Vorbereitung, bei Themen rund um Klassenführung und Elternkontakte. Sie ist ganz allgemein Ansprechperson für Fragen und Unsicherheiten. 2. Neue Lehrkräfte erhalten vor Stellenantritt eine Einführung zu pädagogischen Richtlinien, Abläufen und Konzepten der Schule. 3. Am ersten Unterrichtstag begleitet die Schulleitung eine neue Lehrkraft in ihre Klasse und stellt sie vor. Sie teilt der Klasse mit, dass sie in regelmäßigem Austausch bleiben würden, die Lehrkraft werde sie über die Fortschritte der Klasse unterrichten. Handelt es sich um eine Stellvertretung, wird hier die Botschaft der Klassenlehrkraft zu spezifischen Besonderheiten der Klasse platziert. Sie impliziert, dass die Lehrkräfte in Kontakt stehen, und stellt damit Kontinuität her. 4. Die Schule regt den Stellvertreter an, die ausgefallene Lehrkraft zu kontaktieren. Ist dies nicht möglich, informiert er sich bei einer anderen Lehrkraft, die über die Klasse Bescheid weiß. 5. Die Schule richtet Zeitfenster für Zusammenarbeit und Austausch ein, in denen herausfordernde Situationen besprochen und gemeinsam Lösungen erarbeitet werden. 6. Die Schulkultur anerkennt die besondere Situation von neuen Lehrkräften und gesteht ihnen eine Eingewöhnungsphase sowie erhöhte Aufmerksamkeit der Schulleitung und besondere Unterstützung zu. 7. Die Schulleitung, gegebenenfalls die Fachbegleitung oder die Leitung des pädagogischen Teams lädt neue Lehrkräfte nach rund einem Monat zum Integrationsgespräch ein. Im Gespräch wird geklärt, ob und welche zusätzliche Hilfe nötig ist.

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Auf Kollisionskurs Wer hat nicht schon Situationen frontaler Auseinandersetzung erlebt, die anscheinend nur noch eskalierende Reaktionen zuließen? Ruft unsere innere Stimme nach einer Er-oder-ich-Entscheidung, geraten wir in eine Gefühlsfalle zwingender Unvermeidlichkeit. Pädagogen haben täglich alle möglichen menschlichen Interaktionen zu bewältigen, oftmals laufen diese Prozesse auch parallel zueinander ab. Die Lehrkraft hat das Gefühl, zur Sicherung des regulären Unterrichts das störende Kind sofort in seine Schranken weisen zu müssen. Jede Lösung, die keine eindeutige Bezwingung der Schülerin darstellt, ist unbefriedigend. Diese Haltung provoziert bei der Schülerin ähnliche Reaktionen. Ein Kind kann die Forderung nach bedingungsloser Unterwerfung als extreme Bedrohung erleben. Es empfindet die verlangte Kapitulation als Ausradierung seines Selbst. Auch das Kind hat das Gefühl von Er-oder-ich. In Teamarbeit lassen sich auch diese Situationen meistern. Es findet sich praktisch immer eine Lehrkraft, die ein entspanntes Verhältnis zum widerspenstigen Kind hat. Sie kann Lösungen vorschlagen, die es sofort ablehnen würde, kämen sie von jemand anderem. Ähnliche Erfahrungen kennen wir aus dem Familienleben. Manche Heranwachsenden sind nicht bereit, einen Rat der Eltern anzunehmen, reagieren jedoch durchaus offen auf denselben Gedanken, wenn er von jemand anderem kommt. Eine persönliche Geschichte (Haim Omer) Im Alter von dreizehn Jahren beschloss ich, Vegetarier zu werden. Als Holocaust-Überlebende war meine Mutter ihr ganzes Leben lang von der Sorge besessen, wir könnten nicht genug zu essen haben. Sie reagierte hysterisch. Sie schrie, das sei entsetzlich ungesund, ich brauche Fleisch, um ordentlich zu wachsen etc. Meine Beharrlichkeit nahm proportional zu den Verzweiflungsausbrüchen meiner Mutter zu. Ich hatte das Gefühl, nachgeben hieße, auf meine Prinzipien zu verzichten. Der Druck, den sie ausübte, ließ mich noch starrsinniger auf meinem Standpunkt bestehen. Aber dann hörten das Geschrei

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und die Predigten plötzlich auf, und meine Mutter bekämpfte meine vegetarische Begeisterung auf andere Art: Sie nahm mich an mehreren Wochenenden mit zu meinem Onkel. Er veranstaltete Grillpartys, die auch einen Heiligen zum Kannibalen hätten machen können. Obwohl ich meinen Onkel liebte und die verführerischen Fleischdüfte fast unwiderstehlich fand, gestattete ich mir nicht nachzugeben. Ich hätte das triumphierende Lächeln auf dem Gesicht meiner Mutter ganz einfach nicht ertragen. Meine Mutter war nicht nur eine ängstliche Jüdin, sie besaß auch ausgeprägte soziale Instinkte. Sie wusste, dass es eine Person gab, ich besonders schätzte, Frau Henya. Sie war die einzige Verwandte, die ich nicht nur mit meinen Eltern besuchte, sondern auch allein. Frau Henya war eine hochgebildete Dame, die mir Bücher empfahl und mich in die klassische Musik einführte. Nun rief sie an und lud mich ein, mit ihr ein paar neue Schallplatten anzuhören. Wir verabredeten uns, und sie empfing mich wahrhaft königlich. Im Lauf unserer Unterhaltung bemerkte sie nebenbei: »Ich habe gehört, dass du Vegetarier geworden bist! Das ist eine sehr schöne Ideologie. Obwohl es natürlich auch Studien gibt, die sagen, dass das zu einer Schwächung der Zeugungsfähigkeit führt. Soweit ich weiß, konnte das aber noch nicht endgültig nachgewiesen werden …« Klar, dass ich von ihr schnurstracks zur nächsten Hamburger-­Bude lief. Kurz darauf lud mich mein Onkel zu einer Grillparty ein, meine Mutter war nicht da. Auf neutralem Gebiet und ohne mütterliche Beobachtung fiel es mir leichter, am Fressgelage teilzunehmen.

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ZUSAMMENFASSUNG Mit Koordination und gegenseitiger Unterstützung lassen sich komplexe Probleme effektiver angehen, und Lehrkräfte stärken so ihre Autorität. Häufig schrecken sie jedoch vor einer Kooperation mit Kolleginnen zurück. Sie fürchten, eine Bitte um Hilfe könnte als Schwäche ausgelegt werden. Sie sind davon überzeugt, dass es pro­ blematischen Kindern gleichgültig sei, was man über sie denkt. Sie bezweifeln die Hilfsbereitschaft der anderen und gehen davon aus, dass diskrete Lösungen unter vier Augen vorzuziehen seien. Trotz all dieser Vorbehalte ist es uns durch Überzeugungsarbeit und Erfolgsbeispiele gelungen, das Gegenteil zu beweisen. Eine Lehrkraft, die ihre Kollegen in schwierige Situationen einbezieht, zeigt nicht Schwäche, sondern Durchsetzungsvermögen. Anstelle einer Ich-Botschaft übermittelt sie eine Wir-Botschaft. Damit legitimiert sie ihre Autorität und gewinnt an Einfluss. Dass es problematischen Kindern gleichgültig sei, was man von ihnen halte, erwies sich ebenso als falsch. Kinder sind sehr empfindlich in Bezug darauf, was man über sie denkt. Auch ihr demonstra­ tives Ihr könnt mir alle den Buckel runterrutschen ist meist nur gespielt. Koordinierte Teamarbeit ermöglicht es, vom frontalen Konfrontationskurs abzuweichen. Als unzutreffend erwies sich auch die Annahme, unter Lehrkräften gelte der Grundsatz Jeder steht für sich allein, und man sei nicht bereit, einander zu helfen. Jeder erfolgreich gelöste Problemfall wird für die ganze Schule zum Gewinn, wenn das Vorgehen transparent gemacht und reflektiert wird. Das positive Echo erreicht auch die Kinder und ihre Eltern. Erstere erleben ihre Welt dadurch als weniger chaotisch und inkohärent, Letztere sind davon überrascht, wie konstruktiv und respektvoll die Interventionen sind. Auch neue Lehrkräfte oder Stellvertretungen sind nicht isoliert, sondern Teil dieser gemeinsamen Problemlösungen, wenn es gelingt, eine Kontinuität zwischen ihnen und ihren Vorgängern herzustellen.

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Kooperation unter Lehrkräften

TIPPS FÜR LEHRKRÄFTE •• Macht Ihnen ein Schüler oder eine Klasse Probleme, dürfen Sie davon ausgehen, dass auch andere Lehrkräfte diese Probleme kennen. •• Denken Sie daran, dass die Bereitschaft zu helfen und sich helfen zu lassen, allen zusammen mehr Stärke verleiht. •• Kooperation und Koordination im Rahmen eines Teams sind ansteckende Erfahrungen. Durch sie entsteht ein positiver Welleneffekt, der alle weiterbringt. •• Wenn Sie denken, an unserer Schule steht jeder für sich allein, sollten Sie wissen, dass die meisten Kolleginnen nur auf eine Gelegenheit warten, zu helfen und sich helfen zu lassen. Eine Klassenlehrkraft hofft auf die Unterstützung der Fachlehrkraft und umgekehrt. Neue Lehrkräfte und Stellvertretungen hoffen auf Unterstützung der festangestellten Belegschaft. •• Sind Sie neu angestellt oder eine Stellvertretung, denken Sie daran, dass ein Telefongespräch mit Ihrem Vorgänger oder der Stelleninhaberin Ihre Position in der Klasse und Ihr Durchsetzungsvermögen stärkt. Ein weiteres Gespräch am Ende Ihres Einsatzes sichert die Nachhaltigkeit Ihrer Arbeit. •• Kooperation mit Kollegen verleiht Ihren Botschaften und dem Legitimationsanspruch Ihrer Autorität mehr Gewicht. •• Wenn Sie Erzieherin sind, ist Isolation keine Fügung des Schicksals. Die beschriebenen Methoden helfen Ihnen, Ihre Beziehungen zu den Eltern zu verbessern und mit der Leiterin der Kindergartenkette und mit Kolleginnen zusammenzuspannen. •• Geraten Sie in einen Konflikt und beschleicht Sie ein Er-oder-ichGefühl, legen Sie diese Zweikampf-Mentalität ab und suchen Sie Wege, im Team zu agieren. In einem Team ist es einfacher, für einen Schüler den richtigen Ansatz zu finden und am Ende des Prozesses gestärkt aus dem Konflikt hervorzugehen. Der Schüler nimmt sehr gut wahr, dass ihm ein Türchen zur Verbesserung seiner Situation offengehalten wird.

Tipps für Lehrkräfte

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KAPITEL 5: Gemeinsam für eine sichere Schule und ein lernförderliches Schulklima

Bereits in der Einführung weisen wir darauf hin, dass Kinder und Jugendliche ein Recht auf Schutz, Führung und Begleitung haben. Aus diesem Recht der Schülerschaft ergibt sich ein Auftrag an die Schulteams und somit deren Legitimation für pädagogische Präsenz. Diese basiert auf dem Prinzip der wachsamen Sorge. Sie vermittelt dem Kind eine zentrale Botschaft: Wir geben dich nicht auf, und wir geben dir nicht nach. Sinnbilder dafür sind der sichere Hafen und der Anker. Der sichere Hafen symbolisiert die Aufgabe der Eltern, das Kind bei seinen Begegnungen und Auseinandersetzungen mit der Außenwelt wieder zu beruhigen und es emotional auftanken zu lassen. Diese Funktion spiegelt die elterliche Liebe und Fürsorge, also den Beziehungsaspekt, wider. Das Bild der Ankerfunktion beschreibt die Stärke der Eltern, möglichen gefährlichen Strömungen mit Hilfe ihrer eigenen sicheren Verankerung entgegenzuwirken. Es steht für die elterliche Autorität, also den Aspekt des Schutzes. Bringt das Verhalten eines Kindes seine Eltern an ihre Grenzen und ihre Selbstkontrolle ins Wanken, ist die Ankerfunktion gefährdet. Dann sind sie geradezu verpflichtet, sich Unterstützung zu holen, sich zu vernetzen, also sich besser zu verankern. Nur so können sie ihre Fürsorgepflicht erfüllen und das Kind vor gefährlichen Strömungen und Strudeln schützen sowie verhindern, dass es sich selbst und andere gefährdet. Die Autorität der Erwachsenen schützt Kinder und Jugendliche vor Gefahren, und der Schutz, den die Kinder spüren, stärkt wiederum die Autorität der Erziehungspersonen.

Gemeinsam für eine sichere Schule und ein lernförderliches Schulklima

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5.1  Teampräsenz vermittelt Sicherheit Analog verhält es sich mit der wachsamen Sorge der Schulmitarbeitenden. Um sich und die Schülerschaft zu schützen, bilden sie gemeinsam ein aufmerksames und sensibles Netzwerk, das wie ein hervorragend verlinktes Radarsystem funktioniert. Damit erkennt die Schule nicht nur Probleme, sondern kann koordiniert darauf reagieren. Dies ist unvergleichlich viel wirkungsvoller als individuell getroffene Vorkehrungen. 1. Teampräsenz als Sicherheitsnetz: Wissen Schüler, dass ihre Lehrer sich gegenseitig informieren und im Kampf gegen Gewalt und Gefahren zusammenarbeiten, spüren sie dieses Sicherheitsnetz. Es steckt Grenzen ab, weil es vermittelt: »Wir passen auf und lassen nicht zu, dass jemand Schaden erleidet!« Es gibt Sicherheit: »Wir sind da! Ihr seid nicht allein!« 2. Teampräsenz als Anker: Halten sich Schulmitarbeitende gegenseitig über ihre Arbeit auf dem Laufenden und koordinieren sie ihre Aktionen, erleben Kinder und Jugendliche sie als Gemeinschaft. Die Mitglieder dieser Gemeinschaft stützen und stabilisieren sich gegenseitig. Ein Anker findet seinen Halt zum Beispiel durch drei Flunken, die sich im Boden eingraben. Mit nur einer Flunke – gleich einer Lehrkraft, die im Alleingang handelt – ist es schwierig, ein ganzes Schiff zu sichern. 3. Teampräsenz als Leuchtturm: Ebenso wie ein Leuchtturm Untiefen und gefährliche Felsen unter der Wasseroberfläche anzeigt, sendet die Teampräsenz eine weitreichende Botschaft aus. Es genügt, dass eine einzelne Lehrkraft erscheint, um der Schülerschaft zu signalisieren, dass ein Gebiet hell ausgeleuchtet ist, dass die Grenzen abgesteckt sind und dass potenziellen Störfällen konsequent nachgegangen wird. Geht die Aufsicht von Eltern oder Pädagogen nicht nur von einer Person, sondern von einer ganzen Gruppe verantwortlicher Erwachsener aus, wird das Kind sie mit der Zeit verinnerlichen, und 144

Gemeinsam für eine sichere Schule und ein lernförderliches Schulklima

sie wird allmählich zur Selbstkontrolle. Diese Gruppe kann aus beiden Eltern, der Verwandtschaft, den gemeinsam handelnden Eltern mehrerer Kinder und Lehrkräften bestehen, die alle eine übereinstimmende Botschaft übermitteln. Auch Schülerinnen fällt es leichter, die Aufsicht der Pädagoginnen zu internalisieren, wenn diese von einem ganzen Team wahrgenommen wird. Eine Schule, die gemeinsame pädagogische Präsenz lebt, schafft ein Ethos gegenseitiger Verantwortung. In diesem Umfeld lernen die Schüler am Modell, wechselseitig Verantwortung zu übernehmen.

5.2  Die Mobilisierung der Schülerschaft Schüler tragen wesentlich zu einem friedlichen Schulklima bei, wenn sie Beobachtungen oder Erlebnisse von Gewalt melden. Im Kindergarten funktioniert das noch problemlos. Je älter die Kinder aber werden, desto mehr schrecken sie vor solchen Meldungen zurück, um nicht als Verräter zu gelten. Die Erwachsenen müssen hier Führung übernehmen, um die an vielen Schulen herrschende informelle Konvention der Schülerschaft zu durchbrechen. Kinder müssen verstehen, dass Normen, die das Petzen verbieten, keine allgemeine Gültigkeit haben, nicht selbstverständlich sind und an der Schule andere Wertmaßstäbe gelten. • Ein gewalttätiges Umfeld ist nicht einfach gegeben, sondern existiert nur dank stiller Duldung vieler. • Gewalt oder destruktives Verhalten zu verheimlichen, heißt nichts anderes als zuzulassen, dass andere ihre Sicherheit verlieren. Wer Gewalt und Zerstörung toleriert und geheim hält, unterstützt sie. • Es sind die Täter, die die informelle Übereinkunft Du darfst nicht petzen propagieren. Der Vorwurf dient der Ablenkung vom Problem und der Einschüchterung. • Es gibt einen Unterschied zwischen Petzen (zum Beispiel, wenn jemand bei einer Prüfung abschreibt) und Zivilcourage (intervenieren, wenn jemandem physische oder psychische Gewalt Die Mobilisierung der Schülerschaft

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widerfährt). Als Faustregel gilt: Immer wenn ich oder andere am Körper oder im Herzen Schmerzen erleiden, melde ich es. Diese Botschaft lässt sich in die Kultur einer Organisation einbetten, zum Beispiel in einen Verhaltenskodex. Dieser klärt den Umgang miteinander an der Schule, ist allen bekannt und ihm wird nachgelebt. Ein schulischer Verhaltenskodex erzielt eine ganz andere Wirkung als eine Hausordnung, die aus einer Aufzählung von Regeln und Verboten besteht. Viele Schulen stoßen auf überraschend große Kooperationsbereitschaft von Kindern und Jugendlichen, wenn das Team entschlossen gegen Gewalt vorgeht, Schutz bietet sowie einfache und sichere Kommunikationskanäle schafft. Das Team mit dem Finger am Puls 2004 wurde in den USA ein breit angelegtes Projekt lanciert, das als Team mit dem Finger am Puls (FAP-Team) bezeichnet wird. Es hatte zum Ziel, Gewaltausschreitungen an Schulen vorzubeugen. Das Projekt basierte auf der Erkenntnis, dass in den meisten Fällen extremer Gewalt einzelne Lehrkräfte oder Schülerinnen vor dem Ereignis Si­ gnale wahrnehmen. Fast immer hat jemand etwas gehört, gesehen oder auf Vorfälle hingewiesen, die Gefahr ankündigen. Das Projekt wurde wissenschaftlich begleitet und stützt sich auf Untersuchungen an 35 Schulen mit insgesamt rund 16.000 Schülern vom Kindergarten bis in die Sekundarstufe (Cornell et al., 2004). Die Studie erbrachte folgenden Nachweis: Hat ein Schulteam den Auftrag, auf Warnzeichen zu achten, sie auszuwerten und präventiv zu handeln, nimmt die Zahl der Risikofälle drastisch ab. Die Ergebnisse der Studie überstiegen sämtliche Erwartungen. Im ersten Jahr wurde rund achthundertmal ein Alarm der Stufe Extremgefährdung ausgelöst. Dank des Programms wurde die Gefahr in jedem einzelnen Fall abgewendet. Die Einführung eines solchen FAP-Teams verläuft in zwei Phasen: 1. Die Schule mobilisiert die Schülerschaft und schafft Informationskanäle. 146

Gemeinsam für eine sichere Schule und ein lernförderliches Schulklima

2. Die Schule stellt ein Team zusammen mit dem Auftrag, Berichte auszuwerten und Reaktionen auf Meldungen zu planen. Die Mobilisierung der Schülerschaft beginnt in allen Klassen mit einem Input der Klassenlehrkraft zusammen mit jemandem aus dem Leitungsgremium. Die Schüler sind über den Zweck des Vorgehens informiert, es soll sie vor Gewalt und anderen Gefahren schützen. Diese Mitteilung geht mit der Aufforderung einher, an der Aktion mitzuwirken: Schüler melden jedes Ereignis, das sie zu Opfern oder Zeugen von Gewalt machte, ebenso Situationen, in denen sie einer drohenden Gefahr ausgesetzt waren. Einige Beispiele veranschaulichen diese Meldungen: »Schülerin Hanni aus der Klasse E5 wird von einigen Klassenkameradinnen systematisch gequält. Sie ist verzweifelt!« »In der achten Klasse gibt ein Junge damit an, dass er ein Messer bei sich habe. Viele Kinder haben Angst vor ihm und trauen sich nicht, ihm eine Forderung abzuschlagen.« »Einige Schüler aus der neunten Klasse wollen sich heute Abend mit einer anderen Gruppe im Park treffen, um sich zu prügeln.« »Iris aus meiner Klasse hat mir gesagt, dass sie nicht länger leben will! Sie klingt verzweifelt.« »In meiner Klasse H1 breitet sich ein Schlankheitswahn aus. Vier Mädchen sind schon anorektisch, und es werden immer mehr.«

Nach Besprechung der Beispiele in der Klasse, werden zwei Fragen diskutiert: 1. Ist die Meldung ein Verrat oder, im Gegenteil, ein Beweis von Mut und Treue? 2. Was muss die Schule tun, um die Informanten zu schützen? Der Unterschied zwischen einem klassischen Verrat (»David hat die Hausaufgaben nicht gemacht«) und einer dringlichen Meldung ist den meisten Schülern klar. Sie werden eine Meldung von Erpressung Die Mobilisierung der Schülerschaft

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oder Mobbing nicht als Verrat werten. Allmählich erkennen die Schüler den Unterschied und wehren sich gegen den manipulativen Missbrauch des Wortes Verräter. Diese Darstellung der Situation dient ausschließlich den Tätern. Die zweite Frage ist für die Schülerschaft zentral. Diskretion ist oberstes Gebot. Weniger relevant ist, wem Meldung erstattet wird, der Klassenlehrerin, einem Fachlehrer oder dem Schulleiter. Wichtiger ist das Vertrauen, das der Schüler dieser Person entgegenbringt. In einigen Schulen erhielten die Kinder auch eine Mobilnummer (zum Beispiel die des Jahrgangsstufen-Verantwortlichen oder der Vertrauenslehrkraft), um Meldungen sicher und diskret abzusetzen. Die Meldebereitschaft wächst, wenn eine Klasse über bereits behandelte Fälle unterrichtet wird, wenn sie erfährt, wie die Schule Opfer schützte und wie sie mit problematischem Verhalten umging. Unter Erwachsenen und Kindern breitet sich so etwas wie ein kon­struktiver, gemeinsamer Kampfgeist aus, der immer weitere Kreise zieht. Einschätzung von Gefahrenstufen und Vorkehrungen Wie die Beispiele zeigen, sind die Gefahren vielfältig. Selbstgefährdungen muss anders begegnet werden als Fremdgefährdungen, und das Vorgehen gegenüber Gruppen ist anders als gegenüber Einzeltätern. Das im Folgenden skizzierte Modell ist auf eine breite Palette von Vorfällen anwendbar: • Die Meldung wird diskret auf ihren Wahrheitsgehalt hin geprüft. • Die Beschuldigten werden zu einem Gespräch eingeladen, die Schule will auch ihre Perspektive erfahren. • Erhärtet sich der Fall, teilt die Schule den Beschuldigten mit, dass ihre Aktivitäten aufmerksam verfolgt würden. An diesem Gespräch nehmen mehrere Mitglieder des Teams teil, um das Commitment der schulischen Gemeinschaft zu diesem Schritt zu unterstreichen. • Lehrkräfte und Eltern werden über die Gefahrensignale informiert und gebeten, dem angeschuldigten Kind mitzuteilen, sie wüssten Bescheid. 148

Gemeinsam für eine sichere Schule und ein lernförderliches Schulklima

• Ein Mitglied des Teams führt regelmäßige Kontrollgespräche mit dem Kind und gibt ihm zu verstehen, man habe den Finger am Puls. Die Intervention ist legitim und schützt auch die Beschuldigten vor übler Nachrede, sollte sich die Meldung als falsch erweisen. Die Eltern der Beschuldigten werden ebenfalls in dieser neutralen Haltung informiert. Entsprechend sind die Gespräche frei von Drohungen, Tadel und Vorwürfen. Diese sind auch bei einer nachweislichen Schuld kontraproduktiv. Die Regel Schutz kommt vor Disziplinierung spielt beim Aufbau einer wirksamen Aufsicht eine entscheidende Rolle. Ist eine Sanktion unumgänglich (zum Beispiel weil die Schulordnung sie verlangt), sind die Ziele immer der Schutz respektive die Wiedergutmachung und der Lerneffekt: Lernen – dies bestätigt unterdessen auch die Hirnforschung – geschieht über Beziehung. Selbst bei einem temporären Schulverweis steht die Schule in der Verantwortung, den Kontakt zum Schüler nicht abbrechen zu lassen. Die Einrichtung eines FAP-Teams und das Einbeziehen aller an der Schule Tätigen bewirkt Verschiedenes: Erstens verbessert sich die Qualität der Entscheidungen. Verschiedene Köpfe denken mit und generieren mehr Ideen, was das Ohnmachtsgefühl der Einzelnen reduziert. Zweitens fühlen sich die an der Schule Tätigen zugehörig und mitverantwortlich. Damit wächst ihre Bereitschaft für außergewöhnliche Unterstützungsleistungen. Drittens werden Führungsstellung und Ansehen der Lehrkräfte gefestigt. Viertens wird ein positiver, öffentlicher Meinungsdruck erzeugt. Dieser gibt dem Kind Orientierung. Auf keinen Fall darf das Erzeugen einer öffentlichen Meinung in einen alles plättenden Konformismus münden. Gerade das Gefüge eines Teams ermöglicht eine Vielfalt von Ansätzen und Vorgehensweisen, die selbst besonders schwierigen Schülern zeigen, dass es an dieser Schule auch für sie einen Platz gibt. Hinweis: Je nach Meldung ist das Hinzuziehen von Fachpersonen (Gewaltpräventionsstellen, Schulpsychologischer Dienst, Polizei etc.) und die Information der vorgesetzten Stelle (Schulbehörde) sinnvoll und empfehlenswert. Die Mobilisierung der Schülerschaft

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Arthur hat die Nase voll Arthur aus der neunten Klasse sagte zu zwei Freunden: »Ich habe die Nase voll davon, verspottet und im Schulbus herumgeschubst zu werden! Ich bringe etwas mit, um dem ein Ende zu setzen! « Zwei Wochen zuvor war einer der Freunde bei Arthur zu Hause gewesen. Arthur hatte ihm eine Pistole gezeigt, die sein Vater tief im Schrank verborgen hielt. Der Freund erzählte einem dritten Jungen von der drohenden Gefahr. Sie beschlossen, die Vertrauenslehrerin zu informieren. Diese informierte die Schulleiterin, die den Jungen nach Unterrichtsende zu sich rief, um der Sache gründlich nachzugehen. Arthur bestritt zwar die Geschichte mit der Pistole, erzählte aber, dass einige Schüler der zehnten Klasse ihn regelmäßig im Schulbus quälten und er das nicht länger ertrage. Die Direktorin berichtete Arthurs Eltern von seiner Drohung und davon, dass der Junge seinem Freund eine Pistole gezeigt habe. Der Vater kam in die Schule und bestätigte die Existenz der Waffe. Nach dem Gespräch ließ er sie verschwinden. Die Eltern wurden gebeten, in der kommenden Zeit ein besonders wachsames Auge auf ihren Sohn zu haben. Mit Hilfe der Vertrauenslehrerin erarbeiteten sie ein Konzept für die Überwachungsaktion, an der auch Arthurs Onkel und sein Großvater teilnahmen. Der Junge selbst musste sich einer umfassenden psychologischen Beurteilung unterziehen. Daraus ergab sich, dass seine Krise reaktiv und eine direkte Folge der Übergriffe war, unter denen er seit etwa einem Monat litt. Eine Befragung anderer Kinder bestätigte Arthurs Beschwerde. Nun lud die Schulleiterin die drei involvierten Jungen aus der zehnten Klasse und deren Eltern ein und befragte sie zu den Quälereien. Sie beschloss, in diesem spezifischen Fall auch den Gemeindepolizisten hinzuzuziehen. Er war in der Schule bekannt, und sie hatte schon früher in problematischen Situationen mit ihm zusammengearbeitet. Er traf sich mit Arthur zunächst unter vier Augen, dann gemeinsam mit den drei anderen Jungen. Auch die Schulleiterin und die Vertrauenslehrerin sprachen mit den dreien, um ihnen klarzumachen, dass ihr Verhalten Arthur fast zu einer Extremtat getrieben hatte. Sie erhielten ein vierwöchiges Verbot für den Schulbus. Die Schulzeitung berichtete über

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den Vorfall und die Vorkehrungen − allerdings ohne die Namen oder Details zu Tätern und Opfer zu nennen. Anhand dieser Geschichte klärte das Schulpersonal die Schüler in den Klassen darüber auf, wie wichtig es sei, Gefahren zu melden. Die Vertrauenslehrerin instruierte die Klassenlehrkräfte, wie der Vorfall darzustellen sei, ohne die Identität der involvierten Jugendlichen preiszugeben. Viele Schüler äußerten sich anerkennend über die Wachsamkeit der Mitschüler, die die Gefahr gemeldet und dadurch eine potenzielle Katastrophe verhindert hatten.

Die Beziehungsgestaltung Die Beziehung zwischen Erziehungsperson und Kind ist nicht symmetrisch. Die erwachsene Person ist immer für die Beziehungsgestaltung verantwortlich. Auch wenn ein Kind schreit, kratzt, provoziert oder sich entzieht, ist der Pädagoge in der Verantwortung, eine konstruktive Beziehung aufrechtzuerhalten. Selbstkontrolle ist in diesen herausfordernden Situationen zentral, um beharrlich in der Führungsrolle zu bleiben und die Beziehungsebene trotzdem nicht zu verletzen.

»Der Lehrberuf erfordert eine Balance zwischen verstehender Zuwendung und Führung. […] Diese gelingt jenen Lehrkräften am besten, die nicht nur ihre Schüler als Person wahrnehmen, sondern sich auch selbst als Person wahrnehmen lassen, die als Menschen mit Eigenschaften auftreten, das heißt, spontan und authentisch sind« (Bauer, 2007, S. 55). Selbstkontrolliertes Handeln schließt nicht aus, in einer schwierigen Situation authentisch zu bleiben und zum Beispiel Ärger über das Verhalten einer Schülerin zu zeigen. Selbstkontrolle bedeutet, sich trotz emotionalem Zustand nicht zu Sanktionen oder unangebrachten Äußerungen hinreißen zu lassen, sondern anzukündigen, dass man zu einem späteren Zeitpunkt darauf zurückkommen werde, und das Verhalten des Kindes von seiner Person zu trennen, es also nicht abzuwerten. Die Mobilisierung der Schülerschaft

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Hinweis: Demütigung und Ausgrenzung sind ein psychischer Schmerz, der dieselben Hirnregionen aktiviert wie körperlicher Schmerz. Beides weckt Aggressionen. Sich Unterstützung in herausfordernden Situationen zu holen, verstärkt nicht nur die Botschaft ans Kind, sondern beugt der eigenen Überforderung und dem Risiko vor, die Beziehung zum Kind zu verletzen. Führungsverantwortung und wachsame Sorge sollen nicht verhindern, dass Kinder eigene Erfahrungen machen und altersentsprechend Verantwortung für ihr Handeln, ihr Lernen und das Zusammenleben in einer Gemeinschaft übernehmen. Wir haben bereits erwähnt, dass das Selbstwertgefühl von Kindern und Jugendlichen leidet, wenn Erwachsene jeden Schritt des Kindes überwachen und ihm permissiv jedes Hindernis aus dem Weg räumen. Entwicklung erfolgt in hohem Maße durch Anstrengung. Lebenserfolg und Lebenszufriedenheit hängen ganz entscheidend von der Fähigkeit ab, sich nach einem gescheiterten Versuch wieder aufzuraffen und Durchhaltewillen zu entwickeln. Den Erwachsenen kommt in diesem Prozess eine fundamentale Rolle zu. Ein Kleinkind lernt gehen, weil es die Erwachsenen nachahmt; der Lernprozess erfolgt im wahrsten Sinne des Wortes von Fall zu Fall. Ist es nicht erstaunlich, dass das Kleinkind aufgeschlagene Knie und Händchen in Kauf nimmt, dass es sich nach jedem gescheiterten Versuch wieder aufrappelt und weitermacht? Keinem Erwachsenen käme es in den Sinn, das Kind von dieser frustrierenden Erfahrung abhalten zu wollen. Wir applaudieren dem Kind, wenn es klappt, trösten es nach einem Sturz und ermutigen es, das Wagnis erneut zu versuchen. Wer das Glück hat, ein Kind in diesem Prozess zu beobachten und seinen triumphierenden Blick nach einem ersten, selbstständigen Schritt zu erhaschen, der ahnt, wie sich Erfolg im Kleinkindalter anfühlt. Erwachsene erleben diesen wichtigen Lernprozess ganz automatisch entlang der folgenden Grundregeln: • Wir sind Modell. Das Kind orientiert sich an erwachsenen Bezugspersonen. 152

Gemeinsam für eine sichere Schule und ein lernförderliches Schulklima

• Wir haben eine positive Erwartungshaltung an das Kind. Das Zutrauen der Erwachsenen gibt dem Kind Zuversicht. • Wir ermutigen das Kind immer, wir hindern es nicht aus Angst vor Verletzungen. • Wir unterstützen es und reichen ihm die Hand zu seinen ersten Gehversuchen, später beim Treppensteigen. • Wir begleiten das Kind, lassen es nicht allein. Wir setzen kontextbezogene und entwicklungsabhängige Grenzen. Will das Kleinkind auf einer steilen Treppe dem Erwachsenen die Hand nicht reichen und protestiert, schätzen wir die Situation in Bezug auf Entwicklungsstand und Fähigkeiten des Kindes ein. Die Antwortet lautet dann vielleicht: »Ich möchte, dass du mir hier die Hand gibst, sobald wir unten sind, darfst du wieder allein gehen.« Das sind die wichtigsten und selbstverständlichsten Elemente der Erziehung. Wir handeln danach, ohne groß darüber nachzudenken. Erstaunlicherweise tun sich viele Erziehende in späteren Jahren gerade mit dem letzten Punkt schwer. Das Kind kennt die Welt noch nicht und kann weder die Folgen des eigenen Tuns noch mögliche Alternativen oder Gefahren abschätzen. Aus diesem Grund kann die Beziehung zwischen Erziehendem und Kind niemals gleichberechtigt sein. Unterschätzt wird auch die Modellfunktion der Erwachsenen. Lassen wir Kinder allein, suchen sie sich andere Vorbilder mit anderen Strategien, anderen Werthaltungen. Das ist nur logisch. Gemäß der Legende lernte Tarzan nach dem Verlust seiner Eltern, sich schnell auf allen vieren fortzubewegen und auf Bäume zu klettern – wie seine Adoptiveltern. Erziehung bedeutet, dem Kind die Welt zu zeigen, wie wir sie sehen; ihm unsere Werte und unsere Kultur zu vermitteln; ihm Strategien vorzuleben, mit denen wir uns in dieser Welt zurechtfinden. Später wird sich das Kind seine eigene Meinung bilden. Erwachsene ohne eigene Wertvorstellungen sind für ein Kind konturlos, nicht authentisch und somit nicht fassbar. An ihnen kann es sich nicht Die Mobilisierung der Schülerschaft

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orientieren, gegen sie kann es sich nicht abgrenzen. Gerade Jugendliche haben in ihrem Prozess der Selbstfindung ein klares und starkes Gegenüber nötig. Erziehung bedeutet, Selbstverantwortung und Selbstwirksamkeit zu fördern, Kinder zu begleiten und wo nötig, die Führung zu übernehmen.

ZUSAMMENFASSUNG Wachsame Sorge oder pädagogische Präsenz ist die beste Garantie für Sicherheit in der Schule. Sie festigt deren legitime Autorität. Pädagogische Präsenz wirkt hauptsächlich in drei Bereichen, versinnbildlicht durch Sicherheitsnetz, Anker und Leuchtturm. Sie ist ein Modell für die Verantwortung der Schüler untereinander. Ein FAP-Team ist einfach einzusetzen. Ist das gesamte Schulteam sichtbar präsent, zeigt und übernimmt Verantwortung für die Sicherheit auf dem Schulareal, werden die Schüler bei der Einrichtung eines FAP-Teams kooperieren. Mit klar definierten Anlaufstellen für Beschwerden und Gefahrenmeldungen verdeutlicht die Schule, dass niemand den Launen von Halbstarken und Unruhestiftern ausgeliefert ist. Berichte über erfolgreich gelöste Fälle vertiefen das Sicherheitsgefühl und den Einfluss der Schule. Am wichtigsten ist die deutlich größere Chance, rechtzeitig intervenieren und destruktive Handlungen verhindern zu können. Eine positive Beziehung zwischen Lehrkraft und Kind ist zentral für dessen Lernprozesse. Die bewusste Stärkung der Beziehung bei herausforderndem Schülerverhalten wirkt meist besser als eine Sanktion. Umgekehrt kann eine Vernachlässigung oder gar Verletzung der Beziehung beim Kind problematische Verhaltensweisen provozieren. Die Erziehenden haben die Pflicht zur Fürsorge und sind für die Beziehungsgestaltung verantwortlich. Aus diesem Grund sind Kinder und Erziehende niemals gleichberechtigt. Erziehung bedeutet, dem Kind die Welt zu zeigen und darauf zu vertrauen, dass es sich irgendwann eine eigene Meinung dazu bildet. 154

Gemeinsam für eine sichere Schule und ein lernförderliches Schulklima

TIPPS FÜR LEHRKRÄFTE •• Teamarbeit erzeugt ein Wir-Gefühl und erhöht die Sicherheit für alle. Beteiligen Sie sich an solchen Aktionen. •• Auch ohne FAP-Team können Sie mit Ihrer Klasse den Unterschied zwischen Petzen und Zivilcourage besprechen. Ermutigen Sie Ihre Schülerinnen, Ihnen oder dem Schulsozialarbeiter Vorfälle zu melden, die andere gefährden. •• Sind Sie eine Führungsperson, dann gründen Sie ein FAP-Team, das die Schule für Anzeichen von Gefahr sensibilisiert und präventives Handeln ermöglicht. •• Drängen Sie einen delinquenten Schüler nicht in die Defensive, sondern gehen Sie so vor, dass er eine Veränderungschance bekommt und ein Zugehörigkeitsgefühl entwickeln kann. •• Sprechen Sie mit anderen in der Schule Tätigen und eventuell mit Fachkräften über Vorgehensweisen nach einer Gefahrenmeldung. Viele Köpfe finden bessere und tragfähigere Lösungen als einer allein. •• Schenken Sie der Beziehungsgestaltung die eminente Beachtung, die ihr zusteht. •• Stärken Sie Ihre Beziehung zum Kind bewusst (durch mehr Präsenz) gerade in schwierigen Situationen, geben Sie dem Impuls, auf Distanz zu gehen, nicht nach. •• Wenn Sie das nächste Mal ein Kind vor die Tür setzen und es lautstark protestiert, denken Sie daran, dass Ausschluss ein Aggressionsauslöser ersten Grades ist. •• Seien Sie nahbar, zeigen Sie den Schülerinnen die Welt und was Ihnen wichtig ist. Stehen Sie für Ihre Werthaltungen, respektive die der Schule, ein.

Tipps für Lehrkräfte

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KAPITEL 6: Die Schulleitung Unter Mitarbeit von Tzachi Levran

Bildung als gesellschaftliches Handlungsfeld ist reich an Spannungen und Widersprüchen. Die Schulleitung hat darin eine anspruchsvolle Aufgabe und muss viele Vorbedingungen berücksichtigen. Sie ist dem Schulamt, der Kommunalbehörde, den Eltern, den Lehrkräften, der Schülerschaft und den Anwohnern des Quartiers verpflichtet. Die Erwartungen der verschiedenen Anspruchsgruppen sind hoch und zuweilen konträr. Im Zeitalter von E-Mails und sozialen Netzwerken ist der Zeitdruck hoch. Jedes Problem an einer Schule und jede Wortwahl, die nicht ganz dem Geschmack einer der Interessengruppen entspricht, bergen das Risiko, in den sozialen Netzwerken veröffentlicht oder den Aufsichts- bzw. den kommunalen Behörden gemeldet zu werden. Von der Schulleitung wird erwartet, Probleme unverzüglich zu lösen. Sie hat zu antworten, zu retten und zu unterbinden – und zwar sofort! Eine Schule zu führen bedeutet, vielen Herren mit unterschiedlichen Interessen gleichzeitig zu dienen, sich nicht zwischen den Fronten aufreiben zu lassen und dabei sich selbst treu zu bleiben. Analog zu den Lehrkräften und ihrer Aufgabe der Klassenführung ist in der heutigen Zeit eine Führung nicht mehr denkbar, die sich allein durch ein Amt legitimiert und auf Befehlen, Bestimmungen und Drohungen aufbaut. Das führt eher früher als später zu Konflikten. Diese Erkenntnis gilt für jede Art von Leitungsaufgaben, fällt aber im Bereich der Bildung besonders ins Gewicht. Da führt machtgestützte Autorität zu einer Atmosphäre, die den Grundwerten des Systems widerspricht. Schulleitungen, die nach Neuer Autorität handeln, verfügen über ein legitimes und zugleich effektives Instrument im Umgang Die Schulleitung

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mit Isolation und Anfeindungen. Es mindert somit den Druck dieser Führungsaufgabe zwischen den Fronten. Im ▶ Kapitel 6.3 Neue Autorität als Führungsmodell werden wir genauer auf dieses Thema eingehen. Befähigen Schulleitungen auch ihre Mitarbeitenden, nach Neuer Autorität zu handeln, und führen sie das Konzept an ihrer Schule systematisch ein, gedeiht eine Schulkultur gemeinsamer Werte mit einer gemeinsamen Sprache. Das erleichtert ein koordiniertes Handeln und Auftreten. Die verbesserte Zusammenarbeit mit den Eltern und das Bekanntmachen eines gemeinsamen schulischen Konzepts, das willkürliches Handeln der schulischen Autoritätspersonen reduziert, wirkt zudem vertrauensbildend und stärkt alle an der Schule Tätigen in ihrem pädagogischen Handeln. Das Konzept der Neuen Autorität taugt für alle Bildungsinstitutionen, unabhängig vom Alter der Schülerschaft, unabhängig vom sozialökonomischen Status der Eltern, unabhängig vom Land und dessen kulturellen Eigenschaften.

6.1 Zwei Welten − ein Ziel: Die Einführung der Neuen Autorität an zwei Schulen Man kann sich kaum zwei unterschiedlichere Welten vorstellen als eine orthodoxe jüdische Knabenschule in Israel und eine Schweizer Gesamtschule. Die israelischen Schüler stammen größtenteils aus sozioökonomisch schwachen Familien und leben in einer der problematischsten Städte des Landes. Die Schweizer Schüler haben ihr Heim in einer der wohlhabendsten und schönsten Regionen der Welt, die für die Werte der Schweiz wie Ordnung, Sauberkeit und Zuverlässigkeit bekannt ist. Trotz unterschiedlichen Ausgangspositionen setzten die Leitungen beider Schulen auf die Neue Autorität als Lösung für Erziehungs- und Disziplinarprobleme sowie zur Verbesserung der allgemeinen Atmosphäre an ihren Instituten. Obwohl die Umsetzung an den beiden Schulen sehr verschieden ablief, weist der Prozess verblüffende Ähnlichkeiten auf. 158

Die Schulleitung

An der israelischen Schule wurde ein neuer Direktor eingesetzt. Die Schule hatte massive Probleme: schwere Gewaltvorfälle unter den Schülern, aber auch zwischen Schülern und Lehrkräften, Betrügereien bei Prüfungen, eine äußerst niedrige Zahl von Abiturienten und unzufriedene Schüler und Lehrkräfte. Die kritischen Zustände machten in der Lokalpresse Schlagzeilen, das Team hatte eine hohe Fluktuationsrate, und Eltern weigerten sich zunehmend, ihre Kinder auf eine Schule mit so schlechtem Ruf zu schicken. Die Ernennung des neuen Direktors war ein letzter, verzweifelter Versuch, das Institut zu retten. Es kursierten bereits Gerüchte, sie sei als Übergangslösung vor einer endgültigen Schließung zu betrachten. An der Schweizer Schule war die Ausgangslage völlig anders. Das Schulteam forderte zur Stärkung der einzelnen Mitarbeitenden ein abgesprochenes und gemeinsames Vorgehen bei Regelübertretungen. Es wollte nicht länger für individuell verhängte Sanktionen angeprangert werden können. Dazu wünschte es eine schulübergreifende und verpflichtende Regelung. Der gewählte Weg, eine Liste mit möglichen Vergehen und eindeutig definierten Reaktionen darauf, erwies sich allerdings als falsch. Am Ende einer langen Sitzung hatten sich die an der Schule Tätigen nur auf eine einzige allgemeingültige Regel einigen können: Mobiltelefone und andere elektronische Geräte sind während der Unterrichtszeiten ausgeschaltet und unsichtbar (es sei denn, die Schüler haben die spezielle Erlaubnis einer Lehrkraft). Bei einer Regelübertretung wird das Gerät bis zum nächsten Schultag konfisziert. Die Eltern werden zu Beginn des Schuljahres mit einem Brief von der Schulleitung über diese Maßnahme in Kenntnis gesetzt und haben jederzeit die Möglichkeit, das Gerät in der Schule abzuholen. Dieses Vorgehen war bereits im Vorjahr erfolgreich angewendet worden, fand bei der Mitarbeiterschaft der Schule breiten Konsens und blieb darum in Kraft. Bei anderen Verfehlungen und Regelübertretungen stellte das Schulteam fest, dass verbindliche Sanktionen mit der Schulkultur und dem allgemeinen pädagogischen Verständnis nicht kompatibel waren. Der Versuch, sich auf ein gemeinsames Vorgehen zu einigen, war also geZwei Welten − ein Ziel

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scheitert. Der Wunsch danach aber blieb und wurde in regelmäßigen Abständen wieder geäußert. Konfrontiert mit diesen unterschiedlichen Ausgangslagen hörten die beiden Schulleitungen zum ersten Mal von der Neuen Autorität. In der Schweiz fand eine Tagung zum Thema statt, an der auch die Schulleiterin teilnahm. Im Konzept erkannte sie die Lösung für ihr Problem: ein gemeinsames Vorgehen für Disziplinarfälle zu vereinbaren, das Spielraum lässt, um die Bedingungen des Vorfalls zu berücksichtigen. Ein Vorgehen, das dem pädagogischen Verständnis der Schule entspricht, dass Interventionen entwicklungsfördernd sein sollen, anstatt blinden Schülergehorsam einzufordern. Am schulischen Standortbestimmungstag stellte sie die Idee der Neuen Autorität dem Team in groben Zügen vor. Es stimmte der Bildung einer Arbeitsgruppe zu, die sich näher mit dem Konzept befassen wollte. Diese kam zu dem Schluss, dass der Ansatz der Neuen Autorität für ihre Schule passe, und konzipierte für den folgenden Schulentwicklungstag eine Einführung, bei der alle an der Schule Tätigen mit den Grundprinzipien der Neuen Autorität vertraut gemacht wurden. Ängste und Vorbehalte des Teams holte sie ab und hielt sie fest, um deren Berechtigung nach ersten Erfahrungen zu überprüfen. Die Arbeitsgruppe verstand sehr wohl, dass sich sonst der Widerstand gegen die Veränderungen im Untergrund organisieren und das Projekt unterlaufen würde. Der häufigste Einwand war der Aufwand für die Koordination der Vernetzungsarbeit. Tatsächlich ist dieser nicht zu unterschätzen, jedoch ist der Aufwand für die Bearbeitung wiederkehrender Themen nach alter Autorität ebenfalls beträchtlich und die effektive Belastung des Schulpersonals aufgrund der ausbleibenden Verbesserung der Situation und nervenaufreibender Gespräche mit den Eltern höher, wie auch das Team erkannte. In den folgenden Monaten und Jahren organisierte die Arbeitsgruppe weitere Teamfortbildungstage. Einzelne Prinzipien der Neuen Autorität wurden vertieft erörtert, gemeinsame Maßnahmen initiiert und das Team in ergänzenden Themen geschult. Dazu gehörte der Ansatz der Lösungsorientierten Gesprächsführung nach Steve de Shazer (1982) oder die Gewaltfreie Kommunikation 160

Die Schulleitung

nach Marshall B. Rosenberg (2013). Diese Themen wurden in den Kontext des Gesamtkonzepts eingebettet. Parallel dazu wurden Interventionen nach Neuer Autorität immer dann ausprobiert, wenn sich die herkömmlichen Mittel als untauglich erwiesen. So stand die Neue Autorität nicht in Konkurrenz zu den Gepflogenheiten der Lehrkräfte, sondern war eine hilfreiche und erwünschte Ergänzung. Die Schulleiterin informierte auch im Elternrat über das neue Projekt. Der Elternrat nahm das Thema auf und veranstaltete Weiterbildungen, die allen interessierten Eltern offenstanden. Er verband den Erziehungsansatz der Neuen Autorität im Elternhaus mit dem Schulprojekt. So erreichte der Elternrat für das Projekt eine breite Akzeptanz im Quartier. Auch der neue Direktor der israelischen Schule setzte ein Team ein, das aus einer ihm schon seit Jahren bekannten Vertrauenslehrerin und drei älteren, einflussreichen Lehrern bestand. Mit diesem Team besuchte er eine Reihe von Schulen, an denen die unterschiedlichsten Methoden im Umgang mit schweren Disziplinarproblemen getestet wurden. Darunter befand sich auch eine Schule, die das Modell der Neuen Autorität seit Jahren anwandte. Der Direktor und sein Team erkannten, dass sie unter dieser Flagge nicht nur den Großteil der Lehrerschaft mobilisieren, sondern auch die Unterstützung der meisten Eltern gewinnen konnten. In einem ersten Schritt organisierte der Direktor einen Vortrag über die Neue Autorität für das gesamte Kollegium. Anschließend bot er eine Reihe von Übungsworkshops zur Festigung des Konzepts im Arbeitsalltag an. An beiden Schulen wurden im nächsten Schritt die wichtigsten Grundprinzipien definiert, auf die man das Programm stützen wollte. Die israelische Schule einigte sich auf vier Grundsätze: • Verstärken persönlicher Präsenz sowie Teampräsenz, • Vermeiden von Eskalationen und Reaktionsaufschub, • Aktivitäten zur Demonstration des Bündnisses und der Kooperation unter den Teammitgliedern, • gewaltlose Interventionen und entschiedener Widerstand ohne Eskalation gegen Gewalt und schwere Disziplinarverstöße. Zwei Welten − ein Ziel

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An der Schweizer Schule stellte man die Prinzipien der Neuen Autorität in ein Gesamtkonzept:

Fürsorgepflicht und Schutz

Pädagogisches Grundverständnis Schulkodex und Werte

Aufschub und Deeskalation

Selbstkontrolle

Widerstand

Beharrlichkeit

Vernetzung und Öffentlichkeit

Interventionen nach Neuer Autorität

Wiedergutmachung

Präsenz und wachsame Sorge

Beziehung, verstehende Zuwendung, Führung, Zugehörigkeit, Förderung von Motivation und Leistungsbereitschaft Achtsamkeit, Respekt, Engagement, Gelassenheit, Empathie, Verantwortung, Vertrauen, Toleranz

Abbildung 3: Modell pädagogisches Verständnis

Die Basis bilden die Werte und Normen. Diese sind im Schulkodex festgehalten. Während herkömmliche Hausordnungen unerwünschtes Verhalten verbieten, benennt der Schulkodex positive Verhaltensweisen, die an der Schule gelten. Die zweite Ebene beschreibt das pädagogische Grundverständnis der Schule, welches sich unter anderem an den Erkenntnissen des Neurobiologen ­Joachim Bauer orientiert. Darauf aufbauend folgen die Prinzipien der Neuen Autorität, die für Interventionen handlungsleitend sind. Die Begriffe Präsenz und wachsame Sorge bilden symbolisch das Dach 162

Die Schulleitung

des Modells. Sie stehen für die Verantwortung und Pflicht aller an der Schule Tätigen, Kindern und Jugendlichen Schutz und Fürsorge zu gewähren. Im Leitbild der Schule sind die Themen verankert und erhalten so die nötige Verbindlichkeit. Die Neue Autorität wird umso erfolgreicher implementiert, je engagierter die Führungspersonen die Prinzipien vorleben. Der Direktor der israelischen Schule schickte zuerst eine Textnachricht an sämtliche Lehrkräfte und Eltern. Er legte dar, wie er aktuelle Problemfälle bearbeiten wolle. Unter anderem erklärte er auch das Prinzip des Aufschubs gemäß dem Leitspruch Man muss das Eisen schmieden, wenn es kalt ist! Weiter teilte er mit: »Erwarten Sie keine Echtzeitlösungen von mir, abgesehen von notwendigen Sofortmaßnahmen gegen einen Schaden oder eine akute Gefahr. Lösungen werden erst nach eingehenden Überlegungen und Beratungen unseres gesamten Teams umgesetzt. Ist eine Entscheidung getroffen, werden sämtliche Beteiligten offen darüber informiert. Die Lösung setzen wir mit Feinfühligkeit, entschlossener Konsequenz und in gemeinsamer Verantwortung um.« Diese Mitteilung wurde zum Mantra der Schule, und die Umsetzung der Neuen Autorität begann allem voran im Büro des Direktors. Wenn Eltern eine Forderung an ihn herantrugen, hörte er ihnen respektvoll und aufmerksam zu. Er traf noch keine Entscheidung, sondern verpflichtete sich, diese in den nächsten Tagen bekanntzugeben. Dadurch entschärfte er einen der großen Stressoren von Schulleitungen, nämlich die Forderung nach Sofortlösungen. Auch die Schülerschaft verinnerlichte das Prinzip. Die Schüler verstanden, dass der Direktor oder eine Lehrkraft sich sehr gründlich um einen Vorfall kümmerten, selbst wenn es zunächst nicht danach aussah. Die israelische Schule führte die neue Methode auch symbolisch ein. Dazu wurde der feierliche Empfang der Schülerschaft am ersten Schultag gewählt. Einige Lehrkräfte hatten ein Plakat vorbereitet und am Eingang platziert: Herzlich willkommen! Neben dem Transparent standen der Direktor und einige Lehrkräfte. Sie begrüßten die Schülerinnen und überreichten ihnen eine Süßigkeit sowie ein Zwei Welten − ein Ziel

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Zettelchen mit Erfolgswünschen. Die Klassen- und eine Fachlehrkraft erwarteten die Jugendlichen in ihren Klassenzimmern. Die Botschaft hieß: Wir sind ein Team und arbeiten zusammen! Die Anwesenheit von zwei Lehrkräften pro Klasse in der ersten Unterrichtsstunde war von großer Bedeutung und stärkte beide gleichermaßen. Am Ende des ersten Tages tauschten sich alle Mitarbeitenden in einer Teamsitzung zu den Erfahrungen rund um den Schuljahresbeginn aus, und man war von der Empfangszeremonie für die Schülerschaft begeistert. Sie war ein wichtiger Meilenstein, der die gemeinsame Verpflichtung zur Einführung des Konzepts bekräftigte. Die Auseinandersetzung mit dem Konzept, die Verknüpfung mit anderen Schulentwicklungsthemen und auch die konkreten Erfahrungen im Schulalltag lassen in den Teams das Verständnis für die Grundidee der Neuen Autorität wachsen. Das anfängliche Handeln nach vorgegebenen Prinzipien wird mehr und mehr zu einer selbstverständlichen Haltung der an der Schule Tätigen und damit zur Schulkultur. Manche Interventionen sind noch dieselben wie früher. Aufgrund der veränderten Haltung werden sie aber ganz anders interpretiert. Hierzu ein allgemeines Beispiel: Eine Schülerin, die den Unterricht störte, wurde früher vor die Türe gesetzt oder gar für eine gewisse Zeit dispensiert im Sinne von Ausschluss als Strafe. Sie empfing die Botschaft: Du störst, du musst raus, du musst dich ändern! Man nahm an oder hoffte, dass sich durch diese Sanktion das Verhalten des Kindes bessern würde. Erstens wissen wir heute, dass Ausschluss ein Aggressionsauslöser ersten Ranges ist, was den langfristigen Erfolg der Intervention logischerweise zunichtemacht. Zweitens macht sich die Pädagogin vom Verhalten des Kindes abhängig und fühlt sich zunehmend ohnmächtig, wenn die gewünschte Wirkung ausbleibt. Eines der Prinzipien der Neuen Autorität ist die Selbstkontrolle im Wissen darum: Ich kann das Verhalten des Kindes nicht kontrollieren, nur mein eigenes. Wird heute ein Schüler aus dem Klassenverband oder der Schulgemeinschaft ausgeschlossen, ist die Haltung hinter dieser Entscheidung eine ganz andere. Die Entscheidung hängt weniger vom 164

Die Schulleitung

Verhalten des Schülers ab als vielmehr vom Bedürfnis der an der Schule Tätigen. Entsprechend lautet die Botschaft: Wir tolerieren dieses Verhalten nicht, wir brauchen Zeit, um zur Ruhe zu kommen und um uns – zusammen mit deinen Eltern – zu überlegen, wie wir weiter vorgehen wollen. Diese Wortwahl zeigt deutlich, dass die Erwachsenen in der Führung sind und bleiben. Sie definieren, was für sie nicht akzeptabel ist (Selbstkontrolle), und sie entscheiden (Legitimation durch Fürsorgepflicht der Erwachsenen) in Ruhe (Aufschub) gemeinsam (Vernetzung) über die nächsten Schritte. Eine solche Botschaft ist souverän und hat aufgrund der geballten Ladung an Neuer Autorität bereits eine starke Wirkung. Im Gegensatz zu verbindlichen Sanktionen hat eine Intervention aus dieser Haltung heraus nicht den Anspruch, gerecht zu sein. Entscheidungsgrundlage ist nämlich nicht das Verhalten des Schülers (im Vergleich zu einem anderen Schüler, der vielleicht zwei Monate vorher bei der Lehrerin X ebenfalls den Unterricht störte und trotzdem nicht dispensiert wurde), sondern der Bedarf der Schule nach einer Übergangslösung in der aktuell herausfordernden Situation. Die Haltung der Selbstkontrolle ermöglicht den Schulen ein flexibles und situationsgerechtes Vorgehen (auch in Bezug auf die familiäre Situation des Kindes!), unabhängig von früheren oder zukünftigen Reaktionsweisen. Die Intervention Auszeit (statt Ausschluss) wird von beziehungssichernden Schritten begleitet, wie einem täglichen Anruf des Klassenlehrers oder eines anderen Schulmitarbeiters, regelmäßigen Grußbotschaften, dem Überbringen der Hausaufgaben durch die Schulkameraden oder andere. Möglichkeiten dazu gibt es viele. Ziel dabei bleibt immer, den Kontakt, die Beziehung zum Schüler aufrechtzuerhalten und ihm so zu verstehen zu geben: »Dein Verhalten tolerieren wir nicht, du als Mensch bist uns aber wichtig!« oder gemäß der Neuen Autorität: »Wir geben dir nicht nach, und wir geben dich nicht auf«.

Zwei Welten − ein Ziel

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6.2 Der Schulentwicklungsprozess: ein Wegweiser für Schulleitungen Schulentwicklungsprojekte haben verschiedene Beweggründe. Einige werden top down verordnet oder angeregt durch (externe) Evaluationen, andere entstehen durch ein schulinternes Bedürfnis nach Veränderung oder drängen sich durch einen Anstieg beunruhigender Signale auf. Bei ihrer Lancierung lohnt es sich, auf ein paar Grundregeln zu achten. Die Zieldefinition Steht fest, dass eine Veränderung eingeleitet wird, ist der erste, wichtige Schritt die Zieldefinition. Sie dient der Klärung (Was wollen wir erreichen?) und der Orientierung im Entwicklungsprozess (Sind wir noch auf dem richtigen Weg?). Schulentwicklungsziele sind im Schulprogramm oder ähnlichen Planungsinstrumenten festgehalten. Dies schafft Transparenz und Verbindlichkeit gegenüber dem Team, den Behörden, Elternbeiräten und weiteren Anspruchsgruppen und stärkt die Führungsstellung der Schulleitung. Ein Entwicklungsvorhaben ist nie erfolgreich, wenn es losgelöst von der Schulkultur und gegen den Trend anderer Strategien geplant wird. Das Ringen um eine treffende Zielformulierung ist ein wichtiger Klärungsprozess, bei welchem das effektive Bedürfnis des Teams herauskristallisiert wird. Das neue Ziel der Schweizer Schule hieß: Die Mitarbeitenden sind bereit und fähig, den Kodex einzufordern, und kennen Möglichkeiten, bei Regelverstößen angemessen zu reagieren. Die Interventionen sind nachhaltig und basieren auf einer gemeinsamen Strategie. Grundlagen für den Prozess Der Blick nach außen steht für die Suche nach Ideen und Beispielen, die in einer Arbeitsgruppe gesichtet und priorisiert werden. Es lohnt sich, dabei auch aktuelle Tendenzen, Vorgaben 166

Die Schulleitung

übergeordneter Gremien und gesellschaftliche Entwicklungen zu berücksichtigen. Beim Blick nach innen werden priorisierte Beispiele mit den Gegebenheiten der Schule abgeglichen. Dabei wird festgestellt, auf welche vorhandenen Bedingungen aufgebaut werden kann (Bewährtes bewahren und würdigen) und welche verkrusteten Strukturen aufgebrochen oder welche alten Zöpfe abgeschnitten werden müssen. Letzterer Prozess löst Ängste aus. Entsprechend sorgfältig ist er zu planen: • Das Anstreben eines gemeinsamen Ziels, das alle Beteiligten als sinnvoll erachten, erhöht die Bereitschaft zur Mitarbeit. • Eine transparente, offene Kommunikation ist zentral. Das gilt besonders für die Steuerung eines Projekts, das einen Kulturwandel in der Organisation einleitet. • Entwicklung lässt sich nicht verordnen. Sie ist ein Prozess, der von der Beteiligung der betroffenen Mitarbeitenden abhängig ist. Bei der Bildung der Projektgruppe ist deshalb auf eine gute Durchmischung zu achten: Alter, Bezugsgruppen, Geschlecht, Einstellungen zum Projekt (also neben den Befürwortern unbedingt auch Kritiker miteinbeziehen). • Die Projektvereinbarung klärt die Rahmenbedingungen wie Zeitbedarf, finanzielle Ressourcen etc. und definiert Ziele, Meilensteine, Chancen und Risiken. Sie gibt der Projektgruppe die nötige Planungssicherheit. • Durch ein etappenweises Vorgehen wird Überforderung auf drei Ebenen vermieden: 1. Die Mitarbeitenden haben genügend Zeit, sich mit neuen Themen und Ansätzen vertraut zu machen und sich auf die nächsten Entwicklungsschritte einzustellen. 2. Die Planungsgruppe kann flexibel auf Veränderungen reagieren. Somit bleibt der Prozess trotz langfristiger Planung dynamisch. 3. Schulteams mit bis zu hundert Mitarbeitenden sind träge Gebilde. Analog einer Bergtour mit einer Großgruppe sind Der Schulentwicklungsprozess

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immer wieder Zwischenhalte nötig, um die Gruppe zu sammeln und Nachzügler aufschließen zu lassen. • Als Sammelplatz im übertragenen Sinn eignet sich die jährliche Standortbestimmung. Bereits Erreichtes wird evaluiert, die geplanten Schritte werden aufgezeigt und beides in Bezug zu den vereinbarten Zielen gesetzt. • Widerstand ist Teil jedes Entwicklungsprozesses und braucht Raum. Erhält er im Rahmen des offiziellen Projektverlaufs keinen Platz und wird unterdrückt, verlagert er sich in den Untergrund und wirkt dort – weitaus problematischer – außerhalb des Einflussbereichs der Projektsteuerung weiter. Widerstand erfüllt eine wichtige Funktion: Er lenkt den Blick auf Überforderungen, Ängste, Fehlentwicklungen oder zu wenig beachtete Stolpersteine. Wird Widerstand als positives Element in den Prozess integriert, dient er der Justierung und begünstigt die Qualität der Ergebnisse. • Schulentwicklungsprozesse lassen sich nie auf einen einzigen Bereich reduzieren. Die Einführung des Konzepts der Neuen Autorität betrifft die ganze Organisation und wirkt selbst über deren offizielle Grenzen hinaus ins Quartier. Systemisches Denken hilft bei der Projektplanung (zum Beispiel Einbezug des Elternbeirats), aber auch bei der Lancierung von Interventionen und der Entdeckung potenzieller Ressourcen außerhalb der Schule. Das Quartier als potenzielle Ressource für schulische Interventionen Zwei junge Frauen, Schülerinnen eines Schulheims, gerieten in einen heftigen Streit. Der Institutsleiter persönlich wollte eine Mediation einleiten, doch beschimpften sie sich weiter aufs Übelste und wurden sogar handgreiflich. An eine Klärung des Konflikts war auf diesem Wege nicht zu denken. Der Institutsleiter musste sich eine andere Strategie ausdenken. Er bestellte die Frauen einzeln zu sich ins Büro und gab ihnen Geld für ein Mittagsmenü im einzigen Restaurant des Dorfes. Gleichzeitig erteilte er ihnen den Auftrag, sich dort mit der Kontrahentin zu treffen, gemeinsam zu essen, mögliche Lösungen für ihr Problem

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Die Schulleitung

auszuarbeiten und ihm diese um genau 14.00 Uhr in seinem Büro zu präsentieren. Der Plan ging wohl auch deshalb auf, weil die beiden Jugendlichen von der ihnen zugesprochenen Verantwortung positiv überrascht waren und sich beweisen wollten. Die Öffentlichkeit und das Ambiente der ländlichen Gaststätte dienten als wirkungsvoller Rahmen, lautstarke Auseinandersetzungen gar nicht erst aufkommen zu lassen. Das Gespräch beim Institutsleiter war nur noch eine Formsache. Schließlich verband die beiden jungen Frauen ja nun ein gemeinsames Erlebnis in der Erwachsenenwelt. Damit punkteten sie vor den anderen Jugendlichen weitaus mehr als mit ihrem Streit.

Wichtigste Meilensteine bei der Einführung des Konzepts Neue Autorität Standortbestimmungen

Der Entwicklungsprozess beginnt mit einer ersten Standortbestimmung, die Projektidee wird dem Team vorgestellt: • Ausgangslage (Bedarf, Problem) • Zieldefinition (Lösung) • Projektplanung, Grobkonzept (Vorgehensweise) • Projektvereinbarung (Rahmenbedingen) Die Mitarbeitenden äußern sich zur Projektidee, die entsprechend angepasst wird. Mit der Zustimmung des Teams wird das Projekt ins Schulprogramm aufgenommen. Rückblick und ein Ausblick auf das Projekt sind feste Bestandteile der jährlich stattfindenden Standortbestimmungen. Bildung der Projektgruppe

Das Konzept Neue Autorität betrifft das gesamte Personal einer Schule und hat Einfluss auf die Elternschaft und das Quartier. Günstig ist, wenn die Schulleitung selbst die Projektleitung übernimmt oder zumindest Mitglied der Projektgruppe ist. Wie bereits erwähnt, setzt sich die Projektgruppe möglichst heterogen zusammen. Sie eigDer Schulentwicklungsprozess

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net sich das nötige Know-how im Selbststudium und/oder durch Besuche von Referaten und Kongressen zum Thema an. Teamweiterbildungen

Bei einer ersten Weiterbildungsveranstaltung lernen alle Mitarbeitenden (inklusive Hausdienst und Sekretariat) die Grundgedanken und Prinzipien der Neuen Autorität kennen. Sie erhalten Zeit, sich auszutauschen, Fragen zu stellen sowie Chancen zu entdecken und Befürchtungen anzumelden. Letztere werden in einem Protokoll (zum Beispiel Fotoprotokoll vom Flipchart) festgehalten und bei der nächsten Standortbestimmung überprüft. In einem zweiten Schritt wird die bestehende Praxis der Schule in Beziehung zum Ansatz der Neuen Autorität gesetzt. Mögliche Fragestellungen für Gruppenarbeiten: • Wo sehen wir Berührungspunkte mit unserer aktuellen Praxis? • Welche Elemente aus dem Konzept der Neuen Autorität sprechen uns besonders an? • Was können/wollen wir jetzt an unserer Schule umsetzen? Hinweise zum Wissenstransfer: • Die Mitglieder der Projektgruppe agieren als Wissensvermittler. • Referat(e) durch externe Fachperson(en); als Ersatz oder Ergänzung dient je nach Möglichkeit auch eine DVD-Aufnahme oder ein Film auf YouTube. • Gemeinsame Lektüre dieses Buches gemäß der kooperativen Lernform Gruppenpuzzle. Durch den Austausch angeregt, werden sich der eine oder die andere mit Sicherheit weiter in die Lektüre vertiefen. Anleitung zur Methode des Gruppenpuzzles Das Buch wird zunächst in fünf sinnvolle Textabschnitte von 30 bis 40 Seiten aufgeteilt. Die Schulleitung oder ein Mitglied der Projektgruppe gibt einen kurzen Gesamtüberblick über das Buch (15 Min.).

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Die Schulleitung

So können alle Textabschnitte verortet und unabhängig voneinander gelesen werden. Die Schulmitarbeitenden bilden fünf gleich große Experten-Gruppen, die Gruppen sind dem zugeteilten Textabschnitt entsprechend benannt. Es folgt eine Einzelarbeit (60 Min. Lesezeit; Schnellleserinnen dürfen ungeniert zum nächsten Text übergehen). Anschließend tauscht sich die Expertengruppe (40 Min.) zu Erkenntnissen aus dem Text aus, klärt Fragen und fasst die Essenz des Abschnitts zusammen. Nach einer kurzen Pause wechseln die Beteiligten in die Stammgruppen, die sich aus je einer Person der verschiedenen Expertengruppen zusammensetzt. In der Stammgruppe informieren sich die Teilnehmenden gegenseitig über die wichtigsten Inhalte der verschiedenen Textabschnitte (40 Min.). So wird der Kern des Buches innerhalb von drei Stunden einem ganzen Team zuteil.

Nach einer ersten Einführung ist die Wissensvermittlung nicht abgeschlossen. Repetitionen und Auffrischungen sind immer wieder einzuplanen. Die Methode des Gruppenpuzzles eignet sich auch zur Vertiefung des Konzepts bei einem Teammeeting. Die Neue Autorität lässt sich sehr gut modulhaft erarbeiten. Sind die Grundgedanken allen bekannt, vertieft sich das Team etappenweise in die einzelnen Prinzipien, setzt sich Ziele und bespricht fallbezogen Interventionen. Bevor das nächste Prinzip angegangen wird, werden jeweils Erkenntnisse ausgetauscht. Auch ein kurzes Zeitfenster in den regelmäßigen Teamsitzungen ist eine gute Möglichkeit für Teammitglieder, um über ihre Erprobung von Interventionen nach Neuer Autorität zu berichten. Einbezug von Eltern und weiteren Akteuren

Elternschaft und Schulgemeinde sind wichtige Akteure in einem Schulentwicklungsprozess mit systemischem Ansatz. Für Einzelinterventionen ist es nicht zwingend, dass Eltern oder andere Familienangehörige Vorwissen zur Neuen Autorität haben. Je besser sie aber informiert sind, desto höher ist ihre Bereitschaft zur Zusammenarbeit und ihre Akzeptanz für das schulische Handeln. Das Der Schulentwicklungsprozess

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übergeordnete Thema Erziehung ist für Eltern im Alltag relevant, entsprechend groß ist ihr Interesse an neuen Ansätzen. Folgendes Vorgehen hat sich bewährt: Die Schulleitung informiert den Elternbeirat regelmäßig über das Projekt. Sie erläutert die Grundidee sowie die einzelnen Prinzipien der Neuen Autorität und berichtet über konkrete schulische Beispiele (natürlich anonymisiert!). Wenn die an der Schule Tätigen mit dem Konzept ausreichend vertraut sind, lädt die Schule, oder noch besser der Elternbeirat, alle interessierten Eltern zu Referaten und Workshops zum Thema ein. Die Schulleitung informiert über den Projektverlauf in der Schule, für das Hauptreferat und die Leitung des Workshops empfiehlt es sich, eine externe Fachperson hinzuzuziehen. Der Fokus der Veranstaltung liegt zwar auf Wissensvermittlung (was ist Neue Autorität), da es aber um Erziehungsfragen geht, sind die Eltern ebenfalls Betroffene, ihr Erziehungsverhalten wird tangiert. Außerdem schätzen die Eltern den Austausch zu persönlichen Fragen. Deshalb ist auf die Rolle der Schulleitung und der Pädagoginnen zu achten. Diese sollen den Eltern nicht erklären, wie sie ihre Kinder zu erziehen haben. Am Schluss der Veranstaltung erhalten die Eltern ein Informationsblatt, das den Ansatz und die geplanten Veränderungen an der Schule kurz zusammenfasst. In der Regel zeigen sie großes Inte­ resse an diesem Schulentwicklungsprojekt. Sie erkennen, dass der Ansatz der Neuen Autorität auch für ihre Erziehungsarbeit wertvoll und unterstützend ist. Vertreten Schule und Eltern denselben Erziehungsansatz, so stärkt das ihr Bündnis. Verankerung

Der Grundsatz der Neuen Autorität kann von einem Schulteam rasch erfasst werden, und das schematische Intervenieren gemäß den Prinzipien ist in relativ kurzer Zeit realisierbar. Die Verankerung der Neuen Autorität ist jedoch ein längerer, in jedem Fall aber lohnender Prozess. 172

Die Schulleitung

Die Neue Autorität konfrontiert uns mit neuen Werthaltungen und Reaktionsweisen, also Normen. Bestrafung beispielsweise wird wo immer möglich ersetzt durch Wiedergutmachung, Kontrolle durch Selbstkontrolle etc. Im geschützten Rahmen eines Workshops und im Austausch mit Gleichgesinnten gelingt es gut, Ideen zu entwickeln und Interventionen nach Neuer Autorität zu planen und danach auch umzusetzen. Es braucht jedoch Übung, Repetition und immer wieder den Austausch, um in der Hektik des Schulalltags spontan entsprechend zu handeln. Weshalb ist das so? Die meisten von uns wurden über Jahrzehnte durch die Werte der traditionellen Autorität geprägt. Sie sind uns vertraut. Im Stress fallen wir automatisch in unsere alten Muster zurück. Das Umsetzen der Werte der Neuen Autorität in pädagogisches Handeln ist zumindest am Anfang ein bewusst gesteuerter Vorgang und noch keine tief verinnerlichte Haltung. Natürlich erwartet man von Pädagogen ein bewusstes Handeln. Affekthandlungen waren noch nie professionell. Aber auch Lehrer sind Menschen – Schulleiterinnen übrigens ebenso! Das Leitbild Die Schulleiterin war im Stress – wie immer vor den Sommerferien ging es drunter und drüber. Zudem ärgerte sie sich über eine Gruppe Jugendlicher, die sich angewöhnt hatten, im Eingangsbereich der Schule ihr Mittagessen einzunehmen und die anschließend den Platz verließen, ohne den Abfall wegzuräumen. Der Hausmeister reklamierte, und auch weitere Mitarbeitende beklagten sich bei ihr über diesen Missstand. Trotz mehrmaliger Warnung der Schülergruppe trat keine Besserung ein. Deshalb entschied die Schulleiterin, im Eingangsbereich der Schule eine Tafel anbringen zu lassen: PICKNICK VERBOTEN! Ein Mitarbeiter der Betreuung hatte den Auftrag, das Plakat zu gestalten und aufzuhängen. Er suchte die Schulleiterin in ihrem Büro auf und sagte: »Natürlich werde ich den Auftrag ausführen, wenn das wirklich dein Wunsch ist. Ich möchte dich aber darauf hinweisen, dass dies nicht unserem Leitbild entspricht!« Etwas zerknirscht musste die Schulleiterin ihm recht

Der Schulentwicklungsprozess

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geben. Sie lud ihn zur nächsten Leitungsteamsitzung ein. Gemeinsam wurde ein Vorgehen geplant, das verstärkt auf Präsenz setzte und Mitarbeitende aus verschiedenen Bereichen einbezog. Es wirkte wunderbar, ganz ohne Verbotstafel.

Ist pädagogisches Handeln nach Neuer Autorität im Leitbild einer Schule verankert, weist das auf eine hohe Verbindlichkeit hin. Eine Kultur der Zusammenarbeit, die es zulässt, Fehler zu machen und zu korrigieren, ist unterstützend. Das Umfeld wirkt regulierend, wenn eine einzelne Mitarbeiterin – selbst die Schulleiterin – in der Hitze des Gefechts in alte Gepflogenheiten zurückfällt. Wie jeder wertebasierte Ansatz erfordert auch die Neue Autorität Engagement und Investitionen. Die Schule tut gut daran, menschliche Schwächen wie Vergessen und Schlendrian zu berücksichtigen und regelmäßige Weiterbildungen zu planen. Auch allgemein zugängliche Ablagen mit Praxisbeispielen oder Zusammenfassungen zu relevanten Themen als Nachschlagewerk erleichtern die Verankerung und vertiefen das Wissen. Mit der Zeit werden die an der Schule Tätigen geübter, mutiger und kreativer, tauschen sich in pädagogischen Teams oder Intervisionsgruppen aus und wenden die Prinzipien zunehmend auch in neuen Kombinationen und anderen Kontexten an. Die Vielfalt an Handlungsmöglichkeiten nimmt zu und verdrängt das schädliche Gefühl der Ohnmacht und Handlungsunfähigkeit, unter dem viele Lehrkräfte heute leiden. Zur Verankerung des Konzepts ist Lernen am Modell von großer Bedeutung. Es braucht deshalb Leitungspersonen, die Werte vorleben und Interventionen entsprechend anleiten und begleiten. Bei der Rekrutierung neuer Mitarbeitender lohnt es sich, bereits im Vorstellungsgespräch auf kulturelle und pädagogische Besonderheiten der Schule hinzuweisen. Meistens haben sich die Bewerberinnen auf der schuleigenen Webseite kundig gemacht und sind interessiert, mehr zu erfahren. Neu angestellte Mitarbeitende werden schrittweise ins Konzept der Neuen Autorität eingeführt, ent174

Die Schulleitung

weder durch die Schulleitung, die Fachbegleitung oder die Leitung des pädagogischen Teams. Sie erhalten schriftliche Unterlagen der Schule oder Literatur zum Thema. Bei einem Wechsel auf Leitungsebene ist es ein großer Vorteil, wenn die Schulbehörde als einstellende Instanz nicht nur über das Projekt informiert ist, sondern diese Schulkultur oder den noch laufenden Prozess zur Implementierung derselben unterstützt. Ist die Schulbehörde am Fortbestand des Konzepts an der Schule interessiert, wird sie dies bereits beim Auswahlverfahren einbringen und berücksichtigen. Je nach Vorgehen werden weitere Mitglieder des Leitungsteams oder die Personalvertretung hinzugezogen, um über aktuelle Projekte und geltende Konzepte zu berichten. Neue Autorität als umfassendes, pädagogisches Schulentwicklungsprojekt Die Neue Autorität hat einen durch und durch systemischen Ansatz. Die Vernetzung ist eines der Hauptprinzipien. Gemeint ist die Vernetzung und gegenseitige Stärkung verschiedener Personen (zum Beispiel die Lehrkraft A mit den Lehrkräfte B und C) und Personengruppen innerhalb der Organisation (Lehrkräfte, Betreuungspersonen, Hausdienstpersonal, Schulleitung) und außerhalb der Organisation (Eltern, Familienangehörige, Quartier­bewohner, Sporttrainerinnen, Musiklehrer, Therapeuten etc.). Diese Vernetzung stützt die einzelnen Erziehenden darin, unerwünschtem, selbst- und fremdgefährdendem Verhalten eines Kindes oder Jugendlichen entschlossen entgegenzutreten und ihre Fürsorgepflicht wahrzunehmen. Dadurch erfährt das Kind Schutz. Den systemischen Ansatz der Neuen Autorität finden wir aber auch inhaltlich in Bezug auf die pädagogische Schulentwicklung, bestehend aus den Komponenten Organisationsentwicklung, Unterrichtsentwicklung und Personalentwicklung (nach Rolff, 2000). Erklärung zum Modell: Wer sich mit Neuer Autorität befasst, ist in erster Linie an einem Erziehungskonzept mit gesellschaftskompatiblen Interventionsmöglichkeiten interessiert. Es geht um Der Schulentwicklungsprozess

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Personalentwicklung Gesundheitsförderung/ Ressourcenmanagement/ Selbstreflexion/ Kommunikationstraing

Neue Autorität als pädagogischer Schulentwicklungsprozess

Unterrichtsentwicklung Classroom-Management/ überfachliches Lernen/SchülerCoachings/Beurteilungspraxis/ professionelle Lernbeziehungen

Organisationsentwicklung Schulkultur/Erziehungsklima/ Kooperation/Teamentwicklung

Abbildung 4: Modell Neue Autorität als pädagogischer Schulentwicklungsprozess

die Verbesserung der Schulkultur und des Erziehungsklimas, unter anderem durch Kooperation. Diese Themen werden gemäß Rolff der Organisationsentwicklung zugeordnet. Die entsprechenden Prinzipien der Neuen Autorität sind neben dem Gesamtkonzept selbst Vernetzung, Öffentlichkeit, Verzögerung, Selbstkontrolle, Widerstand, wachsame Sorge, Wiedergutmachung und Präsenz. Den Präsenzbegriff finden wir auch in der Unterrichtsentwicklung im Zusammenhang mit dem Classroom-Management. In ▶ Kapitel 2 haben wir verschiedene Methoden zur Stärkung der Lehrerpräsenz beschrieben. Diese sind vergleichbar mit Teilbereichen des Classroom-Managements, nämlich organisatorischer Störungsvorbeugung, erziehendem Unterricht (Regeln und Routinen) und vorbeugendem Lehrerverhalten (Brüning, 2010). Der Prozess der Wiedergutmachung, auf den wir im ▶ Kapitel 7.3 noch näher eingehen werden, zielt durch den Akt der Vergebung nicht nur auf die Konfliktlösung, sondern auch auf die Förderung der überfachlichen Kompetenzen ab, insbesondere auf das Sozialverhalten. Hier finden wir Schnittstellen zu den Coaching-Gesprächen 176

Die Schulleitung

mit Schülern sowie zur Beurteilungspraxis, also zu weiteren typischen Themen der Unterrichtsentwicklung. Die Prinzipien Selbstkontrolle, Beharrlichkeit, Aufschub und Deeskalation wiederum gehören in den Bereich der Personalentwicklung. Sie lassen sich sehr gut verbinden mit Kommunikationstrainings (zum Beispiel Elterngespräche professionell führen, Lösungsorientierte Gesprächsführung und Gewaltfreie Kommunikation) oder der Selbstreflexion durch das Einrichten von Intervisionsgruppen mit Fallbesprechungen nach Neuer Autorität. Zeit und Raum für Austausch sind auch der Gesundheitsförderung des Personals zuträglich. Weiterbildungen und Workshops zum Thema Ressourcenmanagement ergänzen bewusst gesteuerte Selbstkontrollmechanismen. Es ist nicht nötig, all diese Verknüpfungen bereits bei der Einführung zu erkennen und im Blick zu haben. Es wäre planungstechnisch im heute sich so schnell verändernden Schulsystem eine Überforderung. Vor allem aber erkennt man erst mit der Zeit, welche anderen Schulentwicklungsthemen sich mit Neuer Autorität verbinden lassen. Der Prozess setzt bei der Grundhaltung an, bei der Gewaltfreiheit und den sieben Prinzipien. Je weiter wir ins Thema vordringen, desto mehr Parallelen zeigen sich zu anderen, aktuellen Schulentwicklungsthemen. Übersehen wir eine, ist das Projekt deshalb nicht gefährdet. Aber so wie die Vernetzung die einzelne Erziehungsperson in ihrer Aufgabe stärkt, so wird die Neue Autorität in der Kultur einer Schule gefestigt und verankert, wenn wir die Schnittstellen und Gemeinsamkeiten zu anderen Themen erkennen. Der eine Entwicklungsprozess beeinflusst auch andere Projekte, die auf denselben Werten aufbauen. Es entlastet die Schulteams und gibt ihnen Orientierung, wenn nicht jede Neuerung am Punkt null startet, sondern auf bekannten Werten und Normen aufbaut, in der Landschaft der Projekte verortet ist und wenn das erworbene Wissen in verschiedenen Kontexten angewendet werden kann. Die Fachliteratur bezeichnet dieses Vorgehen als systemischen Ansatz der ­pädagogischen Schulentwicklung.

Der Schulentwicklungsprozess

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6.3 Die Neue Autorität als Führungsmodell Ein Führungswechsel löst immer Verunsicherung aus und bringt Unruhe in ein System. Er ist damit ein Risiko für die Organisation. Die eingespielte Ordnung – ob gut oder schlecht, sei dahingestellt – wird aus dem Gleichgewicht gebracht. Das System braucht Zeit für die Neuorientierung und Neupositionierung. Nicht selten kommt es im Verlauf dieser Prozesse zu Konflikten. Eine neue Leitungsperson wird von Einflussgruppen als Bedrohung wahrgenommen, Vorzugsbedingungen sind infrage gestellt. Die neue Führungsperson wird abgelehnt, weil sie sich mit Gegebenheiten und Vereinbarungen vor Ort nicht auskennt. Stammt sie aus den eigenen Reihen, besteht vielleicht die Befürchtung, dass sie ihr internes Wissen nutzt, um bisherige Komfortzonen aufzulösen. Führungswechsel erzeugen Verunsicherungen, das wissen wir aus dem Geschichtsunterricht. Neben der vereinzelten Angst vor dem Verlust von Privilegien sind es oft Zuneigung und Loyalität zur abtretenden Führungsperson, die Mitarbeitenden Mühe bereiten, sich auf jemand Neues einzulassen. Führungspersonen sollten diesen Aspekt positiv bewerten, zeigt es doch die Loyalität der Belegschaft gegenüber der vorgesetzten Stelle. Aus diesem Grund darf sich eine neue Leitungsperson niemals negativ über den Vorgänger äußern. Man soll immer davon ausgehen, dass auch die Vorgängerin ihre Stärken und Schwächen hatte und ihre Arbeit nach bestem Wissen und Gewissen erledigte. Eine Schulleitung, die mit Ablehnung konfrontiert ist, kann ihre Aufgabe nicht ordentlich erfüllen. Als Erstes muss sie sich aus ihrer einsamen und bedrohten Position befreien. In dieser Situation ist die Versuchung groß, mit Mitteln der Macht zu reagieren. Es erscheint überlebensnotwendig, zu demonstrieren, wer Herr im Haus ist. Überlebenswille und Definition des Amtes verbinden sich zu einem ungesunden Machtcocktail. Wer in diese Falle tappt, verschärft das Problem, anstatt es zu lösen. Die zerstörerischen Konflikte zwischen Eltern oder Lehrern und Schulleitungen, die wir kennen, sind alle das Ergebnis einer 178

Die Schulleitung

Eskalationsspirale. Sie entstehen nicht ohne Grund, sondern sind das Resultat machtvoller Handlungen, die eine Auseinandersetzung in einen Krieg verwandeln. Eine Schulleitung ist nie alleinige Auslöserin eines Konflikts, auch die Gegenseite führt einen Machtkampf. Die hierarchisch höher gestellte Person trägt jedoch die Verantwortung für die Gestaltung von Arbeitsbeziehungen. Sie verfügt über Möglichkeiten, sich Rückendeckung und Legitimation zu verschaffen, und kann durch professionelles Handeln die Art des Konflikts verändern. Es kommt vor, dass die Auseinandersetzung das Blickfeld so stark einengt und die Sicht auf das an sich breite Spek­trum von Handlungsmöglichkeiten so trübt, dass die Führungsperson vollständig davon überzeugt ist, sofort und mit aller Kraft zuschlagen zu müssen, um die eigene Position zu retten. Diese Haltung erweist sich immer als fataler Fehler. Machtvolle Reaktionen verstärken Widerstand und Feindseligkeit, auch wenn sie vermeintlich rasche Ergebnisse erzielen. Passive Aggressivität oder Sabotage verwandeln den anfangs latenten Widerstand in eine lautstarke und aktive Rebellion. Mitstreiterinnen werden mobilisiert, um den Kampf zu gewinnen. In dieser Situation ist die Schulleitung die exponierteste und verletzlichste Figur. Selbst wenn sie starke Argumente für den Missstand hat, muss sie sich die Frage gefallen lassen, wie sie es soweit kommen lassen konnte. Dergestalt vor einem breiten Publikum an den Pranger gestellt, sind Führungspersonen versucht, alle möglichen Begründungen vorzubringen, um die Schuld von sich zu weisen und die Verantwortung abzuwälzen. Es ist die Behörde, die zu wenig Ressourcen bereitstellt und Abläufe verkompliziert, es sind schwierige Rahmenbedingungen und natürlich das Team mit seiner mangelhaften Disziplin und der fehlenden Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen und zu kooperieren. Aus menschlicher Sicht ist diese Reaktion nachvollziehbar. Eine Schule zu führen ist keine einfache Aufgabe. Alle Menschen wollen erfolgreich sein und eine solche Niederlage ist nur schwer zu verkraften. Eine Führungsperson ist aber immer in der Pflicht für das Geschehen. Die Neue Autorität als Führungsmodell

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Zum Glück kann jede Schulleitung konstruktive Bündnisse fördern und Kooperationen eingehen und damit ihre Position und ihren Einfluss stärken. Voraussetzung sind guter Wille und Engagement. Die Schuldirektorin stärkt ihre Position Nach mehr als zwanzig Jahren ging der alte Direktor in Rente. An seine Stelle trat eine Direktorin mit einem völlig anders gelagerten pädagogischen Credo. Dieses verlangte von den Lehrkräften deutlich mehr Einsatz, die Vorlage eines ernsthaften und detaillierten Arbeitsprogramms und völlige Transparenz im Hinblick auf das, was sich in ihrer Klasse abspielte. Über die Jahre hinweg hatten sich problematische Gewohnheiten eingeschlichen. Zum Beispiel hatten sich Präsenzstunden der Lehrerschaft so verringert, dass sie nicht mehr den Vorgaben entsprachen. Ein Teil der Opposition gegen die neue Direktorin war eine Form von Protest dagegen, dass sie und nicht die Stellvertreterin des vorherigen Direktors als Führung eingesetzt worden war. Ein Teil des Lehrkörpers hatte damit auf eine Fortsetzung der herrschenden Normen gehofft. Der Widerstand wurde vielfältig demonstriert: Unruhe und Störungen während der Sitzungen im Lehrerzimmer, plötzliches Verlassen der Sitzungen vor deren Ende, vorzeitige Entlassung der Schüler aus dem Unterricht, Weigerung, bestimmte Aufgaben zu übernehmen, Weigerung, Schüler individuell zu unterrichten etc. Die Direktorin spürte, dass die Lehrkräfte sie im Visier hatten und sie dazu bringen wollten, ihre Forderungen oder gar ihr Amt aufzugeben. Sehr bald erkannte sie, dass der Widerstand hauptsächlich von einem Personenkreis aus dem Umfeld der ehemaligen Vizedirektorin ausging. Sie hielt es für richtig, weder eine neue Clique um sich selbst zu scharen, noch die Widerstandsgruppe als geschlossenen Block zu behandeln. Aus ihrer Sicht hätte so eine Strategie dazu geführt, die ganze Schule in diesen Krieg der Clans zu stürzen. Dazu sollte es auf keinen Fall kommen. Sie wollte ihren Gegnern beweisen, dass sie auch sie verteidigen würde, falls sie in eine Zwangslage gerieten, und suchte nach einer Gelegenheit dafür. Sie hoffte,

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Die Schulleitung

damit einen Teamgeist und ein Wir-Gefühl zu erzeugen, das Offenheit und Einladung zur Zugehörigkeit ausstrahlen würde. In den ersten Monaten ihrer Amtszeit lud sie alle Mitarbeitenden zum persönlichen Einzelgespräch ein. Dafür nahm sie sich jeweils über eine Stunde Zeit. Sie war ehrlich an den Erfahrungen ihrer Lehrkräfte an der Schule interessiert, zeigte Empathie für deren persönliche Situation und lud jeden von ihnen ein, sich mit jeglichem Anliegen an sie zu wenden. Diese persönlichen Gespräche verstärkten ihre Präsenz ganz erheblich. Sie positionierte sich als erreichbar, aufmerksam und hilfsbereit. Sie gab damit auch zu verstehen, dass sie den Finger am Puls hatte und sowohl positive Entwicklungen fördern als auch problematische Gepflogenheiten erkennen würde. Die Stunde der Wahrheit schlug im Vorfeld des Chanukka-Fests8. Es war als sozialer Anlass für das Kollegium geplant und sollte den Teamgeist fördern. Die Direktorin erfuhr, dass eine ganze Gruppe von Lehrkräften der Feier der Direktorin fernbleiben wollte. Manche wurden massiv unter Druck gesetzt, nicht daran teilzunehmen. Inzwischen hatte die Direktorin jedoch gute Kontakte gewonnen, und sie erfuhr vom Vorhaben der Widerständler. Sie änderte das Programm und gab bekannt, der Abend diene einer Zusammenfassung des ersten Jahresdrittels. Dadurch verwandelte sie die Einladung in eine professionelle Begegnung. Die neue Benennung des Anlasses minderte den Druck auf die Lehrer, der Veranstaltung fernzubleiben. Schließlich nahmen fast alle Mitarbeitenden an dem Abend teil, an dem sowohl das Trimester zusammengefasst als auch teamfördernd gefeiert wurde. Das Gefühl der Bedrängnis nahm allmählich ab. Nach und nach waren mehr Lehrer bereit, Aufgaben zu übernehmen. Keinesfalls wollte die Direktorin auf die freiwillige Mitarbeit und Unterstützung der Skeptiker verzichten. Sie fand eine ausgezeichnete Gelegenheit, als eine der wortführenden, Widerstand leistenden Lehrerinnen einen Fehler beging und den Zorn eines Elternpaars auf sich zog. Die Eltern beschwerten 8 Ein fröhliches, mehrtägiges jüdisches Fest, das im Dezember zu Hause und in der Gemeinde gefeiert wird.

Die Neue Autorität als Führungsmodell

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sich bei der Direktorin darüber, dass die Lehrerin ihren Sohn vor der ganzen Klasse demütige. Sie ließen sie wissen, dass sie sich an die Aufsichtsbehörde und die Presse wenden würden. Die Direktorin bot auch die Vertrauenslehrerin zur Sitzung auf. In deren Gegenwart forderte sie die Eltern auf, den Vorfall zu schildern. Sie stellte Zwischenfragen, um den Vorfall in allen Einzelheiten zu verstehen. Die Vertrauenslehrerin bat sie, diese Schilderung und auch die Schwierigkeiten des Kindes in einem Protokoll genau festzuhalten. Am Ende der Sitzung versprach sie, die Angelegenheit sorgfältig zu untersuchen, um einen Weg zu finden, wie der Streit bereinigt werden könne. Sie hatte die Absicht, sowohl das Verhältnis zwischen der Lehrerin und dem Schüler als auch dessen soziale Position in der Klasse zu verbessern. Der Vater gab sich damit jedoch nicht zufrieden und erklärte, falls die Direktorin nicht bereit sei, der Lehrerin aktenkundig einen Verweis zu erteilen, werde er seine Drohung wahrmachen und sich an die Aufsichtsbehörde und die Presse wenden. Die Direktorin entgegnete: »Wir wollen und müssen aber mehr für Ihren Sohn tun. Schließlich bleibt er weiterhin unser Schüler, und auch die Klasse bleibt weiterhin seine Klasse. Wie soll eine Lehrerin Ihrer Ansicht nach vor diese Klasse treten, wenn Sie so gegen sie vorgehen? Auch wenn das Verhalten der Lehrerin im aktuellen Fall problematisch erscheint, ist sie bei den Schülern und vielen Eltern beliebt. Was denken Sie, wie wirkt sich eine solche Beschwerde und eine breite Veröffentlichung des Vorfalls auf die Position Ihres Sohnes in der Klasse aus?« Der Vater beharrte weiterhin auf seiner Absicht. Doch spürte die Direktorin, dass sich die Atmosphäre ein wenig entspannt hatte. Sie wagte den nächsten Schritt. Sie stand auf, setzte sich auf einen anderen Stuhl und sagte zum Vater: »Ich bitte Sie, einen Augenblick lang auf meinem Stuhl Platz zu nehmen. Ich sitze Ihnen gegenüber und nehme Ihre Rolle ein. Als Direktor sind Sie sowohl für Ihr eigenes Kind als auch für alle anderen Kinder und sämtliche Lehrer in der Schule verantwortlich. Ich spiele kein Theater, ich wünsche mir lediglich, dass Sie sich in meine Position versetzen. In Wahrheit sitzen wir nämlich im selben Boot.« Als der Vater auf dem Stuhl der Direktorin Platz genommen hatte, war klar, dass die Debatte nun eine konstruktive Wendung nahm. Sie

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einigten sich darauf, dass die Lehrerin sich zu entschuldigen habe, falls sie tatsächlich einen Fehler begangen hatte. Die Würde der Lehrerin sei dabei zu wahren, damit sie ihre Beziehung zu dem Kind verbessern und ihre Aufgabe weiterhin erfüllen könne. Genauso kam es. Die Vertrauenslehrerin informierte die Lehrerin über die Besprechung. Diese verstand, dass sich ihr ein Ausweg auftat und sie die Chance bekam, ihren Fehler zu korrigieren. Die Beziehung zwischen der Direktorin und den Eltern vertiefte sich und sollte später noch weitere Früchte tragen. Bald schon gab die betroffene Lehrerin ihren Widerstand auf und beeinflusste sogar eine Reihe von Kollegen in dieser Richtung.

Ganz intuitiv setzte diese Direktorin einen Großteil der Prinzipien der Neuen Autorität um. Sie schuf eine Atmosphäre von Präsenz, indem sie den Finger am Puls hielt. Sie hatte genug Selbstkontrolle, um Sofortlösungen, Polarisierung und Eskalation zu vermeiden. Den Grundgedanken Wir sitzen im selben Boot stellte sie überzeugend dar, und schließlich gelang es ihr, eine Wiedergutmachung als bessere Alternative zum harten Disziplinarverfahren durchzusetzen. Zudem erzeugte sie das Gefühl einer geeinten Gemeinschaft, einer Bezugsgruppe, die Lehrer, Eltern und Kinder gleichermaßen zur Zugehörigkeit auffordert. All das konnte selbstverständlich nicht an einem Tag geschehen. Doch das Ohnmachtsgefühl der Direktorin nahm schon innerhalb weniger Monate ab. Schritt für Schritt verwandelte sie sich in eine von Eltern, Lehrkräften und Schülerinnen geschätzte Führungspersönlichkeit. Intuitive Führungsqualitäten sind hilfreich. Im Umgang mit Extremsituationen genügen sie aber oftmals nicht. Diese erfordern ein systematisches Vorgehen. Die professionell begleitete Reflexion des eigenen Führungsverhaltens verhindert voreilige Reaktionen und vermindert somit das Risiko, in eine Eskalationsspirale zu geraten. Die Methoden der Neuen Autorität ermöglichen einer Leitungsperson, Krisen durch systematische Schritte beizeiten zu verhindern oder zu lösen: Die Neue Autorität als Führungsmodell

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• Die mit den Prinzipien der Neuen Autorität vertraute Schulleitung neigt weniger zu impulsiven Reaktionen oder dem Einsatz von Machtmitteln. • Die Schulleitung pflegt positive Beziehungen zwischen der Schule und den Eltern. • Eine Politik der Transparenz reduziert den Argwohn im Team, es werde durch einseitige oder bearbeitete Informationen manipuliert. Sie reduziert zudem das Misstrauen der Eltern. Natürlich wahrt die Schule die Integrität der Mitarbeitenden und der Schülerschaft, muss aber als Institution nichts verbergen. • Gegenseitige Unterstützung im Team erleichtert das Eingestehen von Fehlern, vermeidet Gesichtsverlust und fördert die Wiedergutmachung. • Multilaterale Lösungen (Lehrer – Eltern – Kind, Lehrer – Schulleitung – Eltern, Lehrer – Vertrauenslehrerin – Kind) verringern das explosive Potenzial polarisierter Begegnungen. • Die Neue Autorität verleiht Schulen und ihrer Leitung eine starke Position im Quartier, in der Gemeinde. Unter diesen Voraussetzungen gerät eine Schulleitung nicht ins Abseits der Isolation, sondern hat beste Chancen, Koalitionspartner zu gewinnen.

6.4  Umgang mit elterlicher Kritik Tagtäglich vertrauen Eltern ihr Kind – das Liebste, was sie im Leben haben – für mehrere Stunden der Schule an. Keine Frage, sie sind dazu verpflichtet, trotzdem müssen sie der Schule als Institution, den Lehrkräften und auch dem Kind vertrauen. Die allermeisten Eltern tun das und gehen davon aus, dass ihr Kind gut aufgehoben ist und zurechtkommt. Ebenso werden sich die meisten Eltern ab und an über die Schule oder eine Lehrkraft ärgern, sei es über Vorkommnisse, neue Regelungen, Beurteilungen von Tests oder Hausaufgaben. Das ist so 184

Die Schulleitung

normal wie der gelegentliche Ärger über die Lebenspartnerin oder den Ehemann. »Mit dem Eintritt in die Schule […] kommt es zu einer Triangulierung (Dreiecksbildung). Aus einer bisher zweiseitigen Beziehung zwischen Eltern und Kind wird eine dreiseitige Konstellation zwischen Eltern, Kind und Schule. Dies hat zur Folge, dass die Eltern ins Blickfeld der Schule geraten und dass die Schule neben den Eltern einen erheblichen Einfluss aufs Kind bekommt. Lehrkräfte und Eltern nehmen nun potenziell konkurrierende pädagogische Positionen ein, die von beiden Seiten emotional stark wahrgenommen werden. Nicht überall ergibt sich daraus eine Kooperation. Für das Kind ist die Lage angesichts dieser Triangulierung ganz ähnlich wie zuvor in der gewohnten Familienkonstellation mit der potenziellen Konkurrenz zwischen Vater und Mutter. Kinder entwickeln sich am besten, wenn beide Elternteile kooperieren (dies gilt auch, wenn sie in vielen Dingen unterschiedlicher Ansicht sind). Aus Sicht des Kindes ähnelt das dem Verhältnis zwischen Schule und Eltern. Wo diese nicht kooperieren, bleibt das Kind auf der Strecke» (Bauer, 2007, S. 92 f.). Manchmal ist die Kritik von Eltern auch berechtigt. Schulleitungen, die sich aus Prinzip auf die Seite ihrer Mitarbeitenden schlagen, geraten längerfristig genauso in Schwierigkeiten wie jene, die jeder Forderung der Eltern nachgeben. Diese Politik führt nie zum Erfolg. Sehr bald wird der Druck auf die Schulleitung von allen Seiten zunehmen. Eine kurze Google-Suche zeigt, dass Konflikte in regelrechte Vernichtungskriege ausarten können: Eltern verklagen an der Schule Tätige und umgekehrt, und die Presse verurteilt die Schule. Dabei werden alle zu Verlierern. Die Funktionsfähigkeit der Schule wird zwangsläufig beeinträchtigt und die Schülerinnen verlieren jeden sicheren Rahmen. Im Umgang mit Kritik seitens Eltern ist es hilfreich, präventive Maßnahmen zu ergreifen. Ein gutes Vertrauensverhältnis zwischen Schule und Eltern verUmgang mit elterlicher Kritik

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hindert nicht jeden Konflikt, wirkt aber präventiv gegen ausgedehnte elterliche Proteste. Möglichkeiten dazu sind im ▶ Kapitel 3 aufgelistet. In Bezug auf die ganze Schule steht vornehmlich die Schulleitung in der Pflicht, zu geeigneten Vorkehrungen anzuleiten und geeignete Reaktionen zu fördern: • Die Schulleitung sorgt dafür, dass in den Klassen Informationsabende und Elterngespräche stattfinden. Sie ermöglicht den Lehrkräften Weiterbildungen zu konstruktiver Gesprächsfüh­rung. • Die Eltern erhalten regelmäßig Informationen zu schulischen Themen wie Veranstaltungen oder Projekten. Quartalsbriefe der Schulleitung an die Eltern sind ein gutes Umsetzungsbeispiel. • An offiziellen Besuchstagen öffnet die Schule ihre Türen allen interessierten Personen. Sie pflegt insgesamt eine Politik der offenen Türen. Das heißt, dass Eltern und weitere Familienmitglieder in der Regel auch außerhalb der offiziellen Besuchstage den Unterricht besuchen können. Selten kommt es vor, dass die Schule diese Möglichkeit einschränken muss, um Lehrkräfte und Kinder vor übereifrigen Eltern zu schützen. • Das Schulleitbild informiert über die pädagogische Grundausrichtung der Schule und dient – wie auch ein Schulkodex – der Orientierung. • Die Eltern sehen und spüren, dass die Schulleitung präsent ist und den Finger am Puls hat. Sie wissen, dass die Kultur der Zusammenarbeit und eine positive Fehlerkultur sicherstellen, dass Missstände im Team aufgedeckt und ernsthaft bearbeitet werden. • Die Schulleitung steht im Austausch mit dem Elternbeirat. Dieser steht den Eltern als Kanal zum Einspeisen von Fragen und Anregungen zur Verfügung. • Die Schule holt sich in regelmäßigen Abständen ein breit angelegtes Feedback von Eltern und Schülern. Die Schulleitung, welche die Prinzipien der Neuen Autorität umsetzt, sorgt also durch Vernetzung, Öffentlichkeit und Präsenz beizeiten für ein positives Verhältnis zu den Eltern. 186

Die Schulleitung

Auf Krisensituationen kann und soll sich eine Schulleitung vorbereiten. Handelt eine Schule nach Neuer Autorität, hat sie in schwierigen Situationen das Konzept zur Hand, stützt ihr Vorgehen auf die pädagogischen Werte ab und kann es gegen außen begründen. Das Risiko, dem Druck einer der Parteien nachzugeben oder überstürzt zu reagieren, nimmt ab. Unabhängig von einem Vorfall kann die Schulleitung zum Beispiel im Elternbeirat allgemein über ihr Vorgehen im Krisenfall informieren und dieses auch begründen. Es ist für Schulleitungen eine herausfordernde Situation, wenn sie mit Klagen gegenüber ihren Pädagogen konfrontiert werden. Für die Führung der Schule sowie die Gewährleistung des reibungslosen Schulalltags und einer guten Schulqualität sind die Mitarbeitenden von größtem Wert. Sie sind mit der Schulleitung auf vielfältige Art verbunden: eine gemeinsame Geschichte, die Überwindung schwieriger Zeiten, gefeierte Erfolge oder gelöste Probleme. Die Schulleitung fühlt sich zu Recht verantwortlich für das Wohlergehen ihres Teams. Kritische Äußerungen gegenüber einem Teammitglied deutet sie oft als latenten Angriff auf sich selbst. Sie muss sich dessen bewusst sein und darf nicht jede Kritik ungefiltert zurückweisen. Dies gilt auch dann, wenn sie nicht von einer erwachsenen Person, sondern von einem kleinen Mädchen kommt: Elterncoaching Eines Tages erhielt Schulleiter B. Antonetti folgende E-Mail: »Sehr geehrter Herr Antonetti, anscheinend war der Unterricht sehr unruhig, und es kam zu Drohungen durch die Lehrkraft. Mein Kind wurde verbal beleidigt. Mein Kind und ich sind darüber sehr irritiert und traurig. Ich frage mich, wo die Grenzen verbaler Äußerungen sind und weshalb es schließlich dazu kommt, dass man nicht auf der Sachebene bleiben kann. Und wenn es in einem Machtkampf endet, so ist es doch wichtig, dass wenigstens eine Versöhnung stattfindet, für Lehrkraft und Kind. So wie es mir geschildert wurde, ist diese Situation vermutlich aus einer Überforderung

Umgang mit elterlicher Kritik

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der Lehrkraft entstanden. Da fände ich es auch im Sinne der Lehrkraft, dies zu klären. Ich hoffe sehr auf ihre Unterstützung und Ihr Verständnis. Frau E. Mendola« Schulleiter B. Antonetti schwante Übles. In Gedanken sah er sich bereits bei der Organisation und Durchführung eines schwierigen Gesprächs, bei welchem seine Lehrkraft das Verhalten des Kindes und die Mutter die rüde Ausdrucksweise an dieser Schule bemängeln würden. Er kannte die Mutter aus früheren Gesprächen. Mehrere ihrer Kinder besuchten seine Schule, und er hatte keine Ahnung, welche Lehrkraft gemeint war. Er entschied sich deshalb für ein anderes Vorgehen und antwortete: »Guten Tag, Frau Mendola, aufgrund Ihrer Schilderung empfehle ich, das Verfahren einzuhalten, das wir für Irritationen im Nachgang zu Interventionen oder Äußerungen einer Lehrkraft vorsehen. Erste Stufe Es wäre schön, wenn sich Ihr Kind trauen würde, selbst auf die Lehrkraft zuzugehen. Möglicher Ablauf • Termin abmachen: ›Haben Sie heute oder morgen um zwölf Uhr oder nach der Schule zehn Minuten Zeit für mich?‹ • Beim Termin zum Beispiel sagen: ›Erinnern Sie sich an die Stunde vom …?/Sie haben zu mir gesagt, …/Es tut mir leid, wenn wir Sie geärgert haben./Ihre Äußerung hat mich traurig gemacht.‹ • Abwarten, wie die Lehrkraft reagiert. Zweite Stufe Traut sich Ihr Kind nicht, direkt auf die Lehrkraft zuzugehen (das kommt auch aufs Alter des Kindes und die Beziehung zur Lehrkraft an), nehmen

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Die Schulleitung

Sie mit ihr Kontakt auf. Da Sie den Vorfall nicht persönlich miterlebten, empfehle ich, zuerst nachzufragen. Mögliches Vorgehen: • ›Mein Kind hat mir erzählt, dass …‹ • ›Das hat mich erstaunt. Wie hat sich das Ganze aus Ihrer Sicht zugetragen?‹ • ›Was war der Anteil meines Kindes, dass es so weit kam?‹ • ›Ihre Äußerung hat mein Kind verletzt, gibt es eine Möglichkeit, den Vorfall für beide Seiten zu bereinigen?‹ Dritte Stufe • Gespräch bei der Schulleitung Ich hoffe, Ihnen mit meinen Angaben gedient zu haben. Freundliche Grüße, B. Antonetti« Eine Woche später erhielt der Schulleiter folgende E-Mail: »Sehr geehrter Herr Antonetti, mein Kind konnte die Situation allein mit der betreffenden Lehrkraft klären. Ich hatte es sehr gut mit meinem Kind vorbesprochen, damit es sich sicher fühlte. Die Lehrkraft hat sehr offen und einsichtig reagiert. Der Vorfall konnte mit einer Versöhnung abgeschlossen werden. Darüber bin ich sehr froh und stolz auf mein Kind, dass es das allein hinbekommen hat. Ich danke Ihnen für Ihre Unterstützung. E. Mendola«

Hinweise

• Lernt ein Kind, eine Situation selbst zu bewältigen, wächst sein Selbstvertrauen. Es erfährt Selbstwirksamkeit, ein für die eigenständige Gestaltung seiner Zukunft prägendes Erlebnis. • Das Verhalten der Lehrkraft war vorbildlich. Sie ließ sich auf die Umgang mit elterlicher Kritik

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Kritik des Kindes ein, nahm empathisch seine Bedürfnisse auf, konnte eigene Fehler eingestehen und ermöglichte damit eine Versöhnung. • Das Einhalten der Eskalationsstufen lässt den Beteiligten die Chance, Konflikte niederschwellig und selbstständig zu lösen. • Die Mutter ließ sich auf eine für sie ungewöhnliche Vorgehensweise ein, weil sie dem Schulleiter vertraute und seinen Rat ernst nahm. • Frau Mendola hatte das Vorgehen mit ihrem Kind geübt. Dies gab ihm genügend Sicherheit, sich der Herausforderung zu stellen. »Gute Freunde zeichnen sich nicht dadurch aus, dass sie bei einem Konflikt gleich mit in den Krieg ziehen, sondern vor allem dadurch, dass sie neue Fragen und Gesichtspunkte einbringen, die den Blick auf das Problem erweitern. Genau dies sollen und müssen auch Eltern tun, wenn Schüler über einen Vorfall in der Schule klagen. Sie erweisen dem Kind keinen Gefallen, wenn sie – was häufig passiert – auf eine von ihm vorgetragene missbilligende Äußerung über einen Lehrer oder eine Lehrerin sofort mit einem zornigen Auftritt in der Schule reagieren« (Bauer, 2007, S. 108 f.). Kinder erheben manchmal unberechtigte Anschuldigungen gegen Lehrkräfte oder Mitschülerinnen: Die Lehrerin habe ihm nicht zugehört, als er erzählt habe, er sei von Mitschülern geschlagen worden, oder: Maximilian habe ihm im Turnunterricht absichtlich den Ball an den Kopf geworfen, und alle hätten gelacht, selbst der Lehrer. Kinder sind sehr kreativ, wenn es ums Erfinden oder Ausschmücken von Geschichten geht. Dass Eltern aufgrund solcher Schilderungen ernsthafte Vorbehalte gegenüber der Schule entwickeln, wundert niemanden. Dies ist besonders dann der Fall, wenn sie mit der Kultur und den Gepflogenheiten der Schule nicht vertraut sind. Meist halten die Anschuldigungen näherer Betrachtung nicht stand, grundlos sind sie allerdings nie. Kein Kind ist von sich aus verlogen, schlecht 190

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oder böse, sondern greift aus Not – im Sinne eines ungünstigen Lösungsversuchs – zu solchen Mitteln. Oft stellt sich heraus, dass das Kind den Anforderungen der Klasse nicht gewachsen ist und die Erwartungen der Eltern nicht erfüllen kann. Kinder, die so unter Druck stehen, müssen sich Luft verschaffen, das ist verständlich. Sie werden auffällig – manövrieren sich damit weiter ins Abseits – und rechtfertigen zu Hause ungenügende Leistung und kritische Rückmeldungen aus der Schule, indem sie Lehrkräfte und Mitschüler für den ausbleibenden Erfolg verantwortlich machen. Eltern neigen manchmal dazu, solchen Schilderungen unhinterfragt zu glauben und entsprechend heftig darauf zu regieren. Sie drohen den Schulen mit Presse und Anwälten. Frederic schlägt nicht mehr Der siebenjährige Frederic schlug in den Pausen oft zu. Zu Hause aber erzählte er, seine Mitschüler würden ihm Gewalt antun. Binnen kurzer Zeit hatte er sich in eine schwierige Lage gebracht. Nach jeder Pause gab es Konflikte zu klären, seine Eltern beschuldigten die Schule, ihren Sohn nicht genügend zu schützen, und andere Eltern meldeten sich, ihre Kinder würden durch die Lügengeschichten von Frederic diffamiert. Die Situation belastete den Klassenlehrer zeitlich und emotional sehr. Er wandte sich an den Schulleiter, und dieser lud zu einem Elterngespräch ein, an dem auch die Schulsozialarbeiterin teilnahm. Die Eltern erschienen in Begleitung ihres Anwalts. Im Gespräch wurden folgende Abmachungen getroffen: • Zu Frederics Schutz wird das ganze Schulteam informiert. In den Pausen werden die Aufsichtspersonen die Situation rund um Frederic aufmerksam beobachten. • Nach der Pause nimmt sich der Lehrer zwei Minuten Zeit für Frederic, er kann über mögliche Vorfälle berichten. • Frederic darf sich jederzeit bei der Schulsozialarbeiterin melden, um Konflikte mit anderen Kindern zu besprechen. • Der Vater kommt einmal pro Woche für ein Kurzgespräch in die Schule.

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Dem Anwalt entging nicht, dass die Schule sich ernsthaft darum bemühte, Frederic zu unterstützen und die Sache zu klären. Er motivierte die Eltern, auf die Vorschläge einzugehen. In den folgenden Tagen und Wochen merkte Frederic, dass er in den Pausen von den Erwachsenen beobachtet wurde. Auch der Vater kam ab und zu vorbei und machte sich ein Bild von der Pausensituation. Bald war diese deeskaliert. Und nicht nur das, die Eltern fassten auch Vertrauen zur Schule und gingen auf Vorschläge zur Förderung von Frederics Sozialverhalten und ihrer eigenen Erziehungskompetenzen ein.

Ein konstruktiver Umgang mit massiver elterlicher Kritik erfordert ein Handeln auf mehreren Ebenen: gegenüber Eltern, Personal, Behörden und, je nach Situation, auch gegenüber den Schülerinnen. Es gilt, sich Rückhalt zu verschaffen, überlegt vorzugehen und vor allem Rückgrat zu beweisen. Der anonyme Brief Hans tat sich schon immer schwer damit, Regeln einzuhalten, dem Unterricht konzentriert zu folgen und auf adäquate Art mit Gleichaltrigen Kontakt aufzunehmen. In der ersten Klasse der Sekundarschule wurde er ein weiteres Mal in eine andere Schule versetzt. Die Schulleiterin nahm sich vor, die langjährige Abwärtsspirale endlich zu unterbrechen und Hans einen Schulabschluss zu ermöglichen. Zusammen mit dem Klassenlehrer, den Eltern und der schulischen Heilpädagogin überlegte sie verschiedene Möglichkeiten, wie Hans unterstützt werden könnte. Eine davon war ein halbtägiger Einsatz im nahegelegenen Kindergarten, wo Hans als Klassenassistent mitarbeiten durfte, er war nämlich im Umgang mit kleineren Kindern geschickt und empathisch. Hans sollte erfahren, dass die Kleinen ihn bewunderten und brauchten. Dies würde sein Selbstwertgefühl stärken und sich positiv auf sein Verhalten in der Schule auswirken – so die Überlegungen. Die Kindergarteneltern wurden in einem Schreiben informiert, dass Hans ab der kommenden Woche ein Praktikum machen und darum immer am Freitagnachmittag im Kindergarten mitarbeiten werde.

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Die Schulleitung

Ein paar Tage später erhielt die Schulleiterin einen der Schulbehörde weitergeleiteten anonymen Brief. Die Verfasser waren entsetzt darüber, dass den Kindergartenkindern das schlechteste aller Beispiele zugemutet werde. Sie bezichtigten die Schulleiterin, Lügengeschichten zu verbreiten, und unterstellten der Erzieherin, sie würde sich auf das schmutzige Spiel des Geldes wegen einlassen. Das sei einfach nur verwerflich, und sie forderten, den Burschen sofort aus dem Kindergarten zu entfernen; er habe sich in seiner Klasse zu integrieren wie alle anderen Kinder, die nicht so wohlhabende Eltern hätten. Andernfalls werde man sich an den Stadtrat und die Medien wenden. Unterzeichnet war das Schreiben mit Die Eltern der Kindergartenkinder Tannenholz. Die Schulleiterin beriet sich mit ihrem Vorgesetzten. Zusammen entschieden sie, die Eltern einzuladen. Sie legten den anonymen Brief der Einladung bei und kündigten an, sie seien offen für Kritik, am Elternabend könnten Fragen geklärt werden. Ein Thema sei auch die Art und Weise, wie man an dieser Schule miteinander kommunizieren wolle. Neben der Schulleiterin unterzeichnete auch ihr Vorgesetzter die Einladung und gab durch seine Teilnahme am Elternabend zu verstehen, dass er die Schulleiterin unterstützte. Bis zum Elternabend meldeten sich fast alle Eltern in der Schule, um sich von diesem anonymen Schreiben zu distanzieren. Sie waren sehr erbost darüber, dass der Absender ihren Namen ohne ihre Zustimmung missbraucht hatte. Natürlich wurden Mutmaßungen angestellt, wer denn nun wirklich hinter dem Schreiben steckte. Die Erzieherin, die eine gute Beziehung zu den Eltern ihrer Schützlinge hatte, konnte sich nicht vorstellen, dass der Brief aus diesen Reihen stammte. Sie dachte, die Absender müssten jemand anderes aus dem Quartier sein. Der Schulleiterin ging es nicht darum, Schuldige auszumachen. Mit keinem Wort ging sie auf die Beschimpfungen und Anschuldigungen ein, und sie rechtfertigte ihr Handeln auch nicht. Sie nutzte den Anlass, um die Haltung und die Verantwortung der Schule zur Integrativen Förderung aufzuzeigen und sich vertieft zur Kommunikationskultur zu äußern. Sie

Umgang mit elterlicher Kritik

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sei offen für Kritik und für Fragen, sie wünsche sich dazu aber im Minimum einen Namen, besser noch ein Gesicht. Beide Themen stießen auf Zustimmung. Fragen zum Setting mit Hans wurden keine gestellt, und der Elternabend war nach einer halben Stunde zu Ende.

Zum Glück erreichen nicht alle Geschichten eine so drastische Eskalationsstufe. Jede Schulleitung trifft täglich auf Situationen mit Provokations- und Eskalationspotenzial, und sie kann nicht wegen jeder Kleinigkeit die Vorgesetzte bemühen. Ein gutes Netzwerk zu haben, das in heiklen Situationen eine Blitzberatung bietet, ist für Schulleitungen eine lohnende Sache. Hier eine Geschichte aus dem Nähkästchen. Deeskalation und Selbstkontrolle Kurz vor Schuljahresende verlangten die Eltern eines Drittklässlers dringend ein Gespräch. Sie waren sich einig, dass es so nicht weitergehen könne. Nach den Sommerferien müsse eine andere Lösung für den Unterricht ihres Sohnes bereit sein. Die Klassenlehrkraft war über diese Überrumpelung genauso wenig erfreut wie ich als Schulleiterin. Mit Mühe und Not fanden wir einen Gesprächstermin. Die Eltern akzeptierten den Termin und meldeten, die Mutter sei dann auf Geschäftsreise und müsse per Skype zugeschaltet werden. In einer Mail entgegnete ich, dass dies nicht der Kommunikationskultur der Schule entspreche. Bei uns würden persönliche Gespräche geführt, und zudem sei es technisch nicht machbar. Die Eltern schienen den ersten Teil meiner Botschaft überlesen zu haben und schrieben zurück, es gebe kein Problem, die Mutter werde per Mobiltelefon am Gespräch teilnehmen. Der Moment der Notfallnummer war gekommen. Ich rief meine Kollegin an, erzählte ihr empört von der Impertinenz dieser Eltern und fragte sie, ob ich den Termin platzen lassen solle. Sie erinnern sich: Gute Freunde sind nicht die, die gleich mit in den Krieg ziehen. Meine Kollegin war ein guter Freund und sagte: »Hey, du bist doch professionell! Im Notfall kannst du ein Elterngespräch auch mit einem Kopier-

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Die Schulleitung

automaten führen.« Das Elterngespräch war für alle Beteiligten sehr zufriedenstellend, und ich habe gelernt, den Nutzen moderner Technologie in Bezug auf Elterngespräche zwar (noch) nicht zu schätzen, aber zumindest zu akzeptieren.

Kritik von Eltern an einer Lehrkraft Eine Schulleitung, die den Finger am Puls hat, im Schulhaus präsent ist, Unterrichtsbesuche macht und sich mit ihren Mitarbeitenden austauscht, riskiert kaum, von Kritik seitens der Eltern gegenüber einer Lehrkraft überrascht zu werden. Natürlich beschweren sich Eltern – manchmal auch zu Recht – über einzelne Vorkommnisse. In der Regel genügt es, die Eskalationsstufen einzuhalten und sie zuerst an die direkt betroffenen Mitarbeitenden zu verweisen, um das Problem direkt zu klären. Hält sich eine Schulleitung nicht an dieses Vorgehen, gewöhnen sich Eltern schnell daran, ihre Anliegen sofort an die Schulleitung zu eskalieren. Diese Kultur untergräbt das Vertrauensverhältnis zwischen dem Schulteam und der Elternschaft. Wenn nötig, vereinbart die Schulleitung mit den Eltern eine Nachfrage zur Prüfung, ob das Problem behoben sei, oder bittet die Eltern, eine kurze Rückmeldung zu geben. Auf diese Weise zeigt die Schulleitung, dass ihr die Konfliktlösung und ein gutes Vertrauensverhältnis zwischen Schule und Eltern wichtig ist, dass sie aber den Eltern und der Lehrkraft zutraut, Pro­ bleme zu besprechen und gemeinsam Lösungen zu finden. Eltern wie Mitarbeitende sollen wissen, dass die Schulleitung für einen nächsten Schritt Unterstützung anbietet, sollten sie zu keinem befriedigenden Ergebnis kommen. Anders liegt der Fall, wenn sich eine ganze Gruppe von Eltern mit Kritik an einer Lehrkraft an die Schulleitung wendet. Ein solches Gespräch allein mit mehreren Elternpaaren zu führen, wäre für eine Lehrkraft eine Überforderung. Wir empfehlen, dass die Schulleitung die Eltern im Vorfeld um schriftliche Mitteilung der Kritikpunkte bittet. So kann sie sich seriös auf das Gespräch vorbereiten und erste Abklärungen treffen. Auf jeden Fall muss sie die Lehrkraft über die Umgang mit elterlicher Kritik

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Meldung der Eltern informieren. In den allermeisten Fällen ist es sinnvoll, wenn die Lehrkraft am Gespräch teilnimmt. Nicht immer sind Eltern im Unrecht, wenn sie an Schule oder Lehrkräften Kritik üben. Zuerst einmal hören sich Schulleitung und Lehrkraft die Klagen der Eltern an. Einzelne Punkte können vielleicht sofort geklärt werden, zum Beispiel wenn Eltern falsch oder ungenügend informiert sind. Umfassende Themen nehmen Schulleitung und Lehrkraft in einem ersten Gespräch nur entgegen. Die Schulleitung teilt den Eltern mit, dass sie die Klagen sorgfältig untersuchen werde. Ebenfalls wird vereinbart, bis wann und wie die Eltern über das weitere Vorgehen informiert werden, da sonst bei den Eltern der Eindruck entsteht, die Schule wolle die Angelegenheit versanden lassen. Jetzt steht die Schulleitung in der Pflicht, die von den Eltern kritisierten Punkte zu prüfen, Gespräche mit der Lehrkraft zu führen, den Unterricht zu besuchen, Einsicht in Unterlagen und Unterrichtsvorbereitungen sowie Prüfungen zu nehmen etc. Je nachdem wird eine externe Fachperson oder ein Mitglied der Aufsichtskommission aufgeboten, um ein vollständigeres Bild der Lage zu erhalten. Auch Schüler- und Elternfeedbacks können eingeholt werden. So wird eruiert, ob Handlungsbedarf besteht, und falls ja, in welchen Bereichen. Für eine Lehrkraft ist das unangenehm. Hier ist gutes Führungsverhalten gefragt im Sinne von: »Wir gehen dieses Thema gemeinsam an. Wir haben ein echtes Interesse daran, die Klagen der Eltern zu prüfen. Gibt es Entwicklungsbedarf, so bedaure ich, dass ich das noch nicht bemerkt und dich dadurch in eine schwierige Situation gebracht habe. In diesem Fall werde ich mich darum kümmern, dass du die nötige Unterstützung erhältst.« Unterstützung ist in vielen Formen möglich: Entlastung im Unterricht durch eine Klassenassistenz, Supervision, Weiterbildung etc. Die Eltern werden über die Resultate der Abklärung und das weitere Vorgehen informiert. Häufig sind Eltern bereit, in akuten Situationen mitzuhelfen, wenn sie wissen, dass die Schule ihre Verantwortung wahrnimmt. 196

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Es gibt auch Fälle, in denen sich die Anschuldigungen der Eltern nicht erhärten. Hat sich aber die Schulleitung selbst ein Bild der Situation gemacht, kann sie den Eltern gegenüber ganz anders auftreten, als wenn sie von vornherein jede Kritik zurückweist. Führung bedeutet unter anderem, Mitarbeitende auf Entwick­ lungsthemen hinzuweisen, auch wenn das zuweilen schwierig ist. Schulleitungen, die dieser Aufgabe nicht nachkommen und vermeintlich ihre Lehrkräfte schonen, erweisen diesen keinen Gefallen. Dieses Schonen bedeutet nichts anderes, als dass man seinen Mitarbeitenden nicht zutraut, sich weiter zu entwickeln, sie damit entmündigt und in Kauf nimmt, dass sie auf längere Sicht ihrer Aufgabe nicht gewachsen sind und daran zerbrechen.

ZUSAMMENFASSUNG Schulleitungen sind den Erwartungen verschiedener Interessengruppen ausgesetzt. Das Konzept der Neuen Autorität dient der Entwicklung eines gemeinsamen Verständnisses von pädagogischem Handeln, einer gemeinsamen Sprache und Schulkultur. Dies stärkt die Schulleitung in ihrem Handeln. Fühlen sich Lehrkräfte von der Schulleitung unterstützt, sind sie eher bereit, miteinander und mit der Leitung zu kooperieren. Die Neue Autorität eröffnet allen an der Schule Tätigen mehr Handlungsmöglichkeiten. Sie fühlen sich in herausfordernden Situationen weniger ohnmächtig und neigen weniger dazu, sich zurückzuziehen und unliebsame Themen zu vertuschen. Auch bei den Eltern zeigt das Modell eine deutliche Wirkung. Mit dem Programm ebnen Schulleitungen den Weg für eine bessere Kooperation der Schule mit den Elternbeiräten und den Erziehungsberechtigten. Schulleitungen, die an ihren Schulen das Konzept der Neuen Autorität systematisch einführen, betreiben damit eine ganzheitliche Schulentwicklung. Die Prinzipien der Neuen Autorität sind auch in der Führungsarbeit handlungsleitend.

Zusammenfassung

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TIPPS FÜR SCHULLEITUNGEN •• Bilden Sie ein Lenkungsteam, das Ihnen zur Seite steht und gemeinsame Präsenz von Lehrkräften und Schulleitung stärkt. •• Ermutigen Sie Ihre Lehrkräfte, sich gegenseitig zu unterstützen. Sie gewinnen im Lehrerkollegium an Ansehen, wenn Sie selbst nach den Prinzipien der Neuen Autorität handeln, präsent sind und Verantwortung übernehmen. •• Gehen Sie respektvoll mit einer Lehrkraft um, die einen Fehler begangen hat. Helfen Sie, ihn ohne Gesichtsverlust zu korrigieren. Das ist auch ihrer Stellung im Kollegium zuträglich. •• Erlauben Sie Ihren Lehrkräften, Vorbehalte und auch Missbilligung zu äußern. Widerstand ist ein wichtiges Element von Schulentwicklungsprozessen und dient der Qualität. Das Verbalisieren und Deponieren einer Sorge trägt dazu bei, sie zu zerstreuen. •• Fördern Sie den diplomatischen Umgang mit Eltern an der ganzen Schule. Dadurch schaffen Sie sich eine stetig wachsende Unterstützung der Elternschaft. •• Schaffen Sie Beziehungen zu Entscheidungsträgern der Lokalverwaltung und der Gemeinde und kooperieren Sie mit diesen. Diese Beziehungen stärken den Status und den Einfluss Ihrer Schule. •• Merken Sie sich folgende Devisen: –– Man muss das Eisen schmieden, wenn es kalt ist! –– Man muss nicht siegen, sondern lediglich beharrlich bleiben. –– Fehler sind unvermeidlich, können jedoch korrigiert werden. •• Werden widersprüchliche Forderungen von Eltern und Lehrkräften an Sie herangetragen, holen Sie sich Unterstützung und suchen Sie Lösungen, die auf das pädagogische Interesse beider Parteien eingehen. •• Ihre Lehrkräfte können Ihnen und Sie können Ihren Lehrkräften aus Engpässen heraushelfen. •• Behalten Sie – gerade in Stresssituationen – den Unterschied zwischen von oben aufgezwungenem Handeln und einer echten pädagogischen Führung im Auge:

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–– Eine pädagogische Führungspersönlichkeit agiert nicht als einsamer Kämpfer, sondern stützt ihr Handeln breit ab. –– Eine pädagogische Führungspersönlichkeit übt Selbstkon­trolle und vermeidet Polarisierung und Eskalation. –– Eine pädagogische Führungspersönlichkeit misst der Selbstachtung von Schülern, Lehrkräften und Eltern gleichermaßen Bedeutung zu.

Tipps für Schulleitungen

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KAPITEL 7: Mehr als nur Sanktionen

Schulen, die nach den Grundlagen der Neuen Autorität handeln, verzichten nicht zwangsläufig auf Sanktionen. Sie verfügen aber durch die Prinzipien der Neuen Autorität über Handlungsansätze, die weit über die Wirksamkeit von herkömmlichen Sanktionen hinausreichen. Dieses Kapitel bietet einen Überblick über die wichtigsten Mittel des Ansatzes der Neuen Autorität.

7.1  Selbstkontrolle, Aufschub und Deeskalation Autoritätspersonen stellen wir uns oft als zornig, harsch, laut und vor allem mächtig vor. Sie sind zum Fürchten. Im Vergleich dazu erscheint der Wert der Selbstkontrolle als Ausdruck von Autorität ziemlich blass. Man fragt sich, ob eine Führungsperson mit den Methoden der Neuen Autorität dieselbe kraftvolle Wirkung erzeugen kann. Unsere Antwort lautet: Unbedingt! Die Methoden der traditionellen Autorität sind nicht mehr gesellschaftstauglich und nicht mehr akzeptiert. Ein noch überzeugenderes Argument lautet: Selbstkontrolle ist eine große Stärke. • Sie fokussiert auf das eigene Handeln und macht unabhängig vom Verhalten des Kindes. • Das Prinzip der Verzögerung (Schmiede das Eisen, wenn es kalt ist!) verschafft Zeit, die Reaktion zu überdenken, sich mit anderen auszutauschen und geplant zu handeln. Wir mindern damit das Risiko falscher Schuldzuweisungen oder übertriebener Sanktionen. Überstürzt verhängte Strafen hinterlassen bei den JugendSelbstkontrolle, Aufschub und Deeskalation

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lichen oft das Gefühl, nicht gehört oder ungerecht behandelt zu werden. Die Frustration darüber wird sich anderswo und mit hoher Wahrscheinlichkeit auf destruktive Weise entladen. • Die Pädagogin gibt zu verstehen, dass sie die Dinge über eine größere Zeitspanne im Fokus behält. Sie entscheidet über das weitere Vorgehen und den Zeitpunkt, zu dem ein Thema abgeschlossen ist. Sie behält die Führung und den Überblick. • Die Zeit des Wartens hat eine Wirkung auf das Kind. Es wird nachdenken und möglicherweise zu einer ersten Einsicht gelangen. Die Spannung, die die Wartezeit mit sich bringt, ist unangenehm, aber ein Stück weit auch heilsam. Der Pädagoge ist verantwortlich dafür, diese Spannung wieder aufzulösen und dem Kind die Chance der Wiedergutmachung zu geben. Die Neue Autorität ist ansteckend. Ihre Prinzipien stoßen nicht nur im Kreis der Erziehenden auf immer größeres Echo, sondern auch bei den Kindern und Jugendlichen. Sie gewöhnen sich an die verzögerten Reaktionen, verinnerlichen und übernehmen sie mit der Zeit. Folgende Geschichte erzählte uns der bereits im letzten Kapitel erwähnte Direktor der religiösen Jungenschule: Die Klimaanlage In der Synagoge beteten etwa hundert Schüler. Es gab nur eine einzige Klimaanlage im hinteren Teil des Saals. Ich richtete die Klappen nach oben, um auch den Schülern in den vorderen Reihen Erleichterung zu verschaffen. Die Schüler der elften Klasse saßen in der Nähe des Geräts. Ich bat sie, die Klappen nicht zu bewegen. Während des Gebets bemerkte ich, dass die Klappen wieder nach unten gerichtet waren. Auf meine Frage meldete sich Eres, ein sehr dominanter Schüler: »Herr Direktor, das war ich. Ich habe es getan, weil mir heiß war. Wenn die Klappen nach oben zeigen, spürt keiner etwas!« Ich ging zu dem Jungen, und während ich die Klappen wieder aufwärts stellte, forderte ich ihn ganz ruhig auf, sich in den vorderen Teil des Raums zu begeben. Eres weigerte sich: »Dort ist es heiß! Ich bleibe hier!« Ich wies

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den Vorbeter an, das Gebet fortzusetzen. Der Junge blieb an seinem Platz. Der Zwischenfall machte großen Eindruck: Der Direktor war vor einem Schüler eingeknickt! Nach dem Gebet bestellte ich Eres in mein Büro. Er entschuldigte sich und erklärte, ihm sei heiß gewesen. Dann wiederholte er sein Argument, dass die kühle Luft auch bei aufwärts gestellten Klappen den restlichen Saal sowieso nicht erreiche. Ich nahm die Entschuldigung an, teilte ihm jedoch mit, dass er an diesem Tag nicht länger in der Schule bleiben könne, weil er meine Anweisungen ignoriert habe. Er solle nach Hause gehen und am nächsten Morgen wiederkommen. Daraufhin kam es zwischen uns zu folgender Auseinandersetzung: »Herr Direktor, das ist doch nicht Ihr Ernst?« »Ich meine es völlig ernst, ich meinte es auch ernst, als ich darum bat, die Klimaanlage nicht anzurühren, und auch, als ich dir sagte, du sollest dich in die vordere Reihe setzen.« »Aber ich habe heute mehrere Stunden Literatur, und das ist für mein Abitur wahnsinnig wichtig!« »Es tut mir leid, dass du diesen Tag versäumst, aber vielleicht solltest du in Zukunft besser über deine Handlungen nachdenken.« Eres ging nach Hause und versäumte den Literaturunterricht. Eine Woche später war wieder ein heißer Tag, und wieder konnte die Klimaanlage nicht den ganzen Saal kühlen. Wieder schaute ich auf die Klimaanlage und sah, dass sie auf die hinterste Sitzreihe ausgerichtet war. Ich frage: »Wer hat die Klappen der Klimaanlage verstellt?« Diesmal meldete sich Tom: »Ich. Mir war heiß!« Ich trat zu ihm und wies ihn an, sich in die erste Reihe zu setzen. »Ich kann nicht, Herr Direktor! Mir ist heiß!« Und wieder wurde das Gebet unterbrochen, und wieder verfolgte die ganze Schule gespannt den Machtkampf zwischen ihrem Direktor und einem aufmüpfigen Schüler. Diesmal nahm die Geschichte aber ein anderes Ende: Eres wandte sich an Tom und sagte: »Wir haben heute mehrere Mathestunden hintereinander, das willst du doch nicht versäumen? Komm, setzen wir uns beide nach vorn.« Und das taten sie.

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Auch jüngere Kinder sprechen gut auf das Prinzip der Verzögerung an, die Zeitspanne ist jeweils altersgemäß anzusetzen. Erzieherinnen gewinnen an Autorität und fördern ihre Schützlinge gleichzeitig, wenn sie zeigen, dass sie sich an Ereignisse von vor einigen Stunden oder vom Vortag erinnern. Schlägt ein Kind ein anderes, müssen die Erwachsenen sofort reagieren und die beiden Kinder voneinander trennen. Sicherheit ist jederzeit oberstes Gebot. Aber mit der sofortigen Intervention ist die Geschichte nicht beendet. Am Ende des Unterrichts bittet die Erzieherin das Kind, welches zugeschlagen hat, an ihrer Seite zu warten, bis seine Eltern da sind. In deren Anwesenheit fragt sie das Kind: »Erinnerst du dich daran, was heute zwischen dir und Jakob bei der Rutschbahn passiert ist?« Erinnert sich das Kind nicht oder behauptet das zumindest, ruft die Erzieherin ihm die Einzelheiten des Vorfalls ins Gedächtnis. Nun ist es gezwungen, die Erinnerungen der Erzieherin anzuhören, und erweitert damit die Spanne seiner Aufmerksamkeit und seines Erinnerungsvermögens. Mit dem Bezug auf ein Ereignis, das sich bereits Stunden zuvor abspielte, schafft die Pädagogin einen Bogen zeitlicher Kontinuität. Auch das Kind erweitert seine Fähigkeit, auf Vergangenes Bezug zu nehmen. Allein die Tatsache, dass die Erinnerungsarbeit in Anwesenheit der Eltern stattfindet, verstärkt die Wirkung der Aktion. Die Erzieherin vertieft diese noch weiter, indem sie das Kind und seine Eltern auffordert, gemeinsam darüber nachzudenken, wie es am nächsten Tag auf angemessene Art um Entschuldigung bitten könne. Die Autorität der Erzieherin bekommt damit eine neue Dimension: Ihr Handeln bleibt nicht auf spontane und oberflächliche Sofortreaktionen begrenzt, sondern ist durch die Erinnerung in der Zeit verankert. Auch die Entschuldigung des Kindes wird größeren Wert haben, wenn sie nicht sofort aufgrund einer strengen Anweisung erfolgt, sondern erst vierundzwanzig Stunden später nach einem Prozess des Nachdenkens. Schnell hingemurmelte Entschuldigungen sind ebenso schnell wieder vergessen.

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Die öffentliche Meinung Die Reaktion auf eine grenzwertige Tat kann nicht nur von derjenigen Lehrkraft ausgehen, die Zeugin des Vorfalls war, sondern auch von weiteren Mitgliedern des Teams. Für gewöhnlich genügt es, wenn sich eine Lehrkraft an eine Teamkollegin oder an die Eltern wendet, vom Vorfall berichtet und darum bittet, mit dem Kind darüber zu sprechen. Das Kind spürt so das unterstützende Netzwerk und Kontinuität. Bei Bedarf erweitern wir den Kreis der involvierten Personen bis hin zu einem der stärksten Mittel der Neuen Autorität, der öffentlichen Meinung. Die bereits beschriebene Intervention der Ankündigung beruht auf diesem Prinzip. Das Vorgehen macht transparent, dass erstens ein breiter Kreis erwachsener Bezugspersonen über das Geschehen informiert ist (zum Beispiel eine Mobbingsituation oder anhaltende Unterrichtsstörungen) und dass zweitens solches Verhalten eben von diesem breiten Kreis der Bezugspersonen nicht länger geduldet wird. Als Alternative zur Ankündigung dient auch ein schriftlicher Bericht, wobei die Schilderungen nicht allgemein gehalten (Helene wurde unverschämt), sondern sehr konkret formuliert werden (Helene sagte: »Sie können mich mal!«). Zusammen mit zwei oder drei Kolleginnen teilt die Lehrkraft dem Kind mit, dass der Vorfall protokolliert wurde und das Protokoll an die betroffenen Lehrkräfte, die Schulleitung und die Eltern geschickt werde. Dieses Gespräch dient nur der Information, die Mitteilung ist frei von Empörung oder Drohungen. Die Eltern werden gebeten, genauso vorzugehen. Sie sollen dem Kind mitteilen, sie hätten das Protokoll erhalten und würden mit der Schule kooperieren, um eine Lösung finden. Der Vorteil dieses Vorgehens liegt in der Wirkung der öffentlichen Meinung. Jugendliche geben gern vor, es sei ihnen völlig egal, was die Erwachsenen denken. Dem ist aber nicht so. Liegt der Intervention eine Haltung zugrunde, die die Würde des Kindes respektiert, so wird es nicht erniedrigt. Die Schamerfahrung bezieht sich auf sein Verhalten und nicht auf seine Person. Diese Erfahrung ist zwar unangenehm, hat aber einen konstruktiven Effekt. Selbstkontrolle, Aufschub und Deeskalation

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Die wachsame Sorge Verstärkte Präsenz der Erwachsenen ist die effektivste Prävention gegen gefährliche Verhaltensmuster von Kindern und Jugendlichen. Lehrkräfte, die den Finger am Puls haben, reduzieren problematische Verhaltensmuster und festigen dabei gleichzeitig ihre Autorität. Wachsame Sorge, fokussierte Aufmerksamkeit oder intensivierte Überwachung eines auffälligen Kindes demonstrieren große Stärke. Vermehrte Präsenz kann auch so umgesetzt werden, dass das Kind aktiv werden muss, zum Beispiel mit einer täglichen Meldung im Schulleiterbüro oder durch den bereits beschriebenen Rundgang, bei dem das Kind in jeder großen Pause eine ganze Gruppe von Lehrkräften aufsuchen muss, um sein Pausenprotokoll unterschreiben zu lassen. Auch wöchentliche kurze Elterngespräche oder Elternpräsenz im Klassenzimmer basieren auf demselben Prinzip. Herkömmliche Interventionen zielen darauf ab, das Verhalten des Kindes durch Drohung und Bestrafung zu bestimmen. Bei Kindern mit rebellischen Zügen bewirkt die Strafe oft genau das Gegenteil des erhofften Resultats. Um ihr Gesicht wahren zu können, verharren die Kinder in ihrem problematischen Verhalten. Es überrascht, aber dieses Paradox trifft auch dann zu, wenn man diese Kinder für korrektes Verhalten belohnt. Würden sie ihr Verhalten für eine Belohnung ändern, wären sie für die Erwachsenen käuflich und beherrschbar. Anders verhält es sich, wenn Erwachsene ein Kind schützen müssen. Die Botschaft lautet dann: »Es ist meine Pflicht, dich aus nächster Nähe zu überwachen, damit du keinen Schaden erleidest und anderen keinen zufügst!« Diese Nachricht ist vorab dann wirksam, wenn auch nicht die Spur eines Machtanspruchs mitschwingt. Ton und Körpersprache geben zu verstehen, dass es sich hier um eine äußerst verantwortungsvolle Maßnahme handelt, und vermitteln: »Ich muss auf dich aufpassen! Ich bin nicht bereit, auf dich zu verzichten!« Widerspricht das Kind: »Ich mache aber das Gegenteil«, hält sich die erwachsene Person an das Prinzip der Selbstkontrolle: »Ich kann dich nicht kontrollieren. Ich beherrsche weder deine Hände noch 206

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deine Füße oder deinen Mund. Aber ich kenne meine Pflicht und werde alles tun, damit du weder anderen noch dir selbst schadest!« Viele Eltern reagieren auf die Erläuterung dieses Modells mit dem Einwand, dass hohe elterliche Präsenz für ein Kind genauso schlimm sei wie eine Strafe. Tatsächlich erfährt das Kind eine verstärkte Überwachung – milde ausgedrückt – als unangenehm. Vor allem Jugendlichen ist es peinlich, wenn ihre Eltern in der Schule oder im Jugendtreff auftauchen. Manche Eltern akzeptieren diesen Vorschlag seitens der Schule nur unter dem Vorbehalt, dass auch das Kind einverstanden sei. Natürlich wird eine Jugendliche so einem Vorschlag niemals zustimmen, sondern versprechen, dass sie sich ab sofort bessert. Das ist wenig wahrscheinlich. Die Schule muss die Eltern ermutigen, den Schritt zu wagen, und anbieten, das Kind gemeinsam über die beschlossene Intervention zu informieren. Das Vertrauen in die Kinder und Jugendlichen sowie der Schutz ihrer Privatsphäre sind wichtige Werte, die wir nicht negieren. Aber Sicherheit geht vor. Als Faustregel gilt: Das Maß an Freiheit, Privatsphäre und Vertrauen, das wir dem Kind gewähren, hängt von der Gefahr ab, der es sich aussetzt. In der Regel wird ein Kind mit zunehmendem Alter selbstständiger und handelt eigenverantwortlicher. Entsprechend nimmt die Aufsicht der Erwachsenen ab. Es wäre aber falsch, obige Formel nur in Bezug zum Alter des Kindes zu setzen. Vor allem in Krisensituationen gehen Jugendliche größere Risiken ein, vielleicht auch ohne sich dessen wirklich bewusst zu sein. Ein drohender Schulausschluss, Cannabiskonsum oder exzessives Gamen sind aber echte Gefahren. Eltern tragen die Verantwortung und sind fürsorgepflichtig, bis ihr Kind volljährig wird; der Grad ihrer Beaufsichtigung hängt von der jeweiligen Situation ab. Eine herkömmliche Sanktion gleicht dem Versuch, das Kind durch Fremdsteuerung zu beherrschen. Es spürt keine Begleitung und keine Nähe. Verstärkte Präsenz ist ein Beweis dafür, dass sich der Erwachsene dem Kind und seinem Wohlergehen verpflichtet fühlt. Es spürt die wohlwollende Sorge, auch wenn es entschieden protestiert. Verstärkte Überwachung ist wesentlich mehr als eine Sanktion. Selbstkontrolle, Aufschub und Deeskalation

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Die Bereitschaft des Erwachsenen, Präsenz zu demonstrieren sowie Zeit und Mühe zu investieren, setzt ein starkes Zeichen, das jedem Kind unbewusst ein Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit gibt. Gespräche mit der Direktorin Achmet besuchte die siebte Klasse, als er in eine andere Schule versetzt wurde. Bald drangsalierte er jüngere Kinder und war ein regelrechter Quälgeist. Weder mit Strafen noch mit Belohnungen war seinem Verhalten beizukommen. Elterngespräche brachten genauso wenig eine Veränderung wie die schulpsychologische Abklärung. Im Wochentakt verursachte Achmet Vorfälle, deren Bearbeitung die Direktorin viel Zeit und Energie kosteten. Schließlich beschied sie ihm: »Du kommst in den nächsten Wochen immer zur selben Zeit für 30 Minuten zu mir ins Büro, egal, ob etwas vorgefallen ist oder nicht. So ist zumindest die Terminfrage schon geklärt! Ich werde mich mit dir darüber unterhalten, was geschehen ist, über Gutes und über Schlechtes. Bin ich einmal nicht da oder habe keine Zeit, wirst du das frühzeitig erfahren. Dann übernimmt deine Vertrauenslehrerin das Gespräch.« Achmet nahm die Mitteilung zur Kenntnis und notierte die Termine in seinem Aufgabenheft. Zur Überraschung der Direktorin ereigneten sich in den nächsten Tagen keine Vorfälle. Also sprach sie mit Achmet über andere Themen. Auch in den darauffolgenden Wochen blieben Beschwerden aus. Die Direktorin unterhielt sich mit Achmet über alles Mögliche. Er zeigte ihr ein Kartenspiel und erklärte ihr die Regeln sowie die Bedeutungen der verschiedenen Symbole. Als etwa sechs Monate ohne ein einziges gravierendes Ereignis verstrichen waren, sagte die Direktorin zu Achmet: »Wir können unsere Gespräche nun einstellen, du brauchst sie nicht mehr.« Zu ihrer Verblüffung entgegnete der Junge: »Sie haben mich nicht gefragt, ob ich bereit bin, mit den Gesprächen aufzuhören! Ich werde Ihnen sagen, wann ich soweit bin, dass ich sie nicht mehr brauche.« Achmet kam noch vier Jahre lang, bis zu seiner letzte Schulwoche Ende der zehnten Klasse, mehr oder weniger wöchentlich zu einem kurzen Austausch ins Büro der Schuldirektorin. Sein Verhalten im Unterricht war nicht

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immer tadellos, aber handhabbar. Übergriffe und Gewalt gegenüber jüngeren Schülern gab es keine mehr.

Dieser Fall veranschaulicht die tiefgreifende Wirkung erhöhter Präsenz. Im Unterschied zu einer gewöhnlichen Sanktion erlebt das Kind die Gespräche als Begleitung. Je nach Fall sind sie anfangs vielleicht unangenehm, dann aber werden sie zu seinem Anker. In unserem Beispiel konnte die Schuldirektorin Achmet manchmal nur für ein paar Minuten empfangen oder sah ihn kurz in der Klasse, wenn sie einen Termin absagen musste. Trotzdem vermittelte sie Achmet die Botschaft, dass er ihr wichtig war, so wichtig, dass sie ihn persönlich aufsuchte, um ihn zu fragen, ob er diese Woche einen anderen Termin brauche – was nur selten vorkam. In den vorangehenden Kapiteln beschreiben wir, wie vermehrte Präsenz umgesetzt wird. Präsenz zeigt zum Beispiel eine Lehrkraft, die die Hausaufgaben zuverlässig kontrolliert und sich durch das ganze Klassenzimmer bewegt. Präsenz beweist das Schulteam mit seiner Aufmerksamkeit in den Korridoren und auf dem Pausenhof. Gemeinsame Präsenz üben Schule und Eltern durch regelmäßigen und respektvollen Kontakt aus. Präsenz drückt sich in einem gemeinsamen Beschluss von Eltern und Lehrkraft aus oder in der Mitwirkung von Angehörigen gewalttätiger Kinder. Ein FAP-­ System (Finger am Puls) zur Prävention von gefährlichen und gefährdenden Verhaltensmustern ist die Krönung des Prinzips. Alle Spielarten der Präsenz schützen Kinder und Jugendliche, bewahren sie vor Fehlverhalten und stärken gleichzeitig die Autorität der Erziehenden. Lehrkräfte sind herausforderndem Verhalten nicht mehr ohnmächtig ausgeliefert, sie haben ihm etwas entgegenzusetzen. Ist ein Schulteam mit dem problematischen Verhalten eines oder mehrerer Kinder konfrontiert, begegnet es der Herausforderung mit folgender Fragestellung: »Wie verstärken wir unsere Präsenz, damit das Kind sie als Begleitung empfindet; wie gestalten wir die Beziehung unter den Lehrkräften und zu den Eltern enger? Wie lassen wir das Kind erleben, dass die verantwortlichen Erwachsenen Selbstkontrolle, Aufschub und Deeskalation

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in regelmäßigem Austausch stehen, und wie beteiligen wir das Kind daran?« Die Institutionalisierung dieser Herangehensweise bewirkt eine Veränderung der Haltungen, die auch die Schüler- und Elternschaft erreicht und das ganze Schulklima beeinflusst.

7.2  Neue Autorität in der Praxis – Methoden zur Umsetzung Die Ankündigung Der detaillierte Ablauf einer Ankündigung ist im ▶ Kapitel 3 beschrieben. An dieser Stelle greifen wir einige zentrale Aspekte für die Wirksamkeit dieser Methode auf. In einer Ankündigung informieren die Erwachsenen das Kind oder eine Kindergruppe darüber, dass sie ab sofort mit dem fragwürdigen Verhalten anders umgehen werden. Unabhängig vom Kontext ist eine Ankündigung immer eine formelle und nahezu zeremonielle Prozedur. Wie andere Übergangsriten markiert sie einen Wendepunkt bezüglich der Positionierung und des Verhaltens der Erziehenden. Genau deshalb wird der Akt der Ankündigung nie beiläufig oder spontan vollzogen, sondern gut vorbereitet. Alle Betroffenen sollen sich folgender Aspekte bewusst sein: Die Beteiligten haben die Situation eingeschätzt, ihre Reaktion abgewogen und sich auf die Botschaft geeinigt. Diese wird immer mündlich und schriftlich überbracht. Eine Lockerung des förmlichen Charakters ist der Effizienz abträglich. Eltern oder Lehrkräfte, die eine Ankündigung eher beiläufig machen, lassen so erkennen, dass sie nicht voll und ganz hinter ihrer Botschaft stehen, dass sie nicht wirklich daran glauben, Veränderungen bewirken zu können, und dass sie sich schwer damit tun, eine autoritäre Position einzunehmen. Im Bemühen darum, sich möglichst natürlich zu geben, signalisieren die Erwachsenen dem Kind, dass sie mit ihm ja gut Freund sind und immer noch die Kumpel, die bisher unangenehme Angelegenheiten mit einem Augenzwinkern oder einem wohlwollenden Klaps auf die Schulter bereinigten. Lässt der Erwachsene so durchblicken, dass er 210

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sich auf Andeutungen und Anreize verlässt, statt verantwortungsvoll zu führen, gibt er seine Autorität preis. Trotz formellem Charakter ist die Ankündigung keine massive Intervention und hat auch keinen Platz für lange Ermahnungen und Empörungsreden. Sie ist eine besonnene Mitteilung, gut vorbereitet, einfach gestaltet und gemeinsam vertreten. In dieser Form ist sie der beste Garant für den Beginn einer echten Veränderung. Die Ankündigung wird in der ersten Person Plural, als wir formuliert. Sie enthält keine Apelle oder Forderungen an das Kind, keine Sätze wie: »Du sollst die Schule nicht schwänzen; du sollst nicht schlagen oder du sollst nicht frech sein!« Sie enthält die gemeinsame Entscheidung der Erwachsenen, entschlossen gegen problematische Phänomene vorzugehen. Zum Beispiel: • »Wir tolerieren keine Gewalt oder Demütigungen und werden uns diesem Verhalten strikt widersetzen.« • »Wir sind präsent, wir sind in deiner Nähe. Wir laden dich zu wöchentlichen Follow-up-Gesprächen vor, und wir unterrichten uns gegenseitig über unsere Beobachtungen.« • »Wir stehen in engem Kontakt zu deinen Eltern und informieren sie regelmäßig.« • »Wir halten nichts geheim, wir beteiligen alle Menschen, die mit dem Problem in Berührung kommen oder die uns behilflich sein können.«

Der unilaterale Charakter und die Wir-Formulierung machen klar, dass die Erwachsenen vom Kind kein Einverständnis erwarten. Eine Ankündigung ist kein Vertrag, das Kind muss ihr nicht zustimmen. Ist sie vorgetragen, bekommen das Kind oder die Klasse den Text schriftlich ausgehändigt. Auch jetzt wird keine Zustimmung erwartet, das Kind muss ihn auch nicht lesen. Selbst wenn es seine Missachtung demonstriert, die Ankündigung wegwirft, zerreißt oder zerknüllt − ein Schüler ging sogar so weit, das Ankündigungsschreiben zu verschlucken − bleibt sie in Kraft. Vorsichthalber kann man eine Kopie anfertigen. Bei heftigem Protest erklären die Erwachsenen dem Kind: Neue Autorität in der Praxis – Methoden zur Umsetzung

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»Wir erwarten nicht, dass du damit einverstanden bist! Die Ankündigung informiert dich über unsere Entscheidung und darüber, was wir tun werden. Wir finden es fair, sie dir auszuhändigen, wir wollen nichts hinter deinem Rücken unternehmen. Wir schicken die Mitteilung auch an deine Eltern, die Lehrkräfte erhalten eine Kopie davon. Ob du sie lesen willst oder nicht, ist deine Sache.«

Es handelt sich also um eine reine und sachlich vorgebrachte Feststellung. Wir wollen das Augenmerk auf den Abschluss der Ankündigung lenken, der ein wichtiges Signal setzt. Ankündigungen werden mit einer positiven Botschaft beendet, die Verantwortung, Respekt und Fürsorglichkeit für das Kind ausdrücken, zum Beispiel: • »Wir handeln so, weil wir nicht bereit sind, auf dich zu verzichten!« • »Wir tun das, weil du uns am Herzen liegst und wir dich schützen müssen.« • »Wir glauben an dich und sind sicher, dass du fähig bist, das Pro­ blem zu überwinden.« • »Wir haben nicht die Absicht, dich zu demütigen! Im Gegenteil, deine Würde ist uns sehr wichtig. Wir respektieren dich, deshalb sagen wir dir auf direkte und ehrliche Art, was wir tun werden.«

Der Abschluss des Zeremoniells bekräftigt nochmals die Einseitigkeit. Zwar wird das Kind gefragt: »Möchtest du noch etwas sagen?«, jedoch bedeutet die Frage nicht, dass über die Ankündigung oder die Einwände des Kindes verhandelt wird. Liefert das Kind neue Informationen, so lautet die Antwort: »Wir werden das Gesagte sorgfältig prüfen. Vorerst gehen wir so vor, wie wir es dir angekündigt haben. Das ist unsere Pflicht − sowohl dir als auch den anderen Schülern gegenüber!« Die Person, die die Ankündigung vorgelesen hat, entlässt das Kind mit etwa folgenden Worten: »Wir behalten dich im Auge und informieren uns gegenseitig! Dieses Gespräch ist nun zu Ende, du kannst in deine Klasse zurückkehren!« 212

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Nicht immer verändert das Kind nach einer Ankündigung sein Verhalten sofort. Unter anderem will es beweisen, dass ihm die Aktion keinerlei Eindruck gemacht hat. Gute Reaktionen auf weitere problematische Ereignisse sind Verstärkung der Präsenz durch Beteiligung von Personen aus dem Helferkreis, Nutzen der öffentlichen Meinung oder eine verstärkte Koordination. Das Ankündigungsteam nutzt jeden neuen Vorfall, um zu beweisen, dass es ihm ernst ist. Das konsequente Umsetzen der Ankündigung bewirkt bei den meisten Kindern eine allmähliche Veränderung des Verhaltens. Ausgelöst wird sie durch das Verhalten der Lehrkräfte, der Eltern und weiteren an der Schule Tätigen, weil die Kinder deren Begleitung und Präsenz – also wachsame Sorge – erfahren. Sie erleben und spüren, dass sie den Bezugspersonen wirklich am Herzen liegen. Das Sit-in Im Sit-in demonstrieren die an der Schule Tätigen − manchmal in Begleitung der Eltern − gemeinsam Widerstand gegen die negativen Handlungen eines Kindes. Sie führen ihm damit vor Augen, dass sie willens sind, die Situation zu verändern. Das Sit-in ergänzt die Ankündigung um ein weiteres Element: Zehn Minuten stumme und entschlossene Präsenz. Die Erwachsenen warten auf einen Vorschlag des Kindes, wie eine Wiederholung des problematischen Verhaltens zu verhindern sei. Das gemeinsame Schweigen entfaltet eine äußerst kraftvolle Wirkung. Es macht das Sit-in zu einer ganz neuen Erfahrung, anders als die üblichen, disziplinierenden Gespräche. Die für traditionelle Autorität typischen, lautstarken Auftritte erzielten nie eine vergleichbare Wirkung. Sitzt ein Team einer Schülerin gegenüber, zeigt sich gemeinsam entschlossen und einig und übt sich dazu in Geduld und Selbstkontrolle, so strahlt es eine ungeheure Stärke und Autorität aus. Der Erfolg des Sit-ins hängt nicht von der Reaktion des Kindes ab. Oft erlebt auch das Team ein Sit-in als richtungweisende Erfahrung. Es ist gleichsam ein Ausbruch aus Isolation und Ohnmacht. Ein Sit-in funktioniert ab minimal drei Teammitgliedern. Das Team entscheidet, ob auch die Anwesenheit der Eltern erforderlich Neue Autorität in der Praxis – Methoden zur Umsetzung

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ist. In besonders anspruchsvollen Fällen nehmen schulexterne Personen teil. Verzichtet das Team auf die Teilnahme der Eltern, müssen diese im Voraus über die Entscheidung informiert werden. Nach erfolgtem Sit-in erhalten sie einen Bericht. Mit folgenden Worten können Eltern zu einer Teilnahme eingeladen werden: »In jüngster Zeit wurde ihr Sohn wiederholt gewalttätig. Wir werden uns als Team mit ihm zusammensetzen, um unseren Widerstand gegen die Gewalt zu demonstrieren und seine positiven Charakterzüge stärken. Wir laden Sie ein, als unsere Partner an diesem Akt teilzunehmen. Ihre Anwesenheit wird dem Sit-in noch mehr Gewicht verleihen. Ihr Sohn erlebt, dass wir geeint auftreten. Damit verbessern wir die Chancen für eine positive Entwicklung.«

Die Lehrkraft erklärt den Eltern den Vorgang und klärt sie darüber auf, wie wichtig der gemeinsame Auftritt von Lehrkräften und Eltern ist. Die Eltern müssen wissen, dass alle Erwachsenen zehn Minuten lang schweigen, nachdem die Lehrkraft das Problem geschildert hat. Das Kind ist aufgefordert, in dieser Zeit eine Lösung vorzuschlagen. Die Eltern sollen verstehen, dass das Sit-in auch dann sinnvoll ist, wenn das Kind keinen Vorschlag einbringt. Es genügt, dass es seine Eltern und das Team im Widerstand gegen sein Fehlverhalten geeint erlebt. Für das Sit-in muss man sich Zeit nehmen, mindestens eine halbe Stunde. Während der Intervention verlässt kein Teilnehmer den Raum. Die Anwesenden sitzen zusammen mit dem Kind in einem Kreis, nicht frontal vor dem Kind. Die Leitung übernimmt das Mitglied des Schulteams, das die Arbeit mit dem Kind weiterführen wird. Hier ein Vorschlag für einleitende Worte: »Wir treffen uns heute wegen des unliebsamen Vorfalls, der sich vor einigen Tagen ereignete (an dieser Stelle ist eine kurze Schilderung des Ereignisses angebracht). Wir wollen eine Lösung für dieses Problem finden und einen Weg, um derartige Geschehnisse künftig zu

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Mehr als nur Sanktionen

vermeiden. Als Einstieg möchten wir von den Anwesenden mehr über diesen Vorfall erfahren, auch über ähnliche Zwischenfälle, falls es welche gegeben hat.«

Die Gesprächsleiterin erteilt einer Person nach der anderen das Wort. Nach Abschluss der Runde fragt sie das Kind, ob es etwas hinzufügen möchte. Eine vorläufige Zusammenfassung rundet den Einstieg ab. Als Nächstes werden die Teilnehmer gebeten, Beispiele für positives Verhalten oder positive Charaktereigenschaften des Kindes zu schildern. Damit gleicht sich der bisher negative Eindruck vom Kind aus. Auch diesen Teil beendet die Sitzungsleiterin mit einer Zusammenfassung. Nun wendet sie sich an das Kind: »Wie wir hören, gibt es neben deinem problematischen Verhalten auch gute und positive Beispiele. Heute sitzen wir wegen deines negativen Benehmens hier. Wir bleiben jetzt sitzen und warten auf einen Vorschlag von dir, was zu tun ist, damit sich dieses Verhalten nicht wiederholt!«

Nun beginnt die stumme, zehnminütige Wartezeit. Wenn die Jugendliche mit Anschuldigungen, Leugnen oder Provokationen reagiert, teilt ihr die Sitzungsleiterin in ruhigen Ton mit, dass das keine Lösungsvorschläge seien. Auf keinen Fall dürfen sich die Erwachsenen auf eine Diskussion oder Verhandlungen mit der Schülerin einlassen. Macht sie einen positiven Vorschlag, wird vereinbart, wer sich mit ihr zusammensetzt, um ihn im Detail mit ihr auszuarbeiten. Die Sitzungsleiterin beendet dann die Aktion mit einer positiven Aussage. Sie betont, dass die Schülerin eine Chance verdient habe, ihre Absichten umzusetzen und dass das Team sie weiter beobachten werde, um ihr zu helfen und auf sie aufzupassen. Bringt die Jugendliche keinen Lösungsvorschlag vor, schließt die Gesprächsleiterin mit folgenden Worten ab: »Da du keinen Vorschlag machen kannst, werden wir uns eine angemessene Reaktion überlegen. Diese sprechen wir mit deinen Eltern

Neue Autorität in der Praxis – Methoden zur Umsetzung

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ab. Wir werden dir unsere Entscheidung mitteilen. Du erhältst die Möglichkeit, die Sache wiedergutzumachen. Wir werden präsent sein und dich beobachten, bis das Problem gelöst ist.«

Kinder reagieren unterschiedlich auf ein Sit-in. Einige schweigen; andere versuchen, sich zu erklären; wieder andere schlagen Lösungen vor. Fast alle werden sichtlich nervös. Ein Lösungsvorschlag ist die einzige Möglichkeit, die Prozedur zu verkürzen. Die Reaktion der Erwachsenen auf einen Vorschlag ist immer positiv und lautet in etwa so: »Das ist eine Idee, die gelingen kann! Wir lassen dich wissen, welche Lehrkraft die Lösung mit dir im Detail ausarbeiten wird!« Versucht das Kind, sich zu rechtfertigen, wiederholt man ganz einfach: »Wir wollen eine praktische Lösung dafür, wie dieses problematische Verhalten aufhört!« und schweigt weiter. Bestreitet das Kind den Sachverhalt, bekommt es keine Antwort, die Erwachsenen warten schweigend ab. Ignoriert das Kind das Geschehen demonstrativ, ignorieren die Erziehenden auch sein Verhalten und schweigen. Sollte das Kind fluchen oder provozieren, darf man sich nicht zu Debatten, Predigten oder Drohungen hinreißen lassen. Stumme Präsenz ist die beste Reaktion auf Provokationen. Falls physische Gewalt befürchtet wird, darf die Sitzung nicht ohne Eltern stattfinden. Sobald das Kind ausrastet, wird die Sitzung abgebrochen. Dem Kind und seinen Eltern wird erklärt, dass die Schule nun zwingend handeln müsse und sich das weitere Vorgehen überlege. In unserer Arbeit haben wir während Sit-ins sehr selten heftige Ausbrüche erlebt. Ein Sit-in ist eine öffentliche Aktion: Neben den Teilnehmenden weiß auch ein breiter Kreis von Schülern und Erwachsenen davon, manchmal wird sogar im Nachrichtenforum der Schule darüber berichtet. Genau das ist der große Unterschied zwischen dem Aussitzen und einem gewöhnlichen Disziplinargespräch. In Letzterem wird das Kind zur Autoritätsperson gerufen und gemaßregelt, getadelt, ermahnt oder bestraft. Sinn und Zweck eines Disziplinargesprächs sind Abschreckung oder Überzeugung. Gelingt das nicht, ist das 216

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Gespräch gescheitert. Das Aussitzen hingegen ist ein Vorgang, der die Entschlossenheit und Bereitschaft des Teams symbolisiert. Die öffentliche Dimension des Vorgangs verleiht ihm über die individuelle Ebene hinaus einen repräsentativen Charakter. Sit-in auf der Sekundarstufe Die 16-jährige Shiran ist eine begabte und beliebte Schülerin. Sie engagiert sich gern für gemeinschaftliche Anlässe ihrer Klasse. Oft bleibt sie aber der Schule tagelang fern, geht mitten im Unterricht nach Hause und ist frech zu den Lehrkräften. Eines Tages wurde sie demonstrativ rauchend auf der Straße gegenüber dem Schultor erwischt. Als ihre Klassenlehrerin sie dafür rügte, gab sie unverschämte Antworten. Es war Zeit für ein Sit-in. Der Direktor, die Klassenlehrerin, die Vertrauenslehrerin und die Eltern sowie zwei weitere Fachlehrkräfte erwarteten Shiran im Büro des Direktors. Als Shiran kam, wurde sie aufgefordert, auf einem für sie bereitgestellten Stuhl im Kreis Platz zu nehmen. Das Mädchen setzte sich, völlig verblüfft. Sie hatte nicht erwartet, auf einen so großen Personenkreis zu treffen, insbesondere nicht auf ihre Eltern. Die Klassenlehrerin eröffnete die Zusammenkunft mit einer Schilderung des Vorfalls und erklärte: »Das ist ein schwerwiegendes Ereignis. Wir sind hier, weil wir einen Weg finden wollen, um eine Wiederholung zu vermeiden. Zuerst aber fragen wir die Anwesenden, ob sie weitere Beispiele für Shirans problematisches Verhalten kennen.« Eine Lehrerin berichtete über Shirans Schwänzen. Eine andere erwähnte ihre Unverschämtheiten. Ihre Eltern zeigten sich sehr besorgt und wollten alles Erdenkliche tun, um eine Lösung zu finden. Nachdem sich alle in der Runde geäußert hatten, wandte sich die Klassenlehrerin an Shiran und fragte, ob sie etwas dazu sagen wolle. Shiran schüttelte nur den Kopf. Nun erklärte die Klassenlehrerin, dass aufgrund der Vorfälle allmählich ein negatives Bild von Shiran entstehe, obgleich sie selbst in dem Mädchen auch ganz andere Seiten sehe. Die Anwesenden stimmten ihr zu und betonten den positiven Beitrag des Mädchens zur Klassengemeinschaft. Die Lehrerinnen erinnerten daran, wie Shiran eine gemobbte Mitschülerin in Schutz genommen hatte. Nach einer

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kurzen Schweigepause wandte sich die Klassenlehrerin wieder Shiran zu und sagte: »Was hier gesagt wurde, ist uns wichtig! Aber heute sitzen wir wegen deinem Fehlverhalten hier. Wir bleiben nun sitzen und warten auf eine Idee von dir, wie eine Wiederholung dieser Probleme vermieden werden kann!« Nach diesen Worten breitete sich Schweigen aus. Shiran senkte den Kopf und schwieg ebenfalls. Nach zehn Minuten fragte die Klassenlehrerin Shiran, ob sie einige Tage Bedenkzeit brauche. Das Mädchen nickte zustimmend. Darauf fasste die Klassenlehrerin das Treffen mit folgenden Worten zusammen: »Mir scheint, wir sind alle an einer positiven Lösung interessiert und wollen Shiran eine Chance geben. Daher behalten wir dich im Auge und unterstützen dich, bis das Problem gelöst ist.« Damit war das Sit-in beendet. Shiran ging mit ihren Eltern nach Hause und schloss sich über eine Stunde lang in ihrem Zimmer ein. Am Abend bat sie ihre Eltern, ihr zu helfen, über eine Lösung nachzudenken. Die Mutter schlug vor, mit ihr zusammen ein Entschuldigungsschreiben an die Klassenlehrerin und die Fachlehrkräfte zu verfassen. Shiran war einverstanden. In den folgenden Wochen war sie sehr kleinlaut und vermied es, in Schwierigkeiten zu geraten. Erst allmählich fand sie zu ihrer gewohnten Lebhaftigkeit zurück. Nach zwei Monaten verkündete sie ihren Eltern und all ihren Freundinnen, dass sie beschlossen habe, das Rauchen aufzugeben. Sit-in im Kindergarten Der fünfjährige Benny schlug und terrorisierte seine Spielkameraden im Kindergarten. Seine Mutter gab der Erzieherin die Schuld daran; sie bringe ihrem Kind nicht genug Zuneigung entgegen und verursache damit sein schlechtes Benehmen. Zu Hause sei Benny ruhig und folgsam, einzig die Dunkelheit mache ihm zu schaffen. Sie habe begonnen, ihm allabendlich eine Geschichte zu erzählen, seine Hand zu halten und ihm so lange den Kopf zu streicheln, bis er einschlafe. Dadurch sei das Problem fast vollständig verschwunden. Sie war überzeugt davon, dass ein ähnlicher Zugang auch das Problem im Kindergarten lösen würde. Die Erzieherin war alles andere als lieblos und distanziert. Im Gegenteil, sie war bei Eltern und Kindern bekannt für ihre Warmherzigkeit. Sie

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hatte bereits entdeckt, dass Benny sich beruhigte und an sie schmiegte, wenn sie sich freimachen und ihm persönliche Zuwendung gewähren konnte. War sie aber mit anderen Kindern beschäftigt, verfiel Benny sofort in sein negatives Verhalten. Sie fragte sich, ob der Junge sich so aufführte, um die Aufmerksamkeit der Erwachsenen zu erlangen, auch wenn es eine negative Aufmerksamkeit war. Sie überlegte auch, ob ihre Haltung dem Jungen gegenüber richtig sei oder ob in diesem Fall nicht etwas mehr herkömmliche Autorität angebracht sei. Sie befürchtete allerdings den Widerstand der Mutter, was jede disziplinarische Intervention mit Sicherheit unterlaufen würde. Sie suchte das Gespräch mit der zuständigen Fachberatung. Die Frauen beschlossen, ein Sit-in abzuhalten. Die Erzieherin erklärte der Mutter den Vorgang als eine Intervention, bei der Grenzen gesetzt, aber auch Empathie und Mühe investiert würden. Sie versuchte, auch den Vater für das Sit-in zu gewinnen, aber er konnte nicht teilnehmen. Die Erzieherin erklärte ihm am Telefon Ziel und Vorgehen. Er hörte ihr aufmerksam zu und bat um einen Bericht nach der Sitzung. Letztlich waren die Erzieherin, eine Kollegin, die Mutter und die Fachberatung anwesend. Die Erzieherin erklärte Benny, warum sie mit ihm zusammensaßen. Sie verkündete ihm, dass sie nicht länger dulde, dass er andere Kinder schlage und ängstige. Die Kollegin schilderte zwei Beispiele. Die Erzieherin ergänzte die negativen Schilderungen mit positiven Geschichten und erzählte, wie schön Benny mit einer Gruppe anderer Kinder gespielt habe. Nun erklärte sie dem Jungen: »Wir schweigen jetzt und warten, bis du eine Idee hast, wie du aufhören kannst, andere Kinder zu schlagen und zu ängstigen. Jeder Vorschlag ist für uns wichtig, und wir werden ihn ernst nehmen!« Dann herrschte Schweigen. Bennys Reaktion machte deutlich, wie außerordentlich peinlich ihm die Situation war. Er kroch unter den Tisch, lief auf allen vieren herum und miaute. Dann stand er auf, ging zum Schrank und leckte den Schlüssel ab, der in der Tür steckte. Die Anwesenden ignorierten sein eigenartiges Verhalten. Nach etwa fünf Minuten setzte sich Benny auf die Füße der Erzieherin, die ihre Arme locker um ihn legte. Nach Ablauf der festgelegten Zeit fragte die Erzieherin ihn abermals: »Hast du eine Idee?« Benny zuckte verle-

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gen mit den Schultern. Daraufhin verkündete ihm die Erzieherin: »Wir passen auf dich auf, damit du nicht mehr schlägst. Wir werden auch jeden Tag mit deiner Mama und deinem Papa reden, vor allem, wenn es gute Tage waren. Ich bin mir nämlich sicher, dass du dich mustergültig benehmen wirst!« Benny trat zu ihr und legte seinen Kopf in ihre Hände. Die Mutter sagte später der Erzieherin, sie sehe, dass Benny sich bei ihr gut aufgehoben fühle und verstehe, dass sie ihm Wärme und Nähe zeige. Nach dem Sit-in behielten die Erzieherin und ihre Kollegin Benny mehrere Wochen lang im Auge. Der Vater erklärte sich einverstanden, bei jedem Zwischenfall am Telefon mit seinem Sohn zu sprechen. Er tat das zweimal. Nach einem der Vorfälle holte die Großmutter den Jungen mitten am Tag nach Hause. Allmählich nahmen Bennys Ausbrüche ab, nach einem Monat hörten sie praktisch auf.

Der Schulausschluss mit Präsenz Ein befristeter Schulausschluss und gleichzeitige Präsenz klingen im ersten Moment nach einem Widerspruch. Der Ausschluss ist eine Strafe, die Distanz schafft. Im Gegensatz dazu steht Präsenz, die als zentrales Element der Neuen Autorität auf Nähe und Anteilnahme basiert. In schwerwiegenden Fällen greifen Schulen noch immer auf einen Schulausschluss als Sanktion zurück. Deshalb haben wir das Vorgehen des Schulausschlusses mit Präsenz entwickelt. Das dem herkömmlichen Schulausschluss inhärente Element eines vollständigen Kontaktabbruchs wird ausgeschaltet, während der Suspendierung bleibt der Kontakt auf besondere Art bestehen. Die Schule begleitet die Maßnahme mit verschiedensten Kontakten zu Kind und Eltern. Das ist zwar anstrengend, langfristig aber ökonomisch. Wir empfehlen bei einem Schulausschluss auf folgende Aspekte zu achten: • Die Suspendierung geht mit rechtlichen Vorgaben einher. Diese sind auf jeden Fall zu berücksichtigen. • Im Einverständnis mit den Eltern ist eine Suspendierung immer möglich. Schulen, die der Neuen Autorität verpflichtet sind, tun 220

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gut daran, die Eltern als Partner anzusprechen, die für Begleitung und Beaufsichtigung des Kindes mitverantwortlich sind. Und auch hier gilt, dass eine Intervention exponentiell an Wirkung zulegt, wenn Schule und Eltern zusammenarbeiten. • Entscheidet sich die Schule für eine Suspendierung, tritt sie vorher mit den Eltern in Kontakt: 1. Sie erklärt den Grund der Maßnahme und deren Notwendigkeit. 2. Sie stellt sicher, dass das Kind zu Hause unter Aufsicht eines Elternteils oder eines anderen Familienmitglieds steht, dass der Rhythmus des Schulalltages beibehalten wird, dass es seinen Pflichten als Schülerin nachkommt und an den vorgegebenen Lerninhalten arbeitet. 3. Sie erläutert ihre pädagogische Haltung: Das Kind bleibt auch während seiner Abwesenheit in jeder Hinsicht Schülerin der Schule. Diese hält Verbindung zu ihr. Mitschüler bringen Hausaufgaben, die Klassenlehrkraft oder andere an der Schule Tätige rufen täglich an. Im täglichen Gespräch mit dem Kind erkundigt sich die Mitarbeiterin nach seinem Wohl und berichtet, was sich in der Schule zugetragen hat. Zweck des Gesprächs sind nicht Moralpredigten, sondern Präsenz. Es ist nicht nötig, weiter über den Vorfall zu sprechen. Nach Ablauf der Suspendierung begleiten die Eltern ihr Kind in die Schule. Dort findet ein kurzes Gespräch zur Besiegelung der Neuintegration statt. Es umfasst folgende Themen: • Sind aus Sicht des suspendierten Schülers Schwierigkeiten bei der Neuintegration in die Klasse zu erwarten? • Besteht ein Streit mit Mitschülerinnen oder Lehrkräften, der geschlichtet werden muss? • Wie wird kommuniziert? Informell weiß die Schulgemeinschaft sowieso von der Suspendierung. Es gilt also, verantwortungsvoll zu kommunizieren, um Gerüchte zu unterbinden und, vor allem, Neue Autorität in der Praxis – Methoden zur Umsetzung

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um den betreffenden Schüler offiziell wieder in die Gemeinschaft aufzunehmen. Hier ein Beispiel für die Formulierung einer solchen Mitteilung im Informationsmedium der Schule: Ein Schüler der achten Klasse versengte mit einem Feuerzeug die Haarspitzen einer Schülerin und brannte ein Loch in ihren Trainingsanzug. Als Reaktion darauf wurde der reguläre Unterricht in den achten Klassen unterbrochen. Die Klassenlehrkräfte sprachen mit den Schülern über die Gewichtigkeit des Vorfalls. Der Schüler gestand seine Tat und entschuldigte sich bei der Schülerin. Er wurde für zwei Tage von der Schule suspendiert und musste die Kosten für den Trainingsanzug ersetzen. Der Vorfall wurde vorschriftsgemäß auch der Polizei angezeigt, da Gewaltakte mit Einsatz von Objekten laut Gesetz und auch laut Direktiven der Schulaufsichtsbehörde meldepflichtig sind. Der Schüler kehrt heute in die Schulgemeinschaft zurück. Er hat über seine Verfehlungen nachgedacht und den Schaden ersetzt. Somit ist der Vorfall für die Schule abgeschlossen.

Der Schulausschluss mit Präsenz verbindet die klassische Strafe mit den Prinzipien der Neuen Autorität. Die herkömmliche Suspendierung erfordert keinen besonderen Einsatz an Zeit und Mühe und befreit alle zumindest ein paar Tage lang von der Last eines schwierigen Schülers. Unser Vorgehen verlangt mehr Engagement. Lohnt sich das? Betrachten wir das herkömmliche Vorgehen, bei dem die Schule auf die Macht der Sanktionierung setzt und die Verantwortung einer Verhaltensänderung ganz dem Kind überlässt. Die Auswirkungen dieses Vorgehens sind hinlänglich bekannt: Das Verhältnis der Schule zu den Eltern verschlechtert sich, Konflikte bleiben ungelöst, die Identifikation des Kindes mit der Schule wird geschwächt, und es füllt die schulfreie Zeit mit fragwürdigen Freizeitbeschäftigungen. Nach Ablauf der Suspendierung nimmt die Schule das Kind wieder auf. Mit großer Wahrscheinlichkeit wird es Lehrern und Mitschülern weiter zur Last fallen. Es findet in diesem Fall keinerlei Entwicklung 222

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und Wiedergutmachung statt, schlimmer noch, die Probleme werden wahrscheinlich zunehmen. Aus unserer Sicht ist der erforderliche Aufwand für den Ausschluss mit Präsenz durch den Gewinn an Kooperation, Vertrauen und Entwicklung mehr als gerechtfertigt.

7.3  Die Wiedergutmachung Wiedergutmachungen spielen bei der Neuen Autorität eine zentrale Rolle und die Diskrepanz zu herkömmlichen Sanktionen ist augenscheinlich. Während Sanktionen von außen auferlegt und passiv erduldet werden, ist das Kind bei einer Wiedergutmachung gefordert, aktiv zu werden. Kindern die Möglichkeit einer Wiedergutmachung zu geben und ihnen zu zeigen, dass die Sache wieder in Ordnung ist, dass sie offiziell wieder in die Gemeinschaft (zum Beispiel der Klasse) aufgenommen sind, ist ein wichtiger Schritt im Prozess des sozialen Lernens! Erstens erleben die Kinder, dass niemand perfekt – also fehlerlos – sein muss, um geliebt zu werden und dazuzugehören. Zweitens setzt eine echte Geste der Versöhnung die Einsicht eines Fehlverhaltens voraus. Dies geschieht durch Reflexion, oftmals im Gespräch mit den erwachsenen Bezugspersonen. Solche Gespräche benötigen im ersten Moment mehr Zeit als das Austeilen einer Strafarbeit. Langfristig zahlt sich die Investition jedoch aus, denn der begleitete Lernprozess, der zur Einsicht führt, ist nachhaltiger. Das Kind beginnt zu begreifen und empathisches, rücksichtsvolles Verhalten wird gefördert. Das Verhängen einer Strafe erzeugt ebenfalls einen Lerneffekt, nämlich dass diese und jene Regel einzuhalten sei, da sonst eine Strafe droht. Gehorsamkeit ist grundsätzlich nichts Schlechtes, aber eben nicht gleichzusetzen mit dem Erwerb eines tieferen Verständnisses und der daraus resultierenden Selbst- und Sozialkompetenz. In einer Diskussionsrunde erzählte ein Vater, er sei nach einem anstrengenden Arbeitstag jeweils schon versucht, mit Macht – also Sanktionen – die Gefügigkeit seiner Kinder erzwingen. Dann aber Die Wiedergutmachung

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sage er sich, dass der nachhaltige Weg durch die Auseinandersetzung mit kulturellen Werten wie Respekt oder Rücksichtnahme und die Aneignung von Sozialkompetenzen doch vorzuziehen sei. Blinder Kindergehorsam wäre manchmal zwar bequem, aber wer wisse schon, wer seinen Kindern später einmal Befehle erteilen werde. Bei Regelübertretungen und gewaltorientiertem Verhalten ist ein Schulkodex eine gute Grundlage für Reflexionsgespräche mit den Kindern: »Welchen Grundsatz aus dem Kodex hast du missachtet? Warum ist dieser Grundsatz für unsere Schule und unsere Gesellschaft oder auch für dich wichtig? Hast du auch schon erlebt, dass jemand mit dir nicht achtsam umging? Was empfandest du dabei?« Manchmal sind mehrere Gespräche mit verschiedenen Bezugspersonen nötig, bis bei einem Kind »der Groschen fällt«. Um sich in die Situation des Opfers versetzen zu können, ist eine persönliche Erfahrung noch weit einprägsamer als der mentale Lernprozess in Gesprächen. Der Schulleiter eines Schulheims setzt konsequent auf diese Linie und überlegt sich zusammen mit seinem Team Situationen, in denen Täterinnen in einer abgeschwächten Form in die Position des Opfers versetzt werden. Hier ein Beispiel: Heilsame Erfahrung Ein Mädchen, das neu ins Schulheim eingetreten war, wurde schikaniert. Als Sanktion schickte der Leiter die verantwortlichen Jugendlichen ganz allein in ein anderes Schulheim zum Mittagessen. Anschließend mussten sie vor der Schülerversammlung berichten, wie es ihnen dabei ergangen war, wie es sich angefühlt hatte, allein irgendwo hinzugehen, wo man niemanden kennt, wie man empfangen werden möchte und wie man empfangen wurde. Auch diese vorsichtig dosierte Erfahrung wirkt ausreichend.

Lernen durch Erfahrung, Eigenaktivität, Reflexion und Wissen flexibel einsetzen sind heute selbstverständliche Begriffe im Kontext schulischen Lernens. Die Förderung von überfachlichen Kompetenzen 224

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gehört zum Lehrauftrag der Schulen. Aus diesem Blickwinkel kann jede Regelübertretung als Lernanlass betrachtet werden. Auch für den Schritt der Wiedergutmachungsgeste brauchen Kinder manchmal Unterstützung, zum Beispiel durch ein Coaching. Nach Möglichkeit empfiehlt sich eine Rollentrennung zwischen der intervenierenden Person (zum Beispiel Fach-, Klassenlehrkraft oder Schulleitung) und der beratenden Person (zum Beispiel Schulsozialarbeiter, Sozialpädagogin). Die Anweisung an das Kind kann zum Beispiel lauten: »Du hast eingesehen, dass dein Verhalten nicht in Ordnung war. Das freut mich. Jetzt geht es darum, die Sache wieder in Ordnung zu bringen. Herr Elmer bietet an, dich zu unterstützen, wenn du das möchtest. Er hat in der 10-Uhr-Pause Zeit für dich. Falls es länger dauert, ist das in Ordnung. Und heute nach dem Unterricht erzählst du mir, was du dir überlegt hast.«

In der Wiedergutmachungskartei von Elke Dosch und Astrid Grabe finden sich viele Ideen für Wiedergutmachungsgesten. Nicht immer verläuft der Prozess von der Regelübertretung zur Einsicht und Wiedergutmachung so reibungslos wie oben beschrieben. Um etwas komplexere Fälle geht es im Folgenden. Der Umgang mit Blockaden beim Wiedergutmachungsprozess Manche Jugendlichen werten jedes Eingehen auf Forderungen von Erwachsenen im ersten Moment als Niederlage. Es gilt, eine Atmosphäre zu schaffen, die auch solchen Schülern eine Chance zur Korrektur ihres Verhaltens eröffnet, auch ohne unmittelbar ersichtliche Wiedergutmachung und ohne nach außen hin sichtbare Reue und Demut. Stellt man Jugendlichen ein lohnendes Ziel in Aussicht, kann sie das für eine Korrektur ihres Verhaltens motivieren. Eine gute Beurteilung im Zeugnis ist für viele zu abstrakt, auch wenn sie für Die Wiedergutmachung

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die Suche nach einer Lehrstelle relevant ist. Die Klassenreise in zwei Monaten dagegen wollen die Schülerinnen garantiert nicht verpassen. Eine eventuelle Verweigerung der Teilnahme durch die Schule darf aber keinesfalls als Strafe formuliert werden. Sie steht auch nicht im Vordergrund der Entscheidung. Diese basiert auf der Verantwortung der Lehrkräfte. Sie müssen sich auf der Reise darauf verlassen können, dass sich die Jugendlichen angemessen benehmen und die Anweisungen der Verantwortlichen befolgen. Ist dies nicht der Fall, wäre eine Bewilligung der Teilnahme fahrlässig. Unfair gegenüber einem Jugendlichen mit anhaltenden Verhaltensproblemen wäre es, ihn nur mit dem Ziel der Teilnahme und ohne weitere Unterstützung zu ködern. Die Wahrscheinlichkeit eines Scheiterns ist hoch und der Frust, trotz der Anstrengung einen abschlägigen Bescheid zu erhalten, wird die Aggression des Jugendlichen gegen die Schule noch steigern. Lässt man den Jugendlichen allein mit dem Ziel, geht man davon aus, er könnte sein Verhalten ändern, wenn er nur wollte. Dem ist aber nicht so, sonst hätte er das längst getan. Das Ziel Klassenreise ist ein zusätzlicher Anreiz. Ergänzend braucht es verstärkte Präsenz der Erwachsenen. Sie unterstützen den Jugendlichen durch Ermutigung und Feedbacks und zeigen ihm, dass ihnen seine Zielerreichung wichtig ist und sie sich dafür Zeit nehmen. Hinweise zu Klassenfahrten: Gerade bei mehrtägigen Ausflügen lastet eine enorme Verantwortung auf den Lehrkräften. Auch wenn sich das Verhalten eines Jugendlichen verbessert hat und er erfreulicherweise teilnehmen darf, empfiehlt es sich, die Situation durch verstärkte Präsenz weiter zu stabilisieren. Bei einem Gespräch vor der Klassenfahrt wird Folgendes vereinbart: • Jeden Abend berichten die Lehrkräfte in Anwesenheit des Jugendlichen in Form einer Kurznachricht den Eltern (ev. weiteren Bezugspersonen) und der Schulleitung über den Tag. • Nach einmaliger Verwarnung oder nach einer schwerwiegenden Regelübertretung wird der Jugendliche nach Hause geschickt. Die Eltern sind für die Organisation der Rückreise zuständig. 226

Mehr als nur Sanktionen

In Phasen verstärkter Präsenz, während einer Bewährungszeit oder zu Vereinbarungen vor einem Anlass können weitere Bezugspersonen des Jugendlichen aufgeboten werden. Ob Trainer des Sportclubs, Onkel oder eine ehemalige Lehrkraft, wichtig ist die gute Beziehung zum Jugendlichen. Solche Vorgehensweisen schaffen kein Gleichgewicht zwischen Straftat und Strafmaß, sondern fördern einen emotionalen Heilungsund Wiedergutmachungsprozess. Werden Jugendliche so durch eine schwierige Zeit begleitet, wächst in ihnen langsam und ohne Druck die Einsicht für ihr Fehlverhalten und damit die Bereitschaft, dieses zu ändern und sich möglicherweise sogar irgendwann dafür zu entschuldigen. Das Lernen am Modell ist auch hier maßgebend. Sind Schulmitarbeitende bereit, Fehler einzugestehen und problematische Entscheidungen zu korrigieren, fällt dies auch den Lernenden leichter. Ehre und ihre Bedeutung bei Konflikten Der Begriff der Ehre mag altertümlich anmuten, spielt aber in Konflikten eine entscheidende Rolle. Nehmen wir die Beispiele in diesem Buch unter die Lupe, so stellen wir fest, dass es darin meist um Wortwahl, Art der ersten Kontaktaufnahme, Kompromisse oder Lösungen geht, die die Ehre der beteiligten Parteien wahren oder wiederherstellen. Das ist der entscheidende Unterschied zwischen der traditionellen und der Neuen Autorität. Früher genoss eine Autoritätsperson einen absoluten Vorsprung an Ansehen gegenüber den ihr unterstellten Personen. Wurde es verletzt oder nicht durch fraglosen und absoluten Gehorsam gewürdigt, musste der Untergebene büßen. Sätze wie »Dem muss eine unvergessliche Lehre erteilt werden!« oder »Sein unverschämtes Lächeln wird ihm schon noch vergehen!« spiegeln wider, was diese Autoritätspersonen auf der emotionalen Ebene erreichen wollten: die Erniedrigung des renitenten Untergebenen! Die Waagschale der Ehre sollte sich hundertprozentig zu Gunsten der Autoritätsperson senken. Auch bei der Neuen Autorität spielt die Ehre eine wichtige Rolle, ihre Verteilung, ihre Bewertung Die Wiedergutmachung

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und die Quellen, aus denen sie geschöpft wird, sind jedoch ganz andere. Für uns ist auch die Würde eines unfolgsamen Kindes von Bedeutung, und wir respektieren sie auch dann, wenn wir das Kind tadeln. Dasselbe Prinzip gilt für Lehrkräfte. Es muss möglich sein, Fehler ohne Gesichtsverlust zu korrigieren, denn eine gedemütigte Lehrkraft kann ihre Aufgabe nicht mehr ordentlich erfüllen. Die Neue Autorität bringt die Waagschale der Ehre nicht dadurch ins Gleichgewicht, dass ein anderer gedemütigt wird. Die Würde eines Schulleiters, der nach den Prinzipien der Neuen Autorität handelt, nährt sich aus der von ihm gewonnenen breiten Koalition. Sie ergibt sich aus dem öffentlichen Echo auf seinen Umgang mit Problemen und aus seinen Erfolgen sowie dem weiten Netz an Bündnissen an seiner Schule. So entsteht eine Kultur, in der das Lehrpersonal selbstbewusst um Hilfe bitten kann, Korrekturen keinen Verlust an Würde bedeuten und Ermahnungen respektvoll formuliert sind. Und es ist die Schulleitung, die diese Kultur prägt. Es ist nie einfach, eine Missetat zuzugeben. Wir alle haben uns irgendwann an Schutzbehauptungen geklammert, auch wenn wir im Innersten wussten, dass wir im Unrecht sind. Wir wollen das unangenehme Gefühl der Scham vermeiden, das mit einem Eingeständnis einhergeht. Dass Eltern ihrem Kind unbesehen glauben und seine Version einer Geschichte uneingeschränkt unterstützen, ist in gewisser Weise nachvollziehbar. Erstens fürchten sie, ihrem Kind Unrecht zu tun und sich dem Vorwurf auszusetzen, es nicht zu lieben und zu unterstützen. Zweitens fühlen sie sich in ihrer Funktion als Erziehende mitverantwortlich und beschämt, wenn sich das Kind etwas zuschulden kommen lässt. Dieses Verhalten aber erschwert es dem Kind, eine Tat zuzugeben oder Einsicht zu zeigen und sein Unrecht einzugestehen, fürchtet es doch, durch sein Fehlverhalten die Eltern zu enttäuschen. Wir haben bereits erwähnt, wie wichtig das Gefühl der Scham für die Entwicklung unserer Kinder ist. Die Scham ist ein Indikator für das gesellschaftlich akzeptierte Verhalten. Wer die Grenze des Tolerierten überschreitet, gilt als scham-los. Zugleich ist die Scham ein zutiefst negatives Empfinden. Der Ausdruck 228

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vor Scham in den Boden versinken veranschaulicht das Gefühl, das sie auslöst. Die Kumulation der Scham von Eltern und Kind endet nicht selten in einem Konflikt zwischen Schule und Eltern. Dieser belastet auch das Kind, das sich insgeheim dafür verantwortlich fühlt. Solch verworrene Situationen sind mit Druck und übersteigerten Moralvorstellungen nicht zu lösen. Das gelingt nur mit Beharrlichkeit, Ermutigung, Empathie und einer positiven Fehlerkultur. Melanie lügt nie! Die Drittklässlerin Melanie war ein nettes, gewitztes Mädchen mit viel Fantasie. Wenn es um Hausaufgaben ging, war Melanie auch etwas bequem. Frau Seitz und Herr Moser unterrichteten ihre Klasse. Hatte Melanie ihre Hausaufgaben nicht gemacht, spielte sie die beiden gegeneinander aus. Sie erzählte zum Beispiel Frau Seitz, Herr Moser habe ihr das Blatt nicht abgegeben oder die Aufgabe nicht genügend erklärt. Herrn Moser erklärte sie im Gegenzug, sie habe die Aufgabe bereits Frau Seitz gezeigt. Rasch durchschauten die beiden Lehrkräfte das Spiel und beriefen ein Elterngespräch ein. Melanie hatte ihren Vater bereits auf das Gespräch vorbereitet und sich über die ungerechte Behandlung in der Schule beschwert. Im Gespräch beschuldigte nun der Vater seinerseits die Lehrkräfte, ein Durcheinander in ihren Unterlagen zu haben. Eine Stellenteilung sei aus pädagogischer Sicht sowieso fragwürdig, da dürften die Eltern mindestens erwarten, dass die Lehrkräfte sich organisieren könnten, ohne dass am Schluss die armen Kinder darunter litten. Auf den Hinweis, Melanie würde es mit der Wahrheit nicht immer so genau nehmen, reagierte der Vater sehr erbost und sagte, er kenne seine Tochter und ihre Schwächen genau, aber lügen würde sie nie. Er drohte, den Schulleiter über die Zustände in dieser Klasse zu unterrichten. Auch die beiden Lehrkräfte informierten den Schulleiter und konnten Melanies Machenschaften glaubwürdig aufzeigen. Zudem kannte der Schulleiter Frau Seitz und Herrn Moser schon lange und wusste, dass sie sehr gut organisiert waren und viel Zeit auf die gemeinsame Klassenführung verwandten.

Die Wiedergutmachung

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Der Schulleiter lud also Melanie zu einem Gespräch ein. Die Eltern und die Lehrkräfte waren als Zuschauer eingeladen und nahmen im Hintergrund Platz, während der Schulleiter und Melanie sich vor einem Flipchart gegenübersaßen. Der Schulleiter erläuterte sachlich ein paar Vorfälle, über die ihn die Lehrkräfte informiert hatten, zeichnete sie am Flipchart schematisch auf und stellte dann Melanies Version auf gleiche Weise dar. Auch die Aussagen des Vaters nahm er in die Skizze auf. Er stellte die Aussagen so dar, dass die Widersprüche am Schluss als Linienwirrwarr sichtbar wurden. Dann erzählte er, dass er selbst als Junge einmal eine Woche lang bei den Hausaufgaben geschummelt habe und wie peinlich es ihm gewesen sei, als die Geschichte aufflog. Er zeigte auf den Linienwirrwarr und sagte zu Melanie: »Die Situation ist so: Deinen Lehrern geht es nicht gut, deinem Vater auch nicht und dir wahrscheinlich am allerwenigsten. Als Schulleiter ist es mir ein Anliegen, dass sich alle hier an der Schule wohlfühlen. Darum haben mich deine Eltern und deine Lehrkräfte gebeten, mich um die Sache zu kümmern. Damit ich das gut machen kann, brauche ich deine Hilfe. Du bist die Einzige, die dieses Durcheinander auflösen kann.« Der Schulleiter merkte sehr wohl, dass Melanie mit sich rang, und fügte darum hinzu: »Ich weiß, dass du jetzt sehr viel Mut brauchst. Bist du im Schwimmbad schon einmal vom Zehn-Meter-Turm gesprungen? – Nein? Das hier fühlt sich an wie ein Sprung vom Zehn-Meter-Turm. Du bist ein mutiges Mädchen, das weiß ich, und ich verspreche dir, dass dir dabei nichts geschehen wird. Wenn ich Angst um dich haben müsste, weil das Wasser im Becken nicht tief genug ist, würde ich dich nicht springen lassen! Du kannst mir vertrauen!« Melanie sprang – nach ihrer Beichte applaudierte ihr der Schulleiter und sagte: »Und jetzt setzen wir uns alle gemeinsam an den Tisch und besprechen, wie du die Sache in Ordnung bringen kannst und wie wir dich unterstützen können, damit du künftig deine Hausaufgaben erledigst.«

Nicht immer gelingt es, Blockaden von Angst und Scham zu durchbrechen. Vor allem für die Kinder und Jugendlichen ist dies bedauerlich. Ihnen entgeht die Erfahrung, dass man zu Fehlern stehen kann, 230

Mehr als nur Sanktionen

dass man sich zwar dafür schämt, dass der mutige Schritt des Eingeständnisses aber auch sehr befreiend ist und man die Dinge wieder in Ordnung bringen kann. Der Schritt zur öffentlich geäußerten Einsicht braucht viel Mut. Manchmal kann man eine Ausrede aber auch einfach mal stehen lassen, und die Intervention wirkt trotzdem. Der gestohlene Ronaldo Die Lehrerin der zweiten Klasse schickte der Schulleiterin eine Textnachricht, sie solle bitte in die Klasse kommen, es handle sich um einen Notfall. Als die Schulleiterin eintraf, erzählten ihr die aufgeregten Kinder, einer der großen Schüler habe Leo ein Panini-Bild gestohlen, und zwar nicht irgendeines, sondern das von Ronaldo! Die Dramatik der Situation erforderte sofortiges Handeln. Leo wählte aus der Klasse einen Vertrauten, und zu dritt machte man sich auf den Weg ins nahe Gebäude der Sekundarschule. Leo studierte die Fotowand mit den Schülerporträts, jedoch ohne Erfolg. Darum ging die Schulleiterin mit den beiden Jungen von Klasse zu Klasse. Sie erzählte die Geschichte, während Leo und sein Vertrauter die Jungen musterten. Die Sekundarschulmädchen waren entzückt über den Besuch, sie verurteilten die Tat lautstark und forderten die Mitschüler auf, dem armen Kleinen zum Trost ein paar Panini-Bilder zu schenken. Als sie im obersten Stock ankamen, hatte Leo bereits einen ganzen Stapel Panini-Bilder beisammen. Endlich erkannten die beiden den Dieb. Dieser gab zu, Bilder mit Leo ausgetauscht zu haben. Nach kurzer Diskussion meinte er, das Bild von Ronaldo sei wohl an seiner Hand haften geblieben. Die Schulleiterin beließ es bei dieser Erklärung. Leo hatte sein Bild wieder – inklusive Schadenersatz für die ausgestandenen Ängste um seinen Ronaldo.

Man kann sich fragen, ob so ein banales Beispiel überhaupt gerechtfertigt ist, wo Schulen doch ganz andere Herausforderungen zu bewältigen haben als den Verlust eines Panini-Bildchens und ob eine Schulleitung deswegen bemüht werden soll. Letzteres ist sicher nicht immer möglich. Die Terminkalender von Schulleitungen sind in der Regel gut gefüllt. Kann sich die Schulleitung aber Zeit nehmen, ist Die Wiedergutmachung

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diese auf jeden Fall gut investiert und eine wunderbare Gelegenheit, um einer breiten Öffentlichkeit zu zeigen: • dass an dieser Schule Diebstahl (oder Gewalt, Vandalismus) nicht toleriert wird. • dass die Schüler geschützt werden. • dass alle – in diesem Beispiel die älteren Schüler – wissen sollen, dass die Schule ein Auge darauf hat, was auf dem Pausenplatz geschieht, und ungeklärten Vorfällen nachgeht. Es geht um die Schulkultur. Der Realwert des Gegenstandes ist für eine solche Inszenierung sekundär, hingegen ist die Emotionalität, mit der der Gegenstand aufgeladen ist, von Bedeutung. Ronaldo eignet sich da natürlich viel besser als zum Beispiel ein Farbstift. Dass der Schuldige erst im obersten Stock zu finden war, erwies sich als günstiger Zufall. Die Reaktion der Sekundarschulmädchen verstärkte die Wirkung der Aktion, war sie doch eine eindeutige Botschaft an ihre Mitschüler, dass Plagegeister bei Frauen gar nicht gut ankommen. Nicht immer lassen sich solche Vorkommnisse aufklären. Die Botschaften werden trotzdem vermittelt. Voraussetzung dafür ist, dass die Schule nicht einknickt im Sinne von: »Wir können ja sowieso nichts ausrichten.« Besser ist es, im Sinne der Beharrlichkeit die Haltung einzunehmen: »Diesmal haben wir den Täter nicht gefunden, wir bleiben dran.«

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Mehr als nur Sanktionen

ZUSAMMENFASSUNG Die Neue Autorität verfügt über eine Reihe einzigartiger Reaktionsmöglichkeiten, die den Status der Lehrkräfte stärken und langfristig das Schulklima verbessern. Es sind mehr als nur Sanktionen, weil sie sich nicht auf Abschreckung oder Kontrolle beschränken. Die Frage lautet nicht: »Wie zeige ich dem Kind, dass es so nicht weitermachen kann?«, sondern: »Wie widersetzen wir uns dem problematischen Verhalten? Wie stärken wir unsere Position und handeln als Team? Wie zeigen wir, dass wir fähig sind, uns zu erinnern, konsequent zu bleiben und präsent zu sein?« Selbstkontrolle, Informationsaustausch und Kooperation stärken die Schule und die Lehrerschaft. Mit erhöhter Präsenz, Ankündigungen, Sit-ins und Schulausschluss mit Präsenz sowie Wiedergutmachungen verfügt sie über ein breites Spektrum an Methoden, das den herkömmlichen Sanktionen weit überlegen ist. Die Schule wird damit eine geeinte und offene Gemeinschaft, die Kinder und Jugendliche einlädt, ihr anzugehören. Die Wiedergutmachung verwandelt Krisen in eine positive Lernerfahrung. An der Schule Tätige üben Toleranz und Feingefühl, damit die fehlbaren Kinder und ihre Eltern ihre Scham überwinden und die Chance zur Weiterentwicklung nutzen können.

TIPPS FÜR LEHRKRÄFTE •• Fehlt es Ihnen an Sanktionsmöglichkeiten, denken Sie daran, dass Sie über eine ganze Palette von wirksamen und stärkenden Reaktionen und Methoden verfügen. •• Selbstkontrolle vermittelt ein Gefühl der Stärke. Die Lehrkraft reagiert nicht aus dem ersten Impuls heraus, sondern überlegt und plant, sie erinnert sich und bleibt beharrlich. •• Werden Sie provoziert, denken Sie an folgende drei Schlüsselsätze: Man muss das Eisen schmieden, wenn es kalt ist! Es geht nicht darum, zu siegen, sondern beharrlich zu sein! Fehler sind unvermeidlich, können aber korrigiert werden!

Tipps für Lehrkräfte

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•• Informationsaustausch und Kooperationen stützen Ihr Handeln breit ab. Sie sind nicht nur eine einsame Stimme, sondern Teil eines Chors. •• Kein Schüler ignoriert die öffentliche Meinung. •• Erhöhte Präsenz ist keine Strafe, vermittelt jedoch eine Botschaft, die jede Bestrafung an Stärke übertrifft. •• Die Aufforderung zur Wiedergutmachung führt nicht immer sofort zu Ergebnissen. Die Option einer Korrektur bleibt offen, und die meisten Schüler werden sie früher oder später nutzen. •• Ankündigungen und Sit-ins sind Übergangsriten. Sie verdeutlichen eine neue Haltung und zeigen, dass die Schule gegen problematisches Verhalten vorgeht. Diese Interventionen verändern Lehrkräfte und Schüler. Ihr Erfolg hängt nicht von der Reaktion des Schülers ab, sondern ausschließlich von der Haltung der Lehrkräfte. •• Bisher ging der Schulausschluss als Strafe mit einem Beziehungsabbruch einher. Der Schulausschluss mit Präsenz ist auch eine Strafe, vermittelt aber Präsenz und hält die Beziehung aufrecht. Das Verfahren Schulausschluss mit Präsenz ist sehr viel mehr als eine Sanktion. •• Reagieren Sie tolerant auf Widerstand, Lügen und Ausreden. Fehler einzugestehen ist mit Scham verbunden und für die betroffene Person oft sehr schwierig. •• Bleiben Sie sensibel und beharrlich. Fehlverhalten zu korrigieren, also wiedergutzumachen, gehört zu den wichtigsten Lernerfahrungen von Kindern und Jugendlichen.

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Mehr als nur Sanktionen

SCHLUSSWORT

Seit ich vor etwa zwanzig Jahren mein erstes Buch über die Wiedergewinnung elterlicher Autorität schrieb, wurde ich immer wieder gebeten, einen entsprechenden Ratgeber über die Wiedergewinnung der Autorität von Lehrkräften zu schreiben. Dieses Buch hat zum Ziel, Pädagoginnen und Pädagogen einen Weg zu zeigen, ihren Status und ihre Autorität auf positive Art und Weise zu stärken, und sie außerdem mit nützlichem Handwerkszeug auszustatten. Dies ist lebenswichtig für uns alle, nicht nur für den Berufsstand selbst. Für die Kinder ist es lebenswichtig: Haben Lehrkräfte nicht die Autorität, Regeln für das Verhalten in der Schule zu bestimmen, werden es die Mobber tun. Für die Eltern ist es lebenswichtig: Ihre Autorität ist mit derjenigen der Lehrkräfte letztlich untrennbar verwoben. Unsere Arbeit an verschiedensten Schulen hat ergeben, dass eine Stärkung der Autorität der Lehrkräfte in mehreren wichtigen Bereichen zu deutlichen Verbesserungen führt: 1. Gewalt und Chaos an den Schulen nehmen signifikant ab. 2. Das Burnout-Risiko der Lehrkräfte sinkt dank stärkerer Moral und gegenseitiger Unterstützung. 3. Lehrkräfte und Eltern entdecken, dass sie Partnerinnen und Partner haben, wo sie vorher Apathie oder gar Feindseligkeit verspürten. 4. Schulen schaffen es deutlich öfter und besser, auf Schülerinnen und Schüler zuzugehen, denen ein Schulausschluss droht, und holen sie zurück in die Schule. 5. Die Schule gewinnt ihren Platz als aktive und einigende Institution in der Gesellschaft zurück. Schlusswort

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Die Neue Autorität ist eine Haltung, die auf den Werten einer modernen Gesellschaft gründet. Sie vertritt Prinzipien, die flexibel kombinierbar auf allen Schulstufen eingesetzt werden können. Ich hoffe, dass Sie, liebe Leserin, lieber Leser, bei der Lektüre Anregungen gefunden haben, die Ihre Autorität zum Wohle der Schule und unserer Kinder stärken – die Kinder sind die Zukunft unserer Gesellschaft –, und ohne Sie, liebe Lehrerinnen und Lehrer, geht es einfach nicht! Haim Omer

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Schlusswort

DANK

Die Erkenntnisse und Methoden in diesem Buch stützen sich auf die jahrelange, intensive Zusammenarbeit meiner Studierenden mit Lehrkräften, Schulleitungen, Betreuenden, Elternvertretungen, päda­ gogischen Fachkräften und dem Personal in stationären und therapeutischen Einrichtungen. Schulleitungen nutzten meine Erkenntnisse, um sie in ihren Schulen einzusetzen und weiterzuentwickeln. Der Austausch mit ihnen war für meine Arbeit äußerst fruchtbar. Ihnen allen danke ich für die Mitwirkung an diesem Buch. Besonders erwähnen möchte ich Rita Crameri, Martin Fellacher, ­Stefan Fischer, Tal Fisher, Martin Jany, Tzachi Levran, Tal Maimon, Tali ­Semani, Werner Scherler, Irit Schorr-Sapir, Vered Sutker und Uri Weinblatt. Mein spezieller Dank gilt meiner Co-Autorin Regina Haller und der Textberaterin Rosemarie Binggeli. 

Haim Omer

Dank

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LITERATUR

Bauer, J. (2007). Prinzip Menschlichkeit. Warum wir von Natur aus kooperieren (4. Aufl.). Hamburg: Hoffmann und Campe. Bauer, J. (2010). Lob der Schule. Sieben Perspektiven für Schüler, Lehrer und Eltern (3. Aufl.). Hamburg: Hoffmann und Campe. Bauer, J. (2015). Selbststeuerung. Die Wiederentdeckung des freien Willens (2. Aufl.). München: Karl Blessing. Brüning, L. (2010). Störungsfrei unterrichten. Klassenmanagement, Praxis Schule, 4, 4–8. Cirillo, S., Blasio, P. de (1992). Familiengewalt: ein systemischer Ansatz. Stuttgart: Klett-Cotta. Cornell, D., Sheras, P., Kaplan, S., Levy-Elkon, A., McConville, D., McKnight, L., Posey, J. (2004). Guidelines for responding to student threats of violence: Field test of a threat assessment approach. In M. J. Furlong, P. M. Bates, D. C., Smith, P. M. Kingery, P. M. (Eds.), Appraisal and prediction of school violence: Methods, issues and contents (pp. 11–36). Hauppauge, NY: Nova Science Publishers. Dosch, E., Grabe, A. (2014). Die Wiedergutmachungskartei: Sich entschuldigen und bedanken – 85 Anregungen für Kinder. Mülheim/Ruhr: Verlag an der Ruhr. Frankl, V. (2005). Gefangene unserer Gedanken. Viktor Frankls 7 Prinzipien, die Leben und Arbeit Sinn geben (2. Aufl.). Wien: Linde. Geisbauer, W. (2018). Führen mit Neuer Autorität. Stärke entwickeln für sich und das Team. Heidelberg: Carl Auer. Jones, F. H. (2000) Tools for teaching. Hongkong: Fredric H. Jones & Associates, Inc. Kohut, H. (1981). Die Heilung des Selbst, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Körner, B., Lemme, M., Ofner, S., Recke, T. von der, Seefeldt, C., Thelen, H. (Hrsg.) (2019). Neue Autorität – Das Handbuch. Konzeptionelle Grundlagen, aktuelle Arbeitsfelder und neue Anwendungsgebiete. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Marks, S. (2010). Die Würde des Menschen oder: Der blinde Fleck in unserer Gesellschaft. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus. Omer, H. (2015/2016). Wachsame Sorge. Wie Eltern ihren Kindern ein guter Anker sind (2. Aufl.). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

Literatur

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Omer, H., Lebowitz, E. (2012/2015). Ängstliche Kinder unterstützen. Die elterliche Ankerfunktion (2. Aufl.). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Omer, H., Schlippe, A. von (2002/2017). Autorität ohne Gewalt. Coaching für Eltern von Kindern mit Verhaltensproblemen – »Elterliche Präsenz« als systemisches Konzept (11. Aufl.). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Omer, H., Schlippe, A. von (2004/2016). Autorität durch Beziehung. Die Praxis des gewaltlosen Widerstands in der Erziehung (9. Aufl.). Göttingen: Vanden­ hoeck & Ruprecht. Omer, H., Schlippe, A. von (2010/2016). Stärke statt Macht. Neue Autorität in Familien, Schulen und Gemeinde (3. Aufl.). Göttingen: Vandenhoeck & ­Ruprecht. Rolff, H.-G., Buhren, C. G., Lindau-Bank, D., Müller, S. (2000). Manual Schulentwicklung: Handlungskonzept zur pädagogischen Schulentwicklungsberatung (SchuB) (3. Aufl.) Weinheim/Basel: Beltz. Rosenberg, M. B. (2013) Das können wir klären! Wie man Konflikte friedlich und wirksam lösen kann. Gewaltfreie Kommunikation: Die Ideen & ihre Anwendung. Paderborn: Junfermann. Shazer, S. de (1989). Der Dreh. Überraschende Wendungen und Lösungen in der Kurzzeittherapie. Heidelberg: Carl Auer Systeme. Storch, M., Krause, F. (2016). Ressourcen aktivieren mit dem Unbewussten. Bern: Hogrefe. Weinblatt, U. (2016). Die Nähe ist ganz nah! Scham und Verletzungen in Beziehungen überwinden. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Winnicott, D. (1964). The child, the family and the outside world. London: Pelican Books.

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Literatur



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