Raumkult - Kultraum: Zum Verhältnis von Architektur, Ausstattung und Gemeinschaft 9783839446973

Museums, libraries, monuments and wedding chapels etc. are discussed as new places of worship and auratic places of comm

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German Pages 258 Year 2019

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Table of contents :
Inhalt
Raumkult – Kultraum. Zum Verhältnis von Architektur, Ausstattung und Gemeinschaft. Editorial
Günter Rombold (2. Jänner 1925 – 10. Dezember 2017). Sammler, Kunstwissenschaftler und Kirchenbauer
Der heilige Ort im Christentum. Grußwort
I. Gemeinschaft und Kultraum / Architektur und Raumkult
Öffentliche Bauten als (Kult-)Orte der Gemeinschaft. Sakralisierungsprozesse in der Architektur
II. Raumkult: Auratische Orte der Gemeinschaftsstiftung
II. Raumkult: Auratische Orte der Gemeinschaftsstiftung
Vauban und Ledoux in Regionalmuseen oder: Architektur und politische Raumbildung als museale Herausforderung. Ein Gedankenspiel
Geborgte Heiligkeit, gebaute Romantik. Die japanische Hochzeitskapelle als auratischer Raum?
Transformation und Manifestation. Ritual in Tadao Andos Chichu Art Museum
Schauplatz des Wissens. Die sozialräumlichen Funktionen von Bibliotheksarchitektur
Zur Dualität des Raumes im 21. Jahrhundert
III. Kultraum: Sakralbau und seine Verheutigung
Kirchen und andere Kulträume
Der Kult im Raum und Räume für den Kult: Der Neubau von St. Florian in Wien (1961– 63) im Kontext von Reformkonzepten des II. Vaticanum
Citykirchenprojekte. Räume urbaner kirchlicher Präsenz zwischen Anpassung und Abgrenzung säkularer Umwelten
WOHNraum Kirche? Schnittstellen zwischen ästhetischen Praktiken des Alltäglichen und des Sakralen
„Weg ist weg“. Was bleibt, wenn Kirche geht
Aurora – Aurum – Aura
Temporäre Kunst im Kultraum: Transzendenz-Erleben als Wahrnehmungsdialog von Kultur und Religion
IV. Anhang
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Raumkult - Kultraum: Zum Verhältnis von Architektur, Ausstattung und Gemeinschaft
 9783839446973

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Maximiliane Buchner | Anna Minta [Hg.]

Raumkult _ Kultraum Z u m Ve r h ä l t n i s v o n A r c h i t e k t u r, Ausstattung und Gemeinschaft

Linzer Beiträge zur Kunst wissenschaf t und Philosophie  Band 10 Monika Leisch-Kiesl I Stephan Grotz [Hg.]

Fakultät für Philosophie und für Kunstwissenschaft KATHOLISCHE PRIVAT U N IVERSITÄ T LINZ

Beirat: Artur Boelderl, Klagenfurt Ludwig Nagl, Wien Birgit Recki, Hamburg Sigrid Schade, Zürich Anselm Wagner, Graz

Maximiliane Buchner | Anna Minta [Hg.]

Raumkult _ Kultraum Z u m Ve r h ä l t n i s v o n A r c h i t e k t u r, Ausstattung und Gemeinschaft

Die Publikation wurde gefördert mit freundlicher Unterstützung von: Bischöflicher Fonds zur Förderung der Katholischen Privat-Universität Linz Günter Rombold Privatstiftung Energie AG

Umschlagabbildung: Objekt: Interior of the National Theatre, London (DP099818) Architekt: Denys Lasdun, 1967–76 Fotograf/Urheber des Fotos: James O. Davies Courtesy: English Heritage

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2019 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung und Layout: Designstudio LUCY.D, Wien Satz: BK Layout+Textsatz, Rutzenmoos (A) Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN: 978-3-8376-4697-9 PDF-ISBN: 978-3-8394-4697-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

7 Raumkult – Kultraum. Zum Verhältnis von Architektur,

Ausstattung und Gemeinschaft. Editorial Maximiliane Buchner | Anna Minta Günter Rombold (2. Jänner 1925 –   10. Dezember 2017). Sammler, Kunstwissenschaftler und Kirchenbauer Monika Leisch-Kiesl 13



Der heilige Ort im Christentum. Grußwort Rektor Franz Gruber



I. Gemeinschaft und Kultraum / Architektur und Raumkult

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Öffentliche Bauten als (Kult-)Orte der Gemeinschaft. Sakralisierungsprozesse in der Architektur Anna Minta 23



II. Raumkult: Auratische Orte der Gemeinschaftsstiftung

47 „PRESENTE!“ Kult und Raum im Italien des Faschismus Klaus Tragbar

Vauban und Ledoux in Regionalmuseen oder: Architektur und politische Raumbildung als museale Herausforderung. Ein Gedankenspiel Brigitte Sölch 61

Geborgte Heiligkeit, gebaute Romantik. Die japanische Hochzeitskapelle als auratischer Raum? Beate Löffler 79

Transformation und Manifestation. Ritual in Tadao Andos Chichu Art Museum Linda Schiel 97

Schauplatz des Wissens. Die sozialräumlichen Funktionen von Bibliotheksarchitektur Tina Zürn 111

129 Zur Dualität des Raumes im 21. Jahrhundert Marion Starzacher

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III. Kultraum: Sakralbau und seine Verheutigung

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Kirchen und andere Kulträume Bischof Manfred Scheuer



Der Kult im Raum und Räume für den Kult: Der Neubau von St. Florian in Wien (1961–  63) im Kontext von Reformkonzepten des II. Vaticanum Maximiliane Buchner 157

Citykirchenprojekte. Räume urbaner kirchlicher Präsenz zwischen Anpassung und Abgrenzung säkularer Umwelten Veronika Eufinger 171

WOHNraum Kirche? Schnittstelle zwischen ästhetischen Praktiken des Alltäglichen und des Sakralen Irene Nierhaus 187

„Weg ist weg“. Was bleibt, wenn Kirche geht Karin Berkemann

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Aurora – Aurum – Aura Georg Maria Roers SJ

Temporäre Kunst im Kultraum: Transzendenz-Erleben als Wahrnehmungsdialog von Kultur und Religion Annegret Kehrbaum 235



IV. Anhang

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Autorinnen und Autoren

Raumkult – Kultraum. Zum Verhältnis von Architektur, Ausstattung und Gemeinschaft. Editorial Maximiliane Buchner | Anna Minta

Das Verständnis vom tradierten Kultraum als Manifestation von Transzendenz- und Gemeinschaftsvorstellungen scheint im Umbruch begriffen. Alternative Konzepte der Vergemeinschaftung, die häufig religiöse Referenzsysteme inkorporieren, entwickeln heute in (post-)traditionalen und (post-)säkularen Gesellschaften weitreichende mobilisierende Kräfte. Neue auratische Räume werden zu soziokulturellen Orten der Gemeinschaft und entstehen durch unscharfe Grenzen zwischen Kategorien wie Nation, Politik, Geschichte, Kultur und Religion. Die Beiträge des Sammelbandes gehen auf eine interdisziplinäre Tagung an der Katholischen Privat-Universität Linz im März 2018 zurück, die von Maximiliane Buchner und Anna Minta am Institut für Geschichte und Theorie der Architektur organisiert wurde. Die Konzeption dieser Tagung baute auf Forschungen des vom Schweizerischen Nationalfonds finanzierten Projektes Heilige Räume in der Moderne. Transformationen und architektonische Manifestationen (2014  –18) unter der Leitung von Univ.-Prof. Dr. Anna Minta auf. Die vorliegende Publikation Raumkult – Kultraum diskutiert religiös-auratische Raumkonzepte sowohl bestehender Sakraltopografien als auch neukonstituierter Kulträume in ihren ideologischen Konzeptionen im 20. und 21. Jahrhundert. Bauen ist als Gestaltung von Gemeinschaft zu verstehen. Architektur und Städtebau sind Raumkünste, die als ästhetische Praxis Lebens- und Handlungsräume gestalten. Kultorte respektive auratische Räume heben sich aus alltäglichen Ordnungsstrukturen heraus und besitzen besondere Bedeutung für die Gemeinschaft. Als Raum sozialer Praxis und Alteritätswahrneh-

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mung vermitteln sie kollektive Wertsysteme, die das Selbstverständnis und das soziale Handeln der Gemeinschaft prägen. Die Beiträge dieser Publikation untersuchen die materielle Dimension solcher kulturanthropologischen Prozesse: Welche Architektur, welche Raumkonzepte und welche Ausstattung erfahren Orte des ‚Außer-Alltäglichen‘, damit sie gemeinschaftsstiftende Qualitäten entfalten können? Das Verhältnis von Raum, Kult und Gemeinschaft wird dabei aus interdisziplinären Perspektiven diskutiert. In der Publikation präsentieren etablierte Wissenschaftler*innen sowie Nachwuchswissenschaftler*innen innovative Forschungsprojekte und kritische Reflektionen über das Verhältnis von Mensch, Gemeinschaft, Raum und Religion. Autor*innen aus der Kunst- und Kulturwissenschaft, Theologie, Denkmalpflege und den Religionswissenschaften greifen Theorien der Raumund Religionssoziologie sowie der Kulturanthropologie auf, um die zentrale Bedeutung von öffentlichen Räumen und deren sinnstiftende Bedeutung für die Gesellschaft zu diskutieren. Der Sammelband Raumkult – Kultraum ist in drei thematisch Sektionen gegliedert: Unter den Schlagworten Gemeinschaft und Kultraum / Architektur und Raumkult wird einführend nach dem Verhältnis von Architektur und Gesellschaft aus kunstwissenschaftlicher und raumsoziologischer Perspektive gefragt. Ausgehend von einer Verantwortung von Architektur zur Konstitution von Raum als gebaute Umwelt und sozialer Handlungsraum ist nach dem Spezifikum heiliger und/oder auratischer Orte und ihrer Bedeutung für Gemeinschaften zu fragen. Dem Forschungsansatz der „travelling concepts“ folgend, stehen der Übertrag kulturanthropologischer Konstruktionen von Heiligkeit und ihre Auswirkungen auf soziale Gesellungsformen und architektonische Manifestationen (Beitrag Anna Minta) im Zentrum. Der Hauptteil der Publikation ist bautypologisch in Profanund Sakralbau gegliedert. Im Themenbereich Raumkult: Auratische Orte der Gemeinschaftsstiftung werden öffentliche Institutionen nach ihrer gemeinschaftsstiftenden Funktion befragt und ihre architektonische Formgebung und räumliche Inszenierung hinterfragt. In Anlehnung respektive Abgrenzung zu Kir-

Editorial | Maximiliane Buchner . Anna Minta

chen als tradierte Sakralorte werden damit Alternativorte der Gemeinschaftsstiftung und Alteritätserfahrung in großer Bandbreite präsentiert und auf ihre architektonischen Strategien, ideologischen Verfasstheiten und stadträumlichen Verortungen befragt. Weltvorstellungen und Konzepte der Leere/des leeren Raums bilden seit der Antike das Gegenbild zum materiellen Raum (Beitrag Marion Starzacher). Leere scheint neben auratisierender Lichtführung, mystifizierenden Raumstrategien und Tendenzen der Monumentalisierung zum Repertoire sakralisierender Architekturkonzepte zu gehören, wie es beispielsweise in Museumsbauten (Beitrag Linda Schiel) deutlich wird. Regionalmuseen (Beitrag Brigitte Sölch) können im Prozess der politischen Raumbildung das Verhältnis von Zentrum und Peripherie dynamisch beeinflussen und – nicht zuletzt über die Heraushebung und Auratisierung einzelner Persönlichkeiten oder Phänomene – zu einem ganz eigenen Ort der Identitätsstiftung werden. Während Visionen von Museen und Bibliotheken (Beitrag Tina Zürn) als Kunst- und Bildungstempel bis in die Romantik zurückgeführt werden können, so lassen sich politisch-ideologische Konzepte gemeinschaftsstiftender Heterotopien besonders in totalitären Systemen des 20. Jahrhunderts beobachten. Der Märtyrerkult und dessen monumentale Architekturinszenierung im faschistischen Italien (Beitrag Klaus Tragbar) übernehmen vielfach sakrale Gestaltungsmotive. In der Sehnsucht der Inszenierung auratischer ‚Anders-Orte‘ verschwimmen die Grenzen profaner und sakraler Räume und Rituale. Das dokumentieren alle Beispiele, insbesondere aber einige japanische Hochzeitsräume, in denen explizit Motive christlicher Kapellen kopiert werden (Beitrag Beate Löffler). Der dritte Themenbereich Kultraum und seine Verheutigung widmet sich dem christlichen Kirchenbau und diskutiert Initiativen, durch zeitgenössische Kunstinterventionen und die Neugestaltung liturgischer Orte das gemeinschaftsstiftende Potential von Kirchen zu erhöhen und dem Ideal der „communio“ anzunähern. Dabei wird neben Fragen nach neuen Formen gebauter und gelebter Kirche insbesondere auch das Verhältnis von Architektur, Kunst und Liturgie verhandelt. Wird die Bedeutung des Ortes gegenüber der Wirkungsmacht der Gemeinschaft und der Feier in historischer und auch heutiger Perspektive grundsätz-

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lich relativiert (Beitrag Manfred Scheuer und Grußwort Franz Gruber), so ist jedoch gegenwärtig zu beobachten, dass über zeitgenössische Kunstinterventionen der Raum als Medium atmosphärischer Stimmung und Grundlage ästhetischer Selbsttranszendierung (Beiträge Annegret Kehrbaum und Georg Maria Roers SJ) in seiner gemeinschaftsstiftenden Qualität verstärkt werden soll. Während insbesondere Kirchenbauten der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts um neue Formen, Raum- und Liturgiekonzepte rangen (Beitrag Maximiliane Buchner), engagieren sich seit einiger Zeit Bewegungen wie die City-Kirchen (Beitrag Veronika Eufinger) für den Abbau von Schwellen zwischen dem Heiligen und dem Profanen, um Kirche in das alltägliche Leben zurückzubinden. Das Bedürfnis nach alltäglichen Räumen respektive des Alltäglichen im Sakralraum durch zum Teil sehr persönliche Ausstattungselemente (Beitrag Irene Nierhaus), stigmatisiert als „Verwohnzimmerung“, steht dabei häufig im Konflikt zur Inszenierung heiliger Räume in scharfer Abgrenzung zum Profanen. Dies wird auch in aktuellen Kontroversen um die Gewichtung von Denkmalschutz gegenüber den Bedürfnissen der Neuverhandlung liturgischer Ausstattungen und partizipativer Aneignung von Kirchenräumen durch die Gemeinden deutlich. Solche Kontroversen nehmen derzeit insbesondere im Hinblick auf die Kirchenbauten des 20. Jahrhunderts und ihre Denkmalwürdigkeit stark zu, so dass diese Publikation zu einer offenen Diskussion über Kunst, Tradition, Modernisierung und aggiornamento sowie den Fragen der Umnutzung von Sakralbauten (Beitrag Karin Berkemann) beitragen möchte. Die Publikation liefert einen wichtigen Beitrag zur Analyse des Verhältnisses von Architektur und Gesellschaft, indem sie aus interdisziplinären Perspektiven die gesellschaftlichen Funktionen von öffentlichen Institutionen diskutiert und die architektonischen Manifestationen auf ihren ideologischen Gehalt befragt. In den aktuell teils hoch kontrovers geführten Debatten um Umbauten bestehender sakraler wie profaner Institutionen trägt die Publikation dazu bei, den baukünstlerischen Wert öffentlicher Bauten hervorzuheben und ihren soziopolitischen wie kulturellen und/oder religiösen Zeugnischarakter darzustellen. Die Publikation ist Univ.-Prof. Dr. Günter Rombold († 2017) gewidmet, der bereits in den 1960er Jahren mit seinen Konzep-

Editorial | Maximiliane Buchner . Anna Minta

ten zu einer Kirche der Zukunft – als Raum und Gemeinschaft – und seinen Überlegungen zum Verhältnis des Sakralraums zu Mensch und Gemeinschaft (Beitrag Monika Leisch-Kiesl) wichtige Denkanstöße auch für diese Publikation gegeben hat. Die Herausgeberinnen danken den Förderinnen und Förderern der Tagung und der Publikation. Der Schweizerische Nationalfonds finanzierte von 2014  –18 das von Univ.-Prof. Dr. Anna Minta geleitete Projekt Heilige Räume in der Moderne. Transformationen und architektonische Manifestationen, das zunächst am Kunsthistorischen Institut der Universität Zürich, ab 2017 an der Katholischen Privat-Universität Linz angesiedelt war und die zentrale Forschungsgrundlage bildet. Der KU Linz, vor allem der Verwaltungsdirektorin Monika Höller, sei für die Aufnahme und uneingeschränkte Unterstützung des Forschungsprojektes und der Tagung gedankt. Die Tagung und Publikation wurden zudem mit der finanziellen Förderung durch die Günter Rombold Privatstiftung, den Bischöflichen Fonds zur Förderung der Katholischen Privat-Universität Linz, die Energie AG Oberösterreich, Linz und den Verband österreichischer Kunsthistorikerinnen und Kunsthistoriker (VöKK) ermöglicht. Roswitha Leitner und Bernhard Kagerer danken wir für die professionelle Zusammenarbeit beim Satz. Zu danken ist weiterhin den Mitarbeiter*innen am Institut für Geschichte und Theorie der Architektur der KU Linz, Dr. Jörg Matthies und Dr. Julia Rüdiger, der Doktorandin Louise Malcolm sowie den studentischen Hilfskräften, Raphaela Hemetsberger und Laura Höllhumer, die die Durchführung der Tagung und die Vorbereitung der Publikation engagiert unterstützt haben.

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Günter Rombold (2. Jänner 1925 –  10. Dezember 2017). Sammler, Kunstwissenschaftler und Kirchenbauer Monika Leisch-Kiesl

Günter Rombold war nicht nur ein engagierter Theologe und Priester, sondern auch ein leidenschaftlicher Sammler zeitgenössischer Kunst, ein akkurater Kunstwissenschaftler und Hochschullehrer, und: ein Wegbereiter moderner Architektur. Günter Rombold wurde am 2. Jänner 1925 in Stuttgart geboren und kam 1941 mit seiner Familie nach Linz. Nach der Matura leistete er bis 1945 Kriegsdienst, studierte dann Theologie in Linz und wurde 1949 zum Priester geweiht. Anschließend folgten das Doktoratsstudium der Theologie in Graz (Promotion 1954) und das Studium der Philosophie und Kunstgeschichte in München (Promotion 1958). Rombolds akademische Laufbahn begann zunächst mit Lehraufträgen für Christliche Kunst in Graz und in Linz; 1972 –1995 war er Ordinarius für Philosophie an der Katholisch-Theologischen Hochschule Linz (heute: Katholische Privat-Universität Linz). 1984 gründete er das „Institut für Kunst und Kirchenbau“, welches 2005 in das Institut für Kunstwissenschaft und Philosophie mit Graduierungsrecht überführt wurde (seit 2015: Fakultät für Philosophie und für Kunstwissenschaft). Zwei Schwerpunkte seiner universitären Lehre galten der Architektur: Unter dem Stichwort Mensch und Raum suchte er einen anthropologischen Zugang zum profanen sowie sakralen Bauen. Als das Gros kunstgeschichtlicher Forschung noch mit Stilfragen und Meisterbauten befasst war, stellte er Fragen nach der Orientierung im Raum, nach dem menschlichen Wohnen und nach Ritual und Fest. Den modernen Kirchenbau erschloss er den Studierenden sowohl unter einer theologischen als auch

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einer architektonischen Perspektive. Dabei wusste er wohl konfessionelle Besonderheiten zu unterscheiden, dachte im Grunde seines Herzens aber stets ökumenisch. Vor allem war er fasziniert von dem breiten Spektrum, mit dem Architekten die Her­ ausforderungen des II. Vaticanum zu beantworten suchten. Bedingungen für den Kirchenbau waren für ihn weder die Religionszugehörigkeit des Architekten, noch – über die liturgischen Erfordernisse hinausgehende – ikonografische Auflagen; was zählte, waren einzig und allein die architektonische und künstlerische Qualität. Diese Begeisterung für die Moderne (und später die Postmoderne) sowie sein Credo für Qualität verfolgte er auf mehreren Ebenen. Neben der universitären Lehre und diese unterstützend legte er eine Foto- und Diasammlung des internationalen modernen Kirchenbaues an, die ihresgleichen sucht. Im Zentrum steht dabei die Auseinandersetzung mit dem Original. Nicht nur reiste er selbst viel – wovon die erwähnte Foto- und Diathek ein beredtes Zeugnis ablegt, er führte auch die Studierenden unermüdlich in situ an die gebauten Räume und architektonischen Besonderheiten heran. Günter Rombold reflektierte die Bedeutung des Kirchenbaus auch auf der Ebene wissenschaftlicher Publikationen, mit denen er jedoch ein breiteres Publikum als nur den engen Kreis von Expert*innen zu erreichen suchte: Kirchen für die Zukunft bauen. Beiträge zum neuen Kirchenverständnis (1969) war – nach den akademischen Abschlussarbeiten – seine erste Monografie. Im Zuge seiner Tätigkeit als Redakteur zunächst der Christlichen Kunstblätter (1958  –1970), dann Redakteur (1971–1990) und in der Folge (Mit-)Herausgeber (1991–1998) der daraus hervorgegangenen ökumenischen Zeitschrift kunst und kirche begleitete er nicht nur kontinuierlich die Entwicklungen kirchlichen Bauens, sondern meldete sich zunächst mit Grundsatzbeiträgen zu Wort und widmete in Folge (im Zusammenspiel mit zwei bis vier weiteren Redakteuren) einzelne Themenhefte Fragestellungen der Architektur und des Kirchenbaus: „Der neue Kirchenbau in Süddeutschland“, „Gegensätzliche Tendenzen im heutigen Kirchenbau“, „Theologische Prinzipien des Kirchenbaues“ (1966), „Einige Anmerkungen zum Schweizer Kirchenbau“ (1967), „Zum Problem des Sakralen und des Profanen“, „Malerei und Plastik im

Günter Rombold | Monika Leisch-Kiesl

Kirchenraum“ (1968), „Das Zukunftsweisende im Werk Emil Steffans“ (1969), „Raum und Bewegung. Österreichs Kirchenbau am Beginn der siebziger Jahre“, „This Happy New England. Impressions of a Journey to New English Churches“ sowie „Fünf Thesen zum kirchlichen Mehrzweckraum“ (1970) sind Titel zentraler Aufsätze der späten 1960er Jahre in den Christlichen Kunstblättern. „Noch für die Kirche bauen?“ war die Fragestellung der ersten Nummer der ab 1971 in ökumenischer Herausgeberschaft erscheinenden Zeitschrift kunst und kirche. Es folgten: „Liturgie als Fest“ (1971), „Architektur und Kreativität“ (1972), „Gemeinsam planen“ (1973), „Aufgabe Kirchenzentrum: unlösbar?“ (1974), „Das Wohnen und die Kirche“ (1977), „Kirchenbau: Ende der Diskussion?“ (1978), „Alte und neue Kirchen in der DDR“ (1980), „Raum geben“ (1983), „Ort – Zumutung und Chance“ (1984), „Architektur und Symbol heute“ (1985), „Kirchen der 80er Jahre“ (1989), „Alt und neu im Dialog“ (1992), „Raumerfahrung“ (1993), „Raum und Klang“ (1995), „Qualität versus Banalität“ (1996) sowie „Obdach geben“ (1998) – um einige markante Titel der 1970er, 1980er und 1990er Jahre herauszugreifen. Was aus diesem Querschnitt deutlich wird, ist Günter Rombolds Fähigkeit, konkretes Bauen mit anthropologischen und ästhetischen Fragen zu verknüpfen beziehungsweise die beiden Zugänge aneinander zu messen. Als beharrlicher Berater kirchlicher Gremien gelang es ihm nicht zuletzt, die Gestaltung der Chorfenster der Pfarrkirche Enns durch Markus Prachensky zu erwirken (1975). Für sein jahrzehntelanges Wirken im Dienste eines Brückenschlags zwischen Kunst und Kirche erhielt er eine Reihe von Auszeichnungen, darunter den Landeskulturpreis für Wissenschaften (2002). Er war stets ein aufmerksamer und herausfordernder Gesprächspartner – seine Offenheit für das Neue und oft auch Unbequeme ist das Vermächtnis, das er uns hinterlassen hat.

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Der heilige Ort im Christentum. Grußwort Franz Gruber, Rektor der Katholischen Privat-Universität Linz

Mit diesem Sammelband, dem die Tagung Raumkult – Kultraum im März 2018 vorausging, gibt das junge kunstwissenschaftliche Institut für Geschichte und Theorie der Architektur ein kräftiges Lebenszeichen und einen wichtigen Impuls, sowohl in unsere Universität als auch in die Fachwelt hinein. Das ist ganz im Sinne des Selbstverständnisses der Katholischen Privat-Universität Linz, in der auf neue Weise alte Wissenschaften und Disziplinen wie Theologie, Philosophie und Kunstwissenschaft nicht nur unter einem Dach arbeiten, sondern sich auch gegenseitig beleben, befragen und herausfordern. Das Projekt Heilige Räume in der Moderne wurde unter der Leitung von Anna Minta 2014 an der Universität Zürich als Forschungsvorhaben begonnen und vom Schweizerischen Nationalfonds gefördert. Die klassische Dimension so genannter „Heiliger Räume“, und das heißt in diesem Kontext auch der christliche Sakralbau, blieben hier noch weitgehend unberücksichtigt. Mit dem Transfer des Forschungsprojektes an die Katholische Privat-Universität Linz und dem hiesigen Fächerangebot hat sich das Forschungsthema erweitert: Insbesondere im Austausch mit der Theologie sind die Forschungen nun stärker komparativ orientiert und vergleichen Kirchen als tradierte Sakralorte und Kirchen in der Moderne mit Angeboten auratischer Alternativorte. Das Projekt ist darüber nun in einen größeren Diskurskontext eingebettet. Denn die Thematik Raumkult – Kultraum berührt Dimensionen, die grundlegend zu unserem Menschsein gehören. Insofern leisten die Aufsätze dieses Sammelbandes einen wichtigen Beitrag zur Klärung unseres kulturellen Selbstverständnisses.

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Das Eigentümliche des Raumes und in Folge die den Raum gestaltende und bearbeitende Architektur liegt unter anderem darin, dass wir es hier mit einem anthropologischen Referenzrahmen par excellence zu tun haben. Für die Theologie ist es selbstverständlich, dass der Kultraum eine primordiale Größe für Religion und Kirche ist. Aber vor dem Kultraum sind zumindest kulturgeschichtlich und paläoanthropologisch der Raum und menschliche Gemeinschaften nochmals vorgeordnetere Kategorien. In meinem Verständnis ist der Kult eine besondere Entwicklung von Raumerfahrung und Raumgestaltung, von Gemeinschaftserfahrung und Subjektivitätserfahrung. Einen Raum als sakral zu gestalten und zu definieren, Räume als Erfahrung des Heiligen wahrzunehmen, setzt schon besondere mentale Konzepte von Raum und Sakralität voraus. Dass aber beides zu unterscheiden ist, dass das eine ohne das andere möglich ist, zeigen zwei Beispiele der Religions- und Kulturgeschichte der letzten 2500 Jahre. Mit der Entstehung des biblischen Monotheismus wurde erstmals eine Schwelle überschritten, Sakralität ohne Räumlichkeit zu denken. Das Judentum ist die erste in den Westen ausstrahlende Weltreligion, die Transzendenz ohne deren Präsenz in einem zentralen Kultraum, dem Tempel, denkt und ausbuchstabiert. Der Verlust des Tempels führte von einem Monotheismus des Kultraums zu einem Monotheismus der Personalität: Als Ebenbild Gottes ist der Mensch als einzig legitime Statue (saelaem) definiert, die Transzendenz repräsentiert (siehe Genesis 1,26 ff.). Es liegt in dieser theologischen Linie, dass auch die Glaubensgemeinschaft nun mit Sakralität aufgeladen wird, das heilige Volk Gottes übernimmt die Rolle der Präsenz des Transzendenten. Das Christentum radikalisiert diese Linie insofern noch einmal, als es in Jesus von Nazaret den „Sohn Gottes“ designiert. Er bedeutet ekklesiologisch zunächst das grundsätzliche Ende der Geltung von Sakralräumen per se, und das Urchristentum kannte dementsprechend auch keinen sakralen Kultraum, sondern feierte seinen Kult in profanen Lebensräumen. In diesem Sinne nimmt das Christentum eine gewisse Modernität vorweg, die erst mit der Säkularisierung wieder zur Geltung kommt: die Entkopplung des Individuums und der Gesellschaft von Kulträumen. Ich halte diese Entflechtung für grundle-

Der heilige Ort im Christentum | Franz Gruber

gend, weil nur sie Freiheit garantiert. Die abendländische Christenheit hat diese Entflechtung nicht durchgehalten mit den unvermeidbaren Folgen der Wiederverschmelzung von Religion und Politik, von Gemeinschaft und Sakralität. Wir verdanken es wesentlich der Aufklärung, den ursprünglichen Freiheitsimpuls wieder zur Geltung gebracht zu haben. Aber genauso lehrreich ist die jüngere Geschichte. Sie zeigt in dramatischer Anschaulichkeit, was geschieht, wenn in säkularen Kulturen diese grundsätzliche Freiheit missachtet wird: Architektur wird dann zum expressiven Instrument totalitärer Regime oder Interessen. Wenn wir in diesen Gedenktagen „1938  –2018“ des 80jährigen Anschlusses Österreichs an HitlerDeutschland gedenken, kommen wir nicht umhin, uns bewusst zu machen, dass das Zeichensystem „Raum – Gemeinschaft – Kult“ totalitär und freiheitsverachtend missbraucht werden kann. Darum müssen wir achtsam bleiben dafür, wo Orte des „Außeralltäglichen“ nicht Hinführung zur freien Entfaltung und damit zum Respekt vor dem Anderen, vor der Alterität, bedeutet, sondern zur Auflösung des Individuums in ein Kollektiv führt, das sich mit einer quasi-sakralen Aura auflädt. Deshalb bedarf jede Expressivität, in welcher Form auch immer, stets der kritischen Diskursivität. Das kritische Denken ist jene Instanz, die dem expressiven Ausdruck eine Normativität verleihen kann, sich als humanitären Vollzug zu entfalten. Denn auch die Kunst, so wie jedes Medium, wie jeder Mensch, ist verführbar. Der Brückenbegriff „Kult“ zwischen den Polen „Raumkult“ und „Kultraum“ behält darum eine schillernde Stellung. In diesem Sinne sind denn auch Kunstwissenschaft, Philosophie und Theologie aufeinander angewiesen, auf reflexive Weise dafür Sorge zu tragen, dass die eigentümliche Fähigkeit der Spezies Mensch, den Dingen, der Welt „Be-Deutung“ zu verleihen, daraufhin ausgerichtet bleibt, alles, was ist, offen zu halten für Neues, Anderes, noch nie Gedachtes und Gebautes. Wohl wird es nie gelingen, das „Barbarische“ aus unserer Kultur frei zu halten, um an das bekannte Diktum von Walter Benjamin zu erinnern, dass es kein Dokument der Kultur gebe, „ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein“ (Über den Begriff der Geschichte, 1940). Aber im Gedächtnis und Bewusstsein an geschehenes und mögliches Unrecht kann kritische Reflexion wachsam blei-

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ben für Bedeutungen, in denen der Mensch sich selbst verliert und zum Unwesen mutiert. Kulträume und Raumkult würden in diesem Sinne Orte und Konzepte sein, den Menschen immer wieder vor eine unabschließbare Dimension zu stellen, die über ihn hinausreicht und jede Identität, jede Identifikation aufbricht. Wenn dies gelingt, darf auch der Diskurs einschwingen in ein staunendes, ergriffenes oder auch erschüttertes Schweigen.

I. G  emeinschaft und Kultraum / Architektur und Raumkult

Öffentliche Bauten als (Kult-)Orte der Gemeinschaft. Sakralisierungsprozesse in der Architektur Anna Minta

In vielen Bereichen der westlichen Gesellschaft scheint die Strategie wirksam, über das Referenzieren auf Sakralbauten wie Kirchen und Tempel oder die Namengebung als Kathedrale die symbolische Überhöhung eines Gebäudes oder einer Institution erzielen zu wollen. Dies ist auch in Zeiten der Säkularisierung zu beobachten, in denen die Religion und ihre Institutionen stark in ihren Idealen und ihrer gesellschaftlichen Position hinterfragt werden. In der Zeit nach 1900 manifestieren sich Versuche der Nobilitierung durch Sakralisierung in verschiedenen Bauprojekten. Von 1909   –13 entstand in New York das Woolworth Building als Hauptsitz des gleichnamigen Handelsunternehmens. Architekt Cass Gilbert hatte ein Hochhaus in neogotischer Formensprache entworfen, das bis 1930 als das höchstes Gebäude der Welt die Skyline von New York dominierte. Aufgrund seiner Kirchenähnlichkeit, den neogotischen Formen und der Bauskulptur, aufgrund seiner vertikalen Dynamik sowie der gold- und mosaikbetonten Innengestaltung erhielt das Hochhaus den Namen „Cathedral of Commerce“. 1917/18 erschien dazu eine golden geprägte Schrift (Abb. 1) unter diesem Titel, in dem der Theologe und Prediger S. Parkes Cadman im Vorwort einen Sakraltransfer von der Religion auf Kommerz und Konsum beschrieb: „Just as religion monopolized art and architecture during the medieval epoche, so commerce has engrossed the United States since 1865.“1 Als Vergleiche zieht er 1

Parkes Cadman, S., Foreword, in: Cochran, Edwin A., The Cathedral of Commerce. The Highest Building of the World, New York 1917/18, 4  – 5. Vgl. auch Hammer-Schenk, Harold, Sakraltransfer: Kirchenbau und profane Sakralität in der Architektur der USA, in: Köth,

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Abb. 1: „Cathedral of Commerce“. Woolworth Building, New York, Cass Gilbert, 1909   –13, Broschüre 21920; © Privatbesitz A. Minta

Abb. 2: „Cathedral of Learning“, Pittsburgh, Charles Klauder, 1926  –37, Postkarte 1930er-Jahre; © Privatbesitz A. Minta

unter anderen den Parthenon in Athen, St. Peter in Rom, San Marco in Venedig, Notre Dame in Paris und St. Paul´s in London etc. als herausragende Monumente ihrer Zeit heran, um das Woolworth Building als ranggleiches Bauwerk „of rare beauty, devotion and civic pride“ zu beschreiben: „Their true value is not in stone nor in gold but in spiritual aspirations which they embodied and expressed.“ Nicht nur kommerzielle Bauten, sondern auch humanistische Projekte bemühen den Übertrag sakraler Raum-Charakteristika in die Profanarchitektur. Begleitet von ähnlichen rhetorischen Strategien – „to be more than a schoolhouse […] to be a symbol“ – entstand nach den Plänen von Charles Klauder 1926   –37 in Pittsburgh die „Cathedral of Learning“.2 (Abb. 2)

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Anke / Minta, Anna / Schwarting, Andreas (Hg.), Building America. Die Erschaffung einer neuen Welt, Dresden 2005, 181–  210. Hier auch der Verweis auf Emile Zolas Roman „Au bonheur des dames“ von 1883, in dem er Kaufhäuser als „cathedrale du commerce“ beschrieb. Rektor John Gabbert Bowmans zeitgenössische Beschreibung des Universitätshochhauses, zit. nach Bruhns, E. Maxine, University of Pittsburgh. Nationality Rooms, Pittsburgh 2012, 7. Vgl. auch Bowman, John G., The Cathedral of Learning of the University of Pittsburgh, Pittsburgh 1925.

Öffentliche Bauten als (Kult-)Orte der Gemeinschaft | Anna Minta

Auch hier wurden stilistische Referenzen zu gotischen Kathedralen herangezogen, um mit dem Universitätshochhaus nicht nur eine architektonische Dominante, sondern auch ein symbolisches Zeichen zu setzen. Der hybride Charakter solcher Architekturen, der eine Verunklärung einer bautypo­ logischen wie auch gesellschaftlichen Zuordnung als sakraler oder profaner Bau umschreibt, schlägt sich medial wirksam in der Encyclopedia Britannica in der Aus- Abb. 3: „Architecture, religious“, in: Encyclopedia Britannica, Vol. 1, London/New York 1926, gabe von 1926 nieder: Unter Tafel 6 dem Stichwort „Architecture (Religious)“ sind Abbildungen exemplarischer Bauwerke versammelt. (Abb. 3) Nur knapp die Hälfte aber sind Sakralbauten im traditionellen Sinn. Mit dem Lincoln Memorial (Henry Bacon, 1911–22) in Washington steht ein profanes Denkmal im Zentrum der Abbildungen. Als Tempel in klassizistisch anmutender Formensprache verleiht der Bau der teils göttlichen Verehrung des Staatsmanns und Märtyrers Abraham Lincoln einen architektonischen Rahmen, der die Verschleierung der Grenzen zwischen dem Profanen und dem Sakralen begünstigt.3 Auch heute noch lässt sich die Übertragung von Motiven und Referenzen aus dem sakralen Bereich in die profane Sphäre und Baukunst beobachten. Die Journalistin Nicola Kuhn schrieb 2013 über die Wiedereröffnung des Rijksmuseums in Amsterdam: Das zwischen 1876  –   85 von Pierre Cuypers als neogotisches Schatzhaus entworfene Museum sei nun nach den Restaurierungs- und Umbauarbeiten zur „Kathedrale des 21. Jahrhun-

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Zu Sakralisierungstendenzen in der staatlichen Baupolitik in den USA im 19. Und 20. Jahrhundert vgl. Minta, Anna, Staatsbauten und Sakralarchitektur in Washington/DC. Stilkonzepte patriotischer Baukunst, Berlin 2015.

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derts“ geworden.4 Mit ähnlicher Rhetorik berichtete die Journalistin Katharina Lindt 2018 von der Architekturausstellung russischer Sportstadien unter dem Titel „Kathedralen des Sports“.5 Und auch die Kirche, die traditionelle Bauherrin von Kathedralen, engagiert sich, ihre Sakralbauten den zeitgenössischen liturgischen und soziokulturellen Bedürfnissen anzupassen: Der seit 2013 geplante und kontrovers diskutierte Umbau der St. Hedwigs-Kathedrale in Berlin-Mitte wird als Vision einer „Kathedrale des 21. Jahrhunderts“ bezeichnet.6 In dem Einbau von Kapellen und anderen Sakralräumen in profanen Orten wie Fußballstadien, Flughäfen und Einkaufszentren etc. lässt sich der Versuch lesen, die Funktion und Bedeutung als religiöser Ort im Sinne einer Kathedrale wieder in den christlichen Kontext zurückzuführen. Nach einem Sakraltransfer in das Profane erfolgt nun ein Reimport: Sakralräume sollen als tradierte Orte des Glaubens, der Kontemplation sowie der Gemeinschafts-, Sinn- und Orientierungsstiftung im Zentrum profaner Aktivitäten stehen. Die Pläne von 2018, in dem neu zu bauenden Züricher Hardturmstadium eine Kapelle einzubauen, dokumentieren die Konkurrenz zwischen Religion und Fußball als Ersatz-Religion.7 Indem die Kirche nicht länger nur in den Gotteshäusern ihre Dienste anbietet, so Mämä Sykora, der Chefredaktor des Fußballmagazins ZWÖLF, sondern auch dahin geht, wo Menschen sind, findet eine Annäherung und letztendlich eine Restituierung der Sakralräume statt: „Stadionkapellen sind die Kathedralen des Sports“.8 4

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Kuhn, Nicola, Wiedereröffnung des Rijksmuseums. In der Kathedrale des 21. Jahrhunderts, in: Der Tagesspiegel. Berlin 11.04.2013, https://www.tagesspiegel.de/kultur/wiedereroeffnung-des-rijksmuseums-in-der-kathedrale-des-21-jahrhunderts/8054246-all.html [Stand 25.07.18]. Lindt, Katharina, Kathedralen des Sports: Ausstellung zum Wandel der Stadien Russlands, in: Moskauer Deutsche Zeitung 15.06.2018, https://mdz-moskau.eu/kathedralen-dessports-ausstellung-zum-wandel-der-stadien-russlands/ [Stand 25.07.18]. Zu Fußballstadien als auratisch-religiöser Ort vgl. Kreutzer, Ansgar, Wie gnädig ist der Fußballgott? Der Fußballplatz als religiöser Ort, in: Boelderl, Artur / Eder, Helmut / Kreutzer, Ansgar (Hg.), Zwischen Beautyfarm und Fußballplatz. Theologische Orte in der Populärkultur, Würzburg 2005, 203  – 224. Tietz, Jürgen, Eine Kathedrale des 21. Jahrhunderts. Umbauplanungen für Berlins St.-Hedwigs-Kirche, in: Neue Züricher Zeitung 24.02.2015. Simoni, Evi, Theologe Hans Küng: „Fußball macht der Religion Konkurrenz“, in: FAZ 24.12.2005, http://www.faz.net/aktuell/sport/mehr-sport/theologe-hans-kueng-fussballmacht-der-religion-konkurrenz-1280950.html [Stand 25.07.18]. Sykora, Mämä, Stadionkapellen sind die Kathedralen des Sports, Blog der Katholischen Kirche im Kanton Zürich, 29.05.2018, https://blog.zhkath.ch/seele/stadionkapellen-sinddie-kathedralen-des-sports/ [Stand 25.07.18].

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Die Übertragung sakraler Motive und die Indienstnahme sakraler Referenzsysteme findet in unterschiedlichen Formen, unter verschiedenen Umständen und mit vielfältigen Intentionen statt. Ob Nobilitierungs- und gesellschaftliche Geltungssucht, ob Bedeutungsanspruch in Konkurrenzsituationen, ob Evokation von idealisierten Traditionen und Vergangenheiten oder ästhetisches Bemühen um architektonisch-räumliche Ikonizität und die Steigerung der architektonischen Ausdrucks- und Wirkungsintensität: Hinter vielen Bauten und Projekten scheint die Sehnsucht nach dem Außeralltäglichen, dem Besonderen, dem Herausragenden bis hin zum Auratischen und Heiligen zu stehen. Dabei geht es nicht nur um das besondere ästhetische Erlebnis oder Spektakel in der Architektur, sondern häufig auch um die Suche nach einer Referenzgruppe und Identifikationsplattform, die ihren Ausdruck über die Architektur findet. Der Titel des Sammelbandes Raumkult – Kultraum verweist auf beide Komponenten. Nicht erst seit dem so genannten spatial turn, der einen Paradigmenwechsel in den Kultur- und Sozialwissenschaften seit Ende der 1980er Jahre beschreibt, wird der geografische Raum und damit auch der architektonisch geformte Raum als soziales Konzept und kulturelles Produkt in seiner Konstruiertheit kritisch hinterfragt.9 Bereits um 1900 ist von Kunst- und Architekturhistorikern wie August Schmarsow und Heinrich Wölfflin und Soziologen wie Georg Simmel auf theoretische, methodische und phänomenologische Ansätze aufbauend das Verhältnis von Mensch und Raum für das Konstituieren von räumlichen und sozialen Ordnungen diskutiert worden. Mit Schmarsow, der in der Analyse räumlicher Strukturen über Fragen nach Materialität, Proportion, Konstruktion und Tektonik des messbaren Raumes hinausging und anthropologische sowie wirkungsästhetische Theorien hinzuzog, änderte sich das Verständnis von Raum als kulturelle Anschauungsform und erleb-

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Vgl. beispielsweise Dünne, Jörg / Günzel, Stephan (Hg.), Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt am Main 2006; Döring, Jörg / Thielmann, Tristan (Hg.), Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Bielefeld 2008; Löw, Martina, Raumsoziologie, Frankfurt am Main 2009; Burbulla, Julia, Kunstgeschichte nach dem Spatial Turn: eine Wiederentdeckung mit Kant, Panofsky und Dorner, Bielefeld 2015; Günzel, Stephan, Raum. Eine kulturwissenschaftliche Einführung, Bielefeld 2017.

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tes Raumbild.10 Diese Zusammenführung von Raumwahrnehmung als Wirklichkeitsaneignung und ästhetischer (Wirkungs-) Theorien ist für Architekt*innen, Künstler*innen und Auftraggeber*innen grundlegend für die Imagination und Materialisation besonderer – kollektiver, heiliger und auratischer – Räume. Die Frage nach den Orten von Gemeinschaft, ihrer Bedeutung und Beschaffenheit wird heute erneut kritisch gestellt.11 Dazu werden soziologische und kulturwissenschaftliche Theorien zu Gesellungsformen von Gesellschaft und Gemeinschaft herangezogen und Facetten der Formation von Gruppenzugehörigkeit, Identität und Distinktion ausgelotet. Zudem erfolgen kulturanthropologische Annäherungen an Fragen der sozialen Ordnungs- und Wertkonstruktionen sowie der Bedeutung von individueller und kollektiver Orientierung. Und nicht zuletzt setzen verstärkt theologische wie kultur- und kunstwissenschaftliche Diskussionen um Raum und Ritual ein. Folglich lenkt der Titel Raumkult – Kultraum der vorliegenden Publikation mit dem Stichwort „Raumkult“ die Aufmerksamkeit auf den dem Raum zugeschriebenen Einfluss in der Formierung sozialer Gemeinschaften. Der Raum, so die weitgehend einstimmige Haltung seit dem spatial turn, besitzt Wirkungsmacht und übt in seiner Ausstattung, Inszenierung und atmosphärischen Disposition sowohl auf Individuen als auch Gruppen in ihrer sozialen Ordnung und soziokulturellen Orientierung Einfluss aus. „Kultraum“ wiederum fragt nach den Orten und Institutionen, die von besonderem Wert für Gemeinschaften und für das Zugehörigkeitsgefühl von Individuen zu Gemeinschaften sind. Mit dem Infragestellen von Kirche und Staat als tradierte identifikationsstiftende Paradigma vervielfältigt sich das Angebot der Konstruktion von Gruppenzugehörigkeit und damit auch das Angebot an Kultorten.

10 Zug, Beatrix, Die Anthropologie des Raumes in der Architekturtheorie des frühen 20. Jahrhunderts, Tübingen 2006; Führ, Eduard, Architektur/Städtebau, in: Günzel, Stephan (Hg.), Raumwissenschaften, Frankfurt am Main 2009, 46  –  60. 11 Vgl. beispielsweise Hasse, Jürgen, Was Räume mit uns machen – und wir mit ihnen. Kritische Phänomenologie des Raumes, Freiburg/München 22015. Fischer, Joachim /  Delitz, Heike (Hg.), Die Architektur der Gesellschaft. Theorien für die Architektursoziologie, Bielefeld 2009. Überblicksartig vgl. Hauser, Susanne / Kamleithner, Christa / Meyer, Roland (Hg.), Architekturwissen. Grundlagentexte aus den Kulturwissenschaften, Bd. 1: Ästhetik des sozialen Raumes, Bielefeld 2011.

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Dieser Beitrag erhebt nicht den Anspruch, theoretische Konzepte zu Gemeinschaft, Identität, Religion und Heiligkeit in großer Breite vorzustellen und kritisch zu diskutieren. Stattdessen führt er Beobachtungen zum Verhältnis von Architektur und Gemeinschaft zusammen und fragt, wie spezifische Architekturen, Räume und Institutionen in der Moderne eine besondere – teils auratische, teils (pseudo-)sakrale – Aufladung erfahren und dar­ über Einfluss auf Gesellungs- und kollektive Identitätsstiftungsprozesse nehmen. Dass die christlichen Kirchen seit der Zeit der Aufklärung und Säkularisierung zunehmend an gesellschaftlicher Deutungsmacht verlieren, führt dazu, dass andere Angebote der Gemeinschaftsstiftung aufkommen, die ihrerseits Räume als architektonische Manifestationen ihrer kollektiven Identitätskonstruktion etablieren. In Konkurrenz zu tradierten Sakralbauten entstehen Hybridräume und auratische Alternativ­ orte, die der Rückversicherung in eine spezifische Gemeinschaft dienen.12 Aufbauend auf aktuelle Thesen zu neuen Formen der Gemeinschaftsstiftung, die im Kontext der Diskussionen um die postsäkulare und posttraditionale Gesellschaft Fragen nach dem Verhältnis von profanen und religiösen Referenzsystemen stellen, werden in diesem Beitrag Facetten ihrer architektonischen Manifestationen vorgestellt. Welche Transformationen durchlaufen Konzeptionen des Heiligen und der Gemeinschaftsstiftung, so dass auch Orte unabhängig von tradierter und institutionalisierter Heiligkeit eine sakral anmutende Aura erhalten? Welche architektonischen und räumlichen Strategien und sozialen Formationen liegen solchen neuen Kultorten zugrunde? Wie tragen Architektur und Städtebau als raumgestaltende, ideologische Praxis zur künstlerischen wie symbolischen Manifestation von Sakralisierungsprozessen und zur materialisierten Präsenz gemeinschaftsstiftender Orte bei? Diese Fragen werden 12 Minta, Anna / Schmitz, Frank (Hg.), Auratische Räume der Moderne, Themenheft kritische berichte. Zeitschrift für Kunst- und Kulturwissenschaften 44 (2016), Heft 2; Erne, Thomas, Hybride Räume der Transzendenz. Wozu wir heute noch Kirchen brauchen, Leipzig 2017. Vgl. auch Haepke, Nadine, Sakrale Inszenierungen in der zeitgenössischen Architektur. John Pawson – Peter Kulka – Peter Zumthor, Bielefeld 2013. Zum Museum als auratischer Alternativort vgl. Englert, Kerstin, Das Sakrale im Profanen? Über das Besondere in der Museumsarchitektur, in: kunst und kirche 65 (2002), Heft 3, 165   –168; zu Nationaldenk­ mälern vgl. Hoffmann-Curtius, Kathrin, Die Nation und ihre Feierorte: Nation und Religion, in: metis 9 (2000), Heft 18, 46  – 57; zu Universitäten vgl. Minta, Anna, Auratische Orte der Gemeinschaftsstiftung. Universitäten als nationale Bauaufgabe, in: kritische berichte 44 (2016), Heft 2, 34  –  46.

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auch in den einzelnen Beiträgen dieses Sammelbandes diskutiert. In diesem Beitrag hier werden einführende Gedanken und Thesen zu dem Themenkomplex Architektur – Raum – Gesellschaft unter der spezifischen Fragestellung der gemeinschaftstiftenden Orte zusammengestellt.

Architektur und die (Kult-)Orte der Gemeinschaft Architektur und Städtebau sind Praktiken der Gestaltung von Raum als menschliche Umgebung. Als ästhetische Idee und ideelles Konzept entsteht durch Architektur gestalteter Raum, der als menschlicher Lebens- und Handlungsraum dient. Der Raum ist gebaute Struktur und zugleich soziopolitische Ordnung und kulturelles Symbolsystem. Er prägt menschliche Gemeinschaften und ist zugleich auch Abbild der Gesellschaft.13 Durch das Bauen entsteht kein homogener, sondern ein heterogener und polyvalenter Raum: ein komplexes Netz aus Orten unterschiedlicher Bedeutung und Wertigkeit, die vielfältig rezipiert und von verschiedenen gesellschaftlichen Gruppierungen in heterogener Weise wahr- und angenommen werden.14 Es gibt offene und exklusive Räume, die besonderen Wert für spezifische Gemeinschaften besitzen. Gekennzeichnet durch nationale, politische, kulturelle und/oder religiöse Bedeutung für die Gesellschaft stehen hier – wie auch in den Beiträgen des Sammelbandes – öffentliche Bauten und Institutionen im Zentrum der Diskussionen. Architektonisch-räumlich nehmen sie meist eine herausragende Stellung in Stadtstrukturen ein, die über Wegeführung, Platzgestaltung sowie Dominanz und Differenz zur umgebenden Bebauung die übergeordnete Funktion und den Bedeutungsanspruch des Gebäudes und der Institution markieren. Öffentliche Bauten, und dazu zählen heilige Räume und (alternative) Kultorte, heben sich aber nicht nur physisch aus den alltäglichen Ordnungsstrukturen heraus. Es sind zugleich soziokulturelle Konstruktionen symbolisch verdichteter Orte, die kollektive Deutungs- und Wertsysteme vermitteln und das sozia13 Soja, Edward W., Postmodern Geographies. The Reassertion of Space in Critical Social Theory, London/New York 1989. 14 Augé, Marc, Orte und Nicht-Orte. Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit, Frankfurt am Main 1994.

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le Handeln der Gemeinschaft sowie ihre Identität prägen. Als Raum sozialer Praxis und Alteritätswahrnehmung tragen sie zur Stiftung distinktiver Gemeinschaft bei. Kulturanthropologische Theorien definieren Religion als integralen Bestandteil eines kulturellen (Symbol-)Systems, eines komplexen und dynamischen Geflechts von vielschichtigen Werten und Bedeutungen, die von Gemeinschaften verhandelt und interpretiert werden und im Menschen emotionale und handlungsleitende Dispositionen auslösen.15 Diese gesellschaftlich definierten Bedeutungssysteme dienen der Weltdeutung und soziokulturellen Verortung. Über Projektionen des Heiligen mit seiner transzendenten Referenz werden solche Ordnungsstrukturen der Verfügbarkeit weitgehend entzogen und damit verstetigt.16 In der räumlichen Dimension sind heilige Orte Kontaktzonen, in denen über Rituale als Komplex heiliger Handlungen die vorgestellte Welt und religiös konnotierte Seinsordnung eingeübt und mit der gelebten Gegenwart verbunden werden. Michel Foucault spricht aufgrund ihres anagogischen und utopischen, auf ein Heilsgeschehen gerichteten Gehalts von „Gegenorten“ zur Realität.17 Infolge von Liminalitätserfahrungen zwischen dem Irdischen und Himmlischen, Transzendenz und Immanenz, bilden sie Heterotopien, die unterschiedlich wahrgenommen werden und in der Moderne eine neue Vielfalt erfahren. Bei diesen kulturanthropologischen wie raumsoziologischen Kultur- und Religionskonzepten besteht gleichermaßen stets eine materielle Dimension: das Bauen, Bewahren und Zerstören zur Gestaltung und Markierung von Räumen sowie das Positionieren im Verhältnis zu anderen Räumen. Baupolitik ist immer auch Kulturpolitik. Architektur und Städtebau sind folglich zentrale strategische Instrumente,

15 Grundlegend hier Geertz, Clifford, Religion als kulturelles System, 1966, in: ders. Dichte Beschreibungen. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt/Main 1983, 44  –  95. 16 Der Soziologe Karl-Siegbert Rehberg spricht von vielfältigen Transzendierungsparadigmen, die entstehen, um die neuen Gemeinschafts- und Identitätsstrukturen der menschlichen Verfügbarkeit zu entziehen und als quasi göttlich gegebene Orientierungspunkte auf Dauer zu stellen. Vgl. Rehberg, Karl-Siegbert, Weltrepräsentanz und Verkörperung. Institutionelle Analyse und Symboltheorien. Eine Einführung in systemischer Absicht, in: Melville, Gert (Hg.), Institutionalität und Symbolisierung, Köln u. a. 2001, 3–  49; Rentsch, Thomas, Transzendenz – Konstitution und Reflexion. Systematische Überlegungen, in: Vorländer, Hans (Hg.), Transzendenz und die Konstitution von Ordnungen, Berlin/Boston 2013, 397–   418. 17 Mohn, Jürgen, Heterotopien in der Religionsgeschichte. Anmerkungen zum „Heiligen Raum“ nach Mircea Eliade, in: Theologische Zeitschrift 63 (2007), Heft 4, 331– 357.

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Ideologien zu materialisieren und ihnen eine kommunikative, erfahrbare und allgegenwärtige Form zu verleihen.

Facetten des Heiligen Um von Kultorten und auratischen Alternativorten sprechen zu können, muss mit dem tradierten Verständnis von Sakralräumen gebrochen und von Transformationen im Verständnis des Heiligen und Auratischen in der Moderne seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert ausgegangen werden.18 Konsequenterweise werden dabei auch etablierte Vorstellungen von dem Sakralen als Gegensatz des Profanen hinterfragt, mit denen Soziologen wie Max Weber und Émile Durkheim Sakralität als vor-modernes Phänomen stigmatisiert hatten.19 Auch wenn jüngere Publikationen wie Die Rückkehr der Religionen, Wiederkehr der Götter und Rückkehr der Religion oder säkulare Kultur? zumindest in den Titeln20 dieses Phasenmodell und folglich die Abwesenheit des Religiösen in der Moderne als Faktum zu zementieren scheinen, wird die These von einer solchen Polarität in den Religionsund Kulturwissenschaften vermehrt in Frage gestellt. Statt der Verdrängung des Sakralen durch das Profane stehen gegenwärtig die Durchdringung beider Sphären und die gegenseitige, manipulative Indienstnahme zur Diskussion. Im Zentrum steht häufig die gegenseitige Bedingtheit von Säkularisierung und Sakralisierung, die zu einem pluralen Nebeneinander von Religiösem und Nichtreligiösem beziehungsweise zur Verlagerung transzendent begründeter Werte auf weltliche Instanzen und Phänomene geführt hat. Der Philosoph und Soziologe Jürgen Habermas führte in diesem Zusammenhang 2001 in einer Rede anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels den Begriff der „postsäkularen Gesellschaft“ ein.21 Auch 18 Die Autorin leitete von 2014  –18 das vom Schweizerischen Nationalfonds finanzierte Forschungsprojekt „Heilige Räume in der Moderne. Transformationen und architektonische Manifestationen”, das die Grundlage der hier präsentierten Forschung bildet. 19 Lynch, Gordon, The Sacred in the Modern World. A Cultural Sociological Approach, Oxford 2012. 20 Riesebrodt, Martin, Die Rückkehr der Religionen: Fundamentalismus und der „Kampf der Kulturen“, München 2000; Graf, Friedrich Wilhelm, Die Wiederkehr der Götter. Religion in der modernen Kultur, München 2004; Faber, Richard / Hager, Frithjof, Rückkehr der Religion oder säkulare Kultur? Kultur- und Religionssoziologie heute, Würzburg 2008. 21 Habermas, Jürgen, Glauben und Wissen, Frankfurt am Main 2001; Renner, Tobias, Postsäkulare Gesellschaft und Religion. Zum Spätwerk von Jürgen Habermas, Freiburg 2017.

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er widerspricht dabei einem vollumfänglichen Bedeutungsverlust von Religion in der Gesellschaft und Öffentlichkeit und verweist auf die Ausdifferenzierung von Säkularisierungsprozessen auf Teilbereiche der Gesellschaft. Die postsäkulare Gesellschaft habe sich zwar von der Religion und der Autorität der Kirche emanzipiert, rekurriere aber auf Werte und Moralvorstellungen etc., die ursprünglich aus den Religionen hervorgegangen sind. Moderne, Säkularisierung und Religion sind folglich keine sich ausschließenden Konzepte, sondern durchdringen sich vielfältig. Dies ist allerdings nicht nur ein Phänomen der Moderne. Bereits für das frühe Mittelalter sind die religiöse Aufladung des Politischen und gleichermaßen die weltlichen Geltungsansprüche der Kirche untersucht worden.22 Seit der Neuzeit sind weitere Transformationen zu beobachten. Mit der missionarischen und kolonialen Ausbreitung und zuletzt in Folge der Globalisierung haben religiöse Symbolsysteme an gruppenspezifisch-exklusivem und normativem Einfluss verloren. Die Ausbreitung des Religiösen und die damit einhergehende Homogenisierung und Nivellierung spezifischer religiöser Referenzsysteme führten zwar zu einer Marginalisierung institutionalisierter Doktrin.23 Dass die Institution Kirche mit der Säkularisierung ihre Deutungshoheit und ihr Monopol an Sinn- und Ordnungsstiftung verlor, trug jedoch zu dem neuen, heterogenen und polyvalenten Verständnis des Heiligen bei.24 Neue Konzepte der Gemeinschaftsstiftung, die meist religiöse Referenzsysteme inkorporierten, entwickelten weitreichende mobilisierende Kräfte. Hierzu zählen insbesondere im 19. Jahrhundert der Nationalismus und in romantischer Prägung auch Natur, Kultur, Kunst und BilVgl. auch Habermas‘ Theorie der postsäkularen Gesellschaft im Vergleich zu Charles Taylors säkularer Gesellschaft: Endreß, Martin, Säkular oder Postsäkular? Zur Divergenz der Perspektiven von Jürgen Habermas und Charles Taylor, 2012, in: transit online, http:// www.iwm.at/transit/transit-online/saekular-oder-postsaekular/ [Stand 31.07.18]. 22 Kantorowicz, Ernst, The King’s Two Bodies. A Study in Mediaeval Political Theology, Princeton 1957, gründet in der Zwei-Körperlehre des Königs als politischer (übernatürlich und unsterblicher) Herrscher und Mensch die Entstehungsgeschichte des modernen Staates und seiner Differenzierung zwischen öffentlicher Funktion und der Person. 23 Žižek, Slavoj, Die Puppe und der Zwerg. Das Christentum zwischen Perversion und Subversion, Frankfurt am Main 2003; Luckmann, Thomas, The Invisible Religion, London 1967; vgl. auch Knoblauch, Hubert, Die Verflüchtigung der Religion ins Religiöse: Thomas Luckmanns Unsichtbare Religion, in: Luckmann, Thomas (Hg.): Die unsichtbare Religion, Frankfurt am Main 1991. 24 Masuzawa, Tomoko, The Invention of World Religions. Or, How European Universalism Was Preserved in the Language of Pluralism, Chicago/London 2005.

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dung. Solche Bewegungen erzeugten eine baupolitische Dynamik, die spezifische Bauprojekte wie Nationaldenkmäler, Institutionen der politischen/kulturellen Vertretung, Museen, Mausoleen heroischer Protagonisten etc. zur Folge hatte, die von religiös-auratischen Aufladungsphänomenen gekennzeichnet sind. Programmatisch soll hier von einem Sakraltransfer gesprochen werden – dem Übertrag soziokultureller Funktionen und (Be-)Deutungsmuster von Religion und Kirche auf andere Ideologien, gesellschaftliche Entwicklungen und ihre räumlichen Konkretisierungen. In der Moderne kommt es durch Konzepte des Sublimen und andere einfühlungsästhetische Theorien zu Architektur und Raum auf der einen Seite sowie politisch-kulturelle Konzepte von Staat und Nation auf der anderen Seite vermehrt zu semantischen Verschiebungen und heterotopen Mustern von Sakralität auch jenseits religiöser Kontexte. Es ist daher nach künstlerischen Konzepten des Transfers und der Transformation zu fragen, die solche soziokulturellen Vorstellungen der gemeinschaftlichen Sinn- und Ordnungsstiftung in Architektur, Städtebau und Raum zu materialisieren versuchen. Methodische Grundvoraussetzung ist die Ablehnung ontischer Vorstellungen des Heiligen und stattdessen die Annahme der These von der Konstruktion/Produktion von Heiligkeit als performativer Akt und von Sakralisierungsprozessen als Kulturtechnik. Sie beschreibt eine zielgerichtete Praxis der religiösen Überhöhung und Inkorporierung transzendenter Valenz in spezifische Orte, Objekte und Phänomene.25 Solche Prozesse des Verhandelns, begleitet von Verschriftlichungen, Form- und Bildschöpfungen, Raumklassifikationen und zeremoniellen Inszenierungen und ritualisierter Einübung, zielen auf das Zuweisen von normativen Bedeutungen im Kontext kollektiver Ordnungs-

25 Eschebach, Insa/Lanwerd, Susanne, Säkularisierung, Sakralisierung und Kulturkritik, in: metis 9 (2000), Heft 18, 10   – 26; Böhm, Gottfried / Böhm, Peter, Das Sakrale in der Archi­ tektur, in: Tönnesmann, Andreas (Hg.), Sakralität und Aura in der Architektur, Zürich 2010, 52 –  83. Auch im Christentum erfolgte in der Urkirche die Transformation von Kirchen als Versammlungsort zum Sakralraum im Mittelalter vgl. Czock, Miriam, Gottes Haus. Untersuchungen zur Kirche als heiligem Raum von der Spätantike bis ins Frühmittelalter, Berlin/ Boston 2012; Jäggi, Carola, Die Kirche als heiliger Raum: Zur Geschichte eines Paradoxons, in: Hamm, Berndt u. a. (Hg.), Sakralität zwischen Antike und Neuzeit, Stuttgart 2007, 75  –  90; dies., „Heilige Räume“. Architektur und Sakralität – Geschichte einer Zuschreibung, in: Nollert, Angelika u. a. (Hg.), Kirchenbauten in der Gegenwart: Architektur zwischen Sakralität und sozialer Wirklichkeit, Regensburg 2001, 23 – 30.

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wie Sinnstiftungen.26 Weltlichen Gebilden, Räumen und Objekten, werden über den Sakraltransfer der Charakter des Absoluten und die Aura des Gottgegebenen übertragen, um sie für die Menschen unhinterfragbar und unverfügbar zu machen. Solche meist umkämpften Deutungsmuster tragen über mnemotechnische Strategien des Erinnerns/Vergessens und der Differenz-Konstruktionen nicht nur zur Identitätsstiftung, sondern vor allem auch zur hegemonialen Machtentfaltung bei.27 Mit der Ortsgebundenheit des Heiligen treten Strategien der territorialen Aneignung von Raum hinzu. Es gilt also, spatial turn mit den religious turns28 zu verbinden. In der Formierung neuer Transzendenzparadigmen fallen der Architektur und Kunst die wichtige Aufgabe zu, Räume und Bilder als Medium und visuelle Präsenz solcher soziokulturellen, politischen und religiösen Orientierungsmuster zu schaffen. Betrachtet man Architektur als eine kulturell geprägte Praxis, die von Wertvorstellungen, Welterklärungsmodellen, Traditionen und Modernitätskonzepten etc. geprägt ist, so ist konsequenterweise danach zu fragen, wie im Architekturschaffen religionswissenschaftliche und architekturtheoretische Diskurse aufeinandertreffen und sich materialisieren.

Formen und Orte transformierter Sakralitätsvorstellungen Säkulare Religionskritik schaffte die Sehnsucht nach besonderen, auratischen Orten nicht ab, sondern transformierte sie und ließ die Semantik des Nicht-Alltäglichen auf neue Orte übertragbar werden. Neue Deutungsmuster ideeller Weltanschauung und (säkularisierter) Heiligkeit wurden in der Durchdringung von Religion und Politik respektive Religion und Kunst entwickelt, die gemeinschaftlichen Sinn und Ordnung stiften 26 Smith, Jonathan Z., To take place: toward theory in ritual, Chicago/London 1992; van Genepp, Arnold, Übergangsriten, Frankfurt am Main 2005 (franz. Originalausgabe 1909). 27 Assmann, Aleida, Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 1999; Assmann, Jan, Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität, in: Assmann, Jan / Hölscher, Tonio (Hg.), Kultur und Gedächtnis, Frankfurt am Main 1988, 9   –19; Erkens, Franz-Reiner (Hg.), Die Sakralität von Herrschaft. Herrschaftslegitimierung im Wechsel der Zeiten und Räume. Fünfzehn interdisziplinäre Beiträge zu einem weltweiten und epochenübergreifenden Phänomen, Berlin 2002. 28 Nehring, Andreas /Valentin, Joachim (Hg.), Religious turns – turning religions. Veränderte kulturelle Diskurse – neue religiöse Wissensformen, Stuttgart 2008.

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sollten. Die Soziologie hat zur Deutung moderner sozialer Gesellungsphänomene den Begriff der posttraditionalen Gemeinschaft eingeführt.29 Auch wenn die damit einhergehende Vorstellung, dass bis zur Moderne die Zugehörigkeit zu traditionalen Gemeinschaften quasi zwanghaft festgelegt war, irreführend ist, so überzeugen doch die Beobachtungen zu modernen Gruppenformationen. Subjektivierungs-, Pluralisierungs- Individualisierungs- und zugleich Globalisierungsprozesse haben, so die These, nicht strukturlose Gesellschaften hervorgebracht, sondern bieten eine Vielzahl von neuen Vergemeinschaftungsmustern und Organisationsformen häufig in Form von Milieuoder Interessensgemeinschaften. Diese seien freiwillig, temporär-situativ und oftmals auch eher instabil, so dass sie zur Stabilisierung – in kollektiven Ritualen, gemeinsamen Symbolen und Zeichen etc. – immer wieder reproduziert werden müssen, um das exklusive Zu(sammen)gehörigkeitsgefühl zu stärken. Die kulturelle Produzierbarkeit menschlicher Gemeinschaft fordert häufig eine kultische Organisiertheit von traditionellen gleichermaßen wie von temporären Gemeinschaften und meist auch einen (Kult-)Ort zur manifesten Lokalisierung der Gemeinschaft.

Zivilreligion Historisch-exemplarisch für die Dialektik von radikaler Säkularisierung (Zerstörung kirchlicher Macht und Räume) und der Sehnsucht nach einer Re-Sakralisierung mit einem kirchenunabhängigen Transzendenzverständnis steht die Französische Revolution. In einer Verknüpfung des Kultischen mit dem Po-

29 Hitzler, Ronald / Honer, Anne / Pfadenhauer, Michaela (Hg.), Posttraditionale Gemeinschaften. Theoretische und ethnografische Erkundungen, Berlin 2009. Der Soziologe Ferdinand Tönnies hatte 1887 das Grundlagenwerk Gemeinschaft und Gesellschaft verfasst und zwei Arten kollektiver Gruppierung unterschieden: Die Gemeinschaft, die sich als Teil eines Kollektivs empfindet und ihr gemeinschaftliches Handeln an einem übergeordneten Zweck orientiert im Gegensatz zur willentlich geschlossenen Gesellschaft, in der das Individuum sich rational auch zur Durchsetzung eigener Interessen dem gesellschaftlichen Handeln anschließt. Gemeinschaft erhielt dabei jedoch den Charakter einer vormodernen Vergemeinschaftungsform und war dem Vorwurf antidemokratischer, reaktionärer bis totalitärer Tendenzen von Gemeinschaft ausgesetzt, der in NS-Volksgemeinschaftsideologien mit normativen Ansprüchen und universalistischen Ambitionen gipfelte. Gemeinschaft im Kontext dieses Beitrages ist mit Max Weber zu verstehen, der Gemeinsamkeiten als Grundlage von Gruppenformationen auffasst. Es geht um Muster und Formen sozialer Zugehörigkeit respektive um Zugehörigkeitskonstruktionen mit identifizierbarem und identifikationsstiftendem Potential.

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litischen bemühte sie sich um die Einführung eines zivilreligiösen Kultus der Vernunft, der seine sinn- und ordnungsstiftende Macht in der ewigen und heiligen Ordnung der Natur begründete. Als räumlich-architektonischen Sakraltransfer entwarf der Architekt Étienne-Louis Boullée ein bautypologisches Programm neuer monumentaler Kultstätten als ideale Räume kollektiver Sinn- und Identitätsstiftung.30 Zu den neuen, zivilreligiös anmutenden Entwürfen zählt unter anderem ein Museum, eine Bibliothek und ein Haus der Nationalversammlung. Der Begriff der Zivilreligion beschreibt die Durchdringung von Politik und Religion. Dabei wirkt die Macht der Religion zur Legitimation des Politischen und als (diffuses) Bedürfnis nach Spiritualität und einer transzendenten, überzeitlichen Autorität in der Gesellschaft weiter. Der amerikanische Soziologe Robert Bellah prägte 1967 mit diesem Begriff die unscharfe Grenze zwischen religiöser Glaubensgrundhaltung auf der einen und republikanisch-patriotischer Sozialisierung auf der anderen Seite: das (nicht institutionell organisierte) Religiöse in der Politik und das Politische in der Religion.31 In totalitären Systemen spitzt sich die absolute Verklärung der autoritären Politik als politische Religion zu.32 Politik soll in beiden Fällen als neu codierter Transzendenzraum etabliert werden. Das religiös-patriotische Bekenntnis zu Staat und Nation, das soziale Ordnung und kollektiven Gemeinsinn stiftet, bedarf der ritualisierten Einübung in Form von Festtagen und Feierlichkeiten sowie der gesellschaftlichen Vergegenwärtigung in der Architektur und im Raum. (Abb. 4) Hauptstädte, Regierungssitze und auch Nationaldenkmäler und Mausoleen für politische Protagonisten sind herausragende Räume, in denen sich die Sakralisierung der Politik in ihrer ideologisch-künstlerischen Materialisierung vorzugsweise untersuchen lässt.33 30 Harten, Hans Christian, Transformation und Utopie des Raums in der Französischen Revolution. Von der Zerstörung der Königsstatuen zur republikanischen Idealstadt, Braunschweig/Wiesbaden 1994; Lankheit, Klaus, Der Tempel der Vernunft: unveröff. Zeichnungen von Etienne-Louis Boullée, Basel u. a. 1973. 31 Bellah, Robert N., Civil Religion in America, in: Daedalus. Journal of the American Academy of Arts and Sciences, Vol. 96, Winter 1967, 1 – 21; vgl. auch Kleger, Heinz / Müller, Alois (Hg.), Religion des Bürgers. Zivilreligion in Amerika und Europa, Münster 2004. 32 Maier, Hans, Politische Religionen, München 2007. 33 Zur Inszenierung von Hauptstädten vgl. Mayer, Heike / Sager, Fritz / Minta, Anna (Hg.), Im Herzen der Macht? Hauptstädte und ihre Funktion, Bern 2013; Minta, Anna / Nicolai, Bernd (Hg.), Parlamentarische Repräsentationen: Das Bundeshaus in Bern im Kontext internationaler Parlamentsbauten und nationaler Strategien seit 1830, 2014.

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Abb. 4: Inszenierung der NS-Politik, 1938. Fotoalbum „Burgenland, Marsch ins dritte Reich“, Seite 27: Dr. Frick spricht zu den 60,000. © Library of Congress, Washington/DC, Prints & Photographs Collection, LC-DIG-ds-12215

Kunstreligion Im Hinblick auf transformierte Sakralitätsvorstellungen entstand in der Zeit der Aufklärung als Alternativmodell zur Dialektik von Politik und Religion die Durchdringung von Kunst und Religion. Darin verbinden sich ästhetische und religiöse Erfahrung. Der Theologe und Philosoph Friedrich Schleiermacher führte 1799 im Kontext der Theorien um Einfühlung/Empfindsamkeit und der ästhetisch-wahrnehmungstheoretischen Kategorie des Erhabenen den Begriff der „Kunstreligion“ ein, um die zeitgenössische Heiligung von Kunst, Bildung und Wissenschaft zu umschreiben. Insbesondere in der Literatur finden sich auf das Ideal einer Kulturnation aufbauende Vorstellungen vom ästhetischen Staat als ideale Gemeinschaft, von der „schönen Politik“ (Friedrich Schiller), der (transzendenten) Überhöhung der Kunst und dem Künstler als Schöpfer.34 Markierten früher Kirchen und Herrschersitze das 34 Raulff, Ulrich (Hg.), Vom Künstlerstaat. Ästhetische und politische Utopien, München/ Wien 2006; Auerochs, Bernd, Die Entstehung der Kunstreligion, Göttingen 2006 und Müller, Ernst, Ästhetische Religiosität und Kunstreligion in den Philosophien von der Aufklärung bis zum Ausgang des deutschen Idealismus, Berlin 2004 liefern Analysen

Öffentliche Bauten als (Kult-)Orte der Gemeinschaft | Anna Minta

Macht- und Ortszentrum eines Gemeinwesens, so treten in der Moderne im Kontext der Diskussion um Kultur und Nation vor allem öffentliche Institutionen der politischen Repräsentation und kulturelle Zentren wie beispielsweise Museen, Bibliotheken, Volksund Kulturhäuser als Gemeinschaft und Identität stiftende Orte hinzu. Museen, die nicht nur über die Bezeichnung als Kunsttempel einen rhetorischen Rückgriff auf die Sakralbaukunst machen, wurden im frühen 19. Jahrhundert zudem häufig in klassizistischen Tempelformen errichtet, um über eine auratische, pseudosakrale Anmutung eine Bedeutungssteigerung zu erfahren.

Neuformierung auratisch-heiliger Räume in globaler Perspektive Mit der Globalisierung im 20./21. Jh. sind in Bezug auf Heiligkeitskonzeptionen ambivalente Entwicklungen zu beobachten. Die Auflösung tradierter sakraler Referenzsysteme und Ordnungsstrukturen verstärkt auf der einen Seite die Verlagerung transzendent begründeter Werte der Gemeinschaft in die weltliche Sphäre. Trotz dieser Profanierungstendenzen nimmt auf der anderen Seite die Sehnsucht nach zeitlosen und absoluten Sinn- und Ordnungsstrukturen für das kollektive Handeln stark zu. Zur Konstituierung und Stabilisierung gemeinschaftlicher Ordnung und ihrer soziomoralischen Grundlagen werden – allen Globalisierungstendenzen zum Trotz – exklusive gemeinschaftsund identitätsstiftende Kultur-, Politik- und Religionskonzepte herangezogen, die teils in Konkurrenz zueinander, teils in enger Durchdringung miteinander auftreten. Um sich gesellschaftlich – national wie international – behaupten zu können, entstehen zur räumlich-architektonischen Manifestation Bauten meist in monumentaler Dimension, die der visuellen Präsenz und der Legitimation zugleich dienen sollen. Die Bauten heben sich als iconic architecture aufgrund ihrer symbolischen Bedeutung, ästhetischen Qualität und meist monumentalen Dimension aus der städtischen Struktur heraus und zum romantischen Konzept der „Kunstreligion“ und des „Künstlerstaates“. Rehberg, KarlSiegbert, Roma capitale delle arti. Transzendenzen und Kunstkonkurrenzen, in: Vorländer, Hans (Hg.), Transzendenz und die Konstitution von Ordnungen, Berlin 2013, 66   – 93, diskutiert exemplarisch Rom als Kunstkapitale und antiken Transzendenzraum.

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treten häufig in Konkurrenz zu anderen zeichenhaften Architekturen.35 Die Wirkungsmacht einer Institution ergibt sich dabei nicht allein aus der architektonisch-ikonografischen Gestaltung eines Bauwerks und der sie begleitenden Interpretationsrhetorik, sondern sie konstituiert sich in performativer Praxis gesellschaftlichen Handelns und in der sozialen Aneignung des Raumes.36 Entgegen der Behauptung des Soziologen Leslie Sklair, dass ikonische Architektur seit den 1960er Jahren zunehmend ein hegemoniales Produkt des weltweiten Kapitalismus geworden sei, der öffentliche Räume in kommerzielle, auf Profit kalkulierte Konsumräume verwandelt habe, ist dennoch von einem Fortbestehen kultureller Funktionen öffentlicher Institutionen auch im Zeitalter der Globalisierung auszugehen. Zeichenhafte Architektur produziert und verstärkt diese gesellschaftliche Funktion. Baukunst und Identität als eine Synthese aus Kultur, Erinnerung, soziokultureller Praxis, politischer und religiöser Ideologien prägen gegenwärtige Diskurse um Architektur in der Globalisierung.37 Museen scheinen hier eine besondere Rolle zu spielen – als gestalteter Raum, der in der Verbindung von Kunst und Geschichte kollektive Werte und Vorstellungen sowie Weltkonzepte der In- und Exklusion erzeugt und mittels der institutionellen Aura (,„Kunsttempel’“) autoritativ in die Öffentlichkeit vermittelt. Die Kulturwissenschaftlerin Carol Duncan hat in ihrer grundlegenden Studie zu Museen 1995 den Zusammenhang der sozialen und auratischen Wirkungsmacht von Museen sowie ihren rituellen Charakter beschrieben und sie als Ort von Liminalitätserfahrungen klassifiziert.38

35 Sklair, Leslie, Iconic Architecture and the Culture-Ideology of Consumerism, in: Theory, Culture & Society 27 (2010), No. 5, 135  –159; Nicolai, Bernd, New Monumentalismen in Contemporary Architecture, in: Anglia 131 (2013), Heft 2 – 3, 297–  313; Sudjic, Deyan, Der Architekturkomplex. Monumente der Macht, Düsseldorf 2006. 36 Bourdieu, Pierre, Physischer, sozialer und angeeigneter Raum, in: Hauser, Susanne u. a. (Hg.), Architekturwissen. Grundlagentexte aus den Kulturwissenschaften. Bd. 2: Zur Logistik des sozialen Raumes, Bielefeld 2013, 198  – 207; Lefebvre, Henri, La Production de l’Espace, Paris 1974. Zu Konzepten des Performativen vgl. Fischer-Lichte, Erika / Wulf, Christoph (Hg.), Theorien des Performativen, Berlin 2001; dies. (Hg.), Praktiken des Performativen, Berlin 2004. 37 Herrle, Peter / Wegerhoff, Erik (Ed.), Architecture and Identity, Habitat-International. Schriften der Habitat Unit 9, Berlin 2008; Allen, Barbara L., On Performative Relgionalism, 2005, in: Canizaro, Vincent B. (Ed.), Architectural Regionalism. Collected Writings on Place, Identity, Modernity, and Tradition, New York 2007, 421–   426; King, Anthony D., Spaces of Global Cultures: Architecture, Urbanism, Identity, London 2004. 38 Duncan, Carol, Civilizing Rituals: Inside Public Art Museums, London 1999.

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Abb. 5: Louvre Abu Dhabi, Jean Nouvel, 2017 eröffnet; © Fotografien A. Minta 2018

Dabei erfahren Museen wie zum Beispiel der Louvre Abu Dhabi (J. Nouvel, 2007–17) zum Teil sehr konträre Interpretationen als Projektionsfläche gemeinschaftlicher Identitätsstiftung. (Abb. 5) Der Louvre Abu Dhabi und das Guggenheim Museum Abu Dhabi (F. Gehry, seit 2006), die als Dependancen westlicher Länder im arabischen Raum geplant sind, werden mit dem Vorwurf konfrontiert, über ihre Architektur und ihr Kulturkonzept eine neue Form des neo-kolonialen, kulturellen Imperialismus zu verfolgen.39 Auch anderen Museen wie beispielsweise das Doha Museum of Islamic Art, Qatar (I.M. Pei, 2008), und das MOMEMA Museum of Middle East Modern Art, Khor Dubai (UNStudio, seit 2008), die zwar lokale, regionale und nationale Kunst und Geschichte ausstellen und in die Architektur Formen und dekorative Elemente der eigenen Kultur integrieren, wird ein hegemonialer Habitus, jedoch in subtilerer Form, vorgeworfen. Wird hier in neo-kolonialen Mustern eines modernisierten Orientalismus wieder eine otherness zugewiesen und mit dekorativen Architekturelementen in die Baukunst überführt? Insbesondere beim Louvre Abu Dhabi ist jedoch die Gegenfrage zu stellen, ob dieses als Universal-Museum geplante Haus, das durch die Breite der Sammlung zeitliche, räumliche und kulturelle Grenzen überschreitet, nicht auch der Selbstinszenierung des Emirats dient, indem es sich selbst in die Universal-

39 Barringer, Tim / Flynn, Tom (Ed.), Colonialism and the Object: Empire, Material Culture and the Museum, London 1998.

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Abb. 6: Louvre Abu Dhabi, Jean Nouvel, 2017 eröffnet, Ausstellungspräsentation: mittelalterliche Marienfigur mit Jesuskind, antike ägyptische Gottheiten Isis mit Horus und Yombe-Skulptur aus dem Kongo aus dem 19. Jahrhundert © Department of Culture and Tourism – Abu Dhabi / Marc Domage

Geschichte integriert?40 Über den Repräsentationsanspruch des Emirates hinausgehend: Können das Museum und seine Ausstellungen, die das Kulturerbe des Landes und der Region präsentieren und in internationale Beziehungen setzen, zu einem neuen „Kultort“ werden, aus dem die einheimische Bevölkerung Inspiration für das eigene Nations- und Kulturverständnis erfährt? In dem Ausstellungskonzept beansprucht das Museum, so die Kuratoren, nicht nur ein globales, sondern „universelles Museum“ zu sein.41 Objekte ähnlicher Art wie beispielsweise „Muttergottheiten“ (Abb. 6) werden nebeneinander präsentiert, um die Ähnlichkeit von Kulturen weltweit zu veranschaulichen. Das eigene Kulturerbe wird in anderen Ausstellungsvitrinen gleichberechtigt dazugruppiert. Abu Dhabi, „which has historically been at 40 Saloni, Mathur, Museums and Globalization, in: Anthropological Quarterly 78 (2005), 697–708; Minta, Anna, Kulturelles Erbe bauen. Architektur und Identitätspolitik in Abu Dhabi, in: kunst und kirche 81 (2018), Heft 3, 4  –13. Vgl. auch Wright, Gwendolyn, Building global Modernisms, in: Grey Room, (2007), No. 7, 124  –134; Elsheshtawy, Yasser (Ed.), The evolving Arab city: tradition, modernity and urban development, London/New York 2008. 41 Lootah A. Z. / Abudlla K. A. / Al Mansoori M., Humanity´s Shared Story, in: Shawati’ Magazine 40 (2017), 90   –100; Abdulla K. A., Permanent Collection. The Middle East’s First “Universal” Museum, in: ebd., 101–105. Vgl. auch Maak N., Im Gegenlicht der Gegenwart. Was sollte ein Museum heute leisten?, in: FAZ 6.11.2017, 9.

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the center of civilisations”42, erhält über die ambitionierte Kulturpolitik des Emirats nicht nur ein Bild der eigenen Vergangenheit, sondern zugleich auch einen Verortungsvorschlag in der Weltgeschichte. Kulturgeschichte und kulturelles Erbe schaffen Präsenz und Differenz in einer globalisierten Moderne, die – allen Abgrenzungstendenzen zum Trotz – ein globales/universelles Referenzsystem bemüht und konstruiert. Der französische Architekt Nouvel hat in seinem Entwurf einen stark abstrakten Regionalismus entwickelt und über diesen ästhetischen Ortsbezug das Museum in Abu Dhabi lokalisiert: Weiße Kubaturen unterschiedlicher Volumina gruppieren sich in Assoziation kleinteiliger Dorflandschaften unregelmäßig zueinander und werden von einer gewaltigen, im Durchmesser 180 Meter großen Kuppelkonstruktion überfangen, die aus mehrfach sich überlagernden geometrisierten Stahlgitterstrukturen besteht. Mit dem Slogan „Abu Dhabi – globalising the local, localising the global“43 wird ein selbstbewusster Anspruch vertreten, sich nicht nur die Welt anzueignen, sondern auch den eigenen Anteil an ihr deutlich hervorzuheben. Das Museum hat definitiv das Potential, zu einem neuen Kultort, einem Ort kollektiver Identitätsstiftung mit der Rückversicherung in Traditionen und kulturelles Erbe, zu werden. Die monumentale und zeichenhafte Architektur und die prozessionsartige Wegführung zum und durch das Museum sowie das kuratorische Konzept erzeugen und vermitteln die Macht des Ortes. Es ist eine herausragende, ikonische Architektur und ein Ort des Außer-Alltäglichen, der als sozialer Handlungs- und Kommunikationsraum Geschichte erzählt und Wert- und Sinnstrukturen vermittelt. Der Louvre Abu Dhabi ist ein Raum, ein Ort, an dem die Phänomene Raumkult – Kultraum ineinander fallen.

42 Lootah u. a., Humanity’s (wie Anm. 16), 94. 43 Titel des Heftes Shawati’ Magazine 40 (2017).

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II. R  aumkult: Auratische Orte der Gemeinschaftsstiftung

„PRESENTE!“ Kult und Raum im Italien des Faschismus Klaus Tragbar

Für das noch junge, erst 1861 gegründete Königreich Italien bildete der Erste Weltkrieg ein einschneidendes Ereignis auf dem Weg zur nationalen Selbstfindung. Dem Gedenken an die Gefallenen, dem Totenkult als einer „anthropologisch[en] […] Vorgabe, ohne die Geschichte nicht denkbar ist“1 und seiner Ausgestaltung durch Denkmäler und gesellschaftliche Rituale kamen in diesem Kontext eine besondere Bedeutung zu. Darüber hinaus galt es auch, die hohen Opferzahlen des Ersten Weltkriegs, in dem allein Italien mehr als 650.000 Tote zu beklagen hatte, rhetorisch zu überhöhen und in einen quasi schicksalhaften, überzeitlichen Sinnzusammenhang zu stellen: Der Tod der Soldaten sollte keinesfalls als grausam und sinnlos, sondern als heroisch und als Opfer an die junge Nation verstanden werden.

Das Totengedenken Auch Benito Mussolini, der als Leiter der sozialistischen Zeitschrift Avanti! noch antiinterventionistische Positionen vertreten hatte, schrieb im November 1918 in der von ihm 1914 gegründeten Tageszeitung Il Popolo d’Italia: „Wir verbeugen uns in Ehrerbietung vor den Soldaten, die den heiligen Namen Italiens untrennbar mit dem siegreichen Ende des Krieges verbunden haben […]“.2 Fester Bestandteil dieser Rhetorik war ein re1 2

Koselleck, Reinhart, Einleitung, in: Koselleck, Reinhart / Jeismann, Michael (Hg.), Der politische Totenkult. Kriegerdenkmäler in der Moderne, München 1994, 9  – 20, hier 9. „Inchiniamoci con reverenza ai soldati che hanno legato alla battaglia trionfalmente conclusiva della guerra il nome d’Italia sacro […]„, Mussolini, Benito, Epilogo, in: Il Popolo d’Ita-

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ligiöser Unterton, der bereits 1917 in Mussolinis Artikel zum Jahrestag der Hinrichtung des Irredentisten Cesare Battisti3 anklang: „Man muss sich dem Märtyrertod gesammelt und andächtig nähern wie der Gläubige, der vor dem Altar eines Gottes niederkniet.“4 Auch noch nach ihrem Tod hatten die Gefallenen eine Aufgabe für die Nation zu erfüllen: „Zu dieser Stunde sind unsere Toten […] lebendig. Sie sind es, die die Armeen anführten. Sie sind es, die voranmarschieren,“5 schrieb Mussolini am 4. November 1918, dem Tag des Waffenstillstands. Als zentraler Ort des Gedenkens an die Gefallenen und Vermissten des Ersten Weltkriegs sollte nach Kriegsende in Rom ein Denkmal für den Unbekannten Soldaten errichtet werden.6 Der Gedanke geht auf Oberst Giulio Douhet7 zurück, der dafür 1920 das Pantheon vorschlug, „alla stessa altezza dei Re e del genio.“8 Im Pantheon befanden sich bereits die Gräber von Raffaello Sanzio, Annibale Carracci, Baldassarre Peruzzi und Arcangelo Corelli; nach der 1878 erfolgten Beisetzung des ersten italienischen Königs Vittorio Emanuele II., dem verehrten padre della patria, war es auch zu einem nationalen Wallfahrtsort geworden. Im August 1921 beschloss das Parlament den Bau des Grabmals, das nun aber in dem noch nicht ganz vollendeten Nationaldenkmal für Vittorio Emanuele II. (Ettore Ferrari, Pio Piacentini und Giuseppe Sacconi, 1885   –1927) eingerichtet werden sollte.9 Die Auswahl der Gebeine des dort zu bestattenden Unbekannten Soldaten war ein hochemotionaler und mit nationalem

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lia, 2. November 1918. – Die Übersetzungen stammen, wenn nicht anders vermerkt, vom Verfasser; sie folgen eher dem Sinn einer Formulierung als deren wörtlicher Übertragung. Vgl. Dizionario Biografico degli Italiani, Bd. 7, Rom 1965, 264  –  v271. „Bisogna accostarsi al martirio con devozione raccolta e pensosa come il credente che si genuflette dinanzi all’altare di un dio.“ Mussolini, Benito, Battisti, in: Il Popolo d’Italia, 12. Juli 1917. „In quest’ora i nostri morti […] sono vivi. Sono essi che hanno guidato gli eserciti. Sono essi che marciano alla avanguardia.“ Mussolini, Benito, È la grande ora! In: Il Popolo d’Italia, 4. November 1918. Vgl. Tognasso, Augusto, Ignoto militi, Mailand 1922; Labita, Vito, Dalle trincee all’Altare della patria, in: Bertelli, Sergio / Grottanell, Cristiano (Hg.), Gli occhi di Alessandro. Potere sovrano e sacralità del corpo da Alessandro Magno a Ceausescu, Florenz 1990, 120  –153; Miniero, Alessandro, Da Versailles al Milite ignoto. Rituali e retoriche della vittoria in Europa (1919  –1921), Rom 2008; Tobia, Bruno, L’Altare della Patria, Bologna 22011; Cadeddu, Lorenzo, Alla ricerca del milite ignoto. Aquileia, Redipuglia, Altare della Patria. Luoghi della memoria e dell’identità italiana, Udine 2011. Vgl. Dizionario Biografico degli Italiani, Bd. 41, Rom 1992, 561– 566. Douhet, Giulio, in: Il Dovere, 24. August 1920, nach Tobia, L’Altare, 71–72. Gesetz vom 11. August 1921, Nr. 1075, vgl. Gazzetta Ufficiale del Regno d’Italia (= GU) Nr. 197, 20. August 1921, 1014.

„Presente!“ Kult und Raum im Italien des Faschismus | Klaus Tragbar

Pathos aufgeladener Akt. Eine Kommission aus Soldaten sämtlicher Ränge, die alle mit der Medaglia d’Oro, der höchsten italienischen Tapferkeitsmedaille, ausgezeichnet waren, wählte aus elf Kriegsgebieten10 je einen nicht identifizierten Gefallenen aus, der in Aquileia in der Basilika S. Maria, Fortunatus und Hermagoras aufgebahrt wurde. Aus diesen elf traf am 28. Oktober 1921 die Mutter eines gefallenen Soldaten die endgültige Auswahl. Diese Frau, Maria Bergamas, stand stellvertretend für alle italienischen Mütter, deren Söhne im Ersten Weltkrieg für die Nation gefallen waren. Sie stammt aus Gradisca d’Isonzo im östlichen Friaul, das bis 1918 als Gradis am Sontig noch zu Österreich-Ungarn gehört hatte. Ihr Sohn Antonio wurde in die k.k. Armee eingezogen, desertierte 1916 und schloss sich als irredentistischer Freiwilliger der italienischen Armee an. Am 18. Juni 1916 fiel er am Monte Cimone di Tonezza und wurde dort provisorisch bestattet. Am 23. September 1916 sprengte eine österreichische Pioniereinheit die gesamte Bergspitze, so dass der Leichnam von Antonio Bergamas – und auch die der bei der Sprengung umgekommenen rund 1.200 italienischen Soldaten – nicht mehr aufgefunden werden konnten. Am 4. November 1921, dem dritten Jahrestag des Endes des Ersten Weltkriegs, wurde der Unbekannte Soldat unter großer Anteilnahme der Bevölkerung – nahezu eine Million Menschen sollen der Zeremonie beigewohnt haben11 – im Vittoriano feierlich beigesetzt.

Der Kult Nach der Machtübernahme am 30. Oktober 1922 verstärkte Mussolini seine quasi-religiöse, nationale Rhetorik zur Glorifizierung der Gefallenen des Ersten Weltkriegs und begann, diese postum zu Märtyrern des Faschismus umzudeuten. Der 24. Mai, der Tag der Kriegserklärung Italiens, wurde zum nationalen Fei-

10 Altipiani, Cadore, Dolomiti, Gorizia, Grappa, Basso Isonzo, Montello, Basso Piave, Rovereto, San Michele und das Gebiet zwischen Castagnevizza und dem Mittelmeer. Mit dem Gesetz vom 29. Oktober 1929, Nr. 1386, wurden einzelne Abschnitte wie der Monte Grappa, Pasubio, Sabotino und San Michele zu nationalen Monumenten erklärt; vgl. GU Nr. 258, 3. November 1922, 2808. 11 Tobia, L’Altare, 80.

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ertag erhoben12 und der Sieg Italiens im Ersten Weltkrieg aufwändig und mit neuen nationalen Akzenten gefeiert.13 Der Partito nazionale Fascista (PNF) sorgte ab 1925 auch dafür, dass den Hinterbliebenen der für die causa nazionale, die faschistische Revolution Gestorbenen dieselbe materielle Versorgung zuteil wurde wie den im Ersten Weltkrieg gefallenen Soldaten.14 Am 4. November 1922 knieten Mussolini und Vittorio Emanuele III. mit dem gesamten Kabinett demonstrativ vor dem Grabmal des Unbekannten Soldaten.15 Diese Geste der Demut und des Respekts wurde in der Folgezeit zu einem zentralen Element des Appello fascista, dem Trauerritus der Fasci combattimenti für einen verstorbenen Kameraden. Diese öffentlichen und höchst suggestiven Veranstaltungen fanden in der Regel in den Abendstunden statt. Ein Trauerzug mit Fahnen, Wimpeln und brennenden Fackeln, begleitet von den langsamen Trommelwirbeln eines Trauermarsches bewegte sich zu einem öffentlichen Platz und nahm dort Aufstellung. Der Führer der Einheit rief den Namen des Toten und seine versammelten, knienden Kameraden antworteten einstimmig mit dem Ruf „Presente!“ – als ob der Tote noch unter ihnen weilte.16 Dem Dizionario di politica des PNF zufolge sollte der Appello fascista „[…] über ihren Tod hinaus das spirituelle Weiterleben derjenigen bezeugen, die […] zur Wiederherstellung der italienischen Lebensweise, wie sie der Faschismus befördert, beigetragen haben.“17 Er reihe sich damit ein in die „[…] jenseitigen spirituellen Kräfte, die in den Religionen im Heiligenkult und in den Völkern […] im Heldenkult ihren Ausdruck finden.“18 Konsequen12 Gentile, Emilio, Il culto del littorio. La sacralizzazione della politica nell’Italia fascista, Rom/ Bari 2001 (1993), 63 –   64. 13 Gentile, Il culto del littorio, 66  –74. 14 Gesetz vom 24. Dezember 1925, Nr. 2275, vgl. GU Nr. 302, 30. Dezember 1925, 5078; Gesetz vom 10. August 1927, Nr. 1519, vgl. GU Nr. 200, 30. August 1927, 3537; Gesetz vom 24. März 1930, Nr. 454, vgl. GU Nr. 107, 7. Mai 1930, 1702; Gesetz vom 12. Juni 1931, Nr. 777, vgl. GU Nr. 147, 27. Juni 1931, 3145  – 3146. 15 Gentile, Il culto del littorio, 67. 16 Für eine knappe, zeitgenössische Beschreibung vgl. Munro, Ion Smeaton, Through Fascism to World Power. A History of the Revolution in Italy, London 1971 (1933), 323; vgl. Gentile, Il culto del littorio, 47–   48. 17 „[…] di attestare la continuità spirituale oltre la loro vita fisica di coloro che hanno contribuito […] alla ricostruzione della vita italiana promossa dal Fascismo.“ In: Partito nazionale fascista (Hg.), Dizionario di politica, 4 Bde., Rom 1940, hier Bd. 1, 146. 18 „[…] forze spirituali oltre la vita fisica che nelle religioni si manifesta col culto dei santi e presso i popoli […] col culto degli eroi.“ PNF, Dizionario di politica, Bd. 1, 147.

„Presente!“ Kult und Raum im Italien des Faschismus | Klaus Tragbar

terweise wurden diese Toten in der faschistischen Rhetorik als caduti, Gefallene, oder als martiri, Märtyrer, bezeichnet, und ihr Tod als Opfer, sacrificio.19 Die Parallelität dieses Hochamtes des Faschismus zum christlichen Märtyrertum ist offensichtlich und sollte die faschistische Ideologie als ‚zivile Religion‘ fest in der italienischen Gesellschaft verankern.

Der Raum (I) Eingang in die Architektur des Faschismus fand dieser Kult erstmals in dem Sacrario dei martiri, den Adalberto Libera20 und Antonio Valente21 1932 für die Mostra della rivoluzione fascista im Palazzo delle Esposizioni in Rom (Pio Piacentini, 1880   –1883) entworfen hatten. Die durch Edoardo (Dino) Alfieri,22 Präsident des Mailänder Istituto fascista di cultura, initiierte Ausstellung sollte anhand der Schwerpunkte Staat, Arbeit, Armee und Geist (spirito) eine Bilanz der ersten zehn Jahre der Herrschaft des Faschismus zeigen.23 Die Ausstellung wurde am 28. Oktober 1932, dem Jahrestag des Marsches auf Rom, eröffnet und bis zum

19 Vgl. Kolb, Susanne, Sprachpolitik unter dem italienischen Faschismus. Der Wortschatz des Faschismus und seine Darstellung in den Wörterbüchern des Ventennio (1922 –1943), München 1990. 20 Vgl. Dizionario Biografico degli Italiani, Bd. 65, Rom 2005, 25  – 29; Allgemeines Künstlerlexikon. Die Bildenden Künstler aller Zeiten und Völker, Bd. 84, Berlin 2015, 359  – 360; Portoghesi, Paolo (Hg.), Dizionario enciclopedico di architettura e urbanistica, Bd. 3, Rom 1969, 386   – 387. 21 Vgl. Enciclopedia italiana di scienze, lettere ed arti, App. 5 (1979  –1992), Bd. 5, Rom 1995, 721. 22 Vgl. Dizionario Biografico degli Italiani, Bd. 34, Rom 1988, 54  – 58. 23 Vgl. den offiziellen Ausstellungskatalog: Alfieri, Dino / Freddi, Luigi (Hg.), Mostra della rivoluzione fascista, Rom 1933, sowie die Bestände im Archivio Centrale dello Stato, Rom, bei Fioravanti, Gigliola (Hg.), Partito nazionale fascista. Mostra della rivoluzione fascista, Rom 1990. Für die zeitgenössische Rezeption vgl. Bottazzi, Luigi, La Mostra della Rivoluzione Fascista, in: La lettura 32 (1932), 12, 1058   –1065; Leader [= Edoardo Persico], Mostra della Rivoluzione Fascista, in: La Casa bella 59/1932, Nr. 11, 28  – 31; Sarfatti, Margherita, Architettura, arte e simbolo alla Mostra del Fascismo, in: Architettura 12 (1933), Nr. 1, 1–17; P. Ma. [= Plinio Marconi], L‘organizzazione e l’ordinamento della mostra, in: Architettura 12 (1933), Nr. 1, 18  – 22; (Red.), Tre visioni della Mostra della Rivoluzione, in: Domus 64/1933, Nr. 4, 172 –173. Vgl. Ciucci, Giorgio, Gli architetti e il fascismo. Architettura e città 1922 –1944, Turin 1989, 120   –122; Gentile, Il culto del littorio, 189  – 201; Andreotti, Libero, The Aesthetics of War. The Exhibition of the Fascist Revolution, in: Journal of Architectural Education 45 (1992), Nr. 2, 76  –   86; Schnapp, Jeffrey T., Fascism’s museum in motion, in: Journal of Architectural Education 45 (1992), Nr. 2, 87–  97; Stone, Marla, Staging Fascism. The Exhibition of the Fascist Revolution, in: Journal of Contemporary History 28 (1993), Nr. 2, 215 – 243; Schnapp, Jeffrey T., Anno X. La Mostra della rivoluzione fascista del 1932, Pisa 2003; Capanna, Alessandra, Roma 1932. Mostra della rivoluzione fascista, Turin 2004. Zur faschistischen Ausstellungspolitik generell vgl. Ghirardo, Diane, Architects, Exhibitions, and the Politics of Culture in Fascist Italy, in: Journal of Architectural Education 45 (1992), Nr. 2, 67–75.

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28. Oktober 1934 gezeigt; ihr zweites Jahr fiel sinnigerweise zusammen mit dem Außerordentlichen Heiligen Jahr 1933/34 anlässlich des 1.900jährigen Gedächtnisses der Erlösung24 – was dem Konzept des Regimes einer ‚zivile Religion‘ sehr gelegen kam. Die Ausstellung war primär chronologisch aufgebaut (Säle A bis Q) und kulminierte in einer Benito Mussolini und den Faschismus feiernden Raumfolge (Säle R bis U) (Abb. 1). Für die aufwändige Ausstellungsarchitektur wurden führende Künstler und Intellektuelle der Abb. 1: Rom, Mostra della Rivoluzione Fascista, Zeit verpflichtet, darunter Ar1932, Grundriss Erdgeschoss naldo Carpanetti, Achille Funi, Leo Longanesi, Marcello Nizzoli, Mario Sironi – der gleich vier Säle gestaltete25 – und Giuseppe Terragni. Am Ende des Rundgangs erreichte der Besucher den zentralen Ehrensaal (Saal R), die Galleria dei Fasci (Saal S) und schließlich den zur Gänze Benito Mussolini gewidmeten Saal T. Den Höhepunkt dieser den Faschismus glorifizierenden Achse von Räumen bildete freilich der Sacrario dei martiri (Saal U), der nur durch den Mussolini gewidmeten Saal T betreten und wieder verlassen werden konnte (Abb. 2 und 3).26 Libera und Valente hatten in den vorgefundenen, fast quadratischen Raum eine scheinbar schwebende, kreisrunde Wand eingehängt, auf deren Innenseite in sechs Reihen übereinander, in leuchtenden Buchstaben und in ununterbrochener Folge der 24 Pius XI, Apostolische Konstitution „Quod Nuper“, in: Acta Apostolicae Sedis 25 (1933), Nr. 1, 5  –10. 25 Vgl. Andreotti, Libero, Architecture as Media Event. Mario Sironi and the Exhibition of the Fascist Revolution, 1932, in: Built Environment 31 (2005), Nr. 1, 9  – 20. 26 Quilici, Vieri, Adalberto Libera. L’architettura come ideale, Rom 1981, 58, 139  –142; Adalberto Libera. Opera completa, Mailand 1989, 140   –142; Garofalo, Francesco / Veresani, Luca (Hg.), Adalberto Libera, Bologna 1989, 53  –  57; Belli, Gemma, Liturgia fascista e progetti di sacrari, in: Giuffrè, Maria / Mangone, Fabio (Hg.), L’architettura della memoria in Italia. Cimiteri, monumenti e città 1750  –1939, Mailand 2007, 384  – 389, hier 385  – 387.

„Presente!“ Kult und Raum im Italien des Faschismus | Klaus Tragbar

Abb. 2: Adalberto Libera und Antonio Valente, Rom, Mostra della Rivoluzione Fascista, Sacrario dei martiri, 1932

Abb. 3: Adalberto Libera und Antonio Valente, Rom, Mostra della Rivoluzione Fascista, Sacrario dei martiri, 1932, Querschnitt und Detail der Beleuchtung

Appellruf „Presente!“ zu lesen war (Abb. 3).27 Im Zentrum des Raumes erhob sich auf einem ebenfalls kreisrunden, blutroten Sockel ein metallenes, von unten beleuchtetes monumentales Kreuz mit der Inschrift „Per la Patria immortale!“. Ursprünglich hatten Libera und Valente an dieser Stelle die Skulptur eines auferstehenden faschistischen Märtyrers vorgesehen;28 der Vorschlag, an dessen Stelle ein Kreuz anzuordnen, soll auf Mussolini persönlich zurückgehen.29 Die Farbe des Sockels und die genieteten Metallplatten des Kreuzes wiederholten architektonische Motive des Eingangs zur Mostra della rivoluzione fascista, für den Libera und Mario De Renzi einen rund 30 m hohen, dunkelroten Kubus mit vier davor stehenden, rund 25 m 27 Zur Beleuchtung vgl. Canesi, Giovanni/Cassi Ramelli, Antonio, Architetture luminose e apparecchi per illuminazione, Mailand 1934, 96. 28 Belli, Liturgia fascista, 386  – 387. 29 Vgl. Andreotti, Aesthetics of War, 86 note 19.

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hohen fasces30 ovalen Querschnitts aus brüniertem Kupfer entworfen hatten. Die genieteten Metallplatten erinnern an Panzerungen und akzentuieren den militärisch-aggressiven Charakter des Faschismus. An den quadratischen Wänden außerhalb des kreisrunden Zentrums des sacrario waren Fahnen der Squadre d’azione31 angebracht, deren jede den Namen eines Gefallenen trug. In dem gesamten, in ein mystisches blaues Licht getauchten Raum erklang zudem aus unsichtbar hinter den Lüftungsöffnungen angeordneten Lautsprechern die faschistische Hymne Giovinezza.32 Im Ausstellungskatalog feierten Alfieri und Freddi den sacrario, die Architekten hätten es „[…] bestens verstanden, diesem Heiligtum der Märtyrer genau jenen Sinn kriegerischen Mystizismus zu verleihen, der die Märtyrer zu den Taten inspirierte, in denen sie den Tod fanden.“33 In seinem 1933/34 entworfenen Projekt für den Palazzo del Littorio in Rom, in den nach ihrem Ende die Mostra della rivoluzione fascista als Dauerausstellung hätte überführt werden sollen, variierte Libera dieses Konzept (Abb. 4).34 Der hier halb in den Boden abgesenkte, erheblich größere sacrario war von allen Seiten über nach unten führende Stufen zugänglich. In seinem 30 Als fascis (lat., Pl. fasces) werden die Rutenbündel mit Richtbeil bezeichnet, die ursprünglich das Symbol der römischen Könige und später das der Amtsträger der Römischen Republik waren. Das Beil symbolisiert das Recht zur Verhängung der Todestrafe. Im 19. Jahrhundert wurde der Begriff für sozialrevolutionäre, außerparlamentarische Bünde wie die Fasci dei lavoratori oder die Fasci siciliani verwendet. In dieser Tradition stehen auch die am 23. März 1919 gegründeten Fasci italiani di combattimento, die Vorläufer des späteren Partito nazionale fascista, die beide ein fascis im Wappen führten. Durch Benito Mussolinis aggressive, auf die römische Antike rekurrierende Rhetorik wurden die fasces zum Namensgeber des Faschismus. 31 Die Squadri d’azione waren rechtsgerichtete, paramilitärische Einheiten, die nach dem Ende des Ersten Weltkriegs entstanden und im Bürgerkrieg 1921/22 eine Rolle spielten. Die meisten der squadri gingen nach 1922 in den verschiedenen faschistischen Organisationen auf. 32 Die Hymne Giovinezza geht zurück auf ein unpolitisches, 1909 von Giuseppe Blanc für eine Komödie komponiertes Lied. Die populäre Melodie wurde im Ersten Weltkrieg von den Arditi und anderen faschistischen Gruppierungen jeweils mit einem eigenen Text versehen. In der zwischen 1919 und 1921 entstandenen Textversion von Marcello Manni wurde die Hymne 1925 zum offiziellen Inno trionfale del Partito nazionale fascista, der fortan bei offiziellen Anlässen nach der damaligen italienischen Nationalhymne, der Marcia reale, zu intonieren war. 33 „[…] hanno ben saputo conferire a questo Sacrario dei Martiri quel senso di misticismo guerriero che ispirò i Martiri stessi nell’impeto in cui trovarono la morte.“ Alfieri / Freddi, Mostra, 227. 34 Vgl. Architettura. Rivista del Sindacato nazionale fascista architetti (13) 1934, 49 – 51; Palozzi, F. Saverio, Il nuovo stile littorio. I progetti per il Palazzo del littorio e della Mostra della rivoluzione fascista in Via dell’Impero, Mailand / Rom 1936, 47–  52; Quilici, Libera, 58 – 59, 151–152; Libera. Opera completa, 150  –151; Garofalo / Veresani, Libera, 78 – 81; Belli, Liturgia fascista, 386 –387.

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Abb. 4: Adalberto Libera, Projekt für den Palazzo del Littorio in Rom, Sacrario dei martiri, 1933/34

Zentrum erhob sich auf einem kreisrunden Sockel wiederum ein monumentales Kreuz, zusätzlich sah Libera auf dem Sockel einen Altar vor. In den Raum eingehängt werden sollte ein massiver Ring, an dessen Innenseite in acht Reihen übereinander auf umlaufenden Schriftbändern „Presente!“ zu lesen war. Die Belichtung sollte von oben durch den Raum zwischen dem Ring und den Außenwänden und durch die leuchtenden Buchstaben des „Presente!“ erfolgen. Zwischen 1932 und 1938 entstanden mehrere Skizzen von Libera für einen weiteren sacrario im Augustusmausoleum, der den in Afrika gefallenen italienischen Soldaten gewidmet sein sollte. An Stelle des zentralen Kreuzes schlug er eine überlebensgroße Kopie der Augustusstatue von Prima Porta vor; an den Wänden sollten die Namen der Gefallenen angebracht werden.35 1942 skizzierte Libera für die Mostra della Razza in Rom mehrere Versionen eines kreisrunden Raumes mit einer schwebenden, raumbeherrschenden Weltkugel im Zentrum.36 Auch sein im gleichen Jahr entstandener Entwurf für das Atatürk Mausoleum in Ankara variiert diese Idee, hier mit einer aus einer flachen Schale aufsteigenden Flamme im Zentrum, einem mosaizierten Fußboden und den umlaufenden Worten „Vande Mataram“ an den Wänden.37 35 Quilici, Libera, 52, 60; Libera. Opera completa, 143; Garofalo / Veresani, Libera, 82 –  83. 36 Quilici, Libera, 61, 177; Libera. Opera completa, 172. 37 Libera. Opera completa, 120, 173; Garofalo / Veresani, Libera, 135  –137. Zu den Worten „Vande mataram“ bedarf es noch weiterer Forschungen: Zum einen ist „Vande mataram“ ein um 1870 in Bengali verfasstes Gedicht, das wenig später vertont wurde und dessen Titelzeile „Mutter, ich verneige mich vor Dir“ in der indischen Unabhängigkeitsbewegung politische Bedeutung erlangte; seit 1950 bilden seine ersten beiden Verse die Nationalhymne Indiens. Zum anderen bedeuten die Worte auf Portugiesisch „Sie haben getötet“. Beide Interpretationen sind im Kontext des Atatürk-Mausoleums unbefriedigend.

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Das räumliche Konzept von Libera und Valente für den sacrario der Mostra della rivoluzione fascista hatte darüber hinaus vor allem den 1934 durchgeführten ersten Wettbewerb für den Palazzo del Littorio in Rom beeinflusst. Giuseppe Samonà entwarf in seinem Projekt einen kreisrunden sacrario, mit einem schwarzen Monolithen im Zentrum und ohne umlaufende Inschrift; Mario Sironi sah einen quadratischen sacrario mit einer eingehängten, kreisrunden und leuchtenden Wand vor, und Giuseppe Vaccaro schlug einen geschlossenen Zylinder vor, der durch ein monumentales Atrium zugänglich sein sollte.38 Auch in den Parteigebäuden des PNF befanden sich zumeist an prominenter Stelle angeordnete Gedenkstätten. Von diesen soll, ihrer ähnlichen Raumkonzeption wegen, lediglich die Cella commemorativa erwähnt werden, die Luigi Moretti 1940 beim Umbau der Foresteria Nord im Foro Mussolini, heute Foro Italico in Rom (Costantino Costantini, 1934   –1937) als Sitz des PNF entworfen hatte (Abb. 5).39 In den vorhandenen, an der Portikus der Foresteria gelegenen querrechteckigen Raum fügte Moretti eine elliptische Wand so ein, dass sie durch die Portikus leicht abgeschnitten wurde. In der Portikus teilte er durch zwei gegenüberliegende, halbkreisförmige Nischen einen Vorraum ab, durch den die cella erschlossen wurde. Damit hatte er eine Raumfolge geAbb. 5: Luigi Moretti, Rom, Foro Mussolini, schaffen, die an den frühchristForesteria Nord, Cella commemorativa, 1940 lichen Bau von Santa Costanza 38 Belli, Liturgia fascista, 384, 387– 389. 39 Architettura. Rivista del Sindacato nazionale fascista architetti (22) 1943, 229  – 238; Santuccio, Salvatore, Luigi Moretti, Bologna 1986, 61–   62; Bucci, Federico / Mulazzani, Marco (Hg.), Luigi Moretti. Opere e scritti, Mailand 2000, 72 –74; Belli, Gemma, Luigi Moretti. Il progetto dello spazio sacro, Florenz 2003, 75  –79; Belli, Liturgia fascista, 388; Vidotto, Vittorio, La Roma di Mussolini, in: Gentile, Emilio (Hg.), Modernità totalitaria. Il fascismo italiano, Rom 2008, 159  –171, hier 169; Spagnesi, Piero, Luigi Moretti al Foro Mussolini. La Palestra del Duce e altri inediti, in: Bozzoni, Corrado / Fonti, Daniela / Muntoni, Alessandra, Luigi Moretti. Architetto del Novecento, Rom 2011, 331– 338.

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und an die querovalen Räume des römischen Barock wie Sant’Andrea al Quirinale (Gian Lorenzo Bernini, 1658  –1670) oder die Portikus von Santa Maria in Via Lata (Pietro da Cortona, 1658  –1662) erinnert. Der Boden der cella bestand aus poliertem dunkelrotem Granit, die elliptische Wand aus weißem, grob mit dem Meißel bearbeiteten Marmor aus Carrara. Die Wand wurde durch ein vor ihr liegendes Lichtband von unten beleuchtet. Das Zentrum dieses die ‚zivile Religion‘ des Faschismus widerspiegelnden Raumes bildete ein altarartiger Sarkophag auf einem fünfstufigen Sockel; daneben standen drei schlanke bronzene Standarten des Bildhauers Antonio Biggi, die den Wahlspruch des Faschismus „credere, obbedire, combattere“ symbolisierten. Die Cella commemorativa wurde in der unmittelbaren Nachkriegszeit zerstört.

Der Raum (II) Auch an manchen der monumentalen Ossarien für die Gefallenen des Ersten Weltkriegs, die während des ventennio, der zwei Jahrzehnte des italienischen Faschismus, an Stelle der Friedhöfe der unmittelbaren Nachkriegszeit errichtet wurden, findet sich der Appellruf „Presente!“.40 Im heute slowenischen Kobarid, das bis 1920 als Karfreit zu Österreich-Ungarn gehörte, dann als Caporetto zu Italien kam und 1946 jugoslawisch wurde, führt eine via crucis zu dem auf einem landschaftsbeherrschenden Hügel erbauten Ossarium.41 Die 1938 eingeweihte und durch Giovanni Greppi (1884   –1960)42

40 Zu den Ossarien generell vgl. Bortolotti, Massimo, Architettura della memoria. Sacrari ai caduti della 1a Guerra Mondiale in Friuli-Venezia Giulia, in: La panarie 27 (1995), Nr. 107, 97–104; Bortolotti, Massimo, Progetti e realizzazioni in Friuli Venezia Giulia 1931–1938, in: Parametro 27 (1996), Nr. 213, 33 –  45; Fiore, Anna Maria, I sacrari italiani della Grande Guerra, in: Giuffrè, Maria / Mangone, Fabio (Hg.), L’architettura della memoria in Italia. Cimiteri, monumenti e città 1750  –1939, Mailand 2007, 357– 363; Fiore, Anna Maria / Zucconi, Guido, Sacrari e ossari italiani della Prima guerra mondiale, in: Felicori, Mauro / Sborgi, Franco (Hg.), Lo splendore della forma. La scultura negli spazi della memoria, Rom 2012, 351– 362; Tragbar, Klaus, Die Inszenierung der Toten. Italienische Kriegsgräberstätten im Alpenraum als Mittel faschistischer Propaganda, in: RIHA Journal 0164, 27. Juni 2017, DOI http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:101:1-201707241285. 41 Bortolotti, Progetti e realizzazioni, 42 –   44; Fiore, I sacrari italiani, 360   – 361; Fiore / Zucconi, Sacrari e ossari italiani, 357– 358. 42 Vgl. Thieme, Ulrich / Becker, Felix (Hg.), Allgemeines Lexikon der bildenden Künstler von der Antike bis zur Gegenwart, Bd. 14, Leipzig 1921, 599  –  600; Vollmer, Hans (Hg.), Allgemeines Lexikon der bildenden Künstler des XX. Jahrhunderts, Bd. 2, Leipzig 1955, 305; Allgemeines Künstlerlexikon, Bd. 61, München / Leipzig 2009, 468; Dizionario biografico degli italiani, Bd. 59, Rom 2002, 328  –331.

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und Giannino Castiglioni (1884   –1971)43 entworfene Anlage besteht aus vier konzentrischen Achtecken, die stufenförmig bis zu der obersten Plattform auf der Hügelkuppe mit der im späten 17. Jahrhundert errichteten Kirche S.  Antonio ansteigen. Auf den Stufen sind umlaufend Rundbogennischen mit bronzenen loculi, Grabnischen für die sterblichen Überreste der Gefallenen, angeordnet; in den Tympana der Nischen steht der Appellruf „Presente“. Auch das Ossarium im friulanischen Timau an der Straße zum Plöckenpass (Giannino Castiglioni, 1937–1939),44 ein schlichter Saalbau mit umlaufenden Arkaden, weist an der Außenseite des Baukörpers in den Arkaden Rundbogennischen mit Bronzetafeln und den Namen der Gefallenen auf; in den Tympana steht wie in Kobarid „Presente“. Eine kaum noch zu steigernde Verwendung dieses Appellrufs in einem architektonischen Kontext findet sich am Ossarium in Redipuglia (Giovanni Greppi und Giannino Castiglioni, 1935 –1938).45 Man betritt die Anlage über eine via eroica, auf der Bronzetafeln im Boden an die Schlachten im Karst erinnern, und erreicht einen großen rechteckigen Vorplatz, auf dem sich mittig über einem gestuften Sockel das in Porphyr ausgeführte monumentale Grabmal von Emanuele Filiberto di Savoia, Duca d’Aosta und Kommandeur der 3. Italienischen Armee, erhebt. Vor diesem befindet sich ein Altar, dahinter sind in granitenen Sarkophagen fünf seiner gefallenen Generäle bestattet. Anschließend führen 22 monumentale steinerne Stufen mit den loculi für die Gefallenen auf die Kuppe des Hügels, auf der drei Kreuze stehen – ein überdeutlicher Hinweis auf Golgatha und die christliche Opfersymbo43 Vgl. Vollmer, Allgemeines Lexikon, Bd. 1, Leipzig 1953, 406; Allgemeines Künstlerlexikon, Bd. 17, München / Leipzig 1997, 229; Dizionario biografico degli italiani, Bd. 22, Rom 1979, 152 –154. 44 Bortolotti, Architettura della memoria, 101–102; Bortolotti, Progetti e realizzazioni, 42 –   44. 45 Ministero della Difesa (Hg.), Sacrari militari della prima guerra mondiale. Redipuglia, Oslavia ed altri sacrari vicini della venezia giulia e d’oltre confine, Rom 1976, 7–   44; Mosse, George: Le guerre mondiali. Dalla tragedia al mito dei caduti, Bologna 1990, 20   – 32; Bortolotti, Architettura della memoria, 99  –101; Bortolotti, Progetti e realizzazioni, 33 –  40; Fabi, Lucio, Redipuglia. Storia, memoria, arte e mito di un monumento che parla di pace, Triest 1996; Fiore, Anna Maria, La monumentalizzazione dei luoghi teatro della Grande Guerra. Il sacrario di Redipuglia di Giovanni Greppi e Giannino Castiglioni, in: Annali di architettura 15 (2003), 233 – 247; Fiore, I sacrari italiani, 361– 362; Fiore / Zucconi, Sacrari e ossari italiani, 358  – 360; Nicoloso, Paolo, Architetture per fascistizzare i caduti in guerra. Gli Ossari di Oslavia e Redipuglia, in: Engramma 1/2 (2014), Nr. 113, 24  – 30; Tragbar, Die Inszenierung der Toten, 19   – 24.

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Abb. 6: Giovanni Greppi und Giannino Castiglioni, Redipuglia, Ossarium, 1935  –1938

lik. Jede der Stufen schließt mit einem steinernen Reliefband ab, auf dem in ununterbrochener Folge der Appellruf „Presente“ zu lesen ist (Abb. 6). Die gesamte Anlage hat einen gestreckt trapezoiden Grundriss und verjüngt sich zur Kuppe hin, ihre strenge Anordnung erinnert an eine zum Appell angetretene militärische Einheit, angeführt von ihren Generälen und ihrem Kommandeur.

Fazit Der 1932 von Adalberto Libera und Antonio Valente für die Mostra della rivoluzione fascista entworfene Sacrario dei martiri kann als paradigmatisch für die enge Verknüpfung von Kult und Raum im italienischen Faschismus angesehen werden. Der als essentieller Bestandteil in die Architektur einbezogene Appellruf „Presente!“ erinnerte jeden Besucher an den öffentlichen Appello fascista und das Weiterleben der Toten in einer immerwährenden Gemeinschaft oder, wie es Alfieri und Freddi im Ausstellungskatalog formulierten, in „[…] der Heiligkeit des faschistischen Martyrologiums, das schicksalhaft den Triumph der Revolution ermöglicht hat.“46 Dass dieser Appellruf auch an den 46 „[…] la santità del martirologio fascista che ha reso possibile e fatale il trionfo della Rivoluzione.“ Alfieri / Freddi, Mostra, 188.

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Ossarien für die Gefallenen des Ersten Weltkriegs Verwendung fand, deutet die Gefallenen nicht nur postum zu Märtyrern des Faschismus um, sondern weist den Ossarien, die alle in erst nach dem Ersten Weltkrieg an Italien gefallenen Gebieten liegen, auch eine im wörtlichen Sinne raumbeherrschende Bedeutung zu. Mit dem sacrario gelang dem Regime zehn Jahre nach der Machtübernahme an prominentester Stelle eine auch im internationalen Vergleich moderne und höchst suggestive Raumschöpfung, die nicht nur den Höhepunkt der mit über vier Millionen Besuchern – bei einer Bevölkerung von knapp 41 Millionen – äußerst erfolgreichen Ausstellung bildete, sondern auch als Quintessenz der faschistischen Ideologie gelesen werden kann. Im Zusammenwirken von Raum und Licht, Text und Ton wird deren Selbstverständnis und Anspruch als ‚zivile Religion‘ überdeutlich, so dass mit Recht von einer „sancta sanctorum“ des Faschismus gesprochen werden kann.47

Bildnachweis: Abb. 1: Sarfatti, Architettura, arte e simbolo, 8. Abb. 2: Archivio Centrale dello Stato, Mostra della Rivoluzione Fascista, Archivio fotografico, scatola 203, negativo 222. Abb. 3: Marconi, L‘organizzazione, 18. Abb. 4: Architettura. Rivista del Sindacato nazionale fascista architetti (13) 1934, 51. Abb. 5: Bucci / Mulazzani, Moretti, 72. Abb. 6: Foto: Klaus Tragbar.

47 Gentile, Il culto del littorio, 200.

Vauban und Ledoux in Regionalmuseen oder: Architektur und politische Raumbildung als museale Herausforderung. Ein Gedankenspiel Brigitte Sölch

Raumkult – Kultraum möchte ich als Rahmen für die Frage nach der Auseinandersetzung mit dem Territorium verstehen, das einen sozial zugehörigen Raum meint und die architektonische Planung genauso wie das Ausstellen von Architektur betreffen kann.1 Die Betrachtung setzt einerseits ein dynamisches Verständnis der Beziehung zwischen ‚Zentrum‘ und ‚Peripherie‘ voraus und tangiert andererseits die historische Vorstellung des politischen Raums. Seit um 1800 galt dieser nicht mehr als ein vom Zentrum in ein potenziell grenzenloses Außen strahlender, sondern als ein von Grenzen umschlossener Raum.2 Am Formierungsprozess dieser Raumvorstellung hatten französische Zivilarchitekten internationalen Rangs wie Sébastien Le Prestre de Vauban (1633  –1707) und Claude-Nicolas Ledoux (1736  –1806) ante litteram bereits Anteil. Sie wirkten an soziopolitischen Visionen wie auch an der materiell-physischen Gestaltung des Territoriums mit, weshalb ein besonderes Augenmerk auf ihre museale Präsentation zu richten sein wird. Zu fragen ist, wie die Architekturgeschichte, in dem Fall Frankreichs, heute museal vermittelt wird – und dies nicht nur in Paris, sondern auch in einzelnen Regionen des Landes?

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Vgl. zur Bedeutung des Territoriums für architektoniche Raumbildungsprozesse Nova, Alessandro / Jöchner, Cornelia (Hg.), Platz und Territorium. Urbane Struktur gestaltet politische Räume (Italienische Forschungen des Kunsthistorischen Institutes in Florenz I, Mandorli 11), Berlin u. a. 2010. Vgl. Neuber, Wolfgang, Sichtbare Unterwerfung. Zu den herrschaftsstrategischen Raumvorstellungen in frühneuzeitlichen Idealstadtentwürfen und Utopien, in: Politische Räume. Stadt und Land in der Frühneuzeit (Hamburger Forschungen zur Kunstgeschichte 2), hg. v. Cornelia Jöchner, Berlin 2003, 1– 22, hier 9.

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Zur Annäherung an diese Frage in Form eines Gedankenspiels, das die Thematik der Gemeinschaftsbildung aus einem säkularen Blickwinkel betrifft, lohnt der Blick auf Burgund, das mit dem Pariser Hof traditionell eng verbunden war, und die Franche Comté, die erst 1678 Frankreich einverleibt wurde. Die heute zusammengehörige Region Burgund-Franche Comté ist für ihre mittelalterliche Kunst und Architektur, ihre ‚pittoresken‘ Städte, Dörfer und Landsitze bekannt. International weniger präsent sind jedoch einige monografische Museen, die dort, weit außerhalb von Paris, in den 1990er Jahren in historischen Gebäuden eingerichtet wurden. Es sind Museen, die einer breiteren Öffentlichkeit das Werk von Wissenschaftlern und Architekten vermitteln, die mit den Ausstellungsgebäuden und deren Umgebung in Verbindung stehen. Ihr historischer Rang reicht jedoch weit über die einzelnen Departements hinaus. Sie stehen für das Frankreich des 17. und 18. Jahrhunderts und sind damit wesentlicher Bestandteil einer nationalen Kulturgeschichtsschreibung, die Anlass gibt, über die Bedeutung von Regionalmuseen für die Vermittlung von Architektur und Raumbildungsprozessen und für die soziale Gemeinschaftsbildung nachzudenken. Setzen wir das Gedankenspiel fort, so könnte es daher eine wichtige Aufgabe sein, regionale (Architektur-)Museen zukünftig verstärkt vergleichend zu analysieren.3 Sie sind Anziehungspunkte für den internationalen Kulturtourismus und haben überdies eine soziale und kulturelle Bedeutung vor Ort. Nicht umsonst verfügt Frankreich seit den 1960er Jahren über das Konzept der Ecomusées, die Natur und Kultur in ländlichen Regionen zu verbinden suchen,4 aber auch über eine interessante Vorgeschichte. Im 19. Jahrhundert war die dortige Museumslandschaft nicht mehr nur auf Paris konzentriert. Vielmehr hatte eine Reihe von Eliten und Kommunen begonnen, Sammlun-

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1980 wurde zum Beispiel das ‚Provinzmuseum‘ diskutiert. Vgl. Scharfe, Martin (Hg.), Museen in der Provinz. Strukturen, Probleme, Tendenzen, Chancen (Referate und Diskussionen der 5. Arbeitstagung der „Arbeitsgruppe: Kulturgeschichtliche Museen“ in Biberach an der Riß, 05.06  –  07.06.1980), Tübingen 1982. Weiterführend ist Walz, Markus (Hg.), Handbuch Museum. Geschichte, Aufgaben, Perspektiven, Stuttgart 2016. Darin enthalten ist ein Beitrag von Henkel, Matthias / Schade, Friedrich / Walz, Markus, Lokalität als Thema. Orts-, Stadt-, Regionalmuseen, in: ebd., 107–113. Vgl. Ecomusées en France. Actes des premieres Rencontres nationales des écomusées (L‘Isle-d‘Abeau, 13.11.–14.11.1986), Lyon 1987; Davis, Peter, Ecomuseums. A sense of place, London 1999.

Vauban und Ledoux in Regionalmuseen | Brigitte Sölch

gen in den Provinzen einzurichten und damit die Frühgeschichte von Regionalmuseen zu prägen. Es handelte sich vorwiegend um Kunstmuseen, die im Zeichen republikanischer Strömungen und einer bourgeoisen Kultur standen. So, wie diese Museen aus heutiger Sicht regionale und nationale Bezugspunkte vereinten,5 stellt sich im gegenwärtigen Kontext einer globalen und postkolonialen Geschichtsschreibung die Frage nach dem Umgang mit dem Nationalen und dem Regionalen vor allem dort, wo es nicht um urbane Zentren und prestigeträchtige Museumsneubauten geht. Sammlungen wie die im Folgenden besprochenen liegen zwar in historischen Gebäuden und kleinen Ortschaften, inhaltlich und architektonisch aber stehen sie für die historisch enge Verflechtung mit Paris und anderen Regionen. Selbst die Ausstellungsgebäude sind Teil der umliegenden Kulturlandschaft, die unter wandelnden Voraussetzungen gestaltet wurde. Da Nation, Region und Heimat auch in Europa wieder zu politisch umkämpften Begriffen und Deutungsmodellen geworden sind,6 gilt es, Regionalmuseen nicht der Ökonomie der Aufmerksamkeit zu entziehen. Selbst wenn sie nur wenige pekuniäre und personelle Mittel zur Verfügung haben, sind sie für Tagesbesucher wie für lokale Gemeinschaften potenziell lebendige Erfahrungs- und Kommunikationsräume,7 die sich in überregionale und internationale Netzwerke einbinden ließen. Materielle Kultur ist in ihnen nicht abgelegt, sondern lässt immer wieder neu betrachten und befragen, wie ICOM auch in Museums, Ethics and Cultural Heritage deutlich macht.8 Regionalmuseen können so gesehen wichtige Beiträge zum Nationalen im Zeitalter des Globalen leisten. Die Soziologin Saskia Sassen hat bereits gezeigt, welche Assemblagen diese beiden, schon vor dem modernen Nationalstaat existierenden ‚Pole‘ (national, global)

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Vgl. Sherman, Daniel J., Worthy monuments. Art museums and the politics of culture in nineteenth-century France, Cambridge Mass. u. a. 1989. Vgl. allg. Hermand, Jost / Steakley, James, Heimat, nation, fatherland. The German sense of belonging, New York 1996. Vgl. Yerkovich, Sally, Ethics in a changing social landscape, in: Museums, ethics and cultural heritage, hg. v. Murphy, Bernice L, London u. a. 2016, 242 – 250. ICOM geht seit der postkolonialen Kritik von cultural diversity aus. Vgl. Hinz, Hans-Martin, ICOM turns 70. Ethics and the value creation role of the museum, in: Murphy, Museums, Ethics and Cultural Heritage, 3  –  8.

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vom Mittelalter bis in die Gegenwart eingegangen sind.9 Für solche komplexen Zusammenhänge könn(t)en auch Regionalmuseen sensibilisieren. „There are simply no better social institutions than museums to help to define a sustainable future, grounded as they are in a diachronic view of humankind’s success and failure“, konstatiert so auch Robert R. Janes, der Verfasser von Looking Reality in the Eye: Museums and Social Responsibility.10 Diese Überlegungen grundieren den Blick auf die Region Burgund-Franche Comté, weil einige der dortigen Regionalmuseen Architekten und Gelehrten gewidmet sind, die mit Kategorien wie ‚Aufklärung‘, ‚Visionär‘,‚Vorbereiter der Moderne‘ verbunden sind – mit Kategorien also, die selbst Gegenstand wissenschaftlicher Debatten sind.11 Man denke nur an das bekannte Stichwort der ‚Kehrseite der Aufklärung‘.12 Museale Präsentationen (nicht nur) französischer Autoren und Akteure des 17. und 18. Jahrhunderts ließen sich folglich auch durch Erkenntnisse zur europäischen Kolonialgeschichte ergänzen, zu der Saliha Belmessous etwa in Bezug auf Neufrankreich schreibt: „Changing French attitudes to Amerindians show that intellectual discussion on the idea of civility and progress had no influence on policy-makers. Important works like Montesquieu’s De l’esprit des lois (1748), Georges Buffon’s Histoire naturelle de l’homme (1749), and Jean-Jacques Rousseau’s Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité parmi les hommes (1754) were published much too late to have any impact on French colonial policy. The shift to racial prejudice happened twenty years before Voltaire expressed his polygenist conside9

Vgl. Sassen, Saskia, Territory, Authority, Rights. From Medieval to Global Assemblages, Princeton N. J. u. a. 2008. 10 Zitiert nach Murphy, Bernice L., Charting the ethics landscape for museums in a changing world, in: Murphy, Museums, Ethics and Cultural Heritage, 19  –   42, hier 37. Siehe auch Janes, Robert R., Looking Reality in the Eye. Museums and Social Responsibility, Caligary 2005. 11 Vgl. zum Beispiel Chakrabarty, Dipesh, Europa als Provinz. Perspektiven postkolonialer Geschichtsschreibung (Theorie und Gesellschaft 72), Frankfurt a. M. u. a. 2010; Mills, Charles W., Criticizing critical theory, in: Critical theory in critical times. Transforming the global political and economic order, hg. v. Penelope Deutscher u. Cristina Lafont, New York 2017, Kapitel 11. 12 Vgl. etwa die Ausstellung Schwarze Romantik. Von Goya bis Max Ernst (Katalog zur Ausstellung, Städel Museum, Frankfurt a. M., 26.09.2012  –  20.01.2013), hg. v. Felix Krämer, Ostfildern 2012; Jung, Theo, Gegenaufklärung. Ein Begriff zwischen Aufklärung und Gegenwart (Sonderdruck der Universität Freiburg i. Br.), 2012, https://freidok.uni-freiburg. de/data/9344 (Stand: 01.10.2018).

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rations on humans and more than forty years before Montesquieu, Rousseau, and others expressed their views on human nature.“13

Regionalmuseen in Burgund-Franche Comté: Das Ausstellen von Architektur als Herausforderung Connected histories wie diese sind gleichermaßen relevant für Gegenstände in Regional­ museen, zu denen in Burgund das Museum des zitierten Comte de Buffon (1707– 1788) zählt. Buffon hatte Mitte des 18. Jahrhundert die ersAbb. 1: Montbard, Musée Buffon, Vitrine mit te große Histoire naturelle in der Histoire naturelle des Comte des Buffon. Foto: Autorin Frankreich verfasst und die Verantwortung für die königlichen Gärten in Paris getragen.14 Seine naturwissenschaftlichen Methoden und Errungenschaften werden heute in seinem Geburtsort Montbard in einem kleinen, aber feinen Wissenschaftsmuseum vermittelt (Abb. 1). Das Museum liegt in jenem Garten, den Buffon 1733 bis 1742 angelegt hatte und der seinen Schreib- und Denkort umgab,15 wobei seine benachbarte Mine zugleich von den frühen Ausprägungen einer industriellen Architektur in Burgund zeugt. Diese hatte in Zisterzienserklöstern wie Fontenay wichtige Vorläufer im Sinn der révolution industrielle du Moyen Âge,16 und gelangte in der nach 1800 angelegten Minenanlage bei Châtillon-sur-Seine zur großmaßstäblichen Umsetzung.17 Es ist diese Verbindung von Wohnen, intellektueller und industrieller Arbeit, der wir am

13 Belmessous, Saliha, Assimilation and empire. Uniformity in French and British colonies 1541–1954, Oxford 2013, 52. 14 Vgl. Taquet, Philippe, Buffon 1788  –1988, Paris 1988; Spary, Emma C., Utopia‘s Garden. French Natural History from Old Regime to Revolution, Chicago u. a. 2000. 15 Vgl. auch Didier, Frédéric, Monsieur de Buffon, seigneur de Montbard, in: Monuments historiques, 156 (1988), 56  –  60. 16 Vgl. Gimpel, Jean, La révolution industrielle du moyen âge, Paris 1968. 17 Vgl. die aktuelle Präsentation in zwei Räumen des archäologischen Musée du Pays Châtillonnais in Chatillon-sur-Seine. Siehe auch Smith, Michael Stephen, The Emergence of Modern Business Enterprise in France 1800  –1930 (Harvard Studies in Business History), Cambridge Mass u. a. 2006, 184  –185.

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Beispiel des bedeutendsten französischen Festungsbaumeisters Vauban und des ‚Revolutionsarchitekten‘ Ledoux in anderer Form begegnen werden.18 Diese Dauerausstellungen stehen damit beispielhaft für die wenigen Regionalmuseen, die Architektur zum Thema haben. Schon in den 1970er Jahren setzte eine Diskussion über Architekturmuseen und -vermittlung ein, die Kunstforum International 1980 zum Anlass nahm, das Ausstellen von Architektur zu diskutieren und als Theorie zu verstehen.19 Wenn im Folgenden eine (phänomenologische) Annäherung an die Museen zu Vauban und Ledoux erfolgt, dann, um regionale (Architektur-) Museen als Zwischenraum zu verstehen, der zur kritischen Reflexion über Bedingungen der Produktion von Architektur und damit auch von sozialer Gemeinschaftsbildung anregen kann – wobei Architekturmuseen ihren eigentlichen Gegenstand nicht ausstellen, sondern „Zeichnungen, Pläne, Modelle, Filme und andere Darstellungen […] um eine Abwesenheit dieses Werkes herum“20 anordnen. Die Museen zu Vauban und Ledoux sind hier keine Ausnahme, böten jedoch wie Architekturmuseen allgemein Anlass zur Reflexion über den Anteil von Zeichnungen, Plänen, Fotografien, Filmen an der Produktion bestimmter Vorstellungsbilder und Wahrnehmungsbedingungen von Architektur. Dies betrifft ebenso die Konstruktion und Sichtbarmachung von ‚Nation‘, in deren Kontext ich das Thema Raumkult – Kultraum hier platziere. Sie spielt für die soziale und politische Dimension des Werks von Vauban und Ledoux eine wichtige Rolle, deren museale Präsentation Einzelfiguren fokussiert, jedoch Einblicke in größere Fragen und Zusammenhänge gewähren könn18 Vaubain ist in Bazoches im Morvan und Ledoux in der Saline von Chaux ausgestellt. Vgl. zu Vauban Vauban, bâtisseur du Roi-Soleil (Katalog zur Ausstellung, Cité de l’Architecture et du Patrimoine, Paris, 14.11.2007–  5.2.2008), hg. v. Isabelle Warmoes, Paris 2007 und zu Ledoux im Kontext der Forschung Philipp, Klaus Jan, Revolutionsarchitektur. Klassische Beiträge zu einer unklassischen Architektur (Bauwelt-Fundamente 82), Braunschweig 1990, hier 8  –16. 19 Kunstforum International 38 (1980). 20 Cohen, Jean-Louis, Fragen an das Architekturmuseum. Ein Pariser Experiment, Hamburg 2004, 9. Vgl. allg. Szambien, Werner, Le Musée d’Architecture, Paris 1988; Ruhl, Carsten / Dähne, Chris (Hg.), Architektur ausstellen. Zur mobilen Anordnung des Immobilen, Berlin 2015; Das Architekturmodell. Werkzeug, Fetisch, kleine Utopie (Katalog zur Ausstellung, Deutsches Architekturmuseum, Frankfurt a. M., 25.05.2012  –16.09.2012), hg. von Oliver Elsner u. Peter Cachola Schmal, Frankfurt a. M. 2012; Frommel, Sabine / Tassin, Raphaël (Hg.), Les maquettes d’architecture. Fonction et évolution d’un instrument de conception et de réalisation, Paris 2015.

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te: in Architektur als Prozess, als Kommunikations- und Gemeinschaftsarbeit, oder als Produktion von Raum (Henri Lefebvre).21

Vauban im Morvan oder: Grenzen in Bewegung Inmitten des burgundischen Morvan-Gebiets liegt auf einer Anhöhe das Schloss Bazoches, das durch einen trapezoiden Grundriss ausgezeichnet ist und dessen Ecktürme noch vom Umbau eines mittelalterlichen Vorgängerbaus im 17. Jahrhundert zeugen.22 Unweit entfernt krönt die Wallfahrtskirche von Vézelay eine Hügelkuppe und zeugt damit von der schon im Mittelalter strategisch günstigen Lage von Bazoches. Dort war Vauban geboren und dort sollte er nach seinen Militäreinsätzen seinen Wohn- und Arbeitsort einrichten. Dafür ließ er die ursprünglich nach Westen hin offene Hoffront durch einen architektonisch zurückhaltenden, zweigeschossigen Flügel mit dem Hauptportal über einer vorgelagerten Treppenanlage schließen. Das Obergeschoß dieses neuerbauten Flügels nimmt die für uns interessante Grande Galerie ein, die auf der westlichen Langseite reich durchfenstert ist und den Blick über das Tal schweifen lässt.23 Heutige Besucher dieses Schlossmuseums, das 1997 öffentlich zugänglich gemacht wurde und noch in Privatbesitz ist,24 treffen bereits im sorgsam gepflegten Garten auf ein Monument (Abb. 2), das ikonisch auf Vauban als Festungsarchitekt verweist: Es ist aus dunklem Stein in den Boden eingelassen und auf die Form einer oktogonalen Befestigung reduziert. Wie aber wird Vaubans architektonisches Schaffen an diesem Ort, an dem die Projektierung der Vaubanschen Festungsanlagen im ganzen Land stattgefunden haben soll, vermittelt – 21 Vgl. Lefebvre, Henri, Le droit à la ville, Paris 1968; Lefebvre, Henri (1974), Die Produktion des Raums, in: Dünne, Jörg / Günzel, Stephan (Hg.), Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt a. M. 2006, 330  – 340. 22 Vgl. etwa Rapin, Jean-Jacques, Un haut-lieu de l‘histoire et de la culture s‘ouvre au public. Le château de Bazoches, demeure du maréchal de Vauban, in: Revue Militaire Suisse 142 (1997) 6  –7, 40  –   42. 23 Vgl. den kleinen Schlossführer von Sigalas, Arnaud de, Château de Bazoches-de-Morvan, 10. Aufl. Paris 2015 sowie Le Morvan de Vauban, in: Bourgogne. Le magazine du patrimoine, de l’histoire ett de l’art de vivre, 4 (2006), 38  – 59. 24 Vgl. auch die Website des Museums (http://www.chateau-bazoches.com/en/chateau/, Stand: 01.10.2018), das im Morvangebiet durch ein Ecomusée zu Vauban in Saint-LégerVauban ergänzt wird.

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Abb. 2: Château de Bazoches, Garten mit einem Monument zu Ehren von Vauban, ohne Datierung. Foto: Autorin

Abb. 3: Château de Bazoches, Grande Galerie im Obergeschoß. Foto: Autorin

in einem Museum, das wie viele Schlossmuseen Möbel und Bilder aus verschiedenen Orten und Epochen zu einer harmonisch wirkenden Raumausstattung vereint? Für die intellektuelle Arbeit des Festungsbaumeisters und seiner Equippe stehen im Erdgeschoss die Bibliotheksräume, die heute Bücher aus Vaubans, aber auch aus späterer Zeit, in den Wandschränken vereinen. Die große Galerie im Obergeschoß des neuentworfenen Flügels aber (Abb. 3), wo Vauban mit seinen Ingenieuren gearbeitet haben soll,25 setzt auf die Phantasie der Besucher. Ursprüngliche Arbeitsgeräte sind hier nicht zu finden und die Planungs- und Entwurfsarbeit nur schwer vorzustellen – obwohl die Boten und Ingenieure von Bazoches aus mit den Planrol25 Vgl. Vauban au Chateau de Bazoches, in: Revue des Deux Mondes 8 (1984), 505 –  506, hier 506: „Il construit une galerie longue de 30 mètres qui sera la salle d‘étude où ses ingénieurs dessineront maquettes et plans-reliefs. De là partiront, là aboutiront les ordres du chef trans mis par estafettes à cheval.“ Siehe auch Sigalas, Château de Bazoches-deMorvan, 12.

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len in alle Teile des Landes aufgebrochen sein und Erkenntnisse über die morphologische und strategische Beschaffenheit verschiedener Orte und Regionen mitgebracht haben sollen. Wie der Philosoph und Autor kartografischer Studien, Guillaume Monsaingeon, jedoch betont, müsste die tatsächliche Bedeutung von Bazoches in der Arbeitsorganisation von Vauban, der selbst zahlreiche Reisen quer durch das Land unternommen hatte, erst geklärt werden: „Rien dans l’état actuel des lieux, dans l’étude du bâtiment ou l’analyse des archives, ne permet pourtant d’affirmer que la grande galerie du premier étage ait servi d’agence pour les ‚dessiners‘ de Vauban.“26 Interessant sind jedoch die ausgestellten Architekturmodelle und plan en relief zu militärischen Befestigungsanlagen, die allerdings nicht systematisch gruppiert oder als Medien der Wissensgenerierung vermittelt sind. Sie werden vielmehr zwischen dem dekorativen Arrangement von genealogischen Übersichtstafeln an den Wänden, kleinen Glaskästchen mit Figurenmodellen auf Tischen, die Vauban und den König in pittoresken Szenen zeigen, präsentiert. Neben einem modernen, aus dunklem Holz gefertigten Relief, das wesentliche Prinzipien von Vaubans Festungsarchitektur zeigt und die Bewegungsmöglichkeiten der Angreifer in Form dunkler Linien visualisiert, fällt ein verhältnismäßig kleines Modell (1705) aus der Zeit des Spanischen Erbfolgekriegs besonders ins Auge. Es ist als Theorie einer Befestigung ausgestellt (Abb. 4), stellt also ein Idealmodell, ein Lehrund Vermittlungsinstrument dar, das mit beeindruckender Prä-

Abb. 4: Château de Bazoches, Grande Galerie im Obergeschoß, Planrelief theorique, ca. 1705. Foto: Autorin

26 Monsaingeon, Guillaume, Les voyages de Vauban, Marseille 2007, 57.

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zision bis in die kleinsten Details wie Gartenanlagen und Fachwerkarchitekturen ausgearbeitet ist. Gezeigt ist eine zweifach befestigte Stadt inmitten einer sorgfältig porträtierten Agrikulturlandschaft. Die Befestigung wird damit als ein individuell auf die morphologische Beschaffenheit der Stadt und ihrer Umgebung abgestimmter plan en relief vor Augen geführt. An Größe, Farb- und Materialwerten der Architektur übertroffen wird dieses noch durch das im Zentrum der Galerie in einer Glasvitrine ausgestellte Modell der befestigten Stadt Neu-Breisach (Abb. 3), das erneut mit größter Präzision die geomorphologische Beschaffenheit und agrikulturelle Nutzung der Umgebung zeigt. Nicht umsonst steht Vauban zusammen mit dem Marquis de Louvois und Ludwig XIV für die Frühphase der plans en relief, die bis Napoleon III geschaffen wurden. Die Modelle dokumentieren und visionieren die im Zuge von Kriegen befestigten und eroberten Städte Frankreichs en détail. Erst seitdem sie ab 1715 in der Grande Galerie du Louvre ausgestellt wurden, hatte dies den Bau von Modellen in einer „dimension narcissique“ zur Folge, die unabhängig von strategischen Überlegungen ein ästhetisch überwältigendes Panorama an Städten des französischen Territoriums vor Augen führten.27 In der Grande Galerie bietet eine Schautafel einen geografischen Überblick über die zerstörten und noch erhaltenen Festungen Vaubans in ganz Frankreich, während über die Räume verteilt immer wieder einzelne Festungspläne folgen, aber keine historischen oder internationalen Vergleichsbeispiele dieser Bauaufgabe oder Überlegungen zur architektonischen Praxis in diesem weit von Paris entfernten Wohn- und Arbeitsort. Bezugnehmend auf die eingangs angestellten Überlegungen könnte die Präsentation jedoch lebhaft von der Frage profitieren, unter welchen Gesichtspunkten Vauban an der architektonischen Ausgestaltung des nationalen Territoriums mitwirkte. Erkenntnisse aus Studien wie Monsaingeons’ Les Voyages de Vauban würden die Betrachtung der Pläne und Modelle insofern fruchtbar unterlegen, als sie Fragen lokaler, regionaler oder nationa27 Vgl. La France en relief. Chefs-d’oeuvre de la collection des plans-reliefs de Louis XIV à Napoléon III (Katalog zur Ausstellung, Grand Palais, Paris, 18.01.–17.02.2012), hg. von Éric Deroo, Paris 2012; Faucherre, Nicolas, Les plans en relief des places du Roy, Paris 2007, hier 44  –  46 zum formalen Wandel der Modelle.

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ler ‚Zugehörigkeit‘ berühren. Vauban hatte sich nicht allein für die Außengrenzen des Territoriums, sondern mehr noch für dessen geografische Beschaffenheit und besonders für die soziale und kulturelle Differenz ihrer Bewohner interessiert. In seinen späten Reflexionen über die neu einverleibten Regionen Frankreichs erkannte er daher die Gleichgültigkeit der neuen Bewohner gegenüber dem König und mehr noch gegenüber der französischen Nation. Damit bewies er sein Bewusstsein für eine „crise de la nation“ avant la lettre und ging davon aus, dass sich diese Krise nur durch eine Änderung der Politik lösen lasse.28 Die Voraussetzung hierfür sah er ähnlich wie Thomas Hobbes in einer gewissen Gleichheit aller. Vaubans Überlegungen spiegeln damit die um 1700 zunehmend sich ausbildende Idee des Bürgers (citoyen) anstelle der Unterscheidung zwischen les Français und les Etrangèrs, die auch steuerlich praktiziert wurde.29 Vaubans Befestigungsanlagen wie das erwähnte Neu-Breisach zeichnen sich durch eine architektonische Geometrisierung aus, die als „géométrisation des réalités humaines“ gedeutet werden kann.30 Dies zeigte auch außerhalb Frankreichs Wirkung: Als „militaire civil“ hatte Vauban nicht nur indirekt Einfluss auf das Bauen in Lateinamerika,31 er hegte vielmehr auch Pläne für die mögliche Befestigung der französischen Kolonien in Nordamerika.32 Lohnenswert zu erfahren wäre, wie sich seine Pläne zum Prinzip der Assimilierung verhielten, die wesentlicher Bestandteil der im 17. Jahrhundert als „francisation“ bezeichneten Kolonialpolitik war.33 Selbst Jean-Baptiste Colbert schrieb 1666, dass die französischen Neubürger die indigene Bevölkerung zivilisieren und deren Kinder nach französischen Sit-

28 Vgl. Monsaingeon, Les voyages de Vauban, inbes. Kap. 8 zu Costruire la Nation, hier 162 –164. 29 Vgl. Monsaingeon, Les voyages de Vauban, 164  –165. 30 Vgl. Monsaingeon, Les voyages de Vauban, 165. 31 Vgl. Charbonneau, André, Les diverses formes d‘expression des modèles français d’urbanisme militaire dans les agglomérations de la Nouvelle-France, in: Vauban, architecte de la modernité? (Collection Les cahiers de la MSHE Ledoux ; 11), hg. v. Thierry Martin u. Michèle Virol, Besançon 2008, 157–178; Blaisot, Benjamin, L‘influence de Vauban en Amerique Latine, in: Vauban, architecte de la modernité?, 195 –222. 32 Vgl. auch Vauban et l’apogée de l’architecture bastionnée (Katalog zur Ausstellung, Château d’Oleron, d’Oleron, 01.07.–   04.09.1983), Poitiers 1983. 33 Vgl. Belmessous, Assimilation and empire, 15: “the assimilative project provided both a legitimate title to their appropriation of American lands and the means of strengthening the colony demographically, economically, and militarily“

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ten und Gebräuchen erziehen sollten, um die Kolonie zu vergrößern.34 Zur Reise Vaubans nach Kanada kam es letztlich nicht. Dafür erkannte er in Frankreich die zunehmende Festigung der Grenzen des Landes, indem er die Beobachtungen auf seinen Reisen verknüpfte und an einer Idee der Vereinheitlichung arbeitete, die auf die formale Festigung der Formationen des Landes und seiner Grenzen zielte.35 Was Grenzen heute sind, wie sie befestigt beziehungsweise mit un/sichtbaren Mitteln wie Überwachungskameras, Stachelund Maschendrähten aufgeladen werden,36 wie Computerspiele mit Festungsarchitekturen arbeiten, wie das Nationale und das Fremde verhandelt werden, ist als Thema wieder in neuer Weise aktuell. Und es sind regionale Museen, die auf der Basis von Beständen zur Architektur, aber auch Plan- und Kartensammlungen und in Form lokal übergreifender Vernetzungen einen wichtigen Anteil an der vergleichenden Betrachtung politischer und gesellschaftlicher Raumbildungsprozesse haben können. Eine Voraussetzung hierfür ist, dass regionale Museen als öffentliche Institutionen in einem globalen Zeitalter verstanden werden, wie es die Beiträge in Museums in Postcolonial Europe (2010) in Bezug auf weitaus größere Institutionen reflektieren.37 Regionalmuseen haben eigene Möglichkeiten, um Einblicke in historische Prozesse der Nationenbildung und Identitätskonstruktionen zu geben, die inzwischen komparatistisch betrachtet werden.38 Regionale (Architektur-)Museen können somit an der Diskussion der materiellen Kultur im Kontext einer Kulturlandschaft mitwirken, die wie Bazoches in wechselseitiger Beziehung zu Städten wie Paris, aber auch anderen Regionen stand. Sie können zu einem vielschichtigen Verständnis von Architektur und somit auch dazu beitragen, dass Bauten wie die Vaubanschen Befestigungsanlagen – zum Beispiel in Besançon – nicht nur als ‚monument historiques‘, sondern auch als lebendi34 Vgl. Belmessous, Assimilation and empire, 24. 35 Vgl. Monsaingeon, Les voyages de Vauban, 167. 36 Vgl. etwa das Marburger SFB-Projekt zu Dynamics of Security: http://www.sfb138.de/ (Stand: 01.10.2018) sowie den Epilog von Monsaingeon, Les voyages de Vauban, 173  –176 zu Mikael Levin‘ Fotografien ehemaliger Grenzmarkierungen. 37 Thomas, Dominic / David, Richard (Hg.), Museums in postcolonial Europe (African and black diaspora), London u. a. 2010. 38 Vgl. Dominic, Thomas, Museums in postcolonial Europe. An introduction, in: Thomas / David, Museums in Postcolonial Europe, 1–11.

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ge Gegenwart begriffen werden, die in Überlegungen zur Zukunft der Stadt und die kritische Reflexion der wieder anschwellenden Diskussion um Grenzen und Mauern Europas einbezogen werden. Schließlich bleibt die Frage, wie sich diese auf soziale Gemeinschaften, auf Identifikations- und Abgrenzungsprozesse auswirken, weiterhin aktuell.39

Ledoux in Chaux oder: die Auratisierung eines Visionärs Das Gebiet der Franche-Comté verfügt mit der Stadt Besançon nicht nur über eine Befestigung und einen Theaterbau, die auf Vauban zurückgehen, sondern mit den unweit entfernten Königlichen Salinen von Chaux auch über einen ikonisch gewordenen Baukomplex von Ledoux, der 1779 vollendet wurde. Die architektonisch geschlossene und damit ganz auf sich selbst verweisende Industrieanlage zeugt mit der zuerst quadratischen, dann kreis- und halbkreisförmigen Planung vom Idealcharakter des Gesamtprojekts. Ledoux trat wie ein Legislator in Erscheinung, der sich auf die Gesetze der Natur und die soziale und ästhetische Wirkmacht der Architektur berief; einer Architektur, die Gesellschaft, nämlich die soziale Gemeinschaft der Landbevölkerung, à la Rousseau in moralisch-tugendhaftem Sinn zu formen und zu erziehen vermag.40 Schon Anthony Vidler hatte Ledoux’ Planungsänderungen der Saline von Chaux als Übergang von einer ‚monastischen‘ zu einer industriellen, auf Funktionsteilung konzentrierten Raumkonzeption gedeutet. Es gehe Ledoux um eine Gemeinschaftsbildung, die durch die Einbindung der sozialen Sphäre in die Industriearchitektur entstehe: „In this context, the shift from the square to the semicircular project for the saline should be seen as marking a particular stage in this process. […] it demonstrates a change in the institutional conception of the factory as a whole: a Colbertian, ‚monastic‘ regime, enclosed like a religious order within a form of secularised cloister, is transformed in the second plan into an 39 Vgl. etwa den Beitrag des Deutschen Pavillon („Unbuilding Walls“) zur 16. Architetturbiennale 2018. 40 Vgl. Holmquist, Paul, Tying the seductive powers of art to the innate rights of man. The architect as legislator in the ideal city of Chaux, in: Agents of space. Eighteenth-century art, architecture, and visual culture, hg. v. Christina Smylitopoulos, Newcastle 2016, 102 –131.

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entire factory village, where each separate social and technical function is recognised and given identity.“41

Die Auseinandersetzung mit der römischen und griechischen Architektur der Antike und besonders deren Neuinterpreten wie Andrea Palladio, schlägt sich kreativ im Aufbau der durch Tempelfassaden und Rustikamotive gegliederten Einzelgebäude von Chaux nieder. Deren räumlicher Zusammenschluss entspricht der Sequenz der industriellen Produktion und Verarbeitung von Salz, die schon am Eingang von Chaux als plastischer Bestandteil einer architecure parlante vor Augen geführt wird: In Form von Rekursen auf das Motiv der Grotte und das dekorative Spiel mit umgestürzten Salzurnen.42 Innerhalb der Anlage zeugt die zentrale Positionierung des Direktorensitzes von der hierarchischen Raumbildung gegenüber den Arbeiterwohnungen, die in die Industrieanlage und deren Arbeitsabläufe integriert sind, jedoch über eigene Wirtschaftsflächen in Form von Gärten verfügen. Die Saline von Chaux ist seit 1982 UNESCO-Kulturerbe und birgt in einem weit über Bazoches hinausreichenden Maßstab ein eigenes, ausschließlich Ledoux gewidmetes Architekturmuseum. Dieses wurde 1991 in der ehemaligen zweigeschossigen Fassbinderei der Saline eröffnet.43 Das gebaute Idealkonzept wird demzufolge mit der medialen Präsentation eines Architekten verzahnt, den Emil Kaufmann 1933 bereits an den Beginn der Entwicklung einer „autonomen Architektur“ gestellt hatte.44 Von einem solchen Autonomiegedanken scheint das Museum selbst durchdrungen, das den Fokus auf einen Architekten richtet, der mit seinen Visionen und Planungen großer öffentlicher Bauprojekte maßgeblichen Anteil am Bild des sozialen, ökonomischen und politischen Raumes der Nation Frankreichs hatte.

41 Theatre of production. Claude-Nicolas Ledoux and the architecture of social reform, in: AA Files 1 (1981–  82), 54  –  63, hier 61. Vgl. auch Vidler, Anthony, Claude-Nicolas Ledoux, Architecture and social reform at the end of the Ancien Régime, Cambridge Mass. u. a. 1990. 42 Vgl. auch Kruft, Hanno-Walter, Städte in Utopia. Die Idealstadt vom 15. bis zum 18. Jahrhundert zwischen Staatsutopie und Wirklichkeit, München 1989, 112 –126 zu Chaux. 43 Vgl. den Katalog des Museums von Massounie, Dominique, Arc-et-Senans. Le musée de maquettes Claude-Nicolas Ledoux, Paris 2017. 44 Vgl. Kaufmann, Emil, Von Ledoux bis Le Corbusier. Ursprung und Entwicklung der autonomen Architektur, Wien u. a. 1933.

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Ästhetisch geht das Architekturmuseum in Chaux dabei einen eigenen Weg, der dem Visionären und Manifesthaften der Gesamtanlage entspricht und vom Zusammenspiel glatter, weißer Oberflächen und gläserner Vitrinen lebt. Abgesehen von einer Videoprojektion zu Ledoux’ Bauprojekten in Frankreich setzt das Museumskonzept auf eine konsequente formalästhetische Vereinheitlichung. In identisch ausgeleuchteten, bequem auf Augenhöhe präsentierten Glasvitrinen sind Architekturmodelle ausgestellt, die im Gegensatz zu den plans en relief in Bazoches keine historischen Modelle mit ausdifferenzierten Material- und Dekorationseigenschaften sind. Es handelt sich vielmehr um neugeschaffene, strahlend weiße Gipsmodelle, die einem einheitlichen Maßstab folgen und der Idee einzelner Bauprojekte und -visionen sprichwörtlich Plastizität verleihen; „blanches, éclairées, sans ombre“ sollten die Modelle sein.45 Anders als die ausgestellten Fotografien, die Ledoux’ ausgeführte Bauten im heutigen Zustand zeigen, verkörpert ein großer Teil der Modelle keine umgesetzten Bauvorhaben. Sie sind vielmehr Neuschöpfungen in dem Sinn, dass sie einer Architekturpublikation entspringen. Die Modelle wurden auf der Grundlage von Ledoux’ architekturtheoretischem Werk, der Architecture considérée […], entwickelt, die 125 grafische Tafeln umfasst. Der erste Band der Publikation setzt mit Visionen zu den Salinen von Chaux ein. Er war 1804, kurz vor dem Tod des Architekten, erschienen und bringt zahlreiche öffentliche und private Bauaufgaben in eine ideale enzyklopädische Zusammenstellung.46 Die Beziehung zu den Modellen macht das Ausstellungskonzept in überzeugender und optisch ansprechender Weise erkenntlich, indem die Modelle in den Vitrinen mit den Reproduktionen der Stiche an den Wänden in eine direkte Sicht- und Blickbeziehung gebracht sind (Abb. 5). Das Museum führt somit konzeptionell konsequent durch die Ideenwelt eines Architekten. Damit ist die Schau aber genauso wie die umliegende Saline ganz auf sich selbst, oder besser: auf einen bedeutenden 45 Vgl. Edwards, Richard, Avant-Propos. L’invention du musée, in: Massounie, Le musée de maquettes, 6  –11, 9. 46 Vgl. Vidler, The theatre of production, 55; Rabreau, Daniel, Ledoux e le livre de 1804, in: Autour de Ledoux. Architecture, ville et utopie (Collection Les cahiers de la MSHE Ledoux 13), hg. von Gérard Chouquer, Besançon 2008, 1– 24; Baridon, Laurent, L’architecture de Ledoux. Traité, utopie ou contre-utopie?, in: Chouquer, Autour de Ledoux, 97–116.

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Abb. 5: Musée Ledoux in der Saline von Chaux, Modell „Retour de Chasse“ Vordergrund. Foto: Autorin

Entwerfer großer, öffentlicher Bauprojekte in Frankreich bezogen; auf einen Architekten, der für die Wiederentdeckung des Ruralen und für die Sensibilität gegenüber Sitten und Gesetzgebungen steht.47 Was aber bedeutet es für die öffentliche Wahrnehmung von und die Auseinandersetzung mit Architektur, wenn deren Präsentation auf die eine Figur des Architekten konzentriert und das Visionäre durch den weißen Glanz der Architekturmodelle unterstrichen wird? Das sorgsam ausgearbeitete Museum umweht damit selbst der Hauch eines säkularen Kultraums. Bedürften ästhetisch und emotiv wirksame Konzepte nicht auch der Brechung, indem zum Beispiel der Anteil der Ausstellungsobjekte an der Wahrnehmung und Wirkung von Architektur thematisiert und damit eine Metaebene geboten wird, die das Bewusstsein für die Bedingungen des Ausstellens und der Vermittlung von Architektur schärft?48 Es spricht sicherlich für die konzeptionelle Haltung von Museen, wenn sie die Aufmerksamkeit der Besucher mit ästhetisch reizvollen Mitteln auf bedeutende Positionen lenken. Dennoch bleibt die Gratwanderung zwischen der Auratisierung von Einzelfiguren und der Öffnung übergeordneter Perspektiven eine museale Herausforderung. Und dies umso mehr, als der gegenwärtige Immobilienmarkt eine ganze Serie strahlend weißer, formal vereinheitlichter Architekturkomplexe nicht nur medial, sondern auch faktisch in die Welt setzt, Einfluss auf Gemeinschaftsbildungsprozesse nimmt, soziale und 47 Vgl. Vidler, The theatre of production sowie allg. Clavilier, Catherine, Cérès et le laboureur la construction d‘un mythe historique de l‘agriculture au XVIIIe siècle, Paris 2009. 48 Anregungen dafür bieten zum Beispiel Elser / Schmal, Das Architekturmodell; Show & tell. Architektur sammeln. Collecting architecture (Katalog zur Ausstellung, Architekturmuseum der TU München, Pinakothek der Moderne, München, 13.03.–15.06.2018).

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politische Ansprüche und Visionen jedoch gar nicht mehr thematisiert. In jedem Fall können regionale (Architektur-)Museen an einem kritischen Verständnis von Architektur als sozialer, gesellschaftlicher und politischer Raumproduktion mitwirken.

Fazit Schon Anfang der 1970er Jahre hatte der kanadische, damals am Brooklyn Museum in New York wirkende Kurator Duncan F. Cameron die Frage nach dem Museum als Tempel oder als Forum gestellt. Er hatte zwar nicht kleinere Regionen und Museen, dafür aber lokale communities wie Harlem im Blick, die nicht alle mit demselben sozialen und ästhetischen Kunstbegriff operierten. Das Museum als Forum bedeutete für Cameron deshalb ein Ort des kritischen Aushandelns und der vielfältigen Begegnung mit Kunst. Der Kurator war für ihn im Idealfall eine Figur, die eine Versammlung von Objekten und Personen einberuft.49 Auch im Fall der Architektur – die eine wesentlich jüngere Museumsgeschichte als die Kunst aufweist und doch eine zentrale Alltagserfahrung ist – bleibt zu überlegen, inwieweit Regionalmuseen ein Forum für deren vielschichtige Reflexion bieten können. Es böte sich in diesem Zusammenhang an, regionale Museen als ästhetische und soziale Zwischenräume in einer Weise zu begreifen, die zunächst eigenartig anmuten mag: Nämlich vergleichbar mit der im frühen 20. Jahrhundert vielfach thematisierten Hotelhalle, die ein Autor wie Siegfried Kracauer gleichsam als „Kehrbild des Gotteshauses“ reflektierte, in dem eine „grundlose Distanz zum Alltag“ geschaffen werde, „die höchstens ästhetisch ausgenutzt werden mag.“50 Derart, wie die genannten Regionalmuseen das Reisen, die Bewegung durch wechselnde Naturgebiete und Ortschaften voraussetzen, um durch sie einen Zwischenraum zu betreten, der Kunst und Kultur (auch der Region) über verschiedene Zeitschichten hinweg fremd wie vertraut erleben lässt, wird die Hotelhalle auch bei Kracauer zu einem Zwischenraum für die Reisenden. Es ist das am Ort und doch nicht 49 Cameron, Duncan F., The Museum, a Temple or the Forum?, in: Curator. The Museum Journal 14 (1971), 11–  24. 50 Vgl. Kracauer, Siegfried, Das Ornament der Masse: Essays, Frankfurt a. M. 2005, 157–170, hier 159, 161.

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am Ort und damit die eigene Identität hinterfragende Sein, das den Autor hier interessiert. Er lässt den Reisenden peu à peu sensibel werden für die verschiedenen Vorgänge im Hotel, in denen Arbeitsabläufe und soziale Rollen im Kontrast zur eigenen vorübergehenden Anwesenheit sichtbar werden.51 Vauban wie Ledoux stehen mit ihren architektonischen Entwürfen in anderer Weise für aufmerksame Beobachtungen politischer Veränderungen und möglicher Reformen, für die wandelnde Sicht auf den Status des ‚Fremden‘ (Vauban) und auf regionale Arbeits- und Produktionsprozesse (Ledoux), die in einer globalisierten Welt genauso wie in einem globalisierten Europa, die in den Städten genauso wie ‚auf dem Land‘ als Thema aktuell bleiben. Wie sehr sich das architektonische Erscheinungsbild der Städte und Regionen dadurch aber auch verändern kann und wird, bleibt im Kontrast zu Denkmalskonzepten und -vermittlungen eine zentrale Frage, die selbst für Reisende in die entsprechenden Regionen eine lohnenswerte Möglichkeit der Auseinandersetzung mit den Bedingungen vor Ort im Verhältnis zu vergleichbaren Fragen und Problemen andernorts wäre. Historikern wie Dipesh Chakrabarty ist daher nur zuzustimmen, dass sich fern von westlichen Konzepten wie Aufklärung und Moderne international vergleichende Perspektiven öffnen ließen, die ähnliche strukturelle Eigenschaften und Probleme erkennen ließen.52 Eine Agrarregion in Süditalien hat dann vielleicht sehr viel mehr mit einer indischen Provinz in Indien gemeinsam als mit anderen Regionen in Italien. Die Sensibilisierung für das Besondere, das Spezifische, für das auch Vauban und Ledoux stehen, müsste so auch nicht auf die Geschichte einer Nation beschränkt bleiben. Dass und wie die Integration des Fremden und die Befestigung von Grenzen auch in anderen Regionen parallel gedacht oder Industrie- und Landwirtschaft mit utopischen Architektur- und Gesellschaftsvisionen verbunden wurde, könnte sich so auch außerhalb der Metropolen als National- und Regionalgeschichte(n) entdecken lassen. 51 Vgl. Vedder, Ulrike, Die Hotelhalle als kritischer Topos in Kracauers Schriften und in der zeitgenössischen Literatur, in: „Doch ist das Wirkliche auch vergessen, so ist es darum nicht getilgt“. Beiträge zum Werk Siegfried Kracauers, hg. von Jörn Ahrens u. a., Wiesbaden 2016, 81– 97. 52 Vgl. Chakrabarty, Dipesh, From civilization to globalization. The ‚West‘ as a shifting signifier in Indian modernity, in: Inter-Asia Cultural Studies 13 (2012) 1, 138  –152.

Geborgte Heiligkeit, gebaute Romantik. Die japanische Hochzeitskapelle als auratischer Raum? Beate Löffler

Auratische Räume sind weltweit verbreitet und häufig genug, um als Phänomen menschlicher Raumwahrnehmung ernst genommen zu werden. Jedoch handelt es sich mehrheitlich – trotz solcher signifikanter Untergruppen wie den Sakralbauten – um Einzelfälle, die sich in Entstehung, Funktion, Material, Kontext stark unterschieden. So ist das Gesamtphänomen analytisch schwer zu greifen. Ein architekturhistorischer Sonderfall bietet jedoch die Möglichkeit, die Frage der gebauten Aura unter ‚Laborbedingungen‘ zu untersuchen und Grundannahmen wie Methodenansätze systematisch zu kontextualisieren: die japanische Hochzeitskapelle. Die Entwicklung des modernen Japan führte zu einer Parallelexistenz von christlicher Kirche und Hochzeitskapelle.1 Während sich die beiden Gebäudetypen juristisch und liturgisch eindeutig unterscheiden lassen, stimmen sie in ihrer Architektur weitgehend überein, woraus sich eine tatsächliche Parallelität von ‚Kultraum’ und ‚Raumkult’ ergibt, die einer näheren Untersuchung wert ist. Der Aufsatz skizziert die Akkulturation des christlichen Kirchenbaus in Japan seit Einsetzen der Modernisierung im späten 19. Jahrhundert und die sich daran anlehnende Entstehungsgeschichte der Hochzeitskapellen im späten 20. Jahrhundert. Dabei geht es darum, die materiellen Qualitäten der Bauten selbst und die Praktiken der involvierten Transzendenz-/Imma1

Siehe ausführlich zur historischen Genese von Kirche und Hochzeitskapelle in Japan Löffler, Beate, Fremd und Eigen. Christlicher Sakralbau in Japan seit 1853, Berlin 2011.

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nenzvorstellungen zueinander in Beziehung zu setzen. So zeigen sich auratische Räume als Resultat eines intensiven Wechselspiels aus gebauter Gestaltung, begleitenden textlichen und/ oder bildlichen Narrationen und der performativen Aneignung des gebauten wie sozial verhandelten Raumes.

Historischer Hintergrund Die christliche Mission in Japan begann Mitte des 16. Jahrhunderts in einer Phase weitreichender Konflikte um die politische Vorherrschaft im Land. Durch seine enge institutionelle und personelle Verknüpfung mit europäischen Handelsinteressen bot der Kontakt zu den westlichen Akteuren den japanischen Konvertiten nicht nur Zugang zu einem neuen Heilsversprechen, sondern auch ökonomische und technologische Vorteile. Andererseits stellte das Christentum die etablierten Loyalitätsvorstellungen in Frage und erwies sich damit als Herausforderung für die sozialen Ordnungssysteme. So sahen sich die Missionare wie auch die überwiegend portugiesischen Händler nicht nur unterstützt und privilegiert, sondern auch mit Verboten und Verfolgungen bis hin zu Martyrien konfrontiert: Das Christentum erwies sich innerhalb der japanischen Kultur dieser Zeit als enorm politische Kraft. Vor diesem Hintergrund war es nur konsequent, dass die gerade zur Macht gelangte Tokugawa-Dynastie im frühen 17. Jahrhundert Maßnahmen ergriff, das Wirken des Christentums einzudämmen: Mit Ausnahme weniger niederländischer und chinesischer Händler wurden alle Ausländer des Landes verwiesen und der christliche Glaube wie seine Ausübung bei Todesstrafe verboten.2 Erst mehr als 200 Jahre später, mit dem erzwungenen Ende der japanischen Isolationspolitik in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, wurden Verbot und Verfolgung des christlichen Glaubens zunächst ausgesetzt, später aufgehoben. Missionare und Gläubige engagierten sich vor allem in der Bildung und Sozialfürsorge und gewannen damit Anerkennung und sozialen Ein2

Siehe zur Rolle des Christentums in Japan Mullins, Mark R. (ed.), Handbook of Christianity in Japan, Leiden 2003.

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fluss. Parallel dazu diskutierten intellektuelle Kreise die Rolle des Christentums und seiner Lehren für die technologische Überlegenheit der westlichen Hegemonialmächte. Während das Christentum im Laufe des frühen 20. Jahrhunderts als dritte religiöse Kraft des Landes neben Shinto– und Buddhismus anerkannt wurde, blieb ein Bewusstsein für die politische Dimension des Glaubens lange wirksam und fand seinen Ausdruck in Zweifeln am Patriotismus der japanischen Christen, der erst nach Ende des Zweiten Weltkriegs langsam an Bedeutung verlor. Heute ist das Christentum in Japan eine Minderheitenreligion vor allem der gebildeten Mittelklasse, gleichgestellt unter dem Schutz der verfassungsmäßigen Religionsfreiheit.3 Circa ein Prozent der Bevölkerung ist als Christ oder Christin institutionell verankert, ein weiteres Prozent versteht sich als solche/r, ohne eine formelle Bindung zu einer christlichen Organisation einzugehen. Darüber hinaus erreichen Institutionen mit einem weltanschaulichen Hintergrund im Christentum (Kindergärten, Schulen, Krankenhäuser, Universitäten) mit ihren Dienstleistungen und Angeboten einen signifikanten Anteil der japanischen Bevölkerung.

Kultraum: Die christlichen Kirchenbauten in Japan Der christliche Glaube ist in Japan in Vielfalt vertreten. Neben den ‚klassischen’ Formen des griechischen und lateinischen Christentums gibt es verschiedene Freikirchen und neureligiöse Bewegungen sowie indigen japanische Ausrichtungen. So weisen auch die heute bestehenden circa 9.000 christlichen Kirchenbauten in Japan in ihrer baulichen Gestaltung eine große Bandbreite auf, die neben den liturgischen Erfordernissen des jeweiligen Bekenntnisses vor allem durch die finanziellen Möglichkeiten der Gemeinde sowie von Zeitpunkt und Ort der Errichtung bestimmt sind: je älter und größer die Gemeinde, desto

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– Der Giftgasanschlag der neureligiösen Omu Shinrikyo– auf die Tokyoter U-Bahn führte 1996 zu Änderungen in der Gesetzgebung zu religiösen Organisationen, die stärkeren staatlichen Zugriff gestatten. Kisala, Robert J., Living in a Post-Aum World, in: Bulletin of the Nanzan Institute for Religion and Culture 20, 1996, 7–18.

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wahrscheinlicher ist eine dezidiert kirchliche Bauform mit architektonischem Anspruch.4 Viele der Gottesdiensträume entsprechen kaum den europäischen Erwartungen an historischen oder modernen Kirchenbau der engeren Kategorie ‚Baukunst’. Aber fast alle verweisen gestalterisch in irgendeiner Art auf die quasi archetypische Vorstellung der Bauform ‚Kirche‘, wie sie sich im Westen in Piktogrammen und Malbüchern finden lässt: giebelständiger, möglichst freistehender Bau mit Satteldach, Turm oder Dachreiter, hohen, meist spitzbogigen Fenstern und einem Kreuz auf der Fassade oder dem Dach. Damit sind christliche Kirchen in Japan eine zeichenhafte Bauform, die sich von der umgebenden Bebauung abzusetzen in der Lage ist, auch wenn sich viele konkrete Beispiele eher als ‚Sparlösungen mit kirchenartiger Anmutung’ darstellen. In der Praxis reichen diese Verweise von der raumbestimmenden romanisierenden Doppelturmanlage der katholischen Kathedrale von Nagasaki über die italienisch inspirierte Campanile-Lösung mit Palladio-Motiv der protestantischen Wakaba-Kirche in Tokyo, bis zum Dachreiterchen auf dem Dach des Wohnhauses des Geistlichen, wie bei der Higashi-Bible-BaptistKirche Sapporo oder dem Fassadenkreuz am utilitaristischen Gebäude der anglikanischen Gemeinde von St. Paul‘s in Osaka. Diese formale Bandbreite zeigt sich auch in den Innenräumen und reicht von weit gespannten, hohen Hallen mit umfassender Licht- und Rauminszenierung bis zu umgenutzten Büround Wohnräumen, deren besondere Funktion primär durch die Ausrichtung der Bestuhlung auf ein Pult hin erkennbar wird. So oszillieren viele der Gottesdiensträume in Hinsicht auf ihre architektonische Ausstrahlung zwischen gebautem Zeichen einerseits und Gemeindezentrum oder gar Wohnung andererseits: Der in der europäischen Tradition der großen Kirchen fast selbstverständliche Gestus künstlerischen wie autoritären Transzendenzverweises ist selten, während viele Gemeinden einen stark familiären Charakter aufweisen. Die zeigt sich nicht nur im Umgang untereinander, sondern auch in der Aus4

Dazu ausführlicher Löffler, Fremd und Eigen,179  –184. Während eine katholische Gemeinde statistisch ca. 550 Mitglieder hat, die die Gelder für Unterhalt und Neubau bereitstellen oder einwerben können, haben lutherische Gemeinden durchschnittlich 130, protestantische Freikirchen oft nur ca. 50 Mitglieder.

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stattung der Räume mit Schuhregalen,5 Postfächern, Spielzimmern, Küchen und Essecken, nicht selten auf engstem Raum. Die Gemeinde der Gläubigen ist die soziale Familie einer religiösen Minderheit, eine spirituelle Heimat, die sich im immanenten Zusammensein bildet und bestätigt. Es ist eher die Gruppe, die das Transzendenzversprechen trägt, weniger das genutzte Bauwerk. So dient die bauliche Ausstattung eher der Förderung des inneren Zusammenhalts als zur Kommunikation in die Nachbarschaft und den Stadtraum hinaus.6 Welches ‚Bild’ von Kirche vermittelt sich unter diesen Umständen der japanischen Mehrheitsgesellschaft? Die Kirchenbauten selbst sind formal oft zeichenhaft, aber der Verweis dieses Zeichens – der christliche Glaube und die örtliche Gemeinschaft der Gläubigen – bleibt hier vielfach bedeutungslos, da religiöse Zugehörigkeit in Japan nicht grundsätzlich als bekenntnishaft und abgrenzend verstanden wird. Die japanische Religionsgeschichte kennt Schulen mit bekenntnishaftem und exklusivem Charakter ebenso wie Restriktionen in Bezug auf religiös konnotierte Praktiken. Diese haben jedoch – vielleicht mit Ausnahme des Staats-Shinto– zwischen 1870 und 1945 – nicht den weitgehenden normativen Einfluss, den wir aus der Tradition des abrahamitischen Monotheismus kennen. Im japanischen Alltag kommen Riten unterschiedlichen religiösen Hintergrundes zum Einsatz, der Fokus liegt weniger auf dem Glauben als der sozialen Praxis.7 So deutet vieles darauf hin, dass Kirchenbauten in- und außerhalb Japans, vor allem medial kommunizierte denkmalgeschützte und touristisch erschlossene Beispiele, in der Regel vor allem als Sehenswürdigkeiten mit einer gewissen Aura von historischem oder künstlerischem Wert wahrgenommen werden: Die Form trägt die zuge5

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Vor allem kleinere Gemeindekirchen haben oft einen genkan, den windfangartigen Eingang eines Wohnhauses. Er vermittelt zwischen Außen und Innen, wobei der Eintritt zwingend mit dem Ablegen der Straßenschuhe einhergeht. Viele Gemeindemitglieder deponieren individuelle Hausschuhe zusätzlich zu solchen für Gäste. Die Einbindung in das soziale Umfeld erfolgt primär über karitative Einrichtungen wie Kindergärten. Die Ausbildung von ‚Pfarren’ nach europäischer Tradition ist kaum möglich. Löffler, Fremd und Eigen, 175  –178. Für einen fundierten Überblick siehe Scheid, Bernhard: Religion in Japan. Ein Web-Handbuch, http://www.univie.ac.at/rel_jap/an/Religion-in-Japan, hier https://www.univie.ac. at/rel_jap/an/Alltag [03.07.2018].

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schriebene Bedeutung. Die religiöse, liturgisch gebundene Funktion der Kirche als Ort des Gottesdienstes eines Glaubens und zugleich als Repräsentant seiner Institutionen und seines historischen Alleinvertretungsanspruches für alle Fragen von Leben und Tod, tritt hinter dieser zurück, wird unsichtbar. Die sich daraus ergebende Bedeutungsleere der signifikanten baulichen Form machte es möglich, die Architektur der Kirche neu zu interpretieren und zu kontextualisieren: als Hochzeitskapelle, als Bühne für einen christlich inspirierten Ritus zur Feier einer säkularen Eheschließung.

Raumkult: Die Hochzeitskapellen in Japan Die kreative Re-interpretation ist das Ergebnis eines jahrzehntelangen Prozesses kultureller Aushandlungen, in dessen Verlauf gesellschaftlicher Wandel, mediale Praktiken und ökonomische Interessen zusammenwirkten. Nicht zuletzt unter Einfluss christlicher Missionare wurde die Eheschließung im Rahmen der gesamtgesellschaftlichen Modernisierungen (Meiji-Reform) des späten 19. Jahrhunderts gesellschaftlich aufgewertet, institutionalisiert und als moralisch vorbildlicher, lebenslang bindender rite de passage8 im Familienrecht verankert: Unter dem Vetorecht des männlichen Familienoberhauptes heirateten Familien, keine Individuen. Zeitgleich wurde eine shinto–istisch inspirierte Zeremonie der Eheschließung kreiert, die sich nach der Hochzeit des Kronprinzen Yoshihito (1879  –1926, später Taisho–-tenno–) im Jahr 1900 in der Oberschicht verbreitete.9 Schon bald jedoch, in den 1920er-Jahren, begann sich über die Populärmedien die Idee einer Ehe als auf Zuneigung gegründeter partnerschaftlicher Kleinfamilie zu verbreiten. Sie blieb allerdings innerhalb der nationalistischen Gesellschaftsvorstellungen der Zeit zunächst unwirksam.10

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Gennep, Arnold van, Übergangsriten (= Les rites de passage), Frankfurt/M. u. a. 1986. Für einen Überblick siehe Hendry, Joy, Marriage in Changing Japan. Community and Society, London 1981, 14  – 36 und konkret zur Hochzeitsindustrie Goldstein-Gidoni, Ofra, Packaged Japaneseness. Weddings, Business and Brides, Honolulu 1997. 10 Sand, Jordan, The Cultured Life as Contested Space, in: Tipton, Elise K. / Clark, John (ed.), Being Modern in Japan. Culture and Society from the 1910s to the 1930s; Honolulu 2000; 99  –118, hier 99  –101; Hendry, Marriage, 19 und 25  – 26.

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Mit der erneuten Hinwendung zu den westlichen Referenzsystemen nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde das Thema einer partnerschaftlichen Ehe sozial relevant, in vielen kleinen parallel verlaufenden Prozessen gesellschaftlich verhandelt und schließlich integriert. Zunächst wurde in der Nachkriegsverfassung nach amerikanischem Vorbild die Partnerwahl als individuelle Entscheidung der Beteiligten definiert. Die professionelle Heiratsvermittlung blieb jedoch ebenso üblich wie die Trauung im privaten Rahmen. Erst mit zunehmendem Wohlstand der Mittelschicht begannen die Hochzeiten in den öffentlichen Raum hinaus auszustrahlen. Die Trauung und die Feier trennen sich organisatorisch wie räumlich voneinander und verloren schließlich auch ihre zeitliche Bezogenheit. Die Registrierung beim Standesamt, der eigentlich bindende, rechtlich relevante Vorgang, fand zunehmend autonom statt. Der ursprünglich direkt anschließende Empfang, die eigentliche Feier, wurde davon abgetrennt und zudem sukzessive nicht mehr zu Hause, sondern in einem Restaurant veranstaltet. Mit der Verwandlung der Hochzeit zur Statusrepräsentation wurden dann zunehmend professionelle Institutionen mit der Durchführung und Ausgestaltung der Feierlichkeiten beauftragt.11 Parallel dazu wurde die Eheanbahnung aus Zuneigung sukzessive akzeptabel. Es war dabei erneut das Kaiserhaus, das eine neue Entwicklung förderte und symbolisch sanktionierte. Die Partnerwahl, Verlobungszeit und Hochzeit von Kronprinz Akihito (*1933) im Jahr 1959 wurde durch die Medien begleitet. Er hatte die bürgerliche Michiko Sho–da (*1934) nicht durch offizielle Vermittlung, sondern beim Sport kennengelernt. Obwohl auch dieses Zusammentreffen aus einer Vorauswahl akzeptabler Kandidatinnen resultierte, galt das Ergebnis als Beziehung aus Neigung. Ähnlich verhielt es sich mit dem populären Schauspielerpaar Yu–jiro– Ishihara (1934  –1987) und Mie Kitahara (*1933), das im folgenden Jahr heiratete. Zudem trug die Braut während des Empfangs ein weißes Brautkleid nebst Schleier.12 11 Coeyman, Marjorie, Western Weddings in Japan, in: The Christian Science Monitor, 08.05.2002, http://www.csmonitor.com/2002/0508/p14s01-lihc.html [30.05.2018]. 12 Bild oben rechts auf Sta– no kekkonshiki [Star’s wedding], Blog, https://blogs.yahoo.co.jp/ frontegcw/40752055.html [04.12.2017].

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In den folgenden Jahren waren es dann vor allem Film und Fernsehen, die die Vorstellung von Liebesheirat und Hochzeitsfeier kommunizierten und visuell kommentierten. Eine Schlüsselrolle kommt dabei wohl dem Film The Sound of Music von 1965 zu.13 In Deutschland weitestgehend unbekannt, ist er in den USA und Japan ein Klassiker. Der Film beschreibt die Beziehungsanbahnung zwischen einem verwitweten Marineoffizier und der Erzieherin seiner Kinder. Die Handlung weist Mann und Frau feste soziale Rollen zu, zeigt jedoch auch einen respektvollen Umgang der Partner miteinander und innerfamiliäre Zuneigung. Die Landschaft, die Szenerie Salzburgs und die Kirche St. Michael in Mondsee, in der schließlich die Hochzeit stattfindet, prägten das Österreich-Bild in Amerika und Japan nachhaltig und wohl auch die Vorstellungen von der angemessenen Kulisse einer Eheschließung.14 Die Facetten kultureller Aneignung zeigen, wie im Laufe der Zeit verschiedene Ebenen kultureller Setzungen überschrieben oder neu interpretiert wurden.15 Die bildstarke architektonische Form der christlichen Kirche verband sich mit Vorstellungen von romantischer Liebe und füllte eine Lücke im Ritualbedarf moderner Paare, die das shinto–istische Ritual als überholt und steif betrachteten. Letztliche Auslöser für die volle Ausformung und breite Akkulturation von Hochzeitsfeiern nach westlichem Vorbild dürften zwei medial enorm einflussreiche Eheschließungen Anfang der 1980er-Jahre gewesen sein. Zunächst heiratete die sehr populäre Sängerin und Schauspielerin Momoe Yamaguchi (*1959) den Schauspieler Tomokazu Miura (*1952), ihren Partner in mehreren Filmproduktionen.16 Die Hochzeitsbilder zeigen die beiden ganz in Weiß und einen eindrucksvollen Torten13 Sound of Music (dt. Meine Lieder – meine Träume), 1965, Regie Robert Wise, Hauptrollen Julie Andrews und Christopher Plummer, Twentieth Century-Fox/Argyle Enterprises. Filmadaption des gleichnamigen Musicals von Richard Rodgers und Oscar Hammerstein. 14 Strasser, Christian, „The sound of music“. Ein unbekannter Welterfolg, in: KammerhoferAggermann, Ulrike (Hg.), „The sound of music“ zwischen Mythos und Marketing, Salzburg 2000, 267– 295, hier 278, 286  – 287. 15 Es dürfte dabei geholfen haben, dass Japan über eine Tradition von literarischer und theatralischer Auseinandersetzung mit romantischer Liebe (und ihren gelegentlich desaströsen Folgen) verfügt. Doppelselbstmord aus Liebe war ein verbreitetes Element des Theaters der Tokugawa-Zeit (1603  –1868). 16 Buruma, Ian, A Japanese Mirror. Heroes and Villains of Japanese Culture, London 1984, 45 –  46; Brasor, Philip: Mr. Momoe Yamaguchi finally decides to speak, in: The Japan Times (online), 11.12.2011, https://www.japantimes.co.jp/news/2011/12/11/national/medianational/mr-momoe-yamaguchi-finally-decides-to-speak/#.Wpefk6ImH_l [01.03.2018].

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Anschnitt.17 Die Live-Übertragung der Eheschließung des britischen Thronfolgers Charles (*1948) mit Lady Diana Spencer (1961–1997) tat ein Übriges, die Nachfrage zu fördern.18 Die Hochzeitsunternehmen integrierten daraufhin säkulare westliche Praktiken in die Feierlichkeiten oder kreierten neue Rituale. Ofra Goldstein-Gidoni untersuchte diese Prozesse in den 1990er-Jahren und kommentierte zusammenfassend: „The interesting point concerning mini-dramas like the cake-cutting and candle service is that no attempt is made to imitate any ‘real’ Western wedding of any sort. The startling fact is that, like the traditional-Japanese inventions of the wedding producers, the imagined western ‘traditions’ satisfy their customers as authentic. Thus, when the mother of a future bride, who came to check the Kobe Princess Palace at one of the bridal fairs, asked me if the candle service is part of the wedding reception in my country and I told her that I had never seen it, she was surprised because she was certain it was performed in the West and probably concluded that I was not a reliable source.”19

Während der 1990er-Jahre folgten circa 50 Prozent der Hochzeitsfeiern in Japan einem westlich-christlich inspirierten Ritual; 2008 waren es 64 Prozent, während 18 Prozent nach Shinto–-Ritus verliefen.20 In diesen Entwicklungen und der enormen Nachfrage liegt auch die Wurzel der gewerblichen Hochzeitskapellen, die ihren Siegeszug als Räumlichkeiten innerhalb der Hochzeitsunternehmen begannen und dann seit den späten 1980er-Jahren zuweilen auch als freistehende Bauten ausgeführt wurden.21 Heute finden sich sowohl Kirchen als auch Hochzeitskapellen scheinbar willkürlich im städtischen Raum verteilt, eine sichere Identifizie17 Brasor, Mr. Momoe. – 18 Obayashi, Taryo–, Der Ursprung der shinto–istischen Hochzeit, in: Antoni, Klaus (Hg.), Rituale und ihre Urheber. Invented Traditions in der japanischen Religionsgeschichte, Hamburg 1997, 39  –  48; LeFebvre, Jesse, Christian Wedding Ceremonies, ‘Nonreligiousness’ in Contemporary Japan, in: Japanese Journal of Religious Studies 42 (2015), Heft 2, 185  – 203; Drazen Patrick, Holy Anime! Japan’s View of Christianity, Lanham 2017. 19 Goldstein-Gidoni, Packaged Japaneseness, 140  –141, siehe auch Fisch, Michael, The Rise of the Chapel Wedding in Japan. Simulation and Performance, in: Japanese Journal of Religious Studies (2001), Heft 1+2/, 57–77. 20 Scheid, Religion http://www.univie.ac.at/rel_jap/an/Alltag/Familie#Heirat [11.06.2018]. 21 Ein schönes Beispiel sind die beiden Kapellen des Bellclassic in Kobe https://www.bellclassic.co.jp/kinki/kobe/ [01.03.2018].

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rung ist allein anhand der architektonischen Formalia schwierig, vor allem, da sich die durchschnittliche Gemeindekirche und die durchschnittliche Hochzeitskapelle tatsächlich sehr ähnlich sehen. Hier lässt sich oft nur über das Raumprogramm klären, um welche der beiden Funktionsformen es sich handelt. Die Abwesenheit von Gemeinderäumen und die Anbindung an ein Hotel sind dabei die signifikantesten Kriterien, die für eine Hochzeitskapelle sprechen. In Hinsicht auf ihre auratische Qualität sind die Hochzeitskapellen mehrheitlich auf das große Narrativ der Romantik angewiesen, das Teil des gesamtgesellschaftlichen Referenzrahmens sozialer Praktiken und Erwartungen ist und durch das permanente Nachstellen (‚reenactment’) der anerkannten Bilder und Handlungen in den einzelnen, unabhängigen Feiern dauerhafte Bestätigung findet.22 Die Aura der Bauten resultiert also weniger aus ihnen selbst heraus, sondern wird ihnen aus der Werbung der Veranstalter und der Erwartungshaltung der Nutzer heraus zugeschrieben und schließlich durch die Inszenierung in Hochzeitsbildern und -filmen bestätigt und erneuert.

Raumkult, Bildkult, Naturkult? Hochzeitskapellen im Architekturdiskurs Etwas anders verhält es sich bei einer kleinen Gruppe von Hochzeitskapellen, die man unter dem Arbeitsbegriff ‚Architektenkapellen’ zusammenfassen könnte. Sie gehen auf die Büros renommierter Entwerfer zurück und werden im globalen Architekturdiskurs wahrgenommen und gelegentlich auch verhandelt: als Kirchen, nicht als Hochzeitskapellen.23 Hier handelt es sich um Entwürfe, in denen zum Zwecke der Hochzeitsinszenierung zeitgenössische Strömungen des Bauens aufgenommen wurden und werden. Es ist aber, trotz der häu22 In dieser Praxis der kleinteiligen Bestätigung eines großen Narratives liegt auch das Potential seiner Stabilität: Kleine Veränderungen werden schleichend eingebunden, so dass eine permanente Anpassung an geänderte Vorstellungen möglich ist. 23 Erst seit wenigen Jahren findet der Begriff der „Hochzeitskapelle“ bzw „Wedding chapel“ in Bezug auf einige dieser Bauten Verwendung, es bleibt jedoch offen, welche Rolle diese Information für den Erkenntnisprozess der Rezipienten spielt. Es liegt nahe anzunehmen, dass westliche Rezipienten aus diesem Terminus eher auf eine religiös kontextualisierte Sonderbauform ohne reguläre Gemeinde schließen, wie sie auch Wallfahrtskirchen darstellen, als auf ihre gewerbliche Funktion.

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figen Verwendung eines christlichen Kreuzes als Fokuspunkt, nicht die traditionelle, ikonische Form von christlicher Kirche, die aufgerufen wird, um ein entsprechendes Ambiente zu schaffen, sondern eher eine Aktivierung jener Qualitäten, die Sakralräume vieler Religionen weltweit zu Leuchttürmen von Kunst und Kultur machen: die Wertigkeit von Material und Verarbeitung, die Inszenierung von Licht und Raum. Diese Qualitäten guter Architektur im Sinne von Architektur-als-Kunst und die Verortung in landschaftlich ansprechendem Umfeld24 werden durch eine kompetente photographische Vermarktung unterstrichen. Bekannt wurden zunächst vor allem die Bauten von Tadao Ando– (*1941). Seine beiden Hochzeitskapellen, die Kirche des Windes auf dem Berg Rokko– in Kobe (ehem. Oriental Hotel), 1986,25 und die Kirche auf dem Wasser in Tomamu (Hotel Alpha Tomamu), 1988,26 entstanden fast zeitgleich mit der Kirche mit dem Licht, der protestantischen Gemeindekirche von Kasugaoka in Ibaraki, 1989.27 (Abb. 1– 2) Allen drei Projekten ist der konsequent moderne Umgang mit Material und Raum gemein. Es bedarf tatsächlich des Besuches vor Ort und der genauen Beobachtung, um sich Fragen nach der Bestimmung der Bauten, nach Kohärenz zwischen Form und Funktion zu stellen.28 Außerhalb Japans kaum bekannt sind die Steinerne Kirche in Karuizawa (Hotel Bleston Court) von Hendrick Bangs Kellog, 1988,29 und die 1990 errichtete Fides-Perpetua-Kirche in Tomakomai (Hotel Nidom) von Jun Itami (1937– 2011). Hier kommt ein Back-to-nature-Design zum Einsatz: Die Wände aus Stahlbeton sind mit Naturstein verkleidet, im Innenraum der eigentlichen Kapelle scheint eine traditionelle Konstruktion aus geschälten Stämmen das Dach zu tragen.30 24 Viele der eher durchschnittlichen Hochzeitskapellen befinden sich in Geschäftsvierteln mit wenig Wohnbebauung. 25 Mit Verweis auf ältere Publikationen: Stegers, Rudolf: Bibliographie Sakrale Gebäude. Kirchen, Synagogen, Moscheen, Häuser der Stille, Friedhofsbauten. 1970   – 2009, Berlin u. a. 2010, 10  –11. 26 Stegers, Bibliographie, 11. 27 Stegers, Bibliographie, 11–12. 28 Siehe zu den Bauten etwas ausführlicher Löffler, Fremd und Eigen, 138  –140 und 251– 254. 29 Stegers, Bibliographie, 14, Bilder über http://www.kendrickbangskellogg.com/public-buildings.html [18.06.2018]. 30 Der Name allein, die Marketing-Bezeichnung des Eigentümers, ist schon ein Indiz für die Funktion. Das Buch verzeichnet den Bau auf Japanisch deskriptiv als steinfarbene Kirche und in Englisch als Church of Sekisai. Religious Facilities. New Concepts in Architecture

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Abb. 1– 2: Kirche auf dem Wasser: Außenansicht und axialer Blick aus dem Innenraum, Tadao Ando⁻, 1988

Seit der Jahrtausendwende entstand dann (neben vielen gewöhnlichen Beispielen) ein knappes Dutzend freistehender ‚Architektenkapellen‘ (siehe auch Liste im Anhang), die mit zunehmender Bandbreite der Formen und Technologien auratische

and Design, Tokyo 1997, 31– 37, hier 31; siehe auch Löffler, Fremd und Eigen, 254  – 255. https://www.nidomresort.jp/wedding/stone/ [18.06.2018].

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Räume zu schaffen suchen und mit Hilfe verschiedener architekturbezogener online-Plattformen auch deutlich weitreichender wahrgenommen werden können als über gedruckte Fachmedien allein. Dabei wird häufig die Anbindung an Hotels vermerkt, die Ambivalenz der Nutzungswahrnehmung bleibt jedoch erhalten und muss für alle Beispiele mitgelesen werden. Dieses Problem zeigt sich auch in der wiederholten Einbindung von Beispielen in Sammelwerke zur zeitgenössischen Sakralarchitektur. Wie auch die frühen Beispiele haben praktisch alle Hochzeitskapellen, die heute aufgrund ihrer architektonischen Qualitäten international diskutiert werden, ein gemeinsames Merkmal im Naturbezug, sei es in Form eines Gartens, einer Einbettung in eine größere Landschaft und/oder in der Materialwahl. Dies scheint – neben der perfekten Bildinszenierung, die einen essentiell wirkenden Raum vermittelt, – ein entscheidender Faktor der erfolgreichen Inszenierung des ästhetischen Mehrwerts zu sein. Die Bauten des Ando–-Schülers Ryuichi Ashizawa (*1971) eröffnen aus einer gestalterischen Strenge heraus Fenster auf Meer und Himmel (Abb. 3 –  6), jene von Kengo Kuma (*1954) holen mit introvertiertem Raumprogramm und Baumaterial Wachstum und Jahreszeiten nach innen. Natur und Bauwerk ergänzen und legitimieren sich gegenseitig und bieten in der überraschenden Aufhebung des erwarteten Widerspruches zwischen technischmoderner Struktur und Lebendigem ein gemeinsames Versprechen von Ganzheit und Harmonie. So wundert es nicht, dass inzwischen viele der ‚Architektenkapellen‘ darauf verzichten, das christliche Kreuz als festen Fokuspunkt zu verwenden, obwohl es in den Bildinszenierungen der Hochzeitsanbieter weiterhin präsent ist. Die Abwesenheit eines eindeutigen religiösen Symbols, sei es auch nur ein Simulacrum, verschiebt die japanischen ‚Architektenkapellen‘ – wenn man von der gängigen Bezeichnung als ‚Kapelle’ und den damit automatisch mitgelesenen sakralen Verweisen absieht – allerdings endgültig aus der Nachbarschaft der Sakralräume in eine Sphäre der Uneindeutigkeit. Kaori Ichikawa, Architektin, Architekturfotografin, Ando–Schülerin und Ehefrau von Ryuichi Ashizawa, deutet an, dass dies kein Zufall ist, wenn sie auf der Webseite des Büros über die Setre Chapel in Kobe schreibt: „This chapel has no religious

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Abb. 3 –   4: Setre Chapel in Kobe (Setre Maiko): Außenansicht und Blick aus dem Inneren auf die Akashi-Kaikyo–Brücke, Ryuichi Ashizawa, 2005 (photographs by Kaori Ichikawa, courtesy of Ryuichi Ashizawa Architects & associates)

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Abb. 5: Wooden Chapel (Setre Highland Villa Himeji): Blick vom Garten in den Innenraum, Ryuichi Ashizawa, 2009 (photographs by Kaori Ichikawa, courtesy of Ryuichi Ashizawa Architects & associates)

Abb. 6: Sound of Wind in Moriyama, Shiga (Setre Marina Hotel): Blick aus dem Innenraum, Ryuichi Ashizawa Architect & Associates, 2013 (photographs by Kaori Ichikawa, courtesy of Ryuichi Ashizawa Architects & associates)

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icons to mark occasions but rather uses the natural phenomena of the site to imbue the space with a sense of the sacred and the surreal.”31

Zusammenfassung: Kultraum und Raumkult Kirche und Hochzeitskapelle dienen zwei verschiedenen Formen von Gemeinschafts- und Identitätsbildung innerhalb der japanischen Gesellschaft, die sich in hohem Umfang baulich deckungsgleich ausdrücken. Qualitätvolle Beispiele, egal ob Kirche oder gewerbliche Hochzeitskapelle, fanden und finden Eingang in architekturbezogene Publikationen und damit in den globalen Austausch von Ideen und Diskursen um das Konzept der architektonischen Aura. Dabei erweisen sich vor allem die ‚Architektenkapellen‘ in ihrer entwerferischen Konsequenz und symbolischen Uneindeutigkeit als wirkungsvoll. Als auf ihre Essenz komprimierte Ausschnitte architektonischer Form umkreisen sie den Globus als bildgewordene Bekundungen von Raumqualitäten, die eine eindeutige Grenze zwischen sakral und profan auslöschen und eine individuelle Teilhabe an immanenter Transzendenzerfahrung versprechen, sei es im romantischen Moment der Hochzeitsfeier oder im ästhetischen Genuss der Architekturbetrachtung. Die Bauten überschreiten die Grenzen von Religionen und Kulturen, befreien sich von Teilen ihrer herkömmlichen Bedeutungszuschreibung und eignen sich neue Bedeutungen an. Sie artikulieren einen ästhetischen Möglichkeitsraum und können neue architektonische Lösungen inspirieren oder womöglich auch neues spirituelles Verständnis initiieren. Sie sind damit eine weitere Stimme im Ringen um architektonische Aura und gesellen sich zu all jenen architekturanalytischen Herausforderungen, die bis heute noch ungelöst sind, den Räumen der Stille, der Meditation oder des Gedenkens, den interdenominellen Kapellen oder aber auch, man mag es kaum aussprechen, den Wellness-Oasen.

31 Kaori Ichikawa zur Setre Chapel, http://www.r-a-architects.com/raa0/English/works/finsetre.htm [20.06.2018].

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Realisierte Bauten Kirche des Windes in Ko⁻be (ehem. Oriental Hotel), Tadao Ando⁻, 1986 Kirche auf dem Wasser in Tomamu (Hotel Alpha Tomamu), Tadao Ando⁻, 1988 Steinerne Kirche in Karuizawa (Hotel Bleston Court), Hendrick Bangs Kellog, 1988 Fides-Perpetua-Kirche in Tomakomai (Hotel Nidom), Jun Itami, 1990 Leaf Chapel in Kobuchizawa, Yamanashi (Risonare Hotelresort), Klein Dytham Architecture, 200432 Setre Chapel in Kobe (Setre Maiko), Ryuichi Ashizawa, 200533 White Chapel in Osaka (Hyatt Regency), Jun Aoki, 200634 Wooden Chapel (Setre Highland Villa Himeji), Ryuichi Ashizawa, 200935 The Ark in Miyazaki (Garden Terrace Miyazaki Hotel & Resort), Kengo Kuma, 201236 Sound Of Wind in Moriyama, Shiga (Setre Marina Hotel), Ryuichi Ashizawa Architect & Associates, 201337 Ribbon Chapel in Onomichi, Hiroshima (Bellavista Spa & Marina), Hiroshi Nakamura, 201438 Mooswaldkapelle (Karuizawa New Art Museum), Kengo Kuma (zugeschrieben), 2014,39 Agri Chapel in Nagasaki (Higashihara-Hotel), Yu Momoeda, 201640

32 Adrian Welch von e-architect kontextualiert die Kapelle als „Japanese religious buildiing“ [sic] und verweist auf eine Informationsübernahme von den Architekten. Diese verzeichnen den Bau als Hochzeitskapelle. Welch, Adrian, Leaf Chapel Yamanashi, https://www.earchitect.co.uk/tokyo/leaf-chapel-yamanashi [13.06.2018], http://www.klein-dytham. com/leafchapel/ [13.06.2018]. 33 Stegers, Bibliographie, 13; Klanten, Robert / Feireiss, Lukas (Hg.), Closer to God. Religious Architecture and Sacred Spaces, Berlin 2010, 96  – 97; Ashizawa, Ryuichi, Setre Chapel, http://www.r-a-architects.com/prj/2005/setrechapel.html [20.06.2018] siehe auch: Lukratives Heiraten, in: Deutsche Bauzeitung (online), https://www.db-bauzeitung.de/dbthemen/db-archiv/lukratives-heiraten/#slider-intro-5 [20.06.2018]. 34 Stegers, Bibliographie, 12; Pallister, James, Sacred Spaces. Contemporary Religious Architecture, London u.a. 2015, 80  – 85; Aoki, jun, White Chapel, http://www.aokijun.com/en/ works/%E7%99%BD%E3%81%84%E6%95%99%E4%BC%9A/ [12.06.2018] . 35 Klanten/ Feireiss, Closer to God, 52 –  53. Es ist in den Fotos etwas schwer erkennbar, aber der Türgriff der Kapelle ist in Form eines Davidssterns. http://www.r-a-architects.com/ prj/2009/woodenchapel.html [20.06.2018]. 36 Garden Terrace Miyazaki, http://kkaa.co.jp/works/architecture/garden-terrace-miyazaki/ [16.06.2018]. 37 Sound of Wind, http://www.r-a-architects.com/prj/2013/soundofwind.html [20.06.2018]; Ecotone Hotel/ Sound Of Wind (Setre Marina Biwako), https://archello.com/project/ecotone-hotel-sound-of-wind-setre-marina-biwako [20.06.2018]. 38 Ribbon Chapel, http://www.nakam.info/en/?search=ribbon/ [20.06.2018]. 39 Facility http://newartwedding.jp/facility/ [20.06.2018], bessere Bilder über 風通る白樺 と苔の森 (チャペル) Photo Gallery https://www.karuizawawedding.jp/church_photo/ church08/ [20.06.2018] Sowohl das Museum als auch der beteiligte Künstler Jean Michel Othoniel schreiben den Bau Kengo Kuma zu, er ist jedoch auf der Webseite des Büros nicht verzeichnet. http://kkaa.co.jp/ [18.06.2018]. 40 Schuler, Timothy A., A Fractal Forest Inside Agri Chapel, in: http://www.architectmagazine.com/technology/detail/a-fractal-forest-inside-agri-chapel_o [13.06.2018].

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Transformation und Manifestation. Ritual in Tadao Andos Chichu Art Museum Linda Schiel

I. Das auf der Insel Naoshima im japanischen Binnenmeer gelegene Chichu Art Museum (2004), entworfen von dem japanischen Architekten Tadao Ando, ist Teil einer privaten Stiftung, die seit den 1980er Jahren soziale, ökologische und kulturelle Projekte initiiert.1 Den Werken der Künstler Walter De Maria, James Turrell und Claude Monet sind hier zur permanenten Installation ihrer Arbeiten jeweils ein Ausstellungsraum gewidmet. Die Räume sind entweder in Zusammenarbeit zwischen Ando und den Künstlern oder für das auszustellende Werk konzipiert.2 In der dabei entstehenden Inszenierung kommt die Vision des Stifters Soichiro Fukutake zum Ausdruck: „I wanted to create a spiritual backbone for the 21st century […].“3 Den Werken von Claude Monet fällt hierbei die zentrale Rolle einer Art Ikone zu, mit der Funktion, Religion zu transzendieren.4 Abgesehen von den Bewohner*innen5 der Insel selbst, tritt jeder Besucher den Weg zu dem entlegenen Standort ganz bewusst an. Am Museum angelangt wird kein Foyer und daran an-

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Vgl. Jodidio, Philip, Tadao Ando at Naoshima. Art. Architecture. Nature, New York 2006, 10  –  45. Der vorliegende Text ist bereits in ähnlicher Form erschienen: Strecke – Gestalt – Ritual. Weg in Tadao Andos Chichu Art Museum, in: Oswald, Debora / dies. / Wagener-Böck, Nadine (Hg.), Wege. Gestalt – Funktion – Materialität (Schriftenreihe der Isa LohmannSiems Stiftung 11), Berlin 2018, 142 –163. Vgl. Ando, Tadao, Foreword, in: Jodidio, Tadao Ando at Naoshima, 8 f., hier 9. Fukutake, Soichiro, zitiert nach Jodidio, Tadao Ando at Naoshima, 32. Vgl. ebd. Im weiteren Text wird zur besseren Lesbarkeit auf die Verwendung einer geschlechtergerechten Formulierung verzichtet.

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schließend keine für die Gebäudetypologie klassische Folge von Ausstellungsräumen betreten. Der Weg setzt sich ohne nähere Anhaltspunkte fort und ist in seiner Gestalt Mittel der Inszenierung, der die Architektur des Chichu Art Museum dient. Dabei nimmt die Wegeinszenierung Bezug auf Gestaltungsprinzipien des zenbuddhistischen Teehausgeländes. Dass Wege in ihrer Gestalt und Materialität in der Funktion eines „Mediators“6 den Gehenden prägen, ist eine Eigenschaft, die sich Ando in seiner Architektur zunutze macht. Mit dem Fokus auf die ritualisierende Funktion, welche der Architekturhistoriker Kenneth Frampton den von Ando sorgfältig orchestrierten Wegen zuschreibt,7 soll in der folgenden Betrachtung den Mechanismen und der Wirkung nachgegangen werden, durch die der Weg das Chichu Art Museum als Kultraum inszeniert. Indem Ando in seinem Entwurf auf Elemente aus einem rituellen Kontext zurückgreift, entsteht ein architektonischer Rahmen für die spirituelle Überhöhung, die die ausgestellte Kunst hier erfährt.

II. Chichu bedeutet im Japanischen ‚vergraben’. Der Name gibt Aufschluss über die räumliche Positionierung des Museums: Das an der südlichen Küste der Insel gelegene Gebäude ist, bis auf wenige Wandabschlüsse und Glasdächer, vollständig von der Erde und der umgebenden Vegetation umschlossen. Die Axonometrie veranschaulicht dessen komplexe Struktur, die gebildet wird durch die ineinander geschobenen sowie über- und nebeneinanderliegenden geometrischen Formen: Kubus, Quader, dreiseitiges Prisma (Abb. 1). Das Museum lässt sich in der Figur seiner Grundrisse und seiner Organisation in zwei Gebäudeflügel und einen verbindenden Gang gliedern. Die zwei Ebenen des nach Norden orientierten Flügels umfassen den Zugang, die Räume der Verwaltung und den Museumsshop. Der südliche Flügel gliedert sich in drei Ebenen und beinhaltet neben den Ausstellungs6 7

Barrie, Thomas, Spiritual Path, Sacred Place. Myth, Ritual, and Meaning in Architecture, Boston / London 1996, 188. Vgl. Frampton, Kenneth, Corporeal Experience in the Architecture of Tadao Ando, in: Dodds, George / Tavenor, Robert (Ed.), Body and Building. Essays on the Changing Relation of Body and Architecture, Cambridge 2002, 304  – 318, hier 306.

Transformation und Manifestation | Linda Schiel

Abb. 1: Tadao Ando, Chichu Art Museum, 2004, Naoshima, Japan, Axonometrie; A: Zugangsweg, B: quadrati­ scher Lichthof, C: Museumsshop, D: dreieckiger Lichthof, E: Ausstellungsraum Walter De Maria, F: Ausstellungsraum James Turrell, G: Café, H: Ausstellungsraum Claude Monet, Zeichnung © Ulf P. Hille

räumen ein Café sowie Verwaltungs- und Sanitärräume. Die Erschließung der beiden Flügel und die Verbindung ihrer Ebenen erfolgen jeweils über Lichthöfe, die nicht überdacht sind. Die Beleuchtung des Gebäudes findet weitestgehend nur über Tageslicht statt. Von der öffentlichen, asphaltierten Straße zweigt ein Weg aus schmalen, rechteckigen Betonplatten ab. Dieser Zugangsweg zum Museum verläuft leicht ansteigend zwischen Bäume hindurch bis zu einem grasbedeckten Hügel. Zur linken Seite ist der Weg auf den letzten Metern begrenzt von einer freistehenden Sichtbetonwand, die in den Hügel übergeht (Abb. 2). Strukturgebend für die Oberfläche der Wand aus Sichtbeton sind das erkennbare Maß der Schaltafeln und die kreisförmigen Prägungen der Schalungsanker. Kurz vor dem Ende der Wand passiert der Besucher mit einer Bewegung nach links eine schmale, rechteckige Wandöffnung und betritt einen dahinterliegenden Gang,

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Abb. 2: Tadao Ando, Chichu Art Museum, 2004, Naoshima, Japan, Zugangsweg und freistehende Wand aus Sichtbeton, Zeichnung, © Ulf P. Hille

Abb. 3: Tadao Ando, Chichu Art Museum, 2004, Naoshima, Japan, der in den Hügel hinabführende Gang, Zeichnung, © Ulf P. Hille

der ihn ins Innere des Hügels führt (Abb. 3)8. Den dämmrigen, schmalen und leicht abschüssig angelegten Gang hinab leitet ihn Licht, das durch eine am Ende des Ganges gelegene Öffnung fällt. Diese führt in einen begrünten, zum Himmel geöffneten Hof von quadratischer Grundfläche. Entlang der vier Seiten des Hofes führt eine Treppe nach oben, die zurück in den Innenraum und dort in einen Museumsshop lenkt, der den Weg des Besuchers vorerst unterbricht. An den Museumsshop schließt der die beiden Gebäudeflügel verbindende Gang an. Dieser ist unterteilt in einen zum Himmel geöffneten Abschnitt sowie in einen geschlossenen, dämmrigen Teil. Die Teilstücke sind so zueinander positioniert, dass es für den Besucher nicht ersichtlich ist, wohin ihn der geöffnete Gang führt. Er blickt zunächst nur auf eine Wandfläche des geschlossenen Ganges. Erst in der auf den Übergang folgenden Bewegung nach links ist der geschlossene Abschnitt des Ganges einsehbar. Dass der Verlauf des Weges nicht zu überblicken ist, 8

Zur ausführlichen Visualisierung des Beschriebenen seien die Fotografien im zur Eröffnung des Museums erschienenen Katalog: Chichu Art Museum. Tadao Ando Builds for Walter De Maria, James Turrell, and Claude Monet, Ostfildern-Ruit 2005 empfohlen.

Transformation und Manifestation | Linda Schiel

nutzt Ando als Prinzip für das gesamte Gebäude. Die Erfassung erfolgt für den Besucher nach und nach, einhergehend mit seiner Bewegung durch das Museum. Am Ende des Ganges hat der Besucher die erste Ebene des südlichen Flügels erreicht und betritt den Lichthof mit dreieckiger Grundfläche. Über eine Treppe, die entlang der ganzen Länge und Höhe der südlichen Wand verläuft, leitet eine Wegefolge zur zweiten und dritten Ebene des Flügels. Am Fuße der Treppe, am Grund des Hofes, bildet entlang der südlichen Wand ein schmaler Streifen aus grobem Splitt einen Weg aus. Die restliche Bodenfläche ist mit scharfkantigem Bruchstein bedeckt. Die unregelmäßige Oberfläche der Steine stellt einen Kontrast zum vorangegangenen glatten Beton der Treppen und der Gänge dar. Der schmale Weg lenkt zu einem Durchgang, der im weiteren Verlauf über einen dunklen Vorraum zum Ausstellungsraum der Werke Walter De Marias leitet. Der Ausstellungsraum und darin zugleich die Arbeit Time/Timeless/No Time (2004) erstrecken sich über die ganze Breite, Tiefe und Höhe des rechteckig angelegten Grundrisses und werden durch zwei raumbreite Treppenläufe gegliedert. Mittig des ersten Treppenpodests liegt eine Kugel aus schwarzem Granit. Entlang der unverputzten Wände verteilt sind auf Konsolen Gruppen aus vergoldeten Prismen positioniert. Die Höhe des Raumvolumens reicht über die beiden darüber liegenden Ebenen bis zur Geländeoberfläche. Im Kontrast zum proportional niedrigen und dämmrigen Vorraum wird die Wirkung seiner Höhe und Helligkeit noch verstärkt. Wetter und Tageszeit beeinflussen die Intensität des Lichts, das mittig und seitlich der abgehängten Decke einfällt und formen die Gestalt der im Raum entstehenden Schatten, Reflexionen und Spiegelungen. Von der südwestlichen Ecke des dreieckig angelegten Lichthofes führt hinter der östlichen und westlichen Wandfläche des Hofes ein Gang in die zweite Ebene. Der Besucher betritt dort den Ausstellungsbereich in der nordöstlichen Ecke eines dämmrigen Vorraums. Zu seiner linken Seite öffnet sich der Durchgang zu dem Ausstellungsraum, der den Arbeiten James Turrells gewidmet ist. Bereits aus dem Vorraum ist die Lichtprojektion Afrum, Pale Blue (1968) sichtbar. Die beiden anderen Installatio-

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Abb. 4: Tadao Ando, Chichu Art Museum, 2004, Naoshima, Japan, Ausstellungsraum Claude Monet, Zeichnung © Ulf P. Hille

nen, Open Sky (2004) und Open Field (2000) erschließt sich der Besucher beim Rundgang durch den Raum.9 Alle drei Arbeiten beschäftigen sich mit der Wahrnehmung von Licht und spielen mit dem räumlichen Vorstellungsvermögen des Besuchers. Um den Raum mit den Werken Claude Monets zu betreten, muss der Besucher im Vorraum seine eigenen Schuhe ablegen und Stoffschuhe anziehen. Aufsichtspersonen in einheitlicher, heller Kleidung koordinieren diese Handlung. Durch eine schmale Tür erfolgt von dort der Zugang in den Ausstellungsraum. Hinter dieser Tür steht eine kurze, schräg in den Raum gestellte Wand, die den Einblick versperrt und die Bewegung des Besuchers beim Durchschreiten der Tür nach links lenkt. Um die Wand herumgeführt steht der Besucher in einem Raum, der im Vergleich zum eigentlichen Ausstellungsraum dunkler und niedriger ist (Abb. 4). Von diesem Standpunkt aus ermöglicht der breite, die beiden Räume verbindende Durchgang einen ers9

In der Axonometrie sind in der Darstellung des annähernd quaderförmigen Raumes die Einbauten der Lichtinstallationen veranschaulicht.

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ten Blick auf die insgesamt fünf ausgestellten Werke Monets, die zum Zyklus der Seerosenbilder gehören.10 Der Boden besteht aus kleinen, hellen Marmorkuben. Die Höhe des Raumes erstreckt sich bis in die darüberliegende Ebene. Seitlich des abgehängten Deckensegels fällt Tageslicht in den Raum ein. Durch den Vorraum der Ausstellungsräume gelangt der Besucher in den dreiseitigen Lichthof. Über den zuvor zurückgelegten Weg wird er wieder aus dem Gebäude hinausgeführt.

III. Mit der Inszenierung des Weges, den unterirdisch gelegenen Räumen und der dem Gebäude vorangestellten, freistehenden Wand sind in der Architektur des Chichu Art Museum Charakteristika eines älteren Bauwerks von Ando wiederholt. In der Bucht von Osaka, auf der Insel Awaji, befinden sich die Räume des buddhistischen Water Temple (1991)11 unter der Geländeoberfläche beziehungsweise unterhalb eines ovalförmig angelegten Seerosenteichs. Über eine in den Teich hinabführende Treppe gelangt der Besucher in den Innenraum. Dorthin führt der Weg zunächst, über einen leicht am Hang ansteigenden Kiesweg und einen Durchgang, der als schmales Rechteck in einer freistehenden Wand ausgespart ist (Abb. 5). Die südwestliche Seite der Wandfläche schneidet gleichsam in die umgebende Vegetation ein. Auf den Durchgang folgend verläuft der Kiesweg nicht unmittelbar, sondern indirekt über einen Umweg zu der in das Gebäude führenden Treppe. Im Entwurf des Water Temple hat Ando die buddhistische Tempelarchitektur neu interpretiert.12 Ein signifikantes Element ist dabei die freistehende Wand mit dem ausgesparten Durchgang, die an die Stelle eines traditionellen Eingangstores getre10 Dem Durchgang gegenüber hängt die Arbeit: Le Bassin aux nymphéas, 1915  – 26, Öl auf Leinwand, 6 x 2 m, zur linken, östlichen Seite davon: Nymphéas, 1914  –17, Öl auf Leinwand, 2 x 2 m sowie zur rechten, westlichen Seite: Nymphéas, 1914  –17, Öl auf Leinwand, 2 x 2 m. An den Wandflächen seitlich des Durchganges hängen: Nymphéas, réflexion d’un saule pleureur, 1916  –19, Öl auf Leinwand, 2 x 1 m und Le Bassin aux nymphéas, 1917–19, Öl auf Leinwand, 2 x 1 m. 11 Der Water Temple dient als Erweiterung von Hompukuji, vgl. O. A., Water Temple, in: El Croquis 58/1993, 140  –154, hier 140. In der Ausgabe von El Croquis finden sich zahlreiche Fotografien und Bauzeichnungen des Tempels. 12 Vgl. Matsuba, Kazukiyo, Ando Architect, Tokyo 1998, 158.

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Abb. 5: Tadao Ando, Water Temple, 1991, Awaji, Japan, freistehende Wand aus Sichtbeton, Zeichnung, © Ulf P. Hille

ten ist. Sie markiert die Schwelle zwischen dem Profanen und dem Bereich der Tempelanlage. Die Wand des Water Temple gleicht in ihrer Positionierung, Materialität, Gestalt und Funktion der Wand, die dem Eingang in das Chichu Art Museum vorangestellt ist. In dieser Referenz wird der Zugang des Kunstmuseums in Analogie zu dem des Tempels gestellt. Diese Bezugnahme setzt sich in der Art und Weise fort, wie auch im Museum die indirekte Wegeführung eine Inszenierung der zurückzulegenden Strecke darstellt. Dass der Weg die Wahrnehmung des Gebäudes maßgeblich prägt, spiegelt sich in den Rezensionen des Museums wider. Als tempelartig bezeichnet die Architekturhistorikerin Miwon Kwon den Ausstellungsraum mit den Werken Monets und verbindet dies mit der Lichtführung, der Materialität des Bodens und dem Zugang, den sie mit einem Prozessionsweg vergleicht.13 Der Architekturhistoriker Hiroyuki Suzuki weist auf die durchdachte Komposition des Gebäudes hin: „All the architectural forms are 13 Vgl. Kwon, Miwon, A Position from Elsewhere. Lessons from Naoshima, in: Hatakeyama, Naoya / dies. (Ed.), Naoshima. Nature, Art, Architecture, Ostfildern 2010, 147–168, hier 161 f.

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calculated in detail: light, materials, even a visitor’s movements are designed with precision“14 und merkt dem Effekt dieser Inszenierung nachgehend an: „The spaces in Chichu Art Museum offer even transcendental experiences, which evoke both a processional path often seen in Japanese religious edifices, and a sense of sacredness in general.“15 Interessant erscheint, dass die Wirkung des Weges religiös konnotiert beschrieben wird. Pauschalisierend ist dabei die hierfür verwendete Terminologie. Prozessionen werden gemeinschaftlich begangen,16 dementsprechend ist die Gestalt ihrer Wege auf größere Gruppen hin ausgerichtet. Die im Chichu Art Museum zurückzulegende Strecke ist jedoch für einzelne Personen konzipiert: Die schmal geschnittenen Gänge, Treppenläufe und Türbreiten veranschaulichen dies. Unter Berücksichtigung ihrer Wirkung ergibt sich für die Gestalt der Wege im Chichu Art Museum eine mögliche Referenz: „The spiritual path, in essence, has to be walked alone,“17 konstatiert der Architekt Thomas Barrie über den Weg in japanischen Teehäusern des Zenbuddhismus. In seinen Studien zur Wegeführung in sakralen Stätten arbeitet Barrie die Wechselwirkung von architektonischer Form und spiritueller Bedeutung heraus, um so die ritualisierende Funktion der Architektur aufzuzeigen. Japanische Teehausgelände des Zenbuddhismus fungieren als Ort der Ausübung des chado–, der Zeremonie des Weges des Tees.18 Sie stellen innerhalb von Tempelanlagen räumlich eigenständige Bereiche dar, die durch hohe Mauern oder Hecken von ihrer Umgebung separiert sind. Umschlossen werden so das Teehaus und der dazugehörige Garten, die in ihrer Gestalt und Funktion gleichermaßen Bestandteil der darin ausgeübten rituellen Handlung sind.19 Exemplarisch sei anhand von Barries Analyse des Koto-in Tempels dargestellt, wie die Inszenierung des chado– räumlich 14 Suzuki, Hiroyuki, Journey to the Origin, in: Chichu Art Museum. Tadao Ando Builds for Walter De Maria, James Turrell, and Claude Monet, 109  –113, hier 110. 15 Ebd., 111. 16 Mein herzlicher Dank gilt Bruno Reudenbach für seine Anmerkung! 17 Barrie, Spiritual Path, Sacred Place, 212. 18 Vgl. Block, Lucy, The Japanese Tea Ceremony, in: Jones, Peter Blundell / Meagher, Mark (Ed.), Architecture and Movement. The Dynamic Experience of Buildings and Landscapes, Oxon / New York 2015, 178  –184, hier 178. An dieser Stelle sei herzlich Beate Löffler für ihre Hinweise und die spannenden Gespräche gedankt! 19 Vgl. Blaser, Werner, Tempel und Teehaus in Japan, Olten / Lausanne 1955, 10 f., 17, 48.

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Abb. 6: Koto-in, Kyoto, Weg im Garten des Teehausgeländes, Zeichnung, © Ulf P. Hille

angelegt ist. Der Koto-in Tempel in Kyoto ist Teil eines Klosters, das ursprünglich außerhalb der Stadt in einem Wald gelegen war, heute aber von Wohngebieten umgeben ist. Um das Teehaus zu erreichen, muss der Besucher die Anlage des Klosters zunächst auf weitläufig angelegten Wegen durchqueren. Der Zugang zum Gelände des Teehauses erfolgt durch ein Tor, auf das ein schmaler Weg folgt (Abb. 6). Dieser führt im weiteren Verlauf zum Hauptgebäude des Koto-in, dem Teehaus. Die Zeichnung veranschaulicht exemplarisch die Anlage dieser Strecke. Der schmale Weg wird durch Mauern, niedrige Zäune und Bäume umfangen, verläuft asymmetrisch, durchquert weitere Tore und lenkt um mehrere rechtwinklig angelegte Ecken herum. Dies hat zur Folge, dass der Gehende immer nur einen begrenzten Ausschnitt der Strecke überblicken kann. Er geht durch eine Abfolge aus sich verengendem und darauf sich wieder öffnendem Raum, begleitet von einem Spiel aus Licht und Schatten. Der Bodenbelag des Weges variiert in seiner Materialität, wodurch das Gehen, so Barrie, zu einem sinnlichen Akt wird.20

20 Vgl. Barrie, Spiritual Path, Sacred Place, 181, 183, 195 f., 208, 211, für eine detaillierte Beschreibung des Weges, in Text und Bild, 201– 206.

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Barries Schilderung der Wegstrecke des Koto-in könnte gleichermaßen zur Beschreibung der Wegeinszenierung des Chichu Art Museum formuliert sein. Die architektonischen Strukturen, die das Ritual räumlich artikulieren, geben die Bewegungsabläufe vor. Das situative Erfassen kann nur schrittweise erfolgen. Dabei lässt das rahmende Konzept die Bewegung durch eine Inszenierung aus kontrastierenden Situationen ablaufen. Wie die Wahrnehmung beim Gehen des chado– manipuliert wird, stellt der Architekt Günter Nitschke dar, indem er aufzeigt, dass für die einzelnen Abschnitte dieser Wege wiederkehrende Techniken verwendet werden. So folgt auf den Zugang ein schmaler, durch Mauern und Vegetation begrenzter Weg, der als dunkler Tunnel den Besucher seine Schritte beschleunigen und dadurch die Strecke weiter erscheinen lässt. Dies gleicht der Zugangssituation des Chichu Art Museum, mit dem auf den Eingang durch die Wand anschließenden dämmrigen Tunnel. Nitschke spricht von der „zig-zag progression“ Technik, die das Erleben der Distanz dadurch verlängert, dass der Weg um Ecken herum angelegt ist oder Steigungen überwunden werden müssen. Dass dabei immer wieder Tore und Durchgänge passiert werden, bezeichnet er als ein Gefühl des „repeated arrival“. Beide Konzepte finden in Andos Museum ihre Anwendung in den Gängen und Treppen, die den Besucher ohne Anhaltspunkte durch das Gebäude leiten. Die Annäherung an die Ausstellungsräume als Ziele des Weges wird zudem durch Vorräume verzögert. Als eine Art finale „dark barrier“ fungiert auch der auf den Eingang ins Teehaus folgende Raum vor dem Hauptraum. Mit der Wirkung, dass er den Besucher dahingehend frustrieren kann, dass er dem Ziel scheinbar nicht näherkommt.21

IV. Mit welchem Effekt Architektur aus einem Bewegungsvorgang heraus konzipiert sein kann, legt die Architekturhistorikerin Tina Zürn in Bau. Körper. Bewegung. Prozessuale Raumaneignung in

21 Vgl. Nitschke, Günter, From Shinto to Ando. Studies in Architectural Anthropology in Japan, London 1993, 37– 39.

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der Moderne dar.22 Dabei ist Zürns These, dass die architektonische Gestalt eines Weges und der „Beweggrund“23 miteinander verknüpft sind: „[…] Wegführung und Bauaufgabe [bedingen] sich wechselseitig […].“24 Verbunden sind damit die Kalkulation und die Erwartung an die Wirkung und die Wahrnehmung des Raumes.25 Explizit formuliert Zürn: „Als konkrete Handlungsräume sind sie [Anm. die Bauwerke] spirituellen oder ästhetischen Erfahrungen gewidmet, die jeweils über spezifische Bewegungsvorgänge konstituiert werden.“26 Wie paradigmatisch durch den Einsatz von Architektur und Landschaft ein Zustand geistiger Erleuchtung erwirkt wird, sieht die Architektin Lucy Block in ihrem Aufsatz The Japanese Tee Ceremony in der rituellen Gestalt des Teegartens veranschaulicht.27 Bereits die bei der Anreise zurückzulegende Strecke bewirkt, dass der Besucher nicht nur aus seinem Alltag heraustritt, so wie es dem Museumsbesuch im Allgemeinen attestiert wird.28 Vielmehr wird der Museumsbesucher zum Pilger. Gleich dem Museum auf Naoshima sind auch die großen Tempelanlagen in Japan aus dem urbanen Raum ausgelagert, so dass der Weg dorthin ganz bewusst vollzogen werden muss. Dabei findet der Besuch der Tempelanlagen individuell und nicht im Rahmen von offiziellen Akten statt.29 So ist die Aussage Barries, dass im Teehaus der spirituelle Pfad alleine gegangen werden muss, in Wechselwirkung mit den dort vorzufindenden, schmal angelegten Wegen zu verstehen. Dies lässt sich übertragen auf die Gestalt der Wege im Chichu Art Museum. Dessen Architektur schreibt Suzuki die verführende Wirkung zu, nicht nur durch

22 Zürn, Tina, Bau. Körper. Bewegung. Prozessuale Raumaneignung in der Moderne, Berlin 2016. 23 Ebd., 29. 24 Ebd. 25 Vgl. ebd., 7. 26 Ebd. 27 Vgl. Block, The Japanese Tea Ceremony, 178. 28 Vgl. Zürn, Bau. Körper. Bewegung, 264. 29 Zu den Tempelanlagen im ländlichen Raum vgl. Scheid, Bernhard, Einleitung. Religiöse Bauten und Anlagen in Japan, in: Religion-in-Japan. Ein Web-Handbuch, Universität Wien, seit 2001, https://www.univie.ac.at/rel_jap/an/Bauten?oldid=67177 [Stand: 22.11.2016] sowie zum individuellen Besuch vgl. ders., Was ist ein Tempel?, in: Religion-in-Japan. Ein Web-Handbuch, Universität Wien, seit 2001, https://www.univie.ac.at/rel_jap/an/Bauten/Tempel?oldid=67155 [Stand: 22.11.2016].

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die Kunstwerke, sondern auch in die eigenen inneren Welten zu reisen.30 Diese Beschreibung des als spirituell zu charakterisierenden Erlebens scheint vergleichbar mit dem roji, dem Weg durch das Teehausgelände, den Block als „transitional route“ bezeichnet. Durch dessen Gestalt findet die Einstimmung des Besuchers von der profanen in die spirituelle Welt statt.31 Die mit dem Weg vollzogene räumliche und psychische Veränderung kann im Sinne des Ethnologen Arnold van Genneps: les rites de passage, als „Schwellenphase“ verstanden werden, in der mit dem räumlichen Übergang eine mentale Erfahrung verbunden ist.32 So dienen die Strecke der Anreise und der durch das Museum zurückzulegende Weg als Schwelle und rahmende Inszenierung des Besuchserlebnisses. Sowohl Barrie als auch Block verweisen darauf, dass die Ausübung eines Rituals in einer bewusstseinsverändernden Erfahrung kulminiert. Barrie verknüpft dies mit dem Erreichen des Teehausgebäudes und Block mit dem Vollführen des chado–.33 In Verbindung mit der Betrachtung von Kunst stellt dieses Erleben die Kunsthistorikerin Carol Duncan, die Kunstmuseen als „ritual setting“ oder „ritual structure“ begreift.34 Über die Vision des Stifters hinaus erfährt im Chichu Art Museum das Museum als „eigenständiges Ritual“35 seine architektonische Manifestation. Die Kunsthistorikerinnen Dorothea von Hantelmann und Carolin Meister stellen in Die Ausstellung. Politik eines Rituals, fest, dass „[…] die Ausstellung historisch gesehen das erste öffentliche Ritual [konstituiert], das sich explizit an das Individuum richtet […].“36 Weiterhin führen sie aus: „Im Ritual der Ausstellung wird das bloße Ding zu einem autonomen Werk erhöht, dem ein

30 Vgl. Suzuki, Hiroyuki, 111. 31 Vgl. Block, The Japanese Tea Ceremony, 179. 32 Gennep, Arnold van, Übergangsriten (Les rites de passage), aus d. Franz. v. Schomburg, Klaus / Schomburg-Scherff, Sylvia, Frankfurt am Main u. a. 1986, 28. Auch Nitschke und Barrie verknüpfen die zurückzulegende Strecke mit dem Begriff der rites de passage: Nitschke, Günter, 33; Barrie, Thomas, 54 f. Mein herzlicher Dank gilt Sarah Maupeu für den Hinweis auf van Gennep sowie der Richard Schöne Gesellschaft für die inspirierende Diskussion des hier vorliegenden Themas. 33 Vgl. Barrie, Spiritual Path, Sacred Place, 196; Block, The Japanese Tea Ceremony, 184. 34 Duncan, Carol, Civilizing Rituals. Inside Public Art Museums, Reprint, London 2004, 6, 13. 35 Hantelmann, Dorothea von / Meister, Caroline, Einleitung, in: dies. / dies. (Hg.), Die Ausstellung. Politik eines Rituals, Zürich / Berlin 2010, 7–18, hier 15. 36 Ebd., 10.

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ebenso autonom wie vereinzelt konzipierter Betrachter in stiller Versenkung gegenübertritt.“37 Über das Kunstverständnis, das mit der Idee des Kunstmuseums als einem ästhetischen Erfahrungsraum verknüpft ist, bemerkt Duncan: „[…], their unique and transcendent qualities are primary, and the museum space is expected to provide a sanctuary for their contemplation.“38 Gleich eines Exempels hierfür scheint das Chichu Art Museum konzipiert. Der Gründungsdirektor Yuji Akimoto definiert es als einen Ort der ästhetischen Erfahrung, für den Versuch „[…] to disclose the essence of art […].“39 Der Stellenwert und die Eigenschaft, die der Stifter den Werken von Monet zuspricht, legen nahe, den Ausstellungsraum, der den Arbeiten Monets gewidmet ist, mit dem Allerheiligsten des Teehausgeländes – dem Teehausgebäude – zu vergleichen. In den architektonischen und rituellen Strukturen entsprechen sich die proportional schmale Zugangstür, das Fortsetzen der indirekten Wegführung, der dämmrige Vorraum sowie der im Kontrast helle Hauptraum und das Ablegen der Schuhe vor dem Eintritt in den Innenraum. Dass die Schuhe vor dem Betreten des Teehauses ausgezogen werden, ist Bestandteil der ritualisierten Abfolge des chado–.40 Zwischen der architektonischen Form eines Gebäudes und dem darin ausgeführten Ritual besteht eine enge Korrespondenz.41 Dies nutzt Ando und transformiert die Mechanismen der ritualisierenden ‚spezifischen Bewegungsvorgänge’ und die Wirkung der manipulierenden ‚Techniken’, um das Chichu Art Museum als Kultraum zu inszenieren.

37 Ebd., 14. 38 Ebd., 4. 39 Akimoto, Yuji, Creating a Place for Aesthetic Experience, in: Chichu Art Museum. Tadao Ando Builds for Walter De Maria, James Turrell, and Claude Monet (Katalog zur Eröffnung des Chichu Art Museum), Ostfildern-Ruit 2005, 81–  87, hier 86. 40 Vgl. Blaser, Tempel und Teehaus in Japan, 11. Auch Jodidio, Tadao Ando at Naoshima. Art, 36, stellt diesen Vergleich an: „As when entering a temple visitors must remove their shoes here […].“ Dass die Schuhe vor dem Betreten des Ausstellungsraums mit den Werken Monets abgelegt werden müssen, ist vermutlich pragmatischer Natur und dient dem Schutz des Marmorbodens. Im Kontext der Inszenierung des Museums, erscheint aber diese sich aufdrängende Analogie nicht ungewollt. 41 Vgl. Barrie, Spiritual Path, Sacred Place, 5.

Schauplatz des Wissens. Die sozialräumlichen Funktionen von Bibliotheksarchitektur Tina Zürn

Vergleicht man die Baugattung der Kirche als Versammlungsort einer christlichen Gemeinde mit jener der Bibliothek, wo die Gesellschaft ihr Wissen akkumuliert, lassen sich gattungsübergreifende Analogien feststellen. Der Architekt Michael Brawne unterstrich, die Bibliothek „enshrines our belief in knowledge as an essential element of our cultures“.1 Die Tempel des Wissens verfügen über einen sakralen Gehalt, insofern gesellschaftliche Werte architektonisch nobilitiert werden, etwa durch eine besondere Raumhöhe oder durch eine aufwändige Lichtregie. In der Soziologie wurden Vergemeinschaftungsprozesse lange vorwiegend auf dem religiösen Fundament der Gesellschaft errichtet.2 Religionssurrogate wie die Wissenschaft gerieten erst in jüngerer Zeit in den Blick.3 Die Bibliotheksarchitektur als Behausung des Wissens kann als „materielles Substrat“ (Emile Durkheim) des Gesellschaftlichen gelesen werden. Architektursoziologisch betrachtet ist die Bibliothek weniger ein statischer Behälter des gesammelten Wissens, als vielmehr räumlicher Ausdruck dynamischer Prozesse wie der Rezeption von Wissen. Die Raumtheorie erweist sich dabei als Brücke zwischen den Disziplinen, da sie die Aufmerksamkeit für das Verhältnis von Mensch und Architektur schärft und eine Analyse sozialräumlicher Funktionen ermöglicht, die den Bibliotheksraum mitformen. 1 2 3

Brawne, Michael, Introduction, in: Ders. (Hg.), Library Builders, London 1997, 6 – 9, hier 8. Siehe: Delitz, Heike, Architektursoziologie, Bielefeld 2009, 12; Steets, Silke, Der sinnhafte Aufbau der gebauten Welt. Eine Architektursoziologie, Berlin 2015, 18. Siehe: Eßbach, Wolfgang, Antitechnische und antiästhetische Haltungen in der soziologischen Theorie, in: Lösch, Andreas u. a. (Hg.), Technologien als Diskurse. Konstruktion von Wissen, Medien und Körpern, Heidelberg 2001, 123  –136, hier 127.

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In der jüngeren Architekturgeschichte rückt der Raum zunehmend ins Blickfeld, während das Substanzielle und Materielle nur mehr als umschließende Hülle wahrgenommen wird. Der Raum zwischen den Mauern konstituiert sich nach Martina Löw erst im Wechselspiel mit den Aktivitäten, die in ihm stattfinden.4 „Wenn eine Anzahl von Personen innerhalb bestimmter Raumgrenzen isoliert nebeneinander hausen“, schrieb Georg Simmel 1908, „so erfüllt eben jede mit ihrer Substanz und ihrer Tätigkeit den ihr unmittelbar eignen Platz, und zwischen diesem und dem Platz der nächsten ist unerfüllter Raum, praktisch gesprochen: Nichts. In dem Augenblick, in dem diese beiden in Wechselwirkung treten, erscheint der Raum zwischen ihnen erfüllt und belebt.“5 In einer Bibliothek bedarf es jedoch nicht zwingend einer unmittelbaren Interaktion zwischen den Leserinnen und Lesern.6 Die „Raumerfüllung“ setzt bereits ein, sobald unterschiedliche Menschen gemeinsam einer ähnlichen Tätigkeit nachgehen. Schon die bloße Gegenwart der anderen wirkt stimulierend auf die eigene Arbeit. Die einzelnen Besucherinnen und Besucher stecken zwar auch in der Bibliothek ihren persönlichen Bereich ab7, befinden sich jedoch zugleich in einem „public place associated with scholarship.“8 Hans Scharoun (1893 –1972) gehört zu jenen Architekten, die bereits im Entwurf einen soziologischen Ansatz verfolgen, indem er den Menschen in den Mittelpunkt seiner Überlegungen stellt. 1951 schrieb er über seinen Beitrag zum Wettbewerb der Amerika-Gedenkbibliothek in Berlin, dass die „Struktur des Bauwerks […] vom Wesen lebendigen gemeinschaftlichen Trei4 5 6

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Löw, Martina, Raumsoziologie, Frankfurt am Main 2001, 158. Simmel, Georg, Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Leipzig 1908, 616. Siehe: Montgomery, Susan E. / Miller, Jonathan, The Third Place. The Library as Collaborative and Community Space in a Time of Fiscal Restraint, in: College & Undergraduate Libraries Heft 2 – 3/2011, 228 –238, hier 232. Brawne, Introduction, 6. Demas, Sam, From the Ashes of Alexandria: What’s Happening in the College Library?, in: Resources, Council on Library and Information (Hg.), Library as Place. Rethinking Roles, Rethinking Space, Washington DC 2005, 25 – 40, hier 29. Siehe auch: Gayton, Jeffrey T., Academic Libraries. „Social“ or „Communal“? The Nature and Future of Academic Libraries, in: The Journal of Academic Librarianship Heft 1/2008, 60 – 66, hier 64 sowie Eigenbrodt, Olaf, Veränderte Kontexte und Funktionen. Ansätze einer neuen Typologie für Wissensräume, in: Eigenbrodt, Olaf / Stang, Richard (Hg.), Formierungen von Wissensräumen. Optionen des Zugangs zu Information und Bildung, Berlin / Boston 2014, 22 – 36.

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bens ihren Ausgang“ nimmt. Dafür hatte Scharoun nicht nur Lesesäle als „Gesellschaftsräume“ vorgesehen, sondern auch eine innere „Promenade“ als Zone der Begegnung.9 Architektur entwickelt vor allem in jenen Bereichen ihr soziales Potential, wo die Fluktuation der Menschen am größten ist. Dass Bewegungsräume in besonderer Weise Gemeinschaft stiften, liegt in der ungezwungenen Atmosphäre solcher Zwischenräume begründet, die anregend auf die Kommunikation wirkt. Diese ergibt sich aus der „Neutralität“10 der Bewegungsräume gegenüber jenen Gruppen, die sie verbinden. Sorgfältig geplante Eingangshallen, Korridore und Treppen begünstigen nicht nur den sozialen Austausch, sondern können ihn sogar motivieren. In der Bibliotheksarchitektur wirken Bewegungsvorgänge freilich störend auf die Konzentration. Im Lesesaal, wo sich die Gemeinschaft der Leser räumlich entfaltet, herrscht eine fast regungslose und stillschweigende Übereinkunft zwischen den Benutzerinnen und Benutzern.

Staatsbibliothek zu Berlin Preußischer Kulturbesitz Obwohl Lesen zu den statischen Tätigkeiten gehört, ist die von Hans Scharoun erbaute Staatsbibliothek in Berlin (1964  –1978) vollständig aus den Bewegungsabläufen heraus entwickelt. Die Verkehrsflächen sind so stark übergewichtet, dass sich die Frage nach ihrer Zweckbestimmung über die Erschließung hinaus stellt. Mit welchen architektonischen Mitteln in Scharouns Bibliotheksbau Gemeinschaft konstituiert wird, steht im Mittelpunkt der Betrachtung. Die Staatsbibliothek beschreibt sich selbst als größte Universalbibliothek Deutschlands mit wissenschaftlicher Ausrichtung. Über zehn Millionen Bände aus allen Fachrichtungen werden verwahrt und restauriert oder neu erworben und für die Benutzung erschlossen.11 Die fächerübergreifende Büchersammlung

9 Pfankuch, Peter (Hg.), Hans Scharoun. Bauten, Entwürfe, Texte, Berlin 1993, 203. 10 Den Begriff „Neutralität“ verwendete Georg Simmel im Zusammenhang mit territorialen Grenzen, die in Konfliktsituationen oft als Pufferzone dienen. Siehe: Simmel, Soziologie, 706. 11 Zum Profil der Staatsbibliothek siehe: http://staatsbibliothek-berlin.de/die-staatsbibliothek/portraet [Stand: 10.09.2018].

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spiegelt sich architektonisch in einem großen Lesesaal, wo alle Wissenschaften zwar auf verschiedenen Niveaus, aber in einem zusammenhängenden Einheitsraum untergebracht sind. Nicht nur die unterschiedlichen Fachlesesäle, sondern auch Eingangshalle, Treppe und Erschließungsweg gehen ineinander über und verbinden sich zu einem Raumkontinuum. Dieses innere Raumkontinuum findet in der kleinteiligen, additiv komponierten Fassade kein Pendant. Die vorgelagerten Flachbauten lassen von außen zwar auf einen Lesesaal schließen, erwecken aber den Anschein von abgeschlossenen Bereichen. Tatsächlich geht der Lesesaal aber in ein weitläufiges Lesesaalband über. Es ist analog zu Scharouns städtebaulichem Konzept einer Bandstadt konzipiert12 und erstreckt sich auf 150 Metern Länge von Nord nach Süd. Das Spannungsverhältnis zwischen außen und innen macht eine Besichtigung zu einem unvorhersehbaren Ereignis. Über eine der vier Drehtüren treten die Besucherinnen und Besucher in ein Kreissegment ein, das über eine Drehbewegung nach innen führt. Als weitere Pufferzone fungiert ein niedriger Windfang, der den Geräuschpegel der Hauptverkehrsstraße abschirmt. Die graduelle Überleitung ins Innere unterstützt die Akklimatisierung und geistige Einstimmung der Besucher. Hinter der Garderobe und Kontrolle beginnt der Aufstieg zum Leseplatz. Die doppelläufige Treppe mit ihrer angenehmen Steigungshöhe geleitet den Leser leichten Schrittes nach oben, so dass er die Überwindung der Schwerkraft kaum bemerkt. Von der hohen Decke hängen kugelförmige Leuchten herab, die aus kristallartigen Polyamidelementen zusammengefügt sind und ein blendfreies, warmes Licht erzeugen.13 Die Hängeleuchten schaffen eine festliche Lichtstimmung, die dem Buch und seinem Gehäuse architektonisch eine Wertschätzung verleiht, die ihm als Kulturgut auch gesellschaftlich zuerkannt wird. Auf der ersten Zwischenetappe gabelt sich der Weg in zwei Richtungen. Die kürzere Strecke wird von den meisten ortskundigen Leserinnen und Lesern bevorzugt. Sie führt links herum und dreht sich wie ein Mäander um die eigene Achse. Die Dre12 Zum Bandstadt-Entwurf siehe: Pfankuch, Hans Scharoun, 260. 13 Die Leuchten hat der Künstler Günter Ssymmank gestaltet.

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Abb. 1: Hans Scharoun, Staatsbibliothek zu Berlin, 1964  –78, Lesesaalband

hung erfolgt gegen den Uhrzeigersinn und stimuliert auf diese Weise unmerklich die Aufmerksamkeit. Die rechte Strecke scheint hingegen deutlicher vorgezeichnet: wo die Treppe auf die Ebene der Cafeteria trifft, die dem nach links Abbiegenden nur als Zwischenpodest dient, folgt der nach rechts Gehende dem stumpfen Winkel und erreicht dort das Ostfoyer. Der 19 Meter hohe, lang gestreckte Raum umfasst einen großen Teil des zentralen Verkehrsbandes und ermöglicht eine Umgehung des Lesesaals. Eine weitere breite Treppe führt zur Hauptebene, wo sich das Lesesaalband schließlich in voller Länge entfaltet (Abb. 1). Die Verkehrsfläche erscheint besonders großzügig, da sie nahtlos in die Lesebereiche übergeht. Ein an der Decke durchlaufendes Lichtband weist die Richtung und verstärkt die Tiefenausdehnung des 150 Meter langen Saales. Dessen eigentliche Weite ist vor allem über die Decke erfahrbar, die den Raum mit riesigen Lichthauben überwölbt. Obwohl die Decke das heterogene Raumgefüge erst als Ganzes erfahrbar macht, bildet sie keinen ebenen Raumabschluss, sondern wirkt aufgrund einiger Nahtstellen zerklüftet. Der Velourteppich verbindet die unterschiedlichen Ebenen zu einer Einheit und sorgt für eine angenehme Akustik im offenen Raumkontinuum. Er dämpft die Schritte und den allgemeinen Geräuschpegel, so dass die verhal-

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tene Geschäftigkeit der durchschnittlich 3500 Benutzer kaum störend wirkt. Das vielgestaltige Raumangebot bedient unterschiedliche Bedürfnisse. Der Hauptlesesaal ist mit großen Fenstern zur Straße und zum Tageslicht hin ausgerichtet und bietet Arbeitsplätze an regelmäßig gereihten Tischen, die einen Ausblick auf die gegenüberliegenden Museen eröffnen. Die Decke überspannt drei Geschosse und verschafft den Leserinnen und Lesern ein Gefühl von Weite, die die räumliche Unabgeschlossenheit innerhalb der Lesergemeinschaft kompensiert. Weite und Lichtfülle wirken sich überdies belebend auf die sitzende Tätigkeit aus. Darüber hinaus gibt es auch Leseplätze, die statt eines Ausblicks auf das Kulturforum Einblicke in das komplexe Raumgefüge bieten. Andere Arbeitsplätze ermöglichen abwechslungsreiche Durchblicke in benachbarte Fachgebiete und die oberste Ebene schließlich einen Überblick über das gesamte Raumkontinuum.

Verhältnis von Leser, Buch und Raum Ein Bibliothekar brachte die Staatsbibliothek auf die verkürzte Formel „viel Raum, aber wenig Platz“ und zielte mit seiner Kritik auf die vermeintliche Unwirtschaftlichkeit der Bibliothek, die sich an einem ungünstigen Verhältnis „zwischen Brutto- und Nettonutzfläche“ zeige.14 Aus Sicht des Bibliothekars erscheinen die langen Wege als Umwege. Auch die Steigungshöhe der verschwenderischen Haupttreppe ist nicht nach ökonomischen Erwägungen berechnet, sondern folgt dem Gebot der Bequemlichkeit. Sind die Verkehrsflächen der Staatsbibliothek in diesem Sinne am Bedarf vorbeigeplant? Der Rezeption und Produktion von Wissen ist mit Effizienzkriterien wohl nicht beizukommen. In den raumgreifenden Verkehrswegen der Staatsbibliothek sind vielmehr wissenschaftliche Herangehensweisen gespiegelt. Indem sich die Gedanken in vielfältige Richtungen entwickeln und immer wieder Distanz zu ihrem Gegenstand nehmen können, wird dem mentalen Raumbedarf wissenschaftlicher Arbeit ent14 Baron, Günter, Der Scharounbau der Staatsbibliothek – Funktionalität und Bewährung, in: Mitteilungen SBB PK Heft 1/1999, 1– 22, hier 2.

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sprochen. Die Wege in der Staatsbibliothek können in diesem Sinne als Metapher für Gedankengänge verstanden werden, die keineswegs linear verlaufen. Die Staatsbibliothek nähert sich mit architektonischen Mitteln der Komplexität von Denkprozessen, denen sie einen adäquaten Rahmen bietet. Scharouns Architektur zeichnet sich durch eine Überlappung von unterschiedlichen Raumzonen aus, die ineinander übergehen und zu einer heterogenen Einheit verschmelzen. Auch im Geiste des Lesers oder der Leserin verbinden sich verschiedene Räume zu einem komplexen inneren Bild, das sich aus der unmittelbaren Umgebung des Leseplatzes, der diffusen Raumerweiterung in der Ferne des großen Saales und der im Buch evozierten Wirklichkeit zu einem imaginären Raumkonglomerat verdichtet. Während der Blick zunächst ins Buch und mit zunehmender Immersion in das bearbeitete Thema immer weiter nach innen gerichtet ist, überlagern sich zahlreiche Räume, die sich wechselseitig beeinflussen. Dabei entsteht eine Mischung aus Nähe und Ferne, Leseplatz und Lesesaal, innen und außen, mental evoziertem Raum und realer Umgebung. Der Wechsel und das Zusammenspiel dieser simultan wirkenden Räume erfolgen nicht nur in der Vorstellung; es gibt auch Momente, in denen der Leser oder die Leserin innehält und aufschaut, in denen sich ihr Blick für einen Augenblick dem realen Raum öffnet, den er auf diese Weise in das innere Bild integriert. Dabei stellt sich die Frage, ob die architektonische Umgebung Einfluss auf die Gedankengänge nimmt und ob in der Staatsbibliothek daher anders gearbeitet wird als etwa in orthogonal gegliederten Bibliotheksbauten. Durch die Vielfalt der Formen werden die aufblickenden Leserinnen und Leser in der Staatsbibliothek zu lebhaften Augenbewegungen animiert. Die nach innen gerichteten Augen suchen sich immer wieder Anhaltspunkte in der Umgebung. Am Formenreichtum Scharouns kann sich das Auge abarbeiten und dabei ständig neue Perspektiven einnehmen, die helfen, einen Gedanken immer wieder neu zu beginnen, von einer anderen Seite zu beleuchten und dabei den gebotenen Abstand zu bewahren. Die Metaphern zeigen, dass Denken hauptsächlich räumlich funktioniert. Während des Lesens im Sitzen bekommt man ständig Denkanstöße durch die abwechslungsreichen Raumeindrücke. In ei-

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Abb. 2: Staatsbibliothek, Lesesaal mit Leseterrassen

nem solch multi-perspektivischen Raumgefüge ist es unwahrscheinlich, gedanklich in eine Sackgasse zu geraten. Der Denkprozess wird vielmehr unterstützt von einem Raum, der immer neue Ein- oder Durchblicke gewährt und dessen Leseplätze auf unterschiedlichen Plattformen gestaffelt sind. Während sich die einzelnen Fachbereiche zu Arbeitsinseln verdichten, konstituiert der Einheitsraum insgesamt eine Gemeinschaft, die fächerübergreifend organisiert ist und so die Präsenz der Leserinnen und Leser anderer Disziplinen sichtbar macht (Abb. 2).

Korrelation von Denken und Gehen Geistige Arbeit am Schreibtisch ist einem gewissen Rhythmus unterworfen, der von der Aufnahmefähigkeit des Einzelnen abhängig ist. Der Mensch kann sich nur eine begrenzte Zeit intensiv auf eine Sache konzentrieren. In der Staatsbibliothek macht sich dies an einer gleichmäßigen Fluktuation bemerkbar. Doch nicht alle Leserinnen und Leser gehen in den Pausen in die Cafeteria. Viele nutzen die abfallenden Konzentrationskurven, um im Gebäude umherzuwandeln und um in der Bewegung neue Kraft zu schöpfen, frei nach dem Motto von Friedrich Nietzsche:

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„So wenig als möglich sitzen; keinem Gedanken Glauben schenken, der nicht im Freien geboren ist und bei freier Bewegung, – in dem nicht auch die Muskeln ein Fest feiern. […] Das Sitzfleisch – ich sagte es schon einmal – die eigentliche Sünde wider den heiligen Geist.“15 Für diesen geistigen Spaziergang fordert Nietzsche die Schaffung ausgedehnter Räume zum Nachdenken, wo wir „in uns spazieren gehen“.16 Ein literarisches Pendant dieses Gedankens findet sich in der Erzählung „Gehen“ von Thomas Bernhard: „Wir müssen gehen, um denken zu können […]. Wenn wir gehen […] kommt mit der Körperbewegung die Geistesbewegung.“17 Diese Korrelation von Denken und Gehen reicht bis in die Antike zurück. Die Schule von Athen, wo Aristoteles lehrte, war benannt nach den Wandelhallen, wo die Peripatetiker im Umhergehen philosophierten. Das Beispiel des aristotelischen Peripatos zeigt, dass Bewegungsräume bereits in der Antike fester Bestandteil des Bauprogramms von Bildungseinrichtungen waren. Auch in Pergamon lassen Ausgrabungen darauf schließen, dass die Bibliothek der kleinasiatischen Akropolis zu Beginn des zweiten Jahrhunderts einen Wandelgang besaß. Die zweitgrößte Bibliothek des Altertums war Bestandteil des Tempelkomplexes der Athene. Mit dem Heiligtum der Weisheitsgöttin war sie über einen langen, zweischiffigen Peripatos verbunden.18 Die Funktion der Stoa ist nicht explizit überliefert, analog zur Säulenhalle der Bibliothek in Alexandria dürfte sie aber als ein „Ort des Lesens, Lehrens und Diskutierens“ genutzt worden sein19, sowohl von wandelnden Gruppen wie von Einzelnen. Die antike Wissensproduktion wird immer wieder als Dialog beschrieben, als ein Auffinden von Ge15 Nietzsche, Friedrich, Ecce homo, in: Colli, Giorgio / Montinari, Mazzino (Hg.), Friedrich Nietzsche. Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, 15 Bde., Bd. 6, München 1988, 281 (Hervorhebungen im Original). 16 Nietzsche, Friedrich, Fröhliche Wissenschaft, in: Colli, Giorgio / Montinari, Mazzino (Hg.), Sämtliche Werke, Bd. 3, 524. Siehe auch: Böhme, Hartmut, Die Windrose des Denkens. Himmelsrichtungen und Gegenden in Friedrich Nietzsches Philosophie, in: Haug, Steffen u. a. (Hg.), Arbeit am Bild. Ein Album für Michael Diers, Köln 2010, 17– 35. 17 Bernhard, Thomas, Gehen, Frankfurt am Main 2012 (EA 1971), 88. 18 Siehe: Eisen, Markus, Zur architektonischen Typologie von Bibliotheken, in: Nerdinger, Winfried / Oechslin, Werner (Hg.), Die Weisheit baut sich ein Haus. Architektur und Geschichte von Bibliotheken, München 2011, 261– 306, hier 269. 19 Strocka, Volker Michael, Noch einmal zur Bibliothek von Pergamon, in: Archäologischer Anzeiger Heft 1/2000, 155  –165, hier 161.

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danken im Gespräch, wie es Raffael von Urbino 1511 in seiner „Schule von Athen“ dargestellt hatte. Anders als in den Bibliotheken der römischen Kaiserzeit wurden die Schriftrollen in Pergamon nicht in Wandschränken entlang der Wände großer Festsäle aufbewahrt – ein System, welches in den großen Fürstenbibliotheken des Barock wieder auftauchte. Vielmehr lagerten die Schriften in „unscheinbaren Magazinen am Peripatos“.20 In der Grundrissrekonstruktion schließen vier Räume an den Wandelgang an, von denen drei als Magazine zur Aufbewahrung der 200.000 Schriftrollen genutzt wurden. Mit dieser Binnengliederung nimmt der Bau in Pergamon die räumliche Trennung von Rezeption und Aufbewahrung der Schrifterzeugnisse vorweg, die in der Baugeschichte auf das frühe 19. Jahrhundert datiert wird. Denn 1816 hatte Leopoldo della Santa einen Idealentwurf vorgelegt, der lange einflussreich in der Bibliotheksplanung war. Er basiert auf der Dreiteilung von Magazin, zentralem Lesesaal und Katalogsaal. Die räumliche Differenzierung unterschiedlicher Funktionseinheiten, die Hans Scharoun bereits in seinen frühen Wohnbauten umsetzte,21 führte in der Berliner Staatsbibliothek zu drei Funktionsbereichen: Aufbewahrung, Erschließung und Rezeption der Bücher. Diese Arbeitsabläufe sind dem langgestreckten Grundstück entsprechend in Strängen parallel zueinander angeordnet. Die bandartige Struktur zeigt eine klare Richtungstendenz, so dass bereits im Grundriss ein Bewegungseindruck entsteht.

Bewegungs- und Gemeinschaftsräume in historischer Bibliotheksarchitektur Ein Rückblick in die Geschichte der Bibliotheksarchitektur zeigt, dass auch im Mittelalter Bewegungsräume nicht von den Rückzugsbereichen getrennt waren. Da Bücher vor allem in Klöstern gelesen und (ab-)geschrieben wurden, ist ein Blick auf die Gepflogenheiten des Lesens im christlichen Kontext aufschluss-

20 Ebd. 21 Siehe: Kirschenmann, Jörg C., Hans Scharoun 1893  –1972. Die Forderung des Unvollendeten, Stuttgart 1993, 103  –104.

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reich. Denn aus den klösterlichen Kollegien sind letztlich die Universitäten und deren Bibliotheken hervorgegangen.22 Bewegungs- und Leseräume waren in mittelalterlichen Klosteranlagen im Kreuzgang kombiniert. Neben der kinetisch-kontemplativen Nutzung beim Gebet war er auch der Lektüre von Büchern gewidmet. Aus den Rites of Durham ist überliefert, dass die älteren Mönche ihre eigene Lesenische an der Außenwand des Kreuzgangs besaßen, die mit einem kleinen Tisch ausgestattet war und von einem Fenster beleuchtet wurde. Dort verbrachten sie den ganzen Nachmittag mit Lesen, waren aber gleichzeitig ansprechbar für die Fragen der vorübergehenden Mönche. Da es eine Bibliothek noch nicht gab, wurden die wertvollen Bücher in Schränken und Truhen verwahrt.23 In der Kathedrale in Gloucester beispielsweise, erbaut zwischen 1370 und 1412, sind 20 Carrels im südlichen Kreuzgang zwischen Querhaus und Kapitelsaal untergebracht. Den Mönchen wird dort ein relativ abgeschiedenes Arbeiten inmitten eines Durchgangsraums ermöglicht. Die mittelalterlichen Carrels haben bis heute als private Lesekabinen in Wissenschaftsbibliotheken überdauert. Während die Bewegungsräume heute meist isoliert werden, integrierte Scharoun sie großräumig in die Lesebereiche. Wie in einem Kreuzgang vervollständigt sich Scharouns Lesesaalband über das Ostfoyer zu einem Rundgang. Die Einrichtung der College-Bibliotheken in Oxford und Cambridge, die im frühen 14. Jahrhundert errichtet wurden, zielte auf eine räumliche Trennung der Leser. Lesepulte, die Kirchenbänken ähneln, wurden in Reihen aufgestellt und begrenzten die einzelnen Leseplätze. Die Pulte ermöglichten einen direkten Zugriff auf das Buch, das meist mit einer Kette fest am Arbeitsplatz verankert war und einen Ortswechsel verhinderte. Dieses System der Möblierung ist in Oxford zwar nicht erhalten, lässt sich aber bis in die Renaissance hinein beobachten, wie das Beispiel der Biblioteca Malatestiana in Cesena (1447–1452) zeigt 22 Siehe: Rückbrod, Konrad, Universität und Kollegium. Baugeschichte und Bautyp, Darmstadt 1977. 23 Siehe: Wormald, Francis, The Monastic Library, in: Wormald, F. / Wright, C.E. (Hg.), The English Library before 1700, London 1958, 15 –31, hier 18 ff. Leider ist die Forschungslage auf diesem Gebiet bis heute lückenhaft. Siehe dazu: Wischermann, Heinfried, ‚Claustrum sine armario quasi castrum sine armamentario‘. Bemerkungen zur Geschichte der Klosterbibliothek und ihrer Erforschung, in: Nerdinger / Oechslin (Hg.), Die Weisheit, 93  –130.

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Abb. 3: Biblioteca Malatestiana, Cesena, 1447–1452, Mittelgang mit seitlichen Pulten

(Abb. 3). Waren die Bücher bis dahin an dem Ort aufbewahrt, wo sie gebraucht wurden, also die Messbücher in der Sakristei, andere im Schlafsaal oder Refektorium und einige aufgrund ihres Wertes auch in der Schatzkammer, bekamen sie in der Gotik einen festen Standort zugewiesen, der zur Aufbewahrung und zum Studieren diente.24 Obwohl es in der Renaissance bei der mittelalterlichen Ausstattung mit Pulten blieb, veränderte sich dennoch die architektonische Binnengliederung. Durch eine Unterteilung in einzelne Schiffe konnte der Schreibtrakt deutlicher vom Mittelgang abgetrennt werden. Die Bibliothek des Dominikanerklosters San Marco in Florenz, erbaut 1438 von Michelozzo für Cosimo de Medici, gilt als frühestes Beispiel für diese Raumaufteilung.25 Seit der Erfindung des Buchdrucks und dem raschen Ansteigen der Druckerzeugnisse wuchs auch die Fluktuation in Bibliotheken, die im Mittelgang kanalisiert wurde, während die Seitenschiffe mit gut ausgeleuchteten Leseplätzen ausgestattet waren.26 In seiner Libreria Laurenziana in Florenz (Abb. 4) nahm Michelangelo bereits 1523 den Saaltyp vorweg, der sich erst im 24 Siehe: Wischermann, Claustrum sine armario, 102  –103. 25 Siehe: Pevsner, Nikolaus, Funktion und Form. Die Geschichte der Bauwerke des Westens, Frankfurt am Main 1998, 94. 26 Siehe: Erben, Dietrich, Die Pluralisierung des Wissens. Bibliotheksbau zwischen Renaissance und Aufklärung, in: Nerdinger / Oechslin (Hg.), Die Weisheit, 169  –194, hier 174; siehe auch: Eisen, Zur architektonischen Typologie, 276.

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Abb. 4: Michelangelo, Libreria Laurenziana, 1523  –1571, Lesesaal

Barock durchsetzen sollte. Die 1571 für die Bücherstiftung der Medici fertig gestellte Bibliothek ist allerdings nicht wegen ihres Lesesaals berühmt geworden, sondern aufgrund ihres Vestibüls. Der quadratische Vorraum wird fast vollständig von einer imposanten Treppe ausgefüllt, die den Besucher auf flachen, volutenartig ausschwingenden Stufen nach oben geleitet. Die sich verjüngende Treppe bündelt gewissermaßen die Gedanken vor dem Eintritt in den Lesesaal, der sich als relativ schlichter Studierraum präsentiert und noch mit mittelalterlichen Pulten möbliert ist. Trotz ihres saalartigen Zuschnitts lässt die Laurenziana noch nichts von den Prunksälen barocker Fürstenbibliotheken erahnen. Die kleinteilige Gliederung, die die Bibliothek bis zum 15. Jahrhundert bestimmte, war vom Leser her gedacht und konstituierte sich aus gereihten Lesepulten, die als Raumteiler funktionierten und den Grundriss bestimmten.27 Auch die Ablösung der Lesepulte durch Pultregale, die im Stall system englischer College-Bibliotheken angeordnet wurden,28 änderte an dieser Raumauffassung nichts. Der additive Raumtyp wurde im 16. Jahrhundert vom Saaltyp abgelöst, der erstmals 1567 im spanischen Klosterpalast El Escorial auf Initiative von Philipp II. erbaut wurde. Vor allem die Ausstattung des großen Einheitsraumes, der von einem Ton27 Siehe: Brawne, Michael, Bibliotheken. Architektur und Einrichtung, Stuttgart 1970, 11. 28 Siehe: Naumann, Ulrich, Universitätsbibliotheken, in: Nerdinger / Oechslin (Hg.), Die Weisheit, 131–148, hier 132.

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nengewölbe zusammengefasst wird, macht die Veränderung deutlich: Sämtliche Wände der prunkvollen Fürstenbibliothek sind zu Stellflächen für offene Bücherschränke umgewidmet. Nur die Mittellinie des Saales ist mit einzelnen Vitrinen verstellt, während die übrige Bodenfläche für die Zirkulation frei wird. Der Saaltyp geht nicht mehr vom einzelnen Leser aus, sondern vom Raum, der mit den Buchwänden ringsum zu einer Einheit verschmilzt.29 Die Bibliothek des Escorial verdeutlicht den Wandel von einem Studierzimmer zu einem Festsaal, der weniger dem individuellen Studium als vielmehr der kollektiven Schaulust gewidmet ist.30 Während die Bestände in den Fürstenbibliotheken rasant anwuchsen, stagnierte die Entwicklung in den Universitätsbibliotheken des 16. und beginnenden 17. Jahrhunderts. Der geringe Bedarf an Büchern liegt im tradierten Vorlese- und Abschreibprinzip begründet, das weder eine Vermehrung von Wissen noch eine Erweiterung der Bestände nötig erscheinen ließ. Der Zugang zu den wenigen Büchern war überdies streng limitiert und erst mit den Reformuniversitäten (in Halle seit 1694 und Göttingen seit 1736) konnte sich ein aufklärerisches Gedankengut durchsetzen.31 Dass die Bücher raumschaffend wirken, geht auf die Mailänder Biblioteca Ambrosiana zurück, die zwischen 1606 und 1609 errichtet wurde. Der tonnengewölbte Saal und die Freihandaufstellung der Ambrosiana erinnern an die Bibliothek des Escorial. Die Mailänder Bibliothek markiert jedoch den Wandel von einem Schau- zu einem Arbeitsraum, dessen einziger Schmuck neben einem hohen Kassettenfries mit Heiligenbildnissen die Bücher sind. Wandhohe Regale füllen den Raum restlos aus, wobei die oberen Bestände durch schmale Galerien erschlossen werden.32 Die Zusammenfassung getrennter Einzelplätze und Lesenischen zu riesigen, gemeinschaftlich genutzten Lesesälen beherrschte die Bibliotheksarchitektur des 17. und 18. Jahrhun29 Siehe: Brawne, Bibliotheken, 11. 30 Siehe: Wischermann, Claustrum sine armario, 113 ff. 31 Siehe: Naumann, Universitätsbibliotheken, 135. Die Bibliothek der Pariser Sorbonne verfügte allerdings über eine beachtliche Büchersammlung. 32 Siehe: Erben, Die Pluralisierung, 180  –181; vgl. Becker, Regina, Theorie und Praxis – Zur Typologie in der Bibliotheksarchitektur des 17. und 18. Jahrhunderts, in: Warncke, Carsten-Peter (Hg.), Ikonographie der Bibliotheken, Wiesbaden 1992, 235 –269, hier 237.

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Abb. 5: Sidney Smirke, British Museum, 1857, Lesesaal

derts und gipfelte im 19. Jahrhundert, als der Eisenbau es ermöglichte, große Spannweiten zu überwölben. Die räumliche Weite kompensierte die Unabgeschlossenheit des Einzelnen und förderte dessen Konzentration.33 Auf diese Weise wurde das Verhältnis von Leser und Raum oder Individuum und Gemeinschaft, die sich bis heute wechselseitig inspirieren, neu bestimmt. Die ehemalige Königliche Bibliothek in Berlin (die heutige Staatsbibliothek Ost), 1914 fertig gestellt von Ernst von Ihne, besaß bis zum Krieg einen oktogonalen Kuppellesesaal, der mit kreisförmig angeordneten Leseplätzen möbliert war. Auf halber Höhe war der Lesesaal von einem Galerieumgang umschlossen. Im Unterschied zu seinem Vorläufer in London diente der Berliner Umgang nicht der Erschließung von Buchbeständen. Seine großzügige Breite und massive Bauweise erlaubten vielmehr eine Nutzung als Wandelgang. Filigraner wirkt hingegen der eiserne Laufsteg, der die Bestände in den oberen Regalreihen der British Library erschließt. Der 1857 von Sidney Smirke ursprünglich für das British Museum in London entworfene Kuppellesesaal (Abb. 5) versammelt die Leser in einem kreisrunden Saal, der auf den mittig platzierten Bibliothekar ausgerichtet ist. 33 Siehe: Brawne, Bibliotheken, 18.

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Abb. 6: James Gibbs, Radcliffe Camera, Oxford, 1737–1749, Saal mit Umgang

Die Zentralisierungstendenz von Bibliotheksbauten beginnt 1676 mit einem unausgeführten Entwurf von Christopher Wren für die Trinity College Library der University of Cambridge. Dessen Schüler James Gibbs konnte die Idee schließlich, nachdem sie sich in Form eines elliptischen Grundrisses in Wolfenbüttel (1706 –1710) materialisiert hatte, zwischen 1737 und 1749 auf dem Campus der University of Oxford umsetzen. Die sogenannte Radcliffe Camera (Abb. 6) verfügt über einen leeren kreisrunden Saal, dessen Bestimmung nicht näher bezeichnet ist, sowie über einen Umgang, der in der Kupfertafel nicht nur mit sitzenden Lesern, sondern auch mit stehenden, im gelehrten Gespräch vertieften und mit umherwandelnden Besuchern bevölkert ist. Während Regina Becker die Entwicklung hin zur Rotunde im Kontext von Bildungsutopien, die auf Idealstädte rekurrieren, deutete,34 sieht Dietrich Erben im runden Zentralbau die Idee der Autonomie versinnbildlicht. Nach der Herauslösung der Bauaufgabe aus dem Kirchen- oder Schlosskontext drücke sich die Unabhängigkeit der Bibliothek in einem freistehenden Rundbau aus, der sich nicht in ein orthogonales städtebauliches Raster einordnen lässt.35 Der Bibliotheksbau entwickelte sich historisch von der Lesenische über das Lesepult zum Lesesaal, vom individuellen Rückzugsort zum Gemeinschaftsraum. Dabei ist eine stetige Abnahme der Bewegungsflächen zu beobachten. Während die Lesenische des Mönchs im Kreuzgang noch am Rande eines Durchgangsraums untergebracht war, beschränkte sich die Bewegung in der Klosterbibliothek auf einen Mittelgang zwischen den Lesepulten. Die großen Lesesäle des 19. Jahrhunderts sind Aus34 Siehe: Becker, Theorie und Praxis, 246 ff. 35 Siehe: Erben, Die Pluralisierung, 185.

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druck einer Funktionstrennung, in der die Bewegungsflächen mitsamt den Büchern ausgesondert wurden. Der zentralisierende Grundriss war auf eine imaginäre Mitte gerichtet und der Raum so sehr auf sich selbst bezogen, dass Ablenkungen weitgehend vermieden werden konnten. Hans Scharoun führte die widersprüchlichen Nutzungen wieder in einem Einheitsraum zusammen. Dabei gelang es dem Architekten, die verhaltene Geschäftigkeit der Leserinnen und Leser sowohl akustisch wie auch optisch im weitläufigen Raum zum Verschwinden zu bringen.

Die sozialräumlichen Funktionen der Bibliothek Aufgabe der Bibliothek ist nicht mehr allein die Hinführung zum Buch.36 Das Gebäude selbst muss so anziehend wirken, dass die Menschen hinter dem heimischen Schreibtisch hervorgelockt und zu einem Besuch mobilisiert werden. Die zunehmende Unabhängigkeit der Informationsmedien von Raum und Zeit verstärkt das Bedürfnis nach räumlicher Verortung und sozialer Vernetzung.37 Dabei muss es nicht zwingend zum konkreten Gedankenaustausch kommen. Sobald unterschiedliche Menschen ähnlichen Tätigkeiten nachgehen, wird das räumliche Nebeneinander als gesellschaftliches Miteinander empfunden. Die Motivation für einen Bibliotheksbesuch erinnert an den sonntäglichen Kirchgang: Für viele Leserinnen und Leser ist die Erfahrung von Zugehörigkeit entscheidend – „to be seen as members of that community while they take strength from seeing other community members“.38 Die Sichtbeziehungen zwischen den Besucherinnen und Besuchern machen den Bibliotheksraum zu einem Schauplatz des Wissens. Sehen und Gesehen werden tragen zur Selbstvergewisserung und Gemeinschaftsstiftung im Sinne der frühchristlichen communio bei. In der Staatsbibliothek verstärkt insbesondere die visuelle Durchlässigkeit der Ebenen die Präsenz der anderen Leserinnen

36 Siehe dazu: Zürn, Tina, Gebaute Signatur. Die Seattle Public Library von Rem Koolhaas, in: libreas Heft 28/2016. 37 Dies zeigt sich vor allem an den stetig wachsenden Besucherzahlen. 38 Siehe dazu die empirischen Studien von: Bennett, Scott, Righting the Balance, in: Resources, Council on Library and Information (Hg.), Library as Place, 29. Siehe auch: Gayton, Academic Libraries, 60.

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und Leser. Die offene architektonische Struktur verdeutlicht zugleich, dass das überlieferte Wissen aus einer gemeinsamen Anstrengung hervorgegangen ist. Trennende Raumgrenzen, die die Struktur vormoderner Architekturen geprägt hatten, lösen sich nahezu vollständig auf und verbinden sich zu jenem Raumkontinuum, welches jahrhundertelang nur in Sakralräumen anzutreffen war. Hans Scharoun erläuterte am Beispiel der mittelalterlichen Kirche St. Petri in Soest die Disposition von Kirchenräumen, wo es gilt, „die Bauteile so zu verflechten, daß der Gesamtraum als ein in Einzelteile aufgeteilter, nicht aber als aus Einzelraumteilen addierter Gesamtraum erscheint.“39 Die Integration von Teilräumen in ein größeres Ganzes findet ihr gesellschaftliches Pendant in der Einbindung des Einzelnen ins Leserkollektiv und ihr mediales Pendant im Buch, wo Forschungsergebnisse zusammenfließen und vorangetrieben werden. Die Architektur der Staatsbibliothek erzeugt nicht nur ein inspirierendes Gemeinschaftsgefühl, sondern einen Ort, „where pursuit of knowledge is celebrated.“40 Anders als in einer Kirche, wo die Rolle der Gemeinde auf Akklamationen beschränkt bleibt, sind die Bibliotheksbesucherinnen und Besucher Zeuge und Zelebrant dieses gesellschaftlichen Wertschöpfungsprozesses. Je überzeugender die Wertschätzung des kollektiven Wissens architektonisch und sozialräumlich ausformuliert wird, desto eher wird sich die Bibliothek, die zu den ältesten Bauaufgaben gehört, nicht nur institutionell, sondern auch physisch im digitalen Zeitalter behaupten.

Bildnachweis: Abb. 1– 2: Fotos: Tina Zürn, © VG Bild-Kunst, Bonn 2018. Abb. 3 – 5 aus: Die Weisheit baut sich ein Haus. Architektur und Geschichte von Bibliotheken (Katalog zur Ausstellung, Architekturmuseum der TU München, Pinakothek der Moderne München, München, 14. Juli – 16. Oktober 2011), hg. v. Winfried Nerdinger u. Werner Oechslin, München 2011, 152, 221, 222. Abb. 6 aus: Becker, Regina, Theorie und Praxis – Zur Typologie in der Bibliotheksarchitektur des 17. und 18. Jahrhunderts, in: Warncke, Carsten-Peter (Hg.), Ikonographie der Bibliotheken, Wiesbaden 1992, 265. 39 Scharoun, Hans, Soest – von St. Petri aus betrachtet, in: Wendschuh, Achim (Hg.), Hans Scharoun. Zeichnungen, Aquarelle, Texte, o. O. 1993, 95 – 96, hier 95. 40 Brawne, Introduction, 9.

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Der Ausgangspunkt Raum als Begegnungs- und Kommunikationszone sowie zeitliche und örtliche Gebundenheit als Voraussetzung der sozialen zwischenmenschlichen Interaktion hat durch die Entwicklung der drahtlosen Kommunikation eine Bedeutungsänderung erfahren. Reale Räume werden von virtuellen Räumen abgelöst, die Erreichbarkeit des Menschen ist vom Gerät (Mobiltelefon, Tablet oder Computer) und dem Angebot an Netzzugängen abhängig. Die Gesellschaft hat ihre Art zu kommunizieren an die modernen Kommunikationsmöglichkeiten angepasst, dadurch verändern sich auch die Anforderungen an den städtischen Raum und beeinflussen die architektonische Gestaltung dessen. Der Philosoph Paul Virilio spricht von der „virtuellen Gesellschaft“ und sagt im Interview, geführt von Friedrich Kittler, 1995: „Die neuesten Technologien lassen den Raum in seiner Ausdehnung und Dauer verschwinden. Sie reduzieren die Welt auf ein Nichts, wie man sagt. Das ist ein tiefgreifender Verlust, auch wenn man es nicht zugibt, und niemals zugeben wird.“1

Der Anfang Das Konzept der Leere und damit der unendliche Raum wird bereits im 5. Jahrhundert vor Christus von den Atomisten formu1

Virilio, Paul, Die Informationsbombe – Paul Virilio und Friedrich Kittler im Gespräch, 1995, ausgestrahlt im Deutsch-Französischen Kulturkanal ARTE November 1995, http://www. jcpohl.de/texte/virikitt.html [Stand: 13.09.2018].

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liert, als über die Existenz einer möglichen Leere heftig diskutiert wird. Die Leere ist im Mittelalter gefürchtet, denn ein Raum – ein Ort – in dem NICHTS ist und der trotzdem existiert, könnte die menschliche Vorstellungskraft übersteigen. „ […] wir können uns schlicht keinen Ort als ‚real’ vorstellen, wenn er nicht einen mathematisch genau festgelegten Platz im physikalischen Raum einnimmt.“2 Die Atomisten, vor allem Demokrit und sein Lehrer Leukippos, stellen sich den Raum als Leere vor, in dem sich Atome bewegen; eine Analogie dazu könnte das Weltall sein – ein leerer Raum, ein Vakuum, in dem sich Sterne bewegen oder als Fixsterne existent sind. Demokrit denkt sich den Raum auch als unendlich, dies stellt eine weitere Analogie zum Weltall dar, das grundsätzlich unendlich ist. Die Galaxien jedoch sind begrenzt, also endlich. Diese Überlegung von Demokrit steht im Gegensatz zu Aristoteles‘ Überlegungen. Dieser sieht den Raum als endlich und mit Materie gefüllt, daher gibt es keine Leere. Der Körper bewegt sich, ist also dynamisch, aber der Raum ist statisch. Folgender Schluss kann daraus gezogen werden: Da es keine Leere gibt, kann der Raum nicht unendlich sein, das bedeutet – er ist konstant, voll und begrenzt! 3 (Abb. 1) Zu Beginn des 16. Jahrhunderts entwickelt Koperni­ kus durch seine Raumbeobachtungen ein neues Weltbild, das Heliozentrische Weltbild mit der Sonne im Mittelpunkt, um die sich die Planeten beAbb. 1: Zweiwelten-Vorstellung des Aristoteles, Zeichnung nach Simoniy 2001, 81 wegen. Keplers Gesetze der

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Wertheim, Margareth, Die Himmelstür zum Cyberspace. Eine Geschichte des Raumes von Dante zum Internet, München, 2000, 69. Vgl. Starzacher, Marion / Verhovsek, Sigrid, Mind the Gap. Lost in (Cyber-)Space, in: Hendrich, Hermann (Hg.), raum, anschaulich. Zur Phänomenologie des architektonischen Raumes, Wien 2007, 76.

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Planetenbewegungen sind die Fortführung dieser Beobachtungen und die Auswertung der Daten der Himmelsbeobachtungen von Tycho Brahe zu Beginn des 17. Jahrhunderts. Die Dualität Körperraum und Seelenraum bleibt bestehen, denn die Endlichkeit des Raumes ist noch nicht in Gefahr! Dies ändert sich Ende des 17. Jahrhunderts durch Newtons Gravitationsgesetze, mittels derer die Kepler’schen Gesetze der Planetenbewegung physikalisch erklärbar geworden sind. Dadurch wird die Dualität der Räume gefährdet, denn schon Kepler setzt den himmlischen Raum und den irdischen Raum, also den Seelenraum und den Körperraum, gleich, indem er die These aufstellt, dass in beiden Räumen dieselben physikalischen Kräfte wirken. Galileo beweist Ende des 17. Jahrhunderts durch seine Mondbetrachtungen, dass der Mond ebenso wie die Erde eine Topografie besitzt. Durch diese Entdeckung zerbricht die Vorstellung eines himmlischen Raumes außerhalb der irdischen Atmosphäre, denn diese ist nicht stofflich. Die Tatsache, dass Sterne aus Materie bestehen, bedeutet somit das Ende der Dualität des mittelalterlichen Weltbildes und den Beginn einer neuen Ära.4 Somit nimmt ein neuer, rational erklärbarer Raum Einzug in die Glaubens-/Geschichte der Menschheit – der physikalischtechnisch dominierte Raum, neben dem die beiden körperlichphysikalischen und geistig-stofflichen Räume zwar noch weiter existieren, aber aufgrund technischer Entwicklungen und wissenschaftlicher Erkenntnisse an Bedeutung verlieren, nicht mehr gleichwertig sind. Eine Ausnahme bildet der Wissenschaftler Descartes, der sich zwar schon im 16. Jahrhundert ein mechanistisches Weltbild mit einem unendlichen Universum vorgestellt hat, jedoch die Welt nach wie vor in eine Objekt- und eine Gedankenwelt eingeteilt hat: Res Extensa und Res cogitans.

Die Dualität Zurückkommend auf den Raum kann in der Auseinandersetzung mit seiner (Be-)Deutungsgeschichte im Laufe der Jahrhunderte nachgewiesen werden, dass diese Dualität der Räume – realer 4

Vgl. Verhovsek / Starzacher, Mind the Gap, 77 f.

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Raum und virtueller Raum – im christlich geprägten Mittelalter besteht.5 Hier wird zwischen dem Körperraum und dem Seelenraum unterschieden: – Mit dem Terminus Körperraum wird der Lebensraum des Menschen beschrieben, dieser ist erfassbar, erfahrbar, analysierbar sowie bewertbar. – Mit dem Terminus Seelenraum wird etwas Entstofflichtes, Geistiges, Gedachtes beschrieben; er ist physisch nicht betretbar, dynamisch und daher wandelbar. Der Übergang vom Körperraum in den Seelenraum stellt eine Metamorphose ins Licht dar. Geleitet vom Glauben an eine höhere Macht ist im Mittelalter das duale Weltbild sehr stark in den Köpfen der Menschen verankert und für das irdische tägliche Leben bestimmend. Es geht um ein Leben nach dem Tod, um die Erlösung und den Übergang in ein anderes Leben. Im ersten Brief des Paulus an die Korinther wird im 15. Kapitel die Auferstehung der Toten beschrieben, hier wird zwischen dem geistlichen Leib und dem natürlichen Leib unterschieden, wobei der natürliche Leib, der auf der Erde – dem Körperraum – lebt, der erste ist und der geistliche Leib derjenige ist, der aufersteht und in den Himmel kommt. Weiter steht geschrieben, wenn es einen natürlichen Leib gibt, gibt es auch einen geistlichen. In Absatz 47 heißt es: „Der erste Mensch ist von der Erde und irdisch, der andere Mensch ist der Herr vom Himmel.“ [1 Korinther 15]

Die Mitte Die Globalisierung und die neuen Technologien haben eine neue Gesellschaftsform hervorgebracht: die Weltgesellschaft, auch Wissensgesellschaft genannt. Nationale Eigenheiten (Mode, Musik, Design, Traditionen …) verschwimmen beziehungsweise vermischen sich. Zeitgenössische Trends und Nachrichten verbreiten sich in Echtzeit mittels der neuen Medien über den gesamten Erdball, sodass alle Menschen, die neue Medien nutzen können, die gleichen Informationen empfangen. Die Herausforderung, die nun entsteht, kann eine Änderung in den Wertevor-

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Vgl. Wertheim, Die Himmelstür zum Cyberspace, 37, 49.

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stellungen6 sein, die sich nun mit anderen Werten verbinden und so zu neuen globalen Werten werden. Tradierte Wertvorstellungen, die von einer Generation auf die nächste weitervermittelt wurden, prallen auf neue Einflüsse, dies birgt die Gefahr der Orientierungslosigkeit neben der Chance für einen Neuanfang.7 Der virtuelle Raum ist im realen Raum sehr präsent. Durch die Möglichkeit der drahtlosen, ortsunabhängigen Kommunikation bewegt sich die Gesellschaft als Solitär durch den realen Raum, in Interaktion mit virtuellen Personen: telefonierend, chattend, bildteilend oder Nachrichten verfolgend. Die Analogie vom Seelenraum des christlich geprägten dualen Weltbildes zum virtuellen Raum des 21. Jahrhunderts steht als These im Fokus dieser Ausführungen. Der Seelenraum, jenseits der materiellen Welt befindlich, als gedachter, geistiger Ort kann als Pendant des virtuellen Raums als erdumspannender Ort, ebenfalls ohne Materie, gesehen werden, der durch Avatare8 oder Stimmen9 belebt ist. Der Unterschied besteht in der Realität: Wird der Seelenraum durch den Glauben der Menschen erzeugt und erlischt er mit dem Zweifel, so wird der virtuelle Raum des 21. Jahrhunderts durch Technik und zugehörige Technologien erzeugt und erlischt mit dem BlackOut10 oder mit der Zerstörung der zur Erzeugung benötigten Infrastruktur (Geräte, Energie, …). Marc Elsberg hat bereits im Jahr 2012 in seinem Roman BLACKOUT - Morgen ist es zu spät11 die Auswirkungen eines totalen Netzausfalls in Europa in der kalten Jahreszeit sehr anschaulich beschrieben. Witterungsbedingte Netzausfälle sind nicht mehr die Ausnahme, seitdem Wetterextreme wie Eisregen und Frost im Winter, Starkregen und Gewitter im Sommer zunehmen. Diese Ausfälle zeigen, wie stark die Abhängigkeit der postindustriellen Gesellschaft12 von der bereitgestellten Stromversorgung in den letzten Jahrzehnten geworden ist. Die ele-

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Vgl. Richter, Rudolf, Interview am 04.05.2005 in „Von Tag zu Tag“, Ö1. Vgl. Verhovsek, Starzacher, Mind the Gap, 74 f. Ein Avatar ist eine künstliche Person oder ein grafischer Stellvertreter einer echten Person im virtuellen Raum. 9 Damit sind Gespräche oder Chats der Benutzer*innen gemeint. 10 Anmerkung der Verfasserin: Hier im Sinne eines länger andauernden, großflächigen Stromausfalls. 11 Elsberg, Marc, BLACKOUT – Morgen ist es zu spät, München, 2012. 12 Prägung des Begriffes durch den französischen Soziologen Alain Touraine.

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mentarste Grundversorgung funktioniert dann nicht mehr: kochen, heizen, Warmwasser- und Lichtversorgung, Nahrungsmittelkühlung, elektrische Schließsysteme, Ampelregelung, öffentlicher Personenverkehr sowie Mobilfunk (Telefonie).13 Bricht das „Internet“ oder gar die Verbindung zum Globalen Positionsbestimmungssystem GPS zusammen, verlieren Arbeitsstationen die Verbindung zu ihren Datenservern, Menschen können einander oder ihre Bestimmungsorte nicht mehr erreichen, Arbeiten können nicht weitergeführt werden, der digitale Zahlungsverkehr funktioniert nicht mehr, somit auch der Alltag. Diese Abhängigkeit zeigt sich auch in der gebauten Umwelt: (Not-)Kamine, dezentrale Versorgungseinrichtungen, Notstromaggregate, Versammlungsorte sind meist nicht mehr Teil von Siedlungsgebieten, da der Bedarf (zumindest) in Zentraleuropa lange Zeit nicht mehr vorhanden gewesen ist.

Die Neue Dualität Ende des 20. Jahrhunderts haben sich durch die fortschreitende Globalisierung und die gesellschaftlichen Änderungen auch die Anforderungen (Wünsche, Bedürfnisse) an die Gestaltung und Nutzung des Raumes verändert. Der Raum, in dem sich die Menschen bewegen, teilt sich wiederum in eine physikalische-materielle und in eine gedachte-geistige Welt. Es entsteht ein neues Duales Weltbild: realer Raum versus virtueller Raum. Zeit (die 4. Dimension) und Ort (die 3. Dimension) verlieren ihre historische Bedeutung, denn der virtuelle Raum ist im realen Raum nicht verortet. Entfernungen werden relativ, die virtuelle Erreichbarkeit kennt kaum Grenzen. Kommunikation kann auf der Erde in Echtzeit oder zeitlich versetzt unabhängig von Zeit und Raum passieren. Die Menschen erleben die neue Dualität, wenn sie zwischen dem tatsächlichen Lebensraum (realer Raum) und dem Internet (virtueller Raum) hin- und herpendeln. Zur Nutzung des virtuellen Raumes im 21. Jahrhundert wird eine Schnittstelle und / oder ein Gerät benötigt, ohne dieses ist niemand in der Lage, vom realen Raum in den virtuellen Raum zu wechseln. Schon die Generation vor der 13 Auflistung ohne Wertung und ohne Anspruch auf Vollständigkeit.

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Internetgeneration hat diesen Dualismus gelebt: Radio und Fernsehen sind ebenfalls Medien, die eine virtuelle Welt in der realen Welt herstellen. Sind es zunächst Stimmen, die via Übertragung global zu hören gewesen sind, werden diese bald mit Bildern hinterlegt. (Abb. 2) Im Klappentext des BuAbb. 2: Raum-Zeit-Pfad, Zeichnung nach Hägerstrand, Raum-Zeit-Geographie, 1970 ches Kollektive Intelligenz14 – Eine Anthropologie des Cyber­ space, 1995 verfasst vom französischen Soziologen Pierre Levy, wird die Hoffnung, die auf den virtuellen Raum gesetzt wird, pointiert wie folgt zusammengefasst: „Der Cyberspace bietet eine Chance der gemeinschaftlichen Teilhabe an Vorstellungskraft und Wissen der Menschen. Die dadurch entstehende kollektive Intelligenz könnte dazu beitragen, Lösungen für die gewaltigen Probleme zu finden, mit denen die globalisierte Menschheit heutzutage konfrontiert ist.“15 Im sechsten Kapitel geht Levy auch auf eine mögliche architektonische Gestaltung des Cyberspace ein, jedoch unter der Voraussetzung, dass die Inhalte der physischen Erde auch in der virtuellen Erde zur Verfügung stehen. „Wir plädieren hier für eine Architektur ohne Fundament, die derjenigen von Booten ähnelt, mit all deren ozeanographischen Instrumenten zur Navigation und Orientierung im bewegten Wasser. […] Die Architektur der Zukunft, die alles andere sein will als ein Theater der Repräsentation, versammelt Flöße von Sinnbildern für die Durchquerung des Chaos.“16 Er stellt sich vor, wie der Cyberspace geschützt werden kann, um nicht als Machtinstrument dienen zu müssen, dazu könnte eine geeignete Verfassung formuliert werden.

14 Deutsche Übersetzung im Jahr 1997. Oftmals auch als Schwarmwissen bezeichnet. 15 Lévy, Pierre, Die kollektive Intelligenz. Für eine Anthropologie des Cyberspace, Mannheim, 1995, Klappentext. 16 Levy, Kollektive Intelligenz, 134.

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Ein Sprung zu Levy und seinen Bedeutungsräumen Um den Einfluss, den der virtuelle Raum auf den realen Raum ausübt, nachvollziehen zu können, ist es notwendig, sich mit den großen Bedeutungsräumen nach Pierre Levy zu befassen. Levy sieht im Cyberspace, wie er den virtuellen Raum bezeichnet, eine große Chance in der globalen Problemlösungskompetenz. Menschen erarbeiten im Kollektiv mit ihrem Wissen und ihren Vorstellungen gemeinsam Lösungen für die globalen Probleme. Die großen Bedeutungsräume, auf die sich Levy bezieht und die laut seinen Ausführungen in weiterer Folge einen neuen Raum produzieren, den Raum der Neuzeit oder Raum des Wissens, lauten: – der erste große Bedeutungsraum ist der Raum der Erde, – der zweite große Bedeutungsraum, seit dem Neolithikum, ist der Raum des Territoriums, –  der dritte große Bedeutungsraum ist der Raum der Waren, der sich ab dem 16. Jahrhundert stark gewandelt hat. Die moderne Entsprechung für den Raum des Territoriums könnte der Raum des Staates sein, obwohl sich schon mit dem Einrichten des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR) bereits ein weiterer territoriumsübergreifender Raum über die politischen Grenzen hinaus entwickelt hat. Interessant ist die Tatsache, dass für den Ökonomen François Perroux sowohl der Raum des ökonomischen Denkens, der im 16.–18. Jahrhundert präsent ist, sowie der Raum der Waren nach Levy banale Räume darstellen, da sie nicht primär für das soziale Leben der Menschen bezeichnend sind. Das bedeutet, dass diese zwei Räume zwar grundsätzlich das ökonomische Verhalten der Menschen beeinflussen, aber nicht die Beziehung zueinander. Der Raum der Neuzeit im Zeitalter des Wissens hat sich aus den drei großen Bedeutungsräumen, dem Raum der Erde, dem Raum des Territoriums und dem Raum der Waren, entwickelt. Das bedeutet, dass sich die Gesellschaft, nach Richter Wissensgesellschaft genannt, in dem Sinn weiterentwickelt hat, dass sie zu den bekannten drei großen Bedeutungsräumen einen weiteren Raum – den Raum des Wissens – benötigt. Dieser Raum des

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Wissens ist ein Synonym für den virtuellen Raum, in dem sich die Wissensgesellschaft primär bewegt. Levy sagt auch, dass jeder Mensch Wissen generiert und verbreitet: lernen voneinander durch Gespräche, Diskussionen. Laut Levy wird die Stellung des Menschen in der Gesellschaft nicht rein über seine soziale Stellung in Bezug auf seine Produktivität, laut dem Soziologen Pierre Bourdieu nach seinem ökonomischen Kapital, definiert, sondern über sein Wissen. Levy formuliert dies folgendermaßen: „Das Wissen in unserem Sinne ist ein Wissen ums Leben oder vielleicht ein Leben ums Wissen: ein Wissen, das von Leben nicht zu trennen ist. Es ist ein kosmopolitischer nicht eingegrenzter Raum der Beziehungen und Eigenschaften; ein Raum der Metamorphose von Beziehungen und der Emergenz neuer Weisen zu sein; es ist ein Raum, in dem sich die Prozesse der individuellen und kollektiven Subjektivierung treffen.“17 Wichtig ist, dass das Denken sich nicht auf einen rein rationalen Diskurs reduzieren lässt und der Raum des Wissens ein extrem dynamischer, stets wandelbarer Raum ist. Aber, und das ist der springende Punkt: Der Raum des Wissens ist laut Levy eine Utopie, da dieser noch nicht verwirklicht worden ist, sondern rein virtuell besteht – der Raum des Wissens ist in die drei großen Bedeutungsräume, den Raum der Erde, den Raum des Territoriums und den Raum der Waren, integriert und schließt somit den Kreis zur Erde, zum realen Raum. Der Raum des Wissens unterzieht sich ständig einer Erneuerung, er ist abhängig von denen, die ihn besuchen und sich in ihm austauschen. Chatrooms, Foren als etablierte Formen der Interaktion im Internet oder Social Media Plattformen als Strukturen des 21. Jahrhunderts sind virtuelle Räume, die von ihren Mitgliedern zum (Wissens-)Austausch genutzt werden und somit einer ständigen Veränderung unterliegen. Die Datenflut des Wissens übersteigt in der Fülle oft die menschliche Fähigkeit, Informationen zu filtern und zu verifizieren. Die Geschwindigkeit, mit der Wissen produziert und verbreitet wird, steigt rasant. Metaphorisch, mit den Worten aus Goethes Faust, mit denen der Erdgeist sein Schaffen beschreibt, kann ebenso der virtuel17 Levy, Kollektive Intelligenz, 145 f.

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le Raum beschrieben werden; Informationen sind abrufbar und verlieren kurz darauf bereits ihre Aktualität und werden durch neue ersetzt.18

Der virtuelle Raum oder der Cyberspace Das Internet hat seinen 25. Geburtstag gebührend gefeiert und bislang noch nicht an Attraktivität verloren. Das Nutzer*innenverhalten hat sich an gesellschaftliche Veränderungen angepasst. Ist es zu Beginn des Informationsaustausches im Zentrum der Nutzung gelegen, so sind heute Social Media Kanäle die wichtigen Instrumente, wie zum Beispiel Twitter, Instagram, Facebook, Whatsapp, Telegram, die die mittlerweile archaisch anmutenden Emailprogramme und teilweise auch die Nachrichtenseiten abgelöst haben. Beinahe jede nachrichtenverbreitende Stelle nutzt ebenfalls Social Media Kanäle, um keine Leser*innen, im Fachjargon follower genannt, zu verlieren. Abonnements, um in Echtzeit Updates zu den Neuigkeiten zu erhalten, sind zentrale Ankerpunkte, um die Nutzer*innen an sich zu binden. Die Sprache der Nachrichten hat sich an die Sprache der Social Media Kanäle und deren Nutzer*innen angepasst: kurz, stichwortartig, mit Schlüsselworten des jeweiligen Kanals gespickt. Manuel Castells, ein spanischer Soziologe, hat die These19 formuliert, dass das Internet (die virtuelle Welt) die gesamte Gesellschaft in Bezug auf soziale, berufliche und bildende Strukturen nachhaltig beeinflussen wird: „Space is not a photocopy of society, it is society.“20 Die drahtlose Kommunikation (Telefon, Internet - Computer) hat einen großen Einfluss auf die Gesellschaft und die Art, wie diese kommuniziert, wie diese sozial interagiert, und hat einen großen Einfluss auf die Gestaltung des öffentlichen Raumes und des privaten (persönlichen) Raumes (beide im Sinne des realen Raumes gesehen). Der persönliche Raum, wie auch immer ge-

18 „Geburt und Grab, Ein ewiges Meer, Ein wechselnd Weben, Ein glühend Leben, So schaff ich am sausenden Webstuhl der Zeit, Und wirke der Gottheit lebendiges Kleid.“ aus Goethe, Johann Wolfgang von, Faust, 1808, 41. 19 Diese These beschreibt er in seinem dreibändigen Werk. Castells, Manuel, The Rise of the Networksociety. The Information Age. Economy, Society and Culture, Oxford, 1996. 20 Castells, Network Society, 410.

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staltet, bietet die Möglichkeit, sich frei, von äußeren Zwängen unbeeinflusst, zu entfalten. Für die Definition von Raum per se ist ein Verständnis der Gesellschaft, der Veränderungen im Weltbild und in den Werten notwendig. Dazu muss die jeweilige Epoche betrachtet werden, oftmals wird von der aktuellen Situation in die Geschichte zurückgeblickt und eine Wertung oder Deutung abgegeben. Das ist falsch. Es muss aus der Geschichte in die Gegenwart geblickt werden, es muss die Position der damaligen Gesellschaft betrachtet werden: die Lebensumstände, die Gefahren und Bedrohungen, die Lebensart, die Gesellschaftsform. Erst dann kann verstanden werden, was diese neue Definition von Raum im Menschen auslöst.

Der Schluss Genau dieses Dilemma findet sich im christlich geprägten dualen Weltbild, als Ende des 17. Jahrhunderts durch Newtons Gravitationsgesetze die Kepler‘schen Gesetze der Planetenbewegung physikalisch erklärbar geworden sind und somit die Trennung zwischen dem Körperraum und dem Seelenraum aufgehoben wurde. Denn Kepler setzt den irdischen Raum, den Körperraum, mit dem himmlischen Raum, dem Seelenraum, gleich, indem er sagt, dass in beiden Räumen dieselben physikalischen Gesetze gelten. Galileo beweist zur gleichen Zeit, dass der Mond ebenso wie die Erde eine Topografie besitzt. Mit diesem Nachweis der Stofflichkeit des außerirdischen Raumes endet die Existenz des himmlischen Raumes in der damaligen Form der Unendlichkeit.21 Der Architekt Frederick Kiesler hat mit seinem Konzept des unendlichen Hauses, das er in den 50er und 60er Jahren des 20. Jahrhunderts entwickelt hat, die Verschiebung der Raumgrenzen in die Unendlichkeit erforscht und modellhaft umgesetzt, indem er die einzelnen Bauteile ineinander übergehen / verfließen lässt. Er ist ein Visionär, der die Regeln des klar umgrenzten Raumes durchbrechen will und somit neue Raumgestalten entwickelt. (Abb. 3) 21 Vgl. Verhovsek, Starzacher, Mind the Gap, 76.

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Es ist trotz aller Vision ein Konzept für einen physisch erlebbaren Raum, es ist kein rein gedachter, virtueller Raum, bei dem die Verortung entfällt, denn der virtuelle Raum kann nicht exakt verortet werAbb. 3: Schematische Darstellung des unendlichen Hauses von den, er spannt sich wie die AtFrederick Kiesler, Plan 1951 mosphäre über den gesamten Erdball. Das lässt den Schluss zu, dass die Endlichkeit des Raumes im 21. Jahrhunderts durch die Nutzung des virtuellen Raumes wieder in die Unendlichkeit zurückkehrt. Ebenso wie das Konzept der Leere, um an den Anfang zurückzukehren, Avatare bewegen sich wie Atome im Raum.

Bildnachweis: Abb. 1– 3: Nachzeichnungen von Marion Starzacher. Abb1: Simoniy, Károly, Kulturgeschichte der Physik: Von den Anfängen bis heute. Frankfurt am Main, 2001, 81. oder https://www.thur.de/philo/project/raum01.htm [Stand: 14.03.2018]. Abb. 2: aus Spiekermann, Klaus; Wegener, Michael, 8 Raum-Zeit-Geographie, Lehrveranstaltung „Modelle in der Raumplanung“, Sommer 2009. Abb. 3: https://www.moma.org/collection/works/108 [Stand: 14.03.2018].

III. Kultraum: Sakralbau und seine Verheutigung

Kirchen und andere Kulträume Bischof Manfred Scheuer

Liturgische Orte eines Bischofs Als Bischof bin ich als Segensspender gefragt, das heißt recht oft zu Segnungen eingeladen. In den letzten Wochen und Monaten waren es Haussegnungen, die Segnungen einer Steuerberatungsfirma, des Landestheaters in Linz, der Tageskliniken in Wels und der Vinzenzgruppe in Linz, von Pfarr- und Gemeindezentren, von Fahrzeugen und Kinderfahrzeugen in Stadl Paura, von Sportstätten, von Schulzentren, von Seilbahnen und Tourismuseinrichtungen, von Schlaustrom, einer Energievermarktungsfirma, von Industrieanlagen, von Standarten für Studentenverbindungen. Ich sollte ein Brotmuseum (Paneum), Medienzentren, Wohnhäuser segnen. „Segnen, d.h. die Hand auf etwas legen und sagen: du gehörst trotz allem Gott. […] Wir haben Gottes Segen empfangen in Glück und im Leiden. Wer aber selbst gesegnet wurde, der kann nicht mehr anders als diesen Segen weitergeben, ja er muss dort, wo er ist, ein Segen sein. Nur aus dem Unmöglichen kann die Welt erneuert werden; dieses Unmögliche ist der Segen Gottes.“1 Alle Dinge, alle Räume sollen zum Segen und zum Ort der Gegenwart und der Zuwendung Gottes werden. Eucharistie, die Quelle, Mitte und der Höhepunkt des kirchlichen Lebens, feiere ich auf Berggipfeln und an Waldheiligtümern, in Fabrikshallen und Schulen, in Bierzelten und auf Sportplätzen, in Gefängnissen, mit Wohnungslosen und Asylwerbern, im Musiktheater, in Kultur- und in Messehallen, im 1

Bonhoeffer, Dietrich, Gesammelte Schriften. Auslegungen – Predigten, Bd. 4 (hg. von Eberhard Bethge, München) 21965, 596.

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Hospiz und in Häusern. Im Advent und in der Weihnachtszeit bin ich gleich viel in Gefängnissen wie im Mariendom.

Kirchenräume und andere Tempel Kirchen und ihre Türme verkörpern eine ethische, soziale, spirituelle und zugleich eine ästhetische Instanz. Gerade in unserer Zeit, in der eine gewisse Orientierungslosigkeit nicht zu verstecken ist, zweifelt kaum jemand an der Existenzberechtigung eines Glockenturmes, wenngleich manche sich gegen die akustische Vorgabe eines Tagesablaufs sträuben. Kirchen vermitteln durch ihre bauliche Präsenz, schweigend, ein stilles Wissen aus Erfahrungen und Zukunftshoffnungen. Sie faszinieren Jung und Alt, die Gebliebenen und die Besucher, die Romantiker und die Modernen, die Gläubigen und die Nichtgläubigen. Kirchen stehen für Schutz, aber auch für den Anspruch auf Macht. Der Turm steht für Schutz und Geborgenheit, schafft Distanz und gewährt zugleich Übersicht. Und Kirchen haben als Typ etwas Universelles.2 Heute hat sich die Lage auf Grund gesellschaftlicher Phänomene - der Säkularisierung und Individualisierung – drastisch geändert. Kirchenraum und Glaube bilden für die meisten Menschen nicht mehr die Mitte des Lebens, für viele andere spielt Religion überhaupt keine Rolle mehr. Der tägliche und wöchentliche Rhythmus wird nicht mehr von der Religion bestimmt. Zwar erfreut sich die kirchliche Feier des Lebenszyklus, insbesondere bei den „rites de passages“ (Übergangsriten Geburt, Hochzeit, Sterben) immer noch einiger Beliebtheit, doch hat auch hier die Kirche ihr Monopol verloren. Die Kirchengebäude haben sich oft von den übergeordneten kulturellen und spirituellen Aspekten, in denen Funktion und Form in einer Dialektik standen, emanzipiert. Die ästhetischen und die damit oftmals verbundenen ökonomischen (touristischen) Aspekte überwiegen. Oder Kirchenbauten stehen funktional für die Versammlung der Gemeinde, ohne dass Form, Materialien und Architektur etwas von Transzendenz vermitteln würden. 2

Vgl. Caminada, Gion A.: Nähe gewinnen zu den Dingen, aus: Werk, Bauen und Wohnen 1/2, 2014, 60   –  65.

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Man merkt in einer Stadt und in einer Region, wem die Dome der Wellness, die Tempel des Sports, des Geldes und der Gourmets, die Kathedralen des Nahverkehrs, die Gotteshäuser des Konsums, die Kultorte der Kunst und der Kultur geweiht sind. In der Architektur einer Stadt wird auch sichtbar, wer die Hohepriester sind, durch welche Wirklichkeits- und Wahrheitsverständnis vermittelt wird, wer bestimmt, was wichtig ist, wer festlegt, wie Beziehungen zu sein haben. Manches im Internet wird wie eine Kathedrale inszeniert. Weihnachtsshopping und Christmette ist in den Medien in einem Aufwaschen zu machen. Hat nicht jedes Unternehmen und jedes Medium seine eigene Community? Wollen sie Identitäten, Zugehörigkeiten schaffen ohne wirkliche Kommunikation und konkrete Verantwortung? „Das Sakrale an sich ist keineswegs aus der Mode gekommen, ganz im Gegenteil. Allerdings haben sich die Intentionen verändert: Kathedralen werden momentan nicht für Gott, sondern für den Konsum gebaut. Der freilich erfährt eine sakrale Prägung, und man greift, sobald sich die Gelegenheit bietet, auf die traditionell-sakrale Formensprache zurück. […] Sakralität ist, christlich gesehen, keine bloße Gefühlssache. Sakralität hat mit Glauben und damit mit Inhalten, also mit Offenbarung zu tun. Architektur und Kunst können aus diesem Grund nicht allein mit der Sakralitätsthematik fertig werden. Es bedarf des Wortes und der persönlichen Entschiedenheit, um den ganz Anderen hör- und dann sichtbar zu machen.“3

Innenraum-Gestaltung Mariendom4 Der Linzer Mariendom wurde 1924 nach mehr als 60 Jahren Bauzeit fertig gestellt und eingeweiht. Die Innenraumgestaltung des Domes wartete aber auf eine Verwirklichung, die seiner mächtigen Architektur gerecht wird. In den Krisenzeiten nach dem Ersten Weltkrieg wurde nicht die ursprünglich geplante Raumgestalt umgesetzt, man behalf sich vielmehr mit 3

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Stubenrauch, Bertram / von Künsberg, Ysabel, Kirchenbau und Glaube, in: Nollert, Angelika, u. a. (Hg.), Kirchenbauten in der Gegenwart. Architektur zwischen Sakralität und sozialer Wirklichkeit, Regensburg 2011, 144  –149, hier: 148 f. Anlässlich der Neugestaltung der liturgischen Mitte im Mariendom fand am 12. Oktober 2017 an der Katholischen Privat-Universität Linz das Symposium „Neuer Raum im Neuen Dom. Die Gestaltung des Altarbereichs zur gemeinsamen Feier im Mariendom“ statt.

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jener provisorischen Aufstellung, die sich während der Bauarbeiten ergeben hatte. Über die Jahrzehnte gewöhnte man sich daran, obwohl dieses Provisorium für ein neugotisches Münster dieser Größenordnung durchaus unpassend war. In den 1980erJahren stand eine Umgestaltung an, um auch im Mariendom die Gottesdienste nach dem vertieften Liturgieverständnis des II. Vatikanischen Konzils feiern zu können. Man konnte sich damals jedoch auf keine Lösung einigen, die die theologischen und architektonischen Vorgaben anspruchsvoll und kreativ miteinander verbindet. So blieb es beim Provisorium – es wurde bloß ein Holzpodium mit mobilem ‚Volksaltar’ aufgestellt. Herzstück der 2017 verwirklichten Neugestaltung war die Schaffung eines für die Vielgestaltigkeit der Liturgie geeigneten Altarraums in der Vierung des Mariendoms, der eine Feierkultur im Sinne des Communio-Gedankens des ll. Vaticanum in besonderer Weise ermöglicht. Die Bischofskirche sollte diesbezüglich Leitkirche sein. Der von der Jury einstimmig beschlossene Entwurf der Architekten Kuehn / Malvezzi und des Künstlers Zobernig (Berlin / Wien) macht die historische Raumgestalt mit ihrer großzügigen und klaren Grundstruktur wieder sichtbar. Die Neugestaltung betont den Dom als Wegkirche: Betritt man den Mariendom im Turmbereich, fällt der Blick nach vorn auf den historischen Hochaltar mit dem lebensgroßen Kruzifix, der Immaculata-Statue am Altarbaldachin und dem Fenster, das die Aufnahme Mariens in den Himmel zum Thema hat. In diese Wegkirche ist ein Versammlungsraum eingebaut – Menschen, die ‚unterwegs’ sind, versammeln sich zur Feier der Eucharistie und zum Hören des Wortes Gottes. Sie halten inne und finden Rast bei dem, zu dem hin sie letztlich unterwegs sind – sie feiern das Gedächtnis Christi. In der exakten Mitte entsteht so eine konzentrische Zone, in der die Spannung von Versammlung und Aufbruch, die jede Liturgie prägt, spürbar wird. Dieses Schnittfeld der Hauptachsen des Doms wird als Gemeinschaftsraum gestaltet. Die Versammlung kommt zum Ausdruck, indem die Mitfeiernden auf allen Seiten – um den Altar versammelt – ihre Plätze finden. Markant stehen die schlichten Skulpturen Altar und Ambo, Kathedra und Priestersitz im Zentrum. Die Gemeindebänke (mit gleicher Anzahl an Sitzplätzen wie bisher) fokussieren aus drei

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Seiten auf die Mitte hin und bilden mit ihr zusammen ein gemeinsames Spannungsfeld aus. Neben und hinter den Leitungssitzen und diesen zugeordnet ist der Raum für Diakone, Konzelebranten und Domkapitel sowie für die liturgischen Dienste (Lektor*innen, Kantor*innen, Ministrant*innen). Daran fügt sich der Bereich für den Domchor an, der somit den Kreis der Gemeinde um den Altar schließt. Das Chorgestühl ist wieder an seinem ursprünglichen Platz. Dadurch ist das durch Erhöhung und Farbverwendung als besonders kostbar herausgehobene historische Presbyterium wieder frei und unverstellt sichtbar.

Räume wirken Räume können beruhigen und verstören, einladen und abweisen, ermutigen und überwältigen. Der Kirchenraum ist selbst Symbol des Glaubens, weil er zu großzügig ist, um nur der Funktion als Versammlungsraum für die Kirchengemeinde zu dienen, mehr als ein wirtschaftlich genutzter Veranstaltungsraum. Seine Großzügigkeit macht ihn zum Symbol für Gottes großherzige Haltung gegenüber seinen Geschöpfen. Je nach Architekturauffassung einer Epoche und dem damit verbundenen Kirchenverständnis kann ein Kirchenraum schützender Zufluchtsort, Modell des Neuen Jerusalem, Theatersaal des Himmlischen, asketischer Rückzugsort, Rastplatz für das wandernde Volk Gottes, Versammlungsraum der Gemeinde etc. sein. Ein sakraler Raum ist jedoch mehr als nur ein Ort zum Wohlfühlen (Verwohnzimmerung!). Nur dann, wenn er Nähe und Distanz vermittelt, wenn er Vertrautheit und Fremdsein in Balance bringt, kann er Gottes Gegenwart, seine Nähe und Unverfügbarkeit anzeigen. „So z. B. spricht ein prozessionsartig ausgerichteter spätgotischer Raum vom Unterwegssein des Menschen und der Kirche in einer klaren Orientierung auf den wiederkehrenden Christus. Ein solcher Raum kann nicht gewaltsam zu einem Erlebnisraum einer Gemeindekirche umgepolt werden.“5

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Glettler, Hermann, Gastfreundschaft im Kirchenraum. Der Kirchenraum in der Spannung von gewachsener Vertrautheit und gastfreundlicher Offenheit, in: ThPQ 165 (2017), 123  –131, hier: 125.

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Ein Kirchenraum, der Angst macht? Eine sublime Topografie des Domes begegnet uns in Franz Kafkas Roman Der Prozess (1915). Im vorletzten Kapitel begibt sich die Hauptfigur Josef K. in den Dom, um einem italienischen Geschäftspartner die kunsthistorischen Schätze zu zeigen. Der Italiener erscheint jedoch nicht. K. verbringt eine Stunde im Dom, es lässt ihn seine Situation im Prozess neu erleben bevor er im darauffolgenden letzten Kapitel exekutiert wird. Kafka verwandelt in diesem Kapitel den Dom in eine fremde, Angst machende Szenerie, in ein fundamental negatives Raum-Erlebnis: „K. betritt den Dom nicht in religiöser Absicht. Aber dieser tut dennoch seine Wirkung auf ihn. Nur erlebt K. diese alles andere als wohltuend. Die Größe, Erhabenheit und Stille erbauen K. nicht, sondern machen ihm Angst. Die im Dom eingelagerten Spuren von Religiosität inspirieren ihn nicht. Die Begegnung mit dem Geistlichen lässt ihn zwar reflexartig die religiösen Gesten mitvollziehen und Kirche als Kommunikation von oben nach unten und dann auch wieder ganz vertraut erleben, aber alles fügt sich für ihn nicht zusammen zu einer ‚heilen Welt‘. K. ist zwar drinnen, doch erlebt er dies wie ein Gefängnis. Aber er ist ja auch ‚Angeklagter‘ – freilich ohne zu wissen wofür.“6 Eine Zusammenfassung dieser sublimen Topografie des Domes im Kapitel Im Dom lässt sich folgendermaßen schildern: Das ganze beginnt damit, dass K. nur äußerst widerwillig überhaupt die Aufforderung zur Domführung übernimmt. Weil er in seiner Firma aber als Kunstkenner gilt, kann er sich nicht entziehen. Auf der Fahrt zum Dom wird ihm die Unerfreulichkeit der Situation schon im Voraus deutlich: „Der Regen war schwächer geworden, aber es war feucht, kühl und dunkel, man würde im Dom wenig sehen, wohl aber würde sich dort, infolge des langen Stehens auf den kalten Fliesen, K.s Verkühlung sehr verschlimmern.“7 Am Domplatz und in der Kirche fällt ihm nur auf, dass sie gänzlich leer sind. „[...] es fiel natürlich niemandem ein, jetzt hierher zu kommen.“8 Dass K. nicht in religiöser Absicht 6 7 8

Beyrich, Tilman, Theosphären. Raum als Thema der Theologie, Leipzig 2011, 241. Kafka, Franz, Der Prozess (Franz Kafka, Gesammelte Werke, hg. v. Max Brod, Taschenbuchausgabe in sieben Bänden, Bd. 2), Frankfurt / M. 1983, 174. Kafka, Der Prozess, 174.

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den Dom betritt, wird auch an der Hast deutlich, mit der er die Kirche betritt und sie sofort wieder verlässt, weil er den Italiener nicht findet. Nach einem Absuchen der Seiteneingänge geht er wieder in den Dom und kauert sich in eine Bank. Als Gegenbild lässt der Erzähler ihn im Vorübergehen „ein altes Weib“ wahrnehmen, „das, eingehüllt in ein warmes Tuch, vor einem Marienbild kniete und es anblickte.“9 K. erlebt keinerlei ‚warme Umhüllung‘, kniet auch nicht, nimmt keine Bilder in religiöser Absicht wahr, sondern friert und merkt, wie es immer dunkler wird in der Kirche. Auch eine zur Beleuchtung der Altarbilder angebrachte Kerze „vermehrte vielmehr die Finsternis.“10 Von sich selbst her und seinen eigenen Kerzen verbreitet der Dom für K. keinerlei einladende Atmosphäre. Nur Kälte, Dunkelheit und Langeweile angesichts der herrschenden Stille, während der Italiener nicht kommt. Erst, als er plötzlich ganz unerwartet auf der Kanzel den Geistlichen erblickt, der sich bizarrerweise anschickt, in der leeren Kirche eine Predigt zu halten, kommt K. ein der Atmosphäre eigentlich entsprechendes religiöses Verhalten in den Sinn: „Dann nickte er ganz leicht mit dem Kopf, worauf K. sich bekreuzigte und verbeugte, was er schon früher hätte tun sollen.“11 Das Gesehenwerden – und dann sogar das AngesprochenWerden – von dem Geistlichen ist ihm aber Anlass genug, möglichst schnell dem Ausgang zuzustreben. Jetzt erlebt er die Atmosphäre des Doms vollauf als unmenschlich: „auch schien ihm die Größe des Doms gerade an der Grenze des für Menschen noch Erträglichen zu liegen.“12 Der Dom wirkt auf ihn in seiner übermenschlichen Ausdehnung wie ein Gefängnis, der Ausweg durch eine der drei kleinen, dunklen Holztüren erscheint ihm als Weg in die Freiheit. Aber er kann nicht mehr dorthin fliehen, weil ihn der Geistliche nötigt, näher zu kommen. Direkt unter die Kanzel soll er sich stellen, damit der Geistliche ihn von oben herab ansprechen kann: „Du bist Josef K. [...] Du bist angeklagt.“13

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Kafka, Der Prozess, 174. Kafka, Der Prozess, 175. Kafka, Der Prozess, 177. Kafka, Der Prozess, 178. Kafka, Der Prozess, 179.

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Wozu braucht die Kirche die Kirchen überhaupt? Zum einen natürlich für ihre eigenen gottesdienstlichen Belange. Zu einem zweiten aber braucht sie „die Kirchen, weil viele Menschen sie brauchen [...] als ein domus hominis spiritualis et aesthetici.“14 Kirche ist Gastgeberin für eine beeindruckende Zahl an Besuchern, die mit den Kirchengebäuden ein Bedürfnis nach Weitung und Überschreitung ihres Daseins verbinden, das sie selber nicht immer religiös interpretieren. Und sie braucht Kirchen, um beides miteinander zu verbinden: die Sehnsucht der Menschen nach Selbsttranszendenz, die in dieser Kultur unterschiedliche Formen annimmt, mit der Gegenwart Gottes im Gottesdienst der christlichen Gemeinde. Kirchen sind nicht nur Hybridräume der Transzendenz. Sie sind auch „Orte einer religiösen Transzendierung von Transzendenz“15, einer Vertiefung und Überschreitung derjenigen kulturellen Formen der Daseinsweitung, die ästhetisch, sozial, politisch verfasst sind, in einem umfassenden Horizont, der Gegenwart Gottes. „In Kirchen als domus ecclesiae [et hominis religiosi, spiritualis et aesthetici, Anm. des Verf.] kann gewissermaßen ein zweites Mal von Gott her überschritten werden, was Menschen am Ort des Museums, des Fußballstadions, der Arbeit, im Kino an Erfahrungen der Daseinsweitung gemacht haben.“16

Kirchenbau und Gemeindebildung bedingen einander „Wesen des christlichen Gottesdienstes ist die Verherrlichung Gottes durch Jesus Christus im Heiligen Geist – ein Nachvollziehen der Bewegung, die Gott selber ist. So, wie Gott zu uns Menschen gesprochen hat und spricht, sprechen wir mit ihm. Die feiernde Gemeinde ist niemals Selbstzweck, der um sich selbst kreist, sondern ist verwiesen auf den ganz Anderen, auf Gott. Daher ist auch nicht einfach Christus die Mitte des Gottesdienstes, erst recht nicht die eucharistischen Gaben, die ihn vergegenwärtigen, sondern die wechselseitige Begegnung von Gott 14 Erne, Thomas, Hybridräume der Transzendenz. Wozu wir heute noch Kirchen brauchen, Leipzig 2017, 136. 15 Erne, Hybridräume der Transzendenz, 137. 16 Erne, Hybridräume der Transzendenz, 137.

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und Menschen durch Christus im Heiligen Geist. Mitte des Gottesdienstes ist also die heilige Handlung, der gnadenhafte Wesensaustausch zwischen Gott und Mensch. Dies geschieht […] in unterschiedlichen Vollzügen. Die Gemeinde bildet den Raum, Gottes heiligen Tempel, in dem der Geist wohnt (1 Kor 3,16), die Versammlung, in der Christus gegenwärtig wird (Mt 18,20), um den priesterlichen Dienst der Vermittlung zu leisten. Gegenwärtig ist Christus auf verschiedene Weise: in der versammelten Gemeinde und ihrem geweihten Vorsteher, in den Gestalten des Wortes und der eucharistischen Gaben (SC 7).“17 Es geht um die Frage, wie eine solche Konzeption im Raum sichtbar gemacht werden kann. „Die Gottesdienstgemeinde, die konkreten Menschen, bilden den ‚Raum‘ So schaffen sie sich selbst nach Möglichkeit das ihnen angemessene ‚Gehäuse‘. Gemeindebildung und Kirchenbau bedingen einander.“18

Kirchen als „Hybridräume der Transzendenz“? Der evangelische Pastoraltheologe Thomas Erne fragt angesichts der Besucheranstürme in den Kirchen: „Was sucht nun dieses Millionenpublikum in den Kirchen und Kapellen? Sie kommen ja nicht als Gemeindeglieder, auch nicht nur als Touristen. Sie kommen als Suchende, Fragende, Neugierige, Wissenshungrige. Sie kommen als Einzelne und sie suchen etwas in den Räumen. Die Kirche selber ist die Botschaft. Es ist nicht, jedenfalls nicht in erster Linie, die Botschaft, die in ihr verkündigt wird, die anzieht.“19 Er folgert daraus zwei Thesen: „Die Kirchen sind heute nicht mehr nur und ausschließlich ein Haus der Gemeinde (domus ecclesiae), sondern auch ein Haus für einzelne Menschen (domus hominis religiosi, spiritualis et aesthetici), die in ihnen unterschiedliche Erfahrungen machen. Die Besucher kommen und erfahren die Kirchen religiös, spirituell, ästhetisch, auch poli-

17 Gerhards, Albert (Hg.), In der Mitte der Versammlung. Liturgische Feierräume (Liturgie & Gemeinde. Impulse & Perspektiven 5), Trier 1999, 23. 18 Gerhards, In der Mitte der Versammlung, 23. 19 Erne, Thomas, Orte der Selbsttranszendenz. Warum wir Kirchen brauchen, in: Deutsches Pfarrerblatt 12/2015 – abrufbar im Internet unter http://www.pfarrerverband.de/pfarrerblatt/index.php?a=show&id=3951 (22.02.2018).

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tisch […] oder […]. Diese unterschiedlichen Bezugnahmen können sich in den meisten Kirchen entfalten, weil diese Kirchen ein weites Dach haben […]. Kirchen sind Hybridräume der Transzendenz.“20 Die zweite These „betrifft die Gemeinsamkeit dieser verschiedenen Arten, den Kirchenraum zu deuten und zu erfahren. Was die vielfältigen Bezugnahmen verbindet, ist die Erfahrung einer Überschreitung und Weitung des eigenen Daseins. Ein roter Faden zieht sich durch diese Erfahrungen. Das gemeinsame Thema ist die Sehnsucht nach Transzendenz, nach etwas, das über den eigenen Horizont hinausgeht. Eine Daseinsweitung, die nicht irgendetwas betrifft, sondern das eigene Selbst und die sich dieses Selbst nicht selber geben kann. Hans Joas nennt diese Erfahrungsdimension, die unsere gesamte Kultur durchzieht, die Dimension der Selbsttranszendenz. Er meint mit diesem Begriff eine Transzendenz des Selbst (gen. obj.), die das Selbst betrifft und überschreitet, keine Transzendenz, die das Selbst leistet oder macht (gen. subj.).“21

Österliche Dimension in der Gestaltung von Kirchenräumen Adalbert Stifter spricht im dritten Band seines Romans Der Nachsommer (1857) über Kunst. Dabei taucht die Frage auf, warum einige Künstler von ihren Zeitgenossen nicht verstanden und erst von der Nachwelt gewürdigt worden sind. „Nach Jahrzehnten denkt man und fühlt man wie jene Künstler, und man begreift nicht, wie sie konnten missverstanden werden. Aber man hat durch diese Künstler erst so denken und fühlen gelernt.“22 Stifter schreibt dabei der Kunst mehr zu, als Philosophie und Theologie damals der Kunst zugetraut haben. Künstler lehren uns denken und fühlen und sind darin den Propheten ganz ähnlich. Früher, so heißt es im Nachsommer von Adalbert Stifter, hat man in einer schönen Kirche oder bei der Musik, das Leben, die Werte und auch den Glauben gelernt. Heute kann man vielleicht nur noch staunen darüber, und es wird applaudiert oder kritisiert.23 20 21 22 23

Erne, Orte der Selbsttranszendenz. Erne, Orte der Selbsttranszendenz. Stifter, Adalbert, Der Nachsommer, München 1977, 542. Stifter, Der Nachsommer, 542.

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„Christliche Gemeinde ist ein österliches Phänomen. Die Düsternis vieler neuer Kirchen und die am Material orientierte Architekturkonzeption verstellen leicht den Blick dafür, dass die Kirche durch die Ausgießung des Geistes gegründet wurde. Das Kreuz als Symbol reicht nicht aus, denn es bewirkte die Zerstreuung der Jünger. Erst der Auferstandene führte die Jünger neu zusammen und durch die Begabung mit dem Geist entstand erst die christliche Kirche.“24 „Deshalb sind die Dimension der Auferstehung und die Ausgießung des Geistes von großer Bedeutung, wenn es um die liturgische Inspiration für Kirchenräume geht, die als Versammlungsorte des wandernden Volkes Gottes verstanden werden. Ohne diesen Bezug zur Auferstehung und ohne, dass der Geist erfahrbar wird, werden gottesdienstliche Versammlungen leicht zu einem Abbild der gesellschaftlichen Verhältnisse, ohne dass der Bezug zur Transzendenz erlebt und gelebt werden kann. Die Darstellung des Transzendenzbezuges ist die kreative Herausforderung, die der moderne Kirchbau an die Liturgie stellt.“25 Und es ist der Geist, der die Steine baut, nicht umgekehrt. „Wo der Geist nicht lebendig ist, nicht wirkt und waltet, werden Dome und Museen zu Gedenkstätten der Vergangenheit, deren Schönheit traurig macht, weil sie tot ist.“26

Spannungsräume Kirchenräume sind Räume für die Gemeinschaft, aber nicht von geschlossenen Gesellschaften. Ein Kirchenraum ist nur dann im Sinne der Eucharistie, wenn er offen ist für den je größeren Gott (Transzendenz), wenn er verweist auf den je kleineren Gott im Armen und Geringen (Mt 25, 31–   46) und wenn er einlädt zur Reise, die nach innen geht. „Die längste Reise ist die Reise nach innen“ (Dag Hammarskjöld). Kirche und damit auch Kirchenräume sind Sakrament, d. h. Zeichen und Werkzeug der Gemeinschaft mit Gott und der Menschen untereinander (LG 1).

24 Erne, Orte der Selbsttranszendenz. 25 Bieger, Eckhard, Kirchbau in der Moderne. Gestalten mit Formen und Licht, in: Ders. /Norbert Blome / Heinz Heckwolf (Hg.), Schnittpunkt zwischen Himmel und Erde. Kirche als Erfahrungsraum des Glaubens, Kevelaer 1998, 149  –156, hier 152 f. 26 Ratzinger, Joseph, Ein neues Lied für den Herrn. Christusglaube und Liturgie in der Gegenwart, Freiburg i. Br. 1995, 117 f.

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„Das sind wie zwei Flöten mit verschiedenem Ton, aber der eine Geist bläst in beide, einer erfüllt sie beide, und sie ergeben keinen Missklang zusammen.“27 Die zwei Flöten, die in einem Kirchenraum zusammen spielen sollten sind die Flöte des Leidens und des Todes, sowie die Flöte der Hoffnung und Sehnsucht nach Auferstehung und Vollendung. Würde nur die Melodie der himmlischen Vollendung gespielt, so würden die realen Leiden ignoriert und unverwandelt bleiben. Wäre nur das Lied vom Tod zu hören, würden sich Nekrophilie und Resignation breitmachen. Zwei Flöten spielen zusammen: die Flöte der Armut, der Klage, des Ausgesetztseins, und die Flöte der Lebensfreude, der Hoffnung, der Zuversicht und des Vertrauens. Seltsamerweise klingt dieses Zusammenspiel nicht falsch und schräg. Unerträglich würde es klingen, wenn die Flöte des Lebens mit dem Lärm der Abstumpfung, der Oberflächlichkeit, des Zynismus und der Resignation zusammenspielen müssten. Verrat und bloßer Schein wäre es, wenn wir aus der Zeit fliehen. „Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art, auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger Christi sind. Und es gibt nichts wahrhaft Menschliches, das nicht in ihren Herzen seinen Widerhall fände“ (GS 1).

Vergangenheit – Gegenwart – Zukunft Eucharistie und Kirchenräume galten als das paradigmatische Medium zwischen Himmel und Erde, zwischen Gott und Mensch, zwischen Freiheit und Bund, zwischen Einzelnem und Gemeinschaft, zwischen Wort und Fleisch, zwischen Leiden und Vollendung, zwischen Tod und Auferstehung. Die biblische, liturgische und theologische Tradition sieht in der Eucharistie die Synthese von Vergangenheit (Gedächtnis), Gegenwart (Realpräsenz) und Zukunft (Hoffnung) realisiert.28 Auch für die Liturgiekonstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils ist irdische Liturgie 27 „Illae sunt duae tibiae quasi diverse sonantes; sed unus Spiritus ambas inflat. Uno Spiritu implentur ambae tibiae, non dissonantur:“ (Augustinus, In Epistolam Joannis tractactus 9,9, in: Opera omnia (ed. Parisina altera, emendata et aucta), Paris 1836, Tomus III/2, 2577). 28 „Sacramentum est et signum rememorativum ejus quod praecessit, scilicet passionis Christi, et demonstrativum ejus quod in nobis efficitur per Christi passionem, scilicet gra-

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als Gedächtnis der Heilstaten Gottes Teilnahme an der himmlischen Liturgie (SC 2.8). Die Eucharistie als erinnerndes, gegenwärtiges und eschatologisches Mahl galt als Wirklichkeit, in der die regionalen Kulturen, die sozialen Klassen und Gruppen, die unterschiedlichen Sprachen zusammenfinden. Jochen Hörisch spricht vom Abendmahl als Leitmedium unserer Kulturtradition, als Synthese von Sein und Sinn29. Die gelungene Synthese von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ist zentral für menschliches Selbstverständnis, für menschliche Freiheit und Intersubjektivität. Wenn der innere Zusammenhang von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft aufgelöst wird und wenn eine Dimension der Zeit (z. B. die Gegenwart) ausfällt, lösen sich menschliche Identität, aber auch Gemeinschaft und christlicher Glaube auf.



tiae, et prognosticum, id est, praenuntiativum futurae gloriae.” (von Aquin, Thomas, STh III,60,3 = DthA 29,10 f.). 29 Hörisch, Jochen, Brot und Wein. Die Poesie des Abendmahls, Frankfurt 1992, 13.

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Der Kult im Raum und Räume für den Kult: Der Neubau von St. Florian in Wien (1961–  63) im Kontext von Reformkonzepten des II. Vaticanum Maximiliane Buchner

Mit dem II. Vatikanischen Konzil, das mit Unterbrechungen von 1962 bis 1965 tagte und als Hauptziel unter dem Schlagwort aggiornamento eine zeitgerechte pastorale und ökumenische Erneuerung verfolgte,1 erfuhr die katholische Kirche unter anderem eine grundlegende Neuformulierung ihres Kultes, der Liturgie. Dieser Umbruch erfolgte nicht abrupt; vielmehr war ihm über mehrere Jahrzehnte hinweg der Weg geebnet worden, der schließlich in „das wichtigste Ereignis der Christenheit im 20. Jahrhundert“ mündete.2 Vor allem die am 4. Dezember 1963 verkündete Liturgiekonstitution Sacrosanctum Concilium ist als umstürzendes Ereignis zu werten, das weitreichende Folgen zeitigte nicht nur für den Gottesdienst und damit die gemeinschaftliche Feier, sondern auch für die Gestaltung des Feierraumes, also die Kirche. Unter dem Einfluss dieser Erneuerungsbestrebungen entstanden Sakralräume, deren radikale Gestalt, rohe Materialität und auf das Minimum reduzierte Ausstattung den Gedanken an einen erneuten Bildersturm ebenso aufkommen lassen wie an den Versuch einer Desakralisierung des sakralen Raumes.3 Den Mittelpunkt dieser neuen Raumkonzepte markiert der Altar, auf den die Gemeinde häufig von mehreren

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Hünermann, Peter, Das II. Vatikanische Kontil. Verbindliche Wegweisung - Gehen wir diesen Weg? In: Weber, Hubert Philipp / Lesacher, Erhard (Hg.), Lesebuch Konzil. Texte des Zweiten Vatikanischen Konzils, Wien 2012, 9. Frisch, Hermann-Josef, Aufbruch oder Betriebsunfall? Das II. Vatikanische Konzil und seine Folgen, Ostfildern 2010, 10. Siehe hierzu auch: Erne, Thomas, Hybridräume der Transzendenz. Wozu wir heute noch Kirchen brauchen, Leipzig 2017, und darin besonders: Liturgie und Sakralität im nachsakralen Kirchenbau der Moderne, 33 –  84.

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Seiten her ausgerichtet ist. Deren Aktion in der gemeinschaftlichen Feier der Eucharistie sollte der Raum eine bergende Hülle bieten und dabei die Teilnahme der Gemeindemitglieder an der Liturgie fördern. Diese umstürzenden Ereignisse lassen sich an dem vielbeachteten Wettbewerb um den Neubau von St. Florian in Wien (1956) diskutieren und an dem Beispiel überdies Versuche analysieren, einen neuen gemeinschaftsstiftenden Raum zu formieren.

Kult im Raum Bestrebungen nach einer Erneuerung der Liturgie waren bereits Ende des 19. Jahrhunderts erkennbar geworden. Sie konzentrierten sich zunächst auf eine Beteiligung der Gemeinde am gottesdienstlichen Geschehen. Ein erster Schritt in diese Richtung wurde bereits 1884 von dem Beuroner Benediktinerpater Anselm Schott vollzogen mit der Veröffentlichung des Messbuchs der heiligen Kirche, das Übersetzungen der Texte des Missale Romanum sowie Erläuterungen zur Liturgie des Kirchenjahres enthielt. Damit wurde es den des Lateinischen nicht mächtigen Gottesdienstbesucher*innen – und damit dem überwiegenden Teil der Gemeindemitglieder – ermöglicht, den Wortlaut der Liturgie bewusst mitzuverfolgen. Das Anliegen einer umfassenden Einbeziehung der Gemeinde in den Gottesdienst fand starken Widerhall in der Liturgischen Bewegung, einem von Studenten- und Jugendgruppen gebildeten Kreis, der sich um eine zeitgemäße, dem Geist der Moderne entsprechende Liturgie bemühte. Anders als es der Name assoziieren mag, stellte diese Bewegung allerdings keine organisierte Maßnahme dar. Vielmehr handelte es sich dabei um eine Initiative, die von unterschiedlichen Gruppen und Akteuren angeregt wurde und an verschiedenen Orten beziehungsweise in institutionellen Kontexten stattfand. Diese Einzelbewegungen geschahen jedoch vor einem gemeinsamen historischen, gesellschaftlichen und kirchlichen Hintergrund und umfassten, wenn auch in unterschiedlicher Intensität, weite Teile Europas.4 Zwar ist die Liturgische Bewegung als ‚Bewegung von unten‘ zu verstehen, was 4

Bärsch, Jürgen, Kleine Geschichte des christlichen Gottesdienstes, Regenburg 2015, 151.

Der Kult im Raum und Räume für den Kult | Maximiliane Buchner

bedeutet, dass sie nicht von höchster kirchlicher Stelle ausging. In Papst Pius X. (1903 –14) hatte sie jedoch insofern einen maßgeblichen Fürsprecher, als dieser das leitende Schlagwort der participatio actuosa, also der tätigen Teilnahme der Gemeinde am Gottesdienst, prägte, und den häufigen Empfang der Kommunion förderte.5 Für die Gläubigen bedeutete dies eine erste Veränderung ihrer Rolle im gottesdienstlichen Geschehen, von Zuschauern zu aktiv am christlichen Mysterium Teilhabenden.6 Die Frage nach der Interaktion zwischen einer erneuerten Liturgie und dem Kultraum ist im 20. Jahrhundert ein Hauptmotor für die Suche nach einer veränderten Gestalt des Sakralraums. An herausgehobenen Orten dieser Bewegung wie der Burg Rothenfels bei Würzburg finden diese Überlegungen bereits lange vor den Beschlüssen des II. Vatikanischen Konzils ihren Niederschlag. Rudolf Schwarz formulierte kurz nach seiner Ernennung zum Burgarchitekten von Rothenfels, seit 1919 Sitz der Jugendbewegung Quickborn, mit der Umgestaltung des Rittersaals einen Raum, dessen Konzept aus einheitlicher weißer Raumschale, einer variablen Anordnung von U-förmigen Hockern und separat schaltbaren Leuchtstoffbändern wegweisend für die Diskussion um den sakralen Raum der Moderne werden sollte. Zehn Jahre nach der Neugestaltung von Rittersaal und Kapelle auf Burg Rothenfels erfuhr auch die romanische Kapelle St. Gertrud in Klosterneuburg durch eine Purifizierung des Chorraums und die Neuordnung des Kirchenschiffs eine entscheidende Veränderung, deren raumästhetische Wirkung zwar weniger spektakulär angelegt war als der Eingriff in Burg Rothenfels, für Österreich aber ein vergleichbares Schlüsselwerk darstellt. 1935 erarbeiteten der Architekt Robert Kramreiter und der AugustinerChorherr Pius Parsch für die ehemalige Hospitalkirche ein Konzept, das „Gottesdienste in Gemeinschaft und aktiver Teilnahme“ ermöglichen sollte.7 Ziel war es, einen „Gemeinschaftsraum“ 5

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Diese Praxis war zu Beginn des 20. Jahrhunderts unüblich. Vielmehr wurde über Jahrhunderte hinweg die Kommunion nur sehr selten, beispielsweise an Ostern, empfangen. Bärsch, Kleine Geschichte des christlichen Gottesdienstes, 159 und Pehnt, Wolfgang, Vom „Geist der Gotik“ zur „Neuen Ordnung“. Kirchenbau zwischen Erstem und Zweitem Weltkrieg, in: INSITU. Zeitschrift für Architekturgeschichte 9 (2017), Heft 2, 259  – 270, hier 261. Frisch, Hermann-Josef, Aufbruch oder Betriebsunfall? Das II. Vatikanische Konzil und seine Folgen, Ostfildern 2010, 40. Parsch, Pius / Kramreiter, Robert, Neue Kirchenkunst im Geist der Liturgie (Neuauflage der Originalausgabe von 1939), Würzburg 2010, 26.

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zu schaffen, „der zur Einheit formt“, wie Parsch und Kramreiter in der 1939 erschienenen Publikation Neue Kirchenkunst im Geist der Liturgie erläutern.8 Kramreiter erwies sich als idealer Partner, war er doch bereits während seiner Assistenz im Büro von Dominikus Böhm 1928  – 31 in Köln mit Raumprojekten im Kontext der Liturgischen Bewegung in Berührung gekommen. Kramreiter öffnete den einfachen, rechteckigen Saalraum von St. Gertrud durch einen niedrigen Rundbogen in einen eingezogenen, verhältnismäßig langen Chor. Der hölzerne neogotische Altaraufsatz wurde durch einen freistehenden Altar in der vorderen Hälfte des Chores ersetzt und damit die Zelebration versus populum ermöglicht, während im Scheitel der Apsis ein Vorstehersitz Aufstellung fand.9 Damit trug der Architekt der Forderung Rechnung, der Raum müsse „genügend nahe dem Altar sein und allen Anwesenden die aktive Teilnahme an dem Gottesdienst ermöglichen“.10 In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts waren vereinzelte liturgische Neuerungsbestrebungen noch auf Vorhaben beschränkt, bei denen Bauherr und Architekt gleichermaßen an innovativen Lösungen interessiert waren und die Arbeit daran als Experiment verstanden. Ende des 2. Weltkrieges brach jedoch eine Entwicklung an, die zu einer beispiellosen Zahl an kirchlichen Neubauten im westlichen Europa führte. Der Schwerpunkt des Baus moderner Kirchen lag in Mitteleuropa und hier besonders in den Ländern Deutschland, Österreich und Schweiz.11 Die führende Position nahm bei dieser Entwicklung Deutschland ein, wo ab 1952 in den katholischen Gebieten der Bundesrepublik an fast jedem Sonntag eine Kirche geweiht wurde.12 Pragmatische Veranlassung für diese in der Geschichte des Christentums einzigartige Hochblüte kirchlichen Bauens waren nach 1945 die immensen Schäden des 2. Weltkriegs. Auch Österreich war ab 1943 Ziel schwerer Bombardements geworden, die in den letzten Kriegsmonaten vor allem im Osten des Landes mit der Zer-

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Parsch / Kramreiter, Neue Kirchenkunst im Geist der Liturgie, 26. Parsch / Kramreiter, Neue Kirchenkunst im Geist der Liturgie, 23. Parsch / Kramreiter, Neue Kirchenkunst im Geist der Liturgie, 26. Stock, Wolfgang Jean, Von Aalto bis Zumthor. Fünfzig Jahre europäischer Kirchenbau, in: Europäischer Kirchenbau 1950  – 2000, München et. al. 2002, 8 –13, 8. 12 Schnell, Hugo, Kirchenbau des 20. Jahrhunderts in Deutschland, Regensburg 1973, 93.

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störung von Industrie- und Wirtschaftsanlagen, Brücken und vor allem Wohnraum einen traurigen Höhepunkt fanden.13 Die Auswirkungen des Krieges brachten außerdem Herausforderungen von weitreichender Konsequenz für das Bauen mit sich: So entstanden zum Beispiel durch die Ansiedlung von Flüchtlingen in Gebieten, welche bis dahin vorwiegend oder ausschließlich von anderen Konfessionen bewohnt waren, große Diasporagebiete, deren Gemeinden noch Ende der 1960er Jahre kein eigenes kirchliches Gebäude besaßen.14 Ein weiterer maßgeblicher Grund für die vehemente Kirchenbautätigkeit der beiden Nachkriegsjahrzehnte ist außerdem in dem rasanten Wachstum der Städte zu sehen, was erklärt, weshalb auch in von Kriegszerstörungen verschonten Ländern, darunter die Schweiz oder die USA, annähernd ebenso viele neue Kirchen gebaut wurden wie hierzulande.15 Die hohe Nachfrage nach Neubauten schuf gleichzeitig ein breites Experimentierfeld für die konkrete bauliche Umsetzung all jener Ideale, die im Gefolge der liturgischen Erneuerungsbestrebungen bereits formuliert worden waren.

Raum für den Kult Die Suche nach einem den liturgischen wie auch den gestalterischen Ansprüchen der Zeit genügenden ‚Kultraum Kirche‘, die die Verwendung moderner Baustoffe wie Beton, Stahl und Glas sowie einen purifizierten Innenraum bevorzugten, gestaltete sich schwierig. Wettbewerbe im Kontext von kirchlichen Neubauprojekten geben hinsichtlich dieser Problematik nicht nur ein gesellschaftliches Stimmungsbild der Zeit wieder, sondern verdeutlichen eindrücklich das Ringen um eine der neuen Liturgie entsprechende Raumgestalt. Ein Beispiel hierfür ist der Neubau der Kirche St. Florian im Wiener Stadtteil Matzleinsdorf, der Ersatz bieten sollte für einen zu klein gewordenen und überdies durch seine Situierung inmitten der stark befahrenen Wiedener Hauptstraße den Verkehrsfluss störenden barocken Bau. (Abb. 1) An dem 1956 aus13 Binder, Dieter A. / Bruckmüller, Ernst, Essay über Österreich. Grundfragen von Identität und Geschichte 1918  – 2000, Wien, München 2005, 75. 14 Poscharsky, Peter, Ende des Kirchenbaues?, Stuttgart et.al. 1969, 7. 15 Poscharsky, Ende des Kirchenbaues?, 7.

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Abb. 1: Alte Matzleinsdorfer Pfarrkirche neben Neubau von Rudolf Schwarz. Zeitgenössische Fotografie um 1962.

geschrieben internationalen Wettbewerb nahmen neben im Kirchenbau der Moderne führenden Architekten wie Rudolf Schwarz und Hans Schädel aus Deutschland sowie Hermann Baur aus der Schweiz auch etablierte Architekten aus Österreich, darunter die arbeitsgruppe 4, teil, eine Formierung junger Architekturstudenten, deren Mitglieder Otto Leitner, Johannes Spalt, Wilhelm Holzbauer und Friedrich Kurrent wenige Jahre später mit dem Umbauprojekt eines Salzburger Gutshofes zu einer Kirche auf sich aufmerksam machen sollten.16 Neben der Internationalität der bewerbenden Architekten ist vor allem die Diversität der eingereichten Entwürfe von Interesse, die eine beachtliche Bandbreite von Ansätzen und Ideen bei der Verwirklichung der Bauaufgabe, einen Kultraum für die neue Liturgie zu finden, verdeutlicht. Darüber hinaus macht die mit der Realisierung des Projekts verbundene, innerhalb der Bevölkerung ebenso wie mit der staatlichen Denkmalpflege, der Museumsszene sowie dem Wiener Lehrstuhl für Kunstgeschichte geführte Aus16 Hierzu auch: Buchner, Maximiliane, Wiederaufbau aus dem Glauben. Transformation von Gemeinschaftsidealen in Sakralräume Österreichs, in: architectura. Zeitschrift für Geschichte der Baukunst 45 (2016) Heft 1, 105  –128 sowie Buchner, Maximiliane, Österreichischer Kirchenbau der Nachkriegsmoderne: Auf der Suche nach einer neuen Gemeinschaft, in: Das Münster. Zeitschrift für christliche Kunst und Kunstwissenschaft 70 (2017) Heft 1, 48  –  57.

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einandersetzung um den Abriss des barocken Vorgängerbaus die Akzeptanzschwierigkeiten deutlich, mit denen moderne Kirchenräume bereits während ihrer Entstehungszeit zu kämpfen hatten.17 Die Ausschreibungsbestimmungen für die Projektierung eines Kirchenneubaus konzentrierten sich auf einen Hauptpunkt: Man wollte mit einem Neubau Ersatz für die barocke Heimatkirche der Wiener Rauchfangkehrer schaffen.18 Deren Lage inmitten einer der Hauptausfallstraßen nach Süden störte den zunehmenden Verkehrsstrom der Großstadt; zudem entsprach das Fassungsvermögen des historischen Baus nicht mehr den nach Kriegsende sprunghaft gestiegenen Bevölkerungszahlen des Stadtteils.19 Die Gemeinde stellte ein bislang brach liegendes Eckgrundstück zwischen fünfgeschossigen Mietshäusern zur Verfügung, das dem historischen Bauplatz gegenüber lag. Die am Wettbewerb teilnehmenden Architekten waren vor die Herausforderung gestellt, den Kirchenraum vom Straßenlärm der stark befahrenen Wiedener Hauptstraße abzuschirmen und gleichzeitig in exponierter Ecklage einen neuen stadträumlichen Fixpunkt zu schaffen. Die Fülle an Vorschlägen zur Lösung des Problems belegt den Variantenreichtum des Kirchenbaus der Nachkriegsmoderne. Rudolf Schwarz, der mit seinen Bauten ebenso wie mit seinen Schriften bedeutende Leistungen des sakralen Bauens der Moderne schuf, schlug einen hohen Raum über rechteckigem Grundriss mit zwei flankierenden, niedrigen Seitenschiffen vor. Das tradierte Konzept des longitudinalen, auf einen stirnseitig platzierten Altar ausgerichteten Raumes lockerte Schwarz in seinem ersten, nicht realisierten Entwurf durch den Einbau von vier Innenhöfen in den Seitenschiffen auf, deren Hochschiffwände aus verglastem Betonmaßwerk geformt werden sollten.20 17 In den Wiener Tageszeitungen wie auch dem Pfarrblatt der Pfarre St. Florian war über den Wettbewerb und dessen Ergebnisse umfänglich berichtet worden, siehe dazu: Pfarrblatt. Mitteilungen der Pfarre St. Florian , Wien V, Juni 1957 sowie die Korrespondenz hinsichtlich des Abrisses der Alten Matzleinsdorfer Kirche, Diözesanarchiv Wien. 18 Anderer, Markus / Süss, Claus / Schediwy, Robert, Wiener Wahrzeichen: Verschwunden, entstellt, bedroht, Wien 2010, 80. 19 Brief von Architekt Hans Petermair an die Redaktion der Zeitschrift Die Furche vom 26.03.1963, Diözesanarchiv Wien. 20 Pehnt, Wolfgang, Rudolf Schwarz 1897–1961. Architekt einer anderen Moderne, Ostfildern 1997, 290.

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Abb. 2a und b: Wettbewerbsentwurf für den Neubau von St. Florian, Ansicht zur Wiedener Hauptstraße. Hans Schädel 1956.

Abb. 3a und b: Wettbewerbsentwurf für den Neubau von St. Florian, Ansicht zur Wiedener Hauptstraße. arbeitsgruppe 4 1956.

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Schwarz’ Entwurf erhielt den zweiten Preis und wurde in modifizierter Form realisiert. Einen ersten Preis vergab die Jury nicht, dafür einen zweiten und zwei dritte Preise, die an Hans Schädel sowie den Entwurf der arbeitsgruppe 4 ergingen.21 Beide unterscheiden sich in mehreren Aspekten grundlegend vom Siegerprojekt: So schlug Hans Schädel, dessen Kirche Maria Regina Martyrium in Berlin-Charlottenburg (1959  – 63) internationale Aufmerksamkeit erfuhr, als Grundrissform ein Kreissegment mit monumentalem Glockenträger über dem Altarbereich vor, der zur Wiedener Hauptstraße hin ausgerichtet ist. (Abb. 2) Die Arbeitsgruppe 4 wählte hingegen einen kreuzförmigen Grundriss mit dem Altar im Zentrum und allseitig verglasten Fronten. (Abb. 3) Dieser Entwurf lässt sich in eine Reihe von Projekten im österreichischen Kirchenbau nach 1945 einordnen, bei denen der Altar die geometrische Mitte des Feierraumes markiert und gleichzeitig zu dieser Fokussierung auf das theologische Zentrum aber auch das Umfeld mittels großflächiger Verglasungen dem Raum inkorporiert wird. Einer der wichtigsten Impulsgeber hinsichtlich der Frage nach einer Gestaltung von Kirchen im zeitlichen Umfeld des II. Vaticanum ist in diesen Jahren die Evangelische Akademie im württembergischen Bad Boll, wo im Februar 1965 drei Architekten und vier Theologen über das Verhältnis von Gottesdienst und Gottesdienstraum diskutierten. So formulierte in dem Eröffnungsvortrag Gottesdienst im Neuen Testament der Züricher Theologe Eduard Schweizer drei Forderungen für die Gestaltung gottesdienstlicher Räume, darunter jene nach einer „Offenheit zur Welt hin“, die er als Aufgabe der Architektur versteht.22 Die gewünschte Einbindung der (Außen)welt in das Haus kann über das offene Fenster in die Natur erfolgen, wie sie beispielsweise der Tiroler Architekt Josef Lackner in der vorkonziliaren Kirche St. Pius X. (1959 –  60) im Innsbrucker Stadtteil Neu-Arzl umsetzte. (Abb. 4) Für den jungen Architekten war es das erste größere realisierte Bauprojekt seiner Kar21 Ideenwettbewerb „Zur Erlangung von Entwürfen zur Neugestaltung des Straßenraumes im 5. Bezirk, in der Wiedener Hauptstrasse, zwischen Kliebergasse und Laurenzgasse“, Diözesanarchiv der Erzdiözese Wien. 22 Eduard Schweizer, Gottesdienst im Neuen Testament. Vortrag auf der Tagung Gottesdienst und Gottesdienstraum an der Evangelischen Akademie in Bad Boll, 8. bis 10. Februar 1965, Typoskript des Vortrags, Evangelische Akademie Bad Boll, 12 und 13.

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Abb. 4: Piuskirche Innsbruck, Innenansicht. Josef Lackner 1959 – 60.

riere, mit dem in der österreichischen Architekturgeschichte der Moderne zugleich eine Phase des Experimentierens mit Sakralräumen über quadratischem Grundriss ihren Ausgang nahm.23 Lackner schrieb den Feierraum in ein größeres Quadrat ein und erhöhte ihn um ein halbes Geschoss. Eine flache, schwere Kassettendecke aus schalungsreinem Beton schließt ihn wie eine Haube nach oben hin ab. Obwohl der Grundriss quadratisch ist, sind die beiden Bankreihen noch auf den an der östlichen Raumseite orientierten Altar hin ausgerichtet. Die Lichtführung im sowie Ausblicke aus dem Raum erfolgen, neben einem Fenster in der Altarzone, durch die vier abgeschrägten und verglasten Ecken.24 Die erwähnten Beispiele aus Österreich vermitteln einen Eindruck von dem Spannungsfeld, innerhalb dessen sich Architekten wie Entscheidungsträger kirchlichen Bauens im Umfeld der Erneuerungen des II. Vaticanum befanden: Bereits mehrere Jahre vor den Beschlüssen des Konzils schlugen Überlegungen zur Gestaltung eines den Vorstellungen der Zeit entspre23 Friedrich Achleitner, der Doyen der Architekturgeschichte Österreichs im 20. Jahrhundert, bezeichnet diese Phase ironisch als den Beginn „Quadratromans“ im österreichischen Kirchenbau. Tatsächlich entstehen ab 1960 zahlreiche Entwürfe, die - in unterschiedlicher gestalterischer Qualität – den zentralen Feierraum thematisieren. Achleitner, Friedrich, Künstlerische Vielfalt und typologische Strenge. Kirchenbau in Österreich zwischen 1950 und 2000, in: Stock, Wolfgang Jean (Hg.): Europäischer Kirchenbau 1950  – 2000, München 2002, 84  – 92, 86. 24 Die Zahl Vier wird in der christlichen Zahlenmystik als ‚Zahl des Kosmos‘ oder ‚Zahl der geschaffenen Welt‘ gedeutet und sowohl mit archaischen Aspekten der Schöpfung wie den vier Himmelsrichtungen, den vier Jahreszeiten oder den vier Urflüssen assoziiert, als auch mit den vier Evangelisten verbunden, die als Verkünder der Heilsgeschichte gewissermaßen die Eckpfeiler der christlichen Gemeinschaft darstellen. Eine weitere Interpretation des Grundrisses mit den vier eingeschnittenen Ecken, durch die das Licht ins Innere strömt und die zugleich einen Blick in die Welt gewähren, ist die des Kreuzes mit seinen vier Armen als Zeichen für die Erlösung der Welt durch Christi Tod. Siehe hierzu NarediRainer, Paul, Architektur und Harmonie. Zahl, Maß und Proportion in der abendländischen Baukunst, Köln 51995, 42 und 65 –  69.

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Abb. 5: Konzilsgedächtniskirche Wien-Lainz, Innenansicht. Josef Lackner 1967–  68.

chenden Feierraumes zwar bereits Wege in Richtung zentral organisierter Raum über quadratischem Grundriss ein, die jedoch erst mit der Konzilsgedächtniskirche in Wien, ebenfalls von Josef Lackner (1967–  68), Verwirklichung finden. (Abb. 5)

St. Florian in Wien Der Neubau der Kirche St. Florian ist der Versuch, einen neuen Kultraum für eine sich neu formierende Gemeinschaft zu schaffen. Der nach mehreren Überarbeitungen schließlich ausgeführte Entwurf Rudolf Schwarz’ für St. Florian in Wien (Abb. 6) erinnert mit seinem geschlossenen, rechteckigen Kubus an die Fronleichnamskirche in Aachen (1928 –30), den am häufigsten rezipierten Sakralbau im Oeuvre des Architekten. Das Rauminnere verweist auf tradierte basilikale Konzepte mit einem überhöhten Mittelschiff, das axial auf den Altar ausgerichtet ist, neben niedrigeren und dunkleren Seitenschiffen. Auch wenn die

Abb. 6: St. Florian, Wien, Außenansicht. Rudolf Schwarz, zeitgenössische Fotografie um 1963.

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Jury den Kontrast zwischen hohem Mittel- und niedrigen Seitenschiffen besonders gelobt hatte,25 fand das realisierte Projekt zum Neubau der Florianikirche in der Bevölkerung kaum Zustimmung. Die sowohl in ihrem Äußeren, wie auch im Inneren reduzierte Form des Sakralbaus wurde als wenig sakral empfunden. „Eine Kirche ist ein Haus Gottes und als solches nicht für Experimente geeignet“, findet beispielsweise ein Diplomkaufmann in einem Schreiben an den Pfarrer von St. Florian am 29. Mai 1957. „Ihre äußere Aufgabe ist es Würde und Weihe auszustrahlen, dies wird aber mit der so genannten ‚Modernen‘ nicht erreicht. […] Eine moderne Halle kann wohl für einen Sitzungssaal oder einen Bahnhof sehr gut sein, aber nie für eine Kirche.“26 Ein anderer Kommentator befürchtet, mancher Bewohner des Viertels möge „bei dem Gedanken etwas bedrückt sein, sein ganzes Leben lang seine privaten als auch gemeinschaftsgottesdienstlichen Andachten“ in diesem wie auch einem der anderen ausgestellten Entwürfe verbringen zu müssen.27 Auch wenn seit der Errichtung der Florianikirche in Wien mehr als fünf Jahrzehnte vergangen sind, hat sich die gesellschaftliche Akzeptanz gegenüber Sakralbauten der Nachkriegsmoderne im Umfeld des II. Vaticanum kaum verbessert. So kommentierte der Journalist Christian Rost kürzlich den Abriss eines Kirchenbaus im Bistum Augsburg aus dem Jahr 1966 mit den Worten „Und keiner weint ihr nach“ und schlägt angesichts seiner Gestalt das Patrozinium „Zur architektonischen Scheußlichkeit“ vor.28 Diese Thematik wird besonders hinsichtlich des zunehmenden Leerstands an Kirchenbauten virulent: Bei der Frage, auf welche Sakralräume künftig verzichtet werden könne, sind überproportional viele Bauten aus dieser Zeit betroffen.29 Dies ist nur zu einem Teil mit ihrer hohen Anzahl zu erklären; vielmehr lässt sich ein Hauptgrund für die große Bereitschaft zur Abgabe moderner Kirchen vor historischen Bauten in deren Unbeliebtheit erkennen. Die 25 Ideenwettbewerb „Zur Erlangung von Entwürfen zur Neugestaltung des Straßenraumes im 5. Bezirk, in der Wiedener Hauptstrasse, zwischen Kliebergasse und Laurenzgasse“, Diözesanarchiv der Erzdiözese Wien. 26 Schreiben von Hr. Diplomkaufmann Dr. jur. Max L. Hack an Pfarrer Blieweis vom 29. Mai 1957, Pfarrarchiv St. Florian. 27 Zuschrift Franz Hierath an die Pfarre St. Florian, Pfarrarchiv St. Florian. 28 Rost, Christian, Wenn Kirchen leer bleiben, Süddeutsche Zeitung vom 23. Juli 2018. 29 Siehe dazu auch den Beitrag von Karin Berkemann: Weg ist weg. Was bleibt, wenn Kirche geht, in diesem Band.

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Idealvorstellung vom rein auf den Kult konzentrierten Raum, die in Projekten wie St. Florian, der Piuskirche und der Konzilsgedächtniskirche umgesetzt wurde, ermöglichte zwar eine Liturgie im nachvatikanischen Sinn, vermochte es dabei jedoch nur selten, das Bild vom ‚sakralen Raum‘ in Formen und Gestaltungsmittel der Moderne zu transformieren.

Bildnachweis: Abb. 1 und 6: Diözesanarchiv Wien. Abb. 2 und 3: Das Münster. Zeitschrift für christliche Kunst und Kunstwissenschaft 10 (1957) Heft 7/8. Abb. 4 und 5: Maximiliane Buchner.

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Citykirchenprojekte. Räume urbaner kirchlicher Präsenz zwischen Anpassung und Abgrenzung säkularer Umwelten Veronika Eufinger

Im deutschsprachigen Feld empfinden kirchliche Akteure ihre Präsenz in der Stadt häufig als prekär. Der urbane Raum des ausgehenden 20. und frühen 21. Jahrhunderts ist Neuland, Fremde und Herausforderung. Um diesem auf organisatorischer Ebene gerecht zu werden, etablieren die christlichen Kirchen in den Stadtzentren so genannte Citykirchenprojekte, die den strukturellen und ideellen Eigenschaften des Städtischen sowie dem urbanen Lebensstil durch spezifische Angebote, Kommunikationsstile und Raumgestaltungen Rechnung tragen sollen. Im aktuellen Diskurs der christlichen Kirchen in Deutschland zeichnet sich eine Spannbreite von Semantisierungen des Urbanen mit einigen stabilen Grundmotiven ab: Die Stadt wird von den Einen als lebendiger (religiöser) Markt1 und von den Anderen als Ort der anonymen Einsamkeit und Bindungslosigkeit2 wahrgenommen. Die Haltung ist zwiespältig mit einem Hang zum Pessimismus: Stadt gilt insgesamt als Inbegriff der Moderne. Somit ist Kirche in der Stadt unmittelbar der Säkularität als Erscheinung der (europäischen) Neuzeit ausgesetzt und muss sich gegenüber Entkirchlichung, religiöser Individualisierung und der Verdrängung religiöser Deutungsmuster bewähren.3

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EKD Kirchenamt Stabsstelle Kommunikation, Kirche in der Stadt. EKD-Online (31.01.2017), https://www.ekd.de/gemeinden/kirche_in_der_stadt.html [Stand: 24.02.2017]. Redaktion des Internetportals katholisch.de, Citypastoral (2015), http://www.katholisch. de/beratung/seelsorge-von-a-z/citypastoral [Stand: 24.02.2017]. Für die ausführliche Analyse kirchlicher Diskurse zur Stadt vgl. Eufinger,Veronika, Marketplace, Fallow Ground, and Special Pastoral Care: What Christian Churches in Germany know about the City. An Interdenominational Comparison, in: Berking, Helmut et al. (Hg.), Religious Pluralism and the City. Inquiries into Postsecular Urbanism, London 2018, 137–156, hier: 139 ff.

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Im symbolisch aufgeladenen Stadtzentrum, dem funktionalen und kommerziellen Knotenpunkt mit hohen Grundstücksmieten und starker Anziehungskraft auf Besucher und Investoren will die Kirche unter den Bedingungen kondensierter Säkularität im Wettbewerb um Aufmerksamkeit und Identitätsformation mithalten. Zur Bestimmung ihrer Position und Strategie greift Kirche auf zwei grundlegende Maximen zurück, welche die Urbanität in jeweils spezifischer Weise aus kirchlicher Perspektive semantisieren: die Anpassung und Abgrenzung zur säkularen Umwelt. Dienstleistungsorientierung, Niedrigschwelligkeit, die Adaption von Werbestrategien und Bildsprachen oder die Ausrichtung an aktuellen Seh- und Konsumgewohnheiten kommerzieller Anbieter erscheint aus einem emischen Blickwinkel als mögliche Strategie, um religiöse Institutionen zukunftsfähig zu machen. Das Gegenstück bildet die inhaltliche und methodische Distanz zu den als urban geltenden Motiven: In der oberflächlichen, kurzlebigen und anonymen Umgebungskultur sollen Tiefe, Ruhe und Gemeinschaft gestiftet werden. Konkurrenz und Marktlogik werden nicht als Spiel begriffen, an dem Kirche partizipiert, sondern als Funktionsprinzip, das grundsätzlich abzulehnen ist. Unausgesprochen steht Émile Durkheims Theorie der Stadt als Idealtypus des Zusammenlebens in der funktional differenzierten Gesellschaft im Hintergrund vieler kirchlicher Beiträge: Die Aufhebung organischer Solidarität schwächt die soziale Kohäsion; Anomie ist die Folge.4 Seit den 1980er Jahren werden in deutschen Innenstädten in katholischer, evangelischer oder ökumenischer Trägerschaft Citykirchenprojekte gegründet und es bestehen heute weit über 100 dieser Einrichtungen. Die Organisationsform, die beteiligten Akteure sowie die räumliche Gestaltung sind sehr heterogen. Von offenen Stadtkirchen über mobile Installationen und Ladenlokale bis zu eigens errichteten Architekturen reichen die baulichen Lösungen. Die Angebote an diesen Orten umfassen oft Cafébetriebe, Eine-Welt-Läden, Räume der Stille, Kunstausstellung und Konzerte, aber auch Armenspeisung und psycho-

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Vgl. Durkheim, Émile / Herkommer, Sebastian, Der Selbstmord, Frankfurt am Main 41993.

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soziale Beratungen sowie Meditationsworkshops, Bibellesekreis, feministische Gottesdienste und vieles mehr.

Religiöse Kommunikation, kirchliche Räume und die Sinnstruktur urbaner Strategien. Überlegungen zur Theorie und Methode Außenperspektivisch betrachtet, stellen Citykirchenprojekte eine Strategie der Kirchen für den urbanen Raum dar. Sie sind die materialisierte und kommunizierte Form eines zielgerichteten und geplanten Handelns, in dem das Wissen, die Haltung und Sinndeutung der religiösen Institutionen gegenüber der Stadt Gestalt annehmen. Unter der Voraussetzung, dass jedes Kirchengebäude eine Aussage zum Verhältnis zwischen Gott und den Menschen im Spiegel jeweils aktueller ästhetischer Trends und Vorlieben darstellt, ist jedes kirchliche Bauwerk in der Stadt auch ein lesbarer Text über die Relation von Kirche und Urbanität. Diese Strategien stellen eine Form religiöser Arbeit dar, die Pierre Bourdieu als Befriedigung religiöser Bedürfnisse durch passende Diskurse und Praktiken konzeptualisiert. Die Herstellung dieser Passung zwischen Angebot und Nachfrage basiert auf einer Homologie zwischen der Positionierung der Produzenten im Produktionsfeld und den Konsumenten im sozialen Raum.5 Die Besonderheit der religiösen Nachfrage in der Stadt begründet sich im Habitus der städtischen Milieus, den Erwartungshaltungen der Passanten sowie dem säkularen und pluralen Umfeld. Die Idee der beschriebenen Homologie als Grundlage des Soziodizee, also der religiösen Rechtfertigung für eine gesellschaftliche Position,6 die etwa die religiöse Semantisierung des urbanen Lebens als Narrativ für ein urbanes Christentum beinhalten kann, impliziert, dass die Strategien nicht nur als bewusste Planung zu verstehen sind. In den citykirchlichen Räumen finden nicht nur die subjektiven Intentionen der beteiligten Akteure, sondern darüber hinaus die objektiven Sinnstrukturen 5 6

Vgl. Bourdieu, Pierre / Schultheis, Franz / Pfeuffer, Andreas, Religion, Berlin 2011, 62. Vgl. Bourdieu, Religion, 57.

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des dort realisierten Verhältnisses von Kirche und Stadt einen Ausdruck. Die Religionsdefinition, die den oben genannten Bedürfnissen, Diskursen und Praktiken zugrunde liegt und sie von anderen sozialen Phänomenen unterscheidbar macht, basiert auf Niklas Luhmanns binärer Codierung des Funktionssystems Religion in Immanenz und Transzendenz: Das Immanente wird aus der Perspektive der Transzendenz betrachtet während zugleich das Transzendente mit immanenten Mitteln verfügbar gemacht wird. Während die Transzendenz die kontingente, ferne Seite des Codes darstellt, ist die Immanenz das Anschlussfähige, Nahe, an dem Kommunikation, Gedanken und Praktiken anschließen können.7 Zu religiösen Räumen ergänzt Luhmann, dass diese als eine Art der Fremdreferenz zur Definition von Eigenzuständen nötig sind: Die Zustände werden etwa in Form von räumlichen Gestaltungen externalisiert, um sie als religiös erkennen zu können.8 Gebäude stellen somit die geronnene Form einer (religiösen) Kommunikation dar, die durch ihre Nutzung jederzeit aktualisiert werden kann, und sind als solche lesbar. Die Unterscheidung religiöser von nicht-religiösen Räumen bestände darin, welcher Codierung die manifestierte Kommunikation folgt. Um die Frage, welche räumlichen Strategien Kirche in Stadtzentren entwickelt und wie sie sich dabei an säkulare Umwelten anpasst oder von diesen abgrenzt, auf theoretischer Ebene zu bestimmen, ist ein Begriff des Raumes zu ergänzen. Eine adäquate Fortführung der bisherigen Überlegungen bildet ein relationaler Raumbegriff, der Raum als Ergebnis des Verhältnisses beziehungsweise der Anordnung von Personen und Objekten auffasst. Zugleich muss die Wirkungsweise des Raumes beziehungsweise sein Sinngehalt objektiv bestimmbar sein, um aus den dort kondensierten Strategien eine allgemeine Verhältnisbestimmung von Kirche und Stadt lesen zu können. Gemäß Martina Löws Raumsoziologie9 konstituieren sich Räume in den parallel ablaufenden Prozessen der Synthese und des Spacings, die

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Vgl. Luhmann, Niklas, Die Religion der Gesellschaft, Frankfurt am Main 42002, 77. Vgl. Luhmann, Die Religion der Gesellschaft, 113. Vgl. Löw, Martina, Raumsoziologie, Frankfurt am Main 72012, 204 ff.

Citykirchenprojekte | Veronika Eufinger

als überindividuell relativ konstant betrachtet werden können. Das Subjekt nimmt das relationale Gefüge des Raumes wahr und entscheidet (unbewusst), welche Schablone es anwendet, um die passenden Stimmungen und Handlungen zu identifizieren, also auf welche Vorstellungen und Wissensbestände zurückgegriffen wird (Synthese). Diese Schablone nimmt Einfluss darauf, wie sich das Subjekt im Raum anordnet (Spacing) und somit selbst zum konstituierenden Teil des relationalen Arrangements wird. Die Objektive Hermeneutik nach Ulrich Oevermann dient der Rekonstruktion nicht greifbarer Sinnstrukturen, die jenseits individueller subjektiver Intentionen in sozialer Praxis manifest sind. Der Zugang erfolgt über die „Ausdrucksgestalten“, welche die Realisierungen der zugrundeliegenden, sinnerzeugenden Regeln sind. Diese lesbaren Gestalten umfassen sowohl schriftliche Texte, als auch Alltagsgegenstände oder künstlerische und bewusst inszenierte Produkte wie Gemälde oder Gebäude.10 Methodologisch betrachtet passt das Erkenntnisziel der Objektiven Hermeneutik zur formulierten Fragestellung: Die Strategien urbaner Religion sollen nicht als individuelle Projekte einzelner kirchlicher Akteure in ihrer Vielfalt beschrieben, sondern als Manifestationen des grundlegenden Verhältnisses von Kirche und Stadt den Zugriff auf die kirchliche Semantisierung der Urbanität ermöglichen. Die zugehörige Methode der Sequenzanalyse arbeitet mit den Ausdrucksgestalten als Protokollen der Öffnung und Schließung von Handlungsmöglichkeiten, die sich als Zusammenspiel von Dispositionen und Erzeugungsregeln konstituieren.11 Die Protokollierung der citykirchlichen Räume stellt eine „natürliche“ und nicht reaktive Datenform dar, die gut für eine sequenzanalytische Auswertung und die Rekonstruktion der urbanen Strategien der Kirche geeignet ist. Die latente Sinnstruktur der Bearbeitung des institutionellen Verhältnisses zwischen Kirche und Stadt manifestiert sich im Raum und kann 10 Vgl. Oevermann, Ulrich, Klinische Soziologie auf der Basis der Methodologie der objektiven Hermeneutik. Manifest der objektiv hermeneutischen Sozialforschung. Institut für Hermeneutische Sozial- und Kulturforschung e.V. (2002), http://www.ihsk.de/publikationen/Ulrich_Oevermann-Manifest_der_objektiv_hermeneutischen_Sozialforschung.pdf [Stand: 29.04.2017], 1 ff. 11 Vgl. Oevermann, Klinische Soziologie auf der Basis der Methodologie der objektiven Hermeneutik, 6 f.

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als dessen Ausdruck, der sich nicht mit dem subjektiven Handlungssinn des Gestalters decken muss, rekonstruiert werden. An Hand der Sinnstrukturen lassen sich folgende Fragen beantworten: Was sind die grundlegenden Charakteristika urbaner kirchlicher Räume? Was ist die (säkulare) Stadt im kirchlichen Wissenssystem und wie bearbeiten die Räume das Bezugsproblem zwischen Kirche und Urbanität? Welche religiöse Sozialform wird zum Ausdruck gebracht? Und nicht zuletzt: Handelt es sich im Fall der Citykirchen überhaupt um religiöse Räume?

Transparenz, Modernität und Dienstleistungscharakter. Ergebnisse anhand von drei Fallbeispielen Bereits aus der Entfernung wird ein Charakteristikum citykirchlicher Räume deutlich: Sie stellen in vielen Fällen kein autonomes Element im säkularen Umfeld dar, sondern stehen in enger Anbindung zu einem klassischen Sakralbau und bilden mit diesem eine Einheit. Dabei kann es sich um direkte Anbauten handeln, sodass sich das Citykirchenprojekt eine Wand mit der Kirche teilt (Beispiele wären das Punctum an der Liebfrauenkirche in Frankfurt, das Haus der katholischen Kirche an St. Eberhard in Stuttgart oder das Reinoldiforum an St. Reinoldi in Dortmund) oder aber um eigenständige Gebäude, die etwa durch einen öffentlichen Platz von der Kirche getrennt sind (hier wären etwa das Domforum am Kölner Dom oder das Kirchenfoyer an St. Lamberti in Münster zu nennen). Kirche sieht also in der (modernen) Stadt die Notwendigkeit, eine räumliche Ergänzung an sich selbst vorzunehmen; dabei wird ein doppelter Zweck erfüllt: Auf der einen Seite werden den Passanten Angebote unterbreitet, die im Kirchenraum nicht möglich wären, wie etwa die Einrichtung von Cafés oder der Verkauf von Devotionalien. Auf der anderen Seite erfährt der eigentliche Kirchenraum eine Resakralisierung, indem etwa Informations-, Kultur- oder Bildungsangebote ausgelagert werden, sodass der Sakralraum keine multifunktionale Nutzbarkeit aufrechterhalten muss. Abbildung 1 zeigt das Reinoldiforum an der Reinoldikirche in Dortmund, ein Informationszentrum der evangelischen Kirche, das als organisatorische Anlaufstelle für kirchliche Belange und Kircheneintrittsstelle fungiert, aber auch für Fragen zur Archi-

Citykirchenprojekte | Veronika Eufinger

Abb. 1: Reinoldiforum Dortmund, Architekt: Schröder Schulte-Ladbeck, Baujahr 2006, © Veronika Eufinger.

tektur und Geschichte der angrenzenden Kirche zur Verfügung steht. Es handelt sich um einen kreisrunden, zweistöckigen Anbau mit einer vollständig gläsernen Fassade, der durch einen ebenfalls gläsernen Durchgang mit der Kirche verbunden ist. Die untere Etage wird größtenteils von einer Theke eingenommen, hinter der während der Öffnungszeiten ein Mitarbeiter sitzt. Das Forum befindet sich zwischen dem Kirchturm, der einen quadratischen Grundriss besitzt und in den der Durchgang führt, und einem der beiden Seitenschiffe. Der leicht vorgelagerte Eingang mit schwarzem Rahmen weist ebenso wie die im Alltag geöffnete und meist frequentierte Doppelpforte der Kirche nach Süden; die Zugänge sind parallel ausgerichtet. Der Kontrast zwischen St. Reinoldi und dem Reinoldiforum liegt in den hervorstechenden Eigenschaften der Größe, Form und Beschaffenheit: Das Forum ist deutlich niedriger als das Seitenschiff, das selbst vom Hauptschiff, dem Choral und dem Turm der Kirche weit überragt wird. Die Kreisform steht im Kontrast zu den vertikalen und horizontalen Gebäudekanten, findet sich jedoch angedeutet in der Form der romanischen Kirchenfenster und der Zwiebelkuppel des Turmes wieder. Den deutlichs-

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ten Unterschied macht die gläserne Fassade des Forums aus, die sich stark von den massiven und groben Steinquadern der Kirchenmauern abhebt, die partiell durch das transparente Glas sichtbar bleiben. Das Glas der Fassade weist eine zufällig wirkende Gravur auf: Das asymmetrische Muster erinnert an Wolkenfetzen, Rauchschwaden oder die Kartographie einer Insellandschaft. Das Innere des Forums wird auf diese Weise nie vollständig verdeckt, sondern bleibt immer zumindest als Andeutung sichtbar. Das Motiv des Glases wiederholt sich in den Kirchenfenstern, die wesentlich kleiner, unterbrochener und bunter sowie weniger flächig und weniger durchsichtig sind. Während St. Reinoldi durch die typische Bauform mit Kirchturm und Turmuhr sowie den Kirchenfenstern eindeutig als sakrales Bauwerk identifiziert ist, wird das Forum nur durch seinen Namen, der sowohl auf der Fassade als auch auf dem Schild links vom Eingang lesbar ist, sowie seinen Anbaucharakter zu einem Element der kirchlichen Sphäre. Die Zuordnung als religiöses Gebäude funktioniert nur durch die unmittelbare Nachbarschaft zur Kirche als religiösem Ikon, das eine entsprechende semantische Gravitation entfaltet.12 Während das Forum einen sichtbar angebrachten Namen benötigt, der seine Zugehörigkeit markiert, steht die Kirche für sich selbst. Die beiden ungleichen Gebäude repräsentieren durch ihre Formen und Beschaffenheiten Vorstellungen des Alten und Neuen: Die romanische Basilika mit dicken Mauern aus behauenem Stein kann die Geschichte ihrer Vorgängerkirchen bis ins 10. Jahrhundert zurückverfolgen. Das Forum verkörpert mit seiner schlichten Zylinderform und minimalistischen Ornamenten sowie der Fassade aus glattem Glas und Metall einen Inbegriff moderner Architektur. Das abstrakte Gegensatzpaar aus alt und neu lässt sich zurückführen auf weitere Antagonismen, die im Nebeneinander der beiden Bauwerke liegen: Eng miteinander verbunden sind die Dyaden aus Intransparenz und Transparenz sowie verborgen und sichtbar. Die neue bauliche Selbstdarstellung der Kirche reflektiert das Ideal der Sichtbarkeit ihrer internen Vorgänge und 12 Vgl. Knott, Kim / Krech, Volkhard / Meyer, Birgit, Iconic Religion in Urban Space, in: Material Religion 12/2 (2016), 123  –136, hier: 132 f.

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Strukturen sowie der Verständlichkeit ihrer Sprache gegenüber den Kirchenmitgliedern usw. Die Kirche reagiert auf Skandale um Missbrauchsfälle und Verschwendung von Kirchensteuergeldern ebenso wie auf Schwellenängste mit einem visuellen und zugleich symbolischen Abbau der Barriere zwischen Innen und Außen. Das Größenverhältnis der Bauwerke im Gegensatz von hoch und niedrig ist ein klares Indiz für ihre Stellung in der Bedeutungshierarchie. Es kommt kein Zweifel auf, wo die Priorität liegt: Das Citykirchenprojekt ist das Anhängsel, das nachträglich der Tradition, die von außen optisch unverändert bleibt, Hinzugefügte. Die Intention der Modernität und Transparenz transformiert die traditionelle Struktur nicht, sondern wird zu ihr addiert. In der Bauform stoßen eine eckige, tendenziell anorganische, und massive auf eine runde, eher organisch anmutende, und leichte Gestalt. Auf der semantischen Ebene lässt sich daraus die Strategie ablesen, die Nähe zum Leben beziehungweise zum Menschen zu suchen statt abstrakt und außeralltäglich, also vom alltäglichen Leben entrückt, zu kommunizieren. In der Benennung der beiden Orte treffen sich die Begriffe des Forums und der Kirche beziehungweise des Sankt, abgeleitet aus dem Lateinischen von „sanctus“: Das Forum, also der (Markt-)Platz vor der Kirche definiert einen Ort, der qualitativ und räumlich von der Kirche unterschieden ist; er gehört zur säkulären statt sakralen Sphäre und beginnt jenseits der Schwelle des Kirchenportals. Das Forum ist das Paradebeispiel des öffentlichen Raums als Ort des Zusammentreffens, des Austauschs von Informationen und Meinungen sowie des Handels; eng verknüpft ist es mit Idealvorstellungen der demokratischen Artikulation und Willensbildung sowie der transparenten Rechtsprechung. Das Reinoldiforum ist in diesem Sinne ein widersprüchlicher Ort, da er zugleich physisch mit der Kirche verbunden und im Funktionsbereich von ihr getrennt ist. Erkennbar wird hier der Brückenschlag der Kirche in andere gesellschaftliche Teilbereiche wie etwa der Kultur, Bildung, Politik usw. Ausgehend vom Reinoldiforum als Fallbeispiel eines Citykirchenprojekts, das sich von seiner sakralen Umwelt anhand einer Reihe binär codierter Relationen abgrenzt, lassen sich Beziehungen zu anderen citykirchlichen Räumen herstellen, die den Fall erweitern und präzisieren. Der Begriff des Forums und das

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Abb.: 2: Innenraum des Domforums Köln mit Blick zur Theke, Martini Architekten, Umbau 2010, © Veronika Eufinger

Abb. 3: Innenraum des Domforums mit Blick zum Dom, Martini Architekten, Umbau 2010, © Veronika Eufinger

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Motiv der Transparenz bilden einen direkten Anknüpfungspunkt zum Domforum, das gegenüber dem Hauptportal des Kölner Doms gelegen ist. Es handelt sich zum einen um das Besucherzentrum des Doms, das die Domführungen organisiert, und zum anderen als Informations-, Begegnungs- und Veranstaltungszentrum um eine citypastorale Einrichtung, in der seelsorgliche Gespräche geführt werden, ein Meditationsraum vorhanden ist und kulturelle, gesellschaftspolitische und spirituelle Veranstaltungen stattfinden. Das Domforum befindet sich in einem vormals als Bank genutzten Gebäude aus den 1950er Jahren. Abbildung 2 und 3 zeigen den Innenraum. Der Dom ist durch die Rauten der gläsernen Fassade, die durch ihre unterbrochene Struktur eher einen Verweis auf Kirchenfenster herstellen als etwa die runde Glasfassade des Reinoldiforums, stets sichtbar. Die Bodenplatten setzen sich außerhalb des Forums auf der Domplatte in gleicher Form und Ausrichtung fort und „zeigen“ mit der kurzen Seite, ebenso wie die gleichfalls rechteckigen in die Decke eingelassenen Lampen, auf den Dom. Der Raum wird dominiert durch eine geschwungene Theke, Aufenthaltsbereiche mit Sitzgruppen beziehungsweise Stehtischen und einem angedeuteten Weg, der die beiden Zugangstüren verbindet. Der Innenraum zeichnet sich durch klare Handlungsoptionen aus, deren Umsetzung im Spacing der abgebildeten Personen sichtbar wird: Die Theke markiert einen Anlaufpunkt, der eine Abgabe von Informationen, Waren oder Dienstleistungen verspricht. Zwischen den Menschen vor und hinter der Theke besteht eine eindeutige Rollenverteilung mit einem Informationsgefälle. Die Adressierung der Besucher erfolgt individuell und nutzerorientiert. Die Art und Anordnung der Tische impliziert einen kurzen Aufenthalt, etwa durch das Fehlen von Rückenlehnen und Polstern, die Nutzung der Aussicht auf die belebte Domplatte sowie das Zusammenkommen in kleinen Gruppen. Sowohl die Theken- als auch die Aufenthaltssituation decken sich mit der Synthese des Raumes als Besucherzentrum oder ausgelagertem Foyer, das auf den Dom verweist. Im Unterschied zum Reinoldiforum verfügt das Domforum über insgesamt drei Kreuze als Symbole christlicher Zugehörigkeit, die teilweise auch von außen sichtbar sind: Das ‚liegende‘

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Kreuz ist golden abgesetzt in das Wandpaneel eingelassen und war nicht kirchlicherseits als religiöses Symbol intendiert, sondern wurde vom Architekten als Gestaltungselement gewählt; ein kleines kupfernes Kreuz hängt an dem rechten Pfeiler (in Abbildung 2 verdeckt) und ein drittes Kreuz aus Metall und buntem Glas, das Kölner Ökumenekreuz, steht an der Außenwand in Richtung des Domes (vgl. Abbildung 3). Die Kreuze sowie der Dom selbst schaffen als christliche Symbole durch ihre Relation zueinander einen eigenen Kontext, in dem ihre künstlerische Gestaltung, Materialität, Größe usw. verschiedene Bedeutungen gewinnen, die an dieser Stelle nicht vollständig erörtert werden können. Es ist jedoch festzuhalten, dass in der Semantisierung des Doms seine Funktion als Ort für Gottesdienste und andere religiöse Praktiken gegenüber seiner touristischen, architektur- und kunstgeschichtlichen Bedeutung sowie seiner Rolle als Wahrzeichen der Stadt im Alltag in den Hintergrund treten. Die Auslagerung der Organisation der touristischen Nutzung in das Domforum bietet eine Möglichkeit zur Resakralisierung des Kirchenraums. Zugleich ist im Selbstverständnis des Domforums jedoch eine doppelte Funktion angelegt: Neben den Aufgaben des Besucherzentrums sollen auch hier spirituelle Praxis, pastorale Kommunikation sowie kirchliche Kultur- und Bildungsarbeit stattfinden. Das Gegensatzpaar der Sichtbarkeit/Unsichtbarkeit stellt eine der hervorstechenden Eigenschaften urbaner Religion dar:13 Während der Dom auf der einen Seite ein aufsehenerregendes Gebäude ist, das aus der Stadt hervorsticht und überaus sichtbar ist, verschmilzt seine sakrale Ausstrahlung mit der profanen Selbstverständlichkeit seiner Präsenz als Teil einer Skyline oder als Kulisse des urbanen Lebens auf der Domplatte. Er wird in diesem Sinne als religiöser Kultort unsichtbar. Zugleich ähnelt das Domforum im ehemaligen Bankgebäude vielen säkularen Bauwerken am Rand der Domplatte, etwa dem benachbarten Standort der Köln Tourismus GmbH. Mit den Kreuzen im Innenraum wird an verschiedenen Punkten eine religiöse Sichtbarkeit von innen nach außen hergestellt, etwa beim Blick auf 13 Vgl. Lanwerd, Susanne, The Urban Sacred: How Religion Makes and Takes Place in Amsterdam, Berlin and London (2016), http://www.urban-sacred.org/catalogue-introduction/ [Stand: 20.02.2017].

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Abb. 4: Punctum an der Liebfrauenkirche in Frankfurt, Architekt: unbekannt, Umbau 2014, © Veronika Eufinger

den Dom oder aus Perspektive des Menschen vor der Theke. Das dezente Bronzekreuz ergänzt den schlichten Identitätsmarker, wie er etwa aus katholischen Schulen oder Büros der Kirchenverwaltung bekannt ist. Die Grundform des Domforums besteht aus den runden Betonpfeilern, die untereinander verbunden sind und auf denen die oberen Etagen des Gebäudes zu liegen scheinen. Durchbrochen wird dieses Schema jedoch von dem kreisrunden Ausschnitt in der Mitte des Raumes: Dieser Lichthof führt durch alle Stockwerke hinauf bis zum Glasdach (vgl. Abb. 2). Die horizontale und eckige Struktur des Erdgeschosses wird also durch eine runde und vertikale Struktur ergänzt. Das Punctum in Frankfurt an der Liebfrauenkirche (vgl. Abb. 4) bildet das letzte Fallbeispiel dieser kleinen Analyse. In seiner Struktur replizieren sich sowohl eine Reihe der bereits aufgezeigten Gegensatzpaare, wie etwa alt/neu, transparent/intransparent, hoch/niedrig und leicht/massiv als auch die im Innenraum angelegten Synthesen/Spacings wie die Servicetheke. Ein Motiv, das bereits in der Struktur des Domforums eine Rolle spielte, zeigt sich auch in der Kontrastierung des Punctums und der Liebfrauenkirche (vgl. Abb. 4): Während die gotische Kirche vor allem vertikale Ausrichtungen besitzt, etwa die schmalen hohen Fenster, den Glockenturm und die optisch

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abgesetzten Gebäudekanten, ist die Grundausrichtung des citypastoralen Anbaus horizontal. Das flache Dach verläuft parallel zum Boden, die Grundform ist ein auf der Seite liegender Quader. Die Ikonizität der Kirche rückt die Dyade vertikal/horizontal in einen religiösen Bedeutungszusammenhang. Im oben skizzierten Sinne verweisen also immanente Gegebenheiten, in diesem Fall Bauwerke, auf ein Transzendentes, ein Nichtgreifbares, das diese Gegebenheiten überschreitet. Während die Kirche eine Verkörperung vertikaler Transzendenz darstellt, repräsentiert das Citykirchenprojekt eine horizontale Transzendenz. Während die vertikale Perspektive im Überschreiten des Gegebenen zum vollkommen Anderen, zum Außerweltlichen, im christlichen Kontext zu Gott besteht, verweist die horizontale Perspektive auf die innerweltliche Überschreitung des Einzelnen zum Anderen und den Bezug zur Intersubjektivität, also der Gesellschaft. Implizit drückt der gebaute Kontrast eine Arbeitsteilung aus: Während die Kirche die große Transzendenz bearbeitet, widmet sich das Citykirchenprojekt der Transzendenz mittlerer Ausprägung.14 Diese Zuständigkeit spiegelt sich in der Praxis: Während Gottesdienste und Sakramente, also Phänomene, die innenperspektivisch als göttliche Handlungen oder Ausdruck göttlichen Willens betrachtet werden, überwiegend in der Kirche stattfinden, sind soziale Aktivitäten wie Gesprächsangebote, Koordination ehrenamtlichen Engagements usw. in den Citykirchenprojekten verortet. Die Differenzierung ist natürlich nicht trennscharf, sondern hat einen eher idealtypischen Charakter; das Domforum etwa bietet mit seinem Meditationsraum einen Ort der großen Selbsttranszendenz.

Abgrenzungen und Anpassungen. Abschließende Betrachtung Die kirchliche Ambivalenz im Verhältnis zur Stadt spiegelt sich in der räumlichen Ausgestaltung urbaner religiöser Kommunikation: Der Anbau moderner Architekturen an bestehende Kirchen bildet ein Zugeständnis an den urbanen Raum, ohne eine 14 Vgl. zum Begriff der kleinen, mittleren und großen Transzendenz Luckmann, Thomas / Knoblauch, Hubert, Die unsichtbare Religion, Frankfurt am Main 82016, 167 f.

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vollständige Anpassung an diesen vorzunehmen. Die Modernität begründet sich in der Polarität von Gegensatzpaaren wie neu/alt, transparent/intransparent oder organisch/kantig. Citykirchen stehen zwischen sakralen und säkularen Umwelten. Zu beiden Bezugssystemen bestehen partielle Anpassungen und Abgrenzungen. Die Sozialform etwa ist nach dem Vorbild von Museen, Cafés oder Infopunkten individualisiert und dienstleistungsorientiert, sie steht komplementär zur gewohnten kollektiven religiösen Praxis. Synthese und Spacing der citykirchlichen Räume sind ohne spezifisch religiöses Wissen möglich. Die Ausrichtung auf intersubjektive Transzendenz mittlerer Reichweite statt auf Außeralltägliches und Unerfahrbares kann ebenfalls als Anpassung an die säkulare Umwelt gewertet werden. Eine klare Abgrenzung macht die Unterordnung des Neuen unter das Alte aus: Die Citykirchen stehen in einem Verweisungszusammenhang und besitzen einen Dienstleistungscharakter im innerkirchlichen Zusammenspiel. Die Umnutzung ehemals säkularer Gebäude als citykirchliche Standorte legt in Zeiten, in denen aufgegebene Kirchen als Restaurants oder Wohnhäuser dienen, einen besonderen Fokus auf die Frage, was einen Raum zu einem religiösen Raum macht. Die Verwendung religiöser Symbolik stellt einerseits eine Positionierung im Spannungsverhältnis der Sichtbarkeit/Unsichtbarkeit kirchlicher Gebäude dar und hat andererseits Einfluss auf die Niedrigschwelligkeit ihres Zugangs. Die Semantisierung eines Kreuzes als christliches Ikon, Zugehörigkeitsmarkierung, Dekoration oder kunstgeschichtlich relevantes Ausstellungsstück ergibt sich aus der Kontextualisierung in Form anderer Symbole, Platzierung, Materialität und vielen weiteren Faktoren. Die Verhältnisbestimmung der Citykirchenprojekte zu den klassischen Kirchen changiert zwischen der Unterstützung sakraler Sichtbarkeit und der Etablierung einer eigenen. Um diesem Thema nachzugehen, ist die Analyse weiterer Fallbeispiele notwendig, da eine große Anzahl citykirchlicher Projekte im Gegensatz zu den drei vorliegenden Beispielen keine räumliche Nähe zu einer traditionellen Kirche aufweist. Die Modernisierung der Kirche äußert sich in den räumlichen Gestaltungen der Citykirchen als Trend zur horizontalen statt vertikalen Orientierung: Sie sind greifbare Manifestation der

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Entwicklung zur Innerweltlichkeit und Selbstsäkularisierung der Kirchen, deren Aktivitäten sich schon längst nicht mehr primär auf das religiöse sondern andere Funktionssysteme wie Kunst, Bildung oder Politik beziehen.15 In diesem Sinne verwirklichen die Citykirchenprojekte als urbane religiöse Form die Hintergrundannahme der kirchlichen Akteure, dass die Stadt die reinste Verkörperung der Moderne ist.

15 Vgl. Luckmann, Die unsichtbare Religion, 18.

WOHNraum Kirche? Schnittstellen zwischen ästhetischen Praktiken des Alltäglichen und des Sakralen Irene Nierhaus

Verwohnzimmerung: Marginalien und Marginalisierung Dieser Beitrag1 zum Verhältnis von Wohnen und Kirche geht von der innerkirchlichen Debatte der „Verwohnzimmerung“2 aus, die zwei Argumentationssträngen folgt: Das Wohnzimmer als Raummetapher für ein Sich-Einschließen im Gewohnten als gleichzeitiges Ausschließen eines Außen, Äußeren und Äußersten – also eine Raummetapher für „mentale Gefangenschaften“,3 ein Leben im vermeintlich einfachen Daseienden. Und das Wohnzimmer als Herkunftsort der Gegenstände, die zumeist von Laien und Laiinnen in den Kirchenraum hineingetragen werden: Bunte Bastel- und Häkelarbeiten da und dort, ein gesticktes Hungertuch, ein Gummibaum, Tafeln mit Fotos der letzten Gemeinschaftsreise etc. (Abb.1, 2). Es sind Dekorwanderungen von häuslichen Praktiken in die Kirche. In sakralen Innenräumen, deren Architektur und Ausstattung auf das ‚groß Darüberhinausweisende’ zielen soll, wirken die dem Häuslichen zugeordneten Dinge oft kleinlich bis peinlich im Jetzt gefangen. In

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Dieser Text ist eine erweiterte und überarbeitete Fassung des Artikels: Nierhaus, Irene, Kirchen bewohnen – ein Widerspruch?, in: Kunst und Kirche (2017), Heft 3, 4  –7. Die Debatte wurde seit den Beiträgen von Jens Haupt und Wolfgang Huber 2009 immer wieder aufgegriffen und scheint stärker die protestantische als die katholische Kirche zu berühren – auf diese nicht unwesentliche Differenzierung kann in der Folge jedoch nicht weiter eingegangen werden. Siehe: Huber, Wolfgang, Du stellst unsere Füße auf weiten Raum. Eröffnungsvortrag. Zukunftswerkstatt Kassel 2009, Kirche im Aufbruch, in: EKD Evangelischen Kirche Deutschlands - Dokumentation 46/ 2009, 9  –15; Haupt, Jens, Die „Verwohnzimmerung“ des deutschen Protestantismus, in: Deutsches Pfarrerblatt (2009), Ausgabe 7, 1–  4. Huber, Du stellst unsere Füße, 10.

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Abb. 1: „Garten Gottes“, Objekt anlässlich der Taufen 2017 in Sankt Elisabeth, Wien, Aufnahme 2017. Foto: Irene Nierhaus

Abb. 2: Bildtafel in der Kirche Sankt Jakob in Brünn, Aufnahme 2017. Foto: Irene Nierhaus

der Debatte werden sie als Widerspruch aufgefasst, der entweder schulterzuckend akzeptiert, als Gerümpel zur Tilgung vorgeschlagen oder besser noch, durch Kunst ersetzt würde. Zwar wird ihnen das Vermögen zugestanden, persönliche Beziehungen und geschichtliche Situierungen der Laien und Laiinnen zum Glauben zu formulieren, doch produzierten diese als individualisiert verstandenen Gesten eine „geistliche Milieuverengung“4, einen „Rückzug ins Wohnzimmer“5 und eine „spirituelle Gemütlichkeit“6 der Kirche. In der Metapher wird Wohnen zum ungeteilten Ort der Präsenz, des einfach Daseienden, der Verdinglichung und Subjektivität als ein ‚anderer’ Raum zur Kirche fixiert, die als Ort des Fremden, Äußeren und Jenseitigen jenseits „der Ausstülpung des Innen“7 vorausgesetzt wird. Dieser Beitrag zum Phänomen der „Verwohnzimmerung“ behandelt Marginalisierung und Marginalien, letztere im wörtlich übersetzten Sinn des ‚Zum-Rand-Gehörigen’. Marginalien in dreifacher Hinsicht, denn erstens problematisiert die Debatte ein Sich-Einrichten von Laien und Laiinnen und ihre ästhetischen Praktiken im Kirchenraum, die in den Wertesystemen von Kirche wie Kultur als nebensächliche Angelegenheit am äußersten Rand beziehungsweise weit ‚unten’ angesiedelt sind. Damit wird zweitens eine Grenze ziehende Aufteilung von Kir4 5 6 7

Huber, Du stellst unsere Füße, 11. Haupt, Die Verwohnzimmerung, 3. Haupt, Die Verwohnzimmerung, 3. Haupt, Die Verwohnzimmerung, 2.

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che und Wohnen, sowie von Kunst und Nichtkunst vorgenommen, da von der klaren Trennung von Wohnen als einem Individualisierten, Privaten und Alltäglichen und von Kirche als einem Allgemeinen, Öffentlichen und Sakralen ausgegangen wird. Entgegen der Marginalisierung und der scheinbar so klaren Polarisierung der Räume soll es hier weniger um die Bestätigung und Aufrechterhaltung der Grenzziehungen gehen, sondern um eine poröse und wechselseitige Schnittstelle mit dem Potential eines Raums von divergenten und vielfältigen Handlungsmöglichkeiten. Und drittens ist dieser Beitrag selbst eine Art Marginalie, da er auf der Analyse der konkreten Äußerungen zur „Verwohnzimmerung“ fußend eine Randnotiz beziehungsweise ein Kommentar zu Texten dieser Debatte ist, die, wenn auch selbst marginal, dennoch ganz grundlegende Vorstellungen zu Raum, Ästhetik und Glauben berührt.

Raumbild des Domestischen „Wir entfliehen den gewohnten Wohnzimmern unserer Behausung und begeben uns in einen fremden Raum, in dem der Alltag von uns abfallen kann. Und deshalb macht es Sinn, sich gegen die ‚Verwohnzimmerung’ oder ‚Verkinderzimmerung’ unserer Kirchen zu wehren, die manche dadurch wohnlicher machen wollen, dass sie ihre persönlichen Dinge oder ihre Spielsachen mitbringen.“8 Mit Begriffen wie Spielsachen oder Kinderzimmer wird eine Abwertung des Wohnens als ein Kleines, Verniedlichtes und Minderes gegenüber der Kirche zertifiziert – sozusagen eine Miniatur gegenüber dem Kosmischen. Das in Reden ventilierte Verlassen-Müssen des Hauses ist ein wiederkehrendes Motiv in den Beteuerungen von Philosophie, Politik und Religion. So sind fundamentale christliche Ereignisse, wie die Geburt Jesu, ohne Domizil: Die Familie ist unterwegs, unbehaust, findet nur provisorisch und temporär Unterschlupf, im Stall oder einer Ruine. Dieser ersten Unbehaustheit folgt die herbergslose Flucht vor Herodes. Die bildende Kunst hat in ih-

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So lautet die Formulierung des Pfarrers Johannes Taig der Hospitalkirche Hof. Taig Johannes, Herzstück. Predigt Lukas 18/9   –14, 11, Sonntag nach Trinitatis 23.08.09, hospitalkirche-hof.de [Stand: 20.05.2018].

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rer Ikonografie dafür Bildsujets wie ‚Flucht nach Ägypten’ oder ‚Ruhe auf der Flucht’ entwickelt. Und auch die abendländische Philosophie verwirft das Refugium des Subjekts, in dem es sich frei von Staat und Gesellschaft wähnt. Es ist ein dem Logos der Politik (und der Religion) verpflichtetes Paradigma, den Ort der Wahrheit jenseits von Domizil und ‚kleinem’ Alltag zu suchen. Die Vorstellung von Freiheit, gesellschaftlichem Außen, Utopischem wie Transzendentalem bleibt an Vorstellungen vom Öffentlichen gekoppelt. Diesen dualistischen Raumzuweisungen wird oft widersprochen, doch werden sie – zur Konvention geworden – genauso oft aufgerufen und stehen historisch stetig zur Verhandlung. So befindet die Kulturwissenschaftlerin Christina von Braun, dass die Epoche der Moderne die Welt in eine Wohnstube verwandelt habe, in der die Fremdheit im eigenen, nun unendlich erweiterten und okzidental positionierten Ich mit der „Fabrikation des Fremden außen“ als zu Vernichtendes einherginge.9 Ich meine, dass dieser Befund moderner Fremdheit nicht zwangsläufig zur Vernichtung ‚des Anderen’ führend, weniger dualistisch aufgefasst werden könnte, als Fremdes und Befremdliches im Eigenen. In der Anerkennung dieses Eigenfremden läge ein Potential und eine produktive Porosität, die nicht mehr die Welt und Welten in schlicht privat-öffentlich, groß-klein, heilig-weltlich etc. aufteilte. Damit könnte dem Wohnen und seinem diskursiven Haushalt ohne Angst vor einem Verlust von Deutungshoheit gesellschaftliche – und so auch religiöse und spirituelle – Relevanz zugestanden werden. Damit würde das Wohnen als Ort der Unterbrechung und Distanzbegründung – was er realiter auch ist – im Diskurs wahrgenommen werden. Wohnen ist historisch, wie in seiner Konzeption nicht einfach das unmündige, individualisierte, rein positiv in der Welt Seiende, vielmehr ist Wohnen ein Gefüge aus all jenen sozialen, kulturellen und gesellschaftspolitischen Prozessen, die eine Gesellschaft konfigurieren. Subjekt und Wohnen werden in einem Raum der Reproduktion, der medizinischen und ambientalen Hygiene, etc. gleichermaßen eingerichtet und bilden die zentrale Grundstruk9

Von Braun, Christina, Der Einbruch der Wohnstube in die Fremde, Bern 1987, 38.

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tur modernen Regierens10. Dazu gehört auch die Vorstellung von Wohnen als Schutzraum einer Privatsphäre, der als selbstidentischer Ort des Individuums formuliert und erlebt wird – und in dem gesellschaftliche Normierungen ihre Übersetzungen in ein persönliches Selbst suchen. Wohnen ist ein Weltherstellen mit einem temporären oder permanenten Bezugsraum des Subjekts und der jeweils gesellschaftlich normalisierten Formen seines Zusammenlebens, Organisierens von Lebensbedürfnissen und Erstellens von Lebensperspektiven. Wohnen ist also nicht einfach das Private gegenüber dem Öffentlichen, sondern beide Sphären stehen in einem engen Wechselverhältnis. Doch das geläufige Denken zu Wohnen ist geprägt von konventionellen Erzählungen, die in der Verwohnzimmerungsdebatte virulent werden. Diese Erzählungen wurden und werden in den verschiedenen Medien der Politik, Ökonomie und Kultur vermittelt. Dazu gehört auch die seit dem 19. Jahrhundert pädagogisierende Anrede, die in Ratgebern, Illustrierten bis zu heutigen TV- und Internetformaten zu einem Wohnhandeln raten. Diese Identifizierungsangebote enthalten auch moralische und ethische Wertsetzungen. Da werden Formen des Kunstgewerblichen (unter anderem textile Handarbeit und Basteln) aufgerufen, die im Wohnen historisch zur Aufgabe von Frauen gemacht wurden, um im (oft auch verniedlichenden) Verschönern ein von Liebe gekennzeichnetes Klima zu erzeugen, das Wohnen zum gemeinschaftsbildend ‚glücklichen’ Raum homogenisiere – so etwas wird in der Verwohnzimmerungsthese zum Beispiel zurückgewiesen, da werden Handarbeiten zu betulich falsch verstandenen Glaubensgesten. Doch im Domestischen hausen nicht nur Schaubilder der heilen Familie und das im Gemütlichen gesättigte Subjekt, da herrschen ebenso Gewalt, Kriege und Migrationen – also keineswegs nur der in der Verwohnzimmerungsthese unterstellte Hang zum Behaglichen ohne Bezug zu einem Äußeren, Fremden und Äußersten. Wohnen ist nicht der einfache, ungeteilte Ort, der in Präsenz aufgeht. Da leben Subjekte, die in und außer sich sind 10 Vergleiche zu Aspekten des Zusammenhangs von Wohnen und Regieren: Nierhaus, Irene, Ein-Richtung as biopolitical procedures in housing after 1945, and their critique in the visual media of the 1960s, in: Wagner, Kirsten / Cepl, Jaspar, Images of the Body in Architecture. Anthropology and Built Space, Berlin 2014, 345  – 366.

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und auch das gerügte Wohnzimmer kann durchaus Ort der Versenkung, Unterbrechung, Erhebung sein – denn es gibt keinen Rechtsanspruch auf das Wo, Wer, Wie und Was denkt. Und zur geistigen Öffnung kann auch jene Person gelangen, die zuhause soeben die Latschen ausstreckt und meint: ‘Da möchte ich jetzt erst einmal meine Ruhe haben’. Wir wissen nicht, wohin diese Ruhe treibt, zu welchen Äußerungen sie führt. So ging beispielsweise René Descartes in seinen Meditationen „Über die Dinge, die in Zweifel gezogen werden können“11 von der Wahrnehmung seines Hausmantels aus, in dem er am Ofen sitzt. Er gibt damit seinem Denken einen domestischen Ort – wie auch fast alle Philosophien oder Theologien an häuslichen Orten verfasst wurden. Dies heißt, die Aufteilung der Welt und ihr vorgestelltes Inneres und Äußeres in getrennten Räumen ist keine Natur, sondern bleibt offen und wird historisch immer wieder neu verhandelt. In seinem Konzept von der „Aufteilung des Sinnlichen“ spricht der Philosoph Jacques Rancière von einer Politik der Machtverteilung über das Sag-, Sicht- und Wahrnehmbare: „Die Politik bestimmt, was man sieht und was man darüber sagen kann, sie legt fest, wer fähig ist, etwas zu sehen und wer qualifiziert ist, etwas zu sagen, sie wirkt sich auf die Eigenschaften der Räume und die der Zeit innewohnenden Möglichkeiten aus.“12 Das kann auch auf die Aufteilung der Räume in Kirche (als Raum der Sichtbarkeit) und Wohnen (als Raum der Nichtsichtbarkeit) bezogen werden. Bleibt es bei dieser Anordnung der Räume, so kann das In-Erscheinung-Treten der Laien und Laiinnen mit ihren Objekten im Raum der Sichtbarkeit des Glaubens als Störung aufgefasst werden und genau das passiert in den Argumenten zum Verwohnzimmern.

Verwohnzimmerung – Schnittstelle statt Trennlinie Es wird eine Trennlinie zwischen den Vermögen der Laiengemeinde und den Wissenseliten des Glaubens – manchmal in Allianz mit den Wissenseliten der Ästhetik, den Künstler*innen 11 Descartes, René, Meditationen. Dreisprachige Parallelausgabe Latein-Französisch-Deutsch, [1641] Göttingen 2004, 55. 12 Rancière, Jacques, Die Aufteilung des Sinnlichen. Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien, Berlin 2006, 26 f.

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und Architekt*innen, gezogen – zum Beispiel wenn deren Werke die der Laien und Laiinnen ersetzen sollen. Es wird der Eindruck vermittelt, dass die Dinge der Laien und Laiinnen in die Kirche eindringen, sie besiedeln und umschreiben und tendenziell überwuchern könnten, wie es zum Beispiel ein Blogger im Internetforum von „evangelisch.de“ anhand der sich ausbreitenden Pflanzen beschrieben hat: „Grüne Pflanzen wohin das Auge blickt. Rechts neben dem Altar eine Yuccapalme. Links unter der Kanzel ein Ficus. [...] Die ersten Vögel nisten in der Birke vor der Kanzel und laden zum bildlichen Predigen über die Taube und den Heiligen Geist ein. [...] in der Kirche [versteht man, d. Verf.] vor lauter Vogelgezwitscher kaum mehr etwas“.13 Das aus religiösen Praktiken bekannte Grün – das Laub, die Kränze, die Palmwedel, der Tannenbaum – verselbständigt sich und verwandelt die Kirche in Natur zurück, in der die ‚Blumenfrauen’ ihr verkehrtes Regiment führten. Das dem Kirchenraum zugeschriebene Eigentliche werde durch die Laiendinge und ihre Alltäglichkeit zer- und gestört. Und wieder ist es ein binärer Modus: Praktiken werden ausgeschlossen und zum anderen und zur verkehrten Ästhetik des Kirchenraumes gemacht. Ähnlich den Instanzen der politischen und ästhetischen Eliten der Wohnerziehung ist es ein Argwohn gegenüber den Wohnenden, die ohne Führung anscheinend nur im Argen zu wohnen vermögen. Und tatsächlich liegt in den Verschönerungsgesten oft etwas Braves und bedingungslos Fröhliches, was an die angeleiteten Schulaufgaben des Kunst- und Werkunterrichts oder an Bastelvorlagen erinnert, da sie in ihrem Schönen zumeist das Schwere und Verquere ausschließen beziehungsweise es zugunsten von Gefälligem verschließen. Darin liegt ein selbst- und fremdproduziertes Entmündigen, jene ‚Verkindlichung’ der Äußerungen, die mutlos das Erlernte und Zugewiesene wiederholt. Im Grunde reproduziert diese ‚Verkindlichung’ den Ort der Gläubigen, den sie verstummt, staunend und ehrfürchtig erstarrt schon in den religiösen Szenen der historischen Bildkunst als ihren beispielgebenden Bildort eingenommen haben und der so etwas wie Rollen von Zuschauerschaft ins Bild setzt (Abb. 3). Diese Selbstund Fremdminiaturisierung ist auch Resultat der strikten ästhe13 Christliche Botanik, Evangelisch.de, [Stand: 20.05.2018].

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Abb. 3: Jacopo Tintoretto: Markuswunder, Der Heilige Markus befreit einen Sklaven, 1548, Ausschnitt; © Venedig Galleria dell’ Accademia. Fotoarchiv Irene Nierhaus

tischen und theologischen Teilung von Raum in low-profan und high-sakral und gehört in der Debatte mitreflektiert. Die Verantwortung für die Verwohnzimmerung kann nicht einseitig erfolgen. Vielmehr ist sie Teil eines Prozesses, einer Passage und Schnittstelle zwischen Institution und Gläubigen. Über Jahrhunderte haben Kirchen selbst daran gearbeitet und gerade das Wechselverhältnis zum kulturellen und ästhetischen Alltäglichen der Gläubigen ist Teil ihres Erfolges, in dem sie Praktiken absorbiert und adaptierend reformuliert haben. So wurden religiöse Festtage und Rituale aus älteren Praktiken übernommen und mit Formen von aktuellen Lebenspraxen verbunden, zum Beispiel die Kleinarchitekturen der Bildstöcke und Wegkreuze in agrarischen Kulturen und die damit verbundenen Umgänge und Weihen. Prozessionen und Pilgerfahrten haben den Alltag religiös mitkolonialisiert. Und seit dem 13. Jahrhundert wurde ein breites und vielfältiges Reservoir an Bildtypen entwickelt, das auf eine innere Nähe zwischen Kirche, Glauben und Gläubigen setzte, wie zum Beispiel das Andachtsbild, das sich an die Gefühlswelt und Stimmung der Betrachtenden wendet. So die freundliche gotische Schöne Madonna mit Darstellungen von Gemütsbewegungen oder der Bildtypus der ChristusJohannes-Gruppe, bei dem Johannes seinen Kopf auf die Brust Christi legt, um die Beziehung der Seele zum göttlichen Logos

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Abb. 4: Giovanni Bellini: Pietà, um 1500. © Virtuelle Diathek, Universität Hamburg, Kunstgeschichtliches Seminar.

anzuzeigen. Auch die Figur des Schmerzensmanns gehört hierher, der in seinem bemitleidenswürdigen Leiden eine meditative Beziehung des Themas zum Betrachtenden herstellt. Es sind alles Gesten der Annäherungen zwischen Heiligen, Heiligem und Gläubigen beziehungsweise seinem Inneren. Auch Bildsujets wie die Pietà, die Engelspietà, die Schmerzensmutter oder das EcceHomo gehören hierher. In der Renaissance wird die direkte Ansprache mit ästhetischen Mitteln weiter erhöht, wie die Pietà um 1500 von Giovanni Bellini (Abb. 4) mit ihrer Nähe produzierenden Effekten exemplarisch zeigt: Die Heiligenfiguren erzeugen Präsenz durch körperliche Plastizität, die dramatische Choreografie der Hände und die Emotionen vermittelnde Gestik und Mimik. Durch ihre Platzierung an der vordersten Bildebene scheinen sie Teil eines mit den Betrachtenden gemeinsamen physischen und psychischen Raums zu werden. Die Dargestellten erscheinen greifbar, so reicht die Hand Christi über den bildinternen Rand der Brüstung hin zum Betrachtenden. Die Bilder werden also dialogischer, wie es der Kunsthistoriker Hans Belting formuliert: „Dieser Sprechakt war entweder aus dem Bild heraus, auf den Betrachter gerichtet oder entwickelte sich innerhalb des Bildes zwischen den Bildpersonen, wenn sie vom Betrachter sprachen. Damit verlässt das Bild die hergebrachte Distanz und die abgeschlossene Existenz: Das Bild liefert sich dem Betrachter aus“.14 Solche Bil14 Belting, Hans, Das echte Bild. Bildfragen als Glaubensfragen, München 2005, 459.

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Abb. 5: Heiliger Antonius von Padua, Sankt Elisabeth, Wien, Aufnahme 2017. Foto: Irene Nierhaus

der wurden im privaten Raum, in Laiengemeinschaften wie auch im klösterlichen Bereich eingesetzt und in die Kirchenausstattung aufgenommen. Im 19. und 20. Jahrhundert wurden Heilige, Schutzpatrone oder Lourdes-Madonnen für die sogenannte Volksfrömmigkeit multipliziert (Abb. 5).15 Letztendlich ergibt sich ein immenses Spektrum von Bild- und Textsorten, die eine innere Beziehung zwischen Darstellung und Betrachtendem im Zeichen einer Affekt betonenden Beziehung zwischen Subjekt und Glauben herstellen sollten. Das reicht von den Andachtsbildern über religiöse Schauspiele, die vielfach reproduzierten Bilder von Helferfiguren bis zur religiösen visuellen Kultur in Motiven der Hinterglasmalerei, dem religiösen häuslichen Wandschmuck oder der versendeten Postkarte mit Dürers betenden Händen – alles christliche Mikrokosmen an der Schnittstelle von religiösen Eintragungen ins Subjekt und zugleich den Eintragungen des Subjekts in die Kirchen. Dazu kommen die Devotionalien, wie die seit dem 15. Jahrhundert geläufigen Teig- oder Federbilder, die durch Druckverfahren vervielfältigten Haussegen 15 Diese Figuren sind oft im Eingangsbereich des Kirchenraums konzentriert, also an dem alten Ort des Übergangs zwischen Weltlichem und Geistlichem – ein Ort, der mit Bildern von Kämpfen mit Abgründen und Bedrohungen (wie im Mittelalter z. B. mit Simsons Kampf mit dem Löwen, wie am Riesentor des Wiener Stephansdoms Wien) oder Weltgerichtsszenen besetzt wurde.

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oder Herz-Jesubilder, die auch das Wohnen durchsetzten. Doch die von der Kirche selbst betriebene Popularisierung wird zum eigenen Zwiespalt, so schrieb der Theologe Hannes Langbein: „Religion und Dekor haben ein zwiespältiges Verhältnis: Kann die Religion – ein Blick in den Katalog eines Devotionalienhändlers genügt! – einerseits als stete Quelle des Dekorativen gelten, so gehört sie andererseits zu seinen schärfsten Kritikerinnen“.16 – Was also als Verwohnzimmerung kritisiert wird, wurde über weite Strecken von der Kirche selbst produziert. Gegen die Verwohnzimmerungspraktiken werden zumeist zwei Nothelfer aufgerufen, die das buntpapierene Ausgeschnittene, das farbig Gezeichnete, das Gestickte und Gestrickte bändigen sollen: Ein ‚Angemessenes’ und die Kunst. Das ‚Angemessene’ wird meist über ein Verständnis vom Decorum als ein irgendwie Stimmiges argumentiert: „Die Häkeldecke auf dem Abendmahltisch stört in einer kleinen und schlichten Kirche im Kanton Graubünden niemanden. [...]. Desgleichen mit den Pflanzen. In den ‚Wohnstuben der Gläubigen’, den Gemeindezentren der Nachkriegszeit, haben sie ihren Platz. [...] In einem Sakralbau haben sie jedoch nichts verloren. Sie stören, weil sie eine Wohnlichkeit suggerieren, die der Bau verweigert“.17 Auch wenn eine funktionale Differenz von Kirchenräumen durchaus bestehen mag, lässt sich dennoch fragen: Was ist der Maßstab von einem ‚richtigen’ Ort, von welchem Wandel ist sie unterzogen? Der zweite Nothelfer gegen das Gebastelte als marginal auszuschließende Form des Ästhetischen ist die oft mächtig ins Feld geführte, ‚richtige’ Form des Ästhetischen, die Kunst. „Kunst kann den Raum wieder zur zweckfreien Zone erklären. [...] Kunst muss gut sein [...]. Dann kann sie sogar ikonoklastische Wirkungen haben“,18 schreibt die Theologin Petra Bahr. Kunst als stimmiges Analogon zur gedachten Nichtdarstellbarkeit des Äußeren und als ästhetischer Produzent von bedeutungsbereiter Stille und Leere. Leere ist ein ästhetisches Narrativ der Beziehung eines nichtdarstellbar großen Äußeren zu 16 Langbein, H., In weiter Ferne so nah oder: Die Religion im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit, in: Kunst und Kirche (2011), Heft 2, 20. 17 Stückelberger, Johannes, in: Bahr, Petra / Stückelberger, Johannes / Kölbl, Alois, Schöner Wohnen, in: Kunst und Kirche (2011), Heft 2, 41. 18 Bahr, Petra, in: Dies. / Stückelberger, Johannes / Kölbl, Alois, Schöner Wohnen, in: Kunst und Kirche (2011), Heft 2, 40.

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einem Inneren und wurde in der Moderne mit Bildfiguren von menschenleeren Räumen wie Wüsten, Meeresküsten oder Berggipfeln bis hin zu Bildfiguren der Abstraktion und Gegenstandlosigkeit besetzt. Die Leere ist zum Ideal moderner Kirchenräume geworden, um mit dem Kunsttheoretiker Gilbert-Rolfe zu sprechen „den Schrecken, die Leere, das Grenzenlose [...], das was das Menschliche begleitet“19 als dichten Raum des Schweigens ästhetisch zu bedeuten – und doch war die „Leere immer auch ein Zeichen der Macht“20 oder Mächtigkeit. Die Macht über die Sprache, die Zeichen, das Gesagte, in der Basteleien und Blümchen nur als Gestammel und Geplapper wahrgenommen werden. Die einem Erzengel gleich niederfahrende und apriori als ‚richtig’ angenommene Kunst ist jedoch nicht voraussetzungslos und frei, denn sie ist auch ein gesellschaftlich repräsentatives System von Zeigen und Nichtzeigen, ästhetischen und sozialen Seh- und Handlungsweisen, Hierarchien von Genres und Gattungen, Formen von Urteilen, Behältnis von Wissen, etc. Von daher gilt es mit zu bedenken, dass Kunst in der modernen Epoche selbst zu einer Sinnstiftung mit auratischer, stellenweise quasireligiöser Dimension transformiert wurde, das heißt das Verhältnis von Kirche und Kunst einem wechselseitigen De- und Resakralisierungsprozess unterzogen wurde. Man kann bezweifeln, dass Kunst als für bar genommener Ikonoklasmus das Phänomen der Verwohnzimmerung zum Verschwinden bringen könne. Zudem ist die in Kirchen oft anzutreffende, zu einem beliebigen Abstraktionismus verwandelte Kunst kein Garant für Meditatives und Spirituelles und wie oben gezeigt, beinhaltet die historische und zeitgenössische künstlerische Ausstattung von Kirchen keineswegs nur qualitativ hervorragende Kunst. Die Aufteilung zwischen ‚unangemessener’ Laienkunst und ‚angemessener’ Kunstkunst wird die Problematik also allenfalls verlagern und das alleinige Delegieren an die künstlerischen Professionalisten und Professionalistinnen tilgt ungerechtfertigt ästhetische Praktiken von Laien und Laiinnen, die sich letztendlich auch nie ohne Zustimmung von Pfarrern und Pfarrerinnen im Kirchenraum niederlassen können. 19 Gilbert-Rolfe, Jeremy, Das Schöne und Erhabene von heute, Berlin 1996, 64. 20 Gilbert-Rolfe, Das Schöne, 72.

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Raum-Ver-Handeln Die Verwohnzimmerung als „kein Konzept kirchlichen Handelns“21 zu bewerten, wird wenig nützen. Anstelle die ‚Verwohnzimmerung’ zu denunzieren, gilt es vielmehr, einen Raum des Aushandelns zu erkunden. Das kann von partizipativen Verfahren zum Beispiel der ästhetischen Bildung über eine offene Akzeptanz bis zum Einlass des Alltäglichen, seiner Freuden und Verwüstungen reichen. So machen beispielsweise die im Untergeschoß der Kirche SS. Cosma e Damiano in Ravello verwahrten Beinschienen, Körperkorsetts, Prothesen und Krücken von Geheilten in ihrer Versammlung die christlichen Begründungen in Leid, Mitleid und Leidüberwindung deutlicher als ihre ekklesiologisch gezähmten Übersetzungen: in Metall gestanzte Votivbleche in Form von Körperteilen (Abb. 6). Die geschlitzten und aufgebrochenen Leibwickel könnten als Hieroglyphen des äußersten Alltags im Kirchenraum einen lebendigen und verstörenden Dialog mit dem sakral Äußersten eingehen. Es gilt also, das Nichtstimmige zu hören und zu ermöglichen, sei es von Künstlern und Künstlerinnen oder von Gläubigen formuliert – und es gilt vor allem, so Michel de Certeau, „das Fundamentale nicht vom Unwichtigen zu trennen.“22 Und eine Auseinandersetzung mit der Verwohnzimmerung zu suchen: Welche Erfahrung ar-

Abb. 6: Votivbleche, Teano, Votivtafelverkaufsstelle an der Kathedrale San Clemente, Aufnahme 2009. Foto: Irene Nierhaus 21 Huber, Du stellst unsere Füße, 13. Huber bewertet die ‚Verwohnzimmerung’ als mentale „Gefangenschaft“, die den Glauben privatisiere, ein „unter uns bleiben“ produziere und sich damit einer Erneuerung verschließe. 22 In Zusammenhang der Formierung von mystischen Diskursen: De Certeau, Michel, Mystische Fabel. 16. bis 17. Jahrhundert, Berlin 2010, 20.

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tikuliert sie? Welche Form der Teilhabe ist sie? Welche Stimme spricht darin und welche ist darin verstummt? Welche Vorstellungen des Schönen sind darin enthalten? Warum kommt sie in selbstminimierenden Gesten daher? Und, und. Ästhetische Eingriffe sind gemäß dem Soziologen Hartmut Rosa „resonante Objektbeziehungen“, „die alltägliche Beziehungsweisen, das heißt als auch im Alltag mögliche Formen der dinglich vermittelten Weltbeziehung“23 darstellen, wie generell „die Schmuck­ erfahrung einer ‚Zwischensphäre’ zuzurechnen“ ist, in der sich nach dem Philosophen Bernhard Waldenfels „das ‚Wie’ der Erfahrung artikuliert“.24 Also nach dem Wie der Erfahrung fragen, denn das Schönmachen, das niedlich Gebastelte kann mehrere, verschiedene und sich durchaus auch widersprechende Dimensionen haben. So können ästhetische Praktiken apotropäische Funktionen haben, die den Schrecken abwenden, die Trauer über ein entgangenes oder als misslungen verstandenes Leben, das Versagen und Verzweifeln verschließen und ein Sich-Darüber-Erheben-Wollen ermöglichen sollen. Oder sie können auch schlicht eine schöne Gabe als Mitwirkung am Heilen darstellen. Identifikationsprozesse zwischen Subjekt, Kirche und Glauben folgen keiner linear kausalen Ordnung, sie sind partial, eventuell asynchron und können in verschiedenen Etappen verlaufen. Das folgende Beispiel der Prozession als einer vielschichtigen Inszenierung vermittelt etwas von der Beziehung zwischen Subjekt und religiösen Vorgängen als komplexes Gefüge: Sie erschöpfen „sich keineswegs in einer mimetischen Darstellung des biblisch Überlieferten [...]. Vielmehr schaffen sie im Zusammenspiel von schreitender Bewegung und lokalen Haltepunkten, von Bildgebrauch und Gesang, eine Form zitierender Rollenidentifikation, die gerade darin die Prozessionsteilnehmer zu Zeitgenossen des Heils machen, das in seiner Vollendung noch aussteht, aber im rituellen Begehen schon antizipiert wird.“25 In einem solchen Handlungsraum ‚Kirche’ sind ästhetische Laienpraktiken keine verkehrte Konkurrenz der Äußerung oder 23 Rosa, Hartmut, Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, Berlin 2016, 389. 24 Waldenfels, Bernhard, Schmuck und Glanz, in: Kunst und Kirche (2011), Heft 2, 8. 25 Bärsch, Jürgen, Spätmittelalterliche Prozessionen als anamnetische Figuren. Liturgiewissenschaftliche Beobachtungen zur Lichterprozession am Fest Purificatio Mariae (2.Februar), in: Kritische Berichte. Zeitschrift Für Kunst- und Kulturwissenschaften (2017), Heft 3, Jahrgang 45, 2017, 21– 30, 27.

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keine zu marginalisierende Störung der kirchlichen und ästhetischen Deutungshoheit des Glaubens. Vielmehr ist die Heterogenität von verschiedenen Lebenszusammenhängen, innerhalb derer die Kirchen agieren, deutlich zu machen, Differenz auszuhalten, der Raum zwischen Konflikt und Akzeptanz aushandelnd zu nützen, die Neuaufteilung von einem orthodoxen in einen heterodoxen Raum weiterzutreiben und herkömmliche Grenzen und Rangordnungen zur Disposition zu stellen.

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„Weg ist weg“. Was bleibt, wenn Kirche geht Karin Berkemann

Es muss gut zehn Jahre her sein, zu einer Zeit, als eine geschlossene Kirche noch als Ausnahme galt. Ich erinnere nicht mehr den Namen des Bauwerks, aber es lag im Eichsfeld, war katholisch und irgendwie neugotisch. Diese Kirche wollten wir mit Kolleg*innen und Studierenden der Theologie und Architektur wiederbeleben – für ein Wochenende. Auf dem Programm standen Übungen im stillgelegten Gottesdienstraum, über dessen Form, Geschichte und mögliche (Neu-)Gestaltung. Die Menschen vor Ort halfen, wo sie konnten: Die Freiwillige Feuerwehr stellte Scheinwerfer, damit wir auch abends arbeiten konnten. Manche fegten und putzten den lange verschlossenen Raum. Andere brachten Blumen, damit es nicht gar so trostlos aussah. Mit einem Mal stand da eine Marienfigur, dann ein Leuchter, ein paar Stühle, zuletzt ein ganzer Nebenaltar. Alles Dinge, die früher zu dieser Kirche gehört hatten. Ausstattungsstücke, die von Privatleuten vor dem Container oder vor eBay bewahrt worden waren, aufgehoben für bessere Zeiten. Am Ende des Seminars feierten wir gemeinsam Gottesdienst in einer Kirche, die aussah, als wäre sie nie geschlossen gewesen.

Kirchenschlaf 2.0 Wie es weiterging mit unserem ‚Eichsfelder Dornröschen’, konnte ich nicht verfolgen. Vielleicht haben wir dort etwas Neues angestoßen. Vielleicht waren wir nur eine kurze Schlafstörung für ein liebenswertes Bauwerk, das hoffentlich noch aufrecht steht. Doch machen wir uns nichts vor, Erweckungserlebnisse wie die-

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se dürften die Ausnahme bleiben. Eine zweite Chance ist selten geworden für Gottesdiensträume. Längst lassen sich die Krisenmomente1 bei den beiden großen christlichen Konfessionen nicht mehr leugnen: weniger Mitglieder, weniger Personal, weniger Geld, weniger Ansehen. Und wenn Kirche sparen muss, trifft das – auch – die Gebäude. Zuerst werden die nicht liturgisch genutzten Liegenschaften auf die Streichliste gesetzt, darunter Wohn- und Pfarrhäuser. Kommen später die Gottesdiensträume an die Reihe, finden sich darunter eher nicht ‚sakral‘ ausgezeichnete Gemeinde- und Pfarrzentren – ohne Turm sinken ihre Überlebenschancen rapide. Am leichtesten trennen sich die Gemeinden von modernen Bauten. In der Regel werden hohe Unterhaltskosten und mangelnder Brandschutz angeführt. Häufig steht dahinter der Sanierungsstau vieler Jahrzehnte. Hier wäre mehr möglich, lernen wir doch mit jedem Monat mehr über die Chancen einer fachgerechten Restaurierung nachkriegsmoderner Beton- oder Kunststoffoberflächen.2 Unausgesprochen schwingen bei der Auswahl aufzugebender Kirchen immer auch zeitgebundene Schönheitsvorstellungen mit. Längst wissen die meisten Fachleute um den Wert des baukulturellen Erbes der Nachkriegsjahrzehnte. Erfolgreich haben Ausstellungen wie „SOSBrutalismus“3 schon bei einer breiteren Öffentlichkeit für das Thema geworben. Doch bei einzelnen kirchlichen Gremien und lokalen Presseorganen grassiert weiterhin das Schreckensbild vom ‚hässlichen’ Betonbau.

Erinnerungen heften sich an Dinge Wird eine Kirche gleich welchen Alters profaniert beziehungsweise entwidmet, sind – je nach Konfession und Region abwei-

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Zur aktuellen Kirchenstatistik der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und der Deutschen Bischofskonferenz (DBK) vgl. u.  a. https://archiv.ekd.de/statistik/ [Stand: 22.7.18] und https://dbk.de/fileadmin/redaktion/diverse_downloads/presse_2018/2018116a-Flyer-Eckdaten-Kirchenstatistik-2017.pdf [Stand: 22.7.18]. Vgl. u. a. Hassler, Uta (Hg.), Vom Baustoff zum Bauprodukt. Ausbaumaterialien in der Schweiz 1950  –1970, München 2018; Erne, Thomas, Beton. Idee und Material im Kirchenbau (KBI 05), Marburg 2014. Vgl. SOS Brutalismus. Eine internationale Bestandsaufnahme (Katalog zur Ausstellung, Deutsches Architekturmuseum, Frankfurt am Main, 9.11.2017– 2.4.2018, ein gemeinsames Projekt des Deutschen Architekturmuseums und der Wüstenrot Stiftung), hg. von Oliver Elser, Philipp Kurz u. Peter Cachola Schmal, Zürich 2017.

„Weg ist weg“ | Karin Berkemann

chende – liturgische und rechtliche Handlungen nötig.4 Gemeindeglieder, Gäste und nicht zuletzt die anwesende Presse erwarten darüber hinaus eine Zeichenhandlung. Da werden der Grundstein und das Abendmahlsgerät herausgetragen, die Glocke geborgen, die Fenster magaziniert und, als beliebtes Fotomotiv, die Schlüssel im Schloss umgedreht. Der Erinnerungswert, manche sprechen gar von Heiligkeit, scheint sich an Dinge zu heften. Diese zu entfernen oder im besten Fall in gute Hände abzugeben, gehört mit zur Aufgabe einer Kirche. Je jünger das Bauwerk, desto frischer ist die Erinnerung, die sich mit dem Bau verbindet. So leicht es dem Kollektiv zu fallen scheint, moderne Gottesdiensträume abzustoßen, um so viel schwerer wiegt eine solche Entscheidung für die individuellen Gemeindeglieder. Schließlich geht es um ihre Kirche, bei deren Entstehung sie selbst oder ihre (Groß-)Eltern mitdiskutiert, mitgeholfen und mitbezahlt haben. Dass dieses Generationenwerk keinen Bestand haben soll, das rührt an die Grundfesten. Dem entspricht die Erfahrung der virtuellen Karte invisibilis5, mit dem das Online-Magazin moderneREGIONAL seit zwei Jahren geschlossene, umgenutzte oder abgerissene Kirchen der letzten rund 150 Jahre sichtbar macht. Das Projekt vernetzt das Basiswissen seiner Leser*innen: Viele der Zusendungen, Hinweise und Kommentare kommen gerade von der Erbauergeneration. Da ist die Kirche, die der eigene Vater entworfen hat – und bei deren Abwicklung man jetzt Zeugin respektive Zeuge sein muss.

Kirchturmdenken Über den drohenden Verlust der Erlöserkirche im sauerländischen Arnsberg etwa wurde invisibilis informiert durch den Enkel des Architekten Walter Kuschel. Nach dessen Plänen entstand 1967 ein zeltförmiger Bau mit einer abstrakten Glasgestaltung von Hans Kaiser. Die geschlossene Erlöserkirche wird 4

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Vgl. u. a. Schmitz, Oliver, Die Profanierung von Kirchengebäuden aus kirchenrechtlicher und liturgischer Sicht. „Denn der Ort, wo du stehst, ist kein heiliger Boden mehr“, München 2015. Http://www.moderne-regional.de/invisibilis [Stand: 22.7.18]. Bei diesem Projekt kooperiert das Online-Magazin moderneREGIONAL mit Brutalisten im Rheinland, Marlowes, urbanophil und ostmodern.org. Zu allen folgenden Detailangaben zu einzelnen Kirchen­ beispielen vgl. ebenfalls „invisibilis“ und die hier jeweils genannten Quellen.

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Abb. 1: Arnsberg, Erlöserkirche. Turmaufrichtung um 1967; Nachlass Wyland Kuschel

auf Abriss hin diskutiert. Für invisibilis erhielten wir aktuelle Aufnahmen eines letzten Besuchs des Enkels vor Ort. Aber auch Fotos der Bauzeit, darunter die zeichenhafte Aufrichtung des vormontierten Glockenträgers. Hier – wie in vielen anderen invisibilis-Beispielen – hängt die Identität, hängt der ‚sakrale’ wie städtebauliche Wiedererkennungswert am Turm. Nicht selten wird daher auch der Nutzungswandel am Glockenturm sichtbar gemacht. Als man etwa 2008 die Lübecker Lazaruskirche (1968) entwidmet hatte, fiel kurz darauf der Glockenträger – damit war der Weg frei für die neue profane Funktion als Orgelbauwerkstatt. Fast scheint es, als würden Kirchen durch den Abriss ihres Turms neutralisiert. Andersherum gedacht, kann er sinnfällig die Erinnerung bewahren: Der Glockenträger der abgerissenen Düsseldorfer Kirche St. Konrad (1970) beispielsweise wurde wiederverwendet. Ein Kranwagen brachte die Konstruktion 2006 ein paar Straßen weiter zu St. Maria vom Frieden (1975). Im Fall der Fälle hat ein Turm auch allein genug Zeichenwert: In Ludwigshafen war nach dem Krieg von

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einer neugotischen Kirche nur der Lutherturm geblieben. Seit 2000 birgt er zugleich ein Restaurant und das Büro der Citypfarrstelle.

Hauptsache, was Soziales Für viele kirchliche Gremien ist es erklärtes Ziel, am ehemaligen Kirchenstandort zumindest eine kirchennahe, gegebenenfalls eine diakonisch-karitative Nutzung zu etablieren. Gerne gibt man den Raum an eine andere christliche Gemeinschaft. Der Weg von der Kirche zur Synagoge, wie bei der Kreuzkapelle (1911) in Köln-Riehl, oder zur Moschee, wie bei der Kapernaumkirche (1961) in Hamburg-Horn, bleibt bislang die Ausnahme. Dem gegenüber ist ein Kindergarten eine sehr beliebte Lösung. Leider vollzieht sich dieser Wandel nicht immer auf so hohem Niveau wie bei der Bethlehemkirche (1959) in Hamburg-Eimsbüttel oder bei Christkönig (1968) in Saarlouis. Quasi als Gegenpol war in den vergangenen Jahren eine – langsam ihren Sätti-

Abb. 2: Hamburg-Horn; ehemalige Kapernaumkirche, 1961, Otto Kindt; im Umbau zur Mosche; Karin Berkemann, 2016

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gungsgrad erreichende – Welle an Kolumbarien zu verzeichnen. Kleinere Dorfkirchen werden eher unspektakulär an den örtlichen Bestatter veräußert. Glamourösere Umnutzungen etwa zum gehobenen Restaurant treffen gerade noch die neugotischen unter den jüngeren Kirchen. Eines der bekanntesten Beispiele ist die ehemalige Bielefelder Martinikirche (1898) mit dem neuen werbewirksamen Namen „Glück und Seligkeit“. Für bescheidenere Kirchsäle und Gemeindehäuser bleiben eher bodenständige Lösungen wie Künstleratelier, Ballettstudio, Architektenbüro – oder Ferienwohnung. Denn das Wohnen unter dem Kreuzrippengewölbe und hinter den bunten Fenstern einer ehemaligen Kirche hat seine Liebhaber*innen gefunden. Hier ist der ehemalige Dachreiter oder Turm durchaus beliebt. Ob sich solche Beispiele rechnen, sei dahingestellt. Aber die sichtbar gemachte Umwandlung brutalistischer Kirchen wie St. Elisabeth (1965) in Freiburg zum Wohnhaus kann für manche Gebäude die letzte Rettung sein.

Die Macht der Bilder Solche Beispiele sollen nicht darüber hinwegtäuschen, dass viele Käufer*innen und Investor*innen eine ehemalige Kirche nur allzu gerne niederlegen und neu anfangen. Die Mehrzahl der bei invisibilis gelisteten Abrisse erfolgte ganz marktwirtschaftlich für Wohnbauten. Doch es gibt auch die weniger merkantilen Fälle: Die Kapelle Häsen im Löwenberger Land stand vor 1945 in Grüneberg, einem Außenlager des KZ Ravensbrück. Über Umwege kam die Baracke an einen neuen Standort und in liturgische Nutzung. Als diese 2013 beendet wurde, verfrachtete man den fliegenden Holzbau nach Teltow – als Übergangslösung für die in Renovierung befindliche Friedhofskapelle. Langfristig soll die Kirchenbaracke in Teltow als Ort für kulturelle Veranstaltungen erhalten bleiben. Hier zählt weniger der Nutzwert als vielmehr die dahinterstehende Geschichte, das architektonische Bild. Wo die baulichen Hinterlassenschaften einer ehemaligen Kirche nicht mehr auszumachen sind, wird es oft schwer, noch etwas über das betreffende Bauwerk zu erfahren. Zunächst muss man wissen, was genau man sucht – und dann häufig detektivische Beharrlichkeit mitbringen. Denn mit dem Verlust der

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liturgischen Nutzung verschwindet oft der Name, ja die ganze Geschichte der ehemaligen Kirche aus dem Internet. Als Gegenbewegung gibt es virtuelle Gemeinschaften, die sich speziell für solche ‚lost places’, für aufgegebene Orte interessieren. Die mit der Handykamera durch verlassene Bauten und Ruinen laufen. Oder Liebhaber*innen der retrogetränkten Betonbilder wie die fast 60.000 Mitglieder fassende Facebook-Gruppe „The Brutalism Appreciation Society“6. Kirchen laufen hier und an anderen virtuellen Orten gerne sonntags als „Holy Concrete“ oder „Sacre Brut“ über den Schirm.7

Eine kurze Ewigkeit lang Nicht nur das Netz, auch das Bauwesen ist schnelllebiger geworden. Bei Kirchen, die scheinbar für die Ewigkeit errichtet wurden, sticht dieser Wandel besonders ins Auge. Inzwischen sind selbst ‚minderjährige’ Standorte vom Abriss betroffen, so St. Johannes Baptist (2002) in Leopoldshöhe. Auch hochgelobte Nachnutzungen respektabler Kirchbauikonen laufen schneller ab, als die Denkmalschützerin „Interim“ sagen kann. In Oberhausen etwa galt die karitative „Tafel“ in der von Rudolf Schwarz und Josef Bernard entworfenen Heiligen Familie (1958) gut zehn Jahre lang als Vorzeigebeispiel. Doch 2018 denkt die Gemeinde laut darüber nach, die Kirche mittelfristig zu verkaufen und die „Tafel“ dann stattdessen in eine ihrer anderen Standorte verlegen. Anderseits kann aus einer jahrelangen Ruhephase auch neue Hoffnung entstehen. In Frankfurt am Main kämpfen die Modernisten seit Jahren, fast kann man sagen seit Jahrzehnten, um den Erhalt des Evangelisch-Reformierten Gemeindezentrums – 1970 von den Architekten Walter Sittmann und Tassilo Sittmann entworfen für die deutsch-reformierten Christen in der Nordweststadt. Der Standort wurde aufgegeben, die Investor*innen kamen und gingen, rissen Nebenbauten ab, errichteten Wohnungen und versprachen eine Renovierung. Jetzt, end6 7

https://www.facebook.com/groups/2256189436/ [Stand: 23.7.18]. Vgl. ebenso Formate mit detaillierter angelegten Kirchenporträts wie die „Straße der Moderne“ des Deutschen Liturgischen Instituts: http://www.strasse-der-moderne.de [Stand: 23.7.18].

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Abb. 3: Frankfurt-Niederursel, Evangelisch-Reformiertes Gemeindezentrum, Baustelle; Karin Berkemann, 2015

lich, stehen wieder Gerüste am verschieferten Kirchenkubus, um aus der Predigtstätte ein Kultur- und Sozialzentrum zu machen.

Viel Kult um nichts? Bei so vielen Diskussionen und Mühen um die Zukunft moderner Kirchen drängt sich die Frage auf, ob der ganze Aufwand lohnt. Bauwesen und Denkmalpflege sind immer auch ein Spiegel ihrer Zeiten. Inzwischen heften sich Erinnerungen mindestens ebenso eindringlich an Rathäuser, Schulen, Werksgebäude oder Freibäder. Sprechen wir mit Augustin von der ecclesia visibilis, von der verfassten Kirche, dürfte diese in einer säkularen Gesellschaft konsequenterweise keine anderen Rechte beanspruchen als ein Kleintierzüchterverein. Was einen ehemaligen Kirchenbau vom ‚Profanen’ abhebt, ist vielleicht noch der lebensumspannende Anspruch: Hier trafen sich die Menschen regelmäßig zum Gottesdienst, hier wurde von der Wiege bis zur Bahre zu jedem wichtigen biografischen Schritt eine liturgische oder sakramentale Feier angeboten. Weitere Attribute von ‚auratisch’ bis ‚heilig’ mögen kirchenintern existenziell sein, aber eben nur dort.

„Weg ist weg“ | Karin Berkemann

Und noch eines zuletzt: In der Rückschau, in der Forschung, erschließt sich die wahre Schönheit, die wahre Bedeutung einer Böhm- oder Bartning-Kirche erst im Vergleich mit den nicht minder schätzenswerten „normalen“ Kirchen jener Jahre. Eine Binsenweisheit, die der Denkmalpflege spätestens seit dem Ende des 20. Jahrhunderts vertraut ist: Unsere Vergangenheit ist an Burgen und Kirchen ebenso ablesbar wie an Fachwerk- und Tagelöhnerhäusern. Entsprechend wurde Kirchbaugeschichte nicht nur in Hochglanzarchitekturmagazinen geschrieben, sie fand ebenso – und wahrscheinlich mehrheitlich – in der Fläche, im Alltag statt. Dann hieße die Konsequenz: Hören wir auf, Inkunabeln gegen vermeintlich graue Mäuse auszuspielen. Konkurrieren wir nicht länger mit anderen gesellschaftlichen Gruppierungen um die Deutungshoheit. Sorgen wir lieber dafür, dass aus bedrohten Erinnerungsräumen neue Gemeinschaftsräume werden. Davon haben wir alle etwas.

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Aurora – Aurum – Aura Georg Maria Roers SJ

Was macht Sakralräume beziehungsweise Kulträume aus? Steht nicht eine Verwohnzimmerungsdebatte an, wie sie Prof. Dr. Irene Nierhaus in ihrem Beitrag des Sammelbandes angeregt hat? In diesem Zusammenhang habe ich mich gefragt, wie die ersten Kulträume wohl ausgesehen haben mögen. Das möchte ich anhand der drei Leitmotive durchspielen: Aurora – Aurum – Aura. Zunächst kommt die Selbstmitteilung Gottes gut ohne Sakralräume aus. Mit der Zeit wird der erste Tempel in Jerusalem gebaut. Die sogenannten Heiligtumstexte im Ersten Testament schaffen ein Bewusstsein dafür, wie der erste Kultort der Juden aussah und in welchem kulturellen Kontext er entstanden ist. In einem zweiten Schritt geht es darum, wie der Glanz Gottes in Werken der Barmherzigkeit aufscheint. Das sollte zentrales Thema der frühen Christenheit sein. Aber auch hier entstehen bald prachtvolle Kirchen. Braucht es diese? In einem dritten Schritt möchte ich den Begriff der Aura einführen. Am Ende wird hoffentlich deutlich werden, dass weder Gold oder Aura, noch die Kunst es alleine vermögen, einen Kirchenraum zu prägen. Alles fließt in die Einheit liturgischer Vollzüge, um den Glauben der Menschen zu stärken, die darin beten und diejenigen zum Staunen zu bringen, die ihn betreten. In der Bibel begegnet uns das Gold vor allem beim König von Israel. Aber nicht nur Salomo und seinem Reich verlieh das Gold göttlichen Glanz, sondern auch allen theophanen orientalischen Herrschern wie z. B. Artaxerxes, in dessen Palast Ester Königin wird (Ester 1,1– 2,23).

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Von der Aurora zum Aurum Im Ersten Testament ist der Ort der Gottesbegegnung für Adam und Eva zunächst der Garten Eden mit dem Baum der Erkenntnis in der Mitte. Für Abraham sind es die drei Männer, die er bei den Eichen von Mamre trifft (Genesis 18). Vier Kapitel weiter baut Abraham einen Altar, um auf außergewöhnliche Weise zu erfahren, dass Gott letztlich barmherzig handelt. Jahwe hatte ihn, nicht Isaak, auf die Probe gestellt, nachdem Abraham in der Morgenröte1 aufgebrochen war. Er wurde geläutert und war ehrfürchtiger geworden. Die Gottesfurcht schlug in Vertrauen zu Gott um. Viel später vergleicht der Prophet Ezechiel den Menschen beziehungsweise das Volk Israel, das Gottesvolk, mit Bäumen, die auf Gott vertrauen sollen (Ezechiel 17,22 – 24). Der Kreis schließt sich im neuen Bund. Jesus selbst wurde ans Kreuz geheftet, das zum Lebensbaum wurde, weil er die Sünden der Welt auf sich nahm. Auf Schöpfung folgt Sündenfall, auf Gottesbegegnung bei Mamre das Gericht über Sodom und Gomorra, auf die Kreuzigung Jesu die christliche Heilsgeschichte. Heiliger Raum befindet sich dort, wo Gott dem Menschen begegnet. Im Buch Exodus werden die Vorschriften für den Kult spezifischer (Exodus 29,38  – 30,38). Auf dem Altar soll ein immerwährendes Brandopfer brennen: „Aaron soll auf ihm Morgen für Morgen duftendes Räucherwerk verbrennen“ (Exodus 30,7). In den Heiligtumstexten kommen im Gottesdienst, so der Alttestamentler Dominik Markl, „drei Dimensionen Israels gemeinsam symbolisch zur Geltung: Als Söhne Israels sind sie durch zwölf Edelsteine als Gottes Schatz (19,5) am hohepriesterlichen Gewand repräsentiert, und bei der Prozession des Hohepriesters ins Heiligtum ( ‚...’ 28,29) zeigt sich ihre Bestimmung als heilige Nation (19,6 ‚...’ ).“2 Hier wird deutlich, der wahre Schmuck, das eigentliche Gold, das Gott zur Zierde gereichen soll ist das Volk Israel selbst. Im Licht der Aurora, der Morgenröte beginnt der erste Gottesdienst. „Herr, am Morgen hörst du mein Rufen, am Morgen rüst’ ich das Opfer zu, halte Ausschau nach dir“ (Psalm 1

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„Aurora, quia aurum in ore,“ haben Generationen von Lateinschülern gelernt. Morgenstund hat Gold im Mund, ist ein Einfall eines Schulmeisters aus dem Jahre 1570. Siehe: Seiler, Friedrich, Deutsche Sprichwörterkunde, Barsinghausen 2011, 24. Markl, Dominik, Zur literarischen und theologischen Funktion der Heiligtumstexte im Buch Exodus, in: Hopf, M. / Oswald, W. / Seiler, S. (Hg.), Heiliger Raum. Exegese und Rezep-

Aurora – Aurum – Aura | Georg Maria Roers SJ

5,4). Das ist bis heute in den Synagogen, Moscheen, Kirchen und Klöstern dieser Welt der Fall. Aus der ‚Aurora’ wird im ersten Tempel von Jerusalem das ‚Aurum’. Eine lange Geschichte beginnt. Das Material Gold kommt schon im Offenbarungszelt vor, wo die Bundeslade des Volkes Israel aufbewahrt wird. Die Leuchter sind hier aus reinem Gold3 (Exodus 25,31) – und das gilt bis in unsere Zeit, so zum Beispiel in der Ohel-Jakob-Synagoge in München (Architekturbüro Wandel Höfer Lorch). Auch hier gibt es dezidiert goldene Elemente, seien es die beiden siebenarmigen Leuchter, der Thoraschrein und hebräische Zitate an den aus Holz getäfelten Wänden. Nicht das (wenige) Gold, sondern die hohe Qualität der Architektur bedingt hier die hohe Wertigkeit des Raumes: „Die ausdrucksstarke Architektur der Synagoge wird geprägt durch zwei aufeinander gestellte Kuben: ein massiver Felssockel unter einem filigranen, gläsernen Aufbau, den ein bronzefarbener Metallschleier umhüllt. Dieses Wechselspiel aus Stabilität und Fragilität, Dauerhaftigkeit und Provisorium ist eine eindrucksvolle bauliche Metapher für die jüdischen Leitmotive Tempel und Zelt.“4

Man könnte sagen das Ewige, das Statische sei im Synagogenbau ausgeformt und es verbindet sich mit dem Dynamischen, beweglichen und schnell errichteten Offenbarungszeit der Nomaden, des Volkes Israel. Es zieht von Anfang an damit durch die Wüste. Im Laufe der Geschichte sind die Juden mehrmals um die Welt gereist, um neue Orte zu (er-)finden, wo sie ihre Traditionen pflegen können, ohne die Angst vor Vertreibung.

Gold und göttlicher Glanz Um dem Ewigen einen göttlichen Glanz zu geben, kommt in der Architektur von Anfang an das Material Gold ins Spiel. Das



tion der Heiligtumstexte in Ex 24  –  40. Beiträge des Symposiums zu Ehren von Helmut Utzschneider, 27.–29. Juni 2014 (Theologische Akzente 8), Stuttgart 2016, 64 f. 3 Fischer, G. / Markl, D., Das Buch Exodus (Neuer Stuttgarter Kommentar. Altes Testament 2), Stuttgart 2009, 293. 4 Israelitische Kultusgemeinde (IKG), www.ikg-m.de/juedisches-zentrum/synagogenfuhrungen/neue-hauptsynagoge/, [Stand: 21.6.2018].

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gilt für fast alle Kulturen, vom ersten buddhistischen Tempel bis zum Inkareich der Azteken. Schon im 2. Jahrhundert vor Christus finden wir bei den ersten Taoisten in China Hinweise aus der Alchemie auf eine gedankliche Verknüpfung der Verwandlung von Gold aus anderen Metallen und der Verheißung auf ein langes Leben, was letztlich auf die Unsterblichkeit hindeutet: „Die Goldsuche implizierte auch ein Suchen spiritueller Art. Das Gold hatte imperialen Charakter: es befand sich am ‚Mittelpunkt der Erde’ und stand in mystischer Beziehung zum chüeh (Realgar oder Schwefel), dem gelben Quecksilber und dem Zukünftigen Leben (den ‚Gelben Quellen’).“5 Die archaische Suche nach Gold wird in der hellenistischen Kultur mit einer neuen Lehre verbunden. Diese findet sich u. a. bei Platon in der Politeia (614c – d) und wird als eine Art neue Eschatologie auf Goldblätter geschrieben, die sich in Süditalien und auf Kreta fanden. Hier heißt es, dass es dem Gerechten erlaubt sei, den rechten Weg zu nehmen, während die Sünder auf den linken geschickt werden. Bei Platon sind alle für die Reinkarnation bestimmten Seelen verpflichtet, von der Lethe-Quelle zu trinken, um die Erfahrungen dieser Welt hinter sich zu lassen. Am Ende empfängt die Göttin Persephone die gläubige Seele mit den Worten: „Heil dir, der du ein Leiden durchgemacht hast, das du nie zuvor durchmachtest ... Heil, Heil, Heil dir, nimm den rechten Weg zu den geheiligten Wiesen und dem Wald der Persephone.“6 Durch den Neuplatonismus fand die Philosophie Platons Eingang ins Christentum. Antike Glückskonzeptionen von Platon bis Plotin gehören zum Basiswissen unserer Kultur. Glück war in der Thora u. a. dem Träger oder der Trägerin von Gold von alters her verheißen. Dazu gehörte wie selbstverständlich auch Reichtum. Gold zu tragen war keine Mode, sondern galt eher als ein Zeichen für Gottes Gnade, die dem Herrscher, der Herrscherin sicher zugesagt war. Man umgab sich nicht nur mit Gold, d. h. mit göttlichem Glanz, sondern machte auch gerne Geschenke, überreichte goldene Ketten und Ringe. Man darf dies als Gnadengaben an das Volk verstehen, die 5

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Eliade, Mircea, Geschichte der religiösen Ideen: Von Gautama Buddah bis zu den Anfän­gen des Christentums, Freiburg 1979, Band II, 40 / siehe auch den Abschnitt über die hellenistische Alchemie, 258  – 262. Vgl. Eliade, Geschichte der religiösen Ideen, 168.

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deutlich machten, wie nahe man Gott selbst stand. Andererseits führten Prunk und Ausschweifung der im Luxus schwelgenden Oberschicht dazu, dass in frühen Mythen und schon bei den Philosophen der Antike7 bald die Verführungskraft des Edelmetalls im Zentrum stand. Im Ersten Testament finden sich hunderte von Bibelstellen zum Stichwort Gold. Jeder, der es hatte, verfügte über Macht und war selbstverständlich von Gott gesegnet. Schon der Vater des Glaubens, „Abram, hatte einen sehr ansehnlichen Besitz an Vieh, Silber und Gold“ (Genesis 13,2). Und als der Pharao in Ägypten Josef8 in seine Dienste nahm, schenkte er ihm nicht nur seinen Siegelring, sondern kleidete ihn in prachtvolle Gewänder und „er legte Josef die goldene Kette um den Hals“ (Genesis 41,42). Wer prächtige Goldketten trägt, der hat bis heute die Macht: sei es der Bürgermeister, der Universitätsrektor oder der Rapper auf der Straße. In Ägypten im Reich des Pharaos schaffte Josef es immerhin bis zum Vizekönig. Aber das Volk Israel konnte hier nicht bleiben, da es im Laufe der Generationen immer mehr unterdrückt wurde.

Vom (Opfer-)Kult zur Barmherzigkeit Ob es sich nun um symbolisch bzw. kultisch aufgeladenes Gold handelt, sollte man sich bei jeder einzelnen Bibelstelle fragen. Im Ersten Testament stellt sich die Frage deshalb 389 mal, wie Markl9 feststellt. Vor allem spielt Gold im Heiligtum eine besondere Rolle. Im Zweiten Testament kommt das Wort nur 22 mal vor, insbesondere im Buch der Offenbarung. Am Ende der 7

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Bei Horaz (65 v.Chr. – 8 v.Chr.) heißt es in den Epistulae (1,1,52): „Vilius argentum est auro, virtutibus aurum.“ (Geringer als Gold ist Silber, geringer als die Tugenden das Gold.). Siehe: Seiler, Deutsche Sprichwörterkunde, 24. Die dramatische Geschichte der Söhne Jakobs fasziniert bis heute. Nicht umsonst hat sie Thomas Mann zu seinem vierbändigen Josephsroman angeregt. Man könnte es als eine amerikanische Erfolgsstory verkaufen, vom Bettler zum Millionär. Der Roman erschien zwischen 1933 und 1943. Es war gleichzeitig ein Kommentar zu aktuellen Geschehnissen seiner Zeit. / Mann, Thomas, Joseph und seine Brüder und Kommentar von Assmann, Jan / Borchmeyer, Dieter / Stachorski, Stephan (Hg.) Stellenkommentar zu „Die Geschichten Jaakobs“ und „Der junge Joseph“, Frankfurt 2018. „In der starken Verbindung des Motives des Goldes mit dem Heiligtum zeigt sich die Werthaltung des Alten Testaments, nach der alles materiell Wertvolle in erster Linie Gott zugehört und seiner Verherrlichung dienen soll. Daher wurde es als Katastrophe empfunden, dass die goldenen Geräte des Tempels von den Babyloniern geraubt wurden (2 Kön 24,13; 2 Kön 25,15; Jer 52,19), und als Triumph, dass der Perserkönig Kyros sie wieder zurückgab (Esr 1,7–11; Esr 8,25  – 34).“ Vgl. Markl, Gold, www.bibelwissenschaft.de/ stichwort/19808/ [Stand: 21.6.2018].

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Visionen steht das neue, goldene Jerusalem strahlend da: „Ihre Mauer ist aus Jaspis gebaut, und die Stadt ist aus reinem Gold, wie aus reinem Glas“ (21,18). Vorher im Kapitel sechs lesen wir in dem Buch mit den sieben Siegeln und den sieben Posaunen, wie der apokalyptische Reiter Gericht hält. Auch im Ersten Testament folgt eine harte Zäsur. Der Untergang Jerusalems und die Zerstörung des Tempels (586 v. Chr.) unter Nebukadnezar am Ende des 2. Buchs der Könige war eine Tragödie für das Volk Israel. Später, nach dem Exil in Babylonien, weihten die Judäer ihren zweiten Tempel (515 v. Chr.). Erst in der Zeit der Makedonier (336  –166 v. Chr.) entwickelte sich Jerusalem dann zur Theokratie. Es wundert daher nicht, dass der Hohepriester Simon der Gerechte „vergoldete Gewänder trug, einen schimmernden Brustharnisch und einen kronenähnlichen Turban mit einer goldenen Blume, nezer genannt, dem Symbol des Lebens und der Erlösung, ein Relikt des Kopfschmucks der Könige von Juda.“10 Mittelpunkt des Lebens war damals der Tempel. Ob der Psalmist mit seiner Botschaft allerdings ankam, wissen wir nicht. „Die Urteile des Herrn sind wahr und gerecht, kostbarer als Gold, als Feingold in Menge. Sie sind süßer als Honig, als Honig aus Waben“ (Psalm 19, 10 f.). Die Idee, dass es besser sei, Barmherzigkeit walten zu lassen als Gold anzuhäufen, findet sich schon im Buch Tobit (12,8). Gott hatte ihm in seiner Not den Engel Rafael an die Seite gestellt. Wirklich ausgefaltet wird die Lehre der Barmherzigkeit aber in den Evangelien, wo Gold fast keine Rolle mehr spielt. Jetzt gilt: „Barmherzigkeit will ich, nicht Opfer“ (Matthäus 9,13). Bei der Geburt Jesu bringen die Heiligen Drei Könige zwar noch Gold, Weihrauch und Myrre dar. Im weiteren Verlauf des Lebens Jesu spielt Gold aber keine Rolle mehr, außer in Form von Kritik, die die Leute nicht hören wollen: „So gebt dem Kaiser, was dem Kaiser gehört, und Gott, was Gott gehört! Als sie das hörten, waren sie sehr überrascht, wandten sich um und gingen weg“ (Matthäus 22,21– 22). Die Gleichung Gold, Gott, König gilt nicht mehr. Eine neue Zeit ist mit dem christlichen Abendmahl (Markus 14,17–  25) angebrochen: Jesus Christus selbst ist das

10 Montefiore, Simon Sebag, Jerusalem. Die Biographie, Frankfurt am Main, 2012, 105.

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Lamm Gottes11, das sich hingibt für das Leben der Menschen dieser Welt. Damit gekoppelt ist die Fußwaschung, von der im Johannesevangelium (13,1–7) berichtet wird. Der Bruch mit der jüdischen Tradition kann deutlicher nicht sein.12 Im Kult ist von nun an Gottes- und Nächstenliebe nicht mehr voneinander zu trennen. Aus dem sichtbaren Gold wird nun etwas ‚Goldenes’ im übertragenen Sinne, etwas Geistiges, ein ethischer Kodex, der bereits im Dekalog grundgelegt wurde. Wer nach dem Wort Gottes handelt, tut das Rechte. Aus der goldenen Regel in der Bibel hat Immanuel Kant in seiner Metaphysik der Sitten (1797) in der Aufklärung eine universelle Formel13 gemacht. In der Apostelgeschichte gibt es weitere Bibelstellen, die deutlich machen, dass es im Christentum um eine neue Spiritualität geht. Plötzlich waren Sklaven und Herren, Männer und Frauen, Kinder und Jugendliche zu einer Gemeinde geworden. Im Gottesdienst spielten Standesunterschiede keine Rolle mehr. Vor Gott sind alle Menschen gleich. Es geht nicht um materiellen Reichtum, sondern um ein gottesfürchtiges Leben in der christlichen Gemeinschaft: „Die Gemeinde der Gläubigen waren ein Herz und eine Seele. Keiner nannte etwas von dem, was er hatte, sein Eigentum, sondern sie hatten alles gemeinsam“ (Apg. 4,32). Die Botschaft der jungen Kirche ist unter anderem klar im Brief des Jakobus formuliert (Jakobus 2,1–  4). Man soll den Mann mit „Gold an den Fingern“ 14 gegenüber dem Armen nicht bevorzugen. Gott hat diejenigen, die in der Welt nichts gelten, als Reiche im Glauben auserwählt. Sie, die Armen, sind Erben des himmlischen Königtums – ganz ohne Gold.

11 Nur das Johannesevangelium (1,29) verwendet den Ausdruck „Lamm Gottes“: ὁ ἀμνὸς τοῦ θεοῦ, ho amnos tou theou. 12 Das gilt auch für das Pontifikat von Papst Franziskus, der die Fußwaschung von Gefangenen am Gründonnerstag sehr ernst nimmt. Nicht umsonst heißt der neue Film von Wim Wenders „Papst Franziskus. Ein Mann seines Wortes“ von Mai 2018. Hier erzählt er das Leben des hl. Franziskus parallel zu dem des Papstes. Die Hingabe zur Natur, zu den Menschen, zu Gott ist zentral. 13 „Der kategorische Imperativ ist also nur ein einziger und zwar dieser: handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“ In: Immanuel Kant, Ausgabe der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1900 ff., AA IV, 421. / Die Geschichte der Formel findet sich u. a. in dieser Monographie: Bauschke, Martin, Die goldene Regel, Staunen – Verstehen – Handeln, Berlin 2010. 14 Stier, Fridolin (Übersetzer), Das Neue Testament, München 1989, 494.

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Vom Schein der Malerei bis zur Moderne Als Paulus einmal durch Athen ging, wurde der leicht aufbrausende Mann wütend. Warum? Weil er auf vielen Plätzen Götzenstatuen und -bilder sah. Nicht nur hier, sondern an allen Orten seiner Missionsreisen kam er darüber mit den Menschen ins Gespräch (Apg 17,18  – 24). Letztlich beschäftigt ihn die Frage: Brauchen wir überhaupt Kirchenräume? Wie die Tempel sind sie doch von Menschenhand gemacht. Wenn es nach Paulus geht, müsste es gar keine Synagogen oder Kirchen geben. Die Hauskirchen reichen aus, denn dort versammeln sich die frühen Christen. Das Zweite Vatikanische Konzil hat den Begriff ‚Hauskirche’ auf die Familie beschränkt. In ihr sollen die Eltern „durch Wort und Beispiel für ihre Kinder die ersten Glaubensboten sein“, so heißt es in der dogmatischen Konstitution Lumen Gentium (LG 11). Nach Paulus ist jeder Christ ein Tempel des Heiligen Geistes. Deshalb kann er in der Apostelgeschichte folgern: „Da wir also von Gottes Art sind, dürfen wir nicht meinen, das Göttliche sei wie ein goldenes oder silbernes oder steinernes Gebilde menschlicher Kunst und Erfindung“ (Apg. 17,29). Das Ideal scheinen die protestantischen Kirchen zu sein, wo Gold im Kirchenraum vom Selbstverständnis her nichts zu suchen hat. Schon gar nicht unmittelbar nach der Reformation. Oder? Selbst damals aber hat es Auseinandersetzungen gegeben bis hin zur klassischen Polemik lutherischer Theologen, zum Beispiel „dass die schweizerischen Sakramentierer statt des goldenen Kelches nur Becher aus Holz und statt der Hostien nur gewöhnliches Brot für das Abendmahl verwendet hätten.“15 War nicht ein Grund für die Kirchenspaltung der Prunk in Rom? Katholischerseits kommt das Material Gold jedenfalls besonders in der Katholischen Reform in barocker Pracht nachhaltig zum Vorschein. Wollte man die Gläubigen mit dem Gold der barocken Chorräume vielleicht blenden und zwar auf geradezu magische Weise? Kein römischer Fürst hat in seiner barocken Villa auf Gold verzichtet. Und selbstverständlich war es unter den wichtigsten Familien in Rom standesgemäß, nicht nur einen barocken Palazzo in der

15 Schubert, Anselm, GOTT ESSEN. Eine kulinarische Geschichte des Abendmahls, München 2018, 125.

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Stadt zu bauen, sondern auch ein entsprechendes repräsentatives Kirchengebäude im Zentrum. War das alles Fetisch oder Ausdruck gelebten Glaubens an das Seelenheil? Kehren wir zum Motiv des Goldes zurück. Erst hat die Farbe das Gold ersetzt, dann verschwindet sie selbst, wie es die Kunsthistorikerin Monika Wagner formuliert: „Seit Leon Battista Alberti in seinem 1435/36 verfassten ‚Traktat über die Malerei’ erklärt hatte, ‚den Glanz des Goldes durch Farben nachzuahmen’ sei bewundernswerter als die Verwendung von realem Gold im Bild, wurde der Farbe als Material kein eigener Wert mehr beigemessen. Ihre Aufgabe war es fortan, alle anderen Materialien auf der Bildfläche zu illustrieren.“16 Die Farbe als Material verschwand zugunsten der Darstellung von Gold, Marmor, Inkarnat etc. in der Malerei. Damit setzt eine stoffliche Homogenisierung ein. Der Schein in der Malerei wird zu einer Erfolgsgeschichte bis in die Romantik hinein, vielleicht sogar bis in die Zeit der Expressionisten und Impressionisten. Gold und Marmor verliert damit einen Teil seines Wertes. Der Schein des Goldes wird in der Malerei nur vorgetäuscht. Man muss es nun nicht mehr physisch besitzen, denn man kann es ja malen und – besitzt es so dennoch. Die Gemälde – nicht erst im ‚Goldenen Zeitalter’ – zeigen das sehr anschaulich ganz besonders im religiösen Bild. Durch das Gold im Hintergrund wurde ihre sakrale Aura seit Jahrhunderten verstärkt. Das gilt gleichermaßen für byzantinische Kunst wie auch für Ikonen, selbst für moderne Ikonen wie das Bild Gold Marilyn Monroe17 von Andy Warhol. Das Porträt der berühmtesten Ikone einer Schauspielerin der amerikanischen Popkultur dürfte eines seiner bekanntesten Motive sein. Die Aura der Monroe wurde hier mithilfe des schönen Scheins verewigt. Während Walter Benjamin für den Starkult Hollywoods nichts übrig hatte, machte Warhol Monroe mit seinem Gemälde zu einer Ikone, die bis heute von der modernen Gesellschaft verehrt wird. Auf jeden Fall ist sein Bild nun Teil der Erinnerungskultur, denn er hat ihr nach ihrem Selbstmord einen festen Platz in der Kunst16 Wagner, Monika, Das Material der Kunst. Eine andere Geschichte der Moderne, München 2001, 17. 17 Warhol, Andy, Gold Marilyn Monroe, Silkscreen ink on synthetic polymer paint on canvas, (211.4 x 144.7 cm), 1962 (MoMA).

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geschichte gegeben. Der Künstler greift dafür bewusst auf die traditionelle Form einer Marienikone zurück. Warhol wuchs im griechisch-katholischen Glauben auf und ihm war die Ikonenverehrung18 inhaltlich und formal sehr vertraut. Auf die ‚Sakralisierung des Alltäglichen’ und die ‚Reliquien der Konsumgesellschaft’ im Zusammenhang mit Warhols Gold Marilyn hat schon die Kunsthistorikerin Anne Schloen in ihrer Arbeit über Die Renaissance des Goldes19 hingewiesen. Kann man Andy Warhols Kunstwerke mit dem berühmten Aufsatz von Walter Benjamin analysieren? Was läge näher, als im Werk Warhols’ die Illustration zu diesem Text zu sehen: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Der Künstler hatte im New York der 1960er Jahre in der Tat eine ‚factory’ gegründet, in der tausende von Siebdrucken entstanden. Dennoch gilt: „Offensichtlich reicht die bloße Tatsache, dass Warhol reproduktive Techniken verwendet, als Bewertungsgrundlage für seine Bilder nicht aus.“20 Seine Kunst ist ja insofern ein Original, als er mit seinen Siebdrucken eine alte Technik verwandte, die sich Anfang des 20. Jahrhunderts in den USA stark verbreitet hatte. Obwohl man fast unendlich viele Kopien erstellen kann, bleiben Warhols Siebdrucke Originale. Benjamins These dazu lautete: „Der einzigartige Wert des ‚echten‘ Kunstwerks hat seine Fundierung im Ritual, in dem es seinen originären und ersten Gebrauchswert hatte. Diese mag so vermittelt sein wie sie will, sie ist auch noch in den profansten Formen des Schönheitsdienstes als säkularisiertes Ritual erkennbar.“21

18 Auch Kollegen von Warhol nahmen sein starkes katholisches Glaubensleben wahr. So betonte Bob Colacello, dass Warhols Frömmigkeit „keineswegs aufgesetzt” gewesen sei. Nach der Messe habe er auch den Schrein der Jungfrau von Guadalupe besucht, wie Dillenberger in ihrem Buch Die Religiöse Kunst von Andy Warhol beschreibt. Dillenberger, Jane Daggett, The Religious Art of Andy Warhol, New York 1998. 19 Schloen, Anne, Die Renaissance des Goldes. Gold in der Kunst des 20. Jahrhunderts, Köln 2006, 66. 20 Lüthy, Michael, Andy Warhol. Thirty Are Better Than One, Frankfurt, 1995. 21 Benjamin, Walter, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (in der Fassung von 1939), Kommentar Detlev Schöttker, Berlin 2015, 18. In der Fußnote heißt es hier unter 7: „Die Definition der Aura als ‚einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag‘, stellt nichts anderes dar als die Formulierung des Kultwerts des Kunstwerks in Kategorien der raum-zeitlichen Wahrnehmung. Ferne ist das Gegenteil von Nähe. Das wesentlich Ferne ist das Unnahbare. In der Tat ist Unnahbarkeit eine Hauptqualität des Kultbildes. Es bleibt seiner Natur nach ‚Ferne so nah es sein mag‘. Die Nähe, die man seiner Materie abzugewinnen vermag, tut der Ferne nicht Abbruch, die es nach seiner Erscheinung bewahrt.“

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Von der Aura in der Kunst Einerseits trifft der Schluss dieser These auf Warhols Gold Marilyn Monroe in exemplarischer Weise zu, weil es sich hier um eine Ikone des 20. Jahrhunderts handelt. Andererseits wird die These quasi unterlaufen,22 weil die Frage nach Original und Fälschung im 21. Jahrhundert sehr viel komplexer geworden ist. Mit anderen Worten: „Die Grundlage von Benjamins Argumentation bildet der Gegensatz von auratischem Original und auraloser Reproduktion. Er definiert die Aura als einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag. Der Verfall der Aura beruht laut Benjamin auf zwei Umständen, die beide mit der zunehmenden Bedeutung der Massen zusammenhängen: Einerseits der Wunsch der Massen, sich die Dinge räumlich und menschlich näher zu bringen, und andererseits die Tendenz einer Überwindung des Einmaligen jeder Gegebenheit durch die Aufnahme von deren Reproduktion. Wenn man der Argumentationsweise Benjamins folgen würde, müsste es sich bei Warhols Arbeiten um Kunst handeln, die gekennzeichnet ist durch den Verlust ehemals ihr innewohnender auratischer Qualitäten.“23

Es wird deutlich, dass sich der Beginn von Benjamins Text (Kapitel IV) auch im Zusammenhang mit Warhol deuten lässt: „Die Einzigkeit des Kunstwerks ist identisch mit seinem Eingebettet Sein in den Zusammenhang der Tradition. Diese Tradition selber ist freilich etwas durchaus Lebendiges, etwas außerordentlich Wandelbares.“24 Benjamin führt an dieser Stelle als Beispiel eine antike Venusstatue an und hebt nun auf die Einzigartigkeit des jeweiligen Kunstwerkes ab. Er führt – wie wir gesehen haben – einen philosophisch nicht eindeutigen Begriff ein, um diese Einzigartigkeit zu beschreiben: die Aura25. 22 Lüthy, Michael betont: „Doch das Übertragungsproblem zeigt sich nicht nur im Gegensatz der Wertungen. Es besteht auch deswegen, weil Warhols Bilder den Gegensatz von auratischem Original und auraloser Reproduktion, den Benjamin zur Grundlage seiner Argumentation macht, unterlaufen: sie scheinen beides zugleich zu sein.“ siehe: www. michaelluethy.de/scripts/andy-warhol-benjamin-reproduzierbarkeit-aura-last-supper/, [Stand: 21.6.2018]. 23 Schloen, Die Renaissance des Goldes, 74. 24 Vgl. Benjamin, Das Kunstwerk,17 f. 25 „Man kann, was hier ausfällt, im Begriff der Aura zusammenfassen und sagen: was im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit des Kunstwerks verkümmert, das ist seine

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Benjamins letzte Texte haben einen geradezu existentiellen Anspruch. Dies gilt nicht nur für seine Thesen zur Geschichtsphilosophie. Seine Bewunderung für die Antike und den fortschreitenden Zerfall der klassischen Kunstform war für Benjamin letztlich eine existentielle Bedrohung, die er in seinem Kunstwerkessay idealistisch überhöhte, um einer neuen Zeit den Boden zu ebnen. Dabei hat er den weltweit erfolgreichen Bolschewismus vor Augen, der für ihn einer geradezu messianischen Erlösung gleichkommt. Hintergrund des Kunstwerkessays ist aber auch unter anderem ein Gedanke des Kunsthistorikers Alois Riegel, der die spätrömische Kunst neu gesehen hatte: „Der Goldgrund der byzantinischen Mosaiken sei nicht ‚mehr Grundebene, sondern idealer Raumgrund, welchen die abendländischen Völker in der Folge mit realen Dingen bevölkern und in die Tiefe ausdehnen können.’ Verfall, optimistisch betrachtet, konnte bedeuten: Etwas Neues bereitete sich vor. Nach der Kunst, so glaubte Benjamin, würden Gebilde ohne Aura kommen.“26 Diesen Gedanken entfaltet der Journalist Lorenz Jäger in dem Kapitel Verfall der Aura im sechzehnten Kapitel seines Buches über Benjamin. Er führt uns auch den politischen Kontext in Bezug auf das Ende des Exils des Volkes Israel zwischen 1915 und 1925 vor Augen und verweist nicht nur auf Max Weber, sondern auch auf Gershom Scholem, einen guten Freund Benjamins, der ganz grundsätzlich schreibt: „Der jüdische Messianismus ist in seinem Ursprung und Wesen, und das kann gar nicht stark genug betont werden, eine Katastrophentheorie. Diese Theorie betont das revolutionäre, umstürzlerische Element im Übergang von jeder Gegenwart zur messianischen Zukunft.“27 Aura. Der Vorgang ist symptomatisch; seine Bedeutung weist über den Bereich der Kunst hinaus. Die Reproduktionstechnik, so ließe sich allgemein formulieren, löst das Reproduzierte aus dem Bereich der Tradition ab. Indem sie die Reproduktion vervielfältigt, setzt sie an die Stelle seines einmaligen Vorkommens sein massenweises. Und indem sie der Reproduktion erlaubt, dem Aufnehmenden in seiner jeweiligen Situation entgegenzukommen, aktualisiert sie das Reproduzierte. Diese beiden Prozesse führen zu einer gewaltigen Erschütterung des Tradierten, einer Erschütterung der Tradition, die die Kehrseite der gegenwärtigen Krise und Erneuerung der Menschheit ist. Sie stehen im engsten Zusammenhang mit den Massenbewegungen unserer Tage.“ Vgl. Benjamin, Das Kunstwerk, 2015, 14. Im Glossar heißt es unter Star-, Führerkult, die These vom Verfall der Aura in der Moderne relativiere diesen Kult, da der Star- und Führerkult zu Beginn des 20. Jhdts. Elemente des Auratischen erneuert habe, Vgl. Benjamin, Das Kunstwerk, 213. 26 Jäger, Lorenz, Walter Benjamin. Das Leben eines Unvollendeten, Reinbek 2017, 301. 27 Vgl. Jäger, Walter Benjamin, 48 f. bzw. bei Scholem, Gershom, Über einige Grundbegriffe des Judentums, Frankfurt 1970, 121.

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Würde ich mich ohne eine Postkarte, die ich für wenig Geld kaufen kann, an eine Malerei von Rubens überhaupt erinnern, geschweige an winzige Details der Malerei? Freilich kann die Karte nicht das echte Bild, das Original ersetzten. Aber anhand einer Fotografie habe ich schnell die Komposition des Gemäldes vor Augen, das ich in einem Museum unter Umständen unter tausenden Bildern gesehen habe. Insofern gibt das Foto eines Bildes sehr wohl auch dessen Einmaligkeit und Echtheit wieder, wenn auch in Kopie. Benjamin genießt die Vorzüge der Moderne, die ja das Original und seine Echtheit nicht negiert, sondern seine Aura in ein anderes Medium überführt, sei es ein Gebäude über den Fotoapparat in eine Fotografie, sei es Musik über eine Schallplatte aufs Grammofon. „Die Kathedrale verlässt ihren Platz, um in dem Studio eines Kunstfreundes Aufnahme zu finden; das Chorwerk, das in einem Saal oder unter freiem Himmel exekutiert wurde, lässt sich in einem Zimmer vernehmen.“28

Vom Kunsthandel zum Naturschönen Anne Schloen hat in ihrer Arbeit über die Renaissance des Goldes anhand von prominenten Beispielen gezeigt, wie das Gold in der Kunst der Moderne wiedergekehrt ist. „Im 20. Jahrhundert haben der französische Künstler Yves Klein um 1960, der Belgier Marcel Broodthaers Anfang der 70er Jahre und der Deutsche Joseph Beuys Anfang der 80er Jahre in einigen Arbeiten den materiellen Wert des Goldes in den Vordergrund gestellt.“29 Klein hatte 1959  –  62 Rituelle Regeln für die Überlassung von immateriellen Zonen anschaulicher Sensibilität aufgestellt und sich diese mit Gold bezahlen lassen. So machte er aus dem Kunsthandel eine Kunstaktion. Einen Teil des Goldes warf er in einen Fluss, um gegen die kapitalistische Gesellschaft zu protestieren. Klein interessierte sich für die Dualiät des Goldes: „Gold steht für Geld und Reichtum, aber auch für Transzendenz und Spiritualität. Damit verkörpert Gold genau das, was Klein in seiner Kunst forderte: Eine Bedeutung, die über das rein Materielle hinausgeht und

28 Vgl. Benjamin, Das Kunstwerk, 14. 29 Vgl. Schloen, Die Renaissance des Goldes, 98.

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auf das Absolute verweist.“30 Dieses Thema spiegelte sich auch im Werk von Joseph Beuys wider, der 1982 auf der documenta 7 eine Nachbildung der Zarenkrone Iwan des Schrecklichen eingeschmolzen hatte. „Bei der Schmelzaktion hat Beuys das Gold durch den alchemistischen Transformationsprozess aus seiner Kronenform ‘erlöst’, in seinen Urzustand zurückgeführt und anschließend in eine höhere Stufe der Vollkommenheit, in die Form des Hasen, überführt.“31 Der Künstler hatte eine wertvolle originalgetreue Kopie vernichtet und damit ein Zeichen gesetzt gegen Unterdrückung, Ausbeutung und Macht. Der Hase steht dagegen für Neubeginn, Frühling und Auferstehung. Ein Verweis auf das Naturschöne im Kunstwerktext Walter Benjamin sei hier gestattet: „Es empfiehlt sich, den oben für geschichtliche Gegenstände vorgeschlagenen Begriff der Aura an dem Begriff einer Aura von natürlichen Gegenständen zu illustrieren. Diese letzteren definieren wir als einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag. An einem Sommernachmittag ruhend einem Gebirgszug am Horizont oder einem Zweig folgen, der seinen Schatten auf den Ruhenden wirft – das heißt die Aura dieser Berge, dieses Zweiges atmen.“32 Das klingt nach einer Sehnsucht, nach Harmonie, die jeder Mensch empfindet, wenn er sich in der Natur aufhält. Wie sollen wir über das Schöne in der Kunst sprechen oder über die Vollkommenheit beispielsweise einer Kathedrale, wenn wir nie die hohen Bäume eines Waldes gesehen haben und wie sie praktisch gotische Bögen bilden über den Pfad, den wir in seinem Inneren durchschreiten? Klingt das nicht nach himmlischer Ordnung? Andererseits lässt der Zustand der Natur auch Rückschlüsse auf eine sich entwickelnde Gesellschaft33 zu, wie wir mittlerweile alle wissen. Der Begriff der Aura lässt sich gleichermaßen am Naturschönen und am Kunstschönen entwickeln. Allerdings werden die drei Sekunden dazu nicht ausreichen, die der Betrachter in einem Museum im Durchschnitt vor

30 Ebd., 104. 31 Ebd., 124. 32 Vgl. Benjamin, Das Kunstwerk, 16. Der Kommentar weist auf Spaziergang von R. M. Rilke hin. 33 „An der Hand dieser Beschreibung ist es ein Leichtes, die gesellschaftliche Bedingtheit des gegenwärtigen Verfalls der Aura einzusehen.“ Vgl. Ebd., 16.

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einem Bild verbringt. Die Einmaligkeit und die Dauer sind entscheidend für die Betrachtung eines Ausschnittes eines Bildes. Ob es das Kunst- oder Naturschöne ist, die Wahrnehmungsprozesse sind ähnlich. Sei es die Aurora in der Frühe oder das Alpenglühen am Abend, der Mensch kann gar nicht anders, als sich daran zu erfreuen. Das ist auch das Faszinierende am Material Gold. Es ist zunächst einmal nichts weiter als ein Edelmetall. Im Christentum wurde es vergeistigt. Da Gold von sich aus schon strahlt, ist es zur Darstellung für himmlische Wesen bestens geeignet. Ein goldener Engel, sei es ein Engel auf der Siegessäule34 (Berlin) oder ein Friedensengel (München), strahlt darüber hinaus eine politische oder religiöse Botschaft aus. Außerdem bewundert der Mensch hier ein echtes Kunstwerk. Mehrere Ebenen kommen zusammen. Im Bezug auf den 1990 realisierten 20 Meter hohen goldenen Turm im Martin-Gropius-Bau in Berlin erklärte der Künstler James Lee Byars übrigens: „I want to create a great golden feeling, filled with highly charged energy.“35

Zur größeren Ehre Gottes – oder nicht Es ist mittlerweile deutlich geworden, dass nicht nur das Gold in jeder Weise schillert. Auch mit dem Begriff der Aura nach Benjamin, den ich hier nur andeuten konnte, bleibt vage, was exakt gemeint sein könnte. Deutlich geworden ist gleichzeitig, dass sowohl die Morgenröte, das Gold und die Aura immer wieder mit Kulträumen in Verbindung gebracht worden sind. Es tun sich weitere Felder auf. Vor allem in der bildenden Kunst. Im Christentum gibt es unendlich viele Verwendungen von Gold. Eine neue Variante kommt mit der Missionierung des hl. Bonifatius ins Spiel. Aus der berühmten von ihm gefällten Donar Eiche in Geismar ließ Bonifatius eine Petruskapelle bauen. Und aus England ließ er sich goldene Petrusbriefe kommen, die seine Autorität stärken sollten: „Die Schrift sollte golden sein, 34 Der Künstler James Lee Byars hatte 1974 einen Goldenen Mittelpunkt für Berlin erdacht. Er wollte ihn im damaligen Niemandsland errichten, „so dass er für die Bürger beider Teile Berlins sichtbar gewesen wäre. Der goldene Turm – so die hier vertretene These – sollte als neues Wahrzeichen Berlins die Siegessäule im Westen der Stadt und den Fernsehturm als repräsentatives Monument der damaligen DDR im Ostteil ablösen.“ Vgl. Schloen, Die Renaissance des Goldes, 209  – 210. 35 Ebd., 208.

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damit er beim Predigen seinen Zuhörern die hohe Bedeutung dieser Worte auch sinnfällig vorzuweisen vermochte. Er hing an den Briefen des Mannes, der ihn auf die Fahrt gesandt hatte, ihn, den Boten Petri.“36 Im Gegensatz dazu ist das Gold für den ‚ersten Papst’, für Petrus völlig unwichtig: „Gold und Silber habe ich nicht ...“ (Apg. 3,6). Es muss also kein Meisterwerk des mexikanischen Barocks wie beispielsweise die ‚Capilla del Rosario’ in Puebla de Zaragoza sein, eine goldene Seitenkapelle der Kirche Santo Domingo (1660), die Gott zur Ehre gereicht. Die theoretischen Überlegungen zur Kunst sind heute komplexer geworden und die Rezipienten der Kunst haben sich stark vermehrt. Jedes Jahrhundert muss neue Regeln dafür finden, wie die Kultur und die Religion das gesellschaftliche Spiel der Kräfte für sich nutzen. Schon im 18. Jahrhundert wurde die Autonomie der Kunst gefordert. Seit den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts wurden entsprechende Debatten geführt, nicht nur in der bunten Reihe im Suhrkamp Verlag.37 Das sollte heute eine Selbstverständlichkeit sein. Auch die verschiedenen Auffassungen über die Religion sind nicht mehr auf eine Formel zu bringen. Wann soll das überhaupt der Fall gewesen sein? In welchem europäischen Land kann man noch von einer geschlossenen Bürgerschaft, von geschlossenen religiösen Kreisen sprechen? Man hat den Eindruck, die Welt drehe sich ein wenig schneller, weil sie bunter geworden ist. Einerseits ist die individuelle Kommunikation leichter möglich bei gleichzeitiger Abnahme für überkommene Riten, andererseits begegnen wir dem Phänomen der ungleichzeitigen Gleichzeitigkeit. Einerseits werden in den westlichen Metropolen unterschiedliche Lebensweisen und Kulturen selbstverständlicher. Andererseits erstarken nationale Töne, wenn der amerikanische Präsident im aktuellen Handelsstreit über eine Motorradmarke, ein amerikanisches Idol twittert: „Eine Harley-Davidson sollte niemals in einem anderen Land gebaut werden – niemals. Die Aura wird weg sein ...“38 Donald Trump schwelgt übrigens im Gold seines ‚Trump-Towers’: 36 Nitschke, August, Frühe christliche Reiche. Ein neues Königsgeschlecht, in: Propyläen Weltgeschichte. Eine Universalgeschichte, Mann, Golo / Nitschke, August (Hg), Berlin 1986, Band V, 288. 37 Müller, Michael, Autonomie der Kunst. Zur Genese und Kritik einer bürgerlichen Kategorie, Frankfurt 1972. 38 https://de.reuters.com/article/frankreich-usa-handel-idDEKBN1JM0IE, [Stand: 21.6.2018].

Aurora – Aurum – Aura | Georg Maria Roers SJ

„Gold, so weit das Auge reicht: Der amerikanische Geldadel liebt den opulenten Einrichtungsstil.“39 Der Fetisch ums Gold ist mit Händen zu greifen. Sogar die magische Kongruenz vom Glanz Gottes, der auf Salomo ruhte, ist im Russland des 21. Jahrhunderts wieder gesellschaftsfähig geworden. Wie im absolutistischen Zarenreich sind Staat und orthodoxe Kirche wieder verbunden. In den goldenen Kuppeln der Kirchen kann sich der neu gewählte Präsident40 der Russischen Föderation optimal sonnen. Ob es einen direkten Zusammenhang gibt zwischen dem Reichtum der Kirche und dem Glaubensschwund bei den Gläubigen, lässt sich nicht nur in Russland41 fragen. Überbordender Reichtum wird vom aktuellen Papst Franziskus jedenfalls scharf kritisiert – auch in der eigenen Kirche. Er fordert stattdessen Barmherzigkeit42 und spricht lieber von einer ‚verbeulten Kirche’ zum Beispiel in seinem Apostolischen Schreiben Evangelii Gaudium (2013, Nr. 49). In seiner Radikalität ist er Paulus ganz nahe. Letztlich geht es wieder um die Frage, wo Menschen im Goldrausch leben – auch in der Kirche.

Von leeren Kirchen und überfüllten Museen Woran kann man sich noch berauschen? „Ein Orgelwerk in einer schönen Kirche zu hören, das ist für mich der Himmel auf Erden.“ Das hört man nicht selten. Das Besondere, das in dieser Erfahrung zum Ausdruck kommt, bildet einen wohltuenden Gegensatz zum Zeitalter der Hyperschnelligkeit im Netz, in der Luft und auf der Straße. Viele Menschen wollen die Alterität Gottes

39 http://www.faz.net/aktuell/stil/drinnen-draussen/trumps-protz-penthouse-14510362. html, [Stand: 21.6.2018]. 40 „Wladimir Putin zum Vierten. 5000 geladene Gäste im Kreml, ein enormer Aufwand: Der neue und alte russische Präsident schritt zuerst durch den Georg-Saal, dann den Alexander-Saal. Prunkvolle Räume mit schweren Lüstern, Gemälde und Goldverzierung, Pracht und Pomp des Kremls.“ In: www.tagesschau.de/ausland/putin-vierte-amtszeit-101.html, [Stand: 21.6.2018]. 41 „Die Kirche kümmert sich immer mehr ums Geschäftliche statt um die Bevölkerung, sie interessiert sich verstärkt für Projekte mit staatlicher Beteiligung“, erklärt Elena Babitsch. „Überall boomt der Kirchenbau, und die Menschen reagieren darauf negativ. Uns werden Parks und Freizeitanlagen weggenommen, obwohl es in der Stadt reichlich Gotteshäuser gibt, die ohnehin leer stehen, weil nur sehr wenige Menschen zum Gottesdienst gehen.“ In: https://de.rbth.com/gesellschaft/2015/08/06/russen-verlieren-den-glauben-an-die-kirche_ 382003, [Stand: 21.6.2018]. 42 Kasper, Walter, Papst Franziskus – Revolution der Zärtlichkeit und der Liebe, Stuttgart 2015, 45 –  52.

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nicht nur in Kirchenräumen erfahren, sondern am besten gleich in Engelsgestalt. Dieser kommt aber manchmal unverhofft anders daher als ein ‚goldener Engel’, wie der Theologe und Philosoph Eckhard Nordhofen43 ganz dialektisch sagt. Auf der einen Seite preist er die Alterität Gottes im Gottesdienst, auf der anderen Seite entdeckt er neue Formen ‚inszenierter Andersheit’. Erst die Leere der Kathedralen, sagt Nordhofen, fülle die Museen. Schließlich werde auch die Kathedrale zum Museum. Die Museen, wie der Name es nahelege, werden zum Schauplatz göttlicher Präsenz. Haben die Museen die Kirchen abgelöst? Wie oft wurde beim Museumsbau in den letzten Jahren von Kathedralen des Lichts gesprochen, zum Beispiel bei der Eröffnung der Münchner Pinakothek44 von Stefan Braunfels. Mittlerweile kritisieren Architekten wie Vittorio Magnago Lampugnani45 Museumsbauten, die als Kathedralen von heute gehandelt werden. Sie stünden zwar, ob in Europa, Amerika, Japan oder in China im Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit, doch es entstünden keine Meisterwerke, sondern immer öfter nur noch formalistische Bauten. Mit anderen Worten können wir auch hier wieder vom ‚Verfall der Aura’ sprechen. „Die Aura des Kunstwerks ist tot. Es lebe der Reiz des Geldes“, schreibt die Journalistin Sarah Pines46 in der Neuen Züricher Zeitung auch über die zeitgenössische Kunst. Dabei greift sie ausdrücklich auf den Kunstwerktext Benjamins zurück. Auch bei der Errichtung eines Sakralraums darf man sich nicht von dieser oder jener Möglichkeit verführen lassen, denn es gibt meistens mehr als zwei Lösungen. Wir haben gesehen, dass im Verlauf der Heilsgeschichte und des Tempelbaus Gold zu einem Symbol für die Allmacht Gottes geworden ist. Diese magische Phase liegt hinter uns. Allerdings ist das Gold in mehr-

43 Nordhofen, Eckhard, Der Engel der Bestreitung: über das Verhältnis von Kunst und negativer Theologie, Würzburg 1993. 44 Der Generaldirektor der Bayerischen Staatsgemäldesammlungen, R. Baumstark, sagte damals, nach den “Zeiten der Schande“, da die Nazis in München moderne Kunst als entartet verfemt hätten, habe der Freistaat und Münchner Bürger dieser Kunst jetzt eine “Kathedrale des Lichts und der Schönheit“ schenken wollen. Feuilleton der Süddeutschen Zeitung, München 17. Mai 2010. 45 www.nzz.ch/feuilleton/kunst_architektur/museen-sind-die-kathedralen-von-heute-unterhaltung-und-erkenntnis-ld.118166, [Stand: 21.6.2018]. 46 https://www.nzz.ch/feuilleton/die-aura-des-kunstwerks-ist-tot-es-lebe-der-reiz-des-geldes-ld.1395285, [Stand: 21.6.2018].

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facher Weise unvergänglich. Letztendlich ging es darum, der Unendlichkeit Gottes eine sichtbare Gestalt zu geben, so dass die Menschen im Alltag die Alterität Gottes auch spüren können. Deshalb bleibt Gold bis heute im Spiel, wenn sich auch die Aura eines Kirchenraums wie in der Malerei weitgehend abgekoppelt hat vom Material Gold. In der Moderne vermag auch die abstrakte Malerei dem Menschen die Unendlichkeit Gottes vor Augen zu führen. An ihre Stelle ist schlichte Erhabenheit getreten. Auch das ist nicht neu. Edmund Burke schrieb 1757 seine Philosophische Untersuchung über den Ursprung unserer Ideen vom Erhabenen und Schönen. Oft werden deshalb auch heute edle Materialien im Kirchenraum verwendet, die sich durch eine lange Lebensdauer auszeichnen. Die Aura eines Ortes hängt aber, wie wir gesehen haben, von vielen verschiedenen Aspekten ab. Oft sind sie irrational und passen schon deshalb gut zum Geheimnis des christlichen Glaubens. Die richtigen Formen für den jeweiligen heiligen Ort zu finden und angemessene Materialien ist ein komplexer Vorgang, der lange Kommunikationsprozesse mit sehr guten Künstlerinnen und Künstlern mit sich bringt. Dass dieser Prozess auch heutzutage gelingen kann, hat in der Vergangenheit u. a. Hermann Glettler in St. Andrä47 in Graz gezeigt. Bei der Umsetzung sind neben den Künstlerinnen und Künstlern meist so viele Menschen am Werk, wie es erforderlich ist, um größere Projekte zu verwirklichen, aber gleichzeitig so wenige wie nötig, damit der künstlerische Prozess nicht allzu sehr gestört wird. Allerdings lässt sich eine wohltuende Aura in einem Raum nicht planen, sondern nur ermöglichen. Davon zeugen in Österreich die zahllosen Kirchen vor allem in der Diözese Graz-Seckau48 und in Linz49. Hier sind die Chorräume systematisch mit Prinzipalien (Ambo, Altar, Sedilien) zeitgenössischer Künstler ausgestattet worden.

47 Glettler, Hermann (Hg.), Andrä Kunst, Weitra 2013. 48 Glettler, Hermann / Kaindl, Heimo / Kölbl, Alois / Porta, Miriam / Rauchenberger, Johannes / Tangl, Eva (Hg.), Sakral : Kunst: Innovative Bildorte seit dem II. Vatikanischen Konzil in der Diözese Graz-Seckau, Regensburg 2018. 49 Gelsinger, Martina / Jöchl, Alexander / Nitsch, Hubert (Hg.), Kunst und Kirche auf Augenhöhe, Künstlerische Gestaltungen in der Diözese Linz 2000  – 2010, Linz 2011; Gelsinger, Martina / Jöchl, Alexander / Nitsch, Hubert (Hg.), Kunst / Kirche / Gesellschaft / Seelsorge, Künstlerische Gestaltungen in der Diözese Linz 2011–  2016, Linz 2017.

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Das Gold kehrt immer wieder Eine einfache spirituelle Regel lautet, wenn es um Berufungsfragen geht: Wenn der Ruf nach Gott echt ist, kehrt er immer wieder. Im Anschluss daran ließe sich über das Gold sagen: Wo Gottes Anwesenheit veranschaulicht werden soll, da ist das Material Gold oft nicht weit. Das wird vermutlich auch in der Zukunft so sein. Dennoch ist die Unterscheidung zwischen dem ‚echten Kunstwerk’, das sich nicht vom Ritual entfernt hat und den zeitgenössischen Kunstwerken, die sich zusätzlich innerhalb einer Kirche befinden, stets wach zu halten. Ein Kunstwerk muss weder golden sein noch einer Kirche oder einem Museum gehören, um über einen kulturellen Mehrwert zu verfügen. Es muss nicht einmal über eine grandiose Aura verfügen, um ein Kunstwerk zu sein. Die Schrift Über das Geistige in der Kunst (1911) von Wassily Kandinsky, ist längst geschrieben. Wenn in liturgischen Räumen das Material Gold wiederauftaucht, so kann es einfach daran liegen, dass die Kirche den Finger am Puls der Zeit hat. Denn wer am Ende dieses Textes glaubt, in der zeitgenössischen Kunst würde das Material Gold völlig fehlen, der täuscht sich. Im Jahr 2012 sind mir zwei Ausstellungen zum Thema Gold in Erinnerung geblieben. In Münster wurde Mittelalterliche Schatzkunst50 gezeigt und im Belvedere in Wien eine umfangreiche Ausstellung mit dem Titel Gold51. Es wurden 200 Werke von 125 Künstlern gezeigt. Und auch dies dürfte nur ein sehr kleiner Ausschnitt gewesen sein. Im gleichnamigen Katalog findet sich u. a. Eine kurze Geschichte des Goldes, verfasst von dem Kunsthistoriker Thomas Zaunschirm. Hier kommt ein neuer Aspekt zur Sprache, der bisher nur indirekt angesprochen wurde, nämlich im Bild der Morgenröte: „Der Glaube an die Sakralität des Goldes setzt eine dinghafte Verbindung zur Sonne voraus, die die Welt erschafft. Die Strahlen der altägyptischen Sonnendarstellung, die in Händen enden, die das Lebenszeichen Anch ☥ halten, erwecken die Welt zum Leben. Auch als die Sakralität des Goldes nach dem Untergang der antiken und altamerikanischen Hochkulturen in den Hinter50 Goldene Pracht. Mittelalterliche Schatzkunst in Westfalen. (26.02.– 28.05.2012), München 2012. 51 www.belvedere.at/bel_de/ausstellung/gold, [Stand: 21.6.2018].

Aurora – Aurum – Aura | Georg Maria Roers SJ

grund trat, lebte die Faszination für das Metall fort.“52 Die Kuratoren der Ausstellung Gold machten deutlich, dass seit dem Mittelalter zu keiner Zeit so viele Künstler mit Gold gearbeitet hätten wie heute. Ist es ein Zufall, dass das Metropolitan Museum of Art in New York 2018 eine Ausstellung über den Einfluss der katholischen Kirche auf die aktuelle Mode zeigt? Die jährliche Gala des Metropolitan Museum of Art, die in diesem Jahr mit der Eröffnung der Ausstellung Himmlische Körper: Mode und katholische Phantasie53 zusammenfiel, war ein Schaulaufen von schönen Frauen u. a. in goldenen und silbernen und transparenten Kleidern, als wollten sie die üppigste Pracht der Renaissance noch übertreffen. Messgewänder dienten unter anderem als Inspiration für elegante Mode aus den edelsten Häusern der internationalen Haute Couture. Ein goldenes Prozessionskreuz aus Byzanz wird einem Abendkleid (1997/98) von Gianni Versace gegenübergestellt. Eine insgesamt überwältigende Schau. Ist das Fetisch, Dekadenz oder Kunst? Es ist einfach Mode! Auch die Gestaltung von Sakral- und Kulträumen unterliegt Moden und Epochen. Im übertragenen Sinne kommt das Thema Gold im Ausstellungsbetrieb auch so vor: Göttlich – Golden – Genial. Hier war das Prinzip des Goldenen Schnitts die Schlüsselidee zur Ausstellung. Das erste Bild im Katalog im ersten Kapitel zeigt Die Erschaffung Adams54 nach Michelangelo: Auf der Suche nach dem Goldenen Schnitt.

52 Gold. (Katalog zur Ausstellung in Wien, Unteres Belvedere und Orangerie, 15.03.– 17.06.2012) hg. v. Agnes Husslein-Arco und Thomas Zaunschirm, Wien 2012, 11. 53 Heavenly Bodies: Fashion and the Catholic Imagination, At The Met Fifth Avenue and The Met Cloisters (10.05.–   08.10.2018), Andrew Bolton, New York 2018. 54 Göttlich – Golden – Genial (Katalog zur Ausstellung in Berlin 9.9.2016  – 26.2.2017 und Frankfurt 26.3.– 27.8.2017) hg. v. Liselotte Kugler und Oliver Götze, München 2016, 14.

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Temporäre Kunst im Kultraum: Transzendenz-Erleben als Wahrnehmungsdialog von Kultur und Religion Annegret Kehrbaum

Wenngleich der Fokus der Tagung „Raumkult – Kultraum“ auf Architekturen und Raumausstattungen von dauerhafter Form liegt, so ist es doch auch interessant, sich mit temporären Bespielungen von Kirchenräumen zu beschäftigen. Was passiert in Kirchenräumen, wenn sie mit künstlerischen Mitteln konfrontiert werden, die in unserer Gesellschaft eher aus musealen Erlebnissen mit moderner und zeitgenössischer Kunst oder Land Art-Zusammenhängen bekannt sind? Eine solche Praxis ist in Kirchen beider christlicher Konfessionen – katholisch wie evangelisch – seit einigen Jahrzehnten, mit zunehmender Tendenz, anzutreffen1. Für die protestantische Welt scheint sich in jüngerer Zeit der redundant anmutende Begriff „Kulturkirche“2 als eine Art Marke für eine professionell or1

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Vgl. die wegweisenden Kunstprogramme, die seit den späten 1980er Jahren die KunstStation St. Peter in Köln, St. Petri in Lübeck, in Österreich das Kulturzentrum bei den Minoriten in Graz und der Stephansdom in Wien, seit der Jahrtausendwende die Stiftung St. Matthäus in Berlin, die Kirchen St. Paul und St. Lukas in München und St. Stephani in Bremen erarbeitet haben, um hier nur einige besonders markante Beispiele im deutschsprachigen Raum zu nennen. Überschneidungen mit Citykirchenarbeit in Großstädten (vgl. in diesem Band den Beitrag von Veronika Eufinger, Bochum) sind dabei auffallend, ferner spiegeln sich die Bemühungen einzelner Kirchen/kirchlicher Kulturzentren und Akteure mit der außerkirchlichen Arbeit in einigen Diözesanmuseen (vgl. Knacker, Katharina, Mission Museion, Bielefeld 2016) beziehungsweise in weiteren Museen, Kunstvereinen und Ausstellungsinitiativen. Über den Begriff „Kulturkirche“ und seine immanente Redundanz vgl. Bahr, Petra, Alle Kirchen sind Kulturkirchen, in: Bahr, Petra / Bresgott, Klaus-Martin / Langbein, Hannes: Kulturkirchen. Eine Reise durch Deutschland, Leipzig 2011, 6  – 25, hier 6  –7. Vgl. dort auch Bahrs Definition einer „Kulturkirche“: „‚Kulturkirche‘ bedeutet, dass Kirchen als Konzerthäuser, Tanz- und Lesesäle Kulturorte sind, die den Vergleich mit anderen Kulturinstitutionen nicht scheuen müssen. Aber: Sie bleiben Orte des lebendigen Glaubens. […] Manche von ihnen heben den kulturellen Aspekt ihres Kirchseins in ihrer Arbeit noch einmal besonders hervor und finden darin ihre besondere geistliche Ausstrahlungskraft. […] Wenn es gut läuft, dann werden Kirchen in diesem Sinne zu ‚Kulturkirchen‘, wenn sie zum Thema machen, was vieler Orten unthematisch bleibt: Kirche ist Teil von Kultur, aber eben

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ganisierte Auseinandersetzung mit zeitgenössischer Kunst aller Gattungen zu etablieren. Letztlich ist das „Label“ (Kunst-Station, Kulturzentrum, Kulturkirche) nicht wichtig, sondern der alle diese Initiativen verbindende Grundgedanke: Es gibt angesichts veränderter Transzendenz-Bedürfnisse in weiten Teilen der Bevölkerung, oftmals ungebunden von Traditionen und Institutionen, offenbar landauf, landab vermehrt ein Bewusstsein dafür, dass sich in Kirchen auf der Basis einer lebendigen gottesdienstlichen Praxis religiöses Empfinden und Denken mit einer Kunsterfahrung fruchtbar verbinden kann.3 Besonders die Auseinandersetzung mit zeitgenössischen Künsten aller Sparten in temporären Projekten kann ein um ästhetische Erfahrung angereichertes Transzendenz-Erleben ermöglichen; zugleich führen derartige Projekte Kunstschaffende und ein kunstaffines Publikum, das sonst eher in Museen, Opern- und Konzerthäusern zu finden ist, in die Kirchen (zurück). Im Ergebnis wirkt das künstlerische Experiment als wertvolle Bereicherung für diejenigen, die regelmäßig Kirchen und kirchliche Veranstaltungen aufsuchen, und zugleich als selbstbewusster kirchlicher Impuls nach außen, im Sinne einer dringend erforderlichen Belebung und Aktualisierung des Dialogs von Kirche und Gesellschaft in ihrer Gesamtheit.4 Besonders spannend wird ein solcher Dialog, wenn Werke verschiedener Kunstgattungen – und damit ein synästhetisches Erleben von Kunst – aufeinandertreffen, oder auch (in bewusster Gegenüberstellung) Werke aus verschiedenen Epochen.5 Öffnet man Kirchen für eine qualitativ hochwertige Arbeit mit zeitgenössischen Künstlern, gibt es wechselseitige Chancen

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in einem spezifischen, auf andere Kulturorte unberechenbaren Sinne. Ohne eine theologische Bestimmung geht es nicht.“ Bahr, Alle Kirchen, 11. Vgl. hierzu den in Kürze erscheinenden Beitrag „Ins Offene arbeiten. Einige grundsätz­liche Gedanken zu Kultur-Kirchen“ von Johann-Hinrich Claussen (Kulturbeauftragter des Rates der EKD) in einem für den Herbst 2018 erwarteten Band über „Kulturkirchen“, hg. v. Julia Koll, Albert Drews u. Christoph Dahling-Sander, Kohlhammer-Verlag. Vgl. Braune-Krickau, Tobias / Scholl, Katharina / Schüz, Peter (Hg.), Das Christentum hat ein Darstellungsproblem: Zur Krise religiöser Ausdrucksformen im 21. Jahrhundert, Freiburg i. Br. 2016, 7–  9, dort in Bezugnahme auf den von Thomas Erne eingeführten Terminus eines „Darstellungsproblems“ der Religion in der Moderne. Johannes Rauchenberger spricht für das beginnende 21. Jahrhundert von der heilsamen „Kontrasterfahrung autonomer Gegenwartskunst“ mit jener Kunst vergangener Jahrhunderte, wie sie durch historische Kulträume und historische Ausstattungen repräsentiert werden. Vgl. Rauchenberger, Johannes, Gott hat kein Museum – No museum has god. Religion in der Kunst des beginnenden XXI. Jahrhunderts, Paderborn/Wien/München/Zürich 2015, 3 Bde, hier: Bd. I, 9.

Temporäre Kunst im Kultraum | Annegret Kehrbaum

und Risiken, die gerade auch den Kultraum betreffen. Die in diesem speziellen Raum entwickelte oder präsentierte Kunst muss sich, so Petra Bahr, „in ihrer eigenen Freiheit mit dem Raum und seinen Bedeutungen auseinandersetzen“.6 Thomas Erne betrachtet Kirchen als „Hybridräume der Transzendenz“, in denen sich „die Kunst als eine eigenständige Form der Transzendenz […] mit der christlichen Religion überlagert“7. Dabei handelt es sich „bei Kunst um Religion um autonome Formen der Daseinsweitung, die zwar aufeinander wirken […], die aber nicht in einer übergeordneten Idee vermittelt sind“.8 Zwischen Kunst und Kirche sei immer auch die Möglichkeit der Diskontinuität gegeben, wo Kunst sich von der Kirche absetzt und in ihrem Eigensinn behauptet. Kirchen als „hybride Räume der Transzendenz“ umfassen, so Erne, beides, „sowohl den kontinuierlichen Übergang der ästhetischen in eine religiöse Form der Transzendenz wie auch die kritische Distanz und Montage heterogener Momente“9. Dieser Eigensinn der Kunst, ihre prinzipielle Freiheit, sei wesentlich für das Gelingen des Dialogs mit Religion und Kirche. Das Interesse an einer Erfahrung der „Unendlichkeit“ eines Kirchenraums ist, so Ernes These, zurückführbar auf die unstillbare Sehnsucht des Menschen – auch des nicht religiös orientierten – nach Weitung des Selbst. Kirchen, die sich durch ungeheure Dimensionen und besondere Akustik- und Lichtverhältnisse auszeichnen, sind „Schnittstellen“ oder „Umschlagplätze der Transzendenz, an denen sich die sozial und ästhetisch ausgelegte und ausgelebte Sehnsucht nach Daseinsweitung mit der christlichen Entgrenzung der sozialen, ästhetischen, politischen Erfahrung von Selbsttranszendenz verbindet“.10 Doch welche Effekte stellen sich angesichts dieser Ausgangslage ein, wenn man im Kirchenraum Kunstwerke von zeitgenössischen Künstlern zeigt, deren künstlerische Strategien dem religiösen Raum und Ritus in nuce nicht verpflichtet sind, die aber mit dem religiösen Raum in Interaktion treten?

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Bahr, Alle Kirchen, 15. Erne, Thomas, Hybride Räume der Transzendenz. Wozu wir heute noch Kirchen brauchen. Leipzig 2017, 171. 8 Erne, Hybride Räume, 137. 9 Erne, Hybride Räume, 18. 10 Erne, Hybride Räume, 138.

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Mit Blick auf das Thema des Sammelbandes (und im Besonderen auf posttraditionale Aspekte von Kultraum-Erfahrung) könnte angesichts dieser Ausgangsüberlegungen eine mögliche These folgendermaßen lauten: Über die Kunst, wird sie als erkennbarer Eingriff von außen in einem Kultraum installiert und rezipiert, kann es neue (Erfahrungs-)Räume in einem Konvergenzbereich von traditionellen Gemeinschaftsriten und säkularem Kunsterleben geben. Es handelt sich bei solchen Konstellationen im Kultraum sowohl um temporäre Konzepte des ‚AußerAlltäglichen’ als auch um neue, kulturell kodierte Beziehungen zur ‚Außen-Welt’, unter grundsätzlicher Anerkennung gesellschaftlichen Wandels und einer damit verbundenen Suche nach Neuverortung von Kirche und Kultus in der Gesellschaft. Alle diese Bezüge und Fragestellungen enthielt ein großformatiges Sommer-Projekt der Markuskirche in Hannover 2017. Die 1906 im neuromanischen Stil erbaute Kirche ist nicht nur eine lebendige Stadtteil-Kirche, sondern auch eine der Citykirchen Hannovers. Dank ihrer guten Akustik und der zentralen, aber doch auch von Erholung geprägten Lage – unter anderem in unmittelbarer Nähe zum Stadtwald und zur Hochschule für Musik, Theater und Medien – ist sie seit langer Zeit ein Ort, der Gemeindeleben mit Kultur und Stadtgesellschaft verbindet. 2013 wurde die Markuskirche von der Hanns-Lilje-Stiftung als eine von vier Kirchen der ev.-luth. Landeskirche Hannovers mit der neuen Förderung als „signifikante Kulturkirche“ ausgezeichnet.11 Dank dieser Förderung, die sich als Sockelfinanzierung versteht, und dank weiterer Fördergelder konnte 2017 im Kirchenschiff der Markuskirche die Raum-Intervention Lichtungen12 von Elke Maier (geb. 1965) gezeigt werden: Ein Licht-Raum-Kunstwerk (Abb. 1), bestehend aus 30.000 Metern feinster weißer 11 Die Hanns-Lilje-Stiftung wurde 1989 von der Synode der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers zur Förderung des beständigen Dialogs von Kirche und Theologie mit Wissenschaft, Technik, Wirtschaft, Kunst und Politik gegründet. Seit 2013 vergibt die Stiftung eine spezielle Förderung für jeweils vier „signifikante Kulturkirchen“, die diesen ausgewählten Kirchen zeitlich begrenzt für vier Jahre eine jährliche Grundförderung für den Dialog mit den zeitgenössischen Künsten zur Verfügung stellt; Einzelprojektförderungen für weitere Kirchen im Bereich der Landeskirche kommen hinzu. Vgl. www.hanns-liljestiftung.de, www.kultur-kirche.de. 12 Vgl. Elke Maier, Lichtungen (Katalog zur Raumintervention, Markuskirche Hannover, 06.08.–17.09.2017), Konzept Annegret Kehrbaum, mit Textbeiträgen v. Annegret Kehrbaum u. Elke Maier, Fotografien v. Andre Germar, hg. v. d. Ev.-luth. Apostel-und-Markus-Kirchengemeinde, Hannover 2017.

Temporäre Kunst im Kultraum | Annegret Kehrbaum

Abb. 1: Elke Maier: LICHTUNGEN, Raumintervention in der Markuskirche Hannover, 6.8.–17.9.2017, feinstes weißes Baumwollgarn (ca. 30.000 m) u. Stecknadeln in Teppichboden, Höhe des Verankerungspunktes im Gewölbe: 14 m; Copyrights: Markuskirche Hannover, Elke Maier (Werk), Andre Germar (Foto)

Baumwollfäden, die diagonal im Kirchenraum verspannt waren und von dem im Raum wandernden Naturlicht, das durch die Fenster einfiel, erleuchtet wurden. Zeitlich parallel verwandelten unter dem Titel Maß und Empfindung tiefschwarz pigmentierte abstrakte Gemälde von Lienhard von Monkiewitsch (geb. 1941) die benachbarte Kapelle in einen Raum der Kontemplation (Abb. 2). Gottesdienste mit themenbezogenen Laienpredigten und ein reiches Rahmenprogramm mit Musik (unter anderem Markus Stockhausen), zeitgenössischem Tanz (mit einer eigens für Lichtungen konzipierten Choreografie), künstlerischen Vermittlungsprojekten, Führungen und Vorträgen sorgten für die angestrebte Synthese von Religion und Kunst in ihren verschiedenen Gattungen, in diesem Fall rund um das Thema Licht und Raum. Das künstlerische Konzept von Elke Maier besteht darin, Raum sichtbar und erfahrbar zu machen. Dies geschieht durch subtil dem Raum hinzugefügten Raumlinien, die in beeindru-

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Abb. 2: Farb-Raum-Malerei mit schwarzem Pigment und Formaufbau nach Fibonacci: Lienhard von Monkiewitsch: Maß und Empfindung, Kapelle der Markuskirche, 6.8.–17.9.2017; Copyrights: Markuskirche Hannover, Lienhard von Monkiewitsch (Werke), Andre Germar (Foto)

ckender Vielzahl und Spannweite das natürliche Licht reflektieren und mal sichtbar, mal unsichtbar sind. Im Fall von Lichtungen (Abb. 3–5) handelte es sich um eine großformatige temporäre künstlerische Raumgestalt im Kultraum, genauer gesagt, um einen in der optischen Gesamtwirkung unscharf begrenzten Raumbezirk mit wechselnder Lichtwirkung, der in seiner Raumgestalt in direktem Bezug auf den bestehenden Kultraum konzipiert worden war und mit diesem immer neu in einen Dialog

Abb. 3 –4: Elke Maier, Lichtungen: Sogwirkung der weiß aufleuchtenden Installation; Eingangszone der Markuskirche mit dem Beginn der Faden-Installation; Copyrights: Markuskirche Hannover, Elke Maier (Werk), Andre Germar (Fotos)

Temporäre Kunst im Kultraum | Annegret Kehrbaum

Abb. 5: Elke Maier, Lichtungen: Optisches Verschwimmen der Tiefen-Dimensionen; Copyrights: Markuskirche Hannover, Elke Maier (Werk), Andre Germar (Fotos)

trat. Die Installation erstreckte sich in asymmetrischer Anordnung in zwei großen, kegelförmigen Faden-Räumen bis in die Eingangszone des asymmetrischen Kirchenraums hinein. Schon beim ersten Anblick warf die Arbeit alle alltäglichen Sehgewohnheiten und Raumerfahrungen des Betrachtenden über Bord. Der Kultraum wurde auch von Menschen, die ihn seit Jahrzehnten kannten, neu erlebt: In wechselnden Natur-Lichtverhältnissen war jede und jeder aufgerufen, sich in einem vorsichtigen Bewegungsmodus – schauend, staunend – sowohl den künstlerischen Raum als auch den umgebenden Kultraum Stück für Stück wahrnehmend zu erschließen. Der sich bei diesen Wahrnehmungsvorgängen einstellende Effekt eines Verschmelzens der eigenen Person mit Dimensionen von Licht und Raum ergriff die Menschen, jung und alt, und offenbar unabhängig von persönlichen Erfahrungen und Positionen hinsichtlich der Themen Religion, Kirche oder Kunst.13 Lichtungen war das zweite Projekt der Künstlerin in einem protestantischen Kirchenraum; in katholischen Kirchenräumen – aber auch in einigen Profanräumen – hatte sie zuvor schon Projekte durchgeführt.14 Da sie ganz große Raumformate bevor13 Eine Universalität in der Wirkung von Lichtungen zeigte sich im Besonderen im Rahmen von Vermittlungsprojekten, einem Schulprojekt mit Grundschulkindern und einem Projekt mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen, darunter Migrantinnen und Migranten bzw. Geflüchtete. 14 Elke Maier, biographische Anhaltspunkte: 1965 geboren in Niederbayern, 1986  – 93 Studium an der Akademie der Bildenden Künste München (Malerei und Grafik), 1996  – 98 Studium der Psychologie, Universität Klagenfurt, 1998/99 Hochschule für Angewandte Kunst, Wien, 2001/01 Studium der Philosophie, Universität Klagenfurt; seit 1996 Freischaffende Künstlerin, seit jener Zeit erarbeitet sie (bis heute) Land Art-Projekte; 2000 erste Rauminstallation im sakralen Kontext im Kulturzentrum bei den Minoriten, Graz; seither etliche Rauminterventionen in Kirchenräumen (Auswahl): 2005 Innsbruck, 2006 Berlin, 2008 Würzburg, 2009 Klagenfurt, 2010 Salzburg, 2014 Wien, 2017 Hannover, 2018 Augsburg.

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zugt, arbeitet Elke Maier oft in Kirchen, dies jedoch aus einer Position heraus, die von christlichen Inhalten unabhängig ist – von daher ist es ihr auch letztlich gleichgültig, ob ihre Arbeit in einen katholischen oder evangelischen Kultraum eingreift. Ihr künstlerischer Entwicklungsprozess wurzelt in der abstrakten Malerei und in der Arbeit mit Naturmaterialien unter freiem Himmel (Land Art, mit zum Teil vollkommen entgrenzten Raumdimensionen). Das große Format und die Ortsbezogenheit ihrer Arbeiten sowie das immer implizit enthaltene Moment der Bewegung – Licht und Betrachtende wandern im Raum, durch ein schauendes Sich-im-Raum-Bewegen werden Grenzen ins Innere überwunden – sind dieser Land Art-Komponente geschuldet. Auch die Technik der Erschaffung künstlicher Licht-Räume mittels weißer, das Sonnenlicht maximal reflektierender Baumwollfäden hat Maier ursprünglich in der Natur entwickelt und erst später – ab dem Jahr 2000 – in Innenräume transferiert. Die Künstlerin formuliert ihre Arbeitsziele folgendermaßen: „Meine Arbeit ist ein begehbarer, offener, transparenter Raum. Die Arbeit öffnet sich, man kann hineingehen. Ein Bild, ein kleines Objekt kann man besitzen, aber ich kann nicht selbst Teil von dem Ganzen werden. Das Physische ist hier entscheidender Ausgangspunkt. Indem ich mich dem hingebe, wird es ein spirituelles Erlebnis. Ich denke Form nicht als Grenze, sondern als Prozess. Das Kunstwerk ist Gestalt und Raum – und ich bin in dem Moment auch Gestalt. Teil des dreidimensionalen Kontinuums, das Gestalt und Raum (einander ergänzend) bilden. Ich als Künstlerin bin nicht mehr entgegengesetzte Polarität, nicht Subjekt-Objekt, sondern ich selbst werde Teil des Kunstwerks. Und dem Betrachter geht es später dann ebenso.“

In der Tat: Die von Elke Maier im Raum verspannten Fäden sind für den Betrachter, die Betrachterin physisch spürbar. Das wandernde und in seiner Intensität wechselnde Naturlicht wird in verschiedensten Graden reflektiert. Bewegt man sich in und um die Fäden herum, verschwimmen die Tiefenabstände vor den Augen und man gerät tastend ins Staunen. Richtet man den Blick nach oben, entfaltet sich eine starke Sogwirkung der Fäden. Unmerklich und unmittelbar wird beim Erleben von Elke

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Maiers Fadeninstallation aus Sinneserfahrung eine zutiefst persönliche Sinnerfahrung. Spontane Assoziationen von überraschten Besuchern („wie ein Wasserfall“, „man steht mitten drin und es geht durch einen hindurch“) und Einträge ins Gästebuch15 zeugen von diesen Erlebnissen. Irgendwann in diesem Prozess erfolgte, das wurde immer wieder deutlich, beim staunenden Abschreiten und Erleben der Raumarbeit ein Transfer von der intensiven, fast anstrengenden äußeren Wahrnehmung ins Seelische, in eine unsichtbare innere Reflexionsebene des Betrachtenden: Eine Art ‚transzendenter Übersprung’, oder, eher, ein unmerkliches Hinübergleiten ins Geistige. Elke Maier erklärt sich diesen Verwandlungseffekt unter anderem mit den nichtlinearen, weil multiplen Zeitdimensionen ihrer dreidimensionalen Raumgestalt.16 Gefragt nach ihrem Verständnis von Transzendenz sagt sie: „Es geht um Grenzüberschreitung, oder besser, um graduelle Übergänge. Vielleicht gibt es diese Grenze gar nicht.“17 Wichtig seien Momente der Unnahbarkeit und Unerreichbarkeit in ihren Arbeiten, woraus sich eine Beziehung zwischen dem Subjekt (Künstlerin, Betrachtende) und dem Objekt (Raum-Kunstwerk) aufbaut. „[...] das Hin und Her ist immer gleichzeitig da. Es geht um Gleichzeitigkeit, um ein Oszillieren von dem einen Zustand in sein Gegenteil. Das Subjekt-Objekt-Verhältnis kann sich dabei komplett umkehren.

15 Exemplarische Besucherstimmen aus dem Gästebuch der Markuskirche: „Licht-Blicke. Umwerfend umgesetzt.“, „Diese Installation mag ich sehr, weil sie mich völlig un-‚mittel‘-bar berührt und ein wenig verzaubert. Und dann kommen mir Bilder, Vorstellungen und Gedanken… es ‚spricht‘ mich an.“, „Wie wunderbar das Lichtspiel sich verändert, wenn die Sonne wandert. Der Kirchenraum wird immer wieder anders erlebbar. Großartig, wie Zeit und Licht empfunden werden, wenn man den Altar eine Weile durch die Lichtungen betrachtet.“, „Eine ganz besondere Ausstellung, die der Fantasie viel Raum lässt“, „What beauty! Deep impressions of light and hope!“, „Bewegend, sehr schön. Kunst und Kirche ist eine tolle Kombination.“ 16 Elke Maier, Tagebuch-Notizen, in: Elke Maier, Lichtungen (Katalog), 30. 17 Elke Maier im Interview, in: Elke Maier, Lichtungen (Katalog), 27. Der von der Künstlerin vorgeschlagene Titel „Lichtungen“ passte aus architekturhistorischer und -theoretischer Sicht in diesem Sinne doppelt gut: Zum einen wenn man sich bewusst macht, dass Lichtungen als „Zwischenräume, Übergänge, hybrides Dasein“ (Gernot Böhme) zu deuten sind, in denen Licht als transzendentales Phänomen in Erscheinung tritt; vgl. Böhme, Gernot: Architektur und Atmosphäre, München 2006, 96   –101. Zweitens steht das Motiv der Lichtung unmittelbar in Beziehung mit der historischen Entwicklung von Sakralräumen aus dem Naturkontext heraus als lichte waldfreie Räume, die ein Wandern des Sonnenlichts erfahrbar machten (bekanntes Beispiel: Stonehenge) und die als „kontemplativ angelegte (Innen-)Schau-Räume“ eine „Präsen(z/s)-Erfahrung“ ermöglichten (Nadine Haepke). Vgl. Haepke, Nadine: Sakrale Inszenierungen in der zeitgenössischen Architektur. John Pawson – Peter Kulka – Peter Zumthor, Bielefeld 2013, 78  –79.

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Abb. 6: Die Künstlerin in ihrem Werk: Elke Maier (geb. 1965), Foto: Andre Germar

Einmal bist Du Teil des anderen, ein anderes Mal ist das Andere Teil von Dir.“18 Während der vier Wochen Aufbauphase, in denen die Künstlerin mit großer Anstrengung von einem hohen Gerüst aus die Fäden im Schiff der Markuskirche verspannte19, standen die Kirchentüren offen. Bei neugierig hereinschauenden Passanten kam es immer wieder zu Effekten der Verblüffung. Eine häufiger zu beobachtende Reaktion war, dass sich Menschen nah an den Grenzen der Fadenräume spontan auf den (Teppich-)Boden der Kirche legten und gen Decke blickten. Dieses Verhalten deckt sich mit Beobachtungen durch die Künstlerin (Abb. 6), die während der Arbeit in Hannover notierte: „Wenn wir in der Fadenintervention stehen, stehen wir genau am Horizont, wo die sichtbare Dimension der Arbeit in die unsichtbare Dimension übergeht, also genau dort, wo sich die konkrete, reale Dimension der Arbeit in die visionäre Dimension verwandelt.“20 18 Elke Maier im Interview, in: Elke Maier, Lichtungen (Katalog), 25. 19 Elke Maier selbst betont den performativen Charakter ihrer Arbeit während des langwierigen Prozesses des Fäden-Spannens: „Ich sehe meine Arbeit nicht nur als Installation, sondern auch als Performance oder Happening. Es ist aber keine Inszenierung. Die Handlung ist auch Reflexionsraum für mich, sie gehört zur Arbeit dazu. Ich erarbeite mir den Raum körperlich und geistig. Dies alles geschieht absichtslos.“ (Interview, S. 25) Und: „Ich spanne jeden einzelnen Faden bis auf das Äußerste. Das ist eine Energie, die man sieht.“ (Tagebuch-Notizen EM, S. 30). 20 Elke Maier, Tagebuch-Notizen, in: Elke Maier, Lichtungen (Katalog), 29.

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In der gleichsam zwingenden Notwendigkeit, sich physisch mit dem räumlichen Überformat und den subtilen Lichteffekten von Elke Maiers Faden-Installationen auseinandersetzen zu müssen, liegt demnach ein Schlüssel für deren Wirkungsweise. Jeder Betrachter, jede Betrachterin erfährt die Grenzen der eigenen Wahrnehmung und – ähnlich wie beim Betrachten eines Naturspektakels – eine Entgrenzung der Gefühle, die ganz eigene Assoziationen und Reflexionsräume eröffnen. Es ist eine Verstärkung jenes Effekts der ‚Daseinsweitung’, jener unstillbaren Sehnsucht des Menschen nach Erfahrung von „‚Unendlichkeit’“, die Thomas Erne bereits dem Kirchenraum als solchem bereits zuschreibt (siehe oben), den aber auch Künstler seit Caspar David Friedrich (Mönch am Meer, 1809) im Sinne einer kosmisch-metaphysischen Wahrnehmung von Naturphänomenen thematisiert haben. Der amerikanische Kunsthistoriker und Kurator Robert Rosenblum überführte 1975 die romantische Haltung einer „die Rituale von Kirche und Synagoge“ hinter sich lassenden, naturmystischen Konfrontation des Individuums mit der „überwältigenden, unbegreiflichen Unermesslichkeit des Universums“21 ins Zeitalter der Moderne, indem er die großformatigen ab­ strakten Gemälde von Mark Rothko an das (damalige) Ende jener Entwicklungslinie stellte. Unter anderem angeregt durch die Land Art (vergleiche beispielsweise die Sun tunnels von Nancy Holt22) finden sich heute weitere wichtige Ansätze, die eine physische und seelische Überwältigung des Schauenden mit einem Schwerpunkt auf Wahrnehmung von Naturphänomenen (besonders: Licht und Raum) und auf ein aktives Bewegungsmoment durch den Rezipienten legen. Raum, Licht (beziehungsweise dessen extremste Reduktion) und Farbe spielen etwa im Oeuvre von James Turrell die Hauptrollen, oder auch bei Olafur Eliasson. Das physikalische Gesetz der Schwerkraft konterkarierend erprobt Tomás Saraceno mit seinen Folien- und Netz-Installationen (sehr eindringlich erfahrbar im Gebäude des K21 in Düsseldorf23) das Moment der Bewegung im Raum, wobei ein 21 Rosenblum, Robert, Die moderne Malerei und die Tradition der Romantik: Von C.D. Friedrich zu Mark Rothko, München 1981, 15 (amerikanische Erstausgabe: 1975). 22 Nancy Holt: Sun tunnels, 1973  –76, Great Basin Desert, Utah. 23 Tomás Saraceno: In orbit, 2013 (Wiedereröffnung 2017), begehbare Stahlnetz-Konstruktion unter der Kuppel des Ständehauses, Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, K21.

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spielerisches Erleben und soziale Reaktionen/Vernetzungen hier ebenfalls eine Rolle spielen. Festzuhalten ist: Es gibt Kunstwerke, die durch sinnliche Wahrnehmung die Wahrnehmung selbst thematisieren und damit wiederum ein Nachdenken über das Sein nach sich ziehen. Elke Maiers Licht-Faden-Arbeiten reihen sich aus kunstwissenschaftlicher Perspektive ein in eine Reihe von Experimenten mit Licht und Raum, bei denen künstlerisches Kalkül eine bestimmte Wirkung erzeugt. Gestalterische Eingriffe in die Raumformung und Lichtführung und die Verwendung unerwarteter Formen und Materialien schaffen im Betrachtenden Assoziationsräume, die in Bezug auf den Raum bestimmte Gefühle auslösen (zum Beispiel Sogwirkung, Verwirrung des Sehvermögens durch gleißendes oder sehr schwaches Licht, Irritation des Gleichgewichtssinns durch den Einbau schiefer Ebenen usf.). Zeitabhängigkeit und Vergänglichkeit des Materials sind oftmals elementare Bestandteile derartiger Konzepte, ebenso wie Störungen des körperlich-sinnlichen Selbstverständnisses, etwa durch optische Täuschung oder unscharfe Grenzen, durch ein Aufbrechen der räumlichen Schutzfunktion oder indem sich das Werk den physikalischen Gesetzen scheinbar widersetzt. Im Ablauf sind diese Effekte für den Einzelnen frei, fast spielerisch (und dadurch ‚befreiend’) im Raum erlebbar; teils unbewusst wird der Wahrnehmende mit sinnlich wahrnehmbaren Phänomenen konfrontiert, die von künstlerischer Seite exakt geplant wurden. Betrachtet man die äußeren und inneren Räume, die sich durch eine derartige künstlerische Praxis für den Rezipienten auftun, so ergibt sich – unabhängig von der Zweckbestimmung der umgebenden Architektur – in etwa folgendes Gefüge: Die Architektur als äußerer Raum legt bestimmte Parameter fest (Höhe, Breite, Licht, das gegen die Natur abgrenzende Material) und kann – spezifischen architektonischen Strategien entsprechend – eigene künstlerische Qualitäten besitzen. Das Kunstwerk in seiner ganz eigenen Formung (Elke Maier: „ist Raum und Gestalt“) antwortet als neuer, innerer ‚Raum im Raum’ auf die umgebende Architektur. Der individuelle ‚Orbit’ des einzelnen Menschen tritt in seiner physischen Leiblichkeit und seelischen Gestimmheit wiederum mit beiden Raumdimensionen in den Dialog. Dieser im Ursprung überwiegend unwillkürliche Prozess verhilft dazu,

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die Mehrschichtigkeit des eigenen ‚Ichs’ (Körper, Sinne, Gefühle, Gedanken) bewusster zu erleben. Im Erleben von Raum und Werk entwickelt sich aus dieser ästhetischen Erfahrung heraus für den Betrachtenden eine Art ganzheitliche Reflexion. Neue Erfahrungs- und Imaginationsräume öffnen sich, und dies nicht nur für das Individuum: Menschen mit derartigen Erfahrungen teilen sich – auch unausgesprochen – anderen Menschen mit, wodurch sich in letzter Konsequenz auch neue soziale Räume entwickeln. Handelt es sich beim architektonischen Raum um einen Kultraum, kann dieser vielschichtige Prozess in einen komplexeren Wahrnehmungsdialog von Kultur und Religion münden, der ein besonderes Transzendenz-Erleben ermöglicht. Hier spielt zum einen die Erwartungshaltung an den ‚besonderen Raum’ eine Rolle, indem der eintretende Besucher – mit oder ohne „Annahme eines wirkenden Gottes“ – in der Kirchenarchitektur „ein wirkliches (wirksames) Symbol des Unendlichen“ (Thomas Erne)24 erkennen kann. Von diesem ästhetischen Erfahrungsmodus von Unendlichkeit unterschied Erne (in Berufung auf Martin Seel25) einen anderen, religiös vertieften Transzendenzmodus, der während des christlichen Gottesdienstes durch die Gemeinde eine Vervielfältigung erfährt.26 Während diese beiden Erfahrungsmodi für Kulträume generell gelten, so tritt im Fall von Kirchen, die in erhöhtem Maße den Dialog mit Kunst und Kultur suchen, eine weitere Ebene der Transzendenzerfahrung hinzu. Ausgehend von der Erkenntnis, dass Kunst und Religion teilweise dieselben Zielsetzungen verfolgen – also gleichsam „Verwandte“ sind – handelt es sich hier zusätzlich um den Prozess einer ästhetischen Erfahrung des künstlerischen Werks, der beim Rezipienten in Selbstbefragung und individueller Transzendenzerfahrung mündet. Tief ergriffene Besucher in Museum, Konzerthaus oder Theater zeugen immer wieder von solchen Rezeptionsvorgängen.27 24 Erne, Hybride Räume, 16  –17. 25 Martin Seel, deutscher Philosoph und Hochschullehrer (Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt); Th. Erne bezog sich hier auf dessen Monographie: Seel, Martin, Ästhetik des Erscheinens, Frankfurt a. M. 2003, 190; vgl. auch ders., Transzendenzen der Kunst, in: Erne, Thomas / Schüz, Peter (Hg.), Der religiöse Charme der Kunst, Paderborn/München/ Wien/Zürich 2012, 37– 51. 26 Erne, Hybride Räume, 17. 27 Hier kann eine weitere Überlegung anschließen: Wenn Thomas Erne das Erleben des Kultraums (Architektur) als erste Transzendenzebene und den darin vollzogenen christlichen

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Es zeichnen sich anhand solcher Überlegungen Erklärungsansätze ab, warum und wie es in Kirchen, die „den kulturellen Aspekt ihres Kirchleins in ihrer Arbeit noch einmal besonders hervor[heben] und […] darin ihre besondere geistliche Ausstrahlungskraft [finden]“ (Petra Bahr)28, zu einer besonderen Komplexität und Intensität von Transzendenz-Erlebnissen kommen kann. Ein Kunstwerk im Kultraum antwortet mit seiner Wirkmacht und Symbolkraft immer auf in den Raum getragene Bedürfnisse nach Transzendenzvorstellungen und Gemeinschaftserleben. Gerade in gottesdienstlichen Situationen – das zeigte auch der Fall der Arbeit Lichtungen in Hannover – kann das im Kultraum installierte Kunstwerk der versammelten Gemeinde komplexe Erfahrungen vermitteln. Besondere Höhepunkte entstanden im vorliegenden Projekt durch ein synästhetisches Verschmelzen des Raumkunstwerks mit Musik und Tanz im kultischen Sinnzusammenhang, wobei der Kultraum stets als Hülle und Basis allen Tuns fungierte. Wurden kulturelle Erlebnisse am Kunstwerk außerhalb der Gottesdienste in säkular geprägten Veranstaltungsformaten (Konzert, Tanz-Performance, Vernissage/Finissage, künstlerische Workshops) organisiert und angeboten, führten diese Maßnahmen auch kirchenferne Menschen in die Kirche; es wirkten dann Kultraum und Kunstrezeption als die sich fruchtbar verbindenden Transzendenzebenen. Zusammenfassend legt die Betrachtung des Projekts Lichtungen folgende Rückschlüsse nahe: Temporäre Kunstwerke, die als erkennbarer Eingriff von außen im Kultraum installiert werden, können über den Weg der Wahrnehmung Erfahrungsräume des ‚Außer-Alltäglichen’ im Kultraum eröffnen. Derartige Erfahrungen lassen sich im Spannungsfeld Kunst und Kirche mit Kunstwerken der verschiedenen Gattungen machen, wobei die Strategien, Inhalte und Effekte differieren. Konstante Grundlage für solche Wirkprozesse ist aber jene unbedingte Offenheit

Gottesdienst als „Transzendenz der Transzendenz“ auffasst (Erne, Hybride Räume, 17), kann man daraus nicht schlussfolgern, dass im Kirchenraum installierte Kunst, die mit eigenen räumlichen Wirkstrategien ausgestattet selbstbewusst und dezidiert mit dem Kultraum in Dialog zu treten sucht, eine dritte transzendente Ebene aufspannt, wodurch es im gottesdienstlichen Erleben von Kunst im Kultraum zu einer Art verdreifachtem, in jedem Fall multiplem Transzendenzgeschehen käme? 28 Bahr, Alle Kirchen, 11.

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und „stressfreie Autonomie“29, die Kunstproduktion und Kunstrezeption notwendig erfordern. Diese Unbestimmtheit im planerischen Vorfeld zuzulassen und auf die formende Kraft eines Künstlers, einer Künstlerin zu vertrauen mag für Kirchen als ein Wagnis erscheinen – doch es lohnt sich diese Herausforderung anzunehmen, das zeigen die Erfahrungen mit dem hier vorgestellten Projekt und mit vielen weiteren Projekten im Kultraum.

29 Erne, Thomas / Schüz, Peter (Hg.), Der religiöse Charme der Kunst, Paderborn/München/ Wien/Zürich 2012, 22  –  23. Thomas Erne betonte mit Recht die Erfordernis, neben „charmanten Übergängen“ auch „Grenzkonflikte“ im Kirchenraum zuzulassen; vgl. Erne, Hybride Räume, 11. In diesem Sinne sollte auch die kulturelle Planungsarbeit für Kunst im Kultraum ein möglichst breites Spektrum abbilden – künstlerisch, aber auch in Hinblick auf gesellschaftliche Fragen.

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Autorinnen und Autoren Karin Berkemann ist seit 2013 Kustodin der Gustaf-Dalman-Sammlung an der Theologischen Fakultät der Universität Greifswald. Hier hat sie seit 2014 einen Lehrauftrag inne (2016/17 als Lehrstuhlvertretung „Jüdische Literatur und Kultur“). Die Theologin und Kunsthistorikerin arbeitet seit 2002 in der Vermittlung von Kirche und (Bau-)Kunst. Von 2008 bis 2010 war sie Wissenschaftliche Volontärin/Mitarbeiterin beim Landesamt für Denkmalpflege Hessen. Mit einer Schrift über Frankfurts Nachkriegskirchen wurde sie 2012 promoviert. Sie ist Mit-Herausgeberin des Online-Magazins moderneREGIONAL, das 2018 den Deutschen Preis für Denkmalschutz (Internetpreis) erhielt. Maximiliane Buchner ist seit 2016 wissenschaftliche Mitarbeiterin im SNF-Projekt Heilige Räume in der Moderne an der KU Linz mit Forschungsschwerpunkt Sakralbau des 20. und 21. Jahrhunderts in Österreich. Sie studierte Kunstgeschichte, Geschichte und Romanistik an der Universität Salzburg. 2009 wurde sie mit einer Dissertation über Künstlerhäuser im europäischen Kontext promoviert. Von 2009 bis 2011 absolvierte sie ein wissenschaftliches Volontariat im Bauressort des Erzbischöflichen Ordinariats München. Im Anschluss war sie als Univ.-Ass.in am Institut für Kunstgeschichte der Universität Innsbruck tätig. Veronika Eufinger ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Angewandte Pastoralforschung der Ruhr-Universität Bochum und promoviert am Centrum für Religionswissenschaftliche Studien mit einem interkulturellen Forschungsprojekt zu den Stra-

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tegien urbaner kirchlicher Präsenzen in Deutschland und den USA. Ihre weiteren Forschungsschwerpunkte sind die Verbindung qualitativer und quantitativer Methoden der Sozialforschung, Religion und Geschlecht sowie Religionspsychologie. Franz Gruber ist seit Juli 2014 Rektor der Katholischen Privat-Universität Linz und Professor der Dogmatik und Ökumenischen Theologie ebendort. Er forscht zur Wissenschaftstheorie der Theologie, zur Sozialphilosophie sowie zur symboltheoretischen Erschließung religiöser Sprache. Zu seinen jüngsten Veröffentlichungen zählen: Verstehen und Verdacht. Hermeneutische und kritische Theologie im Gespräch (hg. gem. mit A. Kreutzer u. A. Telser), 2015; Habermas und die Religion (hg. gem. mit K. Viertbauer), 2017. Annegret Kehrbaum ist promovierte Kunsthistorikerin. 1991–2007 war sie Kuratorin des Universitätsmuseums Arithmeum in Bonn (Mathematik, Technikgeschichte, konkrete Kunst). Von 2008 –2009 arbeitete sie im Sprengel Museum Hannover, 2009–2015 hatte sie eine Vertretungsprofessur für Kunstwissenschaft an der Leibniz Universität Hannover inne. Seitdem ist sie dort am Institut für Berufspädagogik und Erwachsenenbildung tätig. Sie ist Mitglied im Kuratorium und seit 2017 Kulturmanagerin der Kulturkirche Markuskirche in Hannover. Monika Leisch-Kiesl ist Professorin für Kunstwissenschaft und Ästhetik an der KU Linz. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in der (mittelalterlichen) Buchmalerei, künstlerischen Positionen des 20./21. Jahrhunderts, der Zeichnung, Fragen nach Inter- und Transkulturalität sowie zu Kunsttheorie und Ästhetik. Zu ihren jüngsten Publikationen zählen: ZeichenSetzung | BildWahrnehmung. Toba Khedoori: Gezeichnete Malerei, 2016; „Global Art History“. Transkulturelle Verortungen von Kunst und Kunstwissenschaft (hg. gem. mit. J. Allerstorfer), 2017; „Die Zukunft gehört den Phantomen.“ Kunst und Politik nach Derrida (hg. gem. mit A.R.Boelderl), 2018.

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Beate Löffler ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der IN-EAST School of Advanced Studies der Universität Duisburg-Essen sowie der TU Dortmund. Sie studierte Bauerhaltung und Architektur in Potsdam sowie Kunstgeschichte, Geschichte des Mittelalters und der Wirtschafts- und Sozialgeschichte in Dresden. Löffler wurde mit einer Studie zum christlichen Kirchenbau im modernen Japan promoviert. Seitdem betreibt sie Forschungen zur Aushandlung von Architektur und Stadt zwischen Europa/Nordamerika und Japan/Ostasien sowie zum Sakralbau zwischen Religion, Populärkultur, Kunst und Architektur. Anna Minta ist seit März 2016 Professorin für Geschichte und Theorie der Architektur an der KU Linz. Ihr aktuelles Forschungsprojekt (SNF-Projekt Heilige Räume in der Moderne. Transformationen und architektonische Manifestationen, 2014 –2018) untersucht auratische Raumkonstruktionen und Sakralisierungsprozesse in der Moderne. Sie hat umfangreich publiziert zur Architekturgeschichte in Europa, Israel und den USA sowie zur Vereinnahmung von Architektur und öffentlichem Raum in Identitätskonstruktionen und Herrschaftsdiskursen. Irene Nierhaus ist Professorin für Kunstwissenschaft und Ästhetische Theorie an der Universität Bremen und Leiterin des Mariann Steegmann Instituts Kunst & Gender Bremen und des Forschungsfelds wohnen+/-ausstellen. Forschungsschwerpunkte zur visuellen und räumlichen Kultur, insbesondere zu Beziehungen zwischen Kunst, Architektur und bildnerischen Medien des 19. und 20. Jahrhunderts und der Gegenwart. Zu den letzten Publikationen zählt der Band Matratze/Matrize: Möblierung von Subjekt und Gesellschaft. Konzepte in Kunst und Architektur (hg. gem. mit K. Heinz), Bielefeld 2016, Schriftenreihe wohnen+/-ausstellen, Bd. 3. Georg Maria Roers SJ ist seit 2012 Kunst- und Kulturbeauftragter sowie Künstlerseelsorger im Erzbistum Berlin. Er trat 1985 in den Jesuiten-

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orden ein und studierte in München, Frankfurt/Main, Berlin sowie Linz Theologie, Philosophie, Germanistik und Kunstwissenschaft. 1998 wurde er im Frankfurter Kaiserdom zum Priester geweiht, danach war er in Wien und Kalifornien tätig. Es folgte Redaktionsarbeit in der Zeitschrift Geist und Leben und von 2002 bis 2011 die Arbeit als Künstlerseelsorger im Erzbistum München und Freising. Hier wurde er auch zum Kirchenrektor der Asamkirche ernannt. Roers ist auch als Kurator und Lyriker tätig. Zu seinen neusten Publikationen zählen Sein.Antlitz.Körper. Kirchen öffnen sich der Kunst (2017) und Der Himmel von morgen (2018). Manfred Scheuer ist seit 2016 Bischof der Diözese Linz. In der Österreichischen Bischofskonferenz ist er unter anderem für den Bereich Ökumene verantwortlich. Nach dem Studium der Theologie in Linz und Rom war er zunächst in der Seelsorge und als Spiritual des Linzer Priesterseminars tätig. Nach seiner Habilitation an der Universität Freiburg/Breisgau lehrte er ab 2000 als Professor für Dogmatik an der Theologischen Fakultät Trier. 2003 wurde er zum Bischof geweiht und wirkte 12 Jahre in der Diözese Innsbruck. Linda Schiel ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Kooperationsprojekt Dialog im Museum der Hochschule RheinMain und des Deutschen Architekturmuseums in Frankfurt am Main. Sie studierte Kunstgeschichte und Angewandte Kulturwissenschaft/ Kulturarbeit in Karlsruhe und Hamburg. Sie war Mitarbeiterin eines interdisziplinären Forschungsprojekts der Isa LohmannSiems Stiftung in Hamburg. Hierzu erschien 2018 im Reimer Verlag Wege. Gestalt – Funktion – Materialität. Aktuell arbeitet sie an der Goethe-Universität an einem Dissertationsprojekt zur Analogie von europäischer Museums- und Sakralarchitektur seit den 1980er Jahren. Brigitte Sölch ist seit 2018 Professorin für Architektur- und Designgeschichte/Architekturtheorie an der Staatlichen Akademie der Bil-

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denden Künste Stuttgart. Sie ist weiterhin Assoziierte und Co-Projektleiterin (Piazza e monumento; Ethik und Architektur) am Kunsthistorischen Institut / Max-Planck-Institut in Florenz, wo sie von 2008 bis 2018 tätig war. Von 2016 bis 2017 war sie Vertretungsprofessorin für die Kunstgeschichte der Frühen Neuzeit mit einem Schwerpunkt in der Architektur an der Ruhr-Universität Bochum. Schwerpunkte der Forschung sind die Bild- und Architekturgeschichte mit Bezug zur politischen Ideengeschichte in Früher Neuzeit und Moderne/Gegenwart. Sie wurde mit der Arbeit Das Forum – nur eine Idee. Versuch einer Problemgeschichte aus kunst- und architekturhistorischer Perspektive (15.–21. Jh.) 2018 an der Humboldt Universität zu Berlin habilitiert. Marion Starzacher ist Architektin und seit Oktober 2018 Professorin für Technik & Design am Institut für Allgemeinbildende Fächer der Sekundarstufe, FB Ästhetisch-künstlerische und medienpädagogische Bildung, PH Steiermark. Sie forscht zum Thema der offenen, prozessorientierten Lehre und zum Raum in der Architektur. Seit 2005 ist sie in der Architektur- und Baukulturvermittlung an Schulen und Universitäten wie auch in der Kinderuni aktiv, woraus 2013 die Gründung der Architekturinitiative ARCHelmoma folgte. Als Projektleiterin hat sie eine Vielzahl von Projekten im schulischen, studentischen und außerschulischen Kontext mit Kooperationspartner*innen entwickelt und umgesetzt. In ihrer künstlerischen Praxis arbeitet sie mit den Medien Fotografie & Grafik, mit dem Fokus auf Architektur. Klaus Tragbar ist seit 2013 Professor für Baukunst, Baugeschichte und Denkmalpflege an der Universität Innsbruck und Leiter des Archivs für Baukunst. Er studierte Architektur an der TH Darmstadt (1980 –1989) und arbeitete danach als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachgebiet Baugeschichte ebenda (1990 –1996). Nach der Promotion 1997 lehrte er in Darmstadt (1996 –1998, 2002), Mainz (1997), Frankfurt am Main (1997/98) und Augsburg (2002–2013), war Geschäftsführer

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der Deutschen Burgenvereinigung (1998 –2001) und erhielt ein DFG-Forschungsstipendium (2001/02). Tina Zürn ist Kunsthistorikerin und seit 2012 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur Geschichte der Architektur und des Städtebaus an der Humboldt-Universität zu Berlin. In ihrem vom Schweizerischen Nationalfonds geförderten, 2013 abgeschlossenen Dissertationsprojekt beschäftigte sie sich mit dem Wechselverhältnis von Raumwahrnehmung und Körperbewegung. Die 2014 mit dem Rudolf-Arnheim-Preis ausgezeichnet Dissertation ist 2016 unter dem Titel Bau Körper Bewegung. Prozessuale Raumaneignung in der Moderne im Deutschen Kunstverlag erschienen.

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