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German Pages 314 Year 2015
Philipp Hannes Marquardt Raplightenment
Studien zur Popularmusik
Philipp Hannes Marquardt, geb. 1983, ist seit 2010 wissenschaftlicher Mitarbeiter für Komparatistik, Germanistik und Medienwissenschaft an der Eberhard Karls Universität Tübingen, wo er an der Philosophischen Fakultät promovierte. Zu seinen Schwerpunkten in Forschung und Lehre zählen u.a. Ideen und Methoden der Aufklärung, Populärkultur (v.a. die Kultur des HipHop) sowie der Bereich »Digitale Komparatistik«.
Philipp Hannes Marquardt
Raplightenment Aufklärung und HipHop im Dialog
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2015 transcript Verlag, Bielefeld zugl. Diss., Phil. Fak. d. Univ. Tübingen, Wintersemester 2014/15
Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Kupferstich-Kabinett, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Foto: Herbert Boswank, Bearbeitung: Martin Härtlein 2015 Printed in Germany Print-ISBN 978-3-8376-3253-8 PDF-ISBN 978-3-8394-3253-2 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
Inhalt'
Vorwort | 7 I.'Einleitung'' | 11 '
1.1 Theoretische Überlegungen und Methodologie | 25 II.' Gegenstandsbestimmung'anhand'' struktureller'Gemeinsamkeiten'' | "" 31 '
2.1 Aufklärung und Geisteswissenschaften | 32 2.2 Das »Zeitalter der Aufklärung«: Basisprozesse und Denkfiguren komplexer Konstellationen | 42 2.3 HipHop als Aufklärungsbewegung der Gegenwart? | 59 2.3.1 HipHop in den Geisteswissenschaften | 60 2.3.2 »Glokalisierte« Vermischung | 66 2.3.3 Der Ursprungsmythos des HipHop und dessen performative Herstellungspraxis | 69 2.3.4 Inkorporation, Widerstand oder beides? | 104 2.4 Was ist real? – Is this Aufklärung? Rhetorische Fragen als Prüfsteine permanenter Selbstkritik | 111 III.!» E ach !o ne T ! each !o ne«:' ' Dialogisches'Prinzip'&'Enzyklopädische'Methode'' als'Grundelemente'einer'performativen'Aufklärung'" | "" 121 '
3.1 Das Dialogische Prinzip | 130 3.1.1 »Häusliches Schauspiel«: Dialogizität als Aufklärungs-Theater | 135 3.1.2 Das ›reale‹ Spiel mit Illusionen | 146 3.2 Rap mit schlechtem Gewissen – Eminems Guilty Conscience als Beispiel des Dialogischen Prinzips | 149
" 3.4 Dialog gestern und heute – Le Neveu de Rameau und Wer bin ich? | 160 3.4.1 Selbstreflexion im Spannungsverhältnis von »Ich« und »Du«: Denis Diderot und MC Torch | 162 3.4.2 Die Analysekategorie »Wer bin ich?« | 169 3.4.3 Ein Vergleich der Stücke Le Neveu de Rameau und Wer bin ich? | 175 IV.'Das'Enzyklopädische'Projekt'–'' Wissen'sammeln,'festhalten'und'weitergeben'' | " 189 '
4.1 Ein Kreislauf des Wissens – Verknüpfung als Strategie | 192 4.2 »Im Zentrum steht allein der Mensch« – Geschichtsbilder und Zukunftsvisionen im Vergleich | 196 4.3 Fiktionale Wissensvermittlung – Schillers Kindsmörderin und Curse’ Lila | 200 Exkurs: Kindsmord als literarisches Sujet der Aufklärung | 201 4.3.1 Schillers Kindsmörderin – Perspektive einer ohne Perspektive? | 203 Exkurs: Mehrdimensionale Rap Musik | 213 4.3.2 Curse’ Lila – Ein ›extremes‹ Beispiel | 218 V.' HipHop'über'HipHop'als'Aufklärung'über'Aufklärung'" | "" 231 ' VI.'Conclusio'' | "" 257 ' ' VII.'ShoutMOuts'' | "" 263 ' ' VIII.'QuellenM'und'Literaturverzeichnis'" | "" 265 ' ' IX.'Anhang'" | "" 277 ' '
Vorwort'
Liebe Leserinnen und Leser, die nachfolgende Dissertationsschrift geht der Frage nach, ob Methoden des Aufklärens, jenseits des 18. Jahrhunderts und weit über Europas Grenzen hinaus, in popkulturellen Rap-Songs ebenfalls eine bedeutende Rolle spielen. Aufklärung und HipHop? Bürgerliches Trauerspiel und Conscious Rap? Friedrich Schiller und Freundeskreis? Ich gebe zu: die elementaren Gemeinsamkeiten zwischen aufklärerischen Vorstellungen des 18. Jahrhunderts und gegenwärtigen Überlegungen aus der Populärkultur HipHop erschließen sich dem außenstehenden Beobachter nicht automatisch. Allerdings bedarf es keiner allzu großen Mühe, um in beiden Erfahrungsräumen und Geschichtswelten intuitiv Parallelen zu identifizieren. Sowohl was künstlerische Praktiken anbelangt, also hinsichtlich poetologischer Konzepte, die gleichermaßen Wissen verbreiten und sich mittels Dialog-Technologien dem eigenen Selbst versichern wollen, als auch was die Grundüberzeugung einer selbstbestimmten, selbstreflexiven und selbstverständlichen Menschennatur angeht. Dass Selbstkritik und Selbstverliebtheit in beiden Welten aus einer Triebfeder stammen, und individuelle Größe sowie Größenwahn gleichermaßen vom Streben nach persönlicher Freiheit und Einzigartigkeit herrühren, markiert die Aufklärung auch in diesem neuerlichen Versuch der Positionierung in einem dialektischen Spannungsverhältnis. Die nachfolgenden Seiten wollen die nie endende Suche nach der Antwort auf die Frage, was Aufklärung eigentlich ist, durch eine neue Sicht auf- und angreifen. HipHopKultur und Aufklärungsphilosophie sollen dabei kontrastiv – nicht selten konfrontativ – miteinander in Bezug gesetzt werden, um so einerseits der immanenten Aktualitätsverpflichtung der Aufklärung nachzukommen und, zweitens, um ihr ›totalitäres‹ Koordinatensystem mit den Fixpunkten Emanzipation, Popularisierung, Herrschaft sowie Selbstkritik und –auflösung von der Gegenwart her neu auszuloten.
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" Der Vergleich von historischen Literaturen und zeitgenössischen Musikstücken ist in mehrerlei Hinsicht kompliziert. Gemeinsamkeiten und Ähnlichkeiten der verschiedenen Kontexte und Formate aus unterschiedlichen literarischen Traditionslinien lassen sich einzig mit Blick auf übergeordnete Strukturen untersuchen. Um eine solche Vergleichsebene finden zu können, bedarf es folglich der intensiven Beschäftigung mit dem Material. Das Studium der Textquellen aus der HipHop-Kultur erfordert allerdings eine spezielle Art der Auseinandersetzung, weshalb eine kurze ›Gebrauchsanweisung‹ an dieser Stelle angemessen erscheint. Rap-Songs besitzen neben den transkribierbaren Lyrics einen charakteristischen Flow. Diese Sprechgesangsstile, die auf einem Beat vorgetragen werden und prosodisch hoch komplex sein können, prägen entscheidend den Inhalt und somit das Wesen von Rap-Musik. Begriffe und Bedeutungen der Texte entstehen unmittelbar im Zusammenspiel von Flow und Beat. Eine Lektüre der Lyrics allein eignet sich dementsprechend lediglich als Mnemotechnik. Sie gleicht etwa dem Verhältnis von Textsubstrat und Aufführungsrealisation beim Theater. Zum Verständnis der Argumentation setzt die vorliegende Abhandlung die Bereitschaft voraus, die HipHop-Quellen zunächst akustisch wahrzunehmen. Im Rahmen der Dissertationsschrift wurden die thematisierten RapSongs in Form eines Anhangs einheitlich aufbereitet und zur bequemen Lektüre editiert. Alle Liedbeispiele der vorliegenden Arbeit lassen sich außerdem leicht im Internet auffinden und parallel zu den einzelnen Kapiteln mithören. Als ich im Sommer 2010 von einem einjährigen Aufenthalt aus Providence nach Tübingen zurückkehrte und die Arbeit an dieser Promotionsschrift aufnahm, realisierte ich sofort die besondere Herausforderung der selbstgewählten Aufgabenstellung. Dass ein ständiges Austarieren und Ausbalancieren der Wissenshorizonte und Erkenntnisgewohnheiten zweier sehr unterschiedlicher Interessengruppen die Ausfertigung der Doktorarbeit begleiten würde, stand jedenfalls von Beginn an fest. Als scheinbar gänzlich verschieden erwiesen sich eingeübte Methoden der Geisteswissenschaft und praktizierte Umgangsformen von HipHopperInnen hinsichtlich ›ihrer‹ jeweiligen Texte. In meiner ersten Lehrveranstaltung, die sich voller Enthusiasmus an das Thema HipHop und Aufklärung heranwagte, reagierten die Studierenden ebenso unentschieden wie KollegInnen aus der Fakultät und »Heads« bei HipHop-spezifischen Anlässen. Je nach Wissenslage war es nicht leicht eine Vergleichsebene zu etablieren, die sowohl gegenwärtige Semioseprozesse aus der HipHop-Kultur in wissenschaftlichen Kontexten bedeutsam werden ließ, als auch eine Sprache jenseits akademischer Terminologie für Aufklärungsphänomene zu finden, und damit ebenso auf Rap-Konzerten sowie in HipHop-Foren verstehbar zu werden. Auf einen zweiten Blick (und mit offenen Ohren für Phänomene der Ähnlichkeit) können
V ORWORT " | " 9 "
verschiedene Lesergruppen vom jeweilig anderen Textmaterial sehr viele Anregungen empfangen. ›Strategien der Selbstinszenierung‹, ›Regeln der Realness‹ und ›Poetiken des Populären‹ sind nur drei von zahlreichen Forschungsgebieten, die sich wechselseitig besser verstehen beziehungsweise rezipieren ließen. Ich hoffe, dass mit diesem Buch ›beide‹ Seiten in besagtem Sinn voneinander profitieren; dass HipHopperInnen ihre eigene Identitätsgeschichte nach der Lektüre geschichtsbewusster rekonstruieren und GeisteswissenschaftlerInnen populäre Texte künftig müheloser (und mutiger) mit ihren täglichen Lehr- und Forschungstätigkeiten in Verbindung bringen. Ohne den intensiven Austausch mit Familie, Freunden, Kommilitonen, Studierenden und Kollegen wäre dieses Buch nicht möglich gewesen. Sowohl an der Brown University als auch an der Universität Tübingen fanden sich zu meinem enormen Glück besonders offenherzige Menschen, die mir wieder und wieder Rede und Antwort standen; auch auf bisweilen aberwitzige und oft unkoordinierte Spekulationen hin. Dass meine wahrhaft interessierte, internationale und interdisziplinäre ›Peer Group‹ die vorgebrachten Ideen dabei immer kritisch und aus verschiedensten Perspektiven gemeinsam mit mir diskutieren wollte und dazu bereit war, jenseits eigener Themen bisweilen tief in Beats & Rhymes sowie in Poesie und Philosophie des Siècle des Lumières einzutauchen, ist als wesentlicher Grund für die Entstehung dieses Buchs auszumachen. Dafür möchte ich mich an dieser Stelle bei allen Beteiligten herzlich bedanken!
Tübingen im September 2015
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I. Einleitung'
Mitte der 1990er Jahre erfährt die Populärkultur in Deutschland einen einschneidenden Wandel: Deutschsprachige Rap-Stücke erobern die Musikcharts. In Stuttgart, Heidelberg, München, Frankfurt oder in Hamburg gründen sich nach US-amerikanischem Vorbild – allerdings in jeweils lokalen Ausprägungen – sogenannte HipHop-Posses.1 Innerhalb dieser zunächst regionalen Zusammenschlüsse entwickeln sich binnen kürzester Zeit spezifische Stile (»Stylez«), entstehen »Beats«, »Flows«, »Lyrics« aber auch »Break-Moves« und Maltechniken mit hohem Wiedererkennungswert und Wirkungsgrad.2 Neue künstlerische Umfelder abseits etablierter Kulturvermarktungskanäle, die sich in und rund um die jetzt entstehenden Kunstwerke (Lieder, Bilder und TanzPerformances) intensiv mit der eigenen Tradition sowie mit politischen und
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»Posses« bezeichnen Zusammenschlüsse mehrerer KünstlerInnen (MCs, Braker, DJs, Writer, Producer). Bundesweit Bekanntheit erlangten ab Mitte der 1990er Jahre zum Beispiel die Stuttgarter Kolchose oder die Mongo-Clikke aus Hamburg. Ein Zusammenhang von in der näheren Umgebung angesiedelten US-amerikanischen Militärbasen und der Geburt lokaler HipHop-Szenen lässt sich darüber hinaus als wesentlicher Faktor beobachten.
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Innerhalb der Arbeit sollen bewusst Begrifflichkeiten aus der HipHop-Kultur Verwendung finden. Diese werden, insofern nicht von selbst verständlich, im Fußnotenapparat erklärt. Die durchaus komplexen, HipHop-immanenten, poetologischen Regeln etwa im Bereich des Raps, fallen nicht selten zusammen mit eigenständigen Begriffen, welche eine individuelle Entwicklungsgeschichte aufweisen und nur schwer in die standardisierte Wissenschaftssprache übertragbar sind, ohne einerseits kulturspezifische Konnotationen zu verschütten und andererseits aus akademischen Kontexten mitschwingende Bedeutungen irrtümlicherweise zu applizieren. Neben der Schreibweise »HipHop«, die im Folgenden durchgehend verwendet wird, sind außerdem die Bezeichnungen »Hip Hop« oder »Hip-Hop« gebräuchlich.
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" ästhetischen Fragen beschäftigen, sorgen spätestens um die Jahrtausendwende dafür, dass auch ein deutschsprachiges Massenpublikum mit »Sound« und »Knowledge« der nun endgültig global in Erscheinung tretenden HipHop-Kultur in Berührung kommt. Szenen, Stile und Selbstverständnis, der sich innerhalb der HipHop-Kultur verortenden Künstler, unterliegen über die Jahre einem permanenten Wandel. Die aus soziopolitischen Hintergründen hervorgegangenen Grundgedanken des einst subkulturellen Umfelds verwässern und eine kaum mehr zu fassende Ausdifferenzierung unterschiedlichster Gattungen, Genres und Techniken ist zu beobachten. HipHop bleibt bis dato dennoch ein weltweit wirkmächtiges Kulturphänomen. yeah, yeah wir besetzen botschaften in totgesagten wortschätzen esperanto hält einzug in bundesdeutschen vorstädten freundeskreis wird zu amikaro der 2pac amaru der stuttgarter barrios unser lingo ist der ausdruck dieses schmelztiegels wir bring’n euch hiphop sound, in dem sich die welt spiegelt weil wir den blick bewahrten und wir selbst blieben das ist für die heads die raps aus 07 11 lieben miliano mondano mit der mischpoke don philippo und frico, dem discjockey die philosophie: street poetry ‘ne lingua franca für alle linken und einwanderer wir schreiben 9 9, heut’ ist rap universell a&r’s sehn aus wie b-boys die kultur zerschellt am geld die mediale definition von hiphop ist ‘ne farce wir tun was wir immer taten, nur der kontext ist im arsch ich krieg’ kopfschmerzen von zuviel popkonserven doch fk lässt sich nicht in diesen topf werfen es gibt nichts was uns zügeln kann, nichts was uns hält wir spreaden’s über stuttgarts hügel in die welt, esperanto3
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FREUNDESKREIS: Esperanto, auf: Esperanto, Four Music, Stuttgart 1999, Z. 3-23. Wie alle innerhalb der Studie bearbeiteten Rap-Stücke, findet sich auch eine Transkription von Esperanto als Anhang beigefügt (siehe Anhang, S. 278.).
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Die erste Strophe des Lieds Esperanto der Stuttgarter Gruppe Freundeskreis vom gleichnamigen Album aus dem Jahr 1999 eignet sich unter mehreren Gesichtspunkten hervorragend, um einige zentrale Merkmale der sogenannten »goldenen Ära« des deutschsprachigen Raps herauszudestillieren und einleitend Fragestellung, Zielsetzung, Methoden und Relevanz dieser Dissertationsschrift zu erhellen. Der Rap-Textauszug kann als prototypisch für das ideengeschichtliche Umfeld sowie für kommunikations-ästhetische Strategien eines kulturspezifischen und historischen Bezugsraums verstanden werden, handelt es sich doch um ein sehr erfolgreich rezipiertes Stück der Zeit. Weniger die ökonomische Seite des Erfolgs von Freundeskreis, sondern vielmehr die intertextuelle Dimension von Song und Album belegen die Wirkung.4 Nicht bloß dem Szenekenner springt von der ersten »Line« an das komplexe Spiel mit Mehrfachbedeutungen ins Auge. Das »besetzen [von] botschaften in totgesagten wortschätzen« verweist zugleich auf die politische Intention des Aussagesubjekts und benennt sofort die ›revolutionäre Technik‹ des angestrebten Unterfangens. Einerseits drängt das Bild der besetzen Botschaft dem bundesdeutschen Rezipienten das historische Ereignis der Besetzung der Prager Botschaft ins Bewusstsein, erinnert somit an den berühmten, symbolischen Emanzipationsakt des ›Volks‹ gegenüber dem totalitären DDR-Staat im Herbst 1989. Auf der anderen Seite konstituiert sich ein Widerstandsmoment im vorliegenden Text durch die Wiederbelebung für Tod befundener kultureller Güter. Es sollen folglich gesellschaftliche Veränderungen durch in Vergessenheit geratene, und in gleicher Weise wortspielerisch funktionalisierte »wortschätze« erzielt werden. Die Botschaft selbst wird hier zur Botschaft. Mit Wörtern, Sätzen und Reimen soll Rap zur »lingua franca« werden. Eine solche Wertschätzung sowie das Vertrauen auf die Kraft der Wörter und ihre unterschiedlichen Sprecher wirkt im Jahr 1999 wie ein Anachronismus. Sie scheinen eher ins Jahr 1789 zu passen als in die post-post-moderne Industriegesellschaft west-europäischer Prägung. Die Hoffnung auf die Gestaltbarkeit sozialer Verhältnisse durch »philosophische street poetry« scheint sich innerhalb des Textbeispiels auf einen Umstand zu gründen, den man als Ausbildung einer mündigen, unabhängigen und selbstbewussten Identität beschreiben kann. »freundeskreis wird zu amikaro, der 2pac
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Verweise auf »Esperanto« und Freundeskreis finden sich bis heute in vielen deutschsprachigen Rap-Lyrics. Siehe dazu z.B. DYNAMITE DELUXE: Bis Dato, auf: Deluxe Soundsystem, Eimsbusch/ Buback 2000; CURSE: Goldene Zeiten ft. Max Herre, auf: Innere Sicherheit, Sub Word 2003; 121 CREW: Stop it, auf: Soulseeker, Hanover Robust 2009.
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" amaru der stuttgarter barrios […] weil wir den blick bewahrten und wir selbst blieben […] miliano mondano mit der mischpoke, don philippo und frico dem diskjockey […] fk lässt sich nicht in diesen topf werfen […].« Das Selbstbild, ein damit verbundener Auftrag zur Selbstbestimmung und die sich auf Selbstreflexivität gründenden Zielsetzungen des Kunstwerks basieren dezidiert auf dem HipHop-kulturellen Kontext der Stuttgarter Musiker. Indem sich Freundeskreis hier mit der Rap-Legende Tupac Amaru Shakur5 identifiziert, dabei gleichzeitig den Ursprungsmythos der HipHop-Kultur für den Hörer ins Gedächtnis ruft und das traditionelle soziale Umfeld (»barrio«) reaktiviert, entsteht eine Bühne der Bedeutungen, auf der sich das lyrische Aussagesubjekt performativ seiner eigenen Identität versichert. Die permanente und individuelle Selbstdefinition auf der Basis einer kollektiv gespeicherten Erfahrungskultur scheint demnach das entscheidendes Merkmal bei der Herstellung und Kommunikation von Bedeutung innerhalb des Rap-Textes abzugeben. Dass sich in der Strophe etliche weitere Passagen identifizieren lassen, die HipHop im Kontext kulturindustrieller Zusammenhänge kritisch in den Fokus rücken (»ich krieg kopfschmerzen von zu viel popkonserven«), ist an dieser Stelle besonders hervorzuheben. Es dreht sich hierbei nicht um einen interessanten Sonderfall intelligenter Selbstreflexivität, sondern um ein weltweit verbreitetes strukturelles Merkmal, auf das zu Beginn der Beschäftigung mit der HipHopKultur hingewiesen werden muss. »HipHop schafft in seinen Tracks ein intertextuelles Referenzsystem, das permanent auf den kulturellen Kontext und die eigenen Praktiken verweist. Das geschieht nicht nur durch die Raps und Samples, sondern auch durch die Gast-Auftritte von Rap-Stars auf den Platten ihrer Kollegen. Dadurch entsteht eine Art selbstreferentielles und selbstreflexives Universum des HipHop.«6
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Tupac Amaru Shakur (geb. 1971 – ges. 1996) war einer der erfolgreichsten MCs aller Zeiten. Das 1996 veröffentlichte Album All Eyez On Me ist der weltweit meistverkaufte HipHop-Tonträger, welcher außerdem etliche wichtige Musikpreise einheimste. Nach dem tödlichen Attentat im September 1996 erlangte Shakur über die HipHop-Welt hinaus als zentrale Figur der sog. East Coast – West Coast Fehde internationale Bekanntheit und wird bis heute geradezu als Märtyrer verehrt.
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MIKOS, Lothar: » ›Interpolation and sampling‹: Kulturelles Gedächtnis und Intertextualität im HipHop«, in: Jannis Androutsopoulos (Hg.): HipHop. Globale Kultur – lokale Praktiken, Bielefeld 2003, S. 64-84. Hier: S. 73.
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Über unterschiedliche Zeiträume, in den verschiedensten Genres7 und jenseits nationaler Räume lässt sich in der Tat kaum ein Rap-Song aus dem »HipHopUniversum« ausfindig machen, der sich nicht inhaltlich explizit oder aufgrund formaler Intertextualitätsmerkmale indirekt mit der HipHop-Kultur selbst auseinandersetzt; »hundert schulen in rapcyphers [die] miteinander wetteifern.«8 Ein Einschreiben, Abarbeiten, Zitieren, Kommentieren, Kritisieren, Honorieren und Abgrenzen gegenüber beziehungsweise von bestehenden Formen und Positionen ist innerhalb des popkulturellen Felds so vehement zu beobachten, dass damit geradezu das entscheidende Wesensmerkmal von Rap ausgemacht werden kann.9 Spielen hohe Intertextualitätsgrade ebenfalls in anderen populärkulturellen Texten eine nicht unwesentliche Rolle bei den Semioseprozessen der Teilhabenden, lassen sie sich im Kontext der HipHop-Kultur als elementares poetologisches Charakteristikum bestimmen. Das global zirkulierende und stets wachsende Zeichenarchiv der HipHop-Kultur, welches sich aus unterschiedlichsten kulturellen Räumen speist, wird permanent für lokale Ausdrucksformen (um-)funktionalisiert. Der vorangestellte Textauszug von Freundeskreis vergegenwärtigt die »glokale« Dimension in Rap-Texten exemplarisch. Indem weltweit vorhandene Termini und Formate vor Ort angepasst und nicht selten in modifizierter Form wieder in das internationale Zeichenrepertoire des HipHop integriert werden, verspricht die Beschäftigung mit der Populärkultur ein Verständnis interkultureller Semantiken von weitreichender Dimension. Die Adaption vorhandener Symbole und Narrative vollzieht sich nicht willkürlich. Vielmehr lässt sich eine komplexe Mechanik bei HipHop-spezifischen Semioseprozessen erkennen und des Weiteren strukturell auffällige Regelmäßigkeiten ableiten. Obwohl es keine fixierte Anleitung für die Herstellung lokaler Bedeutung aus globalen Zeichensätzen im HipHop gibt, ähneln sich die
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»Genres« werden im Folgenden im Sinne Hickethiers als »flexible Verständigungsbegriffe« betrachtet, die es Produzenten erlauben, gewisse Erwartungen zu generieren und Rezipienten ermöglichen, differenzierte und gründliche Auswahlentscheidungen zu treffen. Obwohl Genres stets neu platziert und verändert werden können, weisen sie immer eine Konsistenz auf. Siehe dazu HICKETHIER, Knut: »Genretheorie und Genreanalyse«, in: Jürgen Felix (Hg.): Moderne Film Theorie, (= filmforschung #3) Mainz 2002, S. 62-103. Hier: S. 63.
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FREUNDESKREIS: Esperanto, Z. 31.
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Der Medien- und Kulturwissenschaftler John Fiske sieht in den Kategorien »Offenheit« und »Exzessivität« generell die wesentlichen Merkmale populärer Texte. Siehe dazu FISKE, John: »Populäre Texte, Sprache und Alltagskultur«, in: Charis Goer et al. (Hgg.): Texte zur Theorie des Pop, Stuttgart 2013, S. 169-184.
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" bisherigen Entwicklungen doch auf eine signifikante Weise. Künstlerische Ausdrucksformen, Ästhetiken und Stile, die sich erfolgreich innerhalb des popkulturellen Felds etablierten, und das heißt ihrerseits wiederum Teil des globalen Archivs werden, weisen stets einen signifikanten Bezug zur Ursprungserzählung der Kultur auf. Vereinfachend kann diese mythisch aufgeladene Gründungsnarration als sozioökonomische Emanzipationsgeschichte, und somit primär als ›Anleitung‹ zur Produktion von Identität zusammengefasst werden. Die kollektive Erzählung spielt zeitlich in den frühen 1980er Jahren im urbanen Umfeld New Yorks und ist soziologisch angesiedelt im gesellschaftlichen Kontext afroamerikanischer, einkommensschwacher sowie politisch marginalisierter Bevölkerungsteile. Sie geht einher mit der starken Betonung von Eigenverantwortung und Individualität. Beide zentralen ›Wertekonzepte‹ der HipHop-Kultur lassen sich als selbstidentifikatorische Bewältigungsstrategie im Kontext sozialer Lebenswirklichkeiten fassen. Es sind ähnliche Umgebungsvariablen, die von den KünstlerInnen und den Künsten der HipHop-Welt immer wieder auf lokal vorherrschende Bedingungen hin durchdekliniert werden, gleich ob in französischen Banlieues, im Gazastreifen oder eben in »bundesdeutschen vorstädten«. Für einzelne Akteure und Gruppen spielt außerdem ein geradezu ›enzyklopädisches Wissen‹ über Personen, Inhalte, Techniken und kulturhistorische Entwicklungen sowie ein hochgradig dialogischer Umgang mit diesen Wissensbeständen bei der performativen Herstellung von Selbstbewusstsein die zentrale Rolle. HipHop jenseits kulturindustriell verwerteter »popkonserven« weist aufgrund der beschriebenen Wesensmerkmale charakteristische Eigenschaften auf, die sich nicht gänzlich verschieden auch für eine zeitlich und inhaltlich vermeintlich weit entfernte Bewegung sowie für ihr prominentes Arsenal künstlerischer Praktiken feststellen lassen: die sogenannte Aufklärung. Die zentralen aufklärerischen Grundbedürfnisse, Wissen gegen Widerstände in absolutistisch organisierten Gesellschaften zu sammeln, herzustellen und weiter zu verteilen sowie dialogische Reaktionsmuster im Hinblick auf Erkenntnisprozesse in der Öffentlichkeit und somit innerhalb des politischen Systems zu verankern, also eine große und programmatische Wertschätzung der Methoden »Enzyklopädismus« und »Dialogizität«, können dabei für zwei zeitlich entfernte Geisteskulturen aussagekräftig behauptet werden. Für die sogenannte Epoche der Aufklärung und die Populärkultur HipHop elementare Fragestellungen (Was ist Aufklärung? beziehungsweise Is this real?) generieren in beiden Kulturen permanente Neubestimmungsversuche der jeweilig eigenen ›Wertewelt‹. Damit korrespondierende Forderungen nach dem »Gebrauch der öffentlichen Vernunft« und der »Rückeroberung des öffentlichen Raums«, in Netzwerkstrukturen eingebettete
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»aufgeklärte Societäten« sowie »HipHop-Posses«, aber vor allem eine intendierte Kommunikationsgestaltung, die unterhalb der Oberfläche historisch divergenter Begriffswelten auf den Prämissen der »Enzyklopädischen Methode« und des »Dialogischen Prinzips« beruht, eröffnen sich dabei als funktionale Äquivalenz zwischen zwei auf den ersten Blick sehr unterschiedlichen Kulturphänomenen. Diese hier proklamierte strukturelle Ähnlichkeit in Bezug auf die HipHopKultur kann paradoxerweise nicht darüber hinwegtäuschen, dass es gegenwärtig kaum Vertrauen in die zentralen Errungenschaften der Aufklärung zu beobachten gibt, dass aus ihrem historischen Umfeld erwachsene Überlegungen und Methoden grundsätzlich keine entscheidende Rolle mehr zu spielen scheinen. Obwohl eine Rhetorik der Aufklärung in politischen Reden, im Zuge ›lückenloser Aufklärungsversprechen‹ bei Skandalen und öffentlichen Anlässen verschiedenster Art immer noch einen erhabenen und moralisch wohlklingenden Anstrich zu verleihen vermag, befindet sich ›die Aufklärung‹ in einer tiefgreifenden Glaubwürdigkeitskrise. Im Zusammenhang mit den barbarischen Terroranschlägen von Paris im Januar 2015 lässt sich eine ausgehöhlte und rhetorisch instrumentalisierte Begriffswelt der Aufklärung exemplarisch beobachten. Von einem Angriff auf die zentralen Werte der Demokratie und somit auf die Freiheit sowie Sicherheit der ›westlichen Welt‹ ist umgehend die Rede. Ausgehend vom Boulevard Voltaire (aber mit genügend Sicherheitsabstand!) demonstrieren Staats- und Regierungschefs am Wochenende nach den Anschlägen symbolisch für eine aufgeklärte Gesellschaft, die Freiheit verspricht und Kritik (etwa in Form von Satire) zum wesentlichen Element ihrer Konstitution erhebt. Zum selben Zeitpunkt metzeln im Norden Nigerias islamistische Gotteskrieger von Boko Haram zum wiederholten Male unzählige Unschuldige nieder, ohne dass in Paris, Brüssel und Berlin ernsthaft auch dieser ›Opfer des Islamismus‹ und der Umstände des globalen Terrorismus gedacht würde. Während Hundertausende das ganze Jahr über auf der erbarmungslosen Flucht in den ›aufgeklärten‹ Westen alles riskieren, nicht selten ihr Leben lassen werden, erlangen nationalistische und rassistische Bewegungen in ganz Europa Popularität in beunruhigendem Ausmaß. Die Titelseiten großer und kleiner Zeitungen skandieren noch »nous sommes Charlie«, als es hinter den Kulissen längst um die Verschärfung von Freiheitsrechten und Sicherheitsstandards geht. Als erste Konsequenz auf den Terror wird reflexartig die zügige Einführung der Vorratsdatenspeicherung vorangetrieben. Es ist davon auszugehen, dass ein plurikulturelles und schon immer heterogenes Europa, dass die angebliche ›Heimat der Aufklärung‹ im Zuge dieser Entwicklungen noch schneller und stärker zur Festung ausgebaut werden wird. Würden aufklärerische Überzeugungen politisches Handeln und mediale Aufarbeitung leiten, müsste
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" längst ernsthaft und selbstkritisch über den Glaubwürdigkeitsverlust ›westlichaufgeklärter‹ Politik im Angesicht weltweiter Entwicklungen nachgedacht werden, müssten endlich ökonomische Gründe für die Brutalität einer entfesselten Globalisierung benannt und das mitverschuldete Scheitern der Etablierung menschenwürdiger Standards für die Weltbevölkerung öffentlich eingestanden werden. Doch in Ökonomie, Politik und Gesellschaft werden die historischen Sprachfloskeln von Vernunft, Toleranz und Fortschritt längst nicht mehr in ihrem einstig radikalen Versprechen auf eine bessere Welt für ernst genommen. Rationalisierung, Minimalkonsens und Wachstum als wesentliche Leitvorstellungen in vielen Lebensbereichen pervertieren die ursprünglichen Werte der Aufklärung auf geradezu beschämende Weise! Und dies auch dort, wo sie nicht lediglich als schmuckes Beiwerk in Festtagsansprachen zur beruhigenden Sprach-Homöopathie für die Erhaltung des status quo ad absurdum geführt wird. In geisteswissenschaftlichen Auseinandersetzungen ist das Erbe der Aufklärung nicht weniger gefährdet. Es ist eine wirklich komische Fügung, dass ausgerechnet einer der wohl vielsprachigsten, mehrdeutigsten, gar widersprüchlichsten historischen Entwicklungsräume der Menschheit, die sogenannte Epoche der Aufklärung, bei uns beinahe durchgängig auf einen Leitsatz reduziert wird. Immanuel Kants einleitende und gleichsam tausendfach auswendig gelernten Worte zur Beantwortung der Frage, was Aufklärung bedeute – dabei zugegebenermaßen nicht die schlechtesten, die in dieser Hinsicht je versucht wurden – stellen in ihrer verbreiteten Gestalt als gebetsmühlenartiges Antwortmuster ironischerweise das krasse Gegenteil der ihnen eingeschriebenen Absicht dar: nämlich den Ausgang des Menschen aus dessen »selbstverschuldeter Unmündigkeit« sowie »den Mut sich seines eigenen Verstandes zu bedienen« zur Maxime jeglichen Handelns zu erheben!10 Nicht bloß der erschreckende Glaube daran, dass ›die Aufklärung‹ – jenes permanent gepredigte Fundament einer angeblich europäischen Werteordnung – tatsächlich erschöpfend in einer eleganten Floskel zum moralisch verpflichtenden Ausdruck gebracht werden könne, sondern ebenso beunruhigend sind weitaus tiefgreifendere Vorurteile, die ihr in den Wissenschaften verstärkt seit der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts entgegengebracht werden: Das Erbe der Aufklärung als selbstherrliche, rationalistisch-technologische Weltvermessungsideologie, die naiv optimistisch (oder gar kühl kalkulierend?) kolonialisierte, industrialisierte, urbanisierte, kapitalisierte und in letzter Konsequenz sogar die millionenfachen, ›durchdachten‹ Massenmorde des 20. Jahrhunderts mit beinhal-
10 KANT, Immanuel: »Was ist Aufklärung?«, in: Ehrhard Bahr (Hg.): Was ist Aufklärung?. Thesen und Definitionen, Stuttgart 2006, S. 8-17.
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te. Selbstredend ist es richtig jene vielschichtigen Entwicklungslinien einer dialektischen Aufklärung, die, wenn nicht ihren Ausgang, so doch mit Sicherheit ein hohes Maß an Stimulation im ›Zeitalter der Aufklärung‹ nahm, höchst kritisch auch als Folgen gesellschaftlicher sowie geistesgeschichtlicher Formationen zu reflektieren. Doch eben dies zu tun, die kritische Selbstbeobachtung geradezu programmatisch über die eigene Schmerzgrenze hinaus zu treiben (wie beispielweise von Diderot in seinem Neffen des Rameau auf das Eindringlichste realisiert) und sich jenem daraus resultierenden Relativismus zu stellen, der ohne Rücksicht auf kollektiv-psychotische Traumbilder ego-taktischer Tyranneien (exemplarisch zur größten Transparenz gebracht etwa in Dantons Tod von Büchner) alle Ideologien der totalen Herrschaft als solche enttarnt, ist und war immer schon Kernstück aufklärenden Agierens. Die selbstkritische Seite als Verpflichtung der Aufklärung läge offen vor uns, würden wir die Augen nicht so verbissen zusammenkneifen vor dem »Laboratorium Aufklärung«, nämlich ihren schonungslos ambigen sowie selbstreflexiv ausgerichteten Textexperimenten. Die Literaturen der Aufklärung dürfen nicht länger als optimistischverblendetes Beiwerk einer Epoche abgetan werden. Es scheint endlich an der Zeit wieder eine individuelle Perspektive auf diese Texte zu richten und eine Auseinandersetzung ohne die Anleitung allzu manifest gewordener Deutungsgewohnheiten mit den Resultaten des wohl kühnsten Denkexperiments unserer Geschichte zu wagen. Die großen und kleinen Werke der Swifts, Diderots oder Schillers stehen geradezu exemplarisch für die selbstkritisch reflexive Durchdringung des politischen, pädagogischen und ökonomischen Projekts Aufklärung. Innerhalb der ›schönen‹ Schriften der Aufklärung wird dezidiert der Versuch unternommen, die Idee des Fortschritts der Menschheit in ihren vielschichtigen Konsequenzen beispielhaft für Individuen und Kollektive jeweils auf einer nachvollziehbaren Grundlage der Dynamik ›ganzer‹ Psychologien in dialogische Experimentalanordnungen münden zu lassen. Folglich nicht das Erlernen nützlicher Einzelinformation, sondern die spielerische Erziehung zur Freiheit, das Ausprobieren der Ausbildung zur Selbstbildung, verkündet uns der literarische Nachlass der Aufklärung! Umso mehr gilt es gerade in der Gegenwart, innerhalb derer westliche Gesellschaften zunehmend an ihren eigenen Widersprüchen zu scheitern drohen, wieder verstärkt auf ein kultur- und geistesgeschichtliches Erbe hinzuweisen, das zwar mit Sicherheit keine einfachen Lösungen in Form wohlklingender Merksätze parat hat, durch einen neuen Blick auf ›unsere‹ Aufklärung aber geradezu eine Art Lehrbuch für das Aushalten von und den Umgang mit scheinbar unüberwindlichen Widersprüchen bietet. Internationale Kulturkonflikte,
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" Wirtschaftskrisen und die Klima- sowie Flüchtlingskatastrophe als entscheidenden Fragen unserer Zeit verlangen jedenfalls umgehend einzugreifen! Es gilt elaborierte Re-Aktionsmuster aufklärerischer Provenienz in gegenwärtigen Kontexten erneut zu erproben, satirisch da beißende Kritik zu installieren, wo Recht und Freiheit des Einzelnen allzu offensichtlich systematisch mit Füßen getreten werden und dort kluge sowie umsichtige Nachsicht walten zu lassen, wo entgegenkommende Toleranz mehr Erfolg verspricht als die harsche Abschottung des Fremden aufgrund eigener Empfindlichkeiten. Eine sich stets neu zu bewährende Aufklärung kann im Vorfeld potentiellen Einschreitens in politische Diskurse nur sehr ungenau einen möglichen Aktionsradius vorzeichnen, kann Instrumente wie den polyperspektivischen Dialog und die selbstkritisch enzyklopädische Methode zwar als prinzipielle Verfahren ausweisen, konkrete Anwendungsstrategien müssen sich jeweils punktuell unter neuen Koordinaten bewähren. Das mag im Angesicht aktueller Problemstellungen zugegebenermaßen wenig erbaulich klingen. Was die Aufklärung als wirkmächtige Ideen- und Gefühlskultur aber immer schon für ihre Anhänger in Aussicht stellt, ist das Versprechen auf das Vermögen, die eigene Selbstbestimmung autonom zu entwickeln. Eine Identität, die sich möglichst unabhängig von Überlieferung radikal auf den vernünftigen Selbstentwurf eines Ichs, einzig auf die Überprüfung und Ausübung der eigenen (Sinnes-)Wahrnehmungen im Kontext sozialer Umgebungsvariablen verlegt. Hierin – im immerwährenden Potential der Aufklärung zur Ausbildung mündiger Identitätsentwürfe – liegt der Kern jener sozialen Kraft, die vom politischen Aufstieg des europäischen Bürgertums der Neuzeit, über den Emanzipationskampf der Frauenbewegung bis zur Erringung gleicher Rechte für afroamerikanische Menschen in den USA während des vergangenen Jahrhunderts hinüberreicht und sich in Anbetracht gegenwärtiger Ungerechtigkeitsphänomene im Zusammenhang einer ungleichzeitig globalisierten Welt mehr denn je als gangbarer Weg erweisen könnte. Um eine solch neuartige Perspektive auf die Ideen und Methoden der Aufklärung richten zu können und ihr gesellschaftspolitisches Potential im Hinblick auf die Selbstbestimmtheit des Menschen wieder verstärkt zur Geltung zu bringen, muss jene gleichsam oberflächliche wie ungünstige Meinung, die sich die (akademische) Gegenwart von ihrem Wesen subkutan zu eigen gemacht hat, zunächst selbst einer kritischen Überprüfung standhalten. Ehe vorurteilsfrei über etwaigen Erfolg, Scheitern oder Zukunftspotentiale der zentralen Errungenschaften des Siècle des Lumières Bilanz gezogen werden kann, sollte folglich die ›Aufklärung der Aufklärung‹ selbst ins Zentrum der Auseinandersetzung rücken. Denn um an dieser Stelle Immanuel Kant noch einmal zu Wort kommen zu
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lassen: »Eine Meinung, die einmal im Besitze des Ansehens, und sogar des Vorurteils ist, muß man ohne Ende verfolgen, und aus allen Schlupfwinkeln heraus jagen.«11 Innerhalb des vorliegenden Promotionsvorhabens soll nichts weniger versucht werden als das Wesen, sprich soziale, politische, ästhetische und kommunikationstechnologische Grundbedingungen des Projekts Aufklärung von der Gegenwart her neu zu befragen. Eine aufklärende Sicht auf die Aufklärung wird einerseits ein weiteres Mal um die Erforschung etwaiger Selbstreflexionspotentiale in den historischen Denkfigurationen philosophischen sowie literarischen Typus’ bemüht sein. Eine solche Perspektive lässt sich andererseits aber nur auf der Grundlage der Betrachtung denklogischer beziehungsweise verhaltensstruktureller Momente in deren entwicklungsgeschichtlicher Dimension reflektieren. Konkret geht es also darum, aufgeklärte Positionen und Versuchsanordnungen in literarischer Form zu zwei verschiedenen Zeitpunkten zu identifizieren und eine aussagekräftige Typologie jener (sich) aufklärenden Texte zu entwickeln, um diese dann schließlich diskursiv aufeinander zu beziehen. Eine einseitig auf eine bestimmte aufklärerische Rationalität fest- beziehungsweise hingeschriebene Vorstellung des Aufklärungsprozess’12, wie sie innerhalb geisteswissenschaftlicher Beschäftigungen beobachtet werden kann, ließe sich zwar über Jahrhunderte hinweg als selbsterfüllende Prophezeiung nachweisen, ein solcher Blick würde dem dezidiert ambigen Charakter unzähliger sich gegenseitig beeinflussender Aufklärungsdokumente (des 17. und 18. Jahrhunderts) aber bei weitem nicht gerecht. Nur in der wechselwirkenden Kombination von rational motivierten ›Beherrschungstechnologien‹, die nicht selten in konkrete Politiken münden (zum Beispiel intensive Wirtschafts-, Bildungs- und Sozialreformen hervorbringen) und der simultan entgegengesetzten – deshalb aber nicht minder logisch motivierten – kritischen Reflexion historischer Manifestationen aufklärerischen Gedankenguts, (etwa mittels des Aufklärungsinstruments par excellence, der Satire, wie in Swifts Modest Proposal (1729) oder in Voltaires Candide, ou l’Optimisme (1759)), lässt sich eine angemessene Vorstellung der Aufklärung ausarbeiten und auf nachfolgende Zeiträume applizieren. Ein einseitiger Blick auf die Aufklärung, welcher ihr geradezu tendenziös
11 KANT, Immanuel: Wahre Schätzung der lebendigen Kräfte, (Nachdr. d. Ausg. Königsberg 1746), Amsterdam 1986, A 154. 12 HORKHEIMER, Max/ ADORNO, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt a.M.
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2006, z.B. S. 13. »Die formale Logik war die
große Schule der Vereinheitlichung. Sie bot den Aufklärern das Schema der Berechenbarkeit der Welt.«
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" eine maßgebliche Verantwortung für die »Vermessung der Erde« und die Selbstentfremdung des Menschen aufgrund ›durchrationalisierter‹ Lebenswirklichkeiten zuschreibt, wie er sich innerhalb geisteswissenschaftlichen Auseinandersetzungen der vergangenen sechzig Jahre über die unterschiedlichsten politischen Lager hinweg mühelos nachweisen lässt, belastet das Vertrauen in die Kraft aufklärender Positionen nachhaltig. Ein solch vorverurteilender Fokus trägt durch seine wirkmächtige Präsenz schließlich selbst maßgeblich zum diagnostizierten Ergebnis bei. Dass eine demokratisch verfasste Gesellschaft ohne das Vertrauen auf ihre einzelnen BürgerInnen und den Glauben an institutionalisierte Formen öffentlich verfügbarer Wissensbestände sowie dialogisch ausgerichteter Kommunikationskanäle nicht möglich ist, dass eine ebensolche optimistische Grundhaltung darüber hinaus sogar jeweils den Ausgangspunkt für retrospektiv auch als sehr positiv zu bewertende Entwicklungen bildete, haben jene Aufklärungskulturpessimistischen Beobachter von jeher nur allzu gern vergessen. Gerade bei der Beurteilung als bedrohlich geltender Phänomene, etwa der durch Migration bedingten kulturellen Vermischung (westlicher) Gesellschaften, oder der sich durch die Globalisierung mehr denn je ähnelnden Populärkulturen sowie aufgrund neuer technologischer Kulturpraktiken, wie sie sich rund um das Internet weltweit verbreitet finden, eröffnet sich dem nüchternen Beobachter gegenwärtig ein durchaus alles andere als bloß negativ zu bewertender Gesamteindruck. Ohne Erfahrungen und bestehende Problembereiche ignorieren zu können, veranlasst endlich der historisch einmalige Erfolg vieler global in Erscheinung tretender Subkulturen als Identitätsarchive, die im Hinblick auf ihre dialogischenzyklopädische Verfasstheit stark an klassisch aufklärerische Ermündigungsstrategien erinnern, dringlichst eine Neubewertung der Aufklärung und ihrer gesellschaftspolitischen Potentiale. Die versuchte Perspektive auf das Phänomen Aufklärung wird durch den typologischen Vergleich mit einem gegenwärtig durchaus wirkmächtig in Erscheinung tretenden Breitenphänomen unternommen: der globalen HipHopKultur. Jenseits geschichtsspezifischer Parameter lassen sich in der Welt des HipHop tiefenstrukturelle Parallelen ausmachen, finden sich bei näherer Betrachtung sehr ähnliche Strategien des Aufklärens, so die zentrale Hypothese dieser Dissertationsschrift. Eine weitere Überzeugung des Vorhabens besteht in der Annahme, dass eine Neubewertung der Aufklärung nur über die komparatistische Auseinandersetzung mit historischen Manifestationen und aktuellen Spielarten gelingen kann. Diese eventuell zunächst als ungewöhnlich erscheinende Vergleichsperspektive verschreibt sich dezidiert jener bereits skizzierten Erkenntnis einer hochkomplexen Aufklärungswahrnehmung und stützt sich
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dabei unter anderem auf Michel Foucaults berühmtes Diktum, etwaigen Voroder Einstellungen über die Aufklärung sowohl diachron als auch synchron nachzuspüren, diese gezielt auf ihr diskursives Potential hin zu untersuchen und somit konkret an einer permanenten Bewusstwerdung des Aufklärungsprozesses zu operieren.13 Die vorliegende Untersuchung setzt sich in diesem Sinn zum Ziel Traditionslinien und Wesensmerkmale beider wirkmächtiger kulturgeschichtlicher Entwicklungen (Aufklärung und HipHop) mittels aussagekräftiger literarischer Quellen (Dramen, Erzähltexte sowie Gedichte und Rap-Lyrics) in mehreren Schritten partiell miteinander zu vergleichen. Es soll gezielt danach gefragt werden, ob und welche sich während der sogenannten Epoche der europäischen Aufklärung herausgebildeten Denkfiguren ebenfalls bei der Ausgestaltung künstlerischer Weltwahrnehmung innerhalb der seit über dreißig Jahren global bedeutsamen HipHop-Kultur ausgemacht werden können. Aus subkulturellen Kontexten entstandene Bewegungen, wie etwa die HipHop-Kultur, bezeugen seit Jahrzehnten eine eindrucksvolle Widerstandskraft gegenüber problematischen Gesellschaftswirklichkeiten. Wenngleich popkulturelle Gegenentwürfe zu bestehenden Gesellschaftsordnungen aus dem Feld des HipHop in einem dialektischen Verhältnis zu kulturindustrieller Inkooperation zu verorten sind, so produzieren sie für Individuen dennoch alternative Wertewelten, indem sie mit künstlerischen ›Ungerechtigkeits-Erzählungen‹ gezielt auf gesellschaftliche Defizite verweisen, persönliche Erlebnisse kollektiv erfahrbar machen und subjektive Wahrnehmungen mit neuen Begrifflichkeiten sowie Sinnzusammenhängen unterfüttern. »Hip Hop is the single most powerful contemporary influence on music and youth culture world wide. It is an expressive and empowering form of musical resistance, and has been transformed and reborn in its journey through the African diasporas of the United States, Europe and Brazil. Moving the full circle, rap and hip hop are now finding new forms of expression in Africa itself.«14
Aufgrund der Funktion als Produzent alternativer Lebensentwürfe, kann die Bedeutung der HipHop-Kultur, vor allem für sich durch eine ethnische oder
13 FOUCAULT, Michel: »Was ist Aufklärung?«, in: Endmann, E., Forst, R., Honneth, A. (Hgg.): Ethos der Moderne. Foucaults Kritik der Aufklärung. Frankfurt a. M. 1990, S. 33-55. Hier: S. 36. 14 WILSON, Patrick: »So I Choose to Do Am Naija Style«, in: H. Samy Alim/ Awad Ibrahim/ Alastair Pennycook (Hgg.): Global Linguistic Flows: Hip Hop Cultures, Youth Identities, and the Politics of Language, New York 2009, S. 117.
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" soziale Andersartigkeit benachteiligt betrachtende Personen, nicht auf kulturindustriell verwertbare Popmusik und Mode reduziert werden. Der inzwischen große Lebensbereiche beeinflussende ›Lifestyle‹ ist zu einer identitätsstiftenden Lebensphilosophie angewachsen, deren kreatives Potential sich nicht unwesentlich aus dem Bedürfnis nach Protest konstituiert und somit auch als innergesellschaftliches Ventil fungieren kann. Als eine sich mittlerweile über weite Teile des Globus spannende popkulturelle Strömung gewähren die Kulturen des HipHop einen zunehmend globalen Einblick in die Wertesysteme von ›jungen‹15 Menschen und eröffnen somit in einer komparatistischen Perspektive die Möglichkeit, aktuelle Semioseprozesse und Identitätskonstruktionen global nachzuvollziehen. Vergleichbar mit anderen Subkulturen, etwa dem Punk oder der HippieBewegung, speist sich die Dynamik des HipHop ebenfalls aus einem Kritikbedürfnis sozial benachteiligter Individuen, welche die bestehenden Artikulationsmöglichkeiten für ihre (oftmals generationsspezifischen) Anliegen als zutiefst unzureichend empfinden und sich innerhalb institutionalisierter Partizipationsmechanismen als ungehört wahrnehmen. In einer kritischen Auseinandersetzung mit der dominierenden gesellschaftlichen Werteordnung treten so für den aufmerksamen Beobachter Abweichungen und Überschneidungen der Wertesysteme ›neu‹ und ›etabliert‹ in Erscheinung und lassen sich durch den hervortretenden Kontrast detailliert bestimmen. Inwieweit es sich dabei tatsächlich um neuartige Ideen, Protestformen und Zielvorstellungen handelt, oder ob viel mehr von einer Werte-Konflikt-Tradition ausgegangen werden muss, die sich mindestens für die letzten dreihundert Jahre strukturell, wenigstens in Teilaspekten, bezeugen lässt, gilt es im Folgenden mit Instrumenten und Methoden aus verschiedensten geistes- und kulturwissenschaftlichen Fachbereichen differenziert zu überprüfen.
15 Die Kulturwissenschaftlerin Bakari Kitwana spricht gar von der sog. »Hip Hop Generation«. Der Versuch ihrer Kategorisierung erweist sich aus einer Reihe von Gründen als problematisch: über dreißig Jahre HipHop in weit mehr als dreißig verschiedenen Ländern stellen das Konstrukt Generation im Zusammenhang mit HipHop besonders in Frage. Allerdings bezeugen die weltweite Verbreitung und das Fortbestehen über einen relativ langen Zeitraum auf der anderen Seite, dass HipHop für viele Menschen in der Tat als ein identitätsstiftendes Sinnbezugsystem beschrieben werden kann. Vgl. dazu KITWANA, Bakari: The Hip Hop Generation: Young Blacks and the Crisis in African American Culture, New York 2002, S. 3ff.
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1.1 ' T HEORETISCHE' Ü BERLEGUNGEN ' 'UND' M ETHODOLOGIE ' In mehrerlei Hinsicht problematisch gestaltet sich die Methode des Vergleichs innerhalb dieses komparatistischen Promotionsprojekts. Nicht zuletzt deshalb, da die zu vergleichenden literarischen Erzeugnisse, welche, was deren Form, ihre Rückbindung an ästhetisch-sprachliche und historisch-politische Bezugssysteme anbelangt, unterschiedlicher nicht sein könnten. Gemeinsame Wesensmerkmale und unterschiedliche Eigenschaften mehrerer Aufklärungen zu erforschen setzt allerdings voraus, verschiedenartige Quellen aus divergenten Geschichtsräumen gezielt aufeinander zu beziehen. Die Methodologie der Komparation gründet sich im Kern stets auf die Suche nach verschiedenen Gegenständen gemeinsamen Strukturen. Das tertium comparationis des vorliegenden Projekts besteht nicht im Vergleich aufklärerischer Ideeninhalte, sondern in der Identifizierung aufklärender Methoden. Durch die Analyse von Instrumenten, Techniken und Praktiken des Aufklärens sollen die oftmals nur schwer zu entwirrenden Entwicklungslinien und Transformationsprozesse der Aufklärung bis in die Gegenwart hinein offengelegt werden. Nachdem zunächst prinzipielle Aussagen hinsichtlich der innerhalb des Projekts versuchten Herangehensweisen, mit Perspektive auf theoretische Grundlagen und methodologische Konsistenz getroffen werden sollen, um etwaigen Unwägbarkeiten bei dem Vergleich zweier zeitlich hochgradig divergenter Phänomene vor vornherein reflektorisch zu begegnen, wird es anschließend entscheidend darauf ankommen, die konkreten Vergleichungs-Strategien bezüglich der unterschiedlichen Quellen während der Arbeit am Material für den externen Betrachter nachvollziehbar offenzulegen. Material,'Formen'und'Struktur' ' Mit den Instrumenten der Diskursanalyse erweiterte sich das potentielle Quellenfeld des Historikers theoretisch unendlich. Alles ist (beziehungsweise wird) zur historischen Quelle. Man muss nur wissen, wie man das Material zu lesen hat. Vorausgesetzt, es werden die passenden Fragen gestellt, lassen sich beispielsweise anhand einer weggeworfenen Kaugummiverpackung die zentralen Wesensmerkmale der geschichtlichen Gegenwart bedeuten. Design, Verpackungshinweise, Markenname etwa ermöglichen bereits interessante Rückschlüsse auf kulturelle Wissensformationen, Gesellschaftsordnung und Machtstrukturen. Fände man zum Beispiel eine zeitgenössische Packung Wrigley’s ORBIT balance, so böte sich dem kulturwissenschaftlich geschulten Historiker eine
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" Fülle an Hinweisen über den Zustand der Gegenwart: Die Rerferenzzeit dieser Quelle scheint einen großen Wert auf Individualität zu legen, denn auf Besitztum, Privatheit und Einzigartigkeit verweist bereits der ganz oben auf der Packung platzierte Herstellername. Die Marke ORBIT würde dem Jetztzeitversierten Quellenforscher einen interessanten Einblick in das Geschichtsdenken des Menschen vermitteln. Bereits im ›altehrwürdigen‹ Latein, einer Denotation des Traditionellen, die den Mythos gleichzeitig in den Raum des (technologischen) Fortschritts katapultiert und somit als zeitlos, folglich also natürlich anzeigt, treffen Vergangenheitssehnsüchtigkeit und Zukunftsfetisch im Namens des Zahnpflegeprodukts auf das offensichtliche Bedürfnis nach körperlicher und geistiger »Balance« des intendierten Konsumenten. Mit »Heidelbeere + Vitamin C« fühle dieser sich ausgeglichen. Ein psychologisch trainierter Historiker, der sich zudem etwas in ökonomischen Systemzusammenhängen auskennt, könnte kollektive Einstellungen und systematische Strukturen (Geschichtsbewusstsein, Gesundheitsfetisch, Gesellschaftsordnung) mühelos anhand der vorliegenden Verpackung beschreiben. In seinen Mythen des Alltags (1957) zeigt Roland Barthes eindrucksvoll, was eine historisch-kritisch-kulturwissenschaftliche Beschäftigung mit dem Alltäglichen und den ihn bevölkernden Gewohnheitsgegenständen zu leisten vermag.16 Ohne den Anspruch erheben zu wollen, annähernd Vergleichbares vollbringen zu können, verschreibt sich die folgende Analyse historisch divergenter Quellen der Aufklärung jenen diskursanalytischen, post-strukturalistischen Auffassungen im Bezug auf historische Zeugnisse. Das Analysematerial der vorliegenden Arbeit besteht aus literarischen Texten verschiedenster Machart, die auf unterschiedlichste Weisen rezipiert wurden beziehungsweise werden. Doch jenseits divergenter Formen, Inhalte und Bedeutungskontexte erweisen sich sowohl Literaturen des 18. Jahrhunderts als auch moderne Rap-Texte zunächst einmal ebenfalls als Speichermedien kultureller Wissens- sowie Machtformationen. Innerhalb literaturwissenschaftlicher Auseinandersetzungen spielen wie auch immer konzipierte Kategorien des Ästhetischen eine nach wie vor bedeutsame Rolle bei der Beschreibung literarischer Werke. Ob wir es beim Vergleich von ›Klassikern‹ der europäischen Moderne mit großer Kunst, und im Zusammenhang mit kulturindustriell gefertigten und verbreiteten Popsongs mit ästhetisch minderwertigen Unterhaltungsprodukten zu tun haben, interessiert im Kontext der Dissertationsschrift allerdings nicht. Im Zentrum der Beschäftigung mit den Quellen stehen die kommunikativen Strate-
16 BARTHES, Roland: Mythen des Alltags, Erste vollständige deutsche Ausgabe. Aus dem Französischen übersetzt von Horst Brühmann, Berlin 2012.
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gien, ihr dialogisches Potential und ihre enzyklopädische Konzeption. Das tertium findet sich bei dieser vergleichenden Versuchsanordnung in der Anwendung sich stark ähnelnder Konzepte der Wissensgenerierung, -distribution sowie den polyperspektivisch organisierten Narrativen, die zu einem hohen Maß an Selbstreflexivität innerhalb der jeweiligen kulturellen Bezugsräume beitragen und bei der Herstellung von mündigen Identitätsentwürfen eine zentrale Stellung einnehmen. Methodologisch erhebliche Probleme bereitet außerdem der Zuschnitt der gewählten Fragestellung des Projekts. Der Gegenstandsbereich Aufklärung stellt für sich eine Galaxie des Wissens dar. Nicht minder komplex erweist sich der Themenbereich HipHop. Selbst die Begrenzung der Beschäftigung mit der Aufklärung auf literaturgeschichtliche Aspekte würde den Rahmen eines Dissertationsprojekts sprengen. HipHop wiederum besteht mindestens aus vier Teildisziplinen, nämlich aus DJing, Breakdance, Graffiti und Rap. In dieser Arbeit liegt der Fokus überwiegend auf dem Teilbereich Rap, wobei selbst innerhalb dieses spezifischen HipHop-Felds eine unendliche Bandbreite an Gattungen und Formaten beobachtet und zum alleinigen Gegenstand wissenschaftlicher Erforschung erklärt werden könnte. Über die Kultur des HipHop zu schreiben heißt in der Regel über Populärkultur, sozialhistorische und über linguistische Entwicklungen Auskunft zu geben. Die Bereiche »class«, »race« und »gender« in Verbindung mit den Feldern »Migration«, »Identität« und »Sprache« sind zentrale Themen der HipHop-Forschung. Diese kann der vorliegende Text ebenso wenig in gebotener Ausführlichkeit aufarbeiten, wie die Berücksichtigung philosophischer, theologischer oder politischer Diskurse des 18. Jahrhunderts. Der HipHop-Kultur vertrauten Methode des Vermischens von Inhalten verschiedenster Herkünfte entsprechend, und auch vielen Texten der historischen Aufklärung in ihrer eklektizistischen Konzeption bekannt, werden Inhalte und Kontexte im Rahmen der Argumentation »gesampelt« und »gecuttet« werden müssen. An den entsprechenden Stellen folgen allerdings weiterführende Verweise auf die Forschung zu den jeweiligen Themenschwerpunkten. In diesem Zusammenhang muss außerdem darauf hingewiesen werden, dass die musikwissenschaftliche Beschreibung der Rap-Songs und die theaterwissenschaftliche Analyse der behandelten Dramen ebenfalls nur sporadisch geleistet werden kann. Der Fokus des literaturwissenschaftlichen Dissertationsprojekts liegt auf literarischen Texten, auch wenn diese stets an Kontexte der Aufführungsrealisation, traditionelle Formate und kulturspezifische Spielregeln gekoppelt sind. In einem ersten Teil der Arbeit sollen daher wenigstens die grundlegenden Voraussetzungen und Umgebungsvariablen des Quellenmaterials thematisiert werden.
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" Die gewählte Perspektive entspricht einem historisch-soziologisch-kulturwissenschaftlichen Setting und möchte neben der Bereitstellung notwendiger Hintergrundinformationen zu einer argumentativen Synthese der, jeweils im entsprechenden Bezugsfeld (historische Aufklärung beziehungsweise HipHop), angesiedelten Aufklärungsprozesse führen. Somit überblicksartig dargestellte und tendenziell oberflächlich generierte Vergleichskategorien beider ›Kulturen‹ werden anschließend in zwei Großkapiteln en detail und eng entlang der literarischen Quellen herausgearbeitet. Es geht darum, auf der Grundlage historischer und soziologischer Überlegungen, in literaturwissenschaftlicher Manier, textnah Parallelen zwischen Aufklärungsliteratur und zeitgenössischen Rap-Lyrics aufzuzeigen, um die Ergebnisse schließlich entsprechend der übergeordneten Fragestellung einordnen zu können. Die zu analysierenden Texte sollen dabei nicht unter literaturästhetischen Gesichtspunkten, sondern als Quellen ideen- und geistesgeschichtlicher Natur betrachtet werden, anhand derer die Bestimmung gegenwärtiger Werterealitäten möglich wird. Die notwendige Begrenzung des auszuwählenden Textmaterials lässt grundsätzliche Aussagen hinsichtlich des jeweiligen kulturellen Umfelds nur bedingt zu. Durch die theoretische Auseinandersetzung im ersten Teil der Arbeit wird diesem Umstand Rechnung getragen und eine generellere Perspektive versucht werden, welche die wesentlichen Prämissen und Umgebungsvariablen beider Denkkulturen aufzeigen soll. Diesem Zweck folgend geht das einleitende Kapitel von einer Perspektive auf strukturelle Merkmale und soziokulturelle Rahmenbedingungen aus, von denen aus beide Phänomene in ihren Eigenarten sowie historischen Entstehungskontexten ausgeleuchtet werden. Die Erforschung der (europäischen und historischen) Aufklärung findet seit rund 200 Jahren in verschiedensten Disziplinen statt. Die ›Philosophien‹ Hegels, Nietzsches, von Marx, Weber, Cassirer, Benjamin, Bloch, Adorno, Arendt, Mayer, Habermas oder Enzensberger, um hier nur einige deutschsprachige Vertreter ins Feld zu führen, nehmen allesamt deutlich Bezug und Stellung zum Projekt Aufklärung. Eine Aufarbeitung der philosophischen Rezeption würde ebenso sehr eine eigene wissenschaftliche Studie füllen, als etwa die akademische Reflexion der Historiographie der Aufklärung. Im ersten Abschnitt der Dissertation sollen dennoch zwei einführende Unterkapitel in gebündelter Form einerseits prägnante Tendenzen der Aufklärung innerhalb der Geisteswissenschaften darlegen und des Weiteren – auf Grundlage aktueller allgemein-, global- und literaturgeschichtlicher Forschung – Kernpunkte der Aufklärung als historischer Epoche beschrieben werden. Die akademische Auseinandersetzung mit der Kultur des HipHop ist ein vergleichsweise noch junges Forschungsfeld. Für die wissenschaftliche Beschäfti-
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gung mit dem Thema ist es daher notwendig, historische Eigenschaften und kulturelle Eigenheiten konzise zusammenzufassen und für den zweiten, vergleichenden literaturwissenschaftlichen Hauptteil dieser Arbeit fruchtbar zu machen. Ein Überblick der markantesten Schwerpunkte der HipHop-Forschung eröffnet den allgemeinen HipHop-Teil. Ihm folgt ein kürzerer Abschnitt über die »glokalisierte« Form popkultureller Inhalte und Formate, um einerseits auf den hybriden Charakter HipHop-kultureller Texte aufmerksam zu machen und andererseits auch wirkmächtige Rezeptionsmechaniken und Semioseprozesse im globalen Maßstab zu thematisieren. Durch die Beschreibung der Entstehungsgeschichte der Popkultur HipHop innerhalb ihres soziohistorischen Umfelds sowie anhand der Beschäftigung mit essentiellen Kulturpraktiken, traditionellen Kunsttechniken und bedeutsamen Schlüsselthemen (»Double Consciousness«, »Realness«, »Signifying« und »Cypher«) führen zwei Unterkapitel in die Geschichte und ›Werkzeuge‹ des HipHop ein. Nach ›Traditionen & Technologien‹ wird ein weiterer Teil nach dem Verhältnis von Widerstand und Inkooperation in kulturindustriellen Zusammenhängen fragen und versuchen zu erklären, wie der emanzipatorische Gestus der Populärkultur mit der Konstruktion HipHopspezifischer Identitäten zusammenspielt. Die Herausarbeitung der bereits zuvor benannten zentralen Prinzipien (Dialogizität sowie Enzyklopädismus) wird dann parallel im direkten Vergleich zwischen ›Aufklärungstext‹ und Rap-Stück forciert werden. Anhand mehrerer literarischer Texte sowie durch die Problematisierung unterschiedlicher Aspekte anhand derselben sollen zwei zentrale Kapitel beantworten helfen, inwieweit sich aufgeklärte Dialogizität und Enzyklopädische Methode in Bezug zu den Quellen der Gegenwartskultur beschreiben lassen; also danach fragen, ob und in welchem Maße funktionale Äquivalente tatsächlich identifizierbar sind. Anhand von typologischen Textvergleichen wird in einem ersten Schritt nach dem Wesen, der Vergleichbarkeit und einer damit eventuell einhergehenden aktuellen Gültigkeit des ›Allround-Instruments‹ Dialog gefragt. Dennis Diderots Stücke Le Fils Naturel und Le Neveu de Rameau werden hierbei mit dem Rap-Song Guilty Conscience der Rapper Eminem und Dr. Dre sowie mit dem Lied Wer bin ich? des deutschsprachigen MCs Torch auf kommunikationsstrategische Gemeinsamkeiten hin überprüft werden. Die Definition der elementaren Funktionen aufgeklärter Dialogizität und ihre Bedeutung im Kontext des Themas Selbstreflexion markiert die Beschäftigung mit den vier Quellen. Auf der Grundlage der Überlegungen zum Dialogischen Prinzip stehen anschließend die zentralen Funktionsweisen eines aufgeklärten Enzyklopädismus im Zentrum der weiteren Betrachtungen. Anhand der Bestimmung programmatischer Aspekte aus der Encyclopédie, ou dictionnaire raisonné des sciences, des
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" arts et des métiers sowie dem Lied Leg Dein Ohr Auf Die Schiene Der Geschichte der Rap-Gruppe Freundeskreis sollen zentrale Mechaniken der Methode in einer ersten Gegenüberstellung grundsätzlich thematisiert werden. Ein zweiter Textvergleich zwischen Friedrich Schillers Gedicht Die Kindsmörderin und dem Rap-Song Lila von Curse setzt sich zum Ziel, die Beschaffenheit der Enzyklopädischen Methode anhand einer konkreten Problemstellung exemplarisch nachzuvollziehen und darüber hinaus nach etwaigen Potentialen einer solch aufgeklärten Wissens-Vermittlungs-Strategie innerhalb fiktionaler Szenarien zu fragen. Auf Basis der gewonnenen Ergebnisse widmet sich ein abschließendes Kapitel der Frage nach poetologischen Strategien der Selbstreflexion in aufklärenden Textszenarien. Mittels der vergleichenden Lektüre von Georg Büchners Dantons Tod und Lupe Fiascos bitch bad! sollen strukturelle Gemeinsamkeiten anhand des Themas ›Sprache und Identität‹ betrachtet werden. Die komparatistische Textanalyse im Zeichen des theoretischen Begriffs »Metaisierung« soll abschließend zu einer übergeordneten Vergleichsperspektive von HipHop-Texten und ›klassischen‹ Aufklärungsliteraturen beitragen. Welche Methoden der Aufklärung finden sich, in modifizierter Form, in aktuellen Rap-Songs? Diese Arbeit wird von der Absicht geleitet, anhand jener Fragestellung neuartige Perspektiven sowohl auf die HipHop-Kultur als auch auf die Vorstellung der Aufklärung selbst zu wagen und somit zwei bisher voneinander getrennt gedachte ›Ideenwelten‹ miteinander ins Gespräch zu bringen.
II.''Gegenstandsbestimmung'anhand' struktureller'Gemeinsamkeiten''
Die elementaren Fragen »Was ist Aufklärung?« und »Is this real?«, jene damit programmatisch korrespondierenden Forderungen nach dem »Gebrauch der öffentlichen Vernunft« und der »Rückeroberung des öffentlichen Raums«, in Netzwerkstrukturen eingebettete »aufgeklärte Sozietäten« und »HipHopPosses«, vor allem eine intendierte Kommunikationsgestaltung, die sich unter den Prämissen der »Enzyklopädischen Methode« sowie des »Dialogischen Prinzips« vollzieht, scheinen durchaus vergleichbare Momente zwischen zwei, auf den ersten Blick sehr unterschiedliche Kulturphänomene in sich zu bergen. Einleitend sollen die elementaren Wesensmerkmale der jeweiligen ›Aufklärungskultur‹ herausdestilliert werden, um so einer differenzierten Untersuchung beider zuvor genannten zentralen Prinzipien eine theoretische Basis zu bereiten. Sowohl für die sogenannte Epoche der Aufklärung, als auch für die zeitgenössische Popkultur HipHop werden die zentralen Charakteristika im Kontext ihrer historischen Rahmenbedingungen dargestellt und einer strukturellen Gegenüberstellung unterzogen. Ein sich quantitativ deutlich unterscheidendes Verhältnis beider Gegenstandsbereiche begründet sich zum einen aus der Tatsache heraus, dass für den Bereich der historischen Aufklärung, im Vergleich zum noch jungen Forschungsfeld HipHop, etliche wissenschaftliche Darstellungen existieren, die im Rahmen dieser Untersuchung nicht erneut in vollem Umfang reproduziert werden können und müssen.1 Des Weiteren handelt es sich bei genauerer Betrachtung der hier zu behandelnden Themen hinsichtlich der HipHop-Kultur um 1
Systematische Aufarbeitungen des Forschungsstandes hinsichtlich verschiedener Aspekte der Aufklärung finden sich gut dokumentiert z.B. bei BORGSTEDT, Angela: Das Zeitalter der Aufklärung, Darmstadt 2004; oder bspw. in Alts Einführung in die Literaturen der Aufklärung; ALT, Peter-André: Aufklärung. Lehrbuch Germanistik, Stuttgart/ Weimar 32007.
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" Fragekomplexe, deren implizite Logik sich zu weiten Teilen aus der direkten Auseinandersetzung mit elementaren Konzepten und Strategien der Aufklärung selbst speist.
2.1 ' A UFKLÄRUNG'UND' G EISTESWISSENSCHAFTEN ' »Enlightenment was a desire for human affairs to be guided by rationality rather than by faith, superstition, or revelation; a belief in the power of human reason to change society and liberate the individual from the restraints of custom or arbitrary authority; all backed up by a world view increasingly validated by science rather than by religion or tradition.«2
Die vorangestellten Zeilen der Neuzeit-Historikerin Dorinda Outram bündeln in historiografisch-typischer Weise systematisch Vorstellungen von der Aufklärung, wie sie sich in geisteswissenschaftlichen Zugriffen noch immer in Fülle ausfindig machen lassen. Im Gegensatz zu nicht wenigen Stimmen anderer GeisteswissenschaftlerInnen, die den Begriff Aufklärung oft lediglich als zeitgenössisches Label für einen temporal sowie territorial fixierbaren Raum, verbunden mit einer relativ distinkten sozialen Trägerschicht, inhaltsleer verkürzen, wird »Enlightenment« hier immerhin als eine Art Container für eine Mehrzahl interdependenter Ideen verstanden.3 Vor dem Hintergrund einer üblicherweise
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OUTRAM, Dorinda: The Enlightenment, Cambridge 1995, S. 3.
3
Aktuelle Forschungsdebatten um die Positionierung »der Aufklärung« als einerseits (europäischer) historischer Epoche oder andererseits als Anwendung aufklärender Praktiken zu verschiedenen Zeiten und an unterschiedlichen Orten lassen sich gegenwärtig durchaus beobachten. Bspw. Barbara Stollberg-Rilingers Die Aufklärung. Europa im 18. Jahrhundert (2011) oder Stefan Greifs Literatur der Aufklärung (2013) verorten das Phänomen als ideen-orientierte Praxis. Allerdings belegen beide exemplarisch genannten Titel eine nach wie vor eurozentristische Perspektive. Auch wenn »Aufklärung« hier nicht mehr auf einen Begriff für eine fixierbare Anzahl an Personen, Themen und Orte eingeengt wird, wagen sich auch neueste Publikationen nicht entscheidend über das 18. Jahrhundert und westeuropäische Gesellschaften hinaus. Die Betonung der Wichtigkeit einer nationalen und zeitlich begrenzten Beschäftigung mit der Aufklärung findet sich in der Forschung noch immer als Tendenz wieder. Der renommierte Historiker Heinz Schilling kann etwa stellvertretend für diese Position als Beleg dienen. SCHILLING, Heinz: Die neue Zeit. Vom Christentum zum Europa der Staaten. 1250 - 1750, Berlin 1999, S. 9. In Angela Borgstedts Das Zeitalter der Aufklärung (2004) wird der kontroversen Erscheinung des Gegenstandsbereichs in der
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vorschnellen Verortung der Aufklärung als historischer Epoche mag es kaum verwundern, dass die ihr zugesprochenen Attribute und Charakteristika hierbei als Entwicklungslinien einer verstrichenen Zeit aufgefasst werden.4 Als durchaus diskussionswürdig ist dieser Umstand allein schon deshalb anzusehen, wird der entworfene Geschichtsraum mit einschlägigen Quellen der Aufklärungsbewegungen des 18. Jahrhunderts selbst konfrontiert. Immanuel Kants für den deutschsprachigen Raum so bedeutsam gewordener Versuch der Beantwortung der Frage Was ist Aufklärung? (1784) impliziert durchaus eine zeitliche Dimension. Indem seine Beantwortung deutlich den Bezug zur Aktualität sowie das innovative Zukunftsmoment des Projekts Aufklärung betont und dabei dezidiert den prozessualen Charakter als die elementare Eigenschaft ausweist, lässt sich die Konstruktion eines historischen Aufklärungsterrains – innerhalb dessen sich die Dynamik des Prozesses erschöpfend vollzogen habe und daher als epochal erfassbar gestalte – argumentativ nicht aufrecht erhalten.5 Der im selben Jahr entstandene aber weniger bekannte Text Ueber die Frage: was heißt aufklären? von Moses Mendelssohn akzentuiert den übergeschichtlichen Horizont in Verbindung zur Gegenwart ebenso deutlich, wie der Kants. Mendelssohn versteht die Aufklärung zunächst in begrifflicher Verzahnung mit Kultur und Bildung als einen zwar neu ausformulierten, dabei aber keinesfalls historisch einmaligen Gegenstandsbereich:
Forschung Rechnung getragen. Das Standartwerk für einen ersten Zugang zum Phänomen »Aufklärung« erläutert Ambivalenzen und Widersprüchen aus historiographischer Perspektive durchaus. Die thematische Engführung des »AufklärungsUniversums« als institutionalisierte (staatliche bzw. kirchliche) Gesellschaftsstruktur unterschlägt allerdings noch immer symptomatisch den methodenorientierten und weniger ideenzentrierten Kern verschiedener Aufklärungsbewegungen. 4
Wie üblich stehen dabei die Privilegierung rational-empirisch-wissenschaftlicher Zugriffe gegenüber religiös-dogmatischen Weltwahrnehmungen sowie die Aufwertung der Vernunftbegabung des Individuums gegenüber Autoritäten, welche sich auf Tradition oder Willkür gründen im Zentrum kurzdefinitorischer Zugriffe. Vgl. dazu auch z.B. STOLLBERG-RILINGER, Barbara: Die Aufklärung. Europa im 18. Jahrhundert, Stuttgart 22011, S. 14.
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KANT, Immanuel: »Was ist Aufklärung?«, in: Ehrhard Bahr (Hg.): Was ist Aufklärung?. Thesen und Definitionen, Stuttgart 2006, S. 8-17. Hier: S. 15.; Vgl. dazu FOUCAULT: Was ist Aufklärung?, S. 37.
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" »Die Worte Aufklärung, Kultur, Bildung sind in unsrer Sprache noch neue Ankömmlinge. Sie gehören vor der Hand bloß zur Büchersprache. Der gemeine Haufen verstehet sie kaum. Sollte dieses ein Beweis sein, daß auch die Sache bei uns noch neu sei? Ich glaube nicht. Man sagt von einem gewissen Volke, daß es kein bestimmtes Wort für Tugend, keines für Aberglauben habe; ob man ihm gleich ein nicht geringes Maaß von beiden mit Recht zuschreiben darf.«6
Mendelssohn und Kant entwickeln die Vorstellung einer sich prozessual vollziehenden Aufklärung, begreifen das gegenwärtige Sich-Ereignen des Projekts als entscheidendes Definitionsmerkmal und lagern etwaige Aufklärungspraktiken konkret an diese Prämisse an. Sie nehmen damit ungemein früh eine postmodern anmutende Perspektive im Hinblick auf den Aufklärungsdiskurs – wie sie später etwa von Theodor W. Adorno oder Michel Foucault akzentuiert wurde7 – um beinahe zwei Jahrhunderte vorweg. Eine Sonderstellung innerhalb der Auseinandersetzungen mit dem Gegenstandsbereich ›Aufklärung‹ markieren beide Definitionsversuche dabei mitnichten. Sowohl die früheren englischen Vorreiter des »Enlightenments« als auch die Mitglieder der wirkmächtigen »Coterie holbachique« sowie die Beschäftigung durch deutschsprachige »Dichter und Denker« während der Wende zum 19. Jahrhundert lassen sich mühelos mit jenem performativen und prozessualen Grundverständnis der Aufklärung in Einklang bringen. Von der Aufklärung als einem historischen Zeitraum zu sprechen verstellt letztlich den Blick auf ihre Möglichkeiten, da eine solche Sichtweise zwar nach spezifisch historischen Ursachen und Wirkzusammenhängen, nicht aber nach gesellschaftsbildenden Potentialen durch die Anwendung aufgeklärter Strategien fragt. Eine funktionalistische Perspektive auf das Phänomen, folglich eine Betrachtungsweise, welche generell die Methodik und nicht einzelne thematische Schwerpunkte in den Fokus rückt, führt zu der Feststellung, dass ein ›Prinzip Aufklärung‹, grundsätzlich verstanden als Wissens- und Ordnungssystem bezüglich der Welt (Rationalisierungsprozesse), weit in die Geschichte menschlicher Zivilisation zurückreicht. Dieser Anschauung und damit Horkheimers und Adornos überzeitlichem Aufklärungsverständnis folgend, lässt sich die bloße Existenz einer Aufklärung nicht länger an einzigartige historische Koordinaten rückbinden, sondern bezeichnet, wenn man so will, ein immerwährendes Zivilisationsprodukt, das an jeweilige Geschichtsrealitäten angelagert ist und sich über
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MENDELSSOHN, Moses: »Ueber die Frage: was heißt aufklären?«, in: Berlinische
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Vgl. dazu FOUCAULT, Michel: Was ist Aufklärung?, S. 53.
Monatsschrift, Bd. 4, 1784, S. 193.
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längere Zeiträume betrachtet in dialektischen Pendelschwüngen vollzieht.8 Die vorliegende Untersuchung geht prinzipiell von einem gleichwohl prozessualen wie methodenorientierten Charakter der Aufklärung aus. Innerhalb des anschließenden Teils wird dennoch in Kürze eine historische Verortung versucht, da während des 17. und 18. Jahrhunderts zum ersten Mal die Begrifflichkeiten selbst entwickelt werden, mittels derer das Phänomen Aufklärung überhaupt erst als solches beschrieben werden kann. Insofern könnte man von jener Zeitspanne als einer historischen Epoche sprechen, die sich primär dadurch auszeichnet, über das Prinzip Aufklärung selbst ein Bewusstsein zu erlangen oder zumindest erstmals ernsthaft terminologisch nach einem solchen zu suchen. Michel Foucault entwirft in Auseinandersetzung mit Immanuel Kants berühmter Beantwortung der Frage »Was ist Aufklärung?« in seinem gleichnamigen Aufsatz gar die Idee, das Zeitalter der Moderne generell als eine Haltung, einen Gestus beziehungsweise eine spezielle Art des Denkens und Fühlens zu verstehen, die aus dem Versuch geboren würde, das Wesen der Aufklärung zu begreifen.9 Neben der problematischen Verortung der Aufklärung als einer historischen Epoche gestaltet sich innerhalb wissenschaftlicher Auseinandersetzungen der Gegenwart die begriffliche Synthese ähnlicher kultureller Phänomene, welche innerhalb zeitlich und territorial eng beieinanderliegender Koordinaten beobachtbar sind, als argumentativ ebenfalls heikles Unterfangen. Durch die Subsumierung von auf der Mikroebene hochgradig divergierender Momente politisch-sozialer Bewegungen des 17. und 18. Jahrhunderts lässt sich letztlich kein realistisches und strapazierfähiges Erklärungsmodell der Aufklärung entwickeln. Oberflächliche Verallgemeinerungstendenzen, etwa auf Basis der jeweils erst retrospektiv konstruierbaren Trägerschichten sowie prominenter Protagonisten und angeblich universal gültiger Leitvorstellungen ›der Aufklärung‹ (Vernunft, Rationalität und Individuum), geben vielmehr zeitgenössische Mechaniken bei der Herstellung historischer (Imaginations-)Räume zu erkennen. Dass unterschiedliche Akteure in verschiedenen politischen Kontexten weit über Europas Grenzen sowie über das 18. Jahrhundert hinaus von »Rhetoriken der Aufklärung« Gebrauch machen, verdeutlicht die problematische Konstruktion der nach wie vor gängigen These, die Aufklärung nämlich zuvorderst als Ausdruck eines Emanzipationsprozesses des (west-)europäischen Bürgertums zu verbuchen, und
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Vgl. dazu HORKHEIMER, Max/ ADORNO, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt am Main 162006, S. 99f.
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Vgl. dazu FOUCAULT, Michel: Was ist Aufklärung?, S. 49.
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" die einseitige Diffusion aufgeklärter Inhalte ausgehend von London, Paris oder Königsberg auf den Globus anzunehmen.10 Jenseits der Einengung auf einen festen ›Zeit-Raum‹ markiert die Begrenzung der Aufklärung auf eine bestimmte ›Raum-Zeit‹ eine weitere Problemzone in geisteswissenschaftlichen Auseinandersetzungen. In seiner historiografischen Kritik bezeichnet der Neuzeithistoriker Sebastian Conrad die Verortung der Aufklärung innerhalb des 18. Jahrhunderts und in Westeuropa als genuin »europäischen Mythos«, der die Geschichtsschreibung lange Zeit dominiert habe.11 Zunehmend wird diesem Umstand Rechnung getragen, werden geographischkulturelle Bestimmungen der Aufklärung als europäisches Phänomen von der Wissenschaft in Frage gestellt. Conrad verweist darauf, dass mehrere Aufklärungen an unterschiedlichen Orten und zu verschiedenen Zeiten stattfanden. Die Geschichte verschiedener Aufklärungen spiele bei der Weiterentwicklung ›der Aufklärung‹ eine wichtige Rolle. In ihrem historischen Selbstbewusstsein sei Aufklärung somit ein Produkt ständiger Neuerfindung, unter sich jeweils lokal und global verändernden Begleitumständen.12 Sie kann nicht länger als Resultat einiger europäischer Akteure zu einer spezifischen Zeit an einem lokalisierbaren Ort betrachtet werden: »First, the eighteenth-century cultural dynamics conventionally rendered as ›Enlightenment‹ cannot be understood as the sovereign and autonomous accomplishment of European intellectuals alone; it had many authors in many places. Second, Enlightenment ideas need to be understood as a response to cross-border interaction and global integration. Beyond the conventional Europe-bound notions of the progress of ›reason«, engaging with Enlightenment has always been a way to thin comparatively and globally. And third, the Enlightenment did not end with romanticism: it continued throughout the nineteenth century and beyond. Crucially, this was not merely a history of diffusion; the Enlighten-
10 Zur Untersuchung der weltweiten Verwendung des Aufklärungsbegriffs, dessen lokalisierten Ausprägungen sowie kulturellen Kontexten, z.B. in Japan, China, Ägypten und der Karibik siehe CONRAD, Sebastian: »Enlightenment in Global History: A Historiographical Critique«, in: The American Historical Review (2012) 117 (4), S. 999-1027. Hier: S. 1015. Zur Problematisierung der Diffussionsthese hinsichtlich der Aufklärung siehe ebd. S. 1005. Zum problematischen Zusammenhang von Trägerschicht und jeweiliger Aufklärungsbewegung, in Sonderheit des Verhältnisses von Bürgertum und der sog. »Europäischen Aufklärung«, siehe das anschließende Kapitel 2.2, S. 43ff. 11 CONRAD: Enlightenment in Global History, S. 999. 12 Ebd., S. 1022.
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ment’s global impact was not energized solely by the ideas of the Parisian philosophes. Rather, it was the work of historical actors around the world - in places such as Cairo, Calcutta, and Shanghai - who invoked the term, and what they saw as its most important claims, for their own specific purposes.«13
Während des 19. Jahrhunderts lassen sich Beispiele, etwa aus Indien, aus dem Osmanischen Reich oder Ägypten anführen, die eine gezielte Bezugnahme auf »Rhetoriken der Aufklärung« in Zeiten gesellschaftlicher Krisen, in Verbindung mit sozialen Transformationsprozessen und ökonomischen und politischen Entwicklungen in internationalem Maßstab strukturell zu erkennen geben.14 Globalgeschichtliche Auseinandersetzungen mit Modernisierungs-, Rationalisierungsund Säkularisierungsprozessen sowie Emanzipationsbestrebungen in Asien, der Karibik, Nord- und Südamerika sowie innerhalb islamischer Gesellschaften liefern zudem eine Fülle überzeugender Belege für Parallelen und Analogien unabhängiger Aufklärungstendenzen außerhalb Europas.15 Conrad verortet die zeitgemäße Erforschung der Aufklärung daher innerhalb dreier Paradigmen: einer methodisch-prozessualen Auffassung von Modernisierung, einem durch postkoloniale Theorieansätze bedingtem Verständnis für Asymmetrie, Hybridität sowie Ungleichzeitigkeit sich inhaltlich unterscheidender Aufklärungen, und dem Konzept »alternativer beziehungsweise multipler Modernitäten«. Nationalzentrierte Ansätze müssen dementsprechend in den Hintergrund treten, zugunsten einer komparatistischen Beschäftigung mit interdependenten Aufklärungsprozessen, die globale Bedingungen und Austauschszenarien in den Fokus rücken. Einen gewichtigen Grund für die sich innerhalb des 18. Jahrhunderts konkretisierender Aufklärungen macht Conrad in den zunehmenden Verbindungen der europäischen Gesellschaften mit entfernten, fremden Kulturen aus. Die zeitgenössische Faszination und Popularität von Reiseberichten und -tagebüchern verweist exemplarisch darauf. Nicht nur in der Funktion als einer Spiegelfläche der eigenen Realität, sondern als tiefgreifendes historisches Moment, indem neu entdeckte Vorstellungen von der Erde mit traditionellen Wissensformationen in Einklang gebracht werden mussten. Im kontrastiven Versuch die sich auftuende
13 Ebd., S. 1001. 14 Ebd., S. 1007. 15 Ebd., S. 1016.
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" Welt zu begreifen und einzuordnen, findet sich ein wichtiges Merkmal der Entstehung der europäischen Moderne.16 »[…] we need to understand the production of knowledge in the late eighteenth century as fundamentally tied to conditions of globality: as a specific way of incorporating the world in the context of the expansion of European trade relations, the annexation of military and commercial bases and colonies, and the cartographic mapping of the globe. Crucially, these debates did more than merely express the fact of entanglement as such; rather, the particular modes and structures of integration affected the terms that were employed and the theories that were developed.«17
Begreifen wir die Entstehung europäischer Aufklärungen auch als Resultat des Globalisierungsprozesses, und nehmen des Weiteren an, dass sich Aufklärungen weltweit unter strukturell ähnlichen Bedingungen konstituieren, sich genealogisch aufeinander beziehen, inhaltliche Elemente modifizieren und vergleichbare Methoden ansetzen um ihre im Kern emanzipatorischen Ziele zu erreichen, eröffnen sich aus geisteswissenschaftlicher Perspektive völlig neue Möglichkeiten für ihre Erforschung. Strukturell vergleichbare Emanzipationsprozesse in verschiedenen kulturellen Räumen und zu unterschiedlichen Zeiten verpflichten auch die historische Erforschung der Aufklärung(en) zu einer globalen Perspektive und komparatistischen Methoden. Das gilt umso mehr für die Literaturgeschichtsschreibung. Aufklärende Textszenarien, als Reaktion auf sozialen Wandel betrachtet und als Anwendung aufgeklärter Methoden definiert, finden sich weltweit und zu vielen geschichtlichen Phasen. Die wissenschaftliche Beschäftigung ist dementsprechend nur mit interdisziplinären Ansätzen und im Verständnis der Aufklärung als Praxis unter sich verändernden Umgebungsvariablen erfolgversprechend. Allerdings scheint fraglich, ob die Auseinandersetzung mit der Aufklärung, oder aber eine entlang der Aufklärung orientierte Beschäftigung mit Geschichte, Kultur, Kunst und Philosophie, überhaupt noch auf genügend Interesse in der Öffentlichkeit und innerhalb der Wissenschaften stößt. Als universales, globalgeschichtliches Phänomen von solch zentraler Bedeutung für die gegenwärtige
16 Vgl. dazu ebd. S. 1010. Über den Zusammenhang von Glokalisierungsprozessen und Textstrategien innerhalb der Literaturen des 18. bis ins frühe 20. Jahrhundert siehe MARQUARDT, Philipp: »Warum Glokalisierung?. Ein Plädoyer für die Literaturwissenschaft«, in: Gößling-Arnold et al. (Hgg.): Globale Kulturen – Kulturen der Globalisierung, Baden Baden 2013, S. 227-238. Hier: S. 234f. 17 CONRAD: Enlightenment in Global History, S. 1010.
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Verfasstheit der Welt müssten Instrumente, Erfolge, Scheitern, müssten Reflexion und Kritik der Aufklärung doch eigentlich als ›Schlüsselqualifikationen‹ in Lehre und Forschung etlicher Fächer omnipräsent sein. Nicht an den permanent an einer »Dialektik der Aufklärung« operierenden Reflexionen aus den Geisteswissenschaften der verstrichenen 200 Jahre kann sich die postulierte Kritik entzünden.18 Entgegen der berühmt gewordenen Versuche einer steten Neubestimmung der Aufklärung – angefangen mit Mendelssohn und Kant, von Hegel über Nietzsche bis hin zu Zugriffen aus dem Umfeld der Kritischen Theorie sowie poststrukturalen Ansätzen – scheint der »gemeine Haufen« an Philosophen, Historikern und Literaturwissenschaftlern die globale Dimension sowie den dialektischen, vom Hier und Jetzt in die Zukunft weisenden und somit überzeitlich wirkmächtigen Charakter der Aufklärung nicht mehr angemessen weiter zu denken; so der getätigte Vorwurf an die akademische Gegenwart. Die hoch komplizierte und nie unideologische Auseinandersetzung mit dem alles bestimmenden Projekt der modernen Zeit kritisiert früh eine verräterisch einseitige und ausschließende Aufklärungslogik, vor allem im Hinblick auf die ethisch-moralische Illusion vieler Aufklärer. Hegels tiefsinnige Hypothese am Anbeginn der akademischen Aufklärung der Aufklärung: »Aufklärung des Verstands macht zwar klüger, aber nicht besser.«19 Von Nietzsches produktivem Aufklärungsskeptizismus und der folgenden marxistischen Neubewertung des
18 Zum Beispiel führt die lebendige und kontroverse Auseinandersetzung mit Horkheimers und Adornos Dialektik der Aufklärung bis dato wiederum selbst zu intensiven Debatten darüber was Aufklärung bedeuten kann. Eine seit mehreren Dekaden auflodernde Diskussion zum hoch umstrittenen »Kulturindustrie-Kapitel« macht die Dialektik der Aufklärung zu einem Text, der in keiner wissenschaftlichen Beschäftigung mit Populärkultur fehlen darf. Ihre auch in historischem Kontext zu betrachtende Gesellschaftsanalyse, die über die Akzentuierung angeblicher Fehlentwicklungen der Aufklärung zuvorderst eine Beschreibung ihrer eigenen Gegenwart im Blick hat, repräsentiert somit das andauernde dialogische Wesen der Aufklärung. Adorno und Horkheimer als schlecht informierte Wissenschaftler zu bezeichnen, die, »[wo sie die Aufklärung in den Blick nehmen], nur wenig vom 18. Jahrhundert verstanden [haben]«, wie etwa Gottfried WILLEMS in seiner Literaturgeschichte der Aufklärung (WILLEMS, Gottfried: Geschichte der deutschen Literatur, Bd.2, Aufklärung, Wien/ Köln/ Weimar 2012, S. 19.), dokumentiert allerdings die Sehnsucht gegenwärtiger Auseinandersetzungen, diese widerspenstige Aufklärung endlich in den akademischen Griff zu bekommen und inhaltlich zu fixieren. 19 HEGEL: Georg F. W.: Phänomenologie des Geistes [1807]. Werke in 20 Bänden; Bd. 3. 1970, S. 418.
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" Projekts, als einerseits wichtigem Arsenal an Denkfiguren für die Umgestaltung sozialer Gesellschaftsordnungen sowie andererseits als letztlich rhetorischer Begriffsblase im Gefolge bürgerlicher Herrschaftsinteressen, über die Fortführung und Erweiterung dieses Denkens durch zum Beispiel Webers, Adornos, Blochs oder Mayers konsequente Problematisierung des zwiespältigen Verhältnisses von Aufklärung und Macht bis zu Habermas’ Postulat der »Aufklärung als unvollendetem Projekt der Moderne«20: die Beschäftigung mit der Welt der Aufklärung ist hierbei alles andere als schmuckes Beiwerk einer begrifflich systematisch blind gewordenen Geisteswissenschaft! Hier war sie Prämisse jeder weiteren wissenschaftlichen Arbeit, dort, gegenwärtig, ist sie bestenfalls spezialisierter Sonderforschungsbereich. Mag sein, dass die inhärente Selbstkritik der Aufklärung von Beginn an gerade ihren Feinden die gewichtigsten Argumente in die Hände spielte. Durchaus notwendig erscheint es aber gerade deshalb auf ihr sich permanent selbst-sezierendes Wesen hinzuweisen und dieses Potential einer radikal ent-totalisierenden Tendenz angemessen in aktuellen Kontexten neu auszuloten. An diesem neuralgischen Punkt müssen die zuvor angerissenen Überlegungen aus Philosophie, Geschichte und Literatur weitergedacht werden. Die hier artikulierte Kritik gegenüber gegenwärtigen Beschäftigungen mit der Aufklärung ist durchaus berechtigt; noch immer, wie etwa im 2014 digitalisierten Historischen Wörterbuch der Rhetorik, lassen sich die vorgebrachten Bedenken gegen ein tendenziell eingeschränktes (eurozentristisches, epochales und rationalistisches) Aufklärungsverständnis deutlich ablesen. »Der Begriff ‹A.› ist mehrdeutig. Bevor er zu einer Epochenbezeichnung wurde, nannte man im 18. Jh. eine Geisteshaltung aufgeklärt, der es um die vernünftige Erkenntnis ging, d.h. um die Einsicht in die wahre, von religiösen Dogmen und traditionellen Vorurteilen freie Gestalt der Welt. Eine solche aufgeklärte Denkweise ist prinzipiell zu allen Zeiten möglich, und Voltaire nennt daher etwa Ciceros Schriften ‹Tusculanae disputationes› und ‹De natura deorum› die beiden schönsten Werke, welche die menschliche Weisheit jemals verfaßt hat. In diesem Sinne spricht man zum Beispiel von einer sophistischen Aufklärung oder von «Aufklärung als gesamtmenschlichem, innerweltlich-messianischem Auftrag», dessen philosophische Gewährsmänner bis zu Horkheimer, Adorno oder Bloch reichen. Als Epochenbezeichnung meint A. das Zeitalter der Emanzipation des bürgerlichen dritten Standes, der zuerst in England, dann in den Niederlanden und in Frankreich sich aufgrund seiner ökonomischen Machtentwicklung auch zur sozial und kulturell bestimmenden Kraft ausbildete. Zeitlich erstreckt sich die Epoche der A. nach einer Vorbereitungsphase,
20 HABERMAS, Jürgen: Die Moderne – Ein unvollendetes Projekt. Philosophischpolitische Aufsätze, Leipzig 1990.
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die in England und Frankreich bis in die erste Hälfte des 17. Jh. zurückreicht, von Ende des 17. bis Ende des 18. Jh.«21
Der geradezu ›rhetorische‹ Verweis auf die Mehrdeutigkeit der Aufklärung, welcher den Wörterbucheintrag eröffnet, verblasst im Kontext einer eindeutigen Aufklärungs-Vernunft zur Gänze (»Einsicht in die wahre […] Gestalt der Welt«) und schreibt die Aufklärung per definitionem als genuin ›europäische Sache‹ des »bürgerlichen dritten Standes« geradezu mythisch fest. Die Beschäftigung mit der Aufklärung oszilliert immer schon zwischen einem tendenziell ›vereindeutigenden‹ und mythisch funktionalisiertem Aufklärungsbild (etwa bereits bei Voltaire oder Rousseau) und einem wesentlich komplizierteren, stets an den neuralgischen Gesellschaftsrealitäten operierendem Verständnis der Aufklärung (zum Beispiel bei Diderot oder Hume). Hans Mayers brillante Aussenseiter (1975) zeichnen eben so ein komplexes Bild des ›Scheiterns‹ der bürgerlichen Aufklärung in unseren Zeiten. Seine Studie adressiert die Frage nach den Chancen einer gegenwärtigen Aufklärung im Zusammenhang mit denjenigen durch die Gesellschaft Ausgesonderten, Abgestoßenen und Ausgegrenzten. »Allein ob die permanente Aufklärung noch eine Chance hat in der Aktualität und Zukunft, muß an jenen Außenseitern der Gesellschaft demonstriert werden, die als Monstren geboren wurden.«22
Mayer ergründet die Konstruktion und den Umgang mit diesen »Monstren« innerhalb von literarischen Texten und steht somit für eine (Literatur-) Wissenschaft, die erstens ihr Untersuchungsmaterial ›todernst‹ nimmt und sich zweitens als kritisch-theoretisch auch politisch zu erkennen gibt, die folglich nicht einzig über eine epochale Aufklärung belehren, sondern selbstreflexiv ebenfalls aufklären möchte. In Anbetracht zeitgenössischer, akademischer Umgebungsvariablen bleibt fraglich, ob innerhalb gegenwärtiger Strukturen eine Wissenschaft der Aufklärung beziehungsweise eine Aufklärung der Wissenschaft in einem umfassenderen und radikalen Verständnis überhaupt noch möglich ist? Sie entspräche der bewussten Auslieferung des eigenen Denkens an eine permanent Selbstzweifel
21 UEDING, Gert: »Aufklärung«, in: Ders. (Hg.): Historisches Wörterbuch der Rhetorik. A–Bib. Bd.1, Tübingen 1992, Sp. 1188-1250. (= Historische Wörterbuch der Rhetorik Online, http://www.degruyter.com/view/HWRO/aufklaerung?pi=8&moduleId=comm on-word-wheel , 21.07.2014.). 22 MAYER, Hans: Aussenseiter, Frankfurt a.M. 1975, S. 11.
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" und Mehrdeutigkeit herausschreiende Nervensäge! Doch sollte sie jenseits modularisierter Denkcontainer und auf ökonomischen Nutzen hin verpflichtete Forschungsanträge hier und da doch mal glücken, werden aufklärende Praktiken von Institutionen und Öffentlichkeit denn noch verstanden werden? Ist der zeitliche Abstand zu ihren wortgewaltigen und hochgradig herausfordernden Argumentationen ins Heute überhaupt noch zu überbrücken? Die Auseinandersetzung mit der Aufklärung ist schließlich kein Kinderspiel, setzt neben dialogischen Kontexten und Wissen um ambivalente Positionen vor allem die Bereitschaft zur konstruktiven Selbstdemontage voraus. »Aufgeklärt sein heißt: Sich vor sich selbst nicht ängstigen«23, behauptet der Aufklärungsphilosoph Gerhard Szczesny und trifft damit auch für eine sukzessive an gesellschaftlich relevantem Boden verlierende Geisteswissenschaft den Nagel auf den Kopf!
2.2 ''D AS'»Z EITALTER'DER'A UFKLÄRUNG« :'BASISPROZESSE UND' D ENKFIGUREN'KOMPLEXER' K ONSTELLATIONEN' Permanente Veränderung ist das einzig kontinuierliche Moment des Historischen. Der unabschließbare Wandel der Zeiten begründet ein doppeltes Interesse am Vergangenen; einerseits die genetische Rekonstruktion der Gegenwart aus vorangehenden Entwicklungslinien und andererseits die Bestimmung der Jetztzeit durch kontrastive Veränderungen im Hinblick auf das entfernte Gestern. Die Geschichte Europas im 18. Jahrhundert stellt für den Historiker eine Zeitspanne dar, die besonders von kulturellen Umwälzungen gekennzeichnet ist. Soziale, politische und ökonomische Veränderungen charakterisieren den besagten Zeitraum in ganz erheblichem Ausmaß. Gesellschaftsstruktur, ideologische beziehungsweise religiöse Bezugssysteme, Wirtschaftsordnung, Wissenschaften und die Künste erfahren während des 18. Jahrhunderts tiefgreifende Veränderungen, sodass hierbei ohne Weiteres von einem weltgeschichtlichen Transformationszeitalter gesprochen werden kann.24 Es gilt als Ausgangspunkt für die »Geburt der europäischen Moderne«.25
23 SZCZESNY, Gerhard: Das so genannte Gute, Reinbek bei Hamburg 1982. 24 Kaum eine Einleitung in die Geschichte der Zeitspanne ist ausfindig zu machen, die nicht zuvorderst den transformativen Charakter der Epoche betonen würde. Vgl. dazu z.B. WILLEMS, Gottfried: Geschichte der deutschen Literatur, Bd.2, 2012, S. 7. Unter vielzähligen Definitionsversuchen der grundlegenden Entwicklungen des bewegten 18. Jahrhunderts sei hier exemplarisch auf die historiographisch-typische Beschreibung der Neuzeithistoriker Hausberger und Lehners verwiesen. »Gerade das
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Die geschichtswissenschaftliche Beschäftigung mit der besagten Sattelzeit richtet ihren Fokus also auf eine historische Schnittstelle, von der aus sich sowohl vorangehende Entwicklungen als auch bis in die Gegenwart hineinwirkende Transformationsprozesse beobachten lassen. Besinnen wir uns aus europäischer Perspektive gemeinhin auf das 18. Jahrhundert, denken wir häufig an Säkularisierung, Vernunft und Fortschritt. Und dies wohl nicht ganz zu unrecht: Es gibt kaum einen Wissensbereich, für den der Zeitraum nicht den entscheidenden Kristallisationspunkt darstellen würde. Geistesgeschichtliche Meilensteine wie etwa die 1789 von Jefferson und La Fayette erarbeitete Déclaration des droits de l’homme et du citoyen markieren wichtige Entwicklungsschritte der Menschheit und prägen den bis heute positiv konturierten Eindruck des Zeitalters. Detailliertere Betrachtungen derjenigen Basisprozesse, die über die Auflistung geschichtswirkmächtiger Großevents hinausreichen, führen allerdings dazu, dass jenes rosig-vergilbende Erinnerungsbild einen widersprüchlicheren Anstrich erhält. Das 18. Jahrhundert als ein Jahrhundert des Wandels ist nicht zuletzt deshalb so interessant für historische Betrachtungen, weil sich hier mehrere Entwicklungslinien gleichzeitig durchkreuzen, bekämpfen und nicht selten gegenseitig verstärken. Aufklärung und Gegenaufklärung, atheistischer Skeptizismus und spiritistische Versenkung sowie Individualismus und Universalismus stellen beispielsweise zeitgenössische Vorstellungen dar, welche die wechselwirkende Dynamik der Zeitspanne, ihr ambivalentes Erscheinungsbild, deutlich zum Vorschein treten lassen.26 »It has become increasingly clear that the Enlightenment cannot simply be equated with secularization, but on the contrary was deeply embedded in religious world views. Therefore, the stylization of the period as an age of disenchantment is itself a modern myth. Instead, popular social practices such as occultism, mesmerism, and magic not only
18. Jahrhundert gilt oft als eine fundamentale Umbruchsepoche, für deren Charakterisierung Themen wie die Aufklärung und die Entsakralisierung der Welt, der Aufstieg des Bürgertums, die Entstehung von Öffentlichkeit und der Beginn der Industriellen Revolution, kurz die ›Geburt der europäischen Moderne‹ herangezogen werden.« HAUSBERGER, Bernd/ LEHNERS, Jean-Paul: »Das 18. Jahrhundert: eine Beschleunigung«, in: Dies. (Hgg.): Die Welt im 18. Jahrhundert. (= Globalgeschichte. Die Welt 1000 – 2000), Wien 2011, S. 12-41. Hier: S. 12. 25 Ebd. 26 Vgl. dazu z.B. STOLLBERG-RILINGER: Die Aufklärung, 2011, S. 15.
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" survived, but were enmeshed with elite culture, empirical science, and the celebration of reason.«27
Aufklärung war immer ein Kampfbegriff, eine ideologisch konnotierte Bezeichnung, die sowohl von ihren Anhängern als von ihren erbittertsten Gegnern gebraucht wurde. Die Feinde der Aufklärung waren es, welche mit dem Label die angebliche Einheit, und somit ein fassbares Feindbild anstelle sich gegenseitig in Frage stellender Prozesse und Phänomene postulierten. Auf Grundlage der historischen Zeugnisse – gerade der literarischen Quellen – lässt sich Aufklärung seit jeher als intellektuell ambivalentes Spannungsverhältnis und nicht als Abfolge sich angleichender Vorannahmen beschreiben.28 Doch nicht erst der retrospektive Blick des Historikers berechtigt zur Einsicht einer von sozialen und ideengeschichtlichen Widersprüchen gekennzeichneten Epoche. In den überlieferten Schriften des Jahrhunderts – einem Zeitalter in dem auch das Buch- und Zeitschriftenwesen moderner Prägung entsteht – findet sich die Ambivalenz der Aufklärung vehement artikuliert. Allerdings spielen die literarischen Texte der Aufklärung in jüngeren Publikationen zur historischen Epoche wenn überhaupt meist nur eine untergeordnete Rolle.29 Am Beispiel der Entwicklungen der literarischen Künste lässt sich die Innovationskraft, der Kontrast von Vergangenem und Kommendem, die Ausei-
27 CONRAD: Enlightenment in Global History, S. 1004. 28 Ebd. 29 Dabei ist selbstredend von literaturhistorischen Zugriffen abzusehen, die sich naturgemäß zwangsläufig mit den literarischen Erzeugnissen der Aufklärung auseinandersetzen. Für ein Zeitalter in dem neue (textuelle) Kommunikationsformen, wie die historisch-kritischen Lexika, philosophische Abhandlungen, Briefe und Romane, Theater und Dialoge unbestritten eine solch zentrale Rolle einnehmen (Vgl. dazu WILLEMS, Gottfried: Geschichte der deutschen Literatur, Bd.2, 2012, S. 2.), verwundert die geringfügige Beschäftigung mit den Literaturen des 18. Jahrhunderts auch oder gerade in allgemeingeschichtlichen Überblickswerken. Phänomene des Wandels und die Beschreibung widersprüchlicher Entwicklungslinien des 18. Jahrhunderts werden in aktuellen Monographien durchaus zu strukturgebenden Themen (z.B. die soziale UnGerechtigkeit zwischen den Menschen, Un-Freiheit und Sklaverei oder etwa die UnGleichheit der Geschlechter). Von der Literatur als Quellcode dieser kulturellen und ambivalenten Wissensformation machen einschlägige Publikationen jüngerer Zeit keinen Gebrauch, so etwa Barbara Stollberg-Rilingers »Die Aufklärung. Europa im 18. Jahrhundert«, Stuttgart 2
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2011.; Dorinda Outrams »The Enlightenment«,
Cambridge 2005.; oder Annette Meyers »Die Epoche der Aufklärung«, Berlin 2010.
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nandersetzung mit sich selbst durch eine Suche nach dem Fremden sowie die von Ungleichzeitigkeit charakterisierte Wirklichkeit der Zeitspanne besonders deutlich ablesen. Gerade in den innovativen literarischen Erfindungen des 18. Jahrhunderts kann man »die Moderne unter ihren Entstehungsbedingungen« nachvollziehen.30 In Sonderheit die modernen Dramen und Romane verwandeln vorangegangene Formen in neue Gestalten und verpacken alte Inhalte in aktualisierten Geschichten, die sich nun radikal den Realitäten der Zeitgenossen zuwenden.31 Auch wenn die unhinterfragte Autorität antiker Überlieferungen (wie letztlich alle Formen traditioneller Machtkonstellationen) von den Aufklärern vehement kritisiert wurde, waren dennoch beinah alle Autoren der Aufklärung zutiefst mit den Texten des Altertums vertraut. Die literarischen Texte der Aufklärung profitieren enorm von ihren belesenen Verfassern, weil die sich selbst gerade als neue Berufsgruppe erfindenden Schriftsteller brandaktuelle Stoffe aus bekannten Texturen zu einem Bestseller nach dem anderen spinnen. Richardsons Pamela, or, Virtue Rewarded (1740), Rousseaus Julie, ou la nouvelle Héloïse (1761) oder Goethes Die Leiden des jungen Werthers (1774) sind beispielweise einige der zahlreichen Erfolgstexte des 18. Jahrhunderts, die mit neuartigen Konfigurationen bekannter Narrative europaweit für Furore sorgen. Viele von ihnen entrümpeln überkommene Schreibspielregeln, nutzen damals verpönte Formate, wie etwa den Roman, um fiktive Blicke in Köpfe und Körper ihrer Zeit zu werfen, oder setzten ihren Theaterzuschauern so ähnliche Figuren vor die Nase, dass diese bis ins Mark erschüttert kaum noch auf ihren Sitzen zu halten sind.32 Inhalte und Formen der neuen Literaturen treffen im Verlauf des 18. Jahrhunderts außerdem wechselwirkend mit einer veränderten Kommunikationskultur zusammen, die von kritisch-dialogischen und didaktisch-informativen Vor-
30 WILLEMS, Gottfried: Geschichte der deutschen Literatur, Bd.2, 2012, S. 7. 31 Ebd., S. 16. 32 Die große Wirkung neuer Theaterformen auf ihre zeitgenössischen Rezipienten im deutschsprachigen Raum der Zeit belegen sowohl Lessings Miss Sara Sampson (1755), (vgl. dazu den Briefwechsel von Rammler am 27. Juli 1755 an seinen Freund Gleim, in: SCHÜDDEKOPF, Carl (Hg.): Briefwechsel zwischen Gleim und Ramler. Bd. 2, 1753-1769, Tübingen 1907, S. 206, http://archive.org/stream/briefwechsel zwi01ramlgoog/briefwechselzwi01ramlgoog_djvu.txt, 22.07.2014) als später auch Schillers Räuber (1784). (Vgl. hierzu z.B. SCHMIDT, Otto: »Die Uraufführung der ›Räuber‹ –"ein theatergeschichtliches Ereignis«, in: Herbert Stubenrauch und Günter Schulz (Hgg.): Schillers Räuber. Urtext des Mannheimer Soufflierbuches, Mannheim 1959, S. 151-180.). "
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" stellungen gekennzeichnet ist. Auf der Basis alltäglicher Konversationspraktiken (Brief, Tagebuch, Reisebericht, Autobiographie und Diskussion) entstehen neue (Misch-)Gattungen, welche die Innovationskraft der Literatur in besagtem Zeitraum widerspiegeln.33 Der Stoff, der auf den Bühnen gezeigt, in den Salons diskutiert und zuhause gelesen wird, adressiert wie nie zuvor die Gegenwart der intendierten Rezipienten. Die neue Literatur ist nicht zuletzt Ausdruck neu entstehender Zielgruppen. Es handelt sich um Teile der Bevölkerung, die zunächst einmal lesen können müssen, die sich des Weiteren über ein nicht geringes Maß an Vorwissen in die komplexen Gedankenspiele hineinversetzen möchten und welche zuvorderst die Bereitschaft aufbringen, sich von den neuen Geschichten emotional durchdringen zu lassen. Die zentralen Begriffe der Aufklärung (Kritik, Natur, Erfahrung sowie Emanzipation und ›Ich‹) finden sich dementsprechend durchgespielt im literarischen Aufklärungslabor; von hier aus wird das »Individuum als de[r] unentbehrliche Träger des Erfahrungsmachens«34 in allen Facetten ›ausprobiert‹. Die Literatur der Aufklärung spiegelt die vielschichtigen Entwicklungen des Jahrhunderts des Bürgertums, des Jahrhunderts des Lichts, der Buchstaben, des Fortschritts, der Vernunft etc. auf beachtliche Art und Weise wider. Im Gegensatz zur historiographischen Beschäftigung mit vielen anderen Wissens- und Tätigkeitsfeldern der Epoche verdeutlichen gerade die Geschichten der Aufklärung eine alles andere als stets humanistisch getönte, idealistisch verblendete und sozial gerechte Geschichte. »Aufklären heißt den Menschen studieren, heißt ein Studium betreiben, das sich wesentlich auf die drei Felder des Ursprungs, der Freiheit und der Individualität des Menschen erstreckt.«35 Vor allem die Literatur wird dabei zu einem zentralen Medium der Selbsterkundung. Bücher und Theaterstücke dokumentieren geradezu seismographisch die aufklärende Reise ins Ich, welche sich vornehmlich den problematischen und schwierigen Bereichen des Individuums verschreibt. Die dunklen Ecken in den Herzen der Menschen, die Begrenztheit des Verstandes sowie die in soziale Zusammenhänge eingebundene »vollständige Mechanik seines Lastersystems«36 sind die Ausgangspunkte für die tragischen Figuren und bemitleidenswerten Helden der Textexperimente des 18. Jahrhunderts. Die neue Literatur der Aufklärung verweist ohne Zweifel auf eine neue Zielgruppe von Leserinnen und Lesern. In der Forschung werden die essentiellen
33 WILLEMS, Gottfried: Geschichte der deutschen Literatur, Bd.2, 2012, S. 32. 34 Ebd., S. 21. 35 Ebd., S. 49. 36 SCHILLER, Friedrich: »Vorrede zu den Räubern«, in: Ders.: Die Räuber, Frankfurt und Leipzig 1781, S. 3-12, Hier: S. 5.
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Entwicklungen, die Transformation politischer, wissenschaftlicher und ökonomischer Systeme während des 18. Jahrhunderts häufig mit der Hintergrundthese des Aufstiegs des europäischen Bürgertums in Verbindung gebracht. Das sogenannte Bürgertum stelle die sozialen Strukturen der vorangehenden Jahrhunderte durch seinen Wunsch nach Mitbestimmung und Repräsentation zunehmend vehement in Frage.37 Die soziale Wirklichkeit des Zeitalters in Europa erweist sich bei näherer Betrachtung allerdings als äußerst komplex. Mit einem durch das Hochmittelalter geprägten Bild von der dreigegliederten Ständegesellschaft und der Vorstellung von sich durch Rechtsordnungen unterscheidender Schichten wird man der historischen Realität des Siècle des Lumières jedenfalls nicht gerecht. Von einheitlichen und voneinander abgetrennten sozialen Gruppen, wie etwa dem sogenannten Bürgertum, kann dementsprechend nicht ausgegangen werden. »Im 18. Jahrhundert waren die sozialen Verhältnisse noch wesentlich kleinräumiger als heute. Sie lassen sich daher besser beschreiben, wenn man nicht von >einer< Gesellschaft ausgeht, sondern von verschiedenen >Gesellschaften