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German Pages 141 [144] Year 1926
GERHARD MASUR
RANKES BEGRIPP DER WELTGESCHICHTE
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M
MÜNCHEN UND BERLIN 1926 DRUCK UND V E R L A G VON R. O L D E N B O U R G
BEIHEFT 6 DER H I S T O R I S C H E N
ZEITSCHRIFT
Alle Rechte, einschließlich der Übersetzung, vorbehalten
Die hier veröffentlichte Arbeit hat in wenig anderer Gestalt im Wintersemester 1924/25 der philosophischen Fakultät der Universität Berlin als Dissertation vorgelegen.
Dem Gedächtnis meiner Schwester
Elisabeth
VORWORT Die vorliegende Studie verdankt ihre Entstehung einem zugleich historiographischen und geschichtsphilosophischen Interesse. Der Begriff des „Universalhistorischen", mit dem Rankes Produktionen charakterisiert zu werden pflegen, schien mir in sich nicht eindeutig und dezidiert genug, um zu einer Bestimmung hinzureichen. Doch rechtfertigt seine hohe Bedeutung in Rankes Werk eine gesonderte Untersuchung. Wie weit die Durchdringung dieses verehrungswürdigen Gegenstandes mit dem Maßstabe einer geschichtsphilosophischen Problematik, die zwar nicht als solche, aber doch in der hier zugrunde gelegten Formulierung zeitgenössischen Ursprungs ist, im Wesen der Aufgabe begründet war, muß das Ergebnis der Untersuchung erweisen. Hier sei es mir noch vergönnt, die Namen zweier Männer mit Dankbarkeit zu nennen, deren Forschungen ich die Anregung zu dieser Studie schulde. Ich danke sie Ernst Troeltsch, in dessen „Historismus" die Aufgabe dieser Untersuchung zuerst gestellt wurde und meinem hochverehrten Lehrer, Herrn Geheimrat F. Meinecke, dem ich mich für seinen gütigen Rat und fortdauernden Zuspruch tief verpflichtet fühle. Gerhard Masur.
INHALT Seite
Vorwot
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Vorbenerkung: Die Problematik des Begriffs der Weltgeschichte und lie Aufgaben einer Geschichte der Weltgeschichtsschreibung
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Einleiting: Versuch einer Skizze der Entwicklung der Weltgeschichtsichreibung bis zu Ranke
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I. Teil Rankes Begriff der Weltgeschichte.
Wertwelt und Welt-
jeschichte II. Tel: Die Entwicklung des universalhistorischen Gedankens III. Tel: Der Begriff der Weltgeschichte
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VORBEMERKUNG Die Geschichte der Weltgeschichtsschreibung 1 ), als ein Segment des Gesamten der Historiographie, gliedert sich wie von selbst in die Epochen dieses größeren Ganzen. Zu dieser umfänglicheren Ordnung nach den Perioden der Geistesgeschichte tritt eine, sich aus der dem Gegenstande eigentümlichen Problematik bestimmende Gliederung. Betreten wir das Gebiet der Weltgeschichtsschreibung selbst, so ordnen sich, je nachdem unter welchem Bilde die Weltgeschichte angeschaut wird, die Typen der Universalhistorie zu großen, gesonderten Landschaften auseinander. Ein anderes Moment der Gliederung ergibt sich aus dem Vergleich der Wertskalen und der Arten der Wertung, die in reiner oder kombinierter Prägimg den Universalhistorien als Maßstab der Auslese dienen. Sie stehen gleich klimatischen Verschiedenheiten zu den landschaftlichen Besonderungen im Verhältnis einer festen Zuordnung. Endlich wird das ganze Gebiet der Weltgeschichtsschreibung abgegrenzt, ja, als ein fest umzirktes, geistiges Territorium konstituiert, durch das, jeden universalhistorischen Versuch belebende Erkenntnisstreben, die Gesamtheit des menschlich-irdischen Geschehens als Totalität zu begreifen, d. h. im Geschehenen und Geschehenden das Einheitsband zu finden, das die gesamte, unüberschaubare Mannigfaltigkeit der Geschichte zu umschließen vermöchte. Für eine solche Erkenntnisintention steht das Geschehen selbst nur im Werte des Materials der Deutung, die, um ihres metaphysischen Anspruches willen, für sich eine absolute Gültigkeit behaupten muß. ') Die folgenden Ausführungen suchen die Bedeutung des von T r ö l t s c h (H. Z. Bd. 116 und „Der Historismus und seine Probleme 1922) nachgewiesenen Zusammenhanges zwischen den Wertmaßstäben zur Beurteilung historischer Dinge und dem Begriff der Weltgeschichte far eine Geschichte der Weltgeschichtsschreibung zu umreißen. Von anderen Wegen her haben sich Forscher, wie M. Scheler, Th. Litt und Stern dem Standort Tröltschs angenähert. Die zum Teil bewußtpolemische Formulierung schien mir gegeben durch die Vieldeutigkeit des Begriffs der Weltgeschichte und durch die Notwendigkeit, gegenüber aller nur morphologischen Kulturvergleichung, auch nach der Zertrümmerung des welthistorischen Europäismus, die partielle Richtigkeit der alten, universalhistorischen Vorstellungen zu betonen. Beib. d. H. Z. 6
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Vorbemerkung
Diese drei Momente, das logische der Struktur, das der welthistorischen Wertung und das spezifisch-universalhistorische Erkenntnisstreben sind in jeder konkreten Weltgeschichte unauflöslich miteinander verflochten und bedingen sich gegenseitig. Gewisse Typen der Wertung fordern und schließen aus gewisse Typen der universalhistorischen Struktur, aber auch umgekehrt. Man könnte dieses Begriffsgeflecht um seiner Stellung zu dem geschichtlichen Material, zu dem es in dem Verhältnis der Form zum Stoff steht, das welthistorische Apriori nennen, ohne erkenntnis- oder werttheoretisch damit das Geringste präjudizieren zu wollen. Denn aus der jeweilig verschiedenen Verbindung dieses Apriori mit dem geschichtlichen Material und aus der Reaktion desselben auf dies Begriffsgeschlecht resultieren nicht zuletzt die Differenzen der weltgeschichtlichen Anschauung. Die Einheit des Gebietes universalhistorischer Erkenntnis ist demnach keine gegenständlich bedingte. Sie ruht allein auf der gleichen Intention der Erkenntnis. Dem welthistorischen Interesse ist sein Gegenstand nicht gegeben, sondern aufgegeben. Seine eigentümlichste Problematik ist die der Konstituierung des Gegenstandes Weltgeschichte. Dies scheidet die universalhistorische von jeder anderen historischen Erkenntnis ab, die an dem Gegebenen unbeschwerten Herzens Nahrung und Anhalt suchen und finden wird. Und doch wächst das universalhistorische Einheitsstreben, die Gesamtheit des menschlich-irdischen Geschehens in einem umfassenden Sinne zu begreifen, kontinuierlich aus eben der Problematik der partikularen historischen Erkenntnis hervor. Die Anteilnahme des Historikers gilt primär der konkreten, geschichtlichen Individualität. Aber sei es nun, daß er mit den Mitteln der Analyse die Tiefen ihres Seins zu erleuchten trachtet, oder sei es, daß er im Mitgefühl des werdenden Daseins lebt und sich in der reinen Anschauimg völlig Genüge tut, er wird gewahr werden, daß das Besondere im Kerne ein Allgemeines birgt: den nach Deutung verlangenden Sinngehalt, jenen in den innersten Lebenskern des historischen Gegenstandes eingesenkten Wert. Aber von der Erforschung und Deutung dieses Allgemeinen wird er nun weitergeführt zu der Erkenntnis der tausendfältigen Verflechtungen, die keinen historischen Gegenstand abgesondert von den anderen existieren lassen. In Leiden und Wirken sieht er alles miteinander verbunden. Und so scheint hier die historische Erkenntnis selbst den Weg zu eröffnen, auf dem das Ziel einer absoluten weltgeschichtlichen Erkenntnis zu erreichen ist. Indem der Historiker von dem einzelnen Gegenstand zu dem mit ihm verbundenen fortschreitet, wird er hoffen, das welthistorische
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Vorbemerkung
Einheitsband in diesem allgemeinen Konnex gefunden zu haben. Aber aus zwei Gründen ist der Weg der Erreichung einer absoluten welthistorischen Erkenntnis durch eine extensive Umfassung ungangbar. Die Fähigkeit menschlicher Rezeption und die Kraft des geschichtlichen Verständnisses steht zu der Fülle des gesamten Stoffes in einem so inadäquaten Verhältnis, daß wir uns bei jedem Versuche, diese Disproportionalität zu überspringen, der Mahnung B. Croce erinnern müßten1), daß der Weg des Fortschreitens zum Unendlichen bequem und breit, wie der zur Hölle ist, der, wenn er nicht zur Hölle, so doch sicher ins Irrenhaus führt. Und selbst wenn es gelingen könnte, die Gesamtfülle aller historischen Objekte und ihren Zusammenhang darzustellen, so würden wir doch inne werden müssen, daß jener alle Erscheinungen verbindende Zusammenhang sich an den Rändern der einander entgegengelagerten Kulturwelten in bloßer Berührung, Reibung oder Ablehnung verliert, die wir als Einheitsband des Geschehens anzusprechen nicht berechtigt sind. So ist das Ideal einer völligen Umfassung nie auch nur approximativ zu erreichen, und keines der entscheidenden Probleme würde auf diesem Wege je entschieden werden können. Es ist dem erforschenden Geiste allein nicht gegeben, die menschliche Geschichte als ein Ganzes zu umfassen und zu begreifen. Und solange er an dem Ziel einer absoluten welthistorischen Erkenntnis festhält, wird er danach trachten müssen, die Totalität, die sich dem andächtig auf den Dingen ruhenden Bücke entzieht, als Konstruktion zu vollenden. Hier gestattet das Problem nun eine zweifache Entscheidung. Das universalhistorische Element kann als material*), d. h. dem Geschehen selbst einwohnend, sich in ihm verwirklichend, aber von der Gesamtheit aller Objekte durch eine spezifische Flutrichtung geschieden und sich aus ihr erhebend, angenommen werden; oder aber das universalhistorische Element kann in ein formales verwandelt werden, dann wird es in eine Übereinstimmung der Verläufe derjenigen geschichtlichen Ganzheiten aufgelöst, bei denen die welthistorische Betrachtung ihren Standort wählt, seien es nun Nationen, Völkerkreise oder Kulturen. Ob der Schematismus, in dem die behauptete Gleichläufigkeit der Entwicklung ihren Ausdruck findet, durch Rekurs auf eine all') Vgl. B. Croce, Zur Theorie u. Gesch. d. Historiographie, S. 42, 1913. Croces Kritik der extensiv-universalhistorischen Bemühungen gehört zu dem treffendsten und erquickendsten, was Ober diesen Gegenstand gesagt worden ist. *) Vgl. J. Kaerst, Studien z. Entw. d. universalhistorischen Anschauung, H. Z. Bd .106 und m . i»
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Vorbemerkung
gemeine Naturgesetzlichkeit oder nur auf ein biologisches Gesetz oder wie immer gesichert wird, ist an diesem Orte von geringerer Bedeutung. Das universalhistorische Einheitsband jedenfalls ist auf diesem Schematismus reduziert, und die Absolutheit dieser Art welthistorischer Erkenntnis steht und fällt mit der Gültigkeit des Koordinatensystems auf das die Weltgeschichte bezogen wird. Wir lassen es dahingestellt, ob die Anwendbarkeit eines solchen Koordinatensystems auf andere Welten als die, aus denen es selbst erwachsen ist, je zu erweisen sein wird. Auch hier liegt trotz aller scheinbaren „kopernikanischen Drehung" ein latenter Europäismus vor, der die Gesetze des „Perspektivismus" der historischen Weltbilder unbeachtet läßt 1 ). Zudem aber liegt ein jeder Schematismus dieser Art, streng oder lax gehandhabt, mit der Historie im Argen. Keiner von ihnen ist imstande, die Fülle des Geschehens je ohne Vergewaltigung zu umfangen: Die ohne Zweifel zu beobachtende Gleichläufigkeit historischer Totalitäten reicht nicht hin, um die Isolierung der großen Organismen oder je nachdem Mechanismen zu rechtfertigen, gegen die nicht nur der allgemeine Konnex alles mit allem verbindender Berührung und Einwirkung, sondern auch der über jenen Zusammenhang an Bedeutung hinausreichende Befund der Verwachsimg großer Kulturen zu einem Weltganzen spricht. Die Maschen eines solchen Fangnetzes können nie fein genug geknüpft werden, um der Gesamtheit der historischen Wirklichkeit jenes Einheitsband zu gewähren, nach dem die welthistorische Erkenntnis ringt, und können doch auch, weil auf ihnen die Absolutheit der Erkenntnis ruht, nicht entbehrt werden. Je energischer die historische Welt durch Vergleichung und Parallelisierung in einen solchen Schematismus gezwungen wird, desto mehr droht ihr von ihm eine tyrannische Vergewaltigung. Je umsichtiger und zarter ein solches universalhistorisches Skelett mit der lebendigen Fülle des geschichtlichen Lebens umgeben und erfüllt wird, desto mehr droht der Weltgeschichte der völlige Zerfall und die Auflösung des Schematismus von innen heraus2). Und zudem ist der ') Vgl. Th. Litt, Individuum und Gemeinschaft*, S. 48, 1924. *) Eines historischen Hinweises bedarf es an dieser Stelle kaum. Das Beispiel Spenglers ist jedem noch gegenwärtig. Breysig, der in seinem Stufenbau der Weltgeschichte 1905 den Lamprechtschen Parallelismus auf die Weltgeschichte Obertrug, hat diesem Programm bis heute die Ausfüllung noch nicht folgen lassen. Seine Stufentheorie ist von bei weitem größerer Feinheit und Umsicht als diejenige Spenglers. Doch bleibt bei ihm, wie auch bei W. Wundts, Elementen der Völkerpsychologie 1912, der Eindruck einer Vergewaltigung des freien historischen Lebens durch den für gesetzmäßig erklärten Ablauf der Entwicklung.
Vorbemerkung
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Relativismus das letzte Wort, das eine solche Verwandlung des universalhistorischen Elementes in eine nur formale Übereinstimmung, in Betracht des weltgeschichtlichen Wertproblems, zu sprechen vermag. Bei ihm hätte man sich zu beruhigen, wenn man es bei dieser Lösung als der letzten Möglichkeit universalhistorischer Erkenntnis belassen wollte. Dem gegenüber sichert die Ansicht, die die Realität der weltgeschichtlichen Bewegung behauptet, vorzüglich die Einheit der Weltgeschichte. Sie begreift sie als einen kontinuierlichen, sinnerfüllten Prozeß, der sich aus der Fülle des Gesamtgeschehens erhebt. In diesem Prozeß schließt sich dann als in einer höheren Einheit die Gesamtheit des Geschehens zur Totalität zusammen, da in ihm „der Kern und die Mitte" der Geschichte des menschlichen Geschlechtes zu erblicken ist. Die Gültigkeit dieser Ansicht der Universalhistorie ist vollständig darauf gebaut, daß es Wertmaßstäbe gibt, die eine solche Auslese mit dem Anspruch absoluter Gültigkeit gestatten. Von der Gründung des Wertmaßstabes auf ein offenbarungsmäßiges Wissen kann geschwiegen werden. Im Bereich der geschichtlichen Erkenntnis gibt es keinen Ort, der eine solche Entscheidung zu fällen verstattet. Die Teleologie einer Selektion, die nicht nur regulativ, vorläufig oder gar bewußt fiktionalistisch, vielmehr wahrhaft konstitutiv, endgültig und auf den Kern des Realen zielend zu sein prätendiert, findet an einer historischen Erkenntnis keinen Rechtstitel. Die Geschichte dient, um uns einer Kantischen Formel zu bedienen, nicht zur Demonstration. Nur durch Grenzüberschreitimg und Verabsolutierung partikularer Gewalten kann die historische Erkenntnis ein weltgeschichtliches Bild konstituieren, für das sie absolute Gültigkeit in Anspruch nimmt. Der pure Historismus, d. h. die ausschließliche Hingabe an das Leben und den Sinn der einzelnen geschichtlichen Bildungen, involviert also den Verzicht auf Universalhistorie. So konzentriert sich das Problem darauf, ob es jenseits der unaufhörlich bewegten Lebendigkeit der geschichtlichen Welt den archimedischen Ort gibt, der es gestattet, die Fülle des Geschehens durch Messung an einem absolut gültigen Wertmaßstab einheitlich-sinnvoll zu begreifen. Die Weltgeschichte als eine mit immanenter Naturgesetzlichkeit einem rational begründeten Ziele zustrebende Bewegung zu begreifen, wie es die universalhistorischen Projektionen des Positivismus lehren, wird sich nach einem Jahrhundert geschichtsphilosophischer Trennungsarbeit der beiden Bereiche Natur und Geschichte, deren Etappen durch die Namen von Kant, Hegel,
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Vorbemerkung
Ranke, Droysen, Dilthey und Rickert bezeichnet werden, kaum jemand mehr versucht fühlen. Sucht man aber den archimedischen Ort in dem übergeschichtlichen Bereiche apriorisch erkannter Werte, so stehen zumindest alle ethischen Imperative und Nonnen der Vielfältigkeit und Bestimmtheit der historischen Bildungen hilflos und ohnmächtig gegenüber. Und selbst, wenn zu diesen, die nur eine Dimension der Wertwelt erfüllen, die Kulturwerte treten würden, und auch ihre Rangordnung unter sich und zu der Sphäre der ethischen Werte a priori zu erschauen wäre (was hier weder behauptet noch geleugnet wird), so würde doch angesichts der divergierenden materialen Erfüllung, die diese Werte eben im Verlaufe der Geschichte gefunden haben, der kaum geschlichtete Streit sich von neuem erheben. Denn die Frage ist, unter dem Aspekt des universalhistorischen Problems, gar nicht, welcher Art die Beziehimg der geschichtlichen Welt zu der Welt der Werte ist, sondern es ist jenes spezielle Problem, ob aus dem Reich der Werte dem weltgeschichtlichen Erkenntnisstreben ein Maßstab von absoluter Gültigkeit an die Hand gegeben werden kann. Aber die in der Historie zum Durchbruch kommenden Werte erscheinen immer in konkreter Gestalt. Die Bedingungen ihres Daseins sind von ihnen nicht ablösbar. Demgegenüber werden alle, a priori erschauten Ordnungen in hilfloser Vagheit und Unbestimmtheit verbleiben, ja verbleiben müssen. Je mehr die Relativität jeder historischen Wertverwirklichung anerkannt wird, um so höher muß der Himmel a priori gültiger Gesetze und Nonnen über das Meer historischer Relativität erhoben werden. Aber je mehr die Wertwelt von der geschichtlichen Welt entfernt wird und entfernt werden muß, desto mehr entsagt sie zugleich dem Anspruch, diese universalhistorisch zu ordnen1). Kommen dennoch die historischen Materialien durch Messung an einem Maßstabe, für den eine apriorische Gültigkeit in Anspruch genommen wird, gleichsam wie von selbst in die perspektivische Lage, die es gestattet, aus ihnen ein weltgeschichtliches Bild abzulesen, so ist in Wahrheit die Sphäre der a priori erschauten Werte schon immer verlassen, und die als Maßstab fungierenden Normen sind insgeheim der Historie angeglichen worden. Einem solchen universalhistorischen Gemälde ist dann eine, selbst geschichtlich beschränkte, ethische Forderimg substruiert worden, die den Schein einer unbedingt gültigen Konstruktion nur vortäuscht. ') Vgl. M. Scheler, Versuche zu einer Soziologie des Wissens 1924. S. n 6 f f .
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Ist damit der Kreis der Möglichkeiten, die zu einer absoluten Erkenntnis des universalhistorischen Verlaufes führen könnten, umschritten, so müssen wir an diesem Orte bekennen, daß es unmöglich ist, die Gesamtheit des historischen Geschehens als Totalität zu begreifen, solange dieses Begreifen absolute Erkenntnis zu sein beansprucht. Weder der Weg der extensiven Umfassung, noch die Reduzierung des universalhistorischen Elementes auf ein formales, noch irgendeine, mit konstitutivem Anspruch auftretende Selektion vermögen in Wahrheit eine absolut gültige Erkenntnis der Welthistorie zu erreichen. Muß das auf die Universalgeschichte gerichtete Erkenntnisstreben an diesem Orte mit Resignation sich seine Unzulänglichkeit eingestehen und sich des Anspruchs auf Universalgeschichte endgültig begeben ? Mit schlichtem Ja oder Nein kann die Antwort nicht gegeben werden. Die Kantische Frage1) an die Weltgeschichte, wie ist Universalgeschichte als Wissenschaft möglich, müßte allerdings dahin beantwortet werden, daß sie als reine Wissenschaft allein nicht möglich ist. Des Anspruches auf eine, den Sinn und das Ziel der Weltgeschichte absolut erfassende Kontemplation muß sich das universalhistorische Erkenntnisstreben in der Tat entschlagen. Verzichten wir an diesem Ort auf die kontemplative, absolute Erfassung des Sinnes der gesamten Geschichte, damit wir frei werden, jenen Ansatz zu gewahren, von dem aus das Problem neu ergriffen werden kann. Mit welchem Recht aber, so wird man fragen, können wir, wenn wir uns zu diesem Verzicht entschließen, noch von Universalgeschichte sprechen, die doch eben durch das Ziel eines absoluten Erkenntnisstrebens von aller übrigen Geschichtsschreibung gesondert sein sollte? Gedenken wir, um dies zu ergründen, der Bewußtseinslage, aus der das Problem der profanen Universalgeschichte als einer Sinngebung und Zielsetzung des gesamten Geschichtsverlaufes entsprang. In dem christlichen Weltbild war die Geschichte ideell vollendet. Indem mit dem Zerfall der universalen Einheitskirche die Wege des Heiles problematisch wurden, verlor die eschatologische Perspektive des Christentums unendlich an Kraft, die Vergangenheit und die Zukunft unbedenklich nach dem überirdischen Wunschbilde umzuformen. Das geschichtliche Leben selbst hatte in der entschiedensten Ausbildung aller irdischen Kräfte eine Richtung genommen, die der mittelalterlichen Weltansicht schlechthin verfeindet war. Diese Tendenz war es, die die Aufklärung zu dem Subjekt des welthistorischen Prozesses ') Vgl. F. Medikus, Kant und Ranke. Kant-Studien 1903.
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machte, und die sie unter dem Namen des Fortschrittes zu dem Maßstab der universalhistorischen Bewegung erhob. Ohne Zweifel war diese Ansicht aus der eigentümlichen Not der universalhistorischen Problematik geboren. Erst an dem revolutionären Vorhaben Rousseaus, die Fäden jenes bestrickenden Netzes der Kultur, und das hieß zugleich der Geschichte, zu durchschneiden, gemessen, erhellt die Bedeutimg der universalhistorischen Lösung der Aufklärung. Denn aus der, gegen die weltgeschichtliche Problematik fehlenden Lösung Rousseaus erkennen wir die Bedrohung, der die historische Aktivität ausgesetzt war, wenn der Relativismus, der in ihren Zielen und Normen einander entgegengelagerten Sinngebilde und Gewalten in einem anderen als dem universalhistorischen Verstände entschieden wurde. Der Ansatz des Problemes war ergriffen, wenn, wie es geschah, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, als in einer weltgeschichtlichen Bewegung sinnvoll verbunden angeschaut wurden. Auf dieser besonderen Korrelation von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ruht das Fundament der Universalgeschichte. Diese Grundrelation ist nicht ein Spezialfall jener allgemeinen Beziehung, die zwischen Vergangenheitserkenntnis und Gegenwartsverständnis besteht, sondern umgekehrt ist jede lebendige Befruchtung der historischen Erkenntnis durch die Gegenwart eine krypto-universalhistorische Beziehung, die bewußt oder unbewußt weltgeschichtliche Perspektiven umschließt und erst in einer universalhistorischen Lösung ihre volle Bedeutung gewinnt. Der universalhistorische Wertmaßstab ist mithin bestimmt von der Tradition, in der der Universalhistoriker lebt und in der er sich lebend fühlt 1 ). Denn in dem auf die Geschichte in universalhistorischer Absicht schauenden Geiste entsteht das Bewußtsein, wie sein Sein und sein Wirken in jedem Augenblick gespeist wird von der Vergangenheit. Die Standpunktsbedingtheit jeder historischen Erkenntnis, soweit sie die Schwelle der reinen Tatsachenermittlung überschreitet, die Sinn- und Wertrelativität des historischen Geschehens, kommt hier zur Reflektion, aber nicht zur erkenntnis-theoretischen, sondern zur universalhistorischen Reflektion 2 ). Denn wie jede universalhistorische Erkenntnis Standpunkts-, d. h. gegenwartsbedingt ist, so ist die Gegenwart wieder Auf die universal-historische Bedeutung des Begriffes der Tradition hat neuerdings E. Rothacker, Savigny Grimm, Ranke mit Nachdruck hingewiesen. H. Z. Bd. 128, S. 442. ») Vgl. M. Scheler, a. a. O., und W. Stern, Wertphilosophie Bd. 3, Kap. 11.
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universalhistorisch bedingt. Darum lernt der Universalhistoriker sich erst aus der Tiefe der Geschichte wahrhaft verstehen. Darum vermag allein die Kontinuität mit einer geschichtlichen Welt jenen lebendigen Wertzusammenhang zu gewähren, von dem aus Weltgeschichte erforscht werden kann. Sie ist dann die Erkenntnis des Werdeganges der geschichtlichen Welt, von der sich der Universalhistoriker umfangen fühlt. Sie ist die Deutung jenes großen Prozesses, in dem alle besonderen Gestaltungen verbunden und verschmolzen sind, der doch selbst aus ihnen entstanden ist und der aus der Tiefe seiner Ursprünge und dem Dämmer seines Werdens heraustreibt bis an die gegenwärtige Epoche, die nur sein lebendiges Glied und Produkt ist. Die Auslese, die die universalhistorischen Versuche treffen, in denen sich die Weltgeschichte zum Bilde eines tausendgliedrigen, vielgestaltigen, aber dennoch einheitlich-sinnvollen Prozesses zusammenschließt, beruht also auf der Anlegung eines Wertmaßstabes, der selbst geschichtlichen Wesens ist. Darum ist dieser Maßstab noch nicht das psychologische Residuum undurchschauter Vorurteile oder verhüllter Interessen, die in die Geschichte perspektivisch hineingesehen würde: Jener Erdenrest zu tragen peinlich, der die letzte Entfaltung der geschichtlichen Kontemplation verhindert. Vielmehr ist es, eingestanden oder nicht, das historische Bewußtsein einer Geisteslage, zusammengewoben aus persönlichen Kräften und überpersönlichen Mächten, das diese seiegierende Funktion erfüllt, und nur für ein Bewußtsein, das die Geschichte als sein eigenes Schicksal ergreift, versteht und bejaht, wird sich ein welthistorisches Bild konstituieren. Darum wird der universalhistorische Maßstab mitbestimmt von der Tradition, durch die der Universalhistoriker der Geschichte verbunden ist. Aber, wie es nicht anders sein kann, differieren die Traditionsbegriffe auch innerhalb desselben Lebens- und Geschichtsganzen entsprechend dem Standort der, von diesem Ganzen umschlossenen Einzelnen und Gemeinschaften. Die Höhe der Seelenlage des Universalhistorikers entscheidet über die Rangordnung der Werte, und kein Streben nach universeller Erkenntnis wird es je hindern können, daß Genius und Neigung die Struktur des welthistorischen Apriori individuell bestimmen. Je reicher und umfassender der Geist des Universalhistorikers ist, um so tiefer wird er sich allen Quellen, aus denen die Geschichte seiner Welt zusammengeflossen ist, verwandt fühlen, sie aufsuchen, sie zu ergründen und verstehen trachten. Wenn so die Gesamtfülle des Stoffes Richtung erhält, wenn sich Gliederung und Auslese scheinbar wie von selbst ergeben, so liegt in diesem allen Be-
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Vorbemerkung
jahung und Verneinung, Entscheidung und Ausschließung, mit einem Worte, Teleologie. Aber welchen Rechtstitel findet eine solche Teleologie, die, eingestandenermaßen, sich nicht nur auf Erkenntnis gründet, mit welchem Rechte kann hier überhaupt noch von Weltgeschichte gesprochen werden? Die Evidenz, auf die sich eine solche Sinngebung stützt, ist keine Evidenz der Erkenntnis, sondern eine Evidenz des Wollens. Bejahimg und Verneinung, Annahme und Ablehnung, ja die Zielstrebigkeit des welthistorischen Verlaufes selbst, schließen in irgend einer Form immer «ine, nicht ferner zu erklärende Bejahung des Lebenszusammenhanges ein, von dem aus der Universalhistoriker urteilt. Diese Bejahung ist erkenntnismäßig nicht zu rechtfertigen, sondern kann nur legitimiert werden, durch einen Akt des Glaubens und durch ein auf Tat zielendes Wollen. Auf die Absolutheit dieses Wollens gründet der Universalhistoriker seine Auslese. Es hegt nach unserm Dafürhalten allen Universalhistorien ein solches Wollen zugrunde, das in der prätendierten Absolutheit der Erkenntnis nur verhüllt erscheint. Hier gewinnt nun die Verzahnung des welthistorischen Strukturproblemes mit dem Wertprobleme eine neue und erhöhte Bedeutung, und es offenbart sicfo die sittliche Funktion des universalhistorischen Erkenntnisstrebens. Dieses nimmt, wie wir sahen, seinen Ausgang von der Gesamtheit der geschichtlichen Gegenstände, d. h. unter dem Aspekt des Wertproblemes, vom Relativismus und der Anarchie der Werte. Indem es aber von dem eigenen Lebenszusammenhange aus, jenem „Fußbreit festen Grunds", die Tiefen der eigenen Vergangenheit erkennend, die Gegenwart und die Ferne der Zukunft bejahend-bildend umfaßt, überwindet es die Wertanarchie, in die der reine Historismus mündet. Universalgeschichte ist keine nur sachliche Inventarisierung des Kulturbestandes, sondern ein Ding, das mit der ganzen Wucht und Schwere der Tat beladen, den, der sie erforscht, mitten inne stellt zwischen historische Erkenntnis und geistig-sittliche Aktion. Sie ist keine Angelegenheit von ausschließlich szientifischer Relevanz. Sie strebt ein überwissenschaftliches Ziel mit wissenschaftlichen Mitteln zu erreichen. Vor der Entfaltung der historischen Objektivität gebührt dem Lebenszusammenhang des Universalhistorikers, insofern er die Funktion des Wertmaßstabes erfüllt, die logische Priorität. Erst in den von ihm gesteckten Grenzen kann die Objektivität zu ihrem Rechte kommen. So erschöpft sich Universalgeschichte in diesem Verstände weder in rationaler Konstruktion noch in historischer Forschung, mag diese ihren Rahmen auch noch so weit spannen. Sie würde als Ganzes nicht
Vorbemerkung
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konstituiert werden können ohne konstruktive Elemente; und all ihre Teile müssen doch in ihrem Bestände geprüft, in ihrem Umfang ermittelt und in ihrem Sinne gedeutet werden von der historischen Forschung. Für eine solche Ansicht der Universalgeschichte entfällt das Ziel einer, in reiner Kontemplation, die Gesamtheit des Geschehens erfassenden Weltgeschichte von selbst. Eine Menschheit, als deren lebendiges Glied und schicksalshaftes Ergebnis sich eine Epoche erfassen könnte, gibt es nicht. Und -wenn es sie infolge des planetarischen Charakters der geschichtlichen Vorgänge einst geben sollte, so wird es nicht eine homogene Menschheit sein, sondern unter den dünnen Schleiern der zivilisierten Uniformität werden die uralten Potenzen in ihrer Verschiedenheit bis zum Verfall derselben getrennt weiterleben. Wir leugnen die Möglichkeit einer Gesamtweltgeschichte nicht, aber wir halten ihre Verwirklichung daran gebunden, daß eine Epoche sie als ihr eigenes Schicksal ergreift und versteht. In der Geschichte der Weltgeschichtsschreibung ist das hybride Phantom einer Welthistorie, die das gesamte Rund der bewohnten Erde und die ganze Ferne der erforschbaren Zeit umfaßt, nie mehr als ein stets unausgeführtes Programm gewesen, das nur in Kompendien von Partikulargeschichten seine Erfüllung hat finden können. Auch die Möglichkeit eines Fremdverständnisses historischer Totalitäten, die gänzlich außerhalb unseres Weltganzen liegen, durch Einzelne, die durch Blutmischung oder Aufgabe des eigenen Schicksals und Eingehen oder weitgehendste Anpassung an ein fremdes Schicksal Erkenntnismöglichkeiten in sich aufgenommen haben, lengnen wir nicht. Aber allerdings halten wir auch dieses Fremdverständnis für daran gebunden, daß die Entwicklungsrichtung solcher fremder Totalitäten als Schicksal in den eigenen Willen aufgenommen wird. Zu einem Weltganzen aber, und insofern zur Weltgeschichte als einer Einheit des Geschehens werden sich diese Erkenntnisse nicht zusammenschließen können. Sind die Gesetze des historischen Wesensperspektivismus unaufhebbar (— und dies glauben wir allerdings —), sind alle historischen Gegenstände zwar nicht seins-, aber doch sinn- und wertrelativ, so gilt es nicht. Die Weltgeschichte sondern die Geschichte einer Welt, unserer lebendigen Welt zu erforschen. Lebendig aber ist in ihr nur, was durch noch so ferne Beziehungen real mit ihr zusammenhängt, was sie selbst hat bilden helfen, und was noch heute in ihr wirkt. Den erhabenen Gedanken, den Pascal einst für die Geschichte der Wissenschaft ausgesprochen hat, daß alle Menschen insgesamt in den Wissenschaften einen einzigen, fortschreitenden Zusammenhang bilden, derart, daß sie
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Vorbemerkung
alle als ein immer bestehendes und lernendes Bewußtsein anzusehen wären, dürfen wir in die weiteren Bereiche der Weltgeschichte übertragen 1 ). Dann ist innerhalb eines Weltganzen jede Epoche wie ein Lebensalter in dem Dasein eines Menschen. Wie aber jeder Mensch sein Leben anfangs anders anschaut als später, so wird das Bild der Weltgeschichte jeder Epoche verwandelt neu erscheinen. Jede Universalgeschichte, auch mit diesem verminderten Anspruch also, ist ein Versuch, der das Siegel des endlichen Geistes an der Stirne trägt und den dennoch von neuem zu unternehmen, sich jede historisch bewußte Epoche gedrängt fühlen wird. Nur wenn die Geschichte der Menschheit ideell vollendet wäre, wie es die Heilsgeschichte lehrt, oder wenn das Ergebnis auch nur unserer Welt wesenhaft abgeschlossen vor unsern forschenden Blicken läge, wie dies Hegel behauptet hat, dann, aber nur dann, dürften wir hoffen, ein endgültiges Bild der weltgeschichtlichen Entwicklung zu gewinnen. Beides aber vermag die historische Erkenntnis nicht zuzugestehen. Die Geschichte schreitet in unaufhörlichem Werden fort. Daß die Universalhistorie andern Zeitaltern verwandelt erscheinen muß, ist nur der Ausdruck ihrer Lebendigkeit. Wir können es nicht beklagen, daß die. Epochen um ihres fortschreitenden Lebens willen nicht die Absolutheit der apriorischen Erkenntnis erreichen können. Von der alten Vorstellung der Universalgeschichte2) als einem kontinuierlich, zielstrebigen Prozesse bleibt nur dies formale Charakteristikum erhalten. Der historische Befund, der in dieser Ansicht seinen Ausdruck gefunden hat, des Zusammenhanges mehrerer großer Kulturwelten, wird auch fernerhin unter dieser Form begriffen werden können und müssen. Universalgeschichte aber wird dieser Prozeß nicht mehr auf Grund einer absoluten Erkenntnis, sondern höchstens auf Grund eines absoluten Wollens heißen dürfen. Eine Sinngebung, die für die Totalität der menschlichen Geschichte Gültigkeit hätte, ist dies also nicht. Es ist Universalgeschichte, relativ auf ein historisches Weltganze, „Eigenweltgeschichte", wenn man so will, oder Universalgeschichte als Selbstverständnis. Das Wissen darum, welcher Sinn der menschlichen Geschichte in dem Lebensstrom des gesamten Universums zukommt, bleibt ein göttliches Geheimnis. An den Horizonten unseres weltgeschichtlichen Bildes erheben sich, gleich dunklen Gebirgsmassiven, andere, in tausendjähriger Geschichte gereifte ') Vgl. W. Dilthey, Einleitung in die Geisteswissenschaften, I, S. 485!. ! ) Auf eine terminologische Abgrenzung der Begriffe Weltgeschichte, Universalgeschichte, Allgemeine Geschichte wird hier bewußt verzichtet, da es doch nur auf eine willkürliche Festsetzung hinausliefe.
Vorbemerkung
13 Formen des menschlichen Seins von heute noch undurchdringlicher Fremdheit. Die Rechtmäßigkeit einer kultur-morphologischen Betrachtung, und die Betonung der monadologischen Struktur historischer Totalitätensoll damit nicht bestritten werden, sondern nur eine Verabsolutierung dieser Formansichten. In den Fluß der universalhistorischen Bewegung einbezogen, dürfen sie mit vollem Rechte betont werden. Für die Methodik einer Geschichte der Weltgeschichtsschreibung ergibt sich, wie immer man den Begriff der Universalhistorie fixieren oder auflösen will, jedenfalls das eine, daß kein Gebiet der Historiographie ohne Anlegung eines aus der Problematik selbst entnommenen Maßstabes weniger zu begreifen ist als gerade dies. Das Wertproblem, das Strukturproblem und das Erkenntnisproblem müssen in ihrer jeweils anderen Fassung und in ihrem jeweils neuen Zusammenhange analysiert werden. Der funktionale Zusammenhang, der zwischen der Wertwelt des Universalhistorikers und seiner weltgeschichtlichen Ansicht besteht, muß aufgedeckt werden. An diesem Punkte mündet auch die Geschichte der Weltgeschichtsschreibung in die allgemeine Geschichte ein. Denn der Wert- und Lebenszusammenhang des Universalhistorikers ist selbst geschichtlichen Wesens, und nur aus der allgemeinen Geschichte kann seine Entstehung begriffen werden. Von den weltanschaulichen Bedingungen, unter denen er entsteht, wird es abhängen, wie nah oder fern der Wertmaßstab dem Begreifen des geschichtlichen Wesens ist. Aber immer wird zwischen der Teleologie des universalhistorischen Prozesses und der Welt in sich ruhender historischer Individualitäten eine unauflösliche Antinomie bestehen. Wie die Universalhistorie sie immer neuundimmer anders aufzulösen sich bemüht, würde ihre Geschichte zu zeigen haben. Und sie würde ferner zu zeigen haben, wie zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in jeder Universalhistorie ein schwebendes Verhältnis waltet, und wie das Übergewicht nach der einen oder der anderen Seite oder die harmonische Ausgewogenheit, wiederum abhängig ist von der besonderen Gestalt des Wertbewußtseins. Und endlich würde sie den Grad der Bewußtheit der Problematik bei denen, die Universalgeschichte getrieben haben, selbst zu ihrem Objekte machen und würde untersuchen können, worauf die höhere oder geringere Stufe der Bewußtheit beruht. Da die Universalgeschichte durch ihre kentaurische Verbindung von übergeschichtlichem Ziel und geschichtlichen Mitteln beheimatet ist an den Konfinien von Philosophie, Geschichte und Prophetie, so wird sich die typische Geisteshaltung derer, die Universalgeschichte getrieben haben, eben in
Vorbemerkung 14 dem Grade und der Form der Bewußtheit geltend machen. J e nachdem, ob die Universalgeschichte vom Historiker angeschaut, vom Philosophen geordnet und begründet, oder vom Dichterpropheten gedeutet und verkündet wird, wird die Bewußtheit eine andere sein. Allein auch eine Typologie der den Universalhistorien zugrunde liegenden Werteinheiten würde sich eingliedern müssen in die weiteren Zusammenhänge einer Geschichte der Weltgeschichtsschreibung. Das letzte Kriterium für die auf jeder Etappe dieser Geschichte erreichte Leistung liegt darin, wie man die Auswahl und die Darstellung des weltgeschichtlichen Prozesses selbst beurteilt. Der Maßstab einer solchen Geschichte wäre -»- das ist eine unaufhebbare Paradoxie — also selbst wieder universalhistorischen Wesens. Indem wir uns nun unserer besonderen Aufgabe der Analyse von Rankes Weltgeschichte zuwenden, scheint es uns unumgänglich, die Entwicklung, die zu dieser führte, wenigstens flüchtig zu umreißen. Diese Skizze der Entwicklung erhebt keinen weiteren Anspruch als den, den Zusammenhang andeuten zu wollen,, innerhalb dessen Rankes universalhistorisches Denken steht.
EINLEITUNG Jede Beurteilung der Versuche, die eine Periodisierung der abendländischen Geschichte und speziell eine Abgrenzung der modernen Welt gegenüber den vorangegangenen Epochen erstreben, muß zu erkennen suchen, ob diese mehr auf die Ursprünge und die beginnende Gestaltung oder mehr auf das Resultat dieses Prozesses, das Selbstbewußtsein und die Selbstbewertung der Epoche, zu sehen für wichtig finden. Nicht weniger durch die andersartige Bewertung der verschiedenen Lebensbewegungen, aus denen sich die sogenannte moderne Welt gebildet hat, als durch diese, einander entgegengesetzten Blickrichtungen differieren die verschiedenen Ansätze, die zur Periodisierung der Neuzeit gemacht worden sind. Die Beobachtung dieses Umstandes ist darum von so großer Wichtigkeit, weil die Neuzeit erst spät zu dem Bewußtsein ihrer spezifischen Andersartigkeit gegenüber den vorangegangenen Epochen gelangt ist1). Die Flutrichtungen der großen Quellflüsse, aus denen sie erwuchs, waren bei aller Gemeinsamkeit der Struktur, die vorzüglich in der immer wachsenden Tendenz auf Autonomie der großen Kulturgebiete und in dem Kampf gegen eine autoritär gesicherte Kultur bestand, mehr im Widerstreit als im ruhigen Miteinanderwachsen begriffen. Erst im Bewußtsein der Aufklärung konstituiert sich die moderne Welt als ein von allen vorhergegangenen Epochen geschiedenes Zeitalter1). Damit stellte sie zugleich das Problem der Universalhistorie und ergriff es, indem sie das Erbe des christlichen Geschichtsbildes säkularisierte. Oft ist, seit Schelling, die Bedeutung des Christenttuns für die Historisierung des abendländischen Bewußtseins erkannt und ausgesprochen worden3). Das wahrhafte Neue, das mit der Christianisierung geschah, lag darin, daß Gott dem Christentum geschichtlich wurde4). Das höchste Gut, bis dahin nur begreifbar. >) Vgl. Kaerst, a. a. O.. H. Z. Bd. 106, S. 473. >) Vgl. Troeltsch, den Artikel Aufklärung i. d. Realenz. f. prot. Theol. *) Vgl. Troeltsch, Historismus, S. 11, der mod. Ursprung d. Gesch.Philosophie. 4) Vgl. Dilthey, Einleitung i. d. Geistes-Wissensch. Bd. I, S. 445.
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als der Ort der überhimmlischen Ideen, die allein in reiner Schau ergriffen werden konnten, als das, Jenseits aller Vergänglichkeit, Seiende und Ruhende, wurde nun erkannt und geliebt als der lebendige Schöpfer, der seinen Sohn hinabgesandt hatte in die Nacht der Geschichte, als das Licht der Erlösung der Menschheit. Dieses große Ereignis, einmalig und unwiederholbar, wie jedes geschichtliche Geschehnis, gab die erste wahrhaft welthistorische Zielsetzung. Die Geschichte der gesamten Menschheit wurde nun als ein Ganzes begriffen, das sich nach dem Plane Gottes zu ihrer Erlösung vollzieht. Die menschliche Geschichte war nicht nur, wie das gesamte Universum, von dem göttlichen Liebeswillen getragen, sondern in ihr vollzog sich, insofern die Heilsgeschichte in ihr, in der Zeit geschah, die Erlösung der ganzen Welt. Gegenüber der antiken Lehre vom Kreislauf aller Dinge, wurde hier zum ersten Male das nicht Umkehrbare, das Einmalige, der Prozeßcharakter aller Geschichte erschaut. Dabei blieb diese Geschichte Heilsgeschichte. Sie war nicht erkannt, sondern geoffenbart, und wie in ihren Stifter sich die beiden Naturen der Menschheit und der Gottheit vereinigten, so enthielt auch das christliche Geschichtsbild einen Rest jener platonischen Unveränderlichkeit und Äternität, der dem Begreifen des Wesens der geschichtlichen Dinge so feind ist. Neben dem großen Geheimnis der Menschwerdung Jesu gab es kein Ereignis, daß so wie dieses als einmalig Individuelles, hätte begriffen werden können. Neben ihm sank alle übrige Geschichte ab. Wohl hatten alle irdischen Dinge ihren festen Bezug auf diesen Vorgang, der in der vergänglichen Welt geschehen war, und doch jenseits ihrer seinen Grund hatte. Aber dieser Bezug war nur ausschließend. Er tangierte das kulturelle Leben nur in dem einen Punkte seiner Zugehörigkeit oder seiner Abgewandtheit gegenüber dem Erlösungsvorgange und konnte es in seinem Wesen nicht erreichen. In dem großen, in der Intention zum ersten Male, die gesamte Menschheit umfassenden Gedanken über die Geschichte, die Clemens, Cyprian, Tertullian, Eusebius und vor allem Augustin vortrugen 1 ), war die Geschichte der Menschheit zwar als eine große, sinnvolle Einheit konstituiert. Aber das war geschehen um den Preis der Erkenntnis. Die Offenbarung verbürgte den Beginn, sie erleuchtete den Kern und sie verkündete das Ende dieser Geschichte. In diesem unzerbrechlichen Gefüge fand jedes Geschehen seinen Ort mit Hilfe des Glaubens, daß die Leitung der irdischen Geschicke in den Händen Gott ruhe. Dieser Rahmen blieb der gleiche für alle die zahllose Chronicae mundi ') Vgl. Bernheim, Lehrb. d. hist. Methode 1908, S. 687ff.
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die von Orosius bis zu Otto von Freising und Antonin von Florenz verfaßt wurden1). Sie hatten fast alle mehr die stoffliche als die spekulative Seite ihrer Aufgabe im Auge: Die Erfüllung jener von Augustin und Hieronymus vorgetragenen Ordnungsprinzipien mit der Fülle annalistisch geordneter Tatsachen. Die wechselnden Schemata, deren man sich zur Ordnung des Stoffes bediente, lassen das, mit dem gesamten Verhältnis zur Welt, wechselnde Verhältnis zur Geschichte erkennen. In dem Evangelium Jesu wurde die Welt hingenommen als die Stätte der Erfüllung des, alles an alles setzenden Rigorismus des Liebesgebotes. Nur solange die Hoffnung auf die Parusia das Ende dieser Welt in so nahe Aussicht stellte, wie es Jesus verkündete, war dieses Verhältnis tragbar. Je mehr aber die eschatologische Stimmimg entschwand, und die von Paulus gegründete Erlöserkirche die Stelle des Gottesreiches auf Erden einnahm, desto mehr bedurfte das Verhältnis dieser Kirche zu der irdischen Welt einer dogmatischen Klärung und Festigung. Sie wurde, wie die Forschungen Troeltschs gezeigt haben, durch die Rezeption der stoischen Lehren vom Naturrecht ermöglicht. Aber natürlich mußte die Unterscheidung eines absoluten und eines relativen Naturrechts für jede Epoche der Weltgeschichte und ihre neuen Inhalte anders gelagert, und die Gewichte von Wert und Unwert anders verteilt werden. Das Bild der Universalhistorie war ein anderes in den Zeiten der christlichen Antike, wo die Aufteilung der Welt in ein christliches und ein heidnisches Heerlager, wie es sich Augustin darstellte, der Weltgeschichte wirklich entsprach, als in den Zeiten des hohen Mittelalters, in denen die, auf den papalen Absolutismus zustrebende Kirche das Reich Gottes auf Erden nicht nur zu verteidigen, sondern zu realisieren versprach. So stellte es sich dem Auge Ottos von Freising dar. Darum sind die Kampfschriften, die im Streit zwischen Kaiser und Papst gewechselt wurden, und am Ausgang des Mittelalters, die zwischen dem Papst und den nationalen Landesherren unendlich lehrreich für das mittelalterliche Bild der Weltgeschichte. In der Entstehung der großen Nationen, die sich bewußt der Führung des Papstes entzogen, und so aus dem corpus christianum aussonderten, sah Engelbert von Admont ein Anzeichen des drohenden Weltunterganges8). 1 ) Vgl. M. Badinger, D. Universalhistorie im Mittelalter, Denkschriften d. A. W. Wien 1900, Bd. 46, und M. Ritter, D. Entwickl. d. Gesch.-Wissenschaft, Manchen 1919, S. 85 ff. ') Vgl. J. Riezler, die literarischen Widersacher der Päpste zurZeit Ludwig des Bayern, 1874.
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Als dann im 16. und 17. Jahrhundert an die Stelle der kirchlichen Metaphysik und ihrer hierarchischen Rangordnung die Umbildung der antiken Substanzlehre in eine Metaphysik der Naturgesetze trat, war in dieser fensterlosen, mechanomanen Philosophie noch kein Raum für ein genuin-historisches Verständnis. Die Philosophen rechneten die Geschichte entweder unter die Adiaphora, die der persönlichen Lebensgestaltung überlassen bleiben konnten, wie dies Descartes getan hat, oder sie versuchten sie zu bewältigen, indem sie sie den mechanischen Gesetzen der Physik unterwarfen, wie das Hobbes und Spinoza taten. Die Umbildung des antiken und des christlichen Naturrechts in das modern-profane1), führte nur zu der Aufrichtung eines letzten Dammes, hinter dem das normative und rationalistische Denken Schutz suchte vor der verwirrenden Fülle der geschichtlichen Welt. Die universalhistorischen Perspektiven, die sich von den Grundlagen des Humanismus aus ergeben konnten, wurden in den humanistischen Geschichtswerken nicht ausgesprochen. Das christlich-kirchliche Geschichtsbild war zwar aus den Werken der Humanisten geschwunden. Ein humanistisches Bild der Universalhistorie zu entwerfen, ist aber von keinem von ihnen versucht worden. Esoterisch und aristokratisch, wie die Bewegung war, begnügte sie sich damit, das christliche Geschichtsbild zu negieren, ohne an seine Stelle mehr als die antike Lehre vom Kreislauf der Dinge und der Einförmigkeit der menschlichen Natur in allen Ländern und Zonen zu setzen2). Machiavell und Guicciardini hatten die politische Geschichtsschreibung der antiken Historiker erneuert. Die fruchtbarsten Bestandteile ihres Erkenntnisstrebens retteten sich hinüber in die Lehre von den Interessen der Staaten, in der, genährt von den Impulsen der Politik, die großen Staatsgebilde des beginnenden Absolutismus ein zeitgenössisches Verständnis fanden8). Im ') Vgl. Troeltsch: Das stoisch christliche und das modern profane Naturrecht H. Z. Bd. I i i . *) Vgl. Fueter, Gesch. d. neueren Historiographie, 1 9 1 1 . S. 33. Von den Enneaden des einzigen Sabellicus sagt F. :, .Man wird betonen müssen, daß dadurch der Bereich der humanistischen Historiographie wohl äußerlich erweitert wurde, die tiefere Erfassung der Geschichte aber keinen Fortschritt machte." Wirksam zu werden beginnen die welthistorischen Perspektiven des Humanismus in Wahrheit erst mit Winkelmann. *) Vgl. F. Meinecke: Die Idee der Staatsraison München 1924.
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übrigen aber blieb die Historiographie im Dienste dynastischer oder parteilicher oder konfessioneller Interessen, von denen ein Übergang zur Universalgeschichte nicht möglich war 1 ). Es gab nur Weltgeschichte vom Standpunkte einer Partei, von wittenbergischen oder vom römischen aus, deren keine die Epoche ganz repräsentierte2). Die großartigste ist Bossuets Discours sur l'histoire universelle, die letzte große katholische Eschatologie. Bossuets Universalgeschichte ist, wie man fein bemerkt hat, eine Predigt über die Weltgeschichte3). Sie hat den barocken Prunk und die großartige Kadenz der Sprache, die wir an den Predigten ihres Verfassers so sehr bewundern. Wie die großen Geschichtsbilder seiner christlichen Vorläufer ist seine Universalgeschichte auf dem Boden eines festen Glaubens an die providentielle Lenkung der irdischen Geschicke errichtet. „Es ist Gottes Absicht, den Bestand jener heiligen Vereinigung zu sichern, von der er will, daß sie ihm dient." Die Achse seiner Weltgeschichte ist das Volk Gottes, denn seiner religionsgeschichtlichen Betrachtungvereinigen sich die Juden und die christlichen Völker zu einem welthistorischen Subjekt. Seine Universalgeschichte ist eine strenge Auslese unter dem allein entscheidenden Gesichtspunkte kirchlicher Relevanz. Unter diesem höchsten Ziel und Ordnungsgedanken sind die politischen Geschehnisse mit inbegriffen, als dienstbar in demselben teleologischen Gefüge: „Er bedient sich verschiedener Reiche, um sein Volk zu züchtigen oder zu üben oder auszubreiten oder zu schützen." Es ist wahr, daß Bossuet den starren Dualismus seiner augustinischen Vorlage moderiert hat, daß er neben dem sichtbaren Walten Gottes nach dem von Gott geregelten, natürlichen Verlauf der Dinge forscht, und daß er des Glaubens ist, daß Gott gewollt hat, „daß die Teile eines so großen Ganzen sämtlich voneinander abhängen4)". Aber wie bedeutend diese Annäherung an die pragmatische Geschichtsschreibung auch immer sein mag, sie kann den Ansatz seiner Universalgeschichte nicht verändern. Dieser ruht in der festen Umklammerung des geoffenbarten, providentiellen Gefüges und repräsentiert so in Wahrheit den Ausgang der kirchlichen Ge1 ) Vgl. Damit ist natürlich nichts über den Erkenntniswert dieser Historiographie gesagt, der im einzelnen sehr hoch sein kann. Vgl. M. Ritter: a. a. O. 3. Buch. 2) Über die prot. Weltchroniken, die ganz an dem mittelalterlichen Schema festhalten vgl. Fueter, a. a. O., S. 184. 3) Vgl. H. Morf, Bossuet und Voltaire als Universalhistoriker. Aus Dichtung und Sprache der Romanen, 1922, Bd. I, S. 300. 4) Vgl. B . Croce, a. a. O., S. 205, und H. Morf, S. 302.
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schichtsphilosophie1).
Welche Wandlung, wenn wir hören, daß Voltaire, freilich in polemischer Absicht, die Weltgeschichte Bossuets in seinem „essai" fortzusetzen gedachte. Der Fortgang der Geschichte selbst hatte das System der alten Weltgeschichte zersprengt2). Die Renaissance hatte die antike Welt aus ihrer tausendjährigen latenten Wirkung in eine bewußt geliebte und verehrte Lebensmacht verwandelt. Der Humanismus war zwar selbst noch nicht zur Konzeption einer Weltgeschichte gelangt, aber indem das Christentum in dem Streit der Konfessionen unendlich an Stärke und Uberzeugungskraft verlor, mußten die unausgesprochenen universal-historischen Perspektiven des Humanismus an Kraft gewinnen. Ein übriges zur Zerstörung der alten, welthistorischen Schemata taten die großen Entdeckungen, die Kolonisationen und der beginnende Welthandel. Durch sie traten, geographisch und ethnographisch, völlig neue Materialien in das Bewußtsein der abendländischen Welt. Diesen Stand der historischen Erkenntnis repräsentiert die große „universal history from the earliest account of time to the present"3). In dieser Weltgeschichte, der englischen, wie man sie gemeinhin nennt, aus deren deutscher Übertragung Lessing und Winkelmann ihre historische Nahrung sogen4), ist zum ersten Male das europazentrische Schema der Universalgeschichte durchbrochen. Sie bezieht das gesamte Asien in den Kreis der Betrachtung ein. Aber indem sie nun die einzelnen Völkergeschichten unverbunden nebeneinander stellt, zeigt sie sich ganz unfähig, die unermeßlichen Zeiträume und historischen Perspektiven, die sie selber aufgerissen hat, einheitlich zu bewältigen. Darum greift auch sie wieder auf die christlichen Schemata zurück und versucht vergeblich, das unermeßlich angeschwollene Material in die alten Grenzen zurückzudämmen*). Dies Werk ist so aus dem Mangel jedes Ordnungs- und Zielgedankens keine Weltgeschichte, sondern nur das erste jener völkergeschichtlichen Kompendien geworden, die so gerne für sich den Namen Weltgeschichte beanspruchen. Zur Kennzeichnung der Situation des historischen Bewußtseins in Europa aber ist die englische Weltgeschichte von symptomatischer Bedeutimg. Denn ihre Ratlosigkeit gegenüber dem veränderten historischen Material, das von sich aus eine neue
») ») *) ')
Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.
M. Ritter, a. a. O., S. 106. Ranke, W . Gesch. I, i , S. VII. Fueter, a. a. O., S. 322. K . Justi. Winkelmann, 1898, Bd. I, S. 159. Fueter, a. a. O.
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Bewältigung verlangte, war doch nur der Ausdruck der totalen Desorganisation des christlichen Geschichtsbildes. Sie war das Resultat jenes Kampfes des beginnenden, neuzeitlichen Rationalismus, der das Irdische von seinen eigenen Voraussetzungen aus zu ergründen bestrebt war, mit den Ordnungsprinzipien des christlichen Geschichtsbildes. In den großen Elementen, aus denen sich die Neuzeit gebildet hat, war eine Tendenz angelegt, auf Autonomie. Von dem Beginn ihrer Entwicklung ab waren sie alle im Widerstreit mit der mittelalterlichen Lebensordnung begriffen, in der, der Idee nach, jeder einzelne Bereich des Lebens vom Gesetz des Ganzen bestimmt und begrenzt wurde. Im Mittelalter war das Übernatürliche der Maßstab des Natürlichen gewesen; jetzt wurde das Natürliche zum Prüfstein des Übernatürlichen. Immer stärker trachtete man allein dem Gesetz zu folgen, das mit der Struktur der einzelnen Kulturgebiete gegeben war. In dieser Tendenz lag die Möglichkeit, daß diese Strukturen erkannt, und aus ihnen die Bezirke der Kultur historisch begriffen werden konnten. Aber nicht im ganzen Bereiche des Lebens geschah dies sogleich. Die politische Geschichtsschreibung war die erste, die auf diese Weise das Staatsleben analysierte. Aber wie sie von der ganzen Tiefe des geschichtlichen Lebens nur eine Seite ergriff, so fand sie noch keinen Zugang zu der Universalgeschichte. Für sie, die den Begriff der Fortuna wieder in die Geschichtsschreibung einführte, war nicht nur der Gott des Christentums, sondern mit ihm auch die Idee der Vernünftigkeit, der Zweckmäßigkeit in der Entwicklung und also jede Möglichkeit der Universalhistorie geschwunden1). Darum hielt sie an der rationalistischen Vorstellung von der Gleichförmigkeit der menschlichen Natur fest und die Geschichte als Totalität blieb ihr Untertan der Idee vom Kreislauf aller Dinge. Nur einmal hat ihr größter Vertreter, Machiavelli, den Versuch eines welthistorischen Aufrisses gemacht, und zwar, unendlich instruktiv für den Zusammenhang von Weltgeschichte und Wertmaßstab, ausgehend von seinem Idealbegriff der virtù. In wenigen Sätzen entwirft er ein Bild der Wanderung jenes Ideales, das in seinem Auge die weltgeschichtliche Dignität verleiht. Die Straße dieser Wanderung war auch für ihn noch die aus dem christlichen Universalmonarchien überlieferte Straße der welthistorischen Entwicklung 2 ). *) Vgl. B. Croce, a. a. O., S. 193, und Meineckes Einleitung zu Machivaelli, Der Fürst. Klassiker d. Politik Bd. 8. 2) Vgl. Machiavelli Disc. XI proemio op. III, 174 (vgl. auch E. W. Mayer, Machiavellis Geschichtsauff. u. sein Begriff virtù, 1912.
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So betrachtet war der Rationalismus, der die wissenschaftliche Weltansicht des 16. und 17. Jahrhunderts beherrschte, jeder universalhistorischen Bestrebimg ungünstig; doch hat er anderseits die ersten großen, profanen, universalhistorischen Entwürfe vorbereiten und fundieren helfen. Die Naturwissenschaften waren das erste Gebiet, das der neuzeitliche Rationalismus eroberte1). Hier zeigte er zum ersten Male den großartigen Typus einer induktiven Wissenschaft, die auf der Grundlage empirischer Forschung den rationalen, gesetzlichen Zusammenhang der Wirklichkeit zu erweisen versuchte. Kooperierend mit den Naturforschern, errichteten die Philosophen ihre neuen Metaphysiken, in denen sie die naturwissenschaftliche Methode mit der Bewußtseinsanalyse verbanden. Diese Anschauungen verknüpften zwei der wichtigsten Fermente des modernen Geistes: Jene auf Erkenntnis basierte Beherrschung der Natur, die eine ungeheure, quantitative Steigerung des Macht- und Lebensgefühles zur Folge hatte, und die Gründung dieser Erkenntnis selbst auf die Analyse des Bewußtseins. Beide konvergierten in dem Glauben an die Autonomie der Vernunft und stützten und rechtfertigten einander unaufhörlich. Durch sie hat die neuzeitliche Philosophie, in der anfänglich kein Raum für die Geschichte war, unermeßlich auf die neuen universalhistorischen Versuche gewirkt. Indem diese Begriffe mit der naturrechtlichen Vorstellung, daß allen geschichtlichen Produktionen eine natürliche Urform, eine allgemeine Wahrheit des Staates, des Rechtes, der Religion usw. zugrunde liege, verbunden wurden, verstieg sich die autonome Vernunft zu dem Gedanken, diese Urform in klaren, evidenten Begriffen fassen, und sie als historischen Maßstab gebrauchen zu können. Und da diese allgemeinen Begriffe mit dem Gewicht der Naturgesetze ausgestattet wurden, als wäre durch sie die geschichtliche Wirklichkeit gesetzmäßig und vernünftig zu begreifen, wurden sie nicht nur der Maßstab der Vergangenheit, sondern auch das Ziel der Zukunft. So entstand das Bewußtsein eines gesetzmäßigen Zusammenhanges, welcher das ganze Universum durchwirkt. Von der Natur bis zur geschichtlichen Wirklichkeit schien alles durch Vernunft begreifbar und lenkbar zu sein. Aus diesen Gedanken gingen am Beginn des 18. Jahrhunderts jene allgemeinen Anschauungen hervor, an die man zuerst bei dem Namen Aufklärung denkt: Autonomie der Vernunft, Erklärung der Welt aus allgemein gültigen Erkenntnis') Vgl. den berühmten Aufsatz von Dilthey, D. 18. Jahrh. u. d. geschl. Welt. Deutsch. Rundschau 1901, Bd. 108, und die Analysen in S. W. Bd. 2.
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Werkzeugen, Solidarität der Nationen, Bewußtsein der fortschreitenden Kultur und Gesittung, ja des Fortschrittes überhaupt. Dieser Fortschrittsglaube war die alte christliche Heilsgeschichte, nur mit umgekehrten Vorzeichen. Den Bösen war man los; die Bösen aber waren geblieben. Dieser Mythos hatte nicht weniger Glauben zur Voraussetzimg, als der der christlichen Heilsgeschichte, und diese Ansicht der Weltgeschichte unter dem Aspekt des Fortschritts hatte eine tief apologetische Tendenz und erfüllte für die Geschichte im ganzen die Funktion der Erlösung aus dem Skeptizismus und der Sinnlosigkeit durch eine welthistorische Zielsetzung. Dies war das Große, das diese Epoche überhaupt wieder auf das Ganze der Geschichte sah, und daß die Begriffe, mit denen sie sie umspannte, es zu ermöglichen schienen, die Geschichte von ihren natürlichen Grundlagen aus zu begreifen. Sie unternahm es, die geschichtlichen Tatsachen auf ihre immanente Wahrheit zu untersuchen. Hier erntete sie den Ertrag der kritischen Bemühungen der humanistischen Philologen des 16. und 17. Jahrhunderts, die in den kirchengeschichtlichen Forschungen aller Konfessionen unendlich verfeinert worden waren1). Der Mann, der es unternahm, die ganze, vaste Gelehrsamkeit dieser poly-historischen Jahrhunderte mit dem Maßstab der Entwicklung des Fortschritts zu durchdringen, war Voltaire. Seinem literarischen Ingenium vereinigte sich das ungeheuere Ergebnis der Naturforschimg, die Berichte der Reisenden und Missionare, endlich die gelehrte Arbeit der historischen Forschung zu großen, universalhistorischen Zusammenhängen. So ergriff sein Geist die Weltgeschichte in völlig neuem Verstände. Er schuf die erste kohärente Weltgeschichte profanen Geistes und profaner Artung. Er verwarf das ganze christliche Geschichtsbild. Bossuet und der theologischen Auffassung warf er vor, daß sie in der Weltgeschichte die Welt vergessen hätten2). Wie das ganze 18. Jahrhundert, huldigte auch er dem Exotismus und strebte die theologische Weltgeschichte extensiv zu überwinden8). Ungleich wichtiger als die Überwindung des alten welthistorischen Schemas durch die Extensität der welthistorischen Studien und die Beschreibung von asiatischen Traumländern, ist der qualitative Gesichtspunkt, unter dem diese Kontrastbilder zu den christlichen Religionen konzipiert wurden4). Dies war der ') Vgl. Dilthey, a. a. O., S. 25off. und Fueter, a. a. O., S. 338ff. •) Vgl. Morf, a. a. O., S. 304. ') Vgl. Sackmann, Voltaire, 1910, S. 310. 4 ) Vgl. Sackmann, Die Probleme d hist. Meth. bei Voltaire usw., H. Z. Bd. 97. S. 355-
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Gesichtspunkt der Kultur. Damit setzte Voltaire an die Stelle der durch den Begriff der Religion geeinigten Menschheit die zivilisierte Menschheit als das Subjekt der Weltgeschichte. Voltaires Verdienste um die Aufstellung eines Begriffs der Kulturgeschichte sind von allgemeiner historiographischer Bedeutung1). Hier soll nur insoweit davon die Rede sein, als dieser Begriff geeignet ist, das Verhältnis von Universalgeschichte und Wertsystem zu erhellen. Voltaire hatte sich der Geschichte zugewandt, nicht weil er in ihr den, dem Erkenntnisdurst seines Geistes adäquaten Gegenstand erkannt hatte; er hatte Geschichte getrieben, um ein Wissensgebiet zu reinigen und aufzuklären. Die Historie war ihm ein Chaos, das es zu sichten galt; sie war das Fragliche, Ungewisse, Dunkle. Und dieses Dunkel suchte er zu erleuchten durch die Aufstellung des Begriffes der Kultur und ihrer Entwicklung, als des wahren Subjektes der Weltgeschichte und zugleich als ihr Maßstab. Die Tendenz der neueren Geschichte auf Autonomie der Kultur, ja des Menschen überhaupt, trat hier in das Stadium des historischen Selbstbewußtseins. Aber diese Kultur wurde nun auf der Stufe, die sie erreicht hatte, als endgültig angenommen. Jene hochentwickelte, intellektualistische Zivilisation des dritten Standes in einer der großen westeuropäischen Monarchien, gesehen unter dem von Ressentiment nicht freien Blick des Literaten, wurde unbedenklich als Maßstab der Weltgeschichte fixiert2). Viel zu klug und zu sehr aristokratischer Skeptiker, um von dem ideologischen Optimismus Condorcets erfüllt zu sein, verharrt Voltaire in den Grundzügen bei dem optimistischen Fortschrittsglauben seines Jahrhunderts. Voltaire verwarf daher die dynastisch-politische Form der Geschichtsschreibung und wollte an ihre Stelle eine Geschichte der Entwicklung der Kultur setzen3). Als die Träger dieser Kultur erscheinen in seinem Werk zum ersten Male die großen Nationen. So ist seine Weltgeschichte zu der ersten europäischen Kulturgeschichte geworden, in der er den Aufstieg dieser Kultur aus Illusionen, Irrtümern, Betrügereien aller Art von Stufe zu Stufe verfolgt4). Der Schwerpunkt seiner Darstellung war so zwangsläufig in die Schilderung der abendländischen Kultur zurückgeglitten. Für immer wird es bewunderungswürdig bleiben, wie sich ihm ») Vgl. *) Vgl. achreibung, *) Vgl. «) Vgl.
Fueter, a. a. O., S. 353, und M. Ritter, a. a. O., S. 232. von Martin, Motive und Tendenzen in Voltaires GeschichtsH. Z. Bd. 118, S. 34. „ E s s a i " intr. c. 25. Dilthey, a. a. O., S. 259ff. „Siècle" chap. 1 (Oeuvr. X).
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25 das Detail zu großen Zusammenhängen vereinigt, und welche neuen Aufschlüsse und Perspektiven er zu eröffnen verstand1). Dennoch besteht eine Kluft zwischen dem Plane und seiner Verwirklichung, die gewiß weniger durch die unzulängliche methodische Vorbereitung als durch Mängel bewirkt wurde, die in den Verständnismöglichkeiten seiner Epoche lagen2). Wenn das Große an Voltaires Universalgeschichte darin bestand, daß sie zum ersten Male den historischen Stoff zu einem Prozeß in empirischer Weise verflößte, so war sie nun nur noch Progreß und kontinuierliche Wertsteigerung. Und die behauptete Allgemein-Gültigkeit des welthistorischen Zieles stand zu der Allgemeinheit seiner Realisation in einem so inadäquaten Verhältnis, daß die fortschrittlich-optimistische Lösung der Problematik um nichts näher lag als die pessimistische, zu der sich später Rousseau bekannte. Darum mußte diese Weltgeschichte aller der Merkmale ermangeln, durch die wir den Begriff der Entwicklung zu charakterisieren pflegen. Sie minderte jede vergangene Epoche zu einer bloßen Durchgangsstufe zugunsten der letzten Form der Geschichte herab, und diese Form selbst beschränkt die weltgeschichtliche Zukunft auf das karge Feld eines rationalen Zieles. Der Glaube an die Perfektibilität der Menschen, auf die sich die Vorstellung eines allgemeinen Fortschritts gründete, war der Richtung auf Universalhistorie ohne Zweifel günstig. Der individualistische Atomismus aber, der diesem Glauben entsprach, der die Gleichförmigkeit der menschlichen Natur auf der ganzen Erde behauptete, war dem Verständnis des Historisch-Individuellen gerade entgegengesetzt. Die Individualität wurde in dieser Anschauung zur Variation einer im Kerne gleichartigen Größe. Sie blieb eine quantité négligeable, der zum Trotz sich die Aufklärung entfaltete. Voltaire legte den Wertakzent ausschließlich auf den Prozeß der Geschichte. Er vermochte darum die Individualität als Realisation der historischen Vernunft, mitten im Fortgang und in jedem Augenblick der Weltgeschichte, noch nicht zu begreifen. Dem entspricht die Eindimensionalität, die dem schwebenden Verhältnis von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in der Universalgeschichte Voltaires aufgezwungen wurde. Sein Pragmatismus machte ihn von vornherein empfänglicher für die sittVgl. H. Morf, S. 306, a. a. O., und Fueter, a. a. O., S. 538. *) Sowohl Fueter, S. 357, a. a. O. als auch Ritter, S. 237, weisen auf die unzulängliche Durchführung der kulturhistorischen Methode hin.
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liehe Funktion der Weltgeschichte. Darum sagte er von seinem Werke, es sei keine Universalgeschichte, sondern nur eine Schilderung der Hauptdummheit in der Welt 1 ). Dadurch büßte aber die historische Kontemplation jedes ihr gebührende Recht ein. Die Gegenwart lernte sich aus der Vergangenheit nicht tiefer verstehen, sondern nur höher einschätzen. Das Gleichgewicht war in dieser Weltgeschichte völlig zu ungunsten der Vergangenheit verschoben worden. Voltaires historiographische Anregungen trugen ihre reichste Frucht in England, in den großen Werken Humes, Robertsons, und Gibbons. Aber die universalhistorischen Perspektiven, die er eröffnet hatte, wirkten am mächtigsten in Deutschland. Vor allem Schloezer hat ihnen in seiner,, Vorstellung der Universalgeschichte" (1785) einen programmatisch wichtigen Ausdruck gegeben. Man könnte diese Vorstellung der Universalgeschichte eine Methodik und Historik Voltaires nennen. Aber hier bewahrheitet sich Savignys Wort von dem völlig unerleuchteten Bildungstrieb dieses Jahrhunderts allerdings. Denn diesem amusischen Geiste blieb von dem Glänze des Voltaireschen Gemäldes nur das trockene Schema unter den Händen. Ihm wird das Feine grob, das Verwegene abgeschmackt, das Klare hausbacken und das Nüchterne borniert. Er zuerst hat den hybriden Grundsatz formuliert, daß die Universalgeschichte alle Völker der Welt umfasse und daß ihr alle Zeiten angehören2). Er hat dann versucht, Weltgeschichte und Universalgeschichte zu scheiden, und jene als eine nach Gründen verknüpfte Geschichte der wichtigsten Kulturvölker definiert, der er die Universalgeschichte als die aneindergereihte Geschichte aller Völker gegenüberstellt. „Alle Völker des Erdbodens sind immer miteinander in Verbindung gewesen, obgleich die meisten sehr mittelbar8)." Von Voltaire übernimmt er den Gedanken, daß das, was diese Verbindung bewirkt hat, weniger die politischen Vorgänge — wie verächtlich spricht er von dem Geschmack an bloßen Mordgeschichten — gewesen sind als die große Entwicklung der Kultur4). Aber er würdigt nun den Begriff der Kultur vollends herab zu einem bloßen Konglomerat von Erfindungen6). Nur der gröbste Niederschlag der wirtschaftlichen Vgl. *) Vgl. S. 167. а ) Vgl. «) Vgl. б ) Vgl.
Sackmann, Voltaire, S. 295. Wesendonk, D. Begründung d. neu. deutsch. Gesch.-W., 1876, Schloezer, Vorst. D. Universaigesch., 1785', S. 75. Schloezer, a. a. O., S. 70. Schloezer, a. a. O., S. 69.
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und staatlichen Ereignisse, das statistisch Meß- und Zählbare, verleiht in seinen Augen die weltgeschichtliche Dignität. Ihm endet ) Vgl. Max Weber, Wissenschaft als Beruf, S. 1919.
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Voraussetzung seiner Weltgeschichte dabei, daß diese Ideen, die sich in der geschichtlichen Wirklichkeit in ruheloser Dialektik vorwärtstreiben, sich gegenseitig bekämpfen, fiberwältigen und vernichten, dennoch in ihren Konflikten eine Kulturwelt emporbilden, in welcher diese unversöhnlichen Gegensätze aufgehoben sind. Die tiefe Durchdrungenheit von der Gültigkeit der Wertweit, in der er lebte und auf die er seine Weltgeschichte aufbaute, gründete sich nicht zuletzt auf jene Uberzeugungen einer, nur der Vorsehung bekannten Harmonie der Produktionen der Geschichte. Denn wie hätte der Wert und Lebenszusammenhang des Universalhistorikers seine Funktion als Maßstab- und Ausleseprinzip erfüllen können, wenn in Ranke einmal der Gedanke einer unversöhnlichen Diskordanz der Sinngehalte der Kulturen und der in sie eingesenkten Werte hätte Wurzel schlagen können. Gott war für Ranke der lebendige Bürge einer letzten Möglichkeit der Ordnung und der Harmonie der Wertwelt. Er war der Einheitspunkt, von dem die lebendige Fülle widerstreitender Kräfte ihren Ausgangspunkt genommen und in dem sie zuletzt wieder zusammentreffen mußte. Er spielt, wie Max Weber gesagt hat, die Rolle des Königs in einer parlamentarisch regierten Monarchie1). Auch in diesem Geschichtsbilde kam, unausgesprochen, alles Drängen, alles Ringen zur ewigen Ruhe in Gott, dem Herrn. Nicht der Humanitätsgedanke war es in erster Linie und nicht der Gedanke eines durch Vernunft begründeten Systems absolut gültiger Normen, die Rankes weltgeschichtliche Gedanken zusammenschlössen, sondern die Überzeugimg, von dem Zusammen stimmen der Ideen in mente Dei ist es, der seine Universalhistorie ihren Zusammenhalt verdankt. Dadurch wurden die Konsequenzen des historischen Relativismus so vollständig überwunden, daß Ranke weder die Trauer über die durchgängliche Endlichkeit der historischen Erscheinungen kennt, noch jene Verabsolutierung einer bestimmten, partikularen Gestalt, als der höchsten Inkarnation des Unendlichen, durch welche sich ein verhüllter Skeptismus zuweilen selbst zu überspringen versucht. An keiner Stelle seines weltgeschichtlichen Bildes steigt jene tiefe Schwermut auf, die aus der Einsicht in die Problematik jeder irdischen Gestaltung, aus dem Begreifen der Notwendigkeit des Werdens und Vergehens der Dinge entsteht. Keine Zeit und kein historisches Gebilde hat er angesprochen mit dem sehnsüchtigvergeblichen Wunsche: verweile doch, du bist so schön. ') Vgl. M. Weber, Roscher und Knies usw., Schmollers Jahrb. Bd. 27, S . 21.
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65 Die Partikulari tat war für Ranke das wesensnotwendige Korrelat der Individualität. Es galt ihm als historisches Axiom, daß die Ideen, durch welche menschliche Zustände begründet werden, das Ewige und Göttliche, aus dem sie quellen, niemals vollständig in sich enthalten. Auf Erden kommt nichts zu einem reinen und vollkommenen Dasein. Darum ist auch nichts unsterblich. Wenn die Zeit erfüllet ist, erheben sich neue Bestrebungen aus dem Verfallenden. „Das sind die Geschicke Gottes in der Welt 1 )." In allen Zeiten soll geschehen, was in keiner einzelnen allein möglich ist: Die Entwicklung der ganzen Fülle des dem menschlichen Geschlechte von der Gottheit eingehauchten geistigen Lebens2). Ihren letzten, man möchte sagen, geschichtsmetaphysischen Sinn empfängt mithin die Partikularität erst von dem Gedanken der welthistorischen Entwicklung, denn in dieser schaffen die aufeinanderfolgenden Generationen, zusammenhängend und doch verschieden, den von der Gottheit dem menschlichen Geiste eingesenkten Kräften Raum8). Bräche aber an einem Orte das Absolute an und für sich in die Weltgeschichte ein, so würde das der Fortentwicklung der Jahrhunderte ein Ziel setzen4). Die Endlichkeit der historischen Erscheinungen ist es, die den Fortgang der Weltgeschichte verbürgt. Noch einmal möchten wir hervorheben, daß Ranke diese Anschauung allein aus dem lebendigen Bewußtsein der Allgegenwart Gottes erwachsen waren8), und daß er, mit Goethe zu reden, nur darum nicht litt unter der Vergänglichkeit der Zeit, weil er das Ewige in jedem Augenblick gegenwärtig hatte. Aber anderseits wird man sich nicht verbergen können, daß die Prätension einer, die Absichten der Vorsehung erratenden, weltgeschichtlichen Sicht die von Ranke der historischen Anschauung selbst gezogenen Schranken, nach der diese nur am farbigen Abglanz das göttliche Leben haben sollte, wieder transzendiert. Wenn sich so in Rankes welthistorischem Denken zwei Arten der Anschauungen kreuzen, jene eine, die es nicht lockte „das geheimnisvolle und unbewußte Dasein auf dessen Grunde ') Vgl. Ref.-Gesch. I. S. 55. •) Vgl. Ref.-Gesch. IV, S. 3. ») Vgl. W. Gesch. III, 1, S. 551. ') Vgl. W. Gesch. III, 1, S. .547: „Eine weltgeschichtliche Persönlichkeit in diesem Sinne (die die theologischen Fragen der Trinitat lösen würde) hat es nie gegeben und kann es nicht geben, eine solche würde der Fortentwicklung der Jahrhunderte ein Ziel setzen." •) Vgl. S. W . Bd. 53/54. S. I 3 9Belh. d. H. Z. 6
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die historischen Erscheinungen ruhen1)" zu enträtseln, die sich genug tat, durch ein auf Dinge und Personen eingehendes Studium und in Hochachtung vor der vergangenen Begebenheit forschte*), die, mit einem Worte, die Grenzen der historischen Erkenntnis immer respektierte, und jene andere, die divinatorisch die providentieUen Intentionen erraten wollte, so überwiegt doch bis in die Weltgeschichte hinein die erste Art der Kontemplation. Niemals hat Ranke, wie Hegel, versucht, das Lebendige auf ein Prinzip zu reduzieren8), oder unter den Worten Anschauung und Mitgefühl jene psychologisierende Art der Intuition begriffen., die in den zeitgenössischen Geisteswissenschaften eine so große Rolle spielt. Er, der wie kein anderer die ruhelose Dynamik der Geschichte darzustellen gewußt hat, nannte es ein Wagnis, das Werden zu beschreiben. „Wer will den Quellen des geistigen Lebens und den geheimen Zuflüssen seines Stromes den Lauf desselben entlang nachforschen"4). In Rankes Begriff der Intuition ist vielmehr eine ästhetische, man möchte sagen, eine visuelle Freude an der konkreten Begebenheit lebendig. Es ist mehr ein Geschichte sehen, als ein Geschichte leben8). So beschreibt Ranke, kategorial betrachtet, das Werden nicht dynamischemanatistisch, sondern dynamisch-kausal. Diese Art der Intuition ist, gegenständlich gesprochen, eine durchaus universalhistorische. Denn indem sie den Blick auf die Begebenheiten, den großen Zug der Dinge, der in niemandes Willkür gestanden, richtete, mußte unter den großen Begebenheiten, die größte, jene Entwicklung, welche alle anderen in sich aufgenommen hatte und aus allen erst erwachsen war, die Weltgeschichte ihre Aufmerksamkeit vor allen anderen auf sich ziehen. In diesem Sinne hat Ranke die Weltgeschichte als die schönste und merkwürdigste Geschichte bezeichnet, welche je geschah8). Aber damit sich diese, die Grenzen der Empirie respektierende Anschauimg entfalten konnte, mußte die andere, die Absichten der Vorsehung ahnende Intuition, die Auslese aus dem !) Vgl. S. W. Bd. 51/52, S. 505. Rede auf J. Grimm. *) Vgl. S. W. Bd. 42, S. 167. •) Vgl. S. W. Bd. 51/52, S. 312. „Wäre das Lebendige auf ein Prinzip zu reduzieren, so würde die Anschauung der Dinge an sich möglich sein. Wir sind weit davon entfernt, alle die menschlich bildende K r a f t . . . auf ein paar Formeln bringen zu wollen" (vgl. auch Bd. 53/54, S. 163ff.). «) Vgl. S. W. Bd. 51/52. S. 159. *) Vgl. Briefwechsel zwischen W. Dilthey und dem Grafen York, a. a. O., S. 60. •) Vgl. S. W- Bd. 53/54, S. 162.
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gesamtgeschichtlichen Geschehen mit dem Vorzugstitel „Weltgeschichte" ausstatten. Und dies erhellt nun ohne weiteres, daß diese Auslese selbst von den Grundlagen der Religiosität aus nicht mehr zu gewinnen war. Sie leistete, wie wir gesehen haben. Rankes Vorstellungen einer allgemeinen Geschichte die Dienste eines formalen Apriori. Darin, daß Ranke nicht mehr als das formale Apriori aus diesem Bereich nehmen wollte, daß er vielmehr die Logik der Historie aufs strengste respektierte und der Empirie ihr Reich stets unbestritten ließ, sahen wir das geisteswie seelengeschichtlich gleich bedeutungsvolle Ergebnis dieser Verbindung von Theologie und Historie. Anderseits aber wissen wir, daß diese formalen Grundlagen allein nicht genügen konnten, eine Universalgeschichte zu konstituieren. Ranke hatte diese selbstgewollte Beschränkung der religiösen Fundamente auf das Formale schon in dem für die Weltgeschichte grundlegenden Gedanken einer alles übersehenden Vorsehung, zu deren Absichten sich die Kontemplation ahnend erhebt, überschritten. Doch bedurfte es noch einer akzentuierten Bejahung eines Systems materialer Kulturwerte, um die konkrete Vorstellung einer Weltgeschichte konzipieren zu können. Diese Einheit, das Ganze der Weltgeschichte tragender Kulturwerte, ist nun auch bei Ranke unschwer zu erkennen. Sein leidenschaftlicher Universalismus hatte ihn doch nie über die Grenzen der abendländischen Kulturwelt hinausgeführt1). Seit seinen ersten Forschungen, die die Einheit der romanisch-germanischen Völker darzulegen strebten, waren die Atemzüge jenes unvergleichlichen Vereins der Gegenstand seiner tiefdringenden, liebevollen Anteilnahme geblieben. Ja, noch mehr als das kann man sagen. Vor allem das neuzeitliche Europa, das von der Renaissance, der Reformation, der Gegenreformation und dem System der großen Mächte gebildet worden war, bevorzugte er in seinen Forschungen. Auf jene Auslese geistiger Gehalte aus dem Verlauf der abendländischen Geschichte ist die Weltgeschichte Rankes gegründet. Aber diese Auslese konnte ihre Funktion als Maßstab der Weltgeschichte nur dadurch erfüllen, daß Ranke sie unter der Einwirkung des Humanitätsgedankens noch als die Verwirklichung ewig gültiger Werte und Gehalte ansehen konnte2). Die Gedanken, die Ranke aus seinem Ringen um einen Ausgleich zwischen seiner Sehnsucht nach geschichtlicher Kontemplation und dem Wunsche seine Religiosität zu behaupten, ») Vgl. E. Troeltsch, Historismus a. a. O. S. 169. ») Vgl. W. Gesch. I, i, S. IX, Fr. Gesch. I, S. V, Engl. Gesch. I. S. IV, und Troeltsch, a. a. O., S. 116, 301, 654ff. 5*
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erwachsen waren, hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit jenem Gedanken Herders, Humboldts und auch der Frühromantik, die die geheimnisvolle Vereinigung des Individuellen mit dem Universellen in der Geschichte zu ergründen suchten1). Zugleich aber schien es uns, als wäre vom Standpunkt der Geschichte aus die Rankesche Lösung tiefsinniger und wohlausgewogener als alle anderen. Ranke hatte dem Individuellen den ganzen Raum der Geschichte zurückgegeben und das Element des Allgemeingültigen, Universalen, den ewigen Gehalt, an die „verschwimmenden Grenzen der Erfahrung" verwiesen1). Er hatte sich von vornherein vielmehr auf die Seite der Individualität als auf die der Identität gestellt. Niemals war ihm die Individualität zur Schranke geworden. Darum war auch der Vereinigungspunkt der Individualitäten für ihn nicht mehr, wie für Humboldt und Schlegel, das Subjekt, das der Bildung Strahlen all in eins faßte, sondern die Weltgeschichte selbst. Die Humanitätsidee mußte in einem so gearteten Denken eine spezifische Veränderung erfahren. Denn sie war ja primär ein Bildungsideal, das in seinen universalhistorischen Projektionen bestimmte Formen und Bildungen der Weltgeschichte als Unterpfand der nach diesem Ideal zu gestaltenden Zukunft empfand. Von dieser Ansicht konnte Ranke nur den Glauben übernehmen, daß sich in der Geschichte überhaupt das „AllgemeinMenschliche" incarniert. Daß er diese überhistorische Anschauung hinnehmen konnte, ohne sich dessen voll bewußt zu werden und sie zugleich auf jenen geringen Rest reduzieren durfte, war darin begründet, daß sie ihm aus den Schöpfungen der deutschen klassischen Literatur, deren innerster Lebensatem sie war, gleichsam atmosphärisch entgegenkam. Ranke hat mit bewegten Worten bekannt, wie tief er sich dieser Literatur verpflichtet fühlte'). Sie war für ihn wie für jeden Deutschen seines Zeitalters die vornehmste Vermittlerin aller echten Kultur. Unzweifelhaft war es für sein Vertrauen in dem großen Gang der Kultur und die Vernunft der Weltgeschichte von Wichtigkeit, daß er selbst in dem Zusammenhang einer Kultur aufgewachsen war, die so großartige Produktionen aufzuweisen hatte wie die deutsche zu Beginn des 19. Jahrhunderts. So konnte Ranke ihr zartes ») *) raison, *)
Vgl. Meinecke, Weltbürgertum, S. 288 und 295. Vgl. Meinecke, Weltbürgertum, a. a. O., S. 296, und Idee der Staatsa. a. O., S. 472. Vgl. S. W. Bd. 49/50, S. 160.
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Gebilden der Geschichte das Allgemein-Menschliche in Erscheinung trete, als etwas Selbstverständliches übernehmen. Und zuletzt war ja die Bildungswelt dieses verjüngten Humanismus seine eigene. Auch ihn verband die innigste Liebe mit der Antike. Mit der großen deutschen Philologie verknüpfte ihn noch eine lebendige Tradition1). Doch verbot ihm sein historischer Sinn die Kanonisierung eines geschichtlichen Gebildes, sei es Hellenentum, Christentum, Germanismus, Reformation oder einer Synthese aus ihnen, als der schlechthinnigen und letzten Darstellung des Unendlichen in der Welt1). Er fand es lächerlich, ein größerer Epiker sein zu wollen als Homer oder ein größerer Tragiker als Sophokles; aber den Weg, der von dieser Ansicht der exemplarischen Bedeutung gewisser geschichtlicher Gebilde folgerichtig zur historischen Idealbildung führen mußte, beschritt er nicht8). Weder mit Nationen noch mit Epochen, noch mit Kulturgebilden trieb er Idololatrie. Dadurch freilich verlor anderseits die Humanitätsidee viel von ihrem normativen Charakter. Mit Humboldt verglichen, erfuhr sie eine funktionale Umbildung, die sie doch wieder zu einem mehr formalen Unter- und Hintergrunde seines weltgeschichtlichen Denkens machte, der in dem Fortgang der streng empirischen Erzählung nur zuweilen sichtbar wird. Aber dieser Untergrund erlaubte es ihm, die Wertgesichtspunkte einer europazentrischen Betrachtung mit den allgemein menschlichen schlechthin zu identifizieren. Und dies genügte schon, um aus dem gesamten Geschichtsstoff die abendländische Geschichte als „Die Weltgeschichte" herauszulösen, und ihren Kulturgehalt als „Kultur" schlechthin zu bezeichnen. In der Tat spricht Ranke nie von Kulturen, sondern immer nur von Kultur. Der Humanitätsgedanke war ihm nicht so sehr eine errungene Erkenntnis als die selbstverständliche Voraussetzimg seiner Geisteshaltung, ein atmosphärisches Element, das ihn trug und von dem er sich tragen ließ. Darum reichte die Humanitätsidee auch nicht in die tiefste Schicht seines Geistes herab, in die sich „Gottesfurcht und Historie" teilen4). Es ist, wenn wir bei diesem rohen Gleichnis verweilen wollen, eine mittlere, für die Einwirkungen der gleichgestimmten Zeitgenossenschaft empfänglichere Tiefenschicht seines Geistes, in der diese Denkweise beheimatet war. Doch hätte sich ohne diese Voraussetzung Rankes universalhistorischer *) ») s) *)
Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.
S. W. Bd. 53/54, Aufsatz zur eigenen Lebensgeschichte. S. W. Bd. 51/52, S. 542, Rede auf Böhmer. Epochen, S. 18. S. W. Bd. 53/54, S. 139.
I. Teil 7° Genius nie so großartig entfalten können. Wie verhüllt und beschwiegen, wie herabgemindert zu einer fast formellen Funktion, ist sie es doch immer, die den ideellen Gehalt der abendländischen Geschichte mit dem einigenden Bande der allgemein menschlichen Gültigkeit zusammenhält. Als kanonischer Maßstab kann ihm die Humanitätsidee dementsprechend so wenig dienen wie einst Herder. Darum hat Ranke, folgerichtiger als Herder, auf die Wertbeurteilung der geschichtlichen Ereignisse fast ganz Verzicht geleistet, und nur an den Krisen und Knotenpunkten des Geschehens den Gang der Ereignisse von dem Standpunkt der erreichten europäischen Kultur aus übersehen und gerechtfertigt gefunden. Demzufolge überwiegt im Ansätze der Rankeschen Weltgeschichte das Element der kontemplativen Hingabe an den universalhistorischen Verlauf das überwissenschaftliche, sittlich bestimmte Element der Tat durchaus. Nur darin könnte man den aktiven, auf die Zukunft gerichteten Bestandteil noch erkennen, daß Ranke selbst der Ansicht zuneigte, daß den höchsten Anforderungen wohl nicht zu genügen sei, und daß auch er die Weltgeschichte für einen hin und wieder, d. h. von jedem Zeitalter von neuem zu unternehmenden Versuch hielt1). Trotzdem Ranke die Aufeinanderbezogenheit von Gegenwart und Vergangenheit, um die er auch sonst sehr wohl wußte, für das Vorhaben der Universalhistorie hier ausdrücklich anerkannte, hat er der Weltgeschichte ihren besonderen Ort niemals über oder neben«der rein kontemplativen Geschichtswissenschaft angewiesen. Immer war er vielmehr bestrebt, sie ganz in diese zurückzunehmen. Es ist ihm nicht zum Bewußtsein gekommen, daß damit die Grenzen der empirischen Erkenntnis weit überschritten waren, da es keinen Gegenstand Weltgeschichte gibt, den die historische Kontemplation als ein sinnvolles Ganze ergreifen könnte. Die tieferen Wurzeln jener eigentümlichen Haltung Rankes, die Universalgeschichte in reine Kontemplation ausmünden zu lassen, erkennt man erst, wenn man die besondere Struktur seines Kulturbewußtseins unter diesem Aspekt betrachtet. Von ihr muß daher zunächst die Rede sein*). Denn in dieser Struktur muß es begründet sein, daß Ranke den Halt, den eine geschichtliche Idealbildung gewährt, entbehren zu können glaubte. In ihr muß die Erklärung dafür liegen, daß er es sich erlauben konnte, um der geschichtlichen Empirie willen, auch seinen Glauben auf die Verwirklichung des Allgemein-
Vgl. W . Gesch. I, i, S. IX, und Dove, a. a. O., S. 199. *) Vgl. Troeltsch a. a. O., S. 654^. und 696.
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71 menschlichen in der Geschichte scheinbar auf den Rest einer nur formalen Funktion zu reduzieren. Rankes Kulturbegriff ist traditionalistischen Gepräges. Wieder und wieder versichert er, daß es vor allem darauf ankomme, daß in dem Wechsel der Zeiten die einmal gewonnene Grundlage unverletzt bleibe, daß die wesentlichen Resultate, zu denen es die vorangegangenen Geschlechter gebracht haben, von einem Jahrhundert dem anderen überliefert werden1). Darin, so sagt er an anderer Stelle, liegt die Eigentümlichkeit wahrer Kultur, daß sie die Schöpfungen der Vergangenheit als ein Eigentum, das die Gegenwart erfüllt, betrachtet1). Kontinuität ist also das eigentümlichste Kennzeichen der echten Kultur. Sie trägt in allen Erörterungen Rankes, die diesem Gegenstande gelten, einen unverkennbaren Wertakzent und geht allen anderen Charakteristiken voran. Wohl schreitet auch Ranke zuweilen die Bezirke der Kultur ab, ihren Umkreis bald weiter, bald enger fassend, und wohl ist auch eine Wertskala unverkennbar, die das Gesunde gegenüber dem Kranken, das Gewordene und Echte gegenüber dem Gemachten und Gekünstelten zum Zeichen wahrer Kultur macht. Doch tritt die Richtung auf ein bestimmtes Kulturideal des schönen oder des guten und gerechten Lebens ganz zurück hinter der Tendenz auf Wahrung der kulturellen Kontinuität*). Nun hieße es aber Ranke völlig mißverstehen, wollte man aus dieser Betonung der Kontinuitätsidee in der Weltgeschichte einen starren Traditionalismus seines Kulturbegriffes herleiten. Er ist weit entfernt davon, an der bloßen Tradierung der Kulturgehalte Genüge zu finden. Denn so hoch er es anschlägt, daß die objekttiven Ideen, die mit der Kultur des menschlichen Geschlechtes verbunden sind, zur Geltung und Repräsentation gelangen, so beruht doch das geistige Leben in seinen Augen nicht sowohl auf einer gläubigen und gehorsamen Annahme derselben, als auf einer freien, subjektiv vermittelten, und also auch beschränkenden Aneignung, die nicht ohne Streit und Gegensatz zu denken ist4). Man möchte dieses Moment selbständiger Aufnahme, freier Verarbeitung und eigentümlicher Darstellung, das im ewigen Wider») Vgl. Ref.-Gesch. Bd. IV, S. 4. ») Vgl. W. Gesch. Bd. II. 2, S. 4x5. *) Auch auf Rankes Staatsbegriff fällt von hier aus ein neues Licht, „denn vorzflglich tritt in den Staaten die Kontinuität des Lebens hervor, welche wir dem menschlichen Geschlechte zuschreiben" (vgl. S. W. Bd. 24, S. 286). 4 ) Vgl. E. Gesch. I, S. 5. und W. Gesch. Bd. II. S. 4, desgl. Bd. 49/50, S. 72.
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streit mit dem Laufe der großen Ideen ist, den protestantischen Einschlag in dem Gewebe der Rankeschen Kulturidee nennen. So rettet er neben der Notwendigkeit, die in dem bereits Gebildeten, nicht wieder Umzustoßenden liegt, die Freiheit. „Jeden Augenblick kann wieder etwas Neues beginnen, das nur auf die erste und gemeinschaftliche Quelle des menschlichen Tuns und Lassens zurückzuführen ist1). Die Kultur ist bei Ranke wie bei Hegel in einem unendlichen, dialektischen Prozeß begriffen, der von Setzung zur Auflösung, zur Wiedersetzung und so immerfort weiterschreitet. Nur daß Ranke sich nicht entschließen konnte, die tausendfältigen Formen, in denen sich dieses geschichtliche Urphänomen darstellt, dem Zwange der Bewegung des Begriffs zu unterwerfen, sondern, hingegeben an das Wesen seines Gegenstandes, verfolgte, wie die Geschichte das Feste zu Geist verrinnen läßt und dennoch das Geistgewordene fest bewahrt. Nun scheint es uns aber, als müßte man zwischen Rankes Begriff der Kultur und seinem lebendigen Kulturbewußtsein, auf das die Universalhistorie gegründet ist, unterscheiden. Diesem Kulturbewußtsein fehlt jenes Element der Freiheit, der Ursprünglichkeit, der schöpferischen Gestaltung, das wir in seinem Kulturbegriff finden konnten, fast ganz. Man darf ihn darum weder Quietist noch Reaktionär schelten. Er hatte eine sehr hohe Meinung von dem Stande, den der abendländische Geist erreicht hatte. Erinnern wir uns der wundervollen Worte, die er über den Genius des Okzidentes sprach, jenen Geist, der die Völker zu geordneten Armeen umschafft, die Straßen zieht, die Kanäle gräbt, alle Meere mit Flotten bedeckt und in sein Eigentum verwandelt, die entfernten Kontinente und Kolonien erfüllt, der die Gebiete des Wissens eingenommen und sie mit immer frischer Arbeit erneut, der unter den Menschen trotz der Mannigfaltigkeit ihrer Leidenschaften Ordnung und Gesetz handhabt — unaufhaltsam, vielgestaltig, unnahbar, mit Waffen und Wissenschaften unwiderstehlich ausgerüstet, bemächtigt er sich der Welt. — Jener Worte, die uns als die früheste und großartigste Beschreibung des heroischen, aktiven und offensiven, des „faustischen" Charakters der abendländischen Kultur erscheinen1). Auch dachte Ranke nicht gering von seiner eigenen Epoche. Gleich weit entfernt von den Dualismen, die dem Fortschrittsglauben wie den romantischen Konstruktionen zugrunde lagen, war er einer der ersten, der dem Dogma von den nur destruktiven Kräften des ») Vgl. Epochen, a. a. O., S. 6. «) Vgl. S. W. Bd. 43/44. S. 518.
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19. Jahrhunderts entgegentrat und den Mut hatte, von den positiven Ergebnissen, den Leistungen der moralischen Energie zu reden1). „Man muß so sagte er, „diese Zeit nicht verkennen. Es ist ein Glück in derselben zu leben*)." So sah er auch die Zukunft Europas weder optimistisch verklärt, noch pessimistisch verbittert, sondern voll Vertrauen in die uralten Kräfte dieses Erdteils. „Ich sehe," sagte er, „soviel Lebenselemente und großartiges, frisches Bestreben, daß ich einen Verfall einzelner Zweige des Lebens oder auch einzelner Völker für möglich halte, nicht eine Dekadenz des Ganzen oder einen Ruin desselben. Die Welt scheint mir mehr Leben in sich zu schließen als Gefahr9). Aber diese Worte gehören nun auch zu den wenigen Äußerungen, aus denen wir den Ton, den Ranke in Meditationen über die Zukunft der Weltgeschichte anschlug, wirklich heraushören können. Wir glauben nicht, daß diese Reserve nur der Abneigung aller großen Historiker gegen Prophezeiungen und subjektive Äußerungen entspringt, die Ranke mit Burkhardt teilte. Seine Worte lassen doch erkennen, wie wenig er den Drang fühlte, das Gewordene durch Auslese und Wertakzentuierimg in die Zukunft zu leiten. Sein ganzer Anteil war der des erkennenden, liebend erkennenden Menschen. Über das Gegebene strebte er nirgend hinaus. Unnötig zu betonen, daß er das schwebende Verhältnis von Politik und Historie verstanden hatte4). Aber sie unterschieden sich ihm, wie theoretische und praktische Philosophie. Bei der Diskussion bewegender, zeitgenössischer Probleme leitete ihn sein Genius stets, denjenigen Punkt zu erkennen, wo die größte Realität die wahre Lösimg zu verbürgen schien. Niemals hat er phantastischen Wünschen nachgehangen. Aber was er über die Zukunft zu sagen wußte, war denn auch selten mehr als ein Reflex der jeweiligen realen Gegenwart5). Blieb er frei von umnebelnden Wünschen, die er in die Zeit perspektivisch hineingesehen hätte, und unterlag er weder in der Betrachtung der Vergangenheit, noch in der Erwägung der Zukunft einer optischen Wunschtäuschung, so blieb er doch auch zugleich des zündenden Funkens ») Vgl. S. W. Bd. 24, S. 38. ') Vgl. Epochen, a. a. O., S. 142. ') Vgl. S. W. Bd. 53/54. S. 405. *) Vgl. S. W. Bd. 24, S. 269. *) Vgl. Meinecke, a. a. O., S. 302, und Diether, a. a. O. Das Diethersche Buch hat das Verhältnis von Historie und Politik bei Ranke zum Ausgangspunkt seiner Forschung gemacht (vgl. darüber Meinecke, Preußen und Deutschland, S. 561).
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bar, der den Willen entflammt, das Geschaffene umzuschaffen, das Gebildete fortzuführen, was nach Droysens schönen Worten des tätigen Mannes höchster Beruf ist. Ranke schien es nur notwendig, das Bestehende, das einmal erreichte Niveau vor dem Andrängen „ungestalter Kräfte" zu sichern. Ja, so eingewurzelt war diese Überzeugung in ihm, daß ihm das Verhältnis von Universalgeschichte und lebendigem Kultur- und Gegenwartsbewußtsein nur unter der einseitigen Ansicht erschien, daß allein ein gesicherter Standard der Kultur die Möglichkeit eröffnet, die Weltgeschichte zu erforschen. Der uralte 90jährige Mann noch sprach es aus, daß er, seines geringen Ortes, nicht daran gedacht haben würde, eine Weltgeschichte zu verfassen, wenn nicht für ihn das Problem der beiden großen Weltgewalten, Kultur und Revolution, durch den Sieg der Bismarckschen Staatskunst im allgemeinen entschieden gewesen wäre1). Man sieht, daß Ranke den grundlegenden Zusammenhang zwischen der Universalhistorie und dem Wertsystem des welthistorischen Betrachters wohl kannte, aber nicht in seiner Totalität und philosophischen Allgemeinheit, sondern nur soviel, als der objektivistische, kontemplative Historiker davon sehen wollte, um eine Weltgeschichte konstituieren zu können. Wer wollte darüber mit ihm rechten ? Da doch die besondere Gestalt seines Kulturbewußtseins nicht das einfache Resultat seelisch gegebener Antriebe oder sachlogischer Postulate oder endlich allgemeiner, übergreifender Einflüsse ist; sondern ein komplexes Gewebe, an dem jene drei Mächte zusammen gewoben haben, und in dem man bald die Konsequenzen der rein, auf Kontemplation gerichteten, historischen Wissenschaft, bald die psychologischen Forderungen einer sich ganz dieser Aufgabe hingebenden Seele, endlich jenen ungreifbaren, aber gegenwärtigen Hauch einer Zeitgenossenschaft, in der verwandte Geister auf anderen Wegen zu gleichen Zielen streben, wahrnehmen zu können glaubt. Diese drei sich konzentrisch verjüngenden Ringe, in die sich sein Kulturbewußtsein gliedert, müssen wir in ihrer Lagerung zueinander verstehen, wenn wir die Gestalt begreifen wollen, die sein universal-historischer Maßstab annahm. Unzweifelhaft ist Rankes Grundansicht von dem Kampf der aufbauenden Kräfte Europas mit den destruktiven Tendenzen der Revolution, die der Deutung des Bismarckschen Werkes zugrunde lag, ein Widerschein des Restaurationszeitalters. 1) Vgl. S. W . Bd. 51/52, S. 597-
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75 Seine Lehr- und Wanderjahre fielen in diese Epoche, und er selbst hat bekannt, wie ein junger Mensch sich in dieser Zeit gleichsam von selbst zu geschichtlichen Studien geführt sah1). Mit dieser Epoche, in der die Sehnsucht, das zu begreifen, was ist, lebendig war, wie in keiner anderen, mit dieser Generation von Männern, in der der historische Objektivismus seine klassischen Repräsentanten — neben Ranke selbst, Savigny, Grimm, HumboldtundHegel—gefunden hat, verband ihn vor allem ihre passiven Tugenden: Ehrfurcht, Andacht, Hingabe und Frömmigkeit*). Und gleich jenen Geistern, die wie er in der halkyonischen "Windstille, der Ruhe vor und nach den Stürmen lebten, fürchtete auch Ranke wohl für den durch die Revolution gefährdeten Bestand der Kultur, aber ihr Wert selbst war für ihn und seine Zeitgenossen noch nicht erschüttert. Wie er im Hardenberg (Denkwürdigk. IV, 201) Humboldt charakterisiert hat, so könnte man ihn selber charakterisieren. Auch er bewegte sich auf den Höhen des geistigen Lebens, wo sich Kunst und Literatur berühren. Auch seine Bildung gehörte der Epoche an, welche der deutschen Kultur überhaupt eine neue Farbe und selbst einen neuen Inhalt gegeben hatte. Auch in ihm bewundern wir Schwung und Methode®). Dieses Bewußtsein inmitten einer innerlich gesicherten, aufstrebenden Kultur zu leben, deren Schöpfungen allen vertraut und selbstverständlich waren, wie die sinnliche Luft, die man atmete, war die wertvollste Mitgift dieser Zeit an ihrem großen Sohn. Auch Rankes Werk4) atmete den Duft und die Stille dieses Spätsommerabends des deutschen Lebens mit seinem hellen, ein wenig zu hellen, unirdischen Licht, in dem die Dinge klar und fast gläsern wurden. Auch Ranke erschien die Kultur als der Bereich homogener, sinnerfüllter, geistiger, gesellschaftlicher und materieller Produktion, und demzufolge konnte er auch ihre weltgeschichtliche Entwicklung noch als einen einheitlichen, sinnvollen Prozeß beschreiben. Von den schweren Stürmen, die nur zu bald über Europa dahinbrausen sollten, ahnte er nichts. Weder die Unterminierung der abendländischen Humanitätsidee durch Schopenhauer6) und den russischen Nihilismus, noch die Wirkung der beiden großen M Vgl. •) Vgl. ') Vgl. Ideenlehre, ') Vgl. ') Vgl.
M. Ritter, L. v. Ranke, Bonner Rektoratsrede. 1896, S. 4. Rothacker, a. a. O., S. 75 ff. Rothacker, S. 76 (vgl. auch Fester, Humboldts und Rankes Hist. Viertel]ahresschr. VI. Meinecke, PreuBen und Deutschland, S. 167 ff. Troeltsch a. a. O., S. 193 ff.
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Antichristen Feuerbach und Nietzsche, noch endlich die grundstürzende Umwälzung der europäischen Gedankenwelt durch Marx traten in seinen Horizont. Nur die proletarische Bewegung sah und erkannte er als Gefahr. Aber auch in ihr sah er nur verderbenbringende Kräfte, gleichsam eine satanische Gegenwelt, die ihn in seiner eigenen nicht zu erschüttern vermochte. Durch sein langes Leben bewahrte er sich das Vertrauen auf die konservativen, die erhaltenden Mächte. „Ormuzd und Ahriman kämpfen immer. Ahriman arbeitet immer an der Erschütterung der Welt, aber sie gelingt ihm nicht 1 )." Doch wäre es irrig, wollte man Ranke Désintéressement an aller schöpferischen Neugestaltung allein oder auch nur zu tiefst aus seiner inneren Verwandtschaft und Zugehörigkeit zu der Restaurationsepoche zu erklären suchen. Die Zeitgenossenschaft war auch für ihn nicht mehr als das tragende Element und der belebende Hauch, der die Entfaltung seines eigentümlichen Genius begünstigte. Jene grundsätzliche, geistige Haltung Rankes gegenüber dem Ganzen der geschichtlichen Welt, jene unentrinnbare Rückkehr zu dem Stande einer rein geschichtlichen Anschauung können wir nicht mehr aus irgendeiner zeitlichen Bedingtheit herleiten*). Die Kontemplation war die.seinem Geiste allein adäquate' Erfüllung. Der Wunsch, sein Selbst auszulöschen, um nur die Dinge in ihrer reinen Gestalt erscheinen zu lassen, hat nicht ohne inneren Grund seine fast sprichwörtliche Berühmtheit erlangt. Es ist doch nur die pathetische Bekundung eines Ranke durchgängig innewohnenden Strebens, sich zu vergessen, sich hinzugeben, sein Selber besser bewußt zu werden in dem Größeren8). „Wie schwärme ich oft, wie hoffe ich mit diesem Durst der hinter der Erscheinung tätigen Lebensquelle, Verstand, Liebe, Seele — der Welt noch einmal beizukommen! Dort, wo der Born quillt, der den Geschöpfen Leben, Wesen, Gestalt, Innerlichkeit gibt, wo kein Lob und kein Tadel, wo die allgemeinen Begriffe hinsinken vor der Idealität einer ursprünglichen und allemal gottverwandten Existenz"4). Es war der innerste Beruf seines Geistes, das Gesetz, nach dem er angetreten, die Realität nicht nach sittlichen Nonnen zu beurteilen oder fortzubilden, sondern sich ihr anschauend hinzugeben.
») Vgl. S. W. Bd. 53/54, S. 627. *) Vgl. Meinecke, Preußen und Deutschland, S. 368ff. Nur mit dieser Einschränkung können die dankenswerten Anregungen, die Diether der Forschung gegeben hat, benutzt werden. *) Vgl. S. W. Bd. 53/54, S. 210. *) Vgl. S. W. Bd. 53/54, S. 168.
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Nicht auf Bildung der Person oder auf Umgestaltung der "Welt war Ranke primär gerichtet, sondern auf das Aufgehen der Person in der Welt. „Man lebt mehr in dem Ganzen als in der Person. Oft weiß man kaum mehr, daß man eine Persönlichkeit hat. Man ist kein Ich mehr. Der ewige Vater aller Dinge, der sie alle belebt, zieht uns ohne allen Widerstand an sich 1 )." Diese Kontemplation war weder die des passiven Zuschauers, noch die Kontemplation dessen, der sich in der Erkenntnis vom Leiden an der Geschichte zu heilen sucht. Sie hat eine unleugbare Verwandtschaft mit der religiösen, der mystischen Kontemplation und gleich dieser ermangelt sie eines nahen Bezuges zur Welt des tätigen Lebens. Dies ist der Punkt, an dem die Konsequenzen von Rankes kontemplativer Haltung die universalhistorische Problematik tangieren. Die Weltgeschichte, so führten wir aus, bedarf einer Bezogenheit der Gesamtheit der historischen Materialien auf den Wertund Lebenszusammenhang des Betrachters. Diese Relation bedeutet zugleich eine Auslese aus der Totalität des geschichtlichen Werdens, die ihren Sinn nur in tätiger Bejahimg, Durchsetzung und Weiterführung der als lebendig erkannten Sinn- und Wert«inheiten in die Zukunft finden kann. Je energischer die Zielsetzung herausgestellt wird, desto straffer wird der welthistorische Auftrieb sein, desto großartiger wird der einheitliche Zug der Universalgeschichte ins Licht treten, desto weniger wird freilich auch Raum bleiben für die empirische, sich ganz an den individuellen Sinn der großen Gebilde hingebende Betrachtung. Am deutlichsten war dieser Sachverhalt bei Kant, Fichte und Schlosser hervorgetreten, bei denen der reale Verlauf durch die Überbetonung des normativen Maßstabes entwertet wurde. Auch Voltaire, der den gesamten universalhistorischen Verlauf auf die Verwirklichung des allgemeinen Fortschritts hin orientierte, und Hegel, der seiner Philosophie der Geschichte durch eine philosophische Zielsetzung, in die er die ganze Breite, Fülle und Tiefe des europäischen Lebens hineinzunehmen versuchte, die unaufhaltsame Dynamik gegeben hatte, hatten die relativistischen Konsequenzen des Historismus nur durch eine Zielsetzung überwunden, die das Ende der Geschichte statuierte, oder doch in Aussicht zu stellen schien. Dieser Chiliasmus aber mußte die geschichtliche Aktivität ebenfalls hemmen, ja erdrücken. Auch Rankes Blick war auf den großen Gang der Weltgeschichte gerichtet. Sein geschiehtlicher Sinn aber verwehrte ihm die perspektivischen Kürzungen und Vergewaltigungen, die Vgl. S. W. Bd. 53/54, S. 261 und 571.
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die Aufstellung eines bestimmten welthistorischen Zieles zur Folge haben mußte. Der nicht abzusehende Gang der zukünftigen Entwicklung verbot ihm, ein doch immer nur beschränktes Ziel für den Gang der Kultur aufzustellen. Denn derart „würde man die Zukunft verdunkeln und die schrankenlose Tragweite der welthistorischen Bewegimg verkennen1)." Es ist eine höchst eigentümliche Lösimg, zu der wir Ranke hier schreiten sehen. Er hatte um der Kontemplation willen, jeden Bezug auf schöpferische Tätigkeit aus der Universalgeschichte verdrängt. Und er rechtfertigte diese Haltung nun dadurch, daß, wie er sagte, jede bestimmte Zielsetzung die Zukunft verdunkeln und die schrankenlose Tragweite der welthistorischen Bewegung verkennen würde. Nur die Richtimg, nicht das Ziel des Prozesses, glaubte er bejahen zu können. Aber er übersah dabei, daß so gut, wie eine bewußte Zielsetzung ebenso der Mangel einer solchen die geschichtliche Aktivität bedrohen könnte. Er machte aus seiner Not so eine Tugend, schied Leben und Wissenschaft streng voneinander*) und sah auch die Bedeutung der Universalgeschichte nicht primär darin, daß sie diese beiden Reiche zu vereinigen strebt, worin wir ihre letzte, sittlich erlösende Funktion zu sehen glauben. Dadurch, daß er die welthistorische Zielsetzung bewußt umging, glaubte er, Wissenschaft und Leben ihr Recht gelassen zu haben. Er sah seine Aufgabe gegenüber der Weltgeschichte allein darin, ihren Werdestrom erkennend, anschauend und darstellend zu begleiten. Aber während er die universalhistorische Teleologie weder auf ein absolutes Erkennen noch auf ein absolutes Wollen gründen zu dürfen glaubte, war es ihm verborgen geblieben, daß seine eigenen weltgeschichtlichen Ideen kryptoteleologischen Prinzipien ihren Zusammenhang verdankten. Daß er die historische Empirie wenigstens scheinbar auch in der Weltgeschichte soweit treiben konnte, hat seinen tiefsten Grund darin, daß sein Geist, in gleicherweise durch religiöse Begriffe wie durch allgemeine Anschauungen von der Kultur gesichert, seinen Flug nehmen konnte. Die Erörterung dieser weltanschaulichen Grundfesten hat uns bis zu diesem Punkte geführt. Rekapitulieren wir, bevor wir uns seiner Weltgeschichte selbst zuwenden, noch einmal die Ergebnisse der Untersuchung. Die geschichtliche Kontemplation, die Rankes ganzes Wesen erfüllte, ruhte in den Tiefen seines unerschütterten Gottesbewußtseins. Ohne diesen tragenden und nährenden Wurzelboden hätte sich Rankes Erkenntnisdrang nie so großartig entfalten ») Vgl. W. Gesch. Bd. I, i, S. VIII. *) Vgl. Die Rede auf Gervinius Bd. 51/52, S. 567.
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können. Nun hütete Ranke die Historie aber aufs getreueste davor, daß dieses aus seiner innersten Herzkammer strömende religiöse Gefühl sich über das Gebiet der Geschichte ausbreitete. Es mußte sich mit einer allgemeinen, mehr formalen Funktion begnügen. Darin aber wieder lag es begründet, daß die aus diesen Bezirken stammenden Elemente seiner geschichtlichen Anschauung — die Unmittelbarkeit jeder historischen Erscheinung zu Gott, das Vertrauen auf die göttliche Ordnung der Zeiten, der Glaube an einen, im Laufeder Weltgeschichte, aus den Sinngehalten der einzelnen Gebilde sich ergebenden Gesamtsinn —, daß diese Elemente nicht magnetisch genug waren, um allein eine Weltgeschichte konstituieren und tragen zu können. So erhebt sich über jener Schicht ,,eusebianisch-augustinischer" Gedankengänge, die die Grundfesten des Ganzen bilden, eine zweite Schicht von tragenden, einigenden und überwölbenden Werten, auf die Rankes weltgeschichtliches Denken latent immer bezogen ist: Die ideellen Werte und Kulturgehalte des vorderasiatischen — abendländischen Kulturkreises, die Ranke durch das Band der Humanitätsidee geeinigt und verklärt, als die vornehmste Repräsentation des Allgemein-Menschlichen erschienen. Von diesem Bezüge hat Ranke ein klares Bewußtsein gehabt. Darin aber, wie er das Verhältnis von Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft radikal zugunsten der Vergangenheit entschied, lag ein erneuter Durchbruch seiner nie gestillten, kontemplativen Sehnsucht. Sie war gegründet auf dem Traditionalismus seines Kulturbewußtseins, der das erreichte Niveau nur zu verteidigen nicht fortzubilden strebte. Schon für den Ansatz der Rankeschen Weltgeschichte, um dessen Darlegung es sich hier allein handeln konnte, bewirkte dies die wichtige Konsequenz, daß damit die Universalhistorie der reinen Wissenschaft ganz zurückgegeben wurde und ihre Sonderstellung zwischen Betrachtung und Tat völlig zugunsten der Kontemplation verschoben wurde. Mehr vermögen wir den Grundlagen des Rankeschen Geistes in unserer Absicht nicht abzufragen. Auch das Apriori der Rankeschen Weltgeschichte ist ein verschlungenes Gewebe, an dem die logischen Forderungen und das Gesetz unseres Problemes, allgemeine zeitliche Einflüsse und der innerste Kern der Persönlichkeit gewoben haben. Nicht durchaus, so wird man sagen dürfen, förderten diese Elemente einander. Über Wert und Unwert einer Weltgeschichte entscheidet jedoch nicht allein und nicht zuerst die Klarheit der allgemeinen philosophischen Grundlagen. Entscheidend wird für die Betrachtung vielmehr sein, ob der Geist des Universalhistorikers weit, mächtig
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und tief genug war, um von der Grundlage seiner Gegenwart und seines Lebens aus dem Werdestrom der Weltgeschichte von ihren Ursprüngen zu sich heraufzuführen. Darüber aber kann allein die konkrete Weltgeschichte uns belehren. Wir wollen nun Rankes Bemühungen um die Universalhistorie selbst ins Auge fassen, um an ihnen die Fruchtbarkeit seines Maßstabes zu prüfen. Auch diese Bestrebungen haben ihre Geschichte.
II. Teil. DIE ENTWICKLUNG DES UNIVERSALHISTORISCHEN GEDANKENS. Nicht auf einmal, noch auch ohne Zusammenhang mit den allgemeinen Ereignissen der Geschichte hatte sich die Weltgeschichtsschreibung gebildet. In und am Fortgang der Historie selbst offenbarten sich den Universalhistorikern die verschiedenen Provinzen ihres Gegenstandes. Denn auch dieser ist der Dimensionalität aller Geschichten unterworfen. Polybios zuerst stellte die Breitendimension der weltgeschichtlichen Geschehnisse dar, wie sie sich ihm in den Konflikten der mediterranen Staatenwelt, in den Kämpfen, die den Aufstieg der Stadt Rom zur Weltherrschaft begleiteten1) offenbart hatte. Die christliche Eschatologie sodann, die allen Nachdruck auf den Gang der Heilsgeschichte in der Zeit legte, eroberte die Richtung der Weltgeschichte in der Längsdimension, ihren aus aller andern Geschichte auserlesenen Verlauf und Fortschritt. Die Aufklärung tat zu diesem großen Erbe, das sie in spezifischer Weise umgestaltete, die Anschauung einer allgemeinen Kultur, als einer Grundkategorie der weltgeschichtlichen Forschung, welche alle Gebiete des weltlichen Lebens in sich schloß, und deren Veränderung, Entwicklung und Ausgestaltung das Grundthema aller Universalhistorie sein sollte. Die Bedeutimg der Erforschimg dieser Tiefenschicht des historischen Lebens wurde dann von Herder, der historischen Schule, von Hegel und der Hegeischen Schule bis zu Burkhardt immer höher bewertet und in Methoden und Aufgaben ständig vertieft. In jeder der großen Universalhistorien sind diese Schichten auf ein besonderes Verhältnis zueinander gestimmt. Auch für Ranke ist es unschwer, zu bestimmen, welcher Richtung sein universalhistorischer Erkenntnisdrang vor allem zuneigte. Wohl strebte ') Vgl. W. Dilthey. Das 18. Jahrhundert und die geschichtliche Welt, a. a. O., S. 243«. Beib. d. H . Z. 6
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auch er, der Totalität des geschichtlichen Lebens gerecht zu werden und allen Bereichen nach ihrer Wichtigkeit seinen Anteil zu widmen1). Doch begegnen wir einer ganz persönlichen Dominante, auf die das Verhältnis der Dimensionen der Weltgeschichte gestimmt ist, auf Schritt und Tritt. Man hat den universalhistorischen Einschlag in Rankes Schaffen als das eigentümlichste Kennzeichen seiner Historiographie bezeichnet, deren Objektivität sich nicht auf Neutralität, sondern auf „Universalität des Mitgefühls" gründet, und mit Recht von ihm gesagt, daß er im Grunde in jedem Stoffe Weltgeschichte geschrieben hätte2). Aber dieses Charakteristikum ist kein ganz eindeutiges. Universalhistorie kann man auf mancherlei Weise treiben. Diese Worte zielen auf Rankes große Kunst, das Allgemeine im Herzen des Besonderen selbst zu suchen3) und jede partikulare Bestrebung aus den großen Tendenzen des Zeitalters zu verstehen; keine Macht zu isolieren, sondern jede Begebenheit aus dem lebendigsten Verkehr und gegenseitigen Wechsel aller mit allen zu erklären, ja, in gewissen Epochen, denen seine Liebe vor allem galt, die partikulare Geschichte sich gleichsam von selbst zur Weltgeschichte erweitern zu sehen. Aber neben diesem Bemühen, die ganze Breite des geschichtlichen Geschehens in seinen tausendfältigen Verflechtungen zu überschauen und darzustellen, steht die ausgesprochene Tendenz, das Ganze der welthistorischen Entwicklung in der Länge der Zeit zu ergründen. Schon der junge Ranke, der eben den ersten Trunk aus dem unerschöpflichen Borne geschichtlichen Lebens getan hatte, und wie in einem Rausche von der Vielfältigkeit, der Buntheit, der Fülle und dem Reichtum der Kreaturen Gottes in den Jahrhunderten lebte, glaubte Gott am meisten in dem Zusammenhang der großen Geschichte erkenne^ zu können. Dieser schien ihm wie eine „heilige Hieroglyphe an seinem äußersten aufgefaßt und bewahrt, vielleicht damit er nicht verlorengeht künftigen, sehenderen Jahrhunderten4)". Heilige Hieroglyphe, 1) Vgl. Epochen, a. a. O., S. 6 und S. 21. Hier ist die universale Geschichtsbetrachtung Rankes, die alle Potenzen der Historie umgreifen will, der des Tukydides gegenübergestellt. 2) Vgl. Dove, a. a. O., S. 114, und in der Einleitung zu den Epochen, a. a. O., S. 2, und Oncken, a. a. O., S. 35. Doch kann ich Oncken nicht ganz zustimmen, wenn er S. 7 bei Ranke, Universalität im Längsschnitt des Geschehens aber auch im Querschnitt aller Lebensäußerungen bemerken zu können glaubt. Die erstere Tendenz überwiegt die andere durchaus. 3) Vgl. Dove, Kleinere Schriftchen, S. 157. «) Vgl. S. W. Bd. 53/54. S. 89 ff.
Die Entwicklung des universalhistorischen Gedankens
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so wird die Weltgeschichte angeredet, wie sie später Rätsel und Geheimnis heißt. Und im Geheimnisvollen nimmt Ranke von vornherein seine Stellung. Die große Wandlung, die sich in dem Verhalten zur Weltgeschichte vollzogen hatte, spiegelt sich in diesen Worten „heilige Hieroglyphe". Hamann noch war die Geschichte als jenes weite Feld erschienen, das voller Gebeine lag und siehe, sie waren sehr verdorret. Herder hatte nach ihrer Philosophie gesucht, aber erst in Kant war das Problem des welthistorischen Apriorie zum Bewußsein gekommen, Friedrich Schlegel hatte nach einem Newton gerufen und in Hegel war ein Newton der Geschichte erschienen. Aber auf dem Wege der Aprioriekonstruktion wollte Ranke das Problem der Weltgeschichte nicht lösen. Er sah in dem großen Zusammenhang der Geschichte von vornherein ein Geheimnis. Das historische Verständnis war an dem Punkte angelangt, wo die Formel „Illustration oder Demonstration" sinnlos geworden war. Das „RealGeistige" stand in ungeahnter Originalität vor Rankes Auge. Zwischen diesen beiden Polen, dem Verständnis der Individualitäten und der Ergründung des geschichtlichen Zusammenhanges bewegte sich der historische Sinn des jungen Ranke hin und her. „Täglich", so schreibt er, „erweitert sich Kenntnis und Aussicht über die Weltgeschichte. Wer enthüllt Kern, Natur, lebend Leben des Individuums1) ?" Auch hängen die beiden Aufgaben, die Enträtselung der heiligen Hieroglyphe des Werdens der großen Geschichte und jene andere, einzudringen in den innersten, geheimnisvoll glühenden Kern der Persönlichkeit noch unlösbar zusammen. Und doch sind diese beiden Tendenzen einander ewig entgegengesetzt gelagert und Herder wie die Frühromantik hatten es erfahren müssen, daß die selige Trunkenheit des den Reichtum der Individualitäten genießenden Sinnes und die straffe, auf Ziel und Richtung organisierte Dynamik der Universalgeschichte einander ausschlössen. Die Kurve der Entwicklung vor Rankes historischem Denken zeigt uns jedoch nicht eine steigende Entfernung der beiden Elemente. Vielmehr können wir eine immer wachsende Annäherung, ein zeitweiliges Verschmelzen, endlich ein Überwiegen der rein universalhistorischen Neigung bemerken. In seinem ersten Werk spüren wir noch ein gewisses Nebeneinander beider Richtungen. Zwar wollte Ranke auch in ihm schon die Begebenheiten an der Kette der Ereignisse darstellen, von Geschehnis zu Geschehnis schreitend, erblickt er in der tätigen Kraft der geschichtlichen Wesen den zentralen Gegen!) Vgl. S. w . Bd. 53/54, S. 102.
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stand seines Interesses1). Aber nicht umsonst ist dieses Werk Geschichten (nicht Geschichte) der romanisch-germanischen Völker betitelt1). Wer erinnerte sich nicht dieses köstlichen Gemäldes, in seiner jugendlichen, ein wenig preziösen Manier und seiner die Klarheit der Komposition fast verdunkelnden Gestaltenfülle. Es ist ganz von Leben und Anschauung erfüllt, und die Poesie einer sinnlich genährten Erzählung umrankt die großen Aktionen noch mit tausend konkreten Details. Und doch ist es dieses Werk, dem Ranke seine berühmte Abhandlung über die Einheit der romanisch-germanischen Völker beigegeben hat, die wie ein Präludium seines gesamten späteren Schaffens anmutet. Die Vorstellung von der Einheit Europas, das Erbgut der Idee des corpus Christianium, die in den Doktrinen vom europäischen Gleichgewicht fortgelebt hatte, war von diesen an die Aufklärungshistorie weitergegeben worden, die auf sie die Lehre von der Solidarität der europäischen Nationen gegründet hatte. Novalis, die beiden Schlegel und Adam Müller hatten sie neu belebt und mit den alten kirchlichen Gedankengängen, denen sie entstammte, wieder in Verbindung gebracht. Von Ranke wurde sie auf den Boden der Nationalgeschichten überführt und rein historisch begründet. Gemeinsame Hervorbringungen und Institutionen, gemeinsame geistige, gesamteuropäische Bewegungen, endlich die Teilnahme an den gleichen Schicksalen, welche wie nichts anderes verbindet und zusammenhält, hatten nach Rankes Ansicht einzelne und Nationen zu so enger Verwandtschaft verbunden, und nur die Teilnahme an den nämlichen Schicksalen gab auch den Nationen das Recht, sich zu dieser Gemeinschaft zu zählen. Wer, wie die slawischen Randnationen, nicht belebt worden war von den Atemzügen dieses geheiligten Vereins, gehörte nicht zu ihr8). Wir wissen heute, mit welchen Gedanken einer allgemeinen Umfassung sich der junge Ranke damals trug, wie er, selig sich der auf ihn eindringenden Flut der Historie ganz hingeben zu können, jeden Gedanken einer isolierten Betrachtung von sich wies4). Damals war es, daß er jenes berühmte Programm seiner !) Vgl. Rom.-germ. Völker, 1824, S.XVIII, und Dove, a. a. O., S. 158. *) Vgl. Gesch. der rom.-germ. Völker, 1824, S. XVIII, und Dove, a. a. O, S. 158. ') Vgl. Die berühmte Einl. zu den rom.-germ. Völkern. Borries hat SL a. O., S. 146, auf die Vorstufen dieser Anschauungen bei Novalis und in den wichtigen Berl. Vorlesungen A. W. Schlegels hingewiesen (vgl. auch Meinecke, Idee der Staatsraison, S. 183 ff.). 4) Vgl. Oncken, a. a. O., S. 36ff. und 2gff. über Rankes Mitarbeit an dem Perthesschen Handbuch.
Die Entwicklung des universalbistorischen Gedankens
Universalhistorie entwarf: „die Mär der Weltgeschichte aufzufinden, jenen Gang der Begebenheiten und Entwicklungen unseres Geschlechtes, der als ihr eigentlicher Inhalt, als ihre Mitte und ihr Wesen anzusehen ist 1 )." Schon erhebt sich ihm so die Weltgeschichte deutlich aus der Gesamtheit der geschichtlichen Begebenheiten, als die Mitte und der Kern des ganzen Geschehens, als die „schönste Geschichte, welche je geschah", deren Erkenntnis eine besondere Bedeutung innewohnt. Doch ist die gleiche, individualitätstrunkene Stimmung, wie wir sie in den vorhergehenden Äußerungen fanden, auch hier noch lebendig. Denn Ranke gesteht, daß es seine Sehnsucht ist, alle die Taten und Leiden dieses wilden, heftigen, gewaltsamen, guten, edlen, ruhigen, dieses befleckten und reinen Geschöpfes, das wir selber sind, zu begreifen und festzuhalten, und sein Herz schlägt in der Betrachtung der menschlichen Dinge2). In jener Zeit erkannte er den fundamentalen Unterschied, welcher zwischen seiner Weise, die Idee der Weltgeschichte aufzusuchen, bestand, und der Art, in der der philosophische Idealismus die Geschichte zu bewältigen suchte. Ranke war der Meinung, daß das Ergreifen der Zustände der Menschheit, aus denen die uns eingeborene Sinnesweise lebendig spricht, dem Irrtum weniger unterworfen sei, und der Erkenntnis des wesentlichen Seins näherkomme, als das Verfolgen spekulativer Gedanken. Auch auf seinem beschwerlichen Wege hoffte er dereinst, das Ganzein voller Wahrheit fassen zu können3). Es ist der vollendete Sieg der historischen Weltanschauung, der in diesen Worten zum Ausdruck kommt. Der Rationalismus hatte die ewigen Vernunftwahrheiten streng von den nur faktischen Erkenntnissen geschieden und die Geschichte in die dienende Rolle der Illustratorin herabgewiesen. Die große deutsche Revolution des Geistes hatte demgegenüber dem Wert der geschichtlichen Erkenntnis ihr Recht gegeben. Doch blieb sowohl Herder als auch der Romantik das Verhältnis der geschichtlichen zu der reinen Vernunfterkenntnis problematisch und ungeklärt. Hegels metaphysischem Genie vereinigten sich noch einmal beide Bereiche, der des Ewigen, Zeitlosen, und der des Zeitlich-Geschichtlichen zu einem großen Reiche des konkreten Begriffs, Er verband zum letzten Male das Gesamtsystem mit der Weltgeschichte. Ranke entschied sich, wie wir sahen, für die Universalgeschichte gegen die Spekulation und führte so die historische Wissenl)
Vgl. S. W. Bd. 53/54, S. 162. ») Vgl. S. W. Bd. 53/54, S. 162. 8) Vgl. S. W. Bd. 53/54, S. 163, und Oncken, a. a. O., S. l o f f .
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schaft zum Siege. Leise klingt in seinen Worten über die Spekulation jene moquante Ansicht Michelets von der Metaphysik, als der Kunst „de s'égarer avec méthode", schon vor. Die Spekulation, das war für Ranke der Weg in die Welt des Scheines, welche der Welt des Wesens gegenüberstand, und die zuletzt ins Bodenlose führte 1 ). Keineswegs war dies Wissenschaftspositivismus, denn nur seine Religiosität war es, die ihn gegen die entnervenden Konsequenzen der Wertanarchie gepanzert hielt. Hier eröffnet sich ein Ausblick auf das tragische Bemühen W. Diltheys und Ernst Troeltschs, das zerfallende Reich des Geistes, Weltgeschichte und Gesamtsystem von neuem zusammen zu binden. Ranke aber blieb sich stets getreu „die unbekannte Weltgeschichte"2) nur auf seinem Wege, seinem eigenen Genius gehorsam, entdecken zu wollen. Und dieser Weg führte ihn vom Besonderen zum Allgemeinen, von der Partikulargeschichte zur Weltgeschichte. Jedes seiner Werke ist, so betrachtet, ein Markstein in seinem weltgeschichtlichen Denken. H. Onckens lichtvolle Studie hat uns über den Umfang der Pläne unterrichtet, die Ranke zu jener Zeit während seiner Wanderjahre konzipiert hatte. An dem Torso hat er Rankes großartige Intention einer allgemeinen Geschichte des südeuropäischen Staatensystemes überzeugend demonstrieren können. Ranke erwog zu jener Zeit eine Geschichte des inneren Daseins der italienischen Nation während der Renaissance8). Aber es war kein Zufall, daß er über Fragmente in diesem Unterfangen nicht hinausgelangte und es seinem größten Schüler, J. Burckhardt, überlassen mußte, diesen Gegenstand zu vollenden. Ranke wollte es nicht wagen, das Werden zu beschreiben, den Quellen des geistigen Lebens und den geheimen Zuflüssen seines Stromes, den Lauf desselben entlang nachzuforschen4). Getreu seiner eigensten Anlage blieb er dabei, das Werden von Ereignis zu Ereignis fortschreitend zu beschreiben. Immer stieß er auf den Punkt, wo die Entwicklung „nicht mehr national, sondern ganz universell" wurde8). Dahin zog es ihn unwiderstehlich. Fast ganz ohne sein Zutun setzte sich ihm so eine Geschichte der wichtigsten Momente der neueren Zeit zusammen6). Das Werk, das ihm schließlich aus diesen Studien 1) •) >) «) ») •)
Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.
S. S. S. S. S. S.
W. W. W. W. W. W.
Bd. Bd. Bd. Bd. Bd. Bd.
53/54. 53/54. 53/54. 51/52, 53/54. 53/54.
S. S. S. S. S. S.
570. 195. 234. 159. 234. 233-
Die Entwicklung des universalhistorischen Gedankens
erwuchs, die Geschichte der Päpste, zeigte ihn auf der vollen Höhe der universalhistorischen Problematik. Er war auf das schwierige Verhä ltnis, indem die besondere Entwicklung zu der allgemeinen welthistorischen Bewegimg steht, gestoßen. Er sah das besondere Leben sich nach eingepflanten Gesetzen, aus seinem eigentümlichen, geistigen Grunde, sich selber gleich, durch die Zeit fortbewegen, und sah auf der anderen Seite die mächtigen Einwirkungen, die jede partikulare Entwicklung von den weltgeschichtlichen Strömungen empfing. Der notwendige, allumfassende Zusammenhang in der Aufeinanderfolge der Zeitalter schien ihm alles zu umfangen und zu beherrschen. „Zuweilen geschieht es aber nun auch in dem Wechsel der Zeitalter, daß eine oder die andere Macht die Weltbewegung anregt, ein Prinzip derselben vorzugsweise in sich darstellt." Von ihrer Geschichte, die dann mit allen Kräften der Welt in einer lebendigen Beziehung steht, kann man sagen, daß sie sich zur Universalgeschichte erweitert1). Von der Ergründimg des großen weltgeschichtlichen Zusammenhanges aus dem Reichtum der Individualitäten war der junge Ranke ausgegangen. Unausbleiblich mußte er auf die Grundantinomie universalhistorischen Verstehens stoßen, wie das heilige Recht des Besonderen zusammen bestehen konnte mit dem großen Gange der Begebenheiten. Hier gab er seine Antwort auf diese Frage. Nur diejenigen Partikulargeschichten wollte er erforschen, die sich zur Weltgeschichte erweitern. Dieser Unterscheidung hegt schon ein Wertmaßstab zugrunde, der das nur Besondere zu trennen weiß von dem welthistorisch Wichtigen. Aber nur das Prinzip des Maßstabes blitzt hier einmal auf. Er selbst bleibt unbezeichnet und unbenannt. Schließlich war darüber zu reflektieren, auch nicht Sache des Historikers. Ihm mochte es genügen, den Weg der welthistorischen Induktion beschreiten zu können. Und so ergriff er, wie die Geschichte der Päpste, so auch die der Nationen in den Epochen, in denen sie sich seinem Auge zur Weltgeschichte zu erweitern schienen. Obschon seine Geschichte des Papsttums vorzüglich das 16. und 17. Jahrhundert darstellte, zeichnete er den Werdegang der Institution in einer universalhistorischen Umfassung. Er zeigte, wie auf dem Boden des römischen Imperiums2) die nationalen, gleichsam lokalisierten Ideen von den göttlichen Dingen, die die antike Staatenwelt beherrscht hatten, untergehen mußten. ') Vgl. Gesch. der Päpste, Bd. II, S. 38. ») Vgl. Gesch. der Päpste Bd. I, Einleitung, S. 3 f f .
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Damals zuerst fing das Menschengeschlecht an, seiner Gemeinschaftlichkeit inne zu werden. Dies war der welthistorische Moment, den die Verkündigung der erhabenen Lehre eines allgemeinen Gottes zu ihrer Voraussetzung hatte. Das Christentum regenerierte die abgestorbene, alte Welt, indem der Mensch nun in seinem Glauben ein geistiges Element besaß, in dem er selbständig, frei und persönlich unüberwindlich wurde. Das Christentum zersetzte die römische Staatsreligion, gab Gott, was Gottes ist und dem Kaiser, was des Kaisers ist. In dieser Trennving der Kirche vom Staat sah Ranke die „vielleicht größte, am durchgreifendsten wirksame Eigentümlichkeit der christlichen Zeit 1 )". Ihr Verhältnis, ihre gegenseitige Stellung zueinander ist ihm stets eines der wichtigsten Momente aller Geschichte geblieben. Bei der Erforschung der Wirkungen der päpstlichen Hierarchie fühlte er sich besonders versucht, den Plänen der göttlichen Weltregierung, den Momenten der Erziehung des Menschengeschlechtes, nachzuforschen. Auf dem geistlich-weltlichen Staat, welchen sie im Mittelalter begründete, beruht die enge Verbindung romanischer und germanischer Elemente im Abendlande, „jene Gemeinschaftlichkeit der modernen Welt, welche immer als eine Hauptgrundlage der gesamten Ausbildung derselben in Staat, Kirche, Sitte, Leben und Literatm- betrachtet worden ist2). In dem Rahmen dieser die Weltgeschichte umspannenden Gedanken stellt Ranke die eigentümlichen Bedingungen dar, auf denen die Institution des Papsttums fußte. Er schildert den Gegensatz einer weltlichen, lokalbeschränkten Grundlage und einer geistiggeistlichen, über die Nationen verbreiteten Organisation mit universalistischen Ambitionen8). Auf den Gestalten der Päpste selber, wie sie Ranke dargestellt hat, ruht vielleicht am stärksten der Widerschein der Epochen, von denen Ranke handelte. Ihre Charakteristiken muten uns an, wie die Portraits der großen höfischen Maler der beginnenden Gegenreformation. Aber dies sinnliche Element ist nichts weniger als eine pittoreske Zutat, die der Dynamik des Ganzen zuwiderliefe. Vielmehr könnte man schon in diesem Werke von einem Primat der allgemeinen Ideen und Tendenzen sprechen. Denn „es sind immer Kräfte des lebendigen Geistes, welche die Welt so von Grund auf bewegen. Unableitbar in ihrem Wesen, erheben sie sich zuihrerZeit „vorbereitet >) Vgl. Gesch. der Päpste Bd. I, S. 8, und M. Ritter, Die Entwicklung der Geschichtswissenschaft, S. 370. •) Vgl. Gesch. der Päpste Bd. I, S. 22/23. ') Vgl. Die instruktive Studie B. Schmeidlers zur Entw. der Geschichtsschreibung Rankes. Schmollers Jahrb. 1903, S. 133.
Die Entwicklung des universalhistorischen Gedankens
durch die vorangegangenen Jahrhunderte durch starke und innerlich mächtige Naturen aus den unerforschten Tiefen des menschlichen Geistes1)." Das Moment der Individualität wurde hier verbunden mit dem der allgemeinen Bewegimg. Denn in der großartigen Persönlichkeit kumulieren die Ideen und Tendenzen. Auch für Ranke sind die großen Energien die Geschäftsträger des Weltgeistes. Aber nicht dies allein, sondern sie gehören, wie es Ranke später formuliert hat, auf der anderen Seite auch einer moralischen Weltordnung an, durch die sie frei und persönlich unabhängig sind. Diese allgemeinen Potenzen Rankes sind Humboldts Ideen verwandt, aber auch den Prinzipien Hegels. Nur erscheinen sie Ranke vor allem als Lebenskräfte, die nicht unter Abstraktionen zu bringen oder zu definieren sind, von deren Dasein man sich aber wohl eine Anschauung und ein Mitgefühl verschaffen kann. Man darf jedoch nicht glauben, daß diese historische Ideenlehre das letzte Wort war, das Ranke über die allgemeine Bewegung in der Weltgeschichte zu sagen hatte. Seine Ideenlehre stellt unter unserm Aspekt diejenige Stufe der universalhistorischen Erkenntnis dar, auf der er den Zugang zur Weltgeschichte noch zu gewinnen suchte in der Erforschung großer, einzelner Träger der welthistorischen Bewegimg. Und so wollen die berühmten Schlußworte der großen Mächte von den Ideen verstanden werden, wo Ranke sagt, daß „in ihrer Wechselwirkung und Aufeinanderfolge, in ihrem Leben, ihrem Vergehen oder ihrer Wiederbelebung, die dann immer größere Fülle, höhere Bedeutimg, weiteren Umfang in sich schließt, das Geheimnis der Weltgeschichte" liegt2). So wächst die Nähe zu der Problematik der Weltgeschichte von Stufe zu Stufe. Auch hier wird die Weltgeschichte noch ein Geheimnis genannt, wie sie früher heilige Hieroglyphe, Mär der Weltgeschichte !) Vgl. Gesch. der Päpste Bd II, S. 240. Vgl. Ober Rankes Ideenlehre R. Fester, Humboldts und Rankes Ideenlehre, Hist. Viertelj.-Schiift Bd. VI, und Lorenz, a. a. O. Bd. II, S. 51 ff. Ich möchte entgegen der von Fester geäußerten Ansicht, daß Ranke die Humboldtsche Akademie-Rede erst bei dem Erscheinen von W. v. Humboldts Werken im Jahre 1841 kennen gelernt hat, doch vermuten, daß sie Ranke schon vorher gelesen hat. Wenn ihm auch in Frankfurt a. O. die Berliner Akademiedrucke kaum zugänglich gewesen sein werden, so wird man annehmen dflrfen, daß sie ihm von A. v. Humboldt übermittelt worden ist. Der Nachweis läßt sich freilich aus dem mir bekannten Material nicht fahren; aber es ist bei der nicht geringen Intimität Rankes und A. v. Humboldts, die aus den von Oncken mitgeteilten Briefen erkennbar ist, doch wahrscheinlich. >) Vgl. S. W. Bd. 24: Die großen Mächte, S. 40.
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oder die unbekannte Weltgeschichte hieß. Aber schon ist die Freude an der Fülle, der Buntheit, der Vielfältigkeit und dem Reichtum der historischen Erscheinungen nicht mehr allein der Schlüssel, die geheimnisvolle Pforte zu entriegeln. Stärker und stärker zieht es Ranke zu der Erkenntnis der großen allgemeinen Potenzen der Weltgeschichte. Das Verhältnis der geistlichen Macht zu den weltlichen Gewalten war ihm während seiner Beschäftigung mit dem Papsttum nahe getreten. In ihrer Trennung von einander sah er eine der durchgreifendsten Eigentümlichkeiten der christlichen Welt. In jener Zeit drängt es ihn dazu, diese historische Trennung auch aus dem Wesen der Idee zu rechtfertigen. Diese Klärung bedeutete für Ranke doch mehr als eine rein theoretische Angelegenheit. Die stärksten Kräfte seiner Seele, seine Religiosität und seine geschichtliche Kontemplation, die ihr Objekt weitaus am meisten an dem Leben und Werden der Staaten gefunden hatte 1 ), hatten, so sahen wir, ein Bündnis geschlossen, bei dem beide, sich einander fördernd, bestehen konnten. Nun mußte Ranke die Machtansprüche dieser großen Potenzen außerhalb seiner Seele, wie sie sie in ihrem konkreten Sein vertraten, zu schlichten suchen. Der Ausdruck dieser Gedanken ist das politische Gespräch, die fünffach geläuterte Essenz seiner Anschauung über den Staat 2 ). Zwischen den Gedanken des politischen Gespräches und dem persönlichen Ausgleich, den sich Ranke errungen hatte, ist vielleicht kein Unterschied, wenn wir die verschiedenen Ebenen bedenken, in denen sich die Auseinandersetzung jedesmal vollzieht. Das geistige Leben in seiner Tiefe und Energie allerdings ein und dasselbe, äußert sich in den beiden Institutionen des Staates und der Kirche 8 ). Wie die Religiosität die unerschütterliche Grundlage seines geistigen Seins geblieben war, so sagt er hier von der Kirche, sie sei ihrer Idee nach eine und notwendig universell. Aber positiver Weise „hat ') Vgl. Die Einleitung von Dove zu Bd. 49, 50, S. W. Hier spricht Dove, S. IX, geradezu von dem seiner Seele lebendig eingeborenen Staatsgefühl. *) Vgl. An dieser Stelle soll von Rankes Staatsanschauung nicht die Rede sein, sondern von seiner Ansicht des Staates als Potenz der Weltgeschichte. Rankes Staatsanschauung darf durch die Schriften von Dove, Lenz und Meinecke als geklärt betrachtet werden. Auch wird oben nicht der Versuch gemacht, das politische Gespräch in seinem ganzen geistigen Gehalte darzustellen (vgl. Meineckes Einleitung zu dem Politischen Gespräch, 1924). ") Vgl. Ref.-Gesch. Bd. I. S. 4, und M. Ritter, a. a. O., S. 381.
Die Entwicklung des universalhistorischen Gedankens
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sie keinen Einfluß auf menschliche Dinge". „Die Idee des Staates würde vernichtet werden, wenn sie die Welt umfassen wollte 1 )." Der Geist des Staates ist zwar göttlicher Anhauch, aber menschlicher Antrieb. Darum sind die Staaten viele, gesonderte, irdischgeistige Gemeinschaften, von Genius und moralischer Energie hervorgerufen. . . , mitten in der Verwirrung der Welt, durch inneren Trieb nach dem Ideal fortschreitend, eine jede auf ihre Weise". „Individualitäten, eine der anderen analog, aber wesentlich unabhängig voneinander..., geistige Wesenheiten, originale Schöpfungen des Menschengeistes, man darf sagen, Gedanken Gottes." Schaue sie an, so ruft er begeistert aus, diese Gestirne in ihren Bahnen, ihrer Wechselwirkung, ihren Systemen. Die Hierokratie, auf die die von den Romantikern ersehnte Einheit von Staat und Kirche zuletzt hinauslief, wurde von Ranke so ausdrücklich verworfen. Aber ebensowenig konnte er Hegels Zertrümmerung der Katholizität des Kirchenbegriffes zustimmen, der die Allgemeinheit des Gedankens in den Staat setzte und dem daher die Vielzahl der Kirchen „als das glücklichste" erschien*). Ranke nahm die Vielheit der Staaten, die die Geschichte ihm zeigte, hin, aber er hielt fest an dem Ideal einer, dereinst „aus dem Meer des Irrtums" aufsteigenden, katholischen Kirche. In der Reformationsgeschichte nahm Ranke diese Gedankenreihen noch einmal auf. Er wies den Absolutismus der Kirche wie den des Staates zurück. Er forderte, daß die religiöse Wahrheit eine lebendige Repräsentation erhalte, um den Staat in fortwährender Erinnerung an den Ursprung und das Ziel des irdischen Lebens zu erhalten. Zugleich aber postulierte er die Freiheit der nationalen Entwicklung, um die Kirche vor der dumpfen Wiederholung unbegriffener Lehren und Dienste zu bewahren, welche die Seele töten8). Hier eröffnet sich uns ein Durchblick durch Rankes Ansicht von der Struktur des Weltgeschehens. Es konnte nicht anders sein, als daß die beiden Mächte, die in seiner Seele den größten Raum inne hatten, auch der weltgeschichtlichen Betrachtung als die weitaus mächtigsten erschienen. Darum tritt neben der Darstellung der politischen Mächte und der religiösen Ideen die Anteilnahme an den Produktionen der gesellschaftlichen, wissenschaftlichen und künstlerischen Kultur zurück. Zwei gleichsam typische Richtungen schien Ranke in ihrem Zusammenwirken in der Weltgeschichte vor allem erkennen zu können. Die eine ist ») Vgl. S W Bd. 49/50, S. 338 und 339. «) Vgl. F. Rosenzweig, a. a. O. Bd. II, S. 187. s ) Vgl. Deutsch. Gesch. i. Zeitalter der Ref. Bd. I,S.
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die Bewegung nach der Idee, dem göttlichen Ideal, die andere die auf Erhaltung und Fortführung des realen Daseins gerichtete Tendenz. Aber, da Ranke es weit von sich weist, in den Kämpfen historischer Mächte nur das Wirken brutaler Kräfte zu suchen, und in der Macht einen eigentümlichen Genius in Erscheinung treten sieht, so führt auch jene zweite Tendenz vom Irdischen zurück zu Gott1). In seinem gesamten Werk begegnen wir der Aufmerksamkeit auf diese beiden typischen Richtungen des menschlichen Geistes2). Daß Ranke in der Reformationsgeschichte zuerst so nachdrücklich auf diese beiden Tendenzen des geschichtlichen Lebens hinwies, war freilich in seinem Gegenstande selbst begründet. Denn es gab ja in der deutschen Geschichte des Reformationszeitalters keinen Staat, an den sich die Geschichtsschreibung als Zentralorganismus hätte anschließen können. Vielmehr mußte Ranke das Streben der Nation nach einer Ordnung und Verfassung und die religiöse Erneuerung zusammenwirkend, aber in der Wurzel getrennt, darstellen8). Es ist für Rankes auf Kontinuität der Kultur gerichteten Geist höchst kennzeichnend, daß er die Summe der religiösen Bewegimg nicht so sehr in dem protestantischen als in dem reformatorischen Elemente erblicken wollte. Er sah sie darin, daß der in die Tiefe des germanischen Wesens eingesenkte Geist des Christentums allmählich zu dem Bewußtsein seines von allen zufälligen Formen unabhängigen Selbst gereift, sich nach seinem Ursprünge zurückwandte zu jenen Urkunden, in welchen sich der ewige Bund der Gottheit mit dem menschlichen Geschlecht unvermittelt ausgesprochen hat4). Auch die Geschichte seiner eigenen Nation ergriff Ranke nur in dem Abschnitt ihres Werdens, in dem sie sich gleichsam zur Universalgeschichte erweiterte. Der Protestant glaubte in der Geschichte der Reformation „den Akt des deutschen Geistes zum Bewußtsein gebracht zu haben, durch welchen die Nation ihre innerste Einheit am meisten dokumentiert hatte 6 )". Sie war für ihn die eigentümlichste welthistorische Leistung der Nation. Ranke hat es an einer anderen Stelle des Geschichtsverlaufes noch einmal betont, daß unter Menschen, die der Vergangenheit kundig sind, nicht die Rede davon sein dürfte, ob der Protestantis») *) s ) *) ')
Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.
Epochen, a. a. O.. S. IV. Schmeidler, a. a. O., S. 135. Schmeidler, a. a. O., S. 134. Ref.-Gesch. Bd. II, S. 10. S. W. Bd. 53/54. S. 53-
Die Entwicklung des univerealhistoriachen Gedankens
mus in der Welt sein solle oder nicht1). Dabei sah Ranke in der religiösen Erneuerung die welthistorische Wirkung des Protestantismus keineswegs erschöpft. Er war nicht Romantiker genug, um den Zusammenbruch der hierarchischen Formen bedauern zu können. Die Einheit der europäischen Christenheit beruhte, wie wir wissen, für ihn nicht ausschließend auf dem gleichen religiösen Bekenntnis. Er sah die einheitliche Entwicklung der europäischen Kultur und Macht an die Stelle der kirchlichen Einheit treten und fand, daß jene gewann, was diese verloren hatte1). Die Kultur hatte also die große Erbschaft der Erziehungsarbeit der Hierarchie angetreten, und in der Gemeinschaft der europäischen Völker hatte der menschliche Geist eine sichere Grundlage für diese Kultur gewonnen. Diese Gemeinschaft der europäischen Nationen fand einen neuen Ausdruck in der Begründung des europäischen Staatensystems. Neben dem Protestantismus und der nicht mehr durch die Form der Kirche gefesselten Kultur war es dies Element, dem Rankes Anteilnahme vor allem galt. Ranke hat die Geschichte seiner Bildung, seiner Kämpfe, seines unauflöslichen inneren Zusammenhanges zuerst in der berühmten Skizze der großen Mächte umrissen, bevor er sie in den großen Nationalstaatsgeschichten, der englischen, der französischen und der preußischen, noch einmal von Grund aus aufbaute. In jener, wie man sagen darf, „Weltgeschichte im Umriß" weht die schneidende Luft der neueren Geschichte. Der ganze Reichtum der drei späteren Werke ist in ihr präformiert8). Ohne uns vermessen zu wollen, den Gehalt dieser herrlichen Werke auf wenige Formeln reduzieren zu können, wird man in •der französischen und preußischen Geschichte vor allem die Entwickung des absoluten Staates, wie er sich auf Grund der vorangegangenen Geschichte, der nationalen Besonderheiten, der universalen Lage und dem Verhältnis zu den religiösen Mächten entwickeln und herausbilden konnte, bemerken4). In der englischen Geschichte ist das Interesse auf die Entwicklung des, in revolutionärer Form, herausbrechenden Selbständigkeitsgefühles der germanischen Stämme gerichtet: Jenes Bewußtsein der autonomen Persönlichkeit, das niemals gänzlich erloschen, in heftigem Konflikt mit dem absoluten Königtum neu erwachte, dann zur M Fr. Gesch. Bd. I, S. 104. ') Vgl. Ref.-Gesch. Bd. V, S. 311, und Epochen, a.a.O., S. 142. *) Vgl. Die großen Mächte, neu herausgegeb. von F. Meinecke, Leipzig, und M. Lenz, Die großen Mächte. *) Vgl. M. Ritter, a. a. O., S. 406 ff.
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absoluten Herrschaft gelangte, um endlich, nach vielen Irrungen, seinen Frieden mit dem besiegten Königtum zu machen, aber in dem Parlament eine von nun an nicht mehr erschütterte Repräsentation seiner Herrschaft erhielt. In der Ausbildung dieser Potenzen sah Ranke die welthistorische Leistimg der großen Nationen. „Es sind die Gegensätze, die in den germanisch-romanischen Staaten einander ewig widerstreben. Von dem Begriff der erblichen Monarchie und der absoluten Gewalt des Staatesaus würde man zu allgemeiner Knechtschaft, von dem Begriff des ständischen Wesens und der individuellen Freiheit aus zur Republik oder Wahlmonarchie kommen. Nur in der Gegenwirkung beider Prinzipien und ihrer gegenseitigen Einschränkung bestehen unsere Staaten" 1 ). Nehmen * wir dazu jenen Gegensatz der Kirche und des Staates, dessen Natur wir kennen, so haben wir in diesen drei Elementen die wichtigsten Fundamente, auf denen nach Rankes Ansicht das europäische Leben beruhte. „Auf diesem Widerstreit der geistlichen und der politischen,, der monarchischen und der ständischen Tendenzen und der Wechselwirkung unabhängiger Nationalitäten innerhalb einer alles umfassenden, doch nie abgeschlossenen, mehr idealen als repräsentierten Einheit beruht das eigentümliche Leben des Abendlandes, die Kontinuität seiner Bildung, sein Übergewicht in der Welt." Zu dieser Gemeinschaft hatte Ranke das Zutrauen, daß sie jedem einseitigen Drucke, jeder gewaltsamen Richtung widerstehen könnte. Auch dieses allzu optimistische Vertrauen, zu dem sich nach dem letzten Jahrzehnt europäischer Geschichte schwerlich jemand bekennen wird, ist eine Frucht des Restaurationszeitalters und zugleich jenes, zur Harmonisierung ein wenig zu bereiten, deutschen Idealismus. Auch diese Werke haben den weitesten universalhistorischen Horizont. Die Geschichten der Nationen werden aus der Tiefe des weltgeschichtlichen Verlaufs heraufgeführt. Die preußische Geschichte führt zurück bis zu den Kolonisationsversuchen der deutschen Stämme auf der östlichen Grenze des Reiches. Sie knüpft ihre Betrachtungen an die Erhaltung und den Fortschritt der alten okzidentalischen Kultur gegenüber den barbarischen, slawischen Stämmen. Hierin findet sie den welthistorischen Sinn der ostelbischen Siedelungen2). Auch in der französischen und der englischen Geschichte begegnen wir analogen Gesichtspunkten. Die Entstehung der beiden großen Nationalitäten wird bis an ») Vgl. Fr. Gesch. Bd. I. S. 64. •) Vgl. Pr. Gesch Bd. I. S. III ff.
Die Entwicklung des universalhistorischen Gedankens
ihren Quell, die Umfassung durch das römische Imperium, zurückverfolgt1). Während Ranke die französische Geschichte an die Feldzüge Julius Casars anknüpft und ihm, als dem Propagator menschlicher Kultur den höchsten Ruhm zuspricht, den die Geschichte verleihen kann, nimmt er in-der englischen Geschichte den uralten Gedanken der „translatio imperi" auf. „Die größte von allen Begebenheiten, die in der nachweisbaren Geschichte überhaupt vorgekommen, dürfte es sein, daß die Sitze der vorwaltenden Macht und Bildung nach den westlichen Ländern und an die Gestade des Atlantischen Ozeans verpflanzt worden sind." In allen diesen Perspektiven ist die tiefe Durchdrungenheit von der Wirkung der Humanitätsidee, der Glaube an einen allgemeinen Geist des menschlichen Geschlechts, der in seiner staatenbildenden, Ideen hervorbringenden, die Natur beherrschenden Tätigkeit unverkennbar das Antlitz des europäischen Genius trägt, die latente, das ganze Bemühen der Forschung tragende Voraussetzung2). Ranke lebte in dem vollen Bewußtsein des eigentümlichen Charakters der von ihm geschaffenen universalen Art der Geschichtsschreibung. Er gründete jene universalhistorische Auslese, die innere Regel seiner Werke, auf seine Absicht, von dem doppelten Berufe der Staaten und Völker nur den welthistorischen ergreifen und darstellen zu wollen. Nur inwiefern die Nation „ein wesentliches Moment in der allgemeinen Entwicklung der Menschheit bildet oder in dieselbe beherrschend eingreift", erweckte sie Rankes über die Schranken der Nationalität hinausreichende Wißbegierde3). So sah er sich immer wieder zu der Weltgeschichte selbst zurückgeführt. Immer mehr befestigte sich in ihm die Meinung, „daß zuletzt doch nichts weiter geschrieben werden kann, als die Universalgeschichte4)". Er sah, daß in seinen Studien eine geheime Tendenz waltete, diese hervorzubringen. Wieder und wieder bricht der die Weltgeschichte umfassende Geist in ihm hervor, der sich entzückte über die Erhabenheit, innere Konsequenz der Entwicklung und, wenn wir so sagen dürfen, der Wege Gottes6). Ranke hat wiederholt Vorlesungen gehalten, die die Weltgeschichte ») Vgl. Fr. Gesch. Bd. I, S. 3, und Engl. Gesch. Bd. I, S. 3. Vgl. M. Ritter, a. a. O., S. 62, aber auch Rankes eigene Bedenken gegen eine dogmatische Anwendung eines solchen geographischen Entwicklungsgesetzes. Epochen, S. 16. ») Vgl. Engl. Gesch. Bd. I, S. 4. a ) Vgl. Fr. Gesch. Bd. I, S. Vif. «) Vgl. S. W. Bd. 53/54. S. 270. ') Vgl. S W. Bd. 53/54. S. 273.
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zu ihrem Gegenstande hatten. Aus ihnen können wir erkennen, welche Richtung seine Gedanken über die Universalgeschichte genommen hatten. Vor allem war es Ranke darum zu tun, die Sonderstellung der Universalgeschichte gegenüber der Philosophie der Geschichte, wie gegenüber einer spezialisierten Forschung ins rechte Licht zu setzen. Doch blieb ihm die letztere der Ausgang, wie jeder historischen, so auch der weltgeschichtlichen Erkenntnis1). Aus den dreißiger Jahren rührt eine Aufzeichnung her, die sich vor allem mit jener unreifen Philosophie (der Fichteschen) auseinandersetzt, die aus zweifelhaften Gedanken, von dem was sein müsse, auf das, was ist, zu schließen pflege. Der Universalhistoriker wird es sich demgegenüber nicht ausdenken, wie der Philosoph, noch das Allgemeine in einem ununterbrochenen Fortschritt, in einer steten Ausbildung zur Vollkommenheit oder in einem allgemeinen Moralgesetz, das das Aggregat von Tatsachen zusammenhalten könnte, suchen wollen. Er wird sich dem schlichten Befunde nicht verschließen können, „daß die Völker der Welt von Anfang bis auf den heutigen Tag in dem allerverschiedensten Zustande gewesen sind." Dem Universalhistoriker wird sich das Allgemeine auf induktivem Wege erschließen, während der Betrachtung des Einzelnen wird sich ihm der Gang offenbaren, den die Entwicklung der Welt im großen genommen hat. Was aber ist nun dies Allgemeine in Rankes Augen ? Es ist der Konnex der Nationen untereinander*). Denn „es ist auf der Erde kein Volk, das ohne Berührung mit anderen geblieben wäre". Aber dieser Konnex, die Berühung aller mit allen, reicht noch nicht hin zur Konstituierung des weltgeschichtlichen Zusammenhanges. „Nun sind einige Völker vor den anderen auf dem Erdboden mit Macht ausgerüstet gewesen Von diesen also werden vornehmlich die Umwandlungen herrühren, welche die Welt zum Guten und Bösen erfahren hat." Unendlich falsch wäre es, so belehrt uns Ranke, in dem Wirken der Macht nur brutale Kräfte sehen zu wollen. Ein ursprünglicher Genius erscheint in ihr3). Als einen Grundgedanken des Universalhistorikers Ranke dürfen wir an dieser Stelle festhalten, daß die Weltgeschichtsschreibung von dem festen Boden der nationalen Geschichte ausgehen müsse.
l ) Die folgenden Ausführungen gründen sich nur auf die von Dove vorgelegten Auszüge aus Rankes Vorlesungen. Sie sind einer durch die Veröffentlichung des Rankeschen Nachlasses nötig werdenden Korrektur gewärtig. ») Vgl. Epochen, a . a . O . , S. 2ff. ') Vgl. Epochen, a. a. O., S. 4.
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Spätere Äußerungen Rankes zeigen ihn in bewegter Auseinandersetzung mit Hegels Philosophie der Geschichte begriffen. Man durfte ohne weiteres annehmen, daß Ranke in der Bewältigung des Problemes der Weltgeschichte an einem Punkte auf Hegel treffen mußte. Ranke billigte Hegels „großartiges, ja gigantisches Unternehmen", durch die stete Richtung des Blickes auf das Ganze der Weltgeschichte, den Geist aus der Trauer über die Vergänglichkeit der irdischen Dinge zu erheben1). Er billigte, so werden wir sagen dürfen, den Gedanken einer Sinngebung des gesamten Verlaufes der Weltgeschichte. Aber er wollte als deren Grundlage nicht „die Meinung einer bedeutenden, aber keineswegs allgemein gültigen Philosophie" anerkennen. Durch den Weg, welchen Niebuhr einschlug, und die Tendenz, welche Hegel vorschwebte, lasse sich, so meinte er, allein zur Erfüllung des universalhistorischen Zweckes gelangen. Diese Zielsetzung, Hegels Tendenz und Niebuhrs Methode zu verbinden, erinnert sie nicht an den Ruf Friedrich Schlegels nach dem Gesetzgeber der Geschichte, der das Einzelne wie das Ganze ergründen könnte ? Was damals Programm gewesen, trachtete Ranke zu verwirklichen. Aber er wußte, daß die Forderungen einer Philosophie der Geschichte nicht nur unabweislich, natürlich-menschlich, sondern auch erhaben und schwer war*). „Wer die inneren Fäden des Getriebes der Menschheit, diesen in ihr selber sich entwickelnden und zum Vorschein kommenden Geist zu erkennen vermöchte, würde einen Teil der göttlichen Wissenschaft besitzen. Allein ist das so geschwind möglich ? Aus der Tiefe der eingehendsten Kenntnisse allein ist es möglich, seine geheimen Spuren zu entnehmen." Eingedenk der Unvollkommenheit der Überlieferung wollte Ranke die höchsten Ergebnisse nur ahnen lassen. Der apriorischen Konstruktion der Weltgeschichte tritt der religiöse Historiker entgegen, der sich divinatorisch zu den Absichten der Vorsehung erheben will. Kontemplativ verhielt sich dieser, wie jener, zur Weltgeschichte. Auch Ranke, der nur die geistige Ader der Dinge verfolgen wollte, hatte den Bereich der Empirie schon überschritten. Aber seine Anschauungen vom Wesen des Geistes waren nicht so begriffsmäßiger Natur, wie die Hegels, und wir wissen, wie unerträglich ihm die Verkümmerung des individuellen Daseins in dessen pantheistischer Philosophie dünkte. Neben der Notwendigkeit, welche in dem bereits Gebildeten liegt, rettete
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) Vgl. Epochen, S. 5 ff. •) Vgl. S. W. 53/54. S. 570.
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Ranke die Freiheit und die ursprüngliche Kraft. Die Freiheit aber umfaßt die Zukunft1). So reifte unter unaufhörlichem Schaffen Rankes Anschauung der Weltgeschichte. Immer blieb er seinem ursprünglichen Bestreben getreu, in dem Zusammenhang der großen Geschichte Gott suchen zu wollen. Sein tiefes und wiederholtes Nachdenken aber verwandelte den unbestimmten Wunsch des Jünglings in eine klare und geläuterte Anschauung. Als er 1854 dem König Max seine berühmten Vorträge über die Epochen der neueren Geschichte hielt, legte er ihm seine welthistorischen Gedanken so dar, wie wir ihnen unverändert noch in der Weltgeschichte begegnen. Die Epochen sind ein Extrakt von Rankes universalhistorischen Gedankengängen, der alle Grundbegriffe seines welthistorischen Denkens schon enthält. Seine Anschauung von den leitenden Ideen und Tendenzen, seine Ansicht von der universalgeschichtlichen Entwicklung, als einer in der Urzeit gegründeten Bewegung, die sich mit einer gewissen Stetigkeit fortsetzt, endlich auch seine geheimsten Gedanken von der Unmittelbarkeit der historischen Erscheinungen zu Gott. Dennoch darf man an diese Rhapsodie der Universalgeschichte nicht die Ansprüche der Vollständigkeit stellen. Aber als der uralte Ranke nach mehr als zwei Jahrzehnten die Fäden, die er damals hatte fallen lassen, wieder aufnahm, brauchte er nur das einstmals Gesagte allseitig zu erweitern und in die Ferne der Welthistorie auszudehnen. Ranke hatte inzwischen die englische Geschichte vollendet und in einer Reihe kleinerer monographischer Arbeiten sein Werk über die gesamte neuere Geschichte ausgedehnt. Und je älter er wurde, desto strenger blieb sein Blick auf das Allgemeine, auf die Entwicklung der großen Ideen und Tendenzen geheftet2). Unaufhörlich sehen wir ihn in jenen Jahren über das Verhältnis von Freiheit und Notwendigkeit reflektieren. „Wie viel gewaltiger, tiefer, umfassender ist das allgemeine Leben, das die Jahrhunderte in ununterbrochener Strömimg erfüllt, als das Persönliche, dem nur eine Spanne Zeit gegönnt ist, das nur da zu sein scheint, um zu beginnen, nicht um zu vollenden." „Bedeutende Erfolge werden nur unter Mitwirkung >) Vgl. Epochen, S. 6. Vgl. auch Onken: Zur inneren Entwicklung Rankes, Festgabe f. Gothein. 1925, S. 200 ff. Die von O. erwähnte Dissertation Simons : Ranke und Hegel war mir leider noch nicht zugänglich. S. auch S 1 1 2 u. S. 128. f ) Vgl. von Sybel, Gedächtnisrede für L. v. Ranke, Vorträge und Abhandig., S. 290/308, 1897. Sybel hat unseres Wissens zuerst auf diese Entwicklung der Rankeschen Historiographie hingewiesen.
D i e E n t w i c k h i n g des universalhistorischen G e d a n k e n s
der homogenen Weltelemente erzielt. Ein jeder erscheint beinahe nur als der Ausdruck einer auch außer ihm vorhandenen, allgemeinen Tendenz." Stand früher vor seinem geistigen Auge neben den allgemeinen Bewegungen das unabsehbar bunte, reiche Leben der Individualitäten, so tritt jetzt neben dem großen Gang der Geschicke, die sich notwendig vollziehen, allein die Freiheit der moralischen Person hervor. „Aber von der anderen Seite gehören die Personen doch auch wieder einer moralischen Weltordnung an, in der sie ganz ihr eigen sind. Sie haben ein selbständiges Leben von originaler Kraft. Die Begebenheiten entwickeln sich in dem Zusammentreffen der individuellen Kraft mit den objektiven Weltverhältnissen. Die Erfolge sind das Maß ihrer Macht1)." Niemand, der den „bedächtigen Tiefsinn" dieser Bemerkungen vernimmt, wird behaupten wollen: Ranke hätte in ihnen den Anteil der Heroen an der Fortführung der Weltgeschichte unterschätzt. Und dennoch besteht ein Unterschied zwischen der Anschauung des Jünglings und der des Greises, der sich erst dem die historiographische Praxis vergleichenden Blicke offenbart. Denn in ihr kommt nun mehr der Strom, der die Dinge fortreißt, als die Dinge selbst zur Erscheinung. Und indem sich Ranke so immer stärker und stärker hingezogen fühlte zu den allgemeinen Bewegungen der Geschichte, die wohl tragen, aber nicht regiert werden können, wuchs zugleich die Tendenz seines Geistes, sich nur noch dem Universalen schlechthin, der Weltgeschichte selbst, hinzugeben. So ergriff er denn am Ende seines Lebens die Universalgeschichte als den einzigen ihm noch gemäßen Gegenstand. Äußere Gründe mögen bestimmend mitgewirkt haben*), aber sie trafen auf die Sehnsucht des Jünglings, Gott in der Weltgeschichte zu suchen, die in ihm lebendig geblieben war, sein Leben lang, und sie trafen zugleich auf jene unvergleichliche, innere Disposition seines Geistes, der nur noch den allgemeinen Bewegungen der Geschichte eine innere Anteilnahme entgegenbrachte8). ') Vgl. Gesch. Wallensteins Einleitung; und Hardenberg, B d . I, S. V I und X I . V g l . a u c h Hist.-Biograph. Studien B d . 39/40. Schmeidler verkennt a. a. O., S. ligff., diesen Sachverhalt, weil er nur a u s dem Zusammenh a n g gelöste R e f l e x i o n e n miteinander vergleicht. *) Dabei ist v o r allem an die Abgeschnittenheit v o n den europäischen Archiven und die völlige Unmöglichkeit, zu lesen, zu denken, die d a s hohe Alter R a n k e s m i t sich f a h r t e (vgl. D o v e , a. a. O., S. 182). *) Vgl. Oncken.a. a. O., S. 70: „ D e r greise Historiker schien hingerissen v o n dem universalen F l u ß aller Dinge,. . . die reine B e w e g u n g als das letzte W o r t aller Weltgeschichte zu empfinden. 7*
II. Teil
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So unternahm er es, jene heilige Hieroglyphe zu enträtseln, von der er einstmals gedacht hatte, sie wäre künftigen, seherenden Jahrhunderten aufbewahrt. Er selbst hatte in unermüdlichem Schaffen mitgewirkt, sein Jahrhundert sehend zu machen. Und dies war die vorgeschriebene Bahn dieses Lebens, daß es zu seinem geheimsten Ehrgeiz erst kommen durfte, nachdem es das ganze Feld der Geschichte schon umschritten hatte 1 ). So ist die Weltgeschichte, objektiv betrachtet, die Vollendung von Rankes historiographischer Produktion, wie sie, subjektiv betrachtet, die Erfüllung ist des geheimsten Gesetzes, aus dem er lebte und schuf. l)
Vgl. Oncken, a. a. O., S. 81.
III. Teil.
DER BEGRIFF DER WELTGESCHICHTE Der Begriff der Nation ist ein Grundbegriff der Rankeschen Geschichtsschreibung1). Die europäischen Nationen vereinigten sich ihm zu dem höheren Begriff der abendländischen Kultur- und Gesittungsgemeinschaft. Neben und über der Geschichte der einzelnen Völker und der Völkerkreise aber vindizierte Ranke der allgemeinen Geschichte ihr besonderes Prinzip*). „Es ist das Prinzip des gemeinschaftlichen Lebens des menschlichen Geschlechtes, welches die Nationen zusammenfaßt und sie beherrscht, ohne doch in denselben aufzugehen." „Das eigentümliche Leben der verschiedenen Nationen in ihrer Verflechtung untereinander und in ihrer Beziehung zu der idealen Gemeinschaft bedingt den Fortgang in der Geschichte der Menschheit8)." Von zwei verschiedenen Momenten, dem eigentümlichen Leben der Nationen und Völker und dem gemeinschaftlichen Leben des menschlichen Geschlechtes, nimmt diese Weltgeschichte ihren Ausgang. Auf der Verbindung und dem Zusammenleben beider beruht der Fortgang der Universalhistorie. Welches aber ist nun die Natur dieser Gemeinschaft des menschlichen Geschlechtes, deren Vorhandensein Ranke sinnfällig, evident erschien? Was hat es auf sich, den Zusammenhang der großen Begebenheiten zu erforschen? Die Entwicklung der Kultur bildet, wie Ranke sagt, die durchgreifendste Erscheinimg der Zeiten4). Die Bildung, die Erhaltung und die Ausbreitimg der Kulturwelt ist es, welche den eigentlichen Gegenstand der Weltgeschichte ausmacht. Von Voltaire bis zu ») Vgl. Meinecke, Weltbürgertum, a. a. O., S. 282. ») Vgl. W.-Gesch. Bd. I, 1, S. VII, und Bd. VIII, S. V. ») Vgl. W.-G«sch. Bd. V.l. S. IV. 4) Vgl. W.-Gesch. Bd. I,i 1, S. VII. Rankes skeptische Beurteilungen der Versuche, die Kultur zum vornehmsten Inhalt der Weltgeschichte zu machen, im Schlußwort der großen Mächte, steht zu dem oben Ausgeführten in keinem unaufhebbaren Widerspruch. Ranke hat den Begriff der Kultur später weitergefaßt, und die in den großen Mächten ausgesprochene Ansicht von dem Geheimnis der Weltgeschichte ist in seinem später erweiterten Begiiff der Weltgeschichte im Hegeischen Sinne aufgehoben (vgl. auch unten S. 110).
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III. Teil
Hegel war die Entstehung und die Geschichte der Kultur immer als der wahre welthistorische Gegenstand bezeichnet worden, und die vornehmsten Werte und geistigen Gehalte der europäischen Kultur hatten in mehr oder minder umfassender Auslese diesen universalhistorischen Gemälden den konstruktiven Halt gewährt. Rankes Ansicht von der in der Weltgeschichte zutage tretenden Entwicklung ruht auch auf einer allgemeinen Ansicht von dem Wesen und den Werten der Kultur. Er war des Glaubens, daß sich das Menschengeschlecht in dem Laufe der Jahrhunderte an dem materiellen und gesellschaftlichen Fortschritt, an den Ergebnissen der religiösen Entwicklung, vor allem aber an den unsterblichen Werken des Genius, die unter lokalen Bedingungen entstanden, doch das allgemein Menschliche repräsentieren, einen Besitz erworben hat, der immer von neuem in das allgemeine Gedächtnis zurückgerufen werden muß. Diese Aufgabe erfüllt die universalhistorische Wissenschaft. 1 ) Sie ist gleichsam das lebendige Gedächtnis der Menschheit. In dem Bekenntnis zu dieser Absicht, die zu unternehmen Ranke „den Mut und das Vertrauen" hatte, offenbart sich, wie sehr sein universalhistorisches Unternehmen von einer lebendigen Wertwelt getragen wird. Vollends deutlich wird die richtunggebende Fundierung der Weltgeschichte durch eine lebendige Werteinheit, wenn Ranke den idealen Kern der großen, weltgeschichtlichen Bewegungen in dem Emporkommen immer höherer Potenzen erblicken zu können meint1). Als eine große Entwicklung, als ein lebendiges Etwas, das sich durch alle Stürme der Jahrhunderte hindurch bewegt, erscheint die Weltgeschichte auch Ranke. Aber er selbst hat das Mißverständnis abgewehrt, als wäre diese Entwicklung mit der rationalistischen Vorstellung eines allgemeinen Progresses zu erklären, die jede geschichtliche Bildung zugunsten der späteren mediatisiert. Man kennt seine eindrucksvolle Polemik gegen den Gedanken eines allgemeinen Fortschrittes. Er wollte die ganze historische Menschheit wie die Gottheit selbst betrachten, die sie in ihrer Gesamtheit überschaut und überall gleichwert findet 8 ). Seiner Meinung zufolge geht in dem welthistorischen ») Vgl. W.-Gesch. Bd. I, i, S. IX. *) Vgl. W.-Gesch. Bd. III, i, S. VI. a ) Vgl. Epochen, S. 17. Oncken hat a. a. O., S. 2, mit Recht gegen die Bemerkung von Dove Widerspruch erhoben, der Hanke als den Sohn des universalistischen 18. Jahrhunderts bezeichnet. Nur ein begriffsgeschichtlicher Zusammenhang besteht zwischen der Ansicht des 18. Jahrhunderts von der Entwicklung der Kultur in der Weltgeschichte und der Rankes. Nach Form und Gehalt sind sie völlig verschieden.
Der Begriff der Weltgeschichte
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Prozeß der einmal erworbene Besitz nicht wieder unter. Nur dadurch, daß die immer neue Schöpfungen hervorbringende Bewegung dennoch in allen Grundzügen sich selber treu, gleichsam in jedem Moment ihr eigener Erbe ist1), haben die späteren Generationen den Schatz des welthistorischen Vermächtnisses vor den jüngeren voraus. Unverkennbar ist das Eine: Diese Worte implizieren die Bejahung der aus dem geschichtlichen Prozeß erwachsenen Gegenwart des Universalhistorikers und seiner Kulturwelt. Erst dadurch gewinnt der weltgeschichtliche Verlauf jene Zielstrebigkeit, die ihm ans einer empirischen, wertfreien Erforschung niemals hätte zuteil werden können*). Oder wie anders wollte man es erklären, daß sich Ranke die Entwicklung der vorderasiatischen, der antiken und der abendländischen Kulturen zu einem einheitlichen Kultlirprozeß zusammenschlössen, der sich, wie ein „lebendiges Etwas", durch die Jahrhunderte fortbewegt, daß er sich für berechtigt hielt, diesem Verlauf den Namen der Weltgeschichte zu erteilen und jene „Völker des ewigen Stillstandes", die nicht an der weltgeschichtlichen Bewegung teilgenommen hatten, wie die uralten Völker des Orients, von ihr auszuschließen3) ? Rankes Worte von dem Prinzip der Weltgeschichte, als dem gemeinschaftlichen Leben des menschlichen Geschlechtes, und der in ihr zur Erscheinung gelangenden Repräsentation des AllgemeinMenschlichen in den Produktionen der Kultur, erschließen uns die volle Bedeutung der Humanitätsidee für seine Konzeption der Weltgeschichte. Wir kennen die eigentümliche Gestalt, die sie in Rankes Denken angenommen hatte. Noch in der Form einer allgemeinen, das Zeitalter beherrschenden Ideologie, die ihn trug und von der er sich tragen ließ, ohne von ihren Ansprüchen auf normative Maßstäbe der Beurteilung mehr als ein Geringes zu akzeptieren, war sie überzeugungskräftig genug, um Ranke in den Schöpfungen seines Kulturkreises die Verkörperung des All») Vgl. W.-Gesch. Bd. IX, x, S. 275. *) Diese Zusammenhänge sind Dove in seinem ausgezeichneten Aufsatz „zur Begrüßung der Weltgeschichte Rankes" a. a. O., S. 192, fast ganz verborgen geblieben. Hingegen hat Lorenz, a. a. O. Bd. 2, H3ff., klar erkannt, daß die Weltgeschichte Rankes ihren Zusammenhalt dem Anschluß an gewisse überlieferte, theologische und philosophische Vorstellungen der alten Universalgeschichte, wie er es nennt, verdankt. Diese Vorstellungen selber hat Lorenz jedoch nicht analysiert. Er interpretiert Ranke hier wie zuweilen durchaus naturalistisch und drängt zu einer Auflösung der Weltgeschichte hin. Zuletzt hat Troeltsch, a. a. O. auf die Bedeutung der Wertschicht für die Rankesche Weltgeschichte hingewiesen. *) W.-Gesch. B. 1 1 ( S. 8.
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III. Teil
gemein-Menschlichen verehren zu lassen. Sie wurden mit dem Schimmer umkleidet, als wäre in dieser Auslese der substantiale Kern aller Geschichte, „ihre Mitte und ihr Wesen" ergriffen. Zugleich aber war für Ranke die Weltgeschichte die Entfaltung der von Gott der Menschheit eingepflanzten, unendlichen Möglichkeiten von Entwicklungen, welche nach und nach zum Vorschein kommen, ,,nach Gesetzen, größer und geheimnisvoller als man denkt". Wir wissen, daß es einer seiner bevorzugten Gedanken war, daß der Zusammenhang der großen Geschichte vor allem von Gott Zeugnis ablege. Aber seinem aus religiösen Quellen gespeisten Geiste erschien das Absolute bald als der sich in tausend Gestalten offenbarende Wille des lebendigen Gottes, bald als der Finger der Vorsehimg und die Hand der Gottheit über der Geschichte. Die Auslese der Begebenheiten, die er unter dem der Weltgeschichte und Entwicklung der Kultur vortrug, stellte sich ihm so als ein von der Vorsehimg intendierter Prozeß dar. Nur daß sich diese Überzeugung gemäß Rankes Abneigung, seine Weltanschauung auf den geschichtlichen Stoff zu übertragen, nicht in allgemeinen Darlegungen über den Zusammenhang von Weltgeschichte und göttlicher Leitung, sondern mehr in gelegentlichen Äußerungen und allgemeinen Reflektionen an den Krisenpunkten der Weltgeschichte bekundet. Sie haben fast immer einen den Gang der Dinge rechtfertigenden Charakter; man möchte sagen, sie sind apologetischer Natur. Zu der Erkenntnis des Planes der Vorsehung konnte sich dieser Glaube nicht erheben.' Die Freiheit der empirischen Erforschimg hätte daran Schaden nehmen können. Es mußte darum bei jener unbestimmten Ahnung der göttlichen Absicht sein Bewenden haben, die dem großzügigeren Philosophen der Geschichte immerhin als „Kleinkrämerei des Glaubens" erscheinen mochte. In Wahrheit war ja auch mit dieser Art der Betrachtimg, die von Ranke zwischen der historischen Empirie und der religiösen Spekulation gezogene Grenze transzendiert. Darum hat er sich niemals erkühnt, seine Meinungen geradezu mit den Absichten der Vorsehung zu identifizieren. Er liebte es, alle Betrachtungen dieser Art in hypothetischen Wendungen vorzutragen, die den Abstand des kreatürlichen Verstandes von dem göttlichen Wissen und Wollen betonen. Aber alles beruht doch auf den Gedanken, daß den historischen Mächten ein Welttag gegönnt ist, an dem sie sich erheben, sich ausbilden, und das Ihrige für die Entwicklung des Menschengeschlechtes tun1). ') Vgl. W.-Gesch. Bd. I, 2, S. 153, 210, und Bd. II. 1. S. 299, und S. W. Bd. 43/44, S. 175, und Bd. X X X , S. 335, und Epochen, S. 36 (vgl. auch M. Ritter, a. a. O., S. 411.
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Das Prinzip der Weltgeschichte Rankes ist also keineswegs allein eine historische Ergründung der Entwicklung der Kultur, die sich aus dem großen Gange der Begebenheiten, welche, alle Völker beherrscht und verbindet, ergeben hätte. Nicht auf den historischen Befund einer Gemeinschaft der Völker, deren Vorhandensein, wie er glaubte, der Augenschein lehrt, gründet sie sich primär, sondern auf ein komplexes Gefüge teleologischer Gedankenreihen sehr verschiedener Provenienz. Diese Weltgeschichte beruht auf dem richtunggebenden Bezüge des Ganzen auf den Lebenszusammenhang des Betrachters, der sich als ein Glied eines sich durch die Fülle der welthistorischen Produktion unaufhörlich steigernden Prozesses empfindet. Diese Teleologie ist historischer Natur. Sie ist nun mit einer zweifachen Umklammerung umgeben, deren Gedanken überhistorischer Herkunft sind: Der engeren, durch den Gedanken der Humanitätsidee, und der weiteren, durch die Überzeugung, daß die Weltgeschichte von der Weisheit providentieller Leitung so und nicht anders intendiert gewesen sei. Auf diesem Wege drang eine Schicht überhistorischer Begriffe in die Rankesche Weltgeschichte ein, die, wie ein Zement, den konstruktiven Bestand des Ganzen verbürgt. Es ist Ranke stets verborgen geblieben, daß. seine Wettgeschichte sich auf andere als geschichtlich zu prüfende und zu demonstrierende Befunde gründet. Diese Illusion eines streng szientifischen Aufbaues nährte sich bei ihm aus zwei verschiedenen Wurzeln. Die seiner Weltgeschichte zugrunde liegende Zielstrebigkeit ist eine Teleologie ohne Telos. Der Wertmaßstab ist, wie wir gesehen haben, auf das für den Zusammenhang der vorgetragenen Begebenheiten und die Rechtfertigung der Gesichtspunkte der Selektion unerläßliche Minimum herabgedrückt und entbehrt jeden Bezuges auf die Gestaltung der Zukunft. Indem Ranke es ablehnte, für die Kultur ein bestimmtes Ziel anzugeben oder ein Ideal aufzustellen, das die schrankenlose Tragweite der welthistorischen Zukunft verdunkeln könnte, und zugleich behauptete, daß das weltgeschichtliche Moment nicht in allgemein gültigen Formen, sondern in den verschiedensten Gestalten hervortritt, glaubte er jeder teleologischen Handhabung des seiner Universalgeschichte zugrunde liegenden Kulturbegriffes vorgebeugt zu haben 1 ). Im Grunde war die Ausschaltung der normativen Funktionen des Wertmaßstabes aber nur der Reflex der traditionalistischen Struktur seines Kulturbewußtseins. Sie nährte die Illusion einer ateleologischen, streng szientifischen Ergründung der >) Vgl. W.-Gesch. Bd. I, 1, S. VIII.
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Weltgeschichte; deshalb kann der in diesen Worten zum Ausdruck kommende grundsätzliche Historismus die Heterologie der Prinzipien, auf denen die Rankesche Weltgeschichte beruht, wohl verhüllen, aber nicht aulheben. Der zweite Grund, der Ranke zu der Ansicht bestimmte, daß die Geschichtswissenschaft in ihrer Vollendung an sich selbst dazu berufen sei; sich zur Erkenntnis des objektiven, vorhandenen Zusammenhanges der Weltgeschichte zu erheben 1 ), lag in der grundsätzlichen Richtung seines Geistes auf Kontemplation. Diese Kontemplation mußte, sobald sie sich auf die Weltgeschichte richtete, an Stelle der, für die partikulare Geschichte hinreichenden, objektiven Gültigkeit die absolute usurpieren. Sie mußte beanspruchen, den Sinn der Welt, insofern sie Geschichte ist, anschauend erkannt zu haben. Zwar hatte auch Ranke ein Bewußtsein davon, daß die Weltgeschichte von jeder Generation anders angeschaut würde. Ja, er hatte die Absicht, diese wesensnotwendige Unabgeschlossenheit seiner wie jeder Weltgeschichte in dem Titel zum Ausdruck zu bringen8). Aber diese kritischen Reflektionen traten doch neben der alles beherrschenden, kontemplativen Neigung in den Schatten. Durch diese Tendenz seines Geistes auf eine absolute Erkenntnis des Sinnes der Weltgeschichte verwandelte sich seinem Auge die regulative Bedeutung der Auslese in eine konstituive, die unter der Kategorie des „als ob" stehende universalhistorische Perspektive in eine unbedingt gültige weltgeschichtliche Schau und der nur in der teleologischen Relation gültige Befund in einen Seinsbefund. Zu dieser Erkenntnis glaubte er auf seinem Wege vordringen zu können, indem er die Dinge in ihrer Wesenheit zu begreifen suchte, ihrem Zuge nach ging und, eingedenk der Unvollkommenheit der Überlieferung, die höchsten Ergebnisse ahnen ließ8). So gründete sich in Rankes Augen die Erforschung des universalhistorischen Zusammenhanges auf die geschichtliche Empirie, von der sie sich stufenweise bis zu einer divinatorischen Ahnung des Sinnes der Weltgeschichte erheben kann. Dieser Lösung haftet zweifellos viel Widerspruchsvolles an. Sie hat den Zwiespalt nicht bemerkt, der zwischen der Teleologie der universalhistorischen Perspektiven und der Empirie der strengen Forschung klafft. ') Vgl. Epochen, S. 3. *) Vgl. W.-Gesch. Bd. I, 1, S. I X , und Dove, a. a. O., S. 199. Ranke hatte, wie Helmolt, a. a. O., S. 142, bemerkt, die Absicht, sein Werk „Versuch einer Weltgeschichte oder allgemeine Ansicht der Weltgeschichte" zu betiteln, doch fielen die Namen buchhändlerischen Bedenken zum Opfer. s ) Vgl. S. W. Bd. 53/54, S. 570, Tageb.-Aufzeichnung.
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Wir haben bislang an Rankes Begriff der Weltgeschichte vor allem jene Elemente hervorgehoben, die selbst nicht empirischhistorischer Provenienz waren, auf denen aber die Zielstrebigkeit und die Kohärenz des Prozesses beruht. Sie waren Ranke in ihrer konstitutiven Bedeutung so gut wie verborgen geblieben. Daß sie ihm aber verborgen bleiben konnten, beruht darauf, daß Ranke selbst den Schwerpunkt seiner Aufgabe wie seiner Leistung stets in die streng historische Bewältigung, d. h. in die Erforschimg, das Verständnis und die Darstellung der Begebenheiten verlegt wissen wollte. In der Tat ist das rein historische Verständnis in keiner anderen Weltgeschichte so weit vorgedrungen und die unerläßliche Deutung, Zusammenfassung und Akzentuierung des Stoffes so streng an das Geschehen selbst gebunden, wie bei Ranke. Aber damit ist noch nicht alles gesagt. Vielmehr beruht die Rankesche Weltgeschichte wirklich auf dem Bemühen, jenen Begriff der Kultur, deren Entwicklung als die durchgreifendste Erscheinung der Zeiten bezeichnet wurde, streng geschichtlich aufzubauen. Dieses Bemühen konnte sich zwar nur innerhalb des schon gesicherten, konstruktiven Bestandes der Universalgeschichte entfalten. Da dieser aber die empirische Forschung in ihrem Wesen selbst nicht determiniert, sondern nur ihrer Richtung Grenzen setzt, so sind die von Ranke vorgetragenen Gedanken von der größten Bedeutung für die Theorie und die Praxis der Weltgeschichtsschreibung. Zunächst setzt Ranke die Grenzen des Gegenstandes der universalhistorischen Betrachtung fest, indem er einkreisend alles Fremde ausschließt. Die Weltgeschichte Rankes ist ein Mikrokosmus gegenüber dem gesamten Universum, wie auch gegenüber der Totalität der Geschichte1). Damit setzt sie sich, limitativ betrachtet, gegen alle die Versuche ab, in denen der Sinn der Welt als ein gleicher in Natur und Geschichte angesehen wird. Er trennt sich von allen Bemühungen, die in der Weltgeschichte die Brücke zwischen Natur und Historie schlagen zu können glauben: Sei es, daß sie, wie Hegel, in der Entwicklung des Geistes beide Bereiche zu umfassen vermeinen, sei es, daß sie, wie Herder, das gleiche göttliche Leben in den beiden Hemissphären des Seins zu erfühlen suchen, sei es, daß sie, wie der Positivismus, von dem Boden einer Universalphysik aus Natur und Geschichte den gleichen, mechanischen Gesetzen unterwerfen. Auch Ranke suchte den Sinn der Welt, und das letzte Resultat seiner Studien sollte ihm zum Mitgefühl, zur Mitwissenschaft des Alls erheben2). Aber Vgl. Dove, a. a. O., S. 195. •) Vgl. S W . Bd. 53/54, S. 569, Tageb.-Auf Zeichnungen.
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der Gesamtsinn der Welt konnte sich ihm nur in unzähligen, individuellen, sinnvollen Gebilden offenbaren. Auf der anderen Seite aber trieb er das Individualitätsprinzip doch nicht bis zur Auflösimg jedes welthistorischen Gefüges, wie Spengler. Sein Begriff der Weltgeschichte blieb exklusiv gegenüber der Natur, wie gegenüber der Gesamtheit der Geschichte. Er verhielt sich ausschließend gegen all die Ansprüche, die von Voltaire, Schloezer und Schlosser bis zu den zeitgenössischen Lehrbüchern herab immer wieder an die Weltgeschichte gestellt worden sind, die von dieser eine extensive Umfassimg der gesamten Geschichte fordern. Indem Ranke ausführte, daß eine Sammlung der Völkergeschichten im engeren und weiteren Rahmen doch keine Weltgeschichte ausmachen würde1), daß ein allgemeiner Fortschritt, welcher alle Nationen umfaßt, eine historisch nicht nachzuweisende Chimäre sei, und daß die Nationen in der Weltgeschichte nur insoweit in Betracht kommen, als sie an der universalhistorischen Bewegung tätigen Anteil genommen und, „die eine auf die andere wirkend, eine lebendige Gesamtheit ausmachen", erwarb er sich das Verdienst, diese falschen Prätensionen insgesamt ad absurdum zu führen2). Dies Verdienst ist keineswegs rein negativ. Indem Ranke von allen Versuchungen einer extensiven Umfassung, sei es durch die gröberen eines neugierigen Exotismus, sei es durch die feineren, der, seit den Tagen der Romantik und Schopenhauers der abendländischen Kulturwelt drohenden Verführung des Orientalismus, in dem, sagen wir, Ranke von diesen Verlockungen unangefochten als Universalhistorie nur das gelten lassen wollte, was im Laufe der Geschichte wirklich zu einer Welt zusamengewachsen und eins geworden war, zeigte er zugleich, in welchem besondern Sinne Weltgeschichte ein Mikrokosmus ist. Denn durch diese strenge Ausscheidung alles dessen, was nicht teil hat an der Geschichte einer Welt, oder sagen wir es offen, unserer Welt, zeigte Ranke, daß Universalgeschichte sich nur durch eine Auslese, die ihrerseits nicht denkbar ist, ohne eine Sinngebung des Gesamtverlaufes, zum Kosmos erhebt. Kosmos, der nicht mehr als ein Mikrokosmos gegenüber dem Makrokosmos des geschichtlichen Universums ist und sein kann. Daß Ranke diese Sinngebung nicht als einem glaubensmäßig zu begründenden und durch sittliche Tat zu legitimierenden Akt, sondern als einen auf dem Wege der Kontemplation er>) Vgl. W.-Gesch. Bd. I, i, S. VII, und Epochen, S. 15 (vgl. auch Lorenz, a . a . O . , Bd. I, S. 219H., und Bd. 2, S. u f f f . ) . «) Vgl. W -Gesch. Bd I. 1, S. VIII.
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reichten Befund deuten zu können glaubte, darf uns nicht abhalten, sein Ergebnis in vollem Umfange zu würdigen. Er zuerst hat es ausgesprochen, daß die Weltgeschichte ein von allem übrigen kosmischen wie irdischen Geschehen gesonderter Verlauf ist, dessen spezifisches Charakteristikum die einheitliche, kontinuierliche, sinnerfüllte Entwicklung ist. Des ferneren hat Ranke auch jeder Versuchung widerstanden, den Begriff der Kultur selbst durch biologisch-ethnologische oder anthropologisch-soziologische Hilfshypothesen zu erklären. Die unleugbare Verwandtschaft des menschlichen mit dem animalischen Leben war für ihn von so großem Interesse doch nicht1). Er blieb bei dem Wort, daß Gott dem Erdenkloß seinen Geist eingehaucht habe und machte keinen Versuch, das Wunder, daß der Geist einen lebendigen Organismus bildet, der ihm selber angehört, zu erklären. Gegenüber den Ansprüchen, die Herder in seinen Ideen erhoben hatte1), „das Geheimnis der Urwelt, also das Verhältnis des Menschen zu Gott und der Natur zu enthüllen3)", gab Ranke diese Probleme der Naturwissenschaft und der religiösen Auffassung anheim. Ebensowenig verlockten ihn die Rätsel der Prähistorie, die er den Portalen der Geschichte vergleicht. Die Geschichte aber beginnt erst, „wo die Monumente verständlich werden und glaubwürdige, schriftliche Aufzeichnungen vorliegen4)". Ranke erklärt also die Kultur nicht, sondern er setzt sie voraus und beschreibt sie in den mannigfaltigen Phasen, in denen sie zur Erscheinung kommt. Das geistige Leben der Menschheit nun manifestiert sich in nationalen Anfängen5). „Die Weltgeschichte würde in Phantasien und Philosopheme ausarten, wenn sie sich von dem festen Boden der Nationalgeschichten losreißen wollte. Aber ebensowenig kann sie an diesem Boden haften bleiben. In den Nationen selbst erscheint die Geschichte der Menschheit8)." Nicht von einer Nation also hebt die Weltgeschichte an, die die Fackel des Geistes an die nächste weitergibt, wie es nach Hegel erschienen war, sondern von einer Mehrheit von Nationen, die in Verbindimg miteinander stehen, sich be-< kämpfen, sich vereinigen oder sich überwinden. Spricht Ranke zuweilen davon, daß die oft zweifelhafte Förderung der Kultur nicht der einzige Inhalt der Weltgeschichte sei, oder daß die ge>) •) «) 4) ») «)
Vgl. s. W. Bd. 53/54. S. 639. Vgl. Lorenz, a. a. O. Bd. II, S. 120. Vgl. W.-Gesch. Bd. I. 1. S. V. W.-Gesch. Bd. I. 1, S. V. Vgl. S. W. Bd. 53/54, S. 639. Vgl. W.-Gesch. Bd. I, i, S. VIII — I X .
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schichtliche Entwicklung keineswegs allein auf den Kulturbestrebungen beruht, so deuten diese Worte nur darauf hin, daß die Entwicklung der Kultur kein abgesondertes Bestreben ist, sondern mit Krieg und Politik, mit allen Ereignissen, welche die Tatsachen der Geschichte ausmachen, untrennbar verbunden erscheint1). Es ist die Tendenz des von den naturrechtlichen Anschauungen des europäischen Rationalismus getragenen Positivismus, den Staat zu einem Gefäß zivilisatorischer und utilitaristischer Bestrebungen zu machen, die Ranke in diesen Worten abweist. Ja, es ist ein grundlegender Unterschied zwischen der identitätsphilosophisch genährten, deutschen Historie und den Anschauungen der Condor?et, Comte, St. Simon, der Buckle und Spencer überhaupt, daß jene ein abgesondertes Bestreben einer brutalen Macht ohne Beziehungen auf geistige Gehalte und Werte nicht anerkennen kann. Sie ordnet den Staat den Ansprüchen der Zivilisation nicht unter, und erblickt den Zustand der gesunden Kultur in einer wechselseitigen Befruchtung beider: in dem die Kultur den Staat mit immer neuem Geiste fortbildend und belebend erhält, der Staat diese hingegen vor der Invasion des Fremden schützt und bewahrt. Diese Funktion erfüllt der Staat bei Ranke, wie bei Hegel, wie bei Adam Müller8). Auch die Rankesche Weltgeschichte zeigt jenen, in dem deutschen objektiven Idealismus so tief begründeten Glauben an eine prästabilierte Harmonie von Macht und Geist, jene Verehrung der Macht, als eines ursprünglichen Genius, der berufen ist, die Kultur zu schützen und auszubreiten. In dem Antagonismus der Nationen, die um den Besitz des Bodens und den Vorrang untereinander ringen, bilden sich historische Weltmächte aus, welche unaufhörlich um die Herrschaft miteinander kämpfen. Ihre welthistorische Mission ist die Propagation und Expansion der Kulturwelt. Aber indem sie diese auszubreiten suchen, treffen sie mit der eingeborenen Individualität der verschiedenen Völker und Stämme zusammen. „Auch diese haben ihr ursprüngliches Recht und ein unbezwingliches Innere8).'' Dies ist der Punkt, an dem der gesamte Ertrag der Rankeschen Historiographie, die schneidende Luft ihres politischen Realismus und die Ansicht von den Ideen und Tendenzen, deren Wechselwirkung und Aufeinanderfolge, Leben, Vergehen und >) Vgl. Schlußwort der „Großen Milchte" Bd. 24, S. 39ff. *) Vgl. Troeltsch, Historismus, S. 163, und W.-Gesch. Bd. I, 1, S. VIII, und W.-Gesch. Bd. VIII, S. 5. a ) Vgl. W.-Gesch. Bd. I, 1, S. VIII.
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Wiederbelebung, als der tiefste Gehalt der Geschichte angesprochen wurde, einmündet in seinen Begriff der Weltgeschichte. Denn „seitdem Mächte auf Erden aufgetreten sind, welche die allgemeinen Ideen, die das Leben des menschlichen Geschlechtes in sich tragen, zu realisieren, darzustellen, fortzupflanzen suchen, scheint es keinem Volke mehr vergönnt zu sein, sich für sich selbst in freier Bewegung eingeborener Kräfte und Anlagen zu entwickeln 1 )." So wird das Besondere umgestaltet von dem Allgemeinen, aber indem es sich gegen dieses behauptet und reagiert, erfährt auch die weltgeschichtliche Bewegung eine Abwandlung und bleibt in ruheloser Entwicklung begriffen. Sie wird unaufhörlich aus frischen Kräften gespeist und bewegt sich, wie ein lebendiges Etwas, unter allen Stürmen durch ihre eigene Kraft vorwärts. Diesem Begriff der Weltgeschichte liegt nun ein ganz neuer Begriff des weltgschichtlichen Werdens zugrunde. Wir sahen, daß der Historiker Ranke sich nicht vermessen wollte, in den göttlichen, geistigen Urgrund des Geschehens einzudringen. Er wollte das Werden von Verflechtung zu Verflechtung verfolgen. Und indem er so der inneren Entwicklung wie dem äußeren Zusammenhang nachging, blieb ihm in seinem Begriff des Werdens nicht nur Raum für den leidenschaftlich bewegten Teil des Geschehens, für den Anteil, den Entschluß und Tat an ihm haben1), sondern er gewann von hier aus die Möglichkeit, einen neuen, nur geschichtlich-gültigen, für die Historie aber auch allein stringenten Begriff des Werdens zu konzipieren. Man kann im Grunde nicht sagen, daß Ranke einen Entwicklungsbegriff aufgestellt hätte, wie Hegel oder wie Herder und die historische Schule. Ranke verkannte den tiefen Wahrheitsgehalt dieser Anschauungen vom Werden nicht. Aber ausschließende Gültigkeit besaßen sie für ihn keineswegs. Gegenüber den emanatistischen Vorstellungen Herders, Savignys und Grimms betonte er, daß sich die Gebilde der Staaten nicht wie Naturgewächse erheben, daß fast das meiste von den Umständen, der Sinnesweise der Menschen, wie sie eben beieinander sind, und den zu überwindenden Gegensätzen abhängt3). Diese Worte könnten nur wie eine Einschränkung zu dem ästhetisch-organologischen Entwicklungsbegriff der historischen Schule erscheinen, um der historischen, empirischen Forschung alle Freiheit, deren sie ») V g l .
S. W .
B d . 43/44. S . 3.
•) Vgl. Dove, a . a . O . , S. 114. ») Vgl. S. W. Bd. 11, S. 5.
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bedarf, zu sichern. Doch ist das, seinen Werdensbegriff von allen anderen trennende Element mit Händen zu greifen, wenn wir vernehmen, daß ihm die großen Nationalitäten nicht sowohl als Schöpfungen des Landes und der Rasse, als der großen Abwandlung der Begebenheiten selbst erscheinen1). Auch Ranke war des Glaubens, daß Gott der Idee der Menschheit Ausdruck in den verschiedenen Nationen gegeben hatte. Aber ihre Geschichte erschien ihm nicht nur als die Repräsentation eines allgemeinen Typus oder als die Emanation geheimnisvoller geistiger Entitäten, sondern als Trägerin und Produkt, Ursache und Folge der weltgeschichtlichen Bewegung zugleich. Hier erst verstehen wir seinen Begriff des weltgeschichtlichen Werdens. Wie die Nationen in der Universalhistorie selbst umgebildet werden, ja, wie in ihr die großen Nationalitäten überhaupt erst entstehen, so ist die allgemeine Geschichte selbst entsprungen in dem Kampf der verschiedenen Völker und Völkersysteme. Noch weniger als irgendeine partikulare Geschichte weist sie eine naturwüchsige Entwicklung auf. Die Weltgeschichte ist der Zusammenhang, der sich aus dem Zusammentreffen der großen Menschheitsnationen ergeben hat. Sie ist das geistige Kontinuum, das in diesen Bewegungen entsprungen, von der Urzeit bis zu den Lebenszusammenhängen des Universalhistorikers als ein sinnvoller, von historischer Vernunft erfüllter Prozeß reicht2). Daß in den Begriffen der Menschheitsnation und den Gedanken eines universalen Zusammenhanges auch jene überhistorischen Vorstellungen eines idealen Begriffes der Menschheit, >) Vgl. W.-Gesch. Bd. I, i, S. V. Vgl. auch Kaerst, a. a. O., H.-Z. Bd. 106, S. 525, und E. Rothacker, Savigny, Grimm, Ranke, H.-Z. Bd. 128, S 415. Die Streitfrage, inwieweit Ranke Hegel oder der historischen Schule näherstehe, kann hier nicht entschieden werden. Sie verdient eine gesonderte monographische Behandlung. Faßt man den Begriff der historischen Schule soweit, wie dies Rothacker, H.-Z. Bd. 128; und Das Verstehen i. d. Geisteswissenschaft, Mitt. d. Verb. d. deutschen Hochschulen V, 2, neuerdings getan hat, indem er als ihr wichtigstes Kennzeichen die uneingeschränkte Anerkennung des Individualitätsprinzips bezeichnet hat, so wäre Ranke ihr freilich unbedingt zuzurechnen. Geht man dagegen, wie Troeltsch vom Begriff des Werdens und vom Begriff einer universalhistorischen Dialektik aus (Historismus, S. 281 A. 131), so steht Ranke unter diesem Aspekt auch Hegel nahe. Jedenfalls darf Ranke nicht einseitig von Programmschriften, wie dem „Politischen Gespräch", das allerdings stark unter dem Einfluß Savignys steht, interpretiert werden, sondern die Frage kann nur von der Produktion des ganzen Ranke aus entschieden werden. S. auch S. 128. *) Vgl. Kaerst H.-Z. Bd. 111, S. 254 und 307.
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wie sie Ranke von der Basis seines Vorsehungsglaubens und der Humanitätsidee aus ergriffen hatte, mitschwingen, spüren wir wohl. Seine Weltgeschichte ist davon nicht zu trennen. Alle jene methodischen Erörterungen, die sich auf die empirische Ergründung der Kultur beziehen, haben den teleologisch gesicherten Bestand der Kulturentwicklung zu ihrer Voraussetzung. Aber neben diesem übergeschichtlichen Begriff der Menschheit hat Ranke einen historischen Begriff der Menschheit aufgestellt, welcher sich aller Schemata, der Vorstellung des allgemeinen Fortschritts, wie der eines Weltplanes, wie jener von dem Mythos der Selbstentfaltung des Geistes entschlägt. Will man angesichts dieser Vorstellung der Weltgeschichte überhaupt noch von einem Begriff der Menschheit sprechen, so muß man dessen eingedenk sein, daß er nicht mehr auf die Umfassung des historischen Universums zielen kann. Nur die noch nicht vollendete und wesensmäßig unbegrenzte Genesis der historischen Menschheit, das Werden und Entstehen eines geschichtlichen Weltganzen ist der Gegenstand dieser Weltgeschichte. Ranke selbst hat in der Aufstellung dieses historischen Begriffes der Weltgeschichte den Kern seiner Leistung erblickt1). Auch wir glauben, daß er hier zu einer Grundlegung jeder zukünftig zu errichtenden „Eigenweltgeschichte" gelangt ist. So wenig wir heute die weltanschaulichen Grundlagen von Rankes universalhistorischer Leistung unverändert zu den unsrigen machen könnten, jenen „christlichen Humanismus", der sich allzu leicht und allzu gern über die Tragödien der Kultur harmonisierend erhebt, so wenig könnte uns eine, das gesamte geschichtliche Universum umfassende Morphologie genüge tun. Die Funktion der Universalgeschichte wird heute nicht mehr, wie noch für Ranke, die Erinnerung an die Inkarnationen des Allgemein-Menschlichen in der Geschichte sein können. Und die Heterologie der Prinzipien, auf denen die Rankesche Weltgeschichte, wenn auch unbewußt und nicht eingestanden, beruht, kann nicht das letzte Wort sein, das zur Bewältigung dieser Problematik gesprochen worden ist. Der Gegenstand der Weltgeschichte aber ist für uns noch der gleiche, wie für Ranke. Ja, wir meinen, daß er überhaupt der erste war, der den Gegenstand in seiner spezifischen Gestalt als Genesis der historischen Menschheit und als das Werden eines historischen Weltganzen gewahrt hat, ohne ihn durch irgendl ) Vgl. Dove, a. a. O., S. 195, und den der Interpretation Doves, der auch wir gefolgt sind, zustimmenden Brief Rankes an Geibel, abgedruckt bei Dove, a. a. O., S. 199.
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welche Schemata und Schablonen zu maskieren. Darum gilt das, was er von der methodischen Bewältigung dieses Gegenstandes zu sagen wußte, noch heute oder heute wieder1). Niemand, dessen Geist für geschichtliche Bildimg geöffnet ist, wird die Rankesche Weltgeschichte ohne die nachhaltigst beeindruckende Belehrung lesen. Sie ist die Summe der Weisheit des sehr alten Mannes über das Werden und den Gang der abendländischen Kultur, der, wie kein anderer, die Gesamtheit dieser Geschichte überblickte. Wenn sie uns in einigen Partien, wie in denen über die griechische Geschichte, nicht mehr ganz zu befriedigen vermag, wenn an ihnen eine gewisse konventionelle Anschauung nicht getilgt zu sein scheint2), so sind andere, wie die Darstellung der römischen Geschichte8) und der ihr folgenden Jahrhunderte der Auflösimg des Imperiums mit einer ganz ursprünglichen Lebendigkeit gesehen und gestaltet. Unvergleichlich, um nur eines herauszuheben, ist die Klarheit, mit der die Zeiten der christlichen Antike, der Verschmelzung des Imperiums und der Kirche, die Jahrhunderte der großen dogmatischen Kämpfe dargestellt sind. Überall werden die miteinander kämpfenden Doktrinen nicht nach ihrer Orthodoxie oder Heterodoxie beurteilt, sondern hinter ihnen werden die Lebenskräfte erkannt und nach dem Maße der Macht, die sie besitzen, in den verschiedenen Phasen ihrer Entwicklung zum Gegenstand einer möglichst unparteiischen Anteilnahme gemacht4).
Rankes Anschauung der Weltgeschichte bildet in dem oft erwähnten Aufsatz von Kaerst den Maßstab der Beurteilung. Einen schönen Ausdruck hat ihr auch O. Hintze in dem Aufsatz Ober individualistische und kollektivistische Geschichtsauffassungen, H.-Z. Bd. 78, S. 60, gegeben. „Die große weltgeschichtliche Entwicklung ist nicht bloß das Abfallprodukt der nationalen Entwicklung, sondern sie hat eine selbständige Bedeutung. Sie wird nicht bloß von Nationen erzeugt, sondern sie erzeugt selbst wieder Nationen . . . sie ist und bleibt doch wohl ein großer, singuläier Prozeß." *) Es ist besonders von Seiten der Altertumsforschung gegen Ranke der Vorwurf erhoben worden, er hätte die griechische Geschichte nur als die Vorhalle der europäischen betrachtet (vgl. von Wilamowitz, „Vorträge und Reden", S. 131). Auch Eduard Meyer, Griechische Geschichte Bd. 2, S. 32, hat eine ähnliche Ansicht ausgesprochen. Doch kann man Ranke diese Ansicht in Wahrheit nicht zuschreiben (vgl. Kaerst, a. a. O., H. Z. Bd. i n , S. 319). ') Vgl. Dove, Rankes römische Geschichte, a. a. O., S. 199. *) Vgl. W.-Gesch. Bd. 4', S. 237 (vgl. auch das Urteil des Grafen York (Briefwechsel mit Dilthey, S. 252).
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"5 Doch wird es keinem Verständigen einfallen, die Rankesche Darstellung im ganzen kanonisieren zu wollen; was bei keinem historiographischen Werke angängig ist, würde hier unausbleiblich zu irrtümlichen Konsequenzen führen. Und dies nicht nur, weil die fortschreitende, historische Forschung in Dingen des Details zwangsläufig über Ranke hinausgehen mußte. Eine solche Korrektur hätte noch immer das Allgemeine der historischen Forschung unangefochten bestehen lassen können; und auf dieses allein kommt es doch in unserem Zusammenhang an. Die allgemeinen Anschauungen selbst aber sind von der ganz persönlichen Werthaltung mitbestimmt und enthalten ein partikulares, notwendigerweise vorläufiges Moment des Urteils. Es erübrigt noch, Rankes Darstellung der Begebenheiten selbst unter diesem Gesichtspunkt zu betrachten, inwiefern die in ihr vorwaltende Selektion und die dialektische Verknüpfung der Geschehnisse den aufgewiesenen weltanschaulichen Fundamenten entsprechen. Fragen wir dem Stoff zunächst die Kategorien ab, nach denen der weltgeschichtliche Zusammenhang gegliedert ist, so sieht man bald, daß auch in der Weltgeschichte Rankes Interesse vornehmlich den politischen Ereignissen und der Entwicklung des religiösen Lebens gilt. „Das Göttliche", sagt er zum Eingang des Ganzen, „ist immer das Ideale, das dem Menschen vorleuchtet; dem menschlichen Tun und Lassen wohnt zwar noch eine ganz andere, auf die Bedingungen des realen Daseins gerichtete Tendenz inne, aber es strebt doch unaufhörlich nach dem Göttlichen hin 1 )." In seiner Behandlung des religiösen Lebens verraten sich aber nun gleich die feindlichen Prinzipien der streng empirischen Erforschung und der universalhistorischen Zielstrebigkeit, auf denen die Rankesche Weltgeschichte in gleicher Weise beruht. Einerseits, so sagten wir, lehnt er es ab, die Produktionen der religiösen Genien nach dem Maße ihrer Orthodoxie oder Heterodoxie zu beurteilen. Er will auch hier nur sehen, wie es eigentlich gewesen und die Entwicklung in ihren verschiedenen Stadien verfolgen. Andererseits aber mußte ihn seine echte Christlichkeit unausbleiblich dazu führen, das Christentum und die Mächte, die es vorbereiten halfen, in eine besondere weltgeschichtliche Stellung zu weisen. Ranke, der, obschon er ein guter, evangelischer Christ zu sein sein glaubte*), es dennoch weit von sich wies, von dem göttlichen Geheimnis anders als als Historiker, d. h. ideenweise zu sprechen, sah doch den jüdischen Monotoismus als die „Uridee ») Vgl. W.-Gesch. Bd. i l , S. 3. ») Vgl. W.-Geach. Bd. III. 1, S. 1. 8*
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der Urzeiten" an1), welchen dunklen Ausdruck wir wohl im Sinne einer dem jüdischen Volk im Anfang der Geschichte gegebenen Offenbarung interpretieren müssen. Der universalhistorische Auftrieb erhält von dieser unbewußten Teleologie seine Nahrung. Da diese aber durch die beständige Verwahrung, daß Ranke mit der Kontemplation die Grenzen des empirisch Nachweisbaren nicht überschreiten wolle, immer wieder paralysiert wird, so ist der dynamische Auftrieb der Entwicklung viel weniger straff, als etwa bei Hegel, von dessen Vorbild aus B. Croce der Rankeschen Weltgeschichte geradezu Schwerfälligkeit vorgeworfen hat2). Dieselbe Duplizität feindlicher Prinzipien treffen wir auch in der Beurteilung und Darstellung der anderen Kulturzweige, die zwar vor der Entfaltung des staatlichen Wirkens und des Glaubenslebens zurücktreten, aber doch nicht ganz verschwinden. Auch in Rankes Darstellung der verschiedenen Bezirke der Kultur stehen sich zwei verschiedene Formen der Beurteilung gegenüber. Einmal werden die Schöpfungen der Kultur als die Widerspiegelungen der großen historischen Lebensmächte betrachtet, und es wird ihnen als Dokumenten einer höheren, geistigen Ordnung soviel vom Leben der Zeiten abgefragt, als sie davon enthalten3). Zu einer Entfaltung in autonomen, wissenschaftlichen Disziplinen gelangen diese Gebiete der Kultur in Rankes Werk überhaupt nicht, sondern sie werden zurückgeschlungen in die ruhelose Dialektik der politischen Geschichte4). Andererseits aber weiß Ranke sehr wohl, daß der ewig freie Geist sich seine eigenen Bahnen sucht und sich in ihnen bewegt, und daß die Hervorbringung des Geistes zwar nicht ohne Einwirkimg des allgemein historischen Lebens entstehen können, zugleich aber doch von ihm unabhängig sind5). Darum erscheinen ihm die Produktionen der Genien in Kunst, Poesie, Wissenschaft und Staat einmalig, unübertrefflich und das Allgemein-Menschliche repräsentierend, während er im Bereiche der materiellen Interessen *) Vgl. Epochen, S. 22. •) B. Croce. a. a. O., S. 255. ') Vgl. Rankes Bemerkungen über Dante, S. W. Bd. 53/54, S. 572, Ober Homer W.-Gesch. I, 1, S. 161 (vgl. auch seine Darstellungen der Lehren von Hobbes und Locke, S. W. Bd. XVIII, S. 161). *) Vgl. O. Westphal, Welt- und Staatsauffassung d. deutschen Liberalismus, 1919, S. 222. Westphal kontrastiert diese „Formansicht" der Geschichte, die er Ranke und Droysen zuschreibt, mit der Erdmannsdörfers. ') Vgl. W.-Gesch. Bd. I, 2, S. 3.
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undderBeherrschungder Natur einen stetigen Fortschritt annahm1). Folgerichtig, aber sehr lehrreich, für den von uns behaupteten Zusammenhang zwischen der Weltgeschichte und dem Lebenszusammenhang des Universalhistorikers, findet diese zweite Form der Beurteilung vor allem auf diejenigen Produktionen der Kultur Anwendimg, die selbst ein Ferment von Rankes Bildung waren. Vor allem die Schöpfungen des griechischen Geistes und die Institution des griechischen Lebens erscheinen ihm gleichsam typisch für die Kultur2). Auch in dieser doppelten Form des Urteils verrät sich die Heterogenität der Grundelemente der Rankeschen Universalhistorie. Unter den weltanschaulichen Fermenten ist aber, wie wir wissen, das religiöse das weitaus mächtigste, und es trägt daher auch zu dem konstruktiven Aufriß am meisten bei. Man hat mit recht bemerkt, daß das Schema der Aufeinanderfolge der historischen Völkergruppen an Bossuet und die alten christlichen Weltgeschichte erinnert8). Die in der Urzeit gegründete weltgeschichtliche Bewegimg nimmt ihren Ausgang von dem monotheistischen Glauben des jüdischen Volkes. Die Idee des transmundanen und intellektuellen höchsten Gottes, wie ihn diese Nation konzipiert hatte, ist eine für alle Zeiten und Völker gültige Anschauung4). Diese Nation war von dem Götzendienst der Ägypter auf der einen, von dem der Assyrer und Babylonier auf der anderen Seite umgeben5). Dadurch geschah es, daß „diese Welt, die das Fundament aller menschlichen Gesittung in sich enthielt')", durch den natürlichen Fortgang der Dinge unter die Herrschaft der assyrischen Monarchie geriet. Da aber die assyrische Macht nicht stark und homogen genug war, die urweltlichen, barbarischen Skythenstämme, welche die Kultur bedrohten, zurückzuweisen, indem dies vielmehr die Meder taten, ging die Weltherrschaft an die medopersische Monarchie über. Die Anschauungen der Perser von den höchsten Mächten waren reiner und geläuterter, als die der assyrischen Götzendiener. Sie restaurierten das jüdische Element7). ') Vgl. Epochen, S. 16 ff. und 20. Ahnliche Gedanken hat A. Weber, Prinzipielles zur Kultur-Soziologie, Arch. f. Sozialwissenschaft Bd. 47, 1920, vorgetragen. •) Vgl. W.-Gesch. Bd. I, 2, Kapitel VIII, S. 78ff, und W.-Gesch. Bd. I, 1, S. 292. a ) Vgl. E. Guglia, Rankes Leben, 1893, S. 377. «) Vgl. W.-Gesch. Bd. I, 1, S. 42. *) Vgl. Epochen, S 22. «) Vgl. W.-Gesch. Bd. I, i, S. 121. ') Vgl. W.-Gesch. Bd. I, 1, S. 125, und Epochen, S. 22.
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Die Konflikte dieser ältesten Welt wollte Ranke nur soweit in Erinnerung bringen, bis aus ihnen ein ruhiger und haltbarer Zustand hervorging. Diese Stufe des weltgeschichtlichen Lebens war mit der Begründung der persischen Monarchie erreicht1). Unberührt von dieser Welt entstand in den hellenischen Stämmen ein lebensvolles, wie wohl in tausend Besonderheiten gespaltenes Volkstum, das sich an jedem Orte aus seinen eigenen Antrieben bewegte. Überall regte sich ein ursprüngliches Leben, das auf ein Element der Freiheit basiert war1). Dieser Unabhängigkeit, welche von niemandem Antrieb und Muster nehmen wollte, trat die ungeheuere, auf Unterwerfung gegründete persische Despotie entgegen. „Die Elemente der stetigen Unabhängigkeit und der großen konzentrierten Monarchie gerieten miteinander in einen Konflikt. In diesen Kämpfen konnten weder die Griechen die Perser, noch die Perser die Griechen unterwerfen3). Indem sich die hellenische Idee so behauptete, erhielt der griechische Geist einen ungeheueren Impuls. Es entstand eine Literatur, welche die Tendenz hatte, alles Wissenswürdige in sich aufzunehmen, und in den Künsten eine Blüte, welche das Vorbild aller kommenden Jahrhunderte wurde4). „Die Griechen hatten es zu einer idealen Weltanschauung gebracht, soweit sie mit menschlichen Mitteln zu erreichen ist, zu einer alle Richtungen umfassenden Literatur, der ersten aber auch großartigsten, welche jemals hervorgetreten5)." Währenddessen rieben sich die griechischen Staaten in ihrer Zwietracht und Rivalität selbst auf und bereiteten der mazedonischen Monarchie den Weg, die das orientalische Prinzip der Monarchie in das Abendland trug4). Aber hier wurde es gräzisiert, und mit Alexander ergoß sich der Strom griechischen Lebens bis tief nach Asien hinein. Wie nun aber in der wesentlich vom Begriff der Tradition her bestimmten Kulturidee Rankes nichts verlorengehen kann, wirkte der griechische Geist fort, und zwar als menschliches Vorbild und als theoretischer Gehalt in den Staatsmännern Roms7). In Rom war das Prinzip der Waffen, neben dem griechischen des Wissens und der Bildung zu vollkommener Ausbildung gelangt. Rom stellte seine Hegemonie über Italien her und rang sodann in den Kämpfen eines Jahrl)
«) *) *) *) •) 7)
Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.
W.-Gesch. Bd. I, i. S. 153. W.-Gesch. Bdy 4 I, x, S. 107. Epochen. S. 23, W.-Gesch. Bd. I, 1, S. 286, und Epochen, S. 24. W.-Gesch. Bd. I, 2, S. 127. Epochen, S. 23. Epochen , S. 24.
Der Begriff der Weltgeschichte
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hunderte die maritime und kommerzielle Vormacht Karthagos nieder. Im Zusammenhange der weltgeschichtlichen Notwendigkeit gesehen, meint Ranke, daß die karthagische Macht ohne Schaden für die universalhistorische Entwicklung gebrochen werden durfte, denn ihre Niederlage bedeutete zugleich die Abschaffung der wildesten Barbarei. Der Sieg der Römer war von humanitärem Wert 1 ). Doch ist auch die punische Macht nicht ohne tätigen Einfluß auf die Entwicklung der Kultur geblieben; der Obergang Hannibals über die Alpen eröffnete (gleichsam durch eine List der Idee) die Möglichkeit der Verbindung aller Völker des okzidentalischen Europas. „Der punische Semit eröffnet der europäischen Kultur ihren Weg*)." Deutlicher als an dieser Stelle hat es Ranke nirgends gemacht, daß das, was in seinen Augen die weltgeschichtliche Dignität verleiht oder verbietet, allein die Förderung oder Hemmung des Fortganges der abendländischen Kultur ist. Nachdem die römische Vormacht auf dem westlichen Mittelmeer gesichert war, drang sie siegreich nach Osten vor. Aus den römischen Revolutionswirren stieg die gesicherte Autorität des Prinzipats hervor, welche eine Bedingung für die Fortentwicklung der Welt bildete. Die Mission des römischen Imperiums bestand nun „in der Vereinigimg der ursprünglich voneinander verschiedenen Nationalitäten, wie sie sich um das Mittelmeer herum entwickelt hatten, zu einer homogenen Gesamtheit3). Diese welthistorische Aufgabe erfüllte das Imperium. Rom schützte nicht nur die Kultur, sondern eroberte ihr die barbarischen Gebiete Galliens und Britanniens, die seitdem ihrer Expansion offenstanden. Cäsar gebührt darum der höchste Ruhm, den die Geschichte zu vergeben hat4). Ranke erkannte der römischen Geschichte eine ungeheuere Bedeutung zu und wagte zu behaupten, daß die ganze Geschichte nichts wert wäre, wenn die Römer nicht existiert hätten. Völlig verständlich ist dieses Urteil nur, wenn man bedenkt, daß er Rom die Vermittlung, Vorbereitung und Schaffung aller zukünftigen
>) Vgl. W.-Gesch. Bd. II, ») Vgl. W.-Gesch. Bd. II, >) Vgl. W.-Gesch. Bd. III, S. W. Bd. 36. *) Vgl. W.-Gesch. Bd. II, Bd. I. S. 3.
1, S. 300, 412—413. 1, S. 212. 1, S. 3/4 und Gesch. d. P. Bd. I, Einleitung, 2, S. 318, Epochen S. 25, und Frz. Gesch.
III. Teil
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Kultur zurechnete, und daß er in der Kontinuation und Tradierung der errungenen geistigen Gehalte eben das wahre Wesen der Kultur erblickt. 1 ) Der Bildung des Weltreiches entsprach die Entstehung einer Weltliteratur, welche alle Zweige des Wissens umfaßte 2 ). Von ihren Produktionen aber wurden nicht alle geistigen Bedürfnisse der Menschen gestillt, und unmöglich konnte es das Ziel der universalhistorischen Bewegung sein, daß alle Völker „in den Heiligtümern der Stadt Roma und des Augustus anbeten sollten*)". Darum war es von der größten Bedeutung, daß die Römer an ihren Grenzen im Osten und Westen einen Widerstand fanden, durch den die Beschränktheit der Macht des göttlichen Cäsar allen offenbar werden mußte. Die Unüberwindlichkeit der Parther hat für Ranke nur die Bedeutung, daß der Kreis der Kulturwelt nach Ostasien hin gewaltig beschränkt wurde4). Hingegen offenbarte die Rettung der noch unbezwungenen Elemente des germanischen Nordens in dem Widerstande, den die Nation der römischen Herrschaft leistete, eine Kraft, durch welche dieser noch ein ganz anderes Schicksal vorbestimmt wurde, als das eine römische Provinz zu werden5). Es ist der Deutsche, und zwar der protestantische Deutsche, der hier zu uns redet, für den die Freiheit aus den Wäldern Germaniens gekommen ist. Die Beschränkung der römischen Macht durch die Germanen stand in dialektischem Konnex mit der Verkündigung des allgemeinen Gottes. Auf dem Boden des jüdischen Volkes, anknüpfend an die älteste Überlieferung und Überzeugung der Menschheit, verkündete Jesus Christus den höchsten göttlichen Schöpfer, „dem Menschen zugewandt, selbst menschlich, nicht allein mit seinem moralischen, sondern auch mit seinem intellektuellen Wesen innig vereint8). So wurde Prometheus von seinem Felsen erlöst, und die Menschheit in ihr ursprüngliches Dasein zurückgerufen. Es erhob sich das Bewußtsein einer allumfassenden Gemeinschaft, das an die Uridee der Urzeiten anknüpfte. Doch wurde das Christentum erst durch seine Verbindung mit der antiken Kultur zur Weltreligion. „Das Römische Reich war dadurch noch in einem anderen Sinne als zur Zeit des Augustus der ') *) *) ') ») •)
Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.
Epochen, S. 21. W.-Gesch. Bd. III, 1, S. 5. Epochen, S. 27. W.-Gesch. Bd. II, 2, S. 256, und Epochen, S. 26. W.-Gesch. Bd. III, 1, S. 5Ö. W.-Gesch. Bd. III, 1, S. 167, 171, 170.
Der Begriff der Weltgeschichte
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Mittelpunkt der Welt geworden. Wenn die intensive Macht des Kaisertumes auf den griechisch-römischen Institutionen, die in Rom vereinigt waren, beruhte, so tritt im Christentum die Idee der ältesten Welt, welche durch das Judentum vermittelt, in das Römische Reich gekommen war, doch in einer von dem Boden beschränkter Nationalität losgerissenen, idealen Gestalt in dem Reiche Konstantins des Großen hervor 1 )." Man sieht, wie es immer wieder jene eigentümlichen Begriffe der Tradition und der Kontinuität sind, die Ranke bei der Verteilung der Wertakzente vorzüglich leiten. Zu den Produktionen einer allgemeinen Literatur und den Institutionen der Weltkirche trat die Entwicklung eines allgemeinen Rechts. In ihm hat sich der eigentümliche Genius der Römer, der juridischer Natur war, aufs ursprünglichste bekundet. Durch seine wissenschaftliche Entwicklung streifte das römische Recht alles Partikuläre ab und wuchs wie ein Baum von tiefen Wurzeln, welcher die Welt überschattete2). Die Propagation dieser im römischen Imperium vereinigten Elemente der Kultur war nun das wichtigste Moment der Weltgeschichte. Eine Verbreitung der Kultur durch die römischen Waffen hätte zu einer vollständigen Romanisierung und Gräzisierung der Welt geführt. „Dahin aber sollte es nicht kommen." „Die Propagation der welthistorischen Ideen und der Kultur, wie sie sich im Römischen Reiche entwickelt hatte, wurde mehr vollzogen durch die Eroberungen fremder Völker im Römischen Reich, als durch die Eroberung der Römer über fremde Nationen 3 )." Die barbarische Invasion erfolgte teils von arabischen, teils von germanischen Stämmen4). Die Araber teilten mit den Germanen die Übernahme des hellenistisch-römischen Kulturerbes, während sie in der religiösen Entwicklung sich von ihnen trennten. Auch der Islam knüpfte an die ältesten Erinnerungen der Menschheit, den jüdischen Monotheismus, an. Aber er nahm diese aus fabelhafter, hauptsächlich talmudischer Überlieferung, so daß der innere Zusammenhang verloren ging. ») Vgl. W.-Gesch. Bd. VI, I, S. 546. a)
Vgl. W.-Gesch. Bd. III, 1, S. 395, und Epochen, S. 27. Vgl. Epochen, S. 34. 4) Ranke war keineswegs blind für die außerordentlichen Leistungen des Islam. Noch im hohen Alter hatte er die Absicht, arabisch zu lernen. Die Kulturüberlegenheit der Araber während des Mittelalters wird ihm nicht verborgen geblieben sein (vgl. Helmolt, a. a. O., S. 84, und Lorenz, a. a. O., Bd. 2, S. 113). 3)
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III. Teil
Die abendländische Kultur hingegen verknüpft sich durch die alexandrinische Übersetzung des Pentateuch in regelmäßiger, historischer Kontinuität mit den ältesten Überlieferungen1). Es bedarf keines Wortes, daß diese Argumentation, so sehr sie sich scheinbar auf Tradition und Historie gründet, ihrem Wesen nach eine dogmatische ist. Niemand aber wird glauben, daß Ranke sich selbst mit dieser Art von Begründung hätte begnügen können. Gedenken wir hier noch einmal der großartigen Charakteristik, in der er den Geist des Okzidents, dem des Morgenlandes gegenüberstellt, jenen heroischen, aktiven, auf Tat und Ausbreitung gerichteten abendländischen Geist, vor dem er den Stern des Orients im Verbleichen sah2). Den tieferen Grund jener welthistorischen Überlegenheit, an der Ranke „auch ohne Sympathie der Zugehörigkeit" festhalten zu können meinte, sah er darin, daß in der christlichen Welt die Strömungen des geistigen Lebens bis in die Tiefe der Nationen herabreichen, während im Islam, als einer reinen Herren- und Erobererreligion, nur die herrschende Klasse an ihnen Anteil3) hat. Darum konnten im Abendlande Kirche und Staat sich aus den Kräften der Völker immer wieder regenerieren, während die welthistorische Bewegimg des Islams nach dem glänzenden, aber transitorischen Ergebnis des Siegeszuges der Omaijaden und Abbassiden zum Stillstand kam4). Die abendländische Entwicklung beruht in Rankes Darstellungen ganz auf der Invasion der germanischen Stämme. Es verdient wohl angemerkt zu werden, daß schon Ranke sich gegen die universalhistorische Zulänglichkeit der konventionellen Periodisierung im Altertum, Mittelalter und Neuzeit ausgesprochen hat 6 ). Allerdings hat er nicht, wie die Anhänger der Theorie vom Kreislauf der Lebensbewegung der Kulturen das universalhistorische Element in ein rein formales aufgelöst und an dieser Stelle eine dritte magische Kultur zwischen die antike und die abendländische eingeschoben, sondern an der Realität der weltgeschichtlichen Bewegimg festgehalten. An die Auflösung des weltgeschichtlichen Gefüges konnte derjenige nicht glauben, der in ihm das Wirken der providentiellen Weisheit ahnen zu können meinte. Demzufolge besteht für Ranke das Problem eines Widerstreites der chronologischen mit der historischen Zeit überhaupt nicht, ») ') •) *) 4 )
Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.
W.-Gesch. Bd. III, 2, S. 3—4. S. W. Bd. 43/44. S. 5l8ff. W.-Gesch. Bd. VI. 1, S. 2. Epochen, S. 45. W.-Gesch. Bd. IV, 1, S. 370, und Lorenz, Bd. I, S. 225
Der Begriff der Weltgeschichte
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und er hat für sich sehr schlicht entschieden, daß es Universalgeschichte nicht geben könnte, ohne eine die Völker zusammenfassende Chronologie1). In den folgenden Epochen bildeten sich durch die einigende Macht der Kirchen die großen Nationalitäten heraus. „Dergestalt sind in den Konflikten der Religion und Nationalität neue Reiche gegründet, Italien und Spanien sind dadurch umgebildet, Gallien in das Reich der Franken, Britannien in ein angelsächsisches Gemeinwesen verwandelt worden8)." Hierauf nun beruht der Zusammenhang der neueren Welt mit der alten und ältesten. Die christliche Religion schloß, wie wir wissen, nach Rankes Ansicht die Überlieferung der Urzeiten ein. Die Form, in der sie den germanischen Stämmen in der Vermittlung der Kirche nahe gebracht wurde, war erfüllt von Elementen der alten Kultur. So entstand ein einheitlicher Zusammenhang mit der ältesten Welt, in dem alle wichtigen Gehalte der alten Geschichte an die neuere weitergegeben wurden. Fast auf allen Gebieten des Lebens kam es zu einer analogen Rezeption Am stärksten und nachhaltigsten wirkte sie auf dem Gebiete des Rechtes. Die nationalen Gewohnheiten stellten sich dem römischen Rechtsbegriff anfangs entgegen. Erst aus einer Vereinigung des germanischen Gefolgschaftsgedankens und des römischen Staatsprinzips entwickelte sich der noch in seinen Anfängen begriffene Staat8). Die Verfassung der neueren Staaten ist darum aus drei Momenten zu erklären: dem Begriff der höchsten Autorität, wie sie sich im Römischen Reiche darstellte, ihrer Verbindung mit der Kirche, endlich der Durchdringung dieses doppelten Gehorsams mit den Tendenzen der germanischen Autonomie. „Das ganze Leben der neueren Jahrhunderte beruht auf der durch die Ereignisse herbeigeführten unauflöslichen Verbindungen derselben und ihrem fortwährend wirksamen inneren Gegensatz4)." Und die ursprüngliche Verschiedenheit dieser Elemente führte dazu, daß die Gemeinschaft der romanisch-germanischen Nationen nie unter die unbedingte Herrschaft eines von ihnen gelangen kann. In der Totalität des Fortwirkens des erarbeiteten Kulturbestandes bildete die Wiederaufnahme der Idee des Imperiums ein wichtiges Moment. Dieser Begriff erfüllte noch immer den geistigen Horizont, obwohl seine reale Macht geschwunden war. Die Er») ») ») «)
Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.
W.-Gesch. Bd. I, 2, S. 281, und Kaerst, H.-Z. Bd. m , S. 257. W.-Gesch. Bd. IV, 2, S. 241 ff. W.-Gesch. Bd. IV, 2, S. 242 ff. Frz. Gesch. Bd. IV, S. 306, S. W. Bd. 11.
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neuerung der höchsten Gewalt ging von dem fränkischen Reiche aus, von dem schon die Gefahr einer islamitischen Invasion abgewehrt worden war. „Das Papsttum wurde durch das Königtum gerettet, und das Königtum von dem Papsttum zur höchsten Autorität erhoben1). Karl der Große verwirklichte jenen „kriegerisch-priesterlichen Staat", der als Idee das ganze Mittelalter beherrscht hatte. Die Zusammenfassung der mittelalterlichen Völker- Staats- und Kirchenwelt in diesem Begriff des kriegerischpriesterlichen Staates gehört zu den größten Leistungen von Rankes universalhistorischem Denken2). In dieser Gemeinschaft vertrat das Kaisertum gleichsam das germanische, das Papsttum das romanische Prinzip. Der germanische Gedanke in der Weltgeschichte äußerte sich in der Autonomie der weltlichen Gewalt, während der romanische am eigentümlichsten in der Hierarchie und dem Klerus zum Ausdruck kam. Aber auch „die Monarchie Karls des Großen schien sich in einen geistlichen Staat umwandeln zu wollen. Auf immer ist es nun merkwürdig, daß die ersten Handlungen, in der die Deutschen vereinigt erschienen, der Widerstand gegen jenen Versuch der Geistlichkeit ist, den Kaiser und Herrn abzusetzen3)". Dennoch vermochten Karls Nachfolger seine großartige Stellung nicht zu behaupten. Das Kaisertum konnte seine Ansprüche gegen die verbündeten Bestrebungen der Aristokratie und des Papsttums nicht aufrecht erhalten. Das Papsttum emanzipierte sich zuerst vom Kaisertum, um sich sodann über dasselbe zu erheben und alle Prätensionen einer imperialen Herrschaft seinerseits zu verfechten. Es verbündete sich mit den großen Vasallen, dem europäischen Adel und den mächtig emporschießenden italienischen Kommunen, und gab dieser Weltherrschaft in den von allen Nationen gemeinschaftlich unternommenen Kreuzzügen einen großartigen Ausdruck. Die Kirche bildete in ihrer Vereinigung von Religion und Herrschaft, von Priestertum und Rittertum, Poesie und Kunst ein glänzendes, aber drückendes Ganze4). Im germanischen Wesen aber lag ein unendlicher Freiheitstrieb. „Die Germanen waren aus ihren Wäldern gekommen, um das Römische Reich zu erobern, nicht aber, um der römischen Kirche dienstbar zu sein." In den nächsten Jahrhunderten löste *) Vgl. Epochen, S 47. ») Vgl. Deutsch. Gesch. Bd. 2, S. 3, und W.-Gesch. Bd. VIII, S. 400 (vgl. auch Meinecke, Germ.-röm. Geist im Wandel der Geschichtsauff. Pr. und Deutsch]., S. 117). *) Vgl. Deutsch. Gesch. Bd. I, S. 9. 4) Vgl. Epochen, S. 74.
Der Begriff der Weltgeschichte
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sich darum die Einheit des Staates und der Kirche auf. Die Nationen begannen sich zu regen, das feudalistisch-hierarchische und das städtisch-populäre Element stellten sich einander entgegen1). Es ist eine verwirrende Fülle von inneren Gegensätzen und miteinander ringenden Elementen, die sich dem welthistorischen Betrachter im 14. und 15. Jahrhundert darbieten2). Dennoch hielt man an den überlieferten Grundlagen der allgemeinen wie der besonderen Bildung fest und aus dem Getümmel der Kämpfe ging das alte Leben verjüngt empor1). Die größte universalhistorische Veränderung des Zeitalters ging von Deutschland aus. Sie lag auf religiösem Gebiet. Wir wiesen schon darauf hin, daß Ranke an Luthers Tat weniger den Akt der Protestation als den der Reformation hervorzuheben liebte. Er sah in der Reformation nicht so sehr einen Bruch mit den überlieferten Grundlagen, als vielmehr die Rückkehr des in die Tiefen des deutschen Wesens eingesenkten christlichen Geistes zu den ursprünglichen Fundamenten des Glaubens. Doch war Ranke, obschon überzeugter Protestant, dennoch kein Dogmatiker des Protestantismus. Er sah auch in ihm nur eine, freilich unendlich folgenreiche und fruchtbare Lebensbewegung, welche erschien, als ihr Welttag gekommen war. Der moderne Katholizismus verdankte ihr seine Entstehung4). Anfangs nun bildeten die reformierten Kirchen und die wieder belebte katholische Kirche den Nerv der neu sich bildenden Großstaaten: Frankreich und Spanien, England und Holland. Aber der Streit der Kirchen erschütterte die Kraft des Glaubenslebens. Die Einheit der romano-germanischen Völker beruhte hinfort nicht mehr auf dem Papsttum, sondern auf der Gemeinschaftlichkeit der Institutionen und der Kultur und auf dem Ineinanderwirken der Nationen5). Es entstand das System der großen Mächte; das System jener ungeheueren, von dem nationalen Prinzip belebter Staaten, die sich ein jeder aus seinem besonderen Lebensgesetz speisten und die doch alle auf verwandten Grundlagen beruhten und unlösbar miteinander verbunden waren. In dem 18. Jahrhundert erreichte die monarchische Tendenz ihren Höhepunkt6). Zugleich aber kam in den amerikanischen Unabhängigkeitskriegen das demokratische Element zur alleinigen !) «) •) 4 ) s ) •)
Vgl. Frz. Gesch. Bd. I, S. 37. Vgl. W.-Gesch. Bd. I X , 1, S. 2 7 o f f . Vgl. W.-Gesch. Bd. I X , 1, S. 2 7 o f f . Vgl. Epochen, S. 92, Frz. Gesch. Bd. I, S. 104. Vgl. Epochen, S. 97. Epochen, S. 125.
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Vorherrschaft und beseitigte jede monarchische Influenz1). Diese Idee des von unten her zu begründenden Staates bedeutete eine völlige Umkehrung der Prinzipien, auf denen die europäischen Staaten bis dahin beruhten2). Die Verwirklichung des demokratischen Staates in Europa war jedoch nicht die Realisation der echten Idee, sondern eine Abstraktion von ihr. Darum geriet die französische Nation, die dies ins Werk zu setzen unternahm, nach innen und außen in ein grenzen- und gestaltloses Chaos, das allein das napoleonische Genie zu bewältigen vermochte. Aber gegen seinen Universalismus erhoben sich nun die europäischen Nationen. Überall griff man auf die alten Grundlagen zurück. Weit davon entfernt, nur von destruktiven Tendenzen erfüllt zu sein, erneuerte das 19. Jahrhundert die Gebiete des Staates und des Glaubenslebens mit frischen Kräften, mit moralischer Energie8). Die Auseinandersetzung der beiden Prinzipien, der Monarchie und Volkssouveränität, nimmt ihren Fortgang. Aber auch diese trägt dazu bei, die Fortentwicklung des menschlichen Geistes zu fördern, solahge es den Monarchien gelingt, die zerstörenden Tendenzen der sozialen Revolution in Schach zu halten4). Denn es sind die uralten Elemente des europäischen Gemeinwesens, die in diesem Gegensatze nur verwandelt hervortreten. Ranke wollte keines von diesen Elementen missen und hielt sie alle für gleich notwendig6). „Die Ausbreitung des romano-germanischen Geistes ist eine ganz ungeheuere", um so mehr, da er nicht mehr durch die kirchliche Form gebunden ist und sich frei und ungebunden als Kultur durch die Welt ausdehnt. Die Kultur hatte sich zurückgezogen in die Nationen des entfernten Okzident. Aber von hier aus griff sie nun wieder in unerhörter Expansion in die Welt. Sie war verknüpft mit den Überlieferungen der Urzeit. Jeder wahrhaft bedeutende Gehalt war aufgenommen in den großen Fluß ihres Werdens. „In unaufhörlichen, immer neue Schöpfungen hervorbringenden Bewegungen und dennoch in allen Grundzügen sich selber treu, gleichsam in jedem Moment sein eigener Erbe, vollzieht sich das welthistorische Geschick"*). Dies ist die Mär der Weltgeschichte, wie sie Ranke erzählt hat, mit der Einschränkung freilich, daß diese Reduktion der konkreten Darstellung der welthistorischen Begebenheiten auf ') ») «) 4 ) «) •)
Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.
Epochen, S. 1 3 1 . Epochen, S. 135. S. W. Bd. 24. S. 38. Epochen, S. 142, and Bd. 53/54, S. 405. Epochen, S. 44. W.-Gesch. Bd. I X , 1, S. 270—275.
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den Umriß im groben und großen, von der lebendigen Fülle des Geschehens, der Ranke vor allem gerecht zu werden wünschte, nichts vermitteln kann. Man wird nicht sagen können, daß in der Gliederung des Stoffes feste Prinzipien der Periodisierung zutage treten 1 ). Die Periodisierung entspricht den Hauptkategorien des welthistorischen Interesses, der Abwandlung der großen politischen Körper und der Entwicklung der Religiosität. Im Rahmen dieser vor allem beobachteten Veränderungen periodisiert Ranke vorzugsweise nach Jahrhunderten, vielleicht, wie O. Lorenz vermutet hat, weil innerhalb dieser säkularen Perioden die Kontinuität und zugleich der schöpferische dialektische Umschlag dreier Generationen vom Ahnen bis zum Enkel sichtbar wird1). Die Rankesche Weltgeschichte ist das letzte große Geschichtsbild, in dem sich die christliche Religiosität in ihrer Verbindung mit den philosophischen Grundanschauungen des deutschen Idealismus geäußert hat. Zugleich aber ist sie die erste Universalhistorie, die den weltgeschichtlichen Zusammenhang unter Anerkennung der Ergebnisse der Entwicklung der historischen Wissenschaften in empirischer Weise aufzubauen sich bemüht hat. Aus der Heterogenität dieser beiden Grundelemente entspringen die Widersprüche, die wir nicht glaubten verbergen zu dürfen. In Hegel hatte der philosophische Idealismus den höchsten Grad der Durchdringung mit philosophischem Gehalte erreicht. Die Weltgeschichte und ihre Problematik war strukturgebend gewesen für sein System. In Ranke durchdrang sich die historische Wissenschaft in ihrer reinsten und stärksten Repräsentation mit religiösem und philosophischen Gehalt. Hegels Philosophie der Geschichte ist so wenig nur eine rationale Konstruktion, wie die Rankesche Weltgeschichte sich allein auf den historischen Befund der Empirie gründet. Jene verdankt ihre Wirkung nicht nur dem Tiefsinn der Begriffe, sondern vielmehr der konkreten Lebendigkeit ihrer historischen Anschauung, die die kräftige Ossaturder Systematik mit dem Fleisch und Blut der Historie belebte. Umgekehrt dankt die Rankesche Weltgeschichte ihren teleologischen Zusammenhang einem Zement überhistorischer Begriffe. l ) In den Vorträgen vor König Max unterschied Ranke allerdings eine Vielheit deutlich voneinander gesonderter Epochen seit der Vollendung der römischen Weltherrschaft. In der „Weltgeschichte" aber ist diese ein wenig didaktisch anmutende Trennung fallen gelassen worden, und das Ganze mehr als ein Strom dargestellt, der sich auf seine eigene Weise den Weg bahnt, anter steter Betonung der Übergänge und der Kontinuität. *) Vgl. O. Lorenz, a. a. O. Bd. II, und Troeltsch, Historismus, S. 737ff.
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III. Teü
Darum konnten sich in dem Ergebnisse ihres universalhistorischen Denkens die Wege zweier Geister begegnen, deren Richtungen einander fast strikt entgegengesetzt zu sein scheinen. Beide betrachten den Staat als den Zentralorganismus der Geschichte, um den sich die Entwicklung der Kultur konzentrisch bewegt, und beide sehen Staat und Kultur von nationalen Kräften erfüllt und gespeist. Hegel, wie Ranke, ist ein durchgängiger dialektischer Dynamismus der Ideen gemeinsam, eine ruhelose, über jedes erreichte Stadium hinausstrebende weltgeschichtliche Entwicklung, deren relativistische Konsequenz Hegel durch seinen Definitismus zerstört, während sie bei Ranke durch keinen Zielgedanken abgeschnitten wurde, und nur der Universalhistoriker selbst seinen Trost in dem Vertrauen auf die providentielle Leitung der Geschichte sucht und findet. Darum aber darf man das Verhältnis Rankes zu Hegel noch nicht als das einer geistigen Kindschaft ansprechen und Rankes berühmten Einspruch als den undankbaren Protest eines großen Sohnes gegen seinen Vater zu deuten suchen1). Was man allein zugeben könnte, wäre die Bestärkung Rankes in einem schon bewußten Bestreben durch das großartige, ja gigantische Unternehmen Hegels. Denn die Gemeinsamkeiten halten den von Ranke immer betonten Divergenzen doch nur eben die Wage. Neben Hegel steht für Ranke Niebuhr. Und der Schritt des Weltgeistes ist fortreißender als die in hypothetischen Wendungen vorgetragenen Erwägungen der Intention der Vorsehung. Auch leidet das Geschichtsbild Hegels nicht wie dasjenige Rankes an der Unversöhnlichkeit der Prinzipien. Der alle Gegensätze in sich begreifende Begriff des Geistes kann, je nachdem, ob er in seiner zeitlosen Entfaltung als Idee oder als zeitlicher Prozeß angesehen wird, den realen Verlauf der Weltgeschichte wie die Norm und den Wertmaßstab aus sich hervorgehen lassen. Der dynamische Auftrieb, der Prozeßcharakter, ist in Hegels Philosophie der Geschichte darum soviel stärker und einheitlicher und die angestrebte Lösung der Problematik um vieles präziser, wenn sie auch in sich nicht weniger sachlogische Schwierigkeiten birgt als diejenige Rankes. Rankes Antworten sind vermittelnder, man möchte sagen diplomatischer, sie enthalten jenen Rest logischer Unbestimmbarkeit, den er nicht entbehren konnte, wenn er dem Vgl. Troeltsch, Historismus, S. 271. Noch schärfer hatte Troeltsch vorher die Wirkungen der Hegeischen Dialektik auf Ranke betont, H. Z. Bd. 120 ff. (vgl. dagegen den berechtigten Einspruch G. v. Belows, Wiener historische Blätter 1922, 1, und auch Rothacker, a. a. O , H. Z. Bd 128. Vgl. auch Onken: Z. innere Entw. R, a. a. O.
Der Begriff der Weltgeschichte
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Historisch-Individuellen die göttliche Herkunft und die menschliche Freiheit zugleich sichern wollte, die es bei Hegel durch die pantheistische Aushöhlung verloren hatte. Rankes Weltgeschichte zeigt die äußerste Grenze, bis zu der die Wertwelt zurückgedrängt, beschwiegen und verhüllt werden konnte, ohne daß dadurch die konstruktiven Elemente der Universalhistorie wahrhaft gefährdet wurden. Die Epigonen des deutschen Idealismus brachten es doch nirgends zu einer originalen Weiterführimg der uns beschäftigenden Problematik1). Auch einem starken und ursprünglichen Geiste, wie Heinrich Leo, verdanken wir nur den Versuch einer Erprobung des Gedankens einer Stufenfolge der Kulturzeitalter, den Vico, Herder und F. Schlegel schon geäußert hatten, am Stoffe .selbst. Obwohl er sich entsclüeden gegen die ethnographische Gliederung ausgesprochen hat, lag ihm eine Stufentheorie von strenger Gesetzmäßigkeit fern*). Die Gefahr der Auflösimg der Universalhistorie in eine rein formale Übereinstimmung der in ihrem Werden geschiedenen Kulturverläufe tritt darum bei ihm noch nicht hervor, weil er durch eine Verbindung des Hegeischen Gedankengutes mit der supra-naturalistischen Anschauung der neuen Orthodoxie den christlichen Erlösungsgedanken seiner Weltgeschichte zum Ziel setzen konnte. Dadurch wurde die Universalgeschichte allerdings wiederum zur Heilsgeschichte und alle Bedrohungen des Historisch-Individuellen, die zu bannen das Ziel von Rankes tiefster Spekulation gewesen waren, wurden von neuem beschworen*). Die Entwicklung der Historiographie ging, wie man weiß, von dem Rankeschen Ideal universalhistorischer Kontemplation hinweg zu der sogenannten politischen Historie: Jener Generation großer Historiker, die das Erbgut der Rankeschen Methode weitertrugen, aber ganz der tätigen Durchsetzung und Bewältigung der staatlichen Aufgaben des nationalen Lebens lebten4). Allenthalben J) Vgl. Goldfriedrich, Die historische Ideenlehre in Deutschland 1902, S. 173—247 (vgl. Troeltsch, Historismus, die Entwicklungsidee des historischen Realismus, S. 464ff.). ') Vgl. v. Below, Deutsche Geschichtsschreibung 1916, S. 24. ') Leo konnte sich mit dieser Stufe der Exaktheit begnügen, weil für ihn, ebenso wie für Roscher, die Basis auf die diese Parallelismen der Kulturverläufe bezogen werden, der vom göttlichen Leben getragene Organismus ist und nicht, wie bei den positivistisch beeinflußten Versuchen, eine Uiriversalmechanik. ') Vgl. v. Sybel, Über den Stand der neueren Geschichtsschreibung, Kl. historische Schriften, S. 349, und Kaerst, H. Z. Bd. 106, 9 Beib. d. H. z. 6
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noch von den universalen, die Menschheit umfassenden Gedanken der idealistischen Philosophie getragen, machte man von ihren welthistorischen Perspektiven nur je nach Temperament und konkreten Anlaß einen mehr oder minder umfassenden Gebrauch. Ein strenger Geist, wie der Droysens, sah noch ganz im Geiste Hegels die Weltgeschichte als eine stufenweis fortschreitende Selbsterkenntnis des Geistes an1). Während H. v. Treitschke das freigewordene Strandgut der Hegeischen Philosophie mit christlichen Gedanken, aber auch mit denen des subjektiven Idealismus Kants und Fichtes zusammenbog, unbekümmert um die Provenienz wie um die systematische Kompossibilität. Ein Werk, wie die „Weltgeschichte im Umriß", bezeichnet diese Wandlung im Verhältnis zur Weltgeschichte aufs genauste1). In ihrem Untertitel „Federzeichnungen eines Deutschen" in der Betonimg einer bewußten Vorläufigkeit, in dem Bekenntnis zu einem edlen Dilettantismus liegt doch auch das Eingeständnis einer gewissen Inadäquatheit der Intention und der Mittel. Der Name Weltgeschichte wurde von da an fast nur noch für eine Sammlung von Nationalgeschichten angewandt, die man zuweilen nach geographischen Gesichtspunkten (Helmolt) zuweilen nach den Prinzipien eines für gleichsam gesetzlich erklärten Parallelismus nationaler Entwicklung (Lamprecht und Breysig)3), zuweilen aber auch völlig zusammenhanglos aneinanderreihte. Man war im Grunde zurückgekehrt zu der Hilflosigkeit und Prin zipienlosigkeit der voluminösen englischen Weltgeschichte, und wie damals, so war auch in diesem Stadium der Entwicklung das Fehlen jedes welthistorischen Zusammenhanges, der Verzicht auf die Herausstellung eines einheitlichen, sinnvollen, kontinuierlichen Werdestromes, nur der Ausdruck der totalen Desorganisation der abendländischen Wertwelt am Ausgang des 19. Jahrhunderts. Von diesem Zersetzungsprozeß, der primär als eine grundstürzende Umgestaltung der vitalen Grundlagen des europäischen Lebensanzusehen ist, blieb Ranke so unberührt, daß nicht einmal die Schatten der beginnenden Nacht von seinem Auge gesehen wurden. Die Umschichtung der europäischen Wertwelt selbst, die veränderte Ansicht der Geschichte und der Weltgeschichte, die von Marx begründet wurde, gewahrte er noch nicht. Ebensowenig ») Vgl. J . G. Droysen, Historik, Halle 1925. Vgl. auch Rothacker, Einleitung, S. 169ff. Über Treitschke vgl. Meinecke. Idee der Staatsraison, S. 501 ff. *) Vgl. Graf York von Wartenburg, Weltgeschichte im Umriß. *) Vgl. Kurt Breysig, Der Stufenbau und die Gesetze der Weltgeschichte 1905.
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erfuhr er die Macht, der die Humanitätsidee negierenden Schopenhauerschen Philosophie oder gar die Erschütterungen, die von Nietzsches Gestalt ausgingen1). J. Burckhardt hingegen lebte in dem vollen Bewußtsein der sich vollziehenden Umwälzung*). Sein historisches Genie vermochte sich darum nicht mehr zu dem Gedanken einer sinnvollen und einheitlichen Weltgeschichte zu erheben und war fast ausschließlich der Ergründung der Tiefendimension des geschichtlichen Lebens zugewandt. Es liegt eine tiefe geistesgeschichtliche Ironie darin, daß in dem Jahrzehnt, in dem Ranke seine Weltgeschichte schrieb, in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, ihre Fundamente, Christentum und Humanitätsidee, schon fast zerstört waren. Mit Spengler erreichte dann die Auflösung des weltgeschichtlichen Zusammenhanges ihren Höhepunkt. Der kontemplative Historismus wies einer kommenden welthistorischen Wissenschaft nur die Aufgabe zu, die Vielheit pflanzlich auf- und abblühender Kulturindividualitäten morphologisch vergleichend zu erforschen. Aber es mag nun mit der gedanklichen Geschlossenheit oder Zerrissenheit dieses Versuches stehen, wie es wolle, die Kopernikanische Ansicht der Weltgeschichte, die er fordert, hat selbst noch eine Absolutheit, die der Kultur, zur Voraussetzung. Und auf dieses feste Koordinatensystem wird die Weltgeschichte im ganzen Umfang bezogen; und nicht nur wird ein überall gültiges Netzwerk von Kulturbegriffen (wie Staat, Religion, Wirtschaft usw.) über die Weltgeschichte ausgebreitet, sondern es wird der Ablauf eines Seelentumes in gesetzmäßigen Stadien und die Erfüllung dieses Netzwerkes von Formen mit dem spezifischen Gehalt des Seelentumes als unbedingt gültig gesetzt. Dem Spenglerschen Unternehmen liegt also noch eine Kultursystematik und eine Metaphysik der Kultur zugrunde. Relativiert man auch die Absolutheit dieses Koordinatensystems, dann, aber nur dann, löst sich der weltgeschichtliche Zusammenhang wirklich auf. Jene zwischen der Behauptung und der Leugnung der Möglichkeit fremde Kulturen zu erkennen, unaufhörlich schwankende Haltung Spenglers, hat in der unmöglichen Verbindung von relativer und absoluter Erkenntnis ihren tiefsten Grund. Führt ') Die Gegenüberstellung des Rationalisten Feuerbach-Marx und der Irrationalisten Schopenhauer-Nietzsche als der großen Antichristen des 19. Jahrhunderts ist einer der tiefsten geistesgeschichtlichen Blicke Troeltschs (vgl. auch A Dietrich, Marx und Nietzsche. Dioskuren, Jahrb. Bd I, S. 388ff.). 2) Vgl. Die Weltgeschichte Betrachtungen und neuerdings die erschütternden Briefe Burckhardt* a. Preen, 1923. 9*
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III. Teil
man den Relativismus der Kulturbetrachtung bis zu seinen äußersten Konsequenzen durch, so entfällt schließlich auch die Möglichkeit einer alle Kulturen verstehenden Morphologie, und nur die Vergleichung der soziologischen Schemata bleibt übrig. Nach unserer Ansicht eröffnet sich hier die Möglichkeit von den monadisch gegeneinander isolierten Kulturindividualitäten, die als letzt erreichbare Ganzheiten der Weltgeschichte gar nicht bezeichnet werden dürfen, zurückzulenken zu der Ergründung des eigenen historischen Weltganzen. Nicht als ob ein solches Unternehmen noch getragen sein könnte von dem europäischen Glauben der alten Universalhistorien, als ob in ihm das letzte Wort aller Geschichte lebte; aber vielleicht doch als das letzte Wort der uns verständlichen Geschichte1). Wir vermessen uns nicht, mit diesen wenigen Worten den Umfang oder die Tiefe der Spenglerschen Leistung auch nur annähernd charakterisiert zu haben. Aber bei aller Bewunderung der Größe dieses Versuches glauben wir nicht, daß die Bewältigung der universalhistorischen Problematik auf diesem Wege möglich sein wird. Welche Gestalt die Universalgeschichte unseres historischen Weltganzen annehmen müsse, darüber ist hier nicht zu sprechen. Die Produktion einer Wertwelt, die von einer über die individuelle Willkür hinausreichenden Verbindlichkeit wäre, und die die verlorengegangenen oder doch problematisch gewordenen weltgeschichtlichen Perspektiven von neuem magnetisch zu erzwingen vermöchte, ist selbst ein Geheimnis der Geschichte über das weder Wunsch noch Wille etwas vermögen. Darum kann von von diesen materialen Bestandteilen einer neuen Weltgeschichte nicht gesprochen werden und nur einige formale Charakteristika können hier erörtert werden. Und da glauben wir sagen zu dürfen, daß, so wenig die weltanschaulichen und religiösen Überzeugungen, auf die Rankes weltgeschichtliches Denken basiert ist, uns heute ohne weiteres akzeptabel erscheinen werden, doch in den von Ranke für die Bewältigung seiner Aufgabe geprägten Begriffen der Tradition, des menschheitlichen Werdens, der strengen Auslese aus dem Makrokosmos des Geschehens und der Entstehung eines allgemeinen, universalhistorischen Zusammenhanges im Kampfe der Nationen, Richtlinien für eine zukünftige Geschichte unserer Kulturwelt liegen. Auch diese Begriffe haben, wie man weiß, ihre Geschichte. Sie sind nicht allein von Ranke aufgestellt und ange1 ) Vgl. zum ganzen M. Schröter, Der Streit um Spengler, 1922 (vgl. besonders die tiefsinnige Kritik K . Heinis, 151 ff.). Doch kann ich mich der Schröterschen Ansicht, besonders seiner Stellung zu dem historischen Wahrheitsbegriff, nicht ganz anschließen.
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wandt worden. Aber wie es eine Eigentümlichkeit des Rankeschen Werkes ist, daß man in ihm alle Stimmen des großen Geisterchores der deutschen Bewegung zu vernehmen glaubt, ohne daß darunter die Reinheit und Schönheit der Melodie seines eigenen Geistes zu leiden gehabt hätten, so sind auch diese Begriffe durch Ranke in so besonderer Weise der streng historischen Forschimg akkommodiert und andererseits so ganz über die Bereiche der Weltgeschichte ausgeweitet worden, daß sie als das eigenste Gut seines umversalhistorischen Denkens angesprochen werden dürfen. Man mag nun getrost zugeben, daß Rankes Weltgeschichte an Frische und ursprünglicher Anschauung hinter den großen Werken seiner Reifezeit ein wenig zurücksteht, und daß sie auch an Originalität der universalhistorischen Forschung nicht mit ihnen wetteifern kann. Sie befindet sich dennoch auf der vollen Höhe der methodischen Bewältigung der universalhistorischen Problematik, und die Praxis der Weltgeschichtsschreibung wird, wenn sie ihr Vorbild unter dem richtigen Aspekt zu würdigen weiß, nicht aufhören können, von ihr zu lernen.
VERZEICHNIS DER HÄUFIGER VERWENDETEN ABKÜRZUNGEN. VV. Gesch. = Weltgeschichte. Ref. Gesch. = Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation, l r rz. Gesch. = Französische Geschichte vornehmlich im 16. und Jahrhundert.
17.
Engl. Gesch. = Englische Geschichte vornehmlich im 17. Jahrhundert. Gesch. d, P. = Die römischen Papste in den letzten vier Jahrhunderten. Pr. Gesch. = Zwölf Bacher preussischer Geschichte. H. Z. = Historische Zeitschrift. Zugrunde gelegt wurde für die Zitate die Gesamtausgabe von Rankes Welken, Leipzig 1877.
HISTORISCHE ZEITSCHRIFT B E G R Ü N D E T VON H E I N R I C H VON H E R A U S G E G E B E N VON F R I E D R I C H
SYBEL MEINECKE
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1924.
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1848
192 S. 1925.
Brosch. M . 6 . — B e i h e f t 4: D e r tierische Magnetismus in Preußen vor und nach den Befreiungskriegen.
Von D r . W i l h e l m
E r m a n . 1 3 2 S. 1 9 2 5 . B r o i c h . M . 5.20 B e i h e f t 5 : D i e Idee einer altgermanischen Freiheit vor Montesquieu.
Von D r . E . H ö l z l e .
1 1 8 S.
1925.
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R. OLDENBOURG / MÜNCHEN UND BERLIN