Radiopoetik des sozialistischen Realismus: Sowjetische Autor_innen zwischen individuellem und kollektivem Sprechen 9783839441619

The Soviet radio and the development of socialist realism - Oxana Monteiro analyzes new forms of literary narrative as a

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German Pages 258 Year 2018

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Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
Radiopoetik
Schauplätze der Radiopoetik
Radiopoetische Motive im Film
Radiopoetische Erzählstrategien
Sakralisierung des Politischen
Zusammenfassung
Literatur
Abbildungen
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Radiopoetik des sozialistischen Realismus: Sowjetische Autor_innen zwischen individuellem und kollektivem Sprechen
 9783839441619

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Oxana Monteiro Radiopoetik des sozialistischen Realismus

Edition Kulturwissenschaft | Band 163

Dieses Buch ist meiner Familie gewidmet, besonders meinem Mann William, der mit seinem großem Optimismus vom Erfolg dieser Arbeit immer überzeugt war und mich mit sehr viel Enthusiasmus unterstützt hat. Auch widme ich dieses Buch meinen Kindern, deren Anwesenheit die Arbeit an der Dissertation mit Leben ausgefüllt hat, und natürlich meinen Eltern, die immer und ohne Fragen zu stellen mich bei jedem Schritt meines Lebens begleiten.

Oxana Monteiro lebt in Konstanz und forscht u.a. zur Literatur-, Kultur-, und Mediengeschichte Osteuropas und Zentralasiens. Die Literatur- und Medienwissenschaftlerin wurde an der Universität Konstanz promoviert und war Mitglied des Graduiertenkollegs »Das Reale in der Kultur der Moderne« der Universität Konstanz.

Oxana Monteiro

Radiopoetik des sozialistischen Realismus Sowjetische Autor_innen zwischen individuellem und kollektivem Sprechen

Zugl. Diss. Universität Konstanz 2014

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2018 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Umschlagabbildung: Radioslušatel (Der Radiohörer). 04.11.1928. H.9. Autor unbekannt. Glavlit. Moskau. Lektorat & Korrektorat: Rebecca Gretsch (Stuttgart) und Anna Göttke (Berlin) Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4161-5 PDF-ISBN 978-3-8394-4161-9 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhaltsverzeichnis

Einleitung | 7 1. Radiopoetik | 17

1.1 Zum sowjetischen Radiodiskurs der 1920-1930er Jahre | 17 1.1.1 Von der Radiokunst zur literarischen Radiophonie | 17 1.1.2 Authentische Schriftstellerstimme oder Levitans Magie der Macht | 33 1.2 Sozialistischer Realismus und neue Medien des 20. Jahrhunderts | 39 1.2.1 Schriftstellerkongress 1934 als radiophones Ereignis | 39 1.2.2 Zwischen Schriftfixierung und kollektivem Sprechen | 48 1.3 Zum Begriff der Radiopoetik | 59 1.4 Radiopoetisches Schreiben? | 70 2. Schauplätze der Radiopoetik | 71

2.1 Radio als fiktionale Erzählung | 71 2.2 Radioräume | 86 2.2.1 Radiofizierte Kolchose | 86 2.2.2 Sozialistischer Raum | 101 2.3 Zwischen Erzählen und Kreieren | 111 3. Radiopoetische Motive im Film | 113

3.1 Stimmen hören in Odna | 113 3.2 Vertovs Radio-Klänge. Simfonija Donbassa zwischen alter und neuer Religion | 125 3.3 Zur Sichtbarkeit des Tons | 140 4. Radiopoetische Erzählstrategien | 141

4.1 Konstantin Fedin: Sich aus der Schrift befreien | 141 4.2 Michail Šolochov: Die Macht des Kollektivs | 158 4.3 Nikolaj Ostrovskij: Die Qualen des Schreibens | 175 4.4 Leonid Leonov: Am Ende des Erzählens | 188 4.5 Was nach dem Ende bleibt | 204 5. Sakralisierung des Politischen | 207

5.1 Heilige Figuren und ihre Folgen | 207 5.2 Religion, Macht, Medien | 229

6. Zusammenfassung | 245 Literatur | 247 Abbildungen | 255

Einleitung Стране, ориентирующейся на массы, радио необходимо, как воздух для дыхания. (Einem Land, das sich an Massen orientiert, gibt das Radio die Luft zum Atmen.) GOVORIT SSSR (1934, H.19, S. 49.)

Diese Studie beschäftigt sich mit der Formierung der Literatur des sozialistischen Realismus in der Sowjetunion als Folge des Aufkommens neuer elektronischen Massenmedien in den 1920er und 30er Jahren. Jenseits der Zensierung und Lenkung durch staatliche Institutionen wird die sowjetische Literatur nachhaltig vom Rundfunk beeinflusst, der sich in den 1920er Jahren zum Sprachrohr der sowjetischen Kulturpolitik entwickelt. Über das neue akustische Massenmedium geht die sozialistische Literatur eine Beziehung mit der sowjetischen Macht ein, die über die ideologischen Bestrebungen des Staates hinausreicht und sich zu einer massenmedialen Kommunikationsform zwischen politischen Machthabern und Schriftstellern entwickelt. In dieser Dreierkonstellation Literatur – Radio – politische Macht entstehen zahlreiche Heldenfiguren und Narrative, die stark von der kulturellen Reproduktion heiliger Figuren und Symbolen des Christentums profitieren und sich durch elektroakustische Transformationen des literarischen Wortes rasant vervielfältigen und in der ganzen Sowjetunion verbreiten. Als erstes elektronisches Medium nimmt das Radio 1924 mit den regelmäßigen Radionachrichten des Rossijskoje telegrafnoje agentstvo (ROSTA) in der Sowjetunion seine Arbeit auf und entwickelt sich in den nächsten fünfzehn Jahren zum wichtigsten Massenmedium des Landes. Dieses Buch konzentriert sich auf die Verbindung zwischen Literatur und Radio und beschreibt Transformationsprozesse des schriftlichen literarischen Schreibens zum radioakustischen Sprechen. Die Formierung des sozialistischen Realismus wird als Mediumwechsel der Literatur vom schriftlichen zum „quasi“-mündlichen Erzählen begriffen.

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An einzelnen literarischen Beispielen wird untersucht, wie jene Transformationsprozesse vom literarischen Schreiben zum elektroakustischen Sprechen funktionieren und wie gleichzeitig die politische Macht in der Sowjetunion die massenmediale Transformation des literarischen Erzählens nutzt, um religiöse Symbolik zu produzieren und sich als sakrale Macht zu positionieren. Der Fokus richtet sich auf die Entstehung der Radiopoetik als literaturästhetische Praxis, mit der das Radio nicht nur als Bühne zur Verbreitung der sozialistischen Ideologie in Erscheinung tritt, sondern mit der das literarische schriftliche Erzählen mit dem medialen „Hörraum“ konfrontiert wird und damit die individuelle, intime Erfahrung des Schreibens zu einem kollektiven Ereignis und zum Produkt der kollektiven Kommunikation macht. Die politische Macht dringt in den Bereich der quasi-religiösen Unantastbarkeit ein, weil sie jeglicher individuellen Reflexion und Stellungnahme durch die Literatur beraubt wird und stattdessen durch die elektroakustische Massenverbreitung, von der auch die Literatur vereinnahmt wird, omnipräsent und gleichzeitig unsichtbar agiert. In den letzten 20 Jahren erfreut sich der sozialistische Realismus einer hohen Aufmerksamkeit seitens der slavistischen Forschung. Besonders in der Literaturwissenschaft sind dazu einige wichtige Arbeiten publiziert worden. Der Fokus dieser Studien richtet sich vor allem auf die Beziehung zwischen Literatur und politischer Macht. Es geht zum einen um die Formierung eines Masterplots, an dem sich alle sozialistisch realistischen Romane kanonisch orientieren, zum anderen um Zensierung und Institutionalisierung des Literaturbetriebs in der Sowjetunion seit den 1930er Jahren. Eine wichtige Studie in diesem Bereich ist das Buch von Hans Günther Der sozialistische Übermensch: M. Gor’kij und der sowjetische Heldenmythos, das 1993 erschienen ist. Dort entwickelt Günther am Beispiel Gor’kijs eine Beschreibung des sozialistischen Helden, die er zwischen der Philosophie Nietzsches vom Übermenschen und der Tradition des prometheischen Denkens des 19. Jahrhunderts ansiedelt. So sei der positive Held des sozialistischen Realismus der Erbauer des neuen Lebens und Überwinder von Hindernissen und Feinden. Der heroische Mensch als Idealbild sei das Kernstück des totalitären Gesamtkunstwerks, so Günther in seinen Überlegungen, und mündet in seiner bedingungslosen Hingabe an das Ganze im sowjetischen Enthusiasmus, den Günther als Reduktion und Verzerrung des Helden im Vergleich zu seinem mythologischen Vorgänger bezeichnet1. Hier spricht Günther auch vom sozialistischen Realismus als Staatsgesamtkunstwerk einer totalitären Kultur, die eine glatte, geschlossene Oberfläche bilde

1

Vgl. Hans Günther: Der sozialistische Übermensch. M. Gor’kij und der sowjetische Heldenmythos. Stuttgart 1993, S. 195ff.

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und die nach innen durch erzwungene Harmonie und nach außen durch aggressiven Heroismus bestimmt werde.2 Auch zum christlichen Märtyrer stellt Günther eine Verwandtschaftsbeziehung des sozialistischen positiven Helden her, indem er dem sozialistischen Helden eine Mischung aus christlicher Barmherzigkeit und Tollkühnheit bescheinigt.3 Den Begriff des Gesamtkunstwerks für die sozialistisch realistische Kunst greift Boris Groys in seiner Abhandlung Gesamtkunstwerk Stalin auf und beschreibt dort den Stalinismus als ein totales Kunstwerk4, das er vor allem als ein ästhetisches Phänomen ansieht und den Übergang von der Avantgarde zur sozialistischen Massenkultur als Fortsetzung der avantgardistischen Ideologie in der Ideologie der stalinistischen Kultur charakterisiert. Es geht um den radikalen, totalen Bestimmungsanspruch der Kunst der Avantgarde über die Gesellschaft und damit um die Konkurrenz zwischen politischer Macht und Kunst, die quasi auf gleichem Territorium5 operieren. Damit erfahre die Avantgarde als Bewegung gerade dann ihren Niedergang, wenn sie sich ästhetisch auf einem Höhepunkt befände, so Groys. Stalin erscheine nun nicht als Tyrann, der die Kunst staatlich vereinnahmt und auf dem Höhepunkt ihrer Entwicklung erstickt, sondern zunächst als Vermittler, als die Macht der Mitte, nach der sich die zerstrittenen und verfeindeten Gruppen der Avantgardebewegung sehnen, ohne zu ahnen, dass sie damit ihr Ende beschwören. So wie die Kunst eben den politischen Raum für sich beansprucht, betrachtet Groys umgekehrt die politische Macht des Stalinismus als ein in erster Linie ästhetisches Phänomen und spricht von einer radikalen Angleichung zwischen Kunst und Politik. Eine andere wichtige Studie in der Erforschung des sozialistischen Realismus ist die Untersuchung von Katerina Clark zum sozrealistischen Roman. In ihrem Buch Soviet novel. History as Ritual. bescheinigt sie der sozialistischen Literatur eine Schreibpraxis, die nicht in vollem Ausmaß ideologisch motiviert und von oben diktiert ist, sondern in erster Linie ein Teil dieser Ideologie darstellt und damit eine untrennbare Beziehung zur politischen Macht eingeht6. Die sozrealistische Schreibpraxis, besonders in der Stalinzeit, beschreibt sie als rituelle Reproduktion und Wiederholung von bestimmten Mustern, die sich an einzelnen proletarischen Vorbildromanen wie z.B. Gor’kijs Mat‘ (Mutter) orientieren und nach

2

Ebd.

3

Ebd.

4

Boris Groys: Das Gesamtkunstwerk Stalin. Die gespaltene Kultur in der Sowjetunion.

5

Vgl. B. Groys. Gesamtkunstwerk Stalin. 1988, S. 19ff.

6

Katerina Clark: Soviet novel. History as Ritual. Chicago 1981, S. 27ff.

München 1988.

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einem einheitlichen Plot funktionieren. Der Schriftsteller verkehrt in die Rolle des mittelalterlichen Ikonografen, der sich an bestimmten Formen orientieren und diese immer wieder reproduzieren soll7. Das Betrachten der literarischen als rituelle Praxis, ermöglicht im Anschluss an Clarks Überlegungen eine Öffnung des sozrealistischen Romans hin zu einer Betrachtung der sozialistischen Literatur als kulturelle Praxis, die als ein Netzwerk aus politischer Macht, religiöser Ritualität, Kunst und neuen elektronischen Medien des beginnenden 20. Jahrhunderts (Radio, Fernsehen) funktioniert, die in diesem Buch beschrieben werden. Eine kultursoziologische Sicht auf die Literatur und auf den Film des sozialistischen Realismus bietet Evgenij Dobrenko mit seiner Studie Politėkonomija socrealizma (Politökonomie des sozialistischen Realismus) an, in der er den sozialistischen Roman als einen Ort betrachtet, an dem die ästhetische Verwirklichung des Marxismus stattfindet und Sozialismus produziert wird. Damit kreiert Literatur eine Romanrealität, die einen Vorbildcharakter für die kulturelle Praxis und den sozialen Alltag haben soll und nicht umgekehrt die Wirklichkeit abbildet. So kann man von einer Hyperrealität sprechen, die in der Sowjetunion volkserzieherisch eingesetzt wird8. Neben den Studien zur Erforschung der Literatur des sozialistischen Realismus, in denen teilweise auch Übergänge und Gemeinsamkeiten zu anderen Medien (hauptsächlich zum sowjetischen Film) angedeutet werden, sind in den letzten Jahren eine Reihe interessanter Untersuchungen zum sowjetischen Film entstanden, die eine Betrachtung der sozrealistischen Ästhetik als eine medienübergreifende ermöglichen und die kulturellen Wechselwirkungen zwischen politischer Macht, religiöser Praxis und künstlerischer Produktion beschreiben. Zu erwähnen wäre an dieser Stelle eine Untersuchung von Oksana Bulgakowa Sovetskij sluchoglaz. Kino i ego organy čuvstv (Das sowjetische Hör-Auge. Film und seine Empfindungsorgane), in der es um ein Fortleben der avantgardistischen Filmprogramme im Sozrealismus der 30er Jahre geht. Hier eröffnet Bulgakowa eine Sichtweise auf die Entwicklung des sowjetischen Films vor allem als eine Wechselwirkung von unterschiedlichen Medien und Empfindungen. So findet eine ständige Substitution zwischen Sehen und Hören, zwischen Körper und Abbild, zwischen Sprache und außersprachlichen Wissensorganisation statt, die die

7

Ebd., S. 27ff.

8

Vgl. Evgenij Dobrenko. Politėkonomija socrealizma. In: Novoje literaturnoje obozrenije. Moskau 2007, S. 38-39.

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sozialistisch realistische Ästhetik zu einer zirkelförmigen, zyklischen und auch rituellen Kunst macht9. Eine direkte Verwandtschaft des Films mit der religiösen Praxis und darüber hinaus mit der Konzeption des Heiligen im Christentum stellt Natascha Drubek in ihrem Buch Russisches Licht. Von der Ikone zum frühen sowjetischen Kino dar. Wie der Titel bereits verrät, geht es vor allem um das christliche Konzept vom Abbild Gottes oder vom unmittelbaren Erscheinen des Heiligen in der profanen Welt, die im frühen sowjetischen Kino und in der Filmtheorie des beginnenden 20. Jahrhunderts in Russland / Sowjetunion ein Nachleben findet. Als elektrifizierte Ikone bezeichnet Drubek das Kino im Fazit ihrer Arbeit, nachdem sie an einzelnen Stationen historisch und strukturell die Gemeinsamkeiten zwischen Filmtheorie und Heiligenkonzepten der russischen Orthodoxie im Umgang mit Bild und Abbild nachzeichnet. Während dem sowjetischen Film viel Beachtung geschenkt wurde, blieb das Radio in der Slavistikforschung bisher eher ein Randthema. Zwar zeichnet sich seit einigen Jahren ein steigendes Interesse am sowjetischen Radio ab, eine ausführliche Untersuchung zum Radio in seiner Verflechtung mit anderen Medien wie Film und Literatur und in seiner Bedeutung für die sakrale Aufwertung der politischen Macht ist bisher ausgeblieben. Einige Aufsätze von Jurij Murašov allerdings beschreiben den Einfluss des Radios auf die kulturelle, soziale und politische Entwicklung des noch jungen Sowjetstaates in den 1920-30er Jahre und stellen die Zeitung ohne Papier und über jede Entfernung hinweg, wie Lenin zu Beginn der 20er Jahre das Radio nennt, in den Kontext der Entstehung des sozialistischen Realismus und des sowjetischen Ethos. Murašov spricht von einer rasanten Beschleunigung der massenmedialen Entwicklung in Sowjetunion der 1930er Jahre und sieht darin eine grundlegende Basis zur Popularisierung des sozialistischen Realismus und damit auch eine wichtige Voraussetzung zur Herausbildung des sowjetischen Ethos. Der Erfolg der elektroakustischen Sprache, die zunehmend die literarische Schrift zu unterwandern scheint, basiere damit auf einer traditionell russischen Skepsis gegenüber der Schrift im Gegensatz zum rituellen mündlichen Wort.10 Damit kann von einer

9

Vgl. Oksana Bulgakova. Sovetskij cluchoglaz. Kino i ego organy čuvstv. In: Novoje literaturnoje obozrenije. Moskau 2010. Bes. ab S. 204.

10 Vgl. Jurij Murašov: Sovetskij ėtos i radiofikacija pis’ma. In: Novoje literaturnoje obozrenije 86. 2007. S. 47-63. und J.M.: Das elektrifizierte Wort. Das Radio in der sowjetischen Literatur und Kultur der 20er und 30er Jahre. In: Musen der Macht. Medien in der sowjetischen Kultur der 20er und 30er Jahre. München 2003. S. 81-113.

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Konfliktbeziehung zwischen gesprochenem und geschriebenem Wort des sozialistischen Realismus gesprochen werden, die an die christliche Schriftskepsis anknüpft und damit nicht nur den christlichen Umgang mit der Schrift beerbt, sondern auch die Unauflöslichkeit und Aporie dieser Beziehung in der Literatur des sozialistischen Realismus durch dekliniert und die Schrift an ihre Grenzen bringt. Angesichts der Vielfalt der Forschung zum frühen sozialistischen Realismus und noch einigen offenen Fragen in Bezug auf die Verbindung zwischen unterschiedlichen Medien und vor allem die Bedeutung des sowjetischen Radios auf die literarische Schreibpraxis des frühen sozialisitisschen Realismus, beschreibt dieses Buch die Wechselwirkungen zwischen sowjetischer Machtrepräsentation, elektroakustischer Massenmedialisierung des politischen Sprechens und literarischen Schreibprozessen von 1920 bis 1950 in der Sowjetunion. Als Motivation für diese Arbeit diente zunächst eine simple Verwunderung darüber, dass eine Gesellschaft, die sich politisch, ideologisch, sozial und kulturell als eine im Kern atheistische versteht, gleichzeitig anscheinend ein unermüdliches Verlangen danach verspürt, in ihren kulturellen Erträgen, vor allem in Kunst und Literatur eine zahlreiche und variationsreiche Ansammlung von heiligen Figuren, Symbolen und Strukturen zu produzieren und nicht müde wird, sich selbst und das herrschende Ordnungssystem als ein sakrales in Bild und Text zu inszenieren. Beim näheren Betrachten der Vorbildromane des sozialistischen Realismus wie Nikolaj Ostrovskijs Kak zakaljalas‘ stal‘ (Wie der Stahl gehärtet wurde), Konsantin Fedins Bratja (Brüder), Michail Šolochovs Podnjataja celina (Neuland unterm Pflug), Leonid Leonovs Doroga na okean (Der Weg zum Ozean), Vasilij Iljenkovs Bol’šaja doroga (Der lange Weg) oder auch Aleksandr Fadeevs Molodaja gvardija (Die junge Garde) fiel wiederum auf, dass alle diese epischen, in ihrer Schriftlichkeit verwurzelten Romane dennoch ein eher gestörtes Verhältnis zur Schrift aufweisen und unterschiedliche Strategien entwickeln, um die Schrift zu überwinden. Um dem sozialistisch realistischen Erzählen näher zu kommen und es in seinen kulturellen und politisch-ideologischen Verflechtungen zu skizzieren, wird hier der Versuch unternommen, das literarische Erzählen über das Medium Schrift hinaus zu betrachten und es in Verbindung mit dem neuen elektroakustischen Medium Radio zu analysieren. In der Entstehungsphase des Radios kann man eine intensive Auseinandersetzung des sowjetischen Radiodiskurses mit dem literarischen Schaffen beobachten. Das literarische Schaffen wird quasi in den 1920-30er Jahren durch das Radio massenmedial vereinnahmt. An die Stelle des Schreibens setzt der sozialsitsche Realismus auf ein literarisches Sprechen und kreiert einen akustischen sozialistischen Raum, in dem neue „authentisch sprechende“ Literatur geschaffen werden soll.

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Als Grundlage für diese Untersuchung dienen u.a. Radiozeitschriften aus den 1920-30er Jahren, in denen teils aus technischer populärwissenschaftlicher Sicht, teils zu ideologischen Zwecken der Agitpropaganda, teils auch aus medienästhetischer Perspektive die Geschichte des Radios als Medium der Revolution und der Modernisierung geschrieben wird. Als Materialkorpus dienen Zeitschriften Radio vsem (Radio für alle, 1925-1930), Radioslušatel’ (Radiohörer, 1928-1930), Govorit Moskva (Moskau spricht, 1930), Govorit SSSR (UdSSR spricht, 1934-1936), Radiofront (1934-1936). Da sämtliche Audioquellen wie Aufzeichnungen von Radiosendungen aus dieser Zeit entweder nicht existieren, wie es die sowjetische Medienwissenschaft behauptet11, weil Radiosendungen überwiegend ohne Aufzeichnung live übertragen wurden oder die aufgezeichneten Sendungen während des II. Weltkriegs bei der Evakuierung Moskaus aus Angst, sie könnten dem Feind in die Hände fallen, auf Anweisung von oben zerstört wurden. Auch in den 1990er Jahren ging viel Material verloren, als Archive quasi herrschaftslos wurden, wo auch heute bei den Recherchen zu dieser Arbeit eine große Verwunderung seitens Archivmitarbeiter bestand, wenn sie sich das Forschungsanliegen anhörten. Die Recherche im Moskauer Phonoarchiv erweckte den Eindruck, dass entweder kein richtiger Überblick über die Bestände oder keine Bereitschaft besteht, diese der Wissenschaft, besonders der aus dem Ausland, zu öffnen. Die wenigen Audiodokumente, die man im Katalog gefunden hatte, befanden sich entweder auf Rekonstruktion oder der zuständige Archivmitarbeiter war krank, im Urlaub etc. So kann man tatsächlich nur vermuten, ob und welche Schätze das Archiv im Keller birgt und sich mit den Publikationen teils aus der Sowjetunion der 1970er Jahre oder mit wenigen historischen Publikationen zum Radio von der russischen Historikerin Tatjana Gorjajeva12 aus den vergangenen zehn Jahren abfinden. Allerdings lassen sich viele interessante Aspekte gerade aus den erwähnten Radiozeitschriften erkennen. Zum einen kann man gut verfolgen, wie das Radio als Massenmedium seine eigene Geschichte schreibt und sich hagiografisch erfindet. Zum anderen lassen sich Beziehungen zwischen Radiomacher und Zuhörer, zwischen staatlich organisierten Künstlerverbänden und Radioredaktionen und auch zwischen Künstler und Mikrophon gut nachvollziehen. Außerdem kann man aus den teilweise kontroversen Diskussionen um das neue Medium, den Radio-

11 Vgl. Radioiskusstvo. Teorija i praktika. Stat’i, komentarii, interv’ju, radiop’jesy. Hg. von V. P. Zverev. Iskusstvo Moskva 1981. / A. A. Šerel‘: Radioiskusstvo. Problemy istorii i teorii 1922-1941 gg. / V. Turbin: Režiser radio i teleteatra. Moskva Iskusstvo 1983. / G. Kazakov: Leninskije idei o radio. Moskva 1968. 12 Vgl. Gorjaeva, T. M.: History of soviet political censorship. Documents & commentaries (ru). Moscow 1997.

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und Mediendiskurs der 1920-30er Jahre sehr gut rekonstruieren und daraus interessante Ergebnisse für die Betrachtung des sozialistischen Realismus in Literatur und Medien erzielen. Darüberhinaus stellt diese Arbeit den sozialistischen Realismus in die Debatte um die Wiederkehr der Religiosität in der Moderne unter dem Aspekt der Sakralisierung des Politischen, die seit 2001 die deutsche Literatur- und Kulturwissenschaft stark beschäftigt. Dabei geht es um sakrale Figuren und Symbole, die unter der Fahne der Säkularisierung in der Kunst und Literatur, in der Pop-Kultur aber auch im Politischen ihr Nachleben feiern. Es geht um theologische Konzepte, die Eingang in gesellschaftliche und kulturelle Ordnungen finden und damit neue Ideologien formieren. Die Frage ist: Wie wird Sakralität der sowjetischen Macht in und durch Literatur und Radio generiert und welche neue Formen des poetischen Schreibens und Sprechens entstehen dabei? Zu einzelnen Kapiteln Kapitel 1: Im Zuge der Elektrifizierung der literarischen Sprache entsteht eine neue Form der Poetik, die unter dem Begriff der Radiopoetik verhandelt wird. An dieser Stelle wird beschrieben, an welchen poetischen Traditionen sich Radiopoetik orientiert und in wie fern diese Radiopoetik ein Konfliktpotenzial für die literarische Produktion darstellt. Von den medientheoretischen und populärwissenschaftlichen Überlegungen der Radiozeitschriften über die Selbstinszenierungen des sowjetischen Literaturbetriebs auf dem ersten Schriftstellerkongress im Radio bis hin zu Schreibkonzepten des auf dem Kongress proklamierten sozialistischen Realismus werden Verbindungen zwischen Literatur, Radio und politischen Institutionen beobachtet. Während die Radiopoetik das literarische Erzählen eher in eine Krise stürzt, lässt sich an einer anderen Stelle beobachten, dass sie sich neue ästhetische Räume erobert, in denen die Radiopoetik aber auch der Sozialismus erfolgreich funktionieren. Kapitel 2: Wie entstehen radiophone Räume, wie werden sie erzählt und wie formiert sich in diesen erzählten Räumen das kollektive Ethos des Sozrealismus? Zu solchen erzählten Räumen gehören neben der radiofizierten Kolchose auch sozialistische Räume, die Narrative konfigurieren und in denen die Elektrifizierung, die Radiofizierung und der Sozialismus reibungslos funktionieren. Kapitel 3: Das tatsächliche visuelle Eingrenzen erfährt die Radiopoetik im sowjetischen Film. An zwei Filmbeispielen Kozincev / Traubergs Odna (Allein, 1931) und Dziga Vertovs Enthusiasmus (1930) wird der Frage nachgegangen, wie

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einerseits der akustische Radioraum medialästhetisch konzipiert wird und wie andererseits dieser radiopoetische Raum zum neuen sowjetischen Nomos13 umcodiert wird. Kapitel 4: Im schriftlichen literarischen Prozess entstehen allerdings unterschiedliche Strategien, um die Inkompatibilität des literarischen Schreibens mit dem radiophonen Sprechen zu kompensieren und dem sozialisitischen Anspruch des kollektiven, unmittelbaren literarischen Sprechens gerecht zu werden. An literarischen Beispielen wie Nikolaj Ostrovskijs Kak zakaljalas‘ stal, Konstantin Fedins Brat’ja, Michail Šolochovs Podnjataja celina und sein Briefwechsel mit Schriftstellerkollegen, staatlichen Institutionen und Stalin und Leonid Leonovs Doroga na okean wird analysiert, wie unterschiedliche Erzählstrategien entwickelt werden, um die Individualität der literarischen Schrift zu überwinden und sich dem kollektiven Sprechen des Sozrealismus zu öffnen. Kapitel 5: Die Frage nach der Sakralisierung der sowjetischen Macht durch das Medium Radio wird besonders an den gescheiterten literarischen Versuchen der sozialistischen Vorbildromane deutlich. Anstatt eine Literatur des authentischen unverfälschten Sprechens zu erschaffen, verfangen sich diese Romane in der permanenten Aushebelung der eigenen materiellen Basis, der Schrift, und streben damit eine Art „göttliche” Erlösung an. Da die sozrealsitische Kultur, die im Kern eine atheistische ist, an keine Erlösung im Jenseits glaubt, wird diese im Diesseits des nichtexistierenden Sozialismus angestrebt. Es entsteht somit eine fatale Situation nicht nur für das literarische Schreiben, das sich permanent auslöscht, sondern auch für den Schreibenden selbst, der nun auch dem allumfassenden, radiophonen kollektiven Wort zum Opfer fällt. Sein poetisches individuelles Wort geht im sozrealistischen Kollektiv auf, bringt jedoch im Gegensatz zum christlichen Heilsversprechen keine Erlösung, sondern Auslöschung. An einzelnen Stationen wird in dieser Arbeit der Frage nachgegangen, wie die Literatur des sozialistischen Realismus der 1930er Jahre sich aus der Massenmedialisierung im Radio generiert und wie gleichzeitig diese radiopoetische Literatur zur Sakralisierung der politischen Macht in Sowjetunion beiträgt.

13 Der Begriff Nomos bezieht sich auf Carl Schmitts Buch Nomos der Erde. Jus publicum europäum, in dem die Auseinandersetzung mit der Legitimation der Landnahme als Eroberung und Besetzung des neuen Nomos verhandelt wird (ausf. dazu s. Kap. 5).

Radiopoetik

Z UM SOWJETISCHEN R ADIODISKURS J AHRE

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1920-1930 ER

Ende der 1920er Jahre entwickelt sich in den sowjetischen Radiozeitschriften ein Radiodiskurs, der sich zwischen politischer Agitpropaganda und populärwissenschaftlichen Abhandlungen, zwischen dem Einsetzen des Radios als Medium zur Entwicklung der proletarischen Kultur und den Versuchen, Radio als eigenständiges Kunstmedium zu etablieren, bewegt. Als Teil des technischen Diskurses, in dem das Radio einerseits als Experimentierbühne für die neue proletarische Literatur und Poetik fungiert1 und andererseits sich selbst als Radiokunst zu postulieren sucht, entstehen im akustischen Medium Formen des ästhetischen Ausdrucks, die sich von Film, Theater und Literatur distanzieren. Von der Radiokunst zur literarischen Radiophonie Der unterschiedliche Umgang mit dem neuen Massenmedium Radio durchlebt nicht nur zeitlich eine Veränderung, sondern wird in verschiedenen Zeitschriften durchaus unterschiedlich gefasst. Die Zeitschrift Radioslušatel’, die 1932 zu Govorit SSSR umgeformt wird, und die Zeitschrift Radio vsem in der Mitte der 1920er

1

Vgl. dazu Poetik der Avantgarde und das Radio, bes. die Radioarbeit Majakovskijs. J. Murašov: Das elektrifizierte Wort. Das Radio in der sowjetischen Literatur und Kultur der 20er und 30er Jahre. In: Die Musen der Macht. Medien in der sowjetischen Kultur der 20er und 30er Jahre. Hg. von J. Murašov und Georg Witte. München 2003, S. 81113, hier bes. S.90-96.

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Jahre und später zu Beginn der 1930er die Zeitschrift Radiofront liefern sich kontroverse Diskussionen um das Medium Radio.2 Während der Radioslušatel’ (Der Radiohörer) in seinen Ausgaben von 1928 bis 1930 das Radio als eine neue sozialistische Kunstform generiert, versteht Radio vsem (Radio für alle) von 1925 bis Ende der 1920er Jahre das Radio in erster Linie als politisches Medium im Auftrag der ideologischen Formierung der Gesellschaft und setzt stark auf die Verbreitung des Mediums in der ländlichen Periferie und in den neuen sowjetischen Republiken in Zentralasien. Es strebt damit eine ideologische Gleichschaltung durch das Medium an. Radiofront seinerseits wendet sich vehement gegen die Postulate der Radiokunstvertreter und polemisiert offen seit 1933 gegen die Redaktion von Govorit SSSR und ihre Autoren3, die

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Vgl. dazu Jurij Murašov: Das elektrifizierte Wort. Das Radio in der sowjetischen Literatur und Kultur der 20er und 30er Jahre. In: Die Musen der Macht. Medien in der sowjetischen Kultur der 20er und 30er Jahre. Hg. von J. Murašov und G. Witte. München 2003, S. 96ff.

3

Im Artikel Pod flagom „Radioiskusstva“ verfasst A. Ljubovič eine durchaus aggressive Kritik gegen die Diskussion um die Radiokunst in Govorit SSSR. Neben der Aufzählung der Mittel spricht er vor allem von der Energieverschwendung, die in Govorit SSSR als Nachfolgezeitschrift von Radioslušatel’ dafür aufgewendet wird eine Kunst zu postulieren und zu definieren, die nicht existiere. So heißt es z. B.: „Was stellt denn die sogenannte Radiokunst dar? Gibt es denn irgendwo bei den eifrigen Anhängern dieser zumindest eine Andeutung auf die Definition dieses ausgedachten Begriffs? Es gibt keine Definition, es kann sie nicht geben, weil es keine Radiokunst gibt. Die Ströme des leeren Geschwätzes darüber vertuschen eine ganze Reihe an Perversionen des künstlerischen Rundfunks, verdecken in vielen Fällen die Verhöhnung der Hörer aus der Arbeiterklasse, denen eine gekünstelte Form dargebracht wird, der jeder Inhalt entzogen ist, und in der der Lärm der Geräusche mit dem Geschwätz einer Elitegruppe, die sich mit der offensichtlichen und systematischen Schönfärberei beschäftigt, vollständig verschmilzt. / Что же представляет так называемое радиоискусство? Есть ли где нибудь у самых ярых его сторонников хотя бы намек на формулировку надуманного в радиохалтурных дебрях термина? / Нет формулировки и не может ее быть потому что и нет самого радиоискусства. Потоки пустой о нем болтовни замазывают, прикрявают ряд извращений в художественном радиовещании, прикрывают во многих случаях издевку над рабочим слушателем, которому преподносится вычурная форма, лишенная всякого содержания, в кртором трескотня звуковых инструментов полностью сливается с трескотней и шумом узко-замкнутой группы людей, занимающейся очевидным и систематическим очковтирательством.“

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Radiokunst als eine eigenständige Kunstform zu definieren versuchen. An dieser Stelle sollen Betrachtungen um Radiokunst, die in Radioslušatel’ / Govorit SSSR ausformuliert werden, nicht nur im Rahmen der politisch ideologisch geführten Debatten beobachtet, sondern vor allem aus der medienästhetischen Perspektive genauer analysiert werden. 1928/29 werden in vielen Artikeln des Radioslušatel’s Ansätze zur Definition der Radiokunst sichtbar, wie das nachfolgende Zitat belegt: „Der Rundfunk ist die jüngste Kunst. Eigentlich muss man sogar sagen, dass diese Kunst noch nicht geschaffen ist, sie wartet noch auf ihre künstlerische Form, auf ihren Künstler. Es kann jedoch daran kein Zweifel sein, dass der Rundfunk nach neuen künstlerischen Formen verlangt (die besondere Ausdruckskraft, das eigentümliche Spiel, deren Grundlage nicht in der Mimik, sondern im Klang liegt), dass diese Formen, neue Vortragskünstler seinerseits schaffen sollen, die sich von dem Künstler eines visuellen Theaters grundlegend unterscheiden. Der Rundfunk wartet auf den neuen Künstler. [Радио – самое молодое из искусств. В сущности говоря, это искусство еще не создано, оно еще ждет своих художественных форм, своих артистов. Но то, что для радио нужны именно новые художественные формы (особая выразительность, своеобразная игра, основа которой не в мимике, а в тембрах), что эти формы, в свою очередь должны создать новые кадры артистов-исполнителей, отличных от артистов зрительного театра,- а в этом уже не может быть никаких сомнений. Радиовещание ждет нового артиста.]“4

Radiokunst bestimmt sich aus der Opposition zu Theater und Film und verlangt nach einem neuen Künstler. Die Problematik, die hier entsteht, ist vor allem ästhetischer Natur: der Artikel ringt um Begriffe, sucht nach einer neuen Form für diese Kunst und changiert zwischen Begriffen wie Radiotheater, Radiofilm, Radioschauspiel. Im Zentrum dieser Debatten innerhalb der Radiopresse steht der Radiofilm, der zunächst als Bestätigung für theoretische Richtigkeit der Überlegungen in Radioslušatel’ zur Radiokunst hinzugezogen und als neue Kunst propagiert wird. In Abgrenzung zum Kinofilm, Theater und Literatur wird in Radioslušatel’ versucht, ein neues Genre zu kreieren und ideologisch zu positionieren. In der Auseinandersetzung mit dem Radiofilm5 als ursprüngliches Radiogenre generell

4

Molodëž k radiomikrofonu. In: Radioslušatel. H.6. 1928.

5

Die Bezeichnung Radiofilm wird in der Zeitschrift Radioslušatel‘ ausdrücklich in Abgrenzung zu Radioschauspiel / Radioteather / Hörspiel benutzt. Kritisiert wird mit dem Einführen des Begriffs Radiofilm besonders die Präsentation Werke anderer Kunst wie

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und der ausführlichen Präsentation und Kommentierung großer Radioproduktionen unter Hinzuziehung großer Theaterregisseure, wie Aleksandr Afinogenov wird die Medienreflexivität des Radioslušatel’s deutlich. Denn um den Radiofilm entstehen Debatten, die vor allem die technischen Rahmenbedingungen und Möglichkeiten wie auch die Apparatur selbst (Mikrofon, Lautsprecher, Radioempfänger) für das Schaffen der neuen Radiokunst in den Vordergrund rücken. In der 7. Ausgabe des Radioslušatel’s von 1928 widmet sich ein Artikel dem Erfolg des Radiofilms: „Den Erfolg des Radiofilms unter den Leningrader Radiohörer kann man für unumstritten halten. In Leningrad kann man sehr oft die Frage hören: ‚Hörten Sie den Radiofilm Stepan Chalturin?‘ Und diese Frage ist der beste Beweis jenes großen Eindrucks, den dieser Film und solche Sendungen auf die Radiohörer überhaupt erzeugt haben. Es kann sein, dass der Radiofilm jene seit langem gesuchte Form der Radiosendungen ist, die die gewöhnliche dramaturgische Form des Darstellens vor dem Mikrofon ersetzen soll. [Успех радиофильма среди ленинградских радиослушателей можно считать бесспорным. В Ленинграде можно очень часто услышать вопрос: „Слышали ли вы радиофильм Степан Халтурин?“ И этот вопрос является лучшим доказательством того большого впечатления, которое этот фильм и такая форма передач вообще произвели на радиослушателей. Может быть, радиофильм и есть та давно разыскиваемая форма радиовещательных передач, которая должна заменить обычную драматическую форму исполнения перед микрофоном)]“6

Die gewöhnliche dramaturgische Darstellung vor dem Mikrofon, wie dieser Artikel nun hofft und etwas unsicher als Frage formuliert, kann durch den neuen Radiofilm ersetzt werden. Damit würde das Radio eine eigene authentische Darstellungsform finden. Ein anderer Artikel aus dem Jahr 1929 der gleichen Zeitschrift ist da bereits etwas sicherer und in seiner Beschreibung und vor allem in der Definition des Radiofilms genauer. Der Artikel Dorogu radiofil’mu! (Freie Fahrt

Theater oder Literatur im Radio, das als besonders betontes Vorlesen in Erscheinung trete und keine eigenständige neue Kunstform darstellen würde. So wollen die Vertreter der Radiokunst in Radioslušatel‘ mit dem Radiofilm eine neue spezifische Form der Radiokunst schaffen. Radiofilm soll ein Werk sein, das speziell für das Radio geschrieben wurde, an die technischen und ästhetischen Besonderheiten des Mediums Radio angepasst ist. Vgl. Radioslušatel‘ 1928-1930. 6

Leningradskije pis’ma. Pohvala vragov. „Slyšali li vy radiofilm?” Vstreča „Krasina”. Marš pozyvnoj. In: Radioslušatel. 1928. H. 7, S. 12.

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dem Radiofilm!) präsentiert neben den Abbildungen der Aufnahmeapparatur wesentliche Kriterien des Radiofilms als eigenständiges Genre: „Radiofilm ist ein Film, der nur aus Lauten besteht, es ist eine Reihe von Klängen, die klar nach Drehbuch organisiert sind. Ebenso wie der Kinofilm eine Reihe aus montierten Bildern ist, ist der Radiofilm eine Reihe aus Klangbildern. Während der Film nur auf einem Material basiert, das aus visuellen Bildern besteht, hat der Radiofilm nur mit dem Material zu tun, der das aus Klängen besteht.[…] [Радиофильм, это – фильм, составленный только из одних звуков, это – звуковой ряд, организованный по стройному сценарному плану. Подобно тому, как кинофильм является рядом монтажно – связанных зрительных кадров, радиофильм является лентой звуковых кадров. В то время, как кинофильм строится на чисто зрительном материале, радиофильм имеет дело с материалом чисто звуковым. [...]]“7

Immer wieder in Opposition zum Kinofilm formuliert, setzt die Definition des Radiofilms auf die Grundlage technischer Besonderheiten, die ihn als rein akustische Kunstform von allen anderen unterscheidet. Das Einführen der neuen darstellenden Kunst des Radiofilms funktioniert damit nur über die Sichtbarmachung der technischen Apparatur, die in den Abbildungen des Artikels immer präsent bleibt. Die Definition der neuen radiophonen Kunstform setzt sich aus zwei wichtigen Faktoren zusammen: zum einen rekurrieren diese Beschreibungsbegriffe auf die Technik der visuellen Reproduktion und machen damit die „unsichtbare Welt“ des Radiofilms buchstäblich greifbar, distanzieren sich aber zum anderen sofort davon, indem sie die Visualität verabschieden, deren Abwesenheit als einziges nichttechnisches Element eine medial-ästhetische Besonderheit des Radiofilms im Vergleich zu anderen Medien wie Theater, Kinofilm oder Literatur bestimmt. Dieser Artikel versucht eine Art Transformation vom Sehen zum Hören zu vollziehen, um eine akustische Kunst schaffen zu können. Besser als in solchen publizistischen Überlegungen zum Radiofilm und damit auch zur Radiokunst, die selbst als Begriff immer seltener und vorsichtiger genutzt werden, lässt sich die medial-ästhetische Problematisierung der künstlerischen Darstellungsformen im Radio an einem konkreten Beispiel eines Radiofilms zeigen. Der bekannte sowjetische Dramatiker Aleksandr Afinogenov schreibt 1930

7

Dorogu radiofil’mu! In: Radioslušatel’. 1929. H. 25, S. 3.

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ein Drehbuch zum Radiofilm Dniprel’stan8, das er in einem Interview von Radioslušatel’ vorstellt. Dabei beschreibt er auch die besondere Spezifik seiner dramaturgischen Arbeit für das Radio, die vor allem auf einer Skepsis gegenüber der Abwesenheit des Visuellen basiert: „Vermutlich schreibt ein Blinder das bessere Radiostück, der seine Umwelt nur durch Laute begreift. Für uns, die sehen können, ist es fast unmöglich, sich von den visuellen Bildern, die beim Lesen oder Hören entstehen, zu befreien. [Вероятно, лучшую радиопьесу напишет ‚слепой‘, внешний мир которого постигается только через звуки. А нам зрячим, почти невозможно отделаться от зрительных образов, возникающие при чтении или слушании.]“9

Die Blindheit als ein ästhetischer Vorteil für das künstlerische Schaffen im neuen akustischen Medium wird zur zentralen Position in der Auseinandersetzung mit dem Radiofilm und zugleich auch zum unüberwindbaren Problem des Schaffenden, der sich mit dem Ausschluss der Visualität immer wieder konfrontiert sieht. So wird bei Afinogenov dieses ästhetische Problem als eine komplexe Konstruktion einer doppelten Übersetzung formuliert: „1. Die visuellen Bilder für sich in Klangbilder zu übersetzen. 2. Den Klang so aufzubauen, dass er beim Zuhörer ein visuelles Bild hervorruft. [1. Перевести для себя зрительные образы в звуковые и 2. Так построить звук, чтобы он вызывал у слушающего зрительный образ]“10

Die erste Übersetzungsstufe, wie Afinogenov weiterschreibt, sei über die Recherche über Blinde, die zweite nur über das literarische Können, sprachliches Material im System des künstlerischen Empfindens zu organisieren, möglich gewesen.

8

Die DniproHes-Talsperre und das Wasserkaftwerk wurden 1927-1932 gebaut. Der Bau des Wasserwerks wird dabei während des Baus in unterschiedlichen Medien dokumentiert. Neben dem Radiofilm und dokumentarischen Radiosendung entstehen Gemälde von der Baustelle in den 1930er Jahren, u. a. von Isaak Brodskij. Die Premiere des Radiofilms „Dniprel’stan“ von Afinogenov findet im Juli 1930 statt. In der gleichen Zeit schließt Afinogenov einen Vertrag mit dem Bol’šoj teatr ab, um ein Libretto für eine Oper „Dniperl’stan“ zu schreiben, die nicht umgesetzt wird.

9

Dniprel’stan. Kak ja pisal Dniprel’stan. Beseda s avtorom radiofil’ma A. Afinogenovym. In: Radioslušatel’. 1930. H. 23, S. 5.

10 Ebd., S.5.

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Diese Organisation des sprachlichen Materials sei auch bestimmend dafür gewesen, dass das Stück ausdrücklich von ihm nicht Radioschauspiel sondern Radiofilm, genannt wurde. Überschwänglich berichtet Regisseur Nikolaj Volkonskij über Afinogenovs Drehbuch: „Der Wert dieses Textes für uns leitende Angestellte von literarisch - dramatischen Sendungen, liegt vor allem darin, dass dieses eigentümliche und dabei vollkommen originelle literarische Werk (nicht etwa eine Inszenierung oder eine Literaturmontage) die Richtigkeit unseres Vorhabens dokumentiert – wir sind für Radiokunst, für seine Spezifik. Dieses literarische Werk von Tovarišč Afinogenov ist spezifisch, kann weder im Theater noch im Kino ohne gründliche Überarbeitung verwendet werden. Der Inhalt dieses Stücks kann dem Zuschauer nicht ‚gezeigt werden‘, es soll ihn ‚hören‘. Es ist ein großer künstlerischer Erfolg! [Ценность этого текста для нас, руководящих работников литературно - драматических передач, прежде всего в том, что это своеобразное и притом вполне оригинальное литературное произведение [не инсценировка и не лито – монтаж] документально подтверждает правильность нашего курса – за радиоискусство, за его специфику. Это литературное произведение т. Афиногенова специфично, не может быть использовано ни театром, ни кино без коренной, генеральной ломки и переделки. Развернутое в нем содержание не может быть ‚показано‘ зрителю, оно должно ‚слушаться‘. Это большая творческая удача!]“11

In dieser Begeisterung für Afinogenovs Text wird deutlich, dass hier an die Stelle der poetischen Suche der Avantgardeliteratur nach dem oralen Ursprung der Poesie12, die das Radio als Medium nutzt, um diese ursprüngliche Poesie zu erleben,

11 Ebd., S.6. 12 Vgl.: Andrej Belyj: Ritm kak dialektika. Chicago 1968, S. 11-12. Das mündliche Sprechen wird bei A.B. zur wichtigsten Voraussetzung für die Poesie. So geht es bei Belyj nicht nur um Zerlegung und Zerstörung der Sprache, sondern ebenfalls auch um einen Mediumwechsel der poetischen Sprache von der Schrift zum mündlichen Sprechakt Dem poetischen Sprechen geht ein poetisches Hören voraus, das Belyj al eine Art mystischen Zustand beschreibt. Der Dichter avanciert zum Hörenden und Sprechenden: „Die Bestimmung der Reihenfolge der Wörter in einer Zeile ist ein Satzzeichen, das dem modernen Dichter noch fehlt; Der moderne Dichter ist zum Sprechen auf die Tribüne zu den Massen hinausgegangen; Er ist gewillt, ein Vortragender zu werden. (...) …der Leser des Dichters soll heutzutage selbst sowohl Dichter, als auch Gelehrter sein, wie auch der Dichter heutzutage selbst zum Leser, zum Vortragkünstler der eigenen Kompositionen werden soll; das alles folgt aus der Vergesellschaftung der Werkzeuge

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die Suche nach einem authentischen spezifischen Radiokunstwerk tritt. Es findet eine Umkehr statt: Das Radio wird nicht mehr als Medium zur Verbreitung politischer Propaganda und auch nicht als magischer Ort, an dem Poesie entsteht13,

der künstlerischen Produktion; die Vergesellschaftung ist die geordnete Übergabe der Werkbänke des Schaffens dem Leser, und nicht die anarchische Ergreifung derselben, um... diese Werkzeuge zu beschädigen. Wir selbst sind bereit, zu sagen: wie man uns zu lesen hat; Das Vorlesen erfordert einer Ausbildung; Denn blasen bedeutet noch nicht, Flöte zu spielen; für das Spiel muss man die Finger bewegen; der Bemühung verstanden zu werden, entspricht die Bemühung, selbst zu verstehen. Nur in der gegenseitigen Bemühung kann man die Vergesellschaftung verwirklichen; ohne Bemühungen führt dies zum Bruch. Die Poesie ist ein riesiges Werkzeug der sozialen Einwirkung, des edlen Genusses und des Wissens. [Расстав слов в строке – недостающий современному поэту препинательный знак; современный поэт вышел к массам произносить на трибуну; он волит быть исполнителем. [...] читатель поэта в наши дни долджен стать и поэтом, и ученым одновременно, как и поэт в наши дни – читатель, исполнитель собственных композиций; все это вытекает из обобществления орудий творческого производства; обобществление это – передача в порядке читателю станков творчества, а не анархический захват – для... порчи этих орудий. Мы сами готовы сказать: вот как надо нас читать; чтение требует обучения; дуть еще не значит играть на флейте; для игры надо двигать пальцами; усилию быть понятым соответствует усилие понять. Лишь в обоюдном усилии осуществимо обобществление; без усилий оно – ломка. Поэзия – гигантское орудие социального воздействия, благородного наслаждения и знания.]“ 13 Vgl. Velimir Chlebnikov: Radio der Zukunft. In: Am Nullpunkt. Positionen der russischen Avantgarde. Hg. von B. Groys und A. Hansen-Löve. Frankfurt am Main 2005, S. 181ff. Das Radio bei Velimir Chlebnikov wird zu einem magischen Ort, an dem das „gesamte Wissen einer Nationalkultur in radiofizierter Form“ zusammengeführt und kommuniziert wird: „Das Radio der Zukunft – der wichtigste Baum der Erkenntnis – wird der Wissenschaft eine Fülle von Aufgaben eröffnen und die Menschheit zusammenführen. […] / Das Radio wird zur geistigen Sonne des Landes, zu dessen großem Hexenmeister und Wundertäter werden. […] / So wird das Radio ununterbrochene Glieder der Weltseele schmieden und die Menschheit zu einer Einheit verschmelzen.“ Mit magischen, religiösen Bildern operierend entwirft Chlebnikov das Radio als omnipräsente akustische Quelle der Erkenntnis, die allerdings aus der literarisch poetischen Richtung her gedacht wird, die Jurij Murašov als „Steigerung und Neuorganisation der

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begriffen, sondern begreift sich selbst als Kunst und setzt damit eigene ästhetische Regeln. Volkonskij bezeichnet den Radiofilm als zvučaščaja kartinka (Klangbild) und spricht von einem literarischen Werk, das nicht als Radioinszenierung funktioniert, sondern ein radiopoetisches Werk ist. Auch wenn die Beschreibung des Radios als eigenständige Kunstform sich immer wieder aus visueller Kunsterfahrung rekrutiert und sich nicht gänzlich davon lösen kann (oder vielleicht auch gerade deswegen), wird mit dem radioiskusstvo der Grundstein eher für eine neue literarische Ästhetik als für Radiokunst gelegt, die sich als Radiopoetik im Schreiben und in der Literaturproduktion des sozialistischen Realismus entfalten kann, jedoch performativ hinter der Aufforderung nach der großen epischen Prosa immer wieder ausgeblendet wird. Die Authentizität der Radiopoetik knüpft in den Debatten um radioiskusstvo vor allem am Originalton an, der keine Darstellung ist, sondern durch das Radio über die großen Entfernungen lediglich getragen wird, wie es in der Vorbereitung einer dokumentarischen Sendung über den Dneprostroj formuliert wird: „Zwei Wochen lang folgten wir mit dem Mikrofon den Bohrarbeiten an Granitfelsen, der Aufstellung von Turbinen, dem Auseinanderkrachen der riesigen Steine ‚der Rosinen‘ in den Zangen von Maschinen, wir beobachteten, wie die Mauer aus Beton jenes Dammes durch Dnepr entstand, der nach seiner Fertigstellung in der ganzen Welt einmalig sein wird. Die Sendung wird von Beginn an und bis zum Ende eine echte Abbildung der Natur sein. Die Rundfunkmoderatoren werden keine Notizen haben, keine Szene wird inszeniert sein. Darin liegt die Schwierigkeit und auch der Wert dieser Arbeit. [В течение двух недель мы следовали с микрофоном за работой по сверлению гранитных скал, за клепкой турбин, за гибелью громадных камней ‚изюмов‘ в объятиях камнедробильных машин, за кладкой бетона на той самой платине через Днепр, которая по окончании не будет знать себе равных во всем мире.

Wirkkräfte des Buches“ und als „Rückgewinnung oder Wiederbelebung der im Buch eingeschlossenen gemeinschaftsstiftenden Wirkkräfte des gesprochenen Wortes“ in seinem Aufsatz „Das elektrifizierte Wort“ (vgl. J. Murašov: Das elektrifizierte Wort. Das Radio in der sowjetischen Literatur und Kultur der 20er und 30er Jahre. In: Die Musen der Macht. Medien in der sowjetischen Kultur der 20er und 30er Jahre. Hg. von J. Murašov und Georg Witte. München 2003, S. 81-113 ) interpretiert. Die Vorstellung von der Welt als Buch wird zum zentralen Punkt in Chlebnikovs Manifest, von der ausgehend eine magische Welt der Akustik konzipiert wird.

26 | R ADIOPOETIK DES SOZIALISTISCHEN R EALISMUS Передача с начала до конца будет подлинным отображением натуры. Ни один радиоочеркист не будет иметь ни одного слова записанного текста, ни один кадр не будет инсценирован. В этом ценность и трудность работы.]“14

Die Schwierigkeit bestehe darin, so der Artikelverfasser weiter, dass die Originalklänge des Dneprostrojs von den Radiokabeln auf dem weiten Weg nach Moskau „aufgefressen“ werden und nur in schlechter Qualität oder gar nicht zu hören sind. Was sich als technische Schwierigkeit erweist, macht die Konzentration der Radioarbeit auf der Suche nach Originalton und Originalaufnahme als medial ästhetische Problematik sichtbar. Es geht in diesem wie auch in vielen anderen Artikeln des Radioslušatel’s darum, das Leben selbst sprechen zu lassen, von jeglicher Inszenierung Abstand zu nehmen. Es wird hier eine Forderung des Realismus formuliert, die im Rahmen des Dneprostrojs nach der authentischen Stimme der Arbeit sucht, den Klang des sozialistischen Baus einzufangen versucht, zugleich jedoch die Bauarbeiten am Wasserkraftwerk am Dnepr in höchstem Maße poetisiert und mystifiziert. Bereits in diesem Artikel hört man poetische Noten in der Beschreibung der unbändigen Natur (Wasser und Felsen) und dessen glorreiche Bezwingung durch den Dneprostroj. Eindeutiger wird die Poetisierung des sozialistischen Baus in Afinogenovs Beschreibung seines Radiofilms: „In ‚Dniprelstan‘ wollte ich einen Ort des sozialistischen Baus aus einem etwas anderem Blickwinkel zeigen, als es sonst üblich ist. ‚Dniprelstan‘ ist nicht nur ein mächtiges Energiewerk, sondern auch eine noch nie da gewesene Schule der sozialistischen Umerziehung der Menschen, die sich mit den Dämmen, Brücken und Gebäuden verschmelzen, die sie selbst schaffen. [В ‚Днiпрельстане‘ я хотел показать один из участков социалитстической стройки в несколько ином, чем это обычно бывает принято, разрезе. ‚Днiпрельстан‘ не только как мощный энергокомбинат, но и как невиданная в мире школа социалистической переделки людей, вливающихся и созидающих все эти дамбы, плотины, мосты, здания.]“15

Mit der Beschreibung seiner Sicht auf den Dneprostroj setzt Afinogenov zugleich die Baustelle als einen ästhetischen Raum voraus, an dem die Arbeit mit den Men-

14 N. Stepnoj: Dneprostroj. Radioslušatel’. 1930. H. 32, S. 14. 15 A. Afinogenov: Dniprel’stan. Kak ja pisal Dniprel’stan. In: Radioslušatel’ 1930. H. 23, S. 5.

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schen Eins wird und in dem sozialistischen Menschen geformt werden. Die Fortsetzung dieser Gedanken, die er hier als radiopoetische Arbeit beschreibt, findet sich auf eindrückliche Weise in seiner Rede auf dem ersten Schriftstellerkongress 1934 wieder, wo er über Aufgaben der sozrealistischen Literatur spricht: „Was uns Schriftsteller betrifft, so bedeutet der Titel Ingenieure menschlicher Seelen, dass wir nicht nur die psychologischen Zustände registrieren sollen, wir müssen Konstrukteure dieser Seelen sein, wir produzieren, organisieren dieses menschliche Material. [...] Wir dürfen uns nicht ausruhen und nicht danach streben, das bereits existierende Niveau zu beschreiben, wir müssen unaufhörlich kreativ neues entwickeln, wir müssen die Gestalten und Charaktere des neuen Menschen neuschöpfen. [В применении к нам, писателям, название инженеров человеческих душ означает, что мы не просто регистраторы психологических состояний, мы конструкторы этих душ, мы производственники, организаторы этого человеческого материала. [...] Нам нужна не успокоенность, не стремление ограничить свою задачу описанием существующего уровня, уже достигнутого, а нам нужна непрестанная работа изобретательской, конструкторской творческой мысли по созданию образов и характеров нового человека.]“16

Die Idee der Formierung des neuen sozialistischen Menschen, die im Sozrealismus seinen festen Platz findet, beginnt bei Afinogenov also zunächst als radiopoetische Arbeit. Auffällig ist dabei, dass die technischen Voraussetzungen der Radiopoetik, die im Artikel zur dokumentarischen Sendung über Dneprostroj problematisiert und damit ins Zentrum der Radioästhetik gerückt werden, in Afinogenovs Beschreibungen gänzlich hinter dem Enthusiasmus um den sozialistischen Bau verschwinden. Sicherlich werden hier Effekte der sozrealistischen Ästhetisierung der Arbeit sichtbar, die z. B. Walter Benjamin dazu veranlassen, in seinem berühmten Text Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit zu sagen, in der Sowjetunion spreche die Arbeit selbst17 oder die in der neueren slavistischen Forschung als Poetisierung der industriellen Arbeit oder Ästhetisierung und Derealisierung des Lebens im Sozialismus18 behandelt werden. Allerdings

16 Aleksandr Afinogenov: Vystuplenije na pervom vsesojuznom s’ezde sovetskich pisatelej. In: P’jesy, stat’i, vystuplenija. Moskva „Iskusstvo“ 1977. Bd. 1, S. 511-512. 17 Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. In: Walter Benjamin: Werke und Nachlass. Berlin 2013. Bd. 16, S. 52-96. 18 Evgenij Dobrenko: Politekonomija socrealizma. Moskva NLO 2007, S. 34-47.

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wird am Beispiel Afinogenovs Arbeit für Radio und Theater und in seiner Reflektion und Darstellung der eigenen Arbeitsprozesse deutlich, wie Radiopoetik auf andere Medien übergreift. Während die Debatten um Radiokunst sich immer stärker aus dem technischen Diskurs herausziehen, werden die Aufforderungen der Radiopoetik über das Radio hinaus universal für andere Kunstmedien (Musik, Sprache) fast selbstverständlich angesetzt. So ist es kaum überraschend, dass Afinogenov noch vor der Premiere des Dniprel’stans einen Vertrag mit dem Bol’šoj teatr über das Libretto zu der gleichnamigen Oper abschließt. In einem Brief an die Direktion des Bol’šoj teatr schreibt er im Oktober 1930: „Es ist eine grandiose Symphonie des Baus, ein Wasserfall der Klänge, der den Zuschauer überfällt, es ist das Wasser des erbauten Damms, es sind Massen, Tausende von neuen Menschen, die Dneprostroj geboren haben und von ihm geboren wurden. [...] Mich reizt der Gedanke sehr, eine solche moderne Oper zu schaffen, in der die Gegenwart mit ihrem musikalischen Inhalt organisch wäre. Ich denke, dass gerade das Thema des Dneprostrojs ein seltenes Beispiel einer solchen organischen Verschmelzung sein kann: Es ist ein Beispiel sozialer Bedeutung, szenischen Ausdrucks und musikalischen Inhalts. [Какая-то грандиозная симфония строительства, звуковой водопад низвергается на зрителя, как вода построенной плотины, как толпа тысячных толп новых людей, родивших Днепрострой и рождленных им. [...] Меня очень увлекает мысль о создании такой современной оперы, в которой современность была бы органична музыкальному её содержанию. И думается мне, именно тема Днепростроя может явить пример редкой органичности такого слияния: социальной значимости, сценического размаха и музыкального содержания.]“19

Vom Enthusiasmus des Dneprostrojs ergriffen, strebt Afinogenov an, seinen radiopoetisch kreierten Dniprel´stan in Musik zu übersetzen. Das wichtigste Kriterium dafür ist allerdings, dass gerade die technischen oder methodischen Besonderheiten des jeweiligen Mediums von ihm komplett ausgeblendet werden müssen, damit diese Universalität des Dneprostrojs als medienübergreifender ästhetischer Raum funktionieren kann. Deutlich skeptischer reagiert dagegen Komponist N. J. Mjaskovskij, der für die Musik zu Afinogenovs Oper vorgesehen war. In einem Brief an das Bol’šoj teatr antwortet er:

19 A. Afinogenov: Pis’ma. 19. Direkcii Bol’šogo teatra. Oktjabr’ 1930. Moskva. In: Izbrannoje v dvuch tomach. Moskva. Iskusstvo 1977, S. 29.

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„Ich sende Ihnen den Librettoentwurf des Dniprelstans von t. Afinogennov zurück und möchte Ihnen folgendes mitteilen: das Sujet finde ich interessant (besonders, wenn er gekürzt und klarer ausgearbeitet sein wird, wie der Brief von t. Afinogenov deutlich macht), obwohl es eher ein Gerüst eines literarischen und nicht eines musikalisch-dramatischen Werks darstellt. [Возвращая план либретто ‚Днипрельстана‘ т. Афиногенова, сообщаю следующее: план сюжета мне показался интересным (в особенности если он будет сжат и четче подан, как это видно из письма т. Афиногенова), хотя скорей предоставляющим собой канву литературного произведения, чем музыкально-драматического.]“20

Im Weiteren führt er seine Kritik in mehreren Punkten aus, wobei besonders der fünfte Punkt in seiner Liste für Afinogenovs Idee eines organischen Kunstwerks vernichtend ist: „5) im Entwurf ist kein dramatischer Kern erkennbar, der den ganzen Verlauf der Handlung bestimmt und in einer Kulmination endet. Es ist eher eine Chronik, was für die Oper keinen Sinn macht, weil sie nicht von Wörtern und einer Kette von Ereignissen, sondern von klar dargestellten Handlungen lebt; [5) оттого в плане не видно драматического стержня, определяющего весь ход действия, вытекающего из завязки, неизбежно развивающегося и неотвратимо ведущего к развязке, и он становится скорее хроникой, что для оперы не имеет цели, так как опера живет не словами и цепью обстоятельств, а ясно выраженными действиями;]“21

Da, wo Afinogenov mit seinem Dniprel’stan ein organisches Gesamtkunstwerk anstrebt, formuliert Mjaskovskij Unterschiede zwischen Literatur und Oper und setzt damit eine eindeutige mediale Trennung zwischen Schrift und Akustik voraus. Diese Trennung bedarf einer Medienreflexion, die allerdings in den Debatten um radioiskusstvo nicht nur bei Afinogenov sondern generell im Laufe der Jahre 1930-33 immer mehr verschwindet. So schreibt Radioslušatel’ 1930 noch ganz selbstbewusst: „Das, was man heute literarische Radiophonie nennt, ist keinesfalls eine Radiokunst. Werke, die zurzeit im Rundfunk gesendet werden, können keinen vollen künstlerischen Eindruck auf den Radiohörer erzielen, weil sie nicht für das Radio geschaffen wurden. [...]

20 N. Ja. Mjaskovskij an die Direktion des Bol’šoj teatr verm. September 1930. In: A. Afinogenov. Izbrannoje v dvuch tomach. Band 2. Pis’ma, S. 587. 21 Ebd, S. 588.

30 | R ADIOPOETIK DES SOZIALISTISCHEN R EALISMUS Deshalb ist die ganze literarische Radiophonie heute ein Ersatz für die Kunst, die nur deshalb geduldet wird, weil sie für jeden erreichbar ist. Eigentlich ist die ganze heutige Radiophonie lediglich ein Translieren, ‚eine Telefonie die Künste‘ und besitzt selbst keinen künstlerischen Wert. [То, что сейчас называется художественным радиовещанием, ни в коем случае не является радиоискусством. Произведения искусства, передоваемые по радио в настоящее время, благодаря тому, что они не были созданны именно для радио, не могут произвести полноценного художественного впечатления на радиослушателя. [...] Поэтому все современное художественное вещание является суррогатом искусства, терпимым только благодаря своей исключительной доступности. В сущности все теперешнее радиовещание является трансляцией, ‚телефонированием искусства‘, а не искусством, имеющим самостоятельную ценность.]“22

In Abgrenzung zum bloßen Translieren wird die Radiokunst an die technischen Besonderheiten geknüpft und als eigenständige Kunst gefordert. Etwas unschlüssiger wird es in einer späteren Ausgabe von Radioslušatel’ im gleichen Jahr, wo die technische Bedingtheit der Radiokunst zurücktritt und der Artikel ästhetisch nach dem Material der Radiokunst fragt. „Wir stehen jetzt vor der Notwendigkeit, eine künstlerische Sprache zu entwickeln, die den Besonderheiten des Rundfunks entspricht. Und sofort entsteht die Frage: was wird zum Material dieser neuen Kunst, der Radiokunst. Natürlich sind es alle Erscheinungen der ‚Hörwelt‘: sie bestehen aus dem Wort, dem Laut, dem Lärm. [...] Unsere Aufgabe ist es, neue Formen der Massenkunst zu erschaffen, die eine Kunst des Agitators und zum neuen Träger der Kultur in die entfernsten Winkel unseres Landes wird. Vor solcher gesellschaftlichen und künstlerischen Aufgabe verblassen alle schöpferischen Bestrebungen der vergangenen Epochen. [Сейчас мы стоим перед необходимостью создания художественного языка, пресущего специфике радио. И сразу же возникает вопрос: каков же будет материал этого нового вида искусства – радиоискусства. Это конечно, все явления ‚слышимого‘ мира: их порождают слово, звук, шум. [...] Наша задача – создание новых форм массового искусства, искусства агитатора, нового носителя культуры в самые отдаленные, медвежьи углы нашей строны. Перед

22 Radioiskusstvo. In: Radioslušatel’ 1930. H. 14.

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таким общественным и художественным заданием бледнеют творческие устремления предыдущих эпох.]“23

Neben diesem Artikel wird Afinogenovs Dniprel’stan als erfolgreiches Beispiel der Radiokunst vorgeführt: „Der Text des ‚Dniprelstans‘ gibt dem Komponisten, dem Regisseur und dem Schauspieler alles Notwendige, um ein künstlerisch wertvolles Radio-Kunstwerk zu erschaffen. Darüberhinaus sehen wir am Beispiel des ‚Dniprelstans‘ den anschaulichen Beweis der Nützlichkeit der kollektiven Zusammenarbeit des Autors, des Komponisten, des Regisseurs und des Redakteurs vom Beginn der Arbeit. Vieles gelang, und viele Fehler wurden aufgrund kollektiver Arbeit vermieden. [Текст ‚Днипрельстана‘ дает для композитора, режиссера и актеров все необходимое для создания высокохудожественного радио-произведения. Кроме того на примере ‚Днипрельстана‘ мы имеем наглядное доказательство полезности коллективного сотрудничества автора, композитора, режиссера и редактора с самого начала работы. Многое удалось найти и многих ошибок избежать именно тблагодаря коллективной работе.]“24

Als besonders wichtig kann in diesem Artikel die Feststellung des Autors angesehen werden, dass die Radiokunst eine kollektive Arbeit ist. Auch wenn im Weiteren deutlich wird, dass die Radiokunst im ideologischen Kampf um die sowjetische Medienästhetik nicht bestehen kann, lässt sich hier beobachten, dass die radiopoetische Arbeit vor allem ein kollektives Schaffen darstellt, dessen Spuren sich in der Literatur des sozialistischen Realismus nach 1934 finden lassen. Ein endgültiges, vernichtendes Urteil ergeht dagegen 1934 gegen die Radiokunst. In Govorit SSSR erscheint ein Artikel mit dem Titel Literaturnoje veščanije v 1933 godu, in dem sein Verfasser S. Korev das Scheitern der Radiokunst feststellt: „[…] die literarische Radiophonie hat 1933 auf einer falschen theoretischen Basis gestartet, die in bedeutendem Maße die weiteren Misserfolge und Einbrüche in diesem wichitgen Bereich der Radiophonie bedingte. Damit meinen wir die Theorie der sogenannten ‚Radiokunst‘, die zu Beginn des Jahres 1933 bereits entlarvt, zerschlagen, von der Radiopresse kritisiert wurde, die während mehren

23 Material radioiskusstva. In: Radioslušatel’1933, H. 23, S. 4. 24 Radioiskusstvo rastet. In: Radioslušatel’. 1933. H. 23, S. 4.

32 | R ADIOPOETIK DES SOZIALISTISCHEN R EALISMUS Jahre herrschende Doktrin und vereinigende Ideenbasis für eine ganze Gruppe der Radiomacher war. Nirgendwo hat diese Theorie soviel unmittelbaren, konkreten Schaden, wie in literarischer Radiophonie angerichtet.[…] Und wenn zu Beginn 1933 theoretisch wie auch künstlerisch der Bankrott der Radiokunst-Theorie offen erklärt wurde, nachdem es mit absoluter Klarheit bewiesen wurde, dass die Suche nach der neuen Radiokunst nichts gebracht hat, dass einzelne erfolgreiche Radiokompositionen gar keine Werke irgendeiner besonderer Kunst sind, wenn endlich der riesige Schaden der Absonderung des Rundfunks von anderen Gebieten des künstlerischen Schaffens festgestellt wurde, lag die literarische Radiophonie, wie man es sagen würde, in Scherben. [[…] литературное вещание вступило в 1933 год с отрицательным теоретическим опытом, в значительной мере обусловившим дальнейшие неудачи и прорывы на этом ответственном участке радиовещания. Мы имеем в виду так называемую теорию ‚радиоискусства‘, разоблаченную, разгромленную в начале 1933г., широко раскритикованную в радиопрессе, которая на протяжении ряда предшествующих лет являлясь господствующей доктриной, объединяющей идейной базой для целой группы творческих работников радиовещания. Ни на одном из участков радиоработы эта теория не понесла столько непосредственного, конкретного вреда, как в литературном вещании.[…] И когда к началу 1933 года стал очевидным как теоретический, так и творчевкий крах теории радиоискусства, после того как с полной ясностью было обнаружено, что искания нового радиоискусства ни к чему не привели, что отдельные удачные радиокомпозиции вовсе не являются произведениями какого-то особого искусства, когда наконец огромная вредность отгораживания радио от других областей художественного творчества стала доказанным, осознанным фактом,- литературное вещание оказалось, что называется‚ у разбитого карыта‘]“25

Das Scheitern der Radiokunst ist in diesem Artikel zugleich ein Zusammenführen von Literatur und Radio. Auch als Begriff wird Radiokunst durch literarischer Radiophonie ersetzt. Das Entscheidende bei diesem Zusammenschluss zwischen Radio und Literatur ist, dass das künstlerische Schaffen medienübergreifend im Radio wie in der Literatur zum kollektiven Ereignis wird. Korev fordert im Weiteren eine stärkere Zusammenarbeit von Künstlern und Radiomachern und stellt damit vor allem die Literatur vor ein ästhetisches Problem, indem sie nun quasi ein Medienwechsel von der Schrift zum mündlichen Sprechen vollziehen soll. Deutlich wird diese Aufforderung an die Literatur zum Ende des Artikels:

25 Literaturnoje veščanije v 1933 godu. In: Govorit SSSR. H. 1, S. 23.

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„Literarische Radiophonie produziert mit einer Auflage, von der unsere Verlage nur träumen können. Selbst bei ungünstigen Bedingungen, bei einem schlecht ausgebauten Rundfunknetz, übertritt ihre Auflage in hunderte und tausende Male die mittlere Auflage der sowjetischen Buchproduktion, besonders im Bereich der schönen Literatur.

Schon einiger Zahlenangaben genügt es, um sich den riesigen Umfang der literarischen Radiophonie vorzustellen. Wir sprechen hier nicht einmal über seine riesige darstellerischen, intonatorischen und schließlich illustrativen Möglichkeiten, z. B., steht der literarischen Radiophonie großer musikalischer Apparat bis hin zum Sinfonieorchester zur Verfügung. Man muss sich auch an jene einfache Wahrheit erinnern, dass das arrangierte Wort viel klarer und überzeugender ist, als das gedruckte. [Литвещание, далее, ‚выпускает‘ свою продукцию в таком тираже, о котором и мечтать не могут наши издательства. При самых неблагоприятных условиях, при самой неудобной сетке вещания его тираж в сотни, а то и в тысячи раз превышает средний тираж советской книжной продукции, особенно в части художественной литературы. Уже одних цифровых данных достаточно, чтобы представить себе огромный объем литературного радиовещания. Мы уже не говорим о его огромных исполнительских, интонационных, наконец иллюстративных возможностях (например, в распоряжении литературного вещания имеется большой музыкальный аппарат вплоть до симфонического оркестра). Необходимо также помнить о той простой истине, что слово, оформленное гораздо ярче и убедительние, чем печатное.]“26

Hier geht es um ein Ersetzen der literarischen Schrift durch das gesprochene Wort. Nun ist es der Schriftsteller, der in die Verantwortung genommen wird, vor dem Radiomikrofon zu sprechen und sich von der Schrift zu lösen. Authentische Schriftstellerstimme oder Levitans Magie der Macht 1934 fordert Mariėtta Šaginjan in Govorit SSSR ihre Schriftstellerkollegen auf, sich an das Publikum nicht mehr mit dem Schreiben zu wenden, sondern durch das neue Medium mit dem Leser direkt zu kommunizieren: „Wir Schriftsteller müssen lernen, nicht nur durch das geschriebene, sondern auch durch das gesprochene Wort zu kommunizieren. Wenn ich vor dem Mikrofon spreche, empfinde

26 Literaturnoje veščanije v 1933 godu. In: Govorit SSSR. H. 1, S. 25.

34 | R ADIOPOETIK DES SOZIALISTISCHEN R EALISMUS ich eine starke Verbindung mit Millionen von Menschen und ich richte das Wort in den Raum mit dem Gefühl der realen verantwortlichen Anpeilung. Darin liegt die große Bedeutung des Schriftstellers für den Rundfunk. Ich denke, dass die Radiohörer das Wort des Schriftstellers stärker und tiefer als das Wort des Interpretators unserer Werke wahrnehmen. [Нам писателям нужно научиться общению не только через написанное, но и через произнесенное слово. Когда я говорю перед микрофоном, у меня острое ощущение связи с милионами людей и я направляю слово в пространство с чувством реального ответственного прицела. В этом огромное значение писателя для радио. Думаю, что радиослушатели слово самого писателя воспринимают сильней и глубже, нежели слово интерпретатора наших произведений.]“27

Dabei bleibt die Frage für die Stimme des Schriftstellers oder des professionell geschulten Radiosprechers bis zuletzt ambivalent. Während für die Radioarbeit Sprecher professionell ausgebildet werden und sich durchaus Stimmen, wie die von Gurin, Remizova, Lebedev, Tolstova, Vysotskaja usw. in den 1930er Jahren etablieren, bleibt die Sehnsucht nach dem sprechenden Schriftsteller in der gesamten sowjetischen Periode des Radios stets präsent. Neben zahlreichen literarischen Radiosendungen und –lesungen, in denen Schriftsteller zu Wort kommen, ist wohl die Sammlung von akustischen Aufnahmen russischer und sowjetischer Schriftsteller vom russischen Philologen Iraklij Andronikov aus dem Jahr 1959 Govorjat pisateli28 die prominenteste. Auf der einen Seite wird 1930 in Radioslušatel’ ein professioneller Radiosprecher gefordert, der vor allem gut sprechen und nicht lesen oder schreiben kann. In einem kurzen Artikel Ne pisatel‘, a rasskazčik (Kein Schriftsteller, sondern Erzähler) wird die Position pro „Radiosprecher“ deutlich zum Ausdruck gebracht: „Die Radiopresse braucht keinen guten Schriftsteller, sondern einen guten Erzähler, einen guten Orator. Radiozeitung muss kein Produkt von Menschen sein, die gut schreiben können, sondern ein Produkt der Menschen, die gut erklären, lesen, erzählen können. Wir wissen, dass meistens Menschen, die wunderbar mit der Schreibfeder agieren, überhaupt nicht sprechen können. Deshalb können die Personalkader der Radiozeitungen und gedruckten Zeitungen nicht aus gleichen Personen bestehen – hier brauchen wir Menschen, die hauptsächlich sprechen oder, besser gesagt, die Aufmerksamkein wecken können, die einen zwingen können, ihm zuzuhören, selbst wenn sie nur mit Mühe ihren eigenen Namen schreiben

27 Marietta Schaginjan: Pisateli o radio. In: Govorit SSSR, Oktober 1934. H. 19, S.9. 28 Vgl.: Iraklij Andronikov: Govorjat pisateli (audio). In: Nekomerčeskaja ėlektronnaja biblioteka „ImWerden“. http//imwerden.de.

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können. In der Radiozeitung brauchen wir keinen Artikel, sondern eine Rede. Selbst das Wort ‚Artikel‘ muss verbannt werden. [Радиопрессе нужен не хороший писатель, а хороший рассказчик оратор. Радиогазета должна представлять собой продукт не людей умеющих хорошо писать, а людей, умеющих хорошо объяснять, читать, рассказывать. Мы знаем, что очень часто люди превосходно владеют пером, но абсолютно не умеют говорить. Поэтому авторские кадры радиогазет и печатных не могут состоять из одних и тех же лиц – здесь нужны люди, умеющие главным образом говорить или, вернее, умеющие приковывать к себе внимание, заставить себя слушать, хотя бы они могли только с трудом подписать свою собственную фамилию. В радиогазете нам нужна не ‚статья‘, а речь. Самое слово ‚статья‘ должно быть изгнано.]“29

Eben gegen diese Forderung nach dem Ausbau von Radiokadern mit professionellen Radiosprechern wendet sich Mariėtta Šaginjan, wenn sie sagt, dass das Wort des Schriftstellers selbst viel authentischer und wahrhaftiger sei, als die seines Interpreten. Damit beansprucht sie die Autorität über das eigene gesprochene literarische Wort. Diese Forderung Šaginjans wird auch von Seiten der Radiopresse unterstützt: „Die Zeit des amateurhaften, privaten Radiosendens sind vorbei. Das Mikrofon gehört in die Hände professioneller Meister des Wortes, qualfizierter Schriftteller. [Время кустарного, ‚доморощенного‘ вещания прошло. Микрофон должен быть в руках мастеров и в первую очередь – мастеров слова, квалифицированных авторов.]“30

Die Beteiligung der Schriftsteller an der Radioarbeit bleibt jedoch eher bescheiden. Während die Künstler der Avantgarde wie Majakovskij, der in den 1920er Jahren intensiv mit und für das Radio gearbeitet hat, sind Schriftsteller des proklamierten sozialistischen Realismus ab 1934 seltener im Radio zu hören. Auch für die Radiozeitschrift Govorit SSSR bleibt die großangelegte Kampagne Pisatel’ i radio eher eine Ausnahme. Die Aufforderung, vor dem Mikrofon Literatur zu schaffen, muss letztendlich an ihrer Unmöglichkeit scheitern, die Schrift im Prozess des literarischen Schaffens zu verlassen. Während also der Radioslušatel’ bis 1930 einen qualifizierten Radiosprecher verlangt, verschwindet diese Forderung ab 1934 hinter dem sprechenden Autor aus dem Radiodiskurs. Allerdings lässt sich gleichzeitig feststellen, dass gerade in dieser Zeit Stimmen der Radiosprecher

29 Ne pisatel’, a rasskazčik. In: Radioslušatel’. 1930. H. 13, S. 2. 30 Mikrofon ždet pisatelja. Opyt raboty s pisateljami detotdela Leningradskogo radiokomiteta. In: Govorit SSSR. 1934. H. 19, S. 13.

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in Erscheinung treten, die nicht nur mit ihrer direktiven Art den öffentlichen Raum ausfüllen und damit einen bis in die heutige Zeit absoluten Wiedererkennungswert haben, sondern auch in anderen Medien, speziell im Film reproduziert werden und so zu einer radiophonen Stimme der Macht avancieren. Ein interessantes Beispiel dafür stellt Jurij Levitan dar, der als Radiosprecher zur offiziellen Stimme Stalins ernannt wird. Seit 1934, als Stalin seine Stimme wohl zufällig im Radio hört, spricht Levitan alle Reden Stalins im Radio. Ella Taranova, die 2010 eine Biografie von Jurij Levitan herausgegeben hat, beschreibt, durchaus dramaturgisch aufgeladen, die Beziehung zwischen Stalin und Levitan, die ihn zum persönlichen Sprecher des Genossen Stalin 31gemacht hat. So heißt es u.a.: „Völlig zufällig als Levitan zum ersten Mal vor dem Mikrofon stand und nachts aus der Pravda vorlas, gehörte zu seinen Hörern Stalin selbst. Der Führer arbeitete wie immer im Kreml, dabei wurde der Rundfunk in seinem Büro nie ausgeschaltet. […] So einem langweiligen Kram zuzuhören war durchaus kein goßes Vergnügen, wenn nicht die Stimme des Mannes wäre, die aus dem Radio kam. Diese Stimme hatte Magie, sie zwang zur Aufmerksamkeit. Der Führer hat den Telefonhörer genommen: ‚Verbinden Sie mich mit dem Vorsitzenden des Radiokomitees. Genosse Malzev? Morgen mache ich einen Vortrag auf dem Kongress. So soll meinen Vortrag im Radio der Mann lesen, der gerade bei Ihnen den Leitartikel aus der Pravda diktiert. Mir gefällt seine Stimme.‘ Die Leitung des Radiokoomitees war in Schockstarre von dieser Laune des Herrn. Wie willst du ihm also erklären, dass in der Nachtsendezeit ein Neuling arbeitet, der überhaupt keine Erfahrung habe. Wie kann der einen riesigen Vortrag lesen?! Aber man hat keine Wahl. Am Morgen kam ins Radiokomitee das versiegelte Paket mit der Stalinrede. Den vor Angst erbleichten Besitzer der Wunderstimme führte man ins Studio und befahl: ‚Bereite dich vor!‘ Obwohl für die Vorbereitung des Textes fast keine Zeit mehr übrigblieb, las Levitan ‚die heilige‘ Rede fünf Stunden lang. Pausenlos. Und hat dabei keinen Fehler gemacht. Der Führer aller Völker hat Malzev wieder angerufen und gesagt: ‚Ab jetzt lass alle meine Vorträge und andere wichtige Texte nur von diesem Mann im Radio lesen!‘ [И надо же было случиться, что в тот день, а точнее в ночь, когда Левитан едва получил доступ к микрофону, у приемника оказался Сталин. Вождь традиционно работал в Кремле, радио в его кабинете не выключалось. […] Слушать подобную тягомотину было отнюдь не самым большим удовольствием, если бы не голос человека, работающего в эфире. Голос этот обладал магией, прико-

31 Ella Taranova: Levitan. Golos Stalina. SPb 2010, S. 64.

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вывал к себе внимание. Вождь поднял трубку: ‚Соедините меня с председателем радиокомитета. Товарищ Мальцев? Завтра я делаю доклад на съезде. Так вот, пусть по радио его прочитает тот самый человек, который у вас там сейчас диктует передовицу Правды. Мне нравится его голос.‘ Радиокoмитетское начальство было в ужасе от такой прихоти Хозяина. Ну, не станешь же ему объяснять, что в ночном техническом эфире работает новичок, у которого нет практически никакого опыта. Чего он там начитает в огромном докладе?! Но деваться некуда. Наутро в радиокомитет поступил запечатанный пакет со сталинской речью. Белого от волнения обладателя чудо-голоса провели в студию и велели: ‚Готовься‘. Хотя времени на подготовку и знакомство с текстом почти не оставалось. Левитан читал ‚священную‘ речь пять часов. Без перерыва. И не сделал при этом ни одной ошибки. Вождь всех народов вновь позвонил Мальцеву и сказал: ‚Теперь пускай все мои выступления и другие важнейшие тексты читает по радио именно этот человек!‘]“32

Nicht ohne Ironie wird die willkürliche Entscheidung des launischen Führers im Kreml von Taranova beschrieben und dennoch zeugt der Text von einer emotionalen Begeisterung für Levitans Radioarbeit, für die Magie seiner Stimme, die auch nach seinem Tod in der postsowjetischen Zeit ihre Wirkung nicht verloren hat. Seit Stalins Rede auf der XVII Tagung des VKPb am 26.01.1934 wird Levitans Stimme zur Stimme der Macht, die nicht nur von den Erfolgen der StachanovBewegung berichtet, sondern auch ununterbrochen Protokolle aus dem Gerichtssaal der Moskauer Schauprozesse vorliest. Bei dieser akustischen Verbundenheit zwischen dem Radiosprecher und dem Führer im Kreml entsteht eine folgenreiche akustische Repräsentation der politischen Macht. Während von Stalin und seinem Unbehagen vom Sprechen vor dem Mikrofon berichtet wird33, die u.a. auf seine Sprechunsicherheit wegen des starken georgischen Akzents zurückgeführt wird, entsteht eine bizarre Festlegung der akustischen Stimmenästhetik im Radio, die auf eine willkürliche Entscheidung, auf eine Laune Stalins zurückzuführen ist. Stalin verschwindet nicht nur körperlich hinter

32 Ebd., S. 55-56. 33 Vgl. Dmitri Zakharine: Voice – E-Voice-Design – E-Voice-Community: Early Public Debates about the Emotional Quality of Radio and TV Announcers’ Voices in Germany, the Soviet Union and the USA (1920-1940). In: electrified Voices. Medial, Socio-Historical and Cultural Aspects of Voice Transfer. Hg. von D. Zakharine und N. Meise. Göttingen 2013, S. 201-233.

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den Schauspielern und Bildern, die ihn als rechtmäßigen politischen Souverän inszenieren, sondern auch als die authentische individuelle Stimme mit ihren Besonderheiten und Schwächen, wie sein georgischer Akzent oder die undeutliche Diktion, hinter einer magischen Stimme eines noch völlig unbekannten jungen Levitan, der überhaupt erst als Stimme Stalins öffentlich in Erscheinung tritt und damit berühmt wird. Es findet eine Anonymisierung und Universalisierung von Stalins Stimme statt, die nun an keine Person gebunden ist: Stalins Wort ertönt in perfekter Diktion, akzentfrei, in einer speziell für das Radio und seine technischen Bedingungen geschulten Stimme, die quasi niemandem gehört, da Levitan 1934 noch völlig unbekannt ist. Allerdings wird Levitans Stimme nie mit der physischen Person Stalin gleichgesetzt, sondern kann auch über Stalins Tod hinaus weiterhin als Stimme der Macht fungieren. Mit Levitan wird in der Sowjetunion eine Art universelle Stimme kreiert, mit der die sowjetische Macht im Radio spricht. Spätestens mit der Verkündung des Kriegsbeginns im Radio 1941 funktioniert Levitans Stimme als eine entkörperte, die nun auch nicht einmal mehr Levitan selbst gehört, sondern zum kollektiven Eigentum wird. Es ist die Stimme, die während des II. Weltkriegs zur einzigen Verbindung zum politischen Souverän avanciert und daraus ihren sakralen Status als unantastbare Stimme der Macht entwickelt. Die Nachricht vom Kriegsbeginn wird vom Narkom für auswärtige Angelegenheiten V. Molotov im Radio gelesen, allerdings wird diese Bekanntmachung von Levitan stündlich wiederholt, so dass Levitan in die sowjetische Geschichte als Verkünder des Großen Vaterländischen Krieges eingeht. Die Berichte und Bekanntmachungen von der Front und von weiteren Kriegsgeschehnissen entwickeln sich in Levitans Ansprachen zu sakralen Beschwörungen, die weniger informieren, als zum weiteren Opfertum anspornen sollen. Damit werden mit Levitans Stimme einige wichtige Funktionen erfüllt. Zum einen verschwindet hinter dieser universellen Radiostimme das Individuelle und damit das Menschliche der Herrscherfigur, die nun als absoluter Souverän in Erscheinung treten kann. Zum anderen wird mit Levitans Stimme die theologische Tradition des sakralen Schweigens nachgeahmt, die sich auf kirchliche und weltliche Autoritäten erstreckt, in der das kirchliche Oberhaupt wie auch der Zar keine öffentlich wirkenden Oratoren sind, sondern sich durch das erhabene Schweigen ausweisen.34 Indem sich die persönlichen Stimmen der politischen Führer in Levitans Stimme aufgehoben haben, verkehrt die politische Führung in ein sakrales Schweigen, mit dem sie sich endgültig jenseits jeder weltlichen Rechtsordnung positionieren kann.

34 Vgl. ebd., S. 225.

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S OZIALISTISCHER R EALISMUS J AHRHUNDERTS

UND NEUE

M EDIEN DES 20.

Schriftstellerkongress 1934 als radiophones Ereignis Nicht nur über die magische Stimme des Radiosprechers Levitan tritt die sowjetische Macht im Radio in Erscheinung. Auch durch die institutionelle Formung des sowjetischen Literaturbetriebs unter den ideologischen Postulaten des sozialistischen Realismus avanciert die politische Macht der Sowjets zum radiophonen Ereignis. Auf dem ersten Schriftstellerkongress von Maxim Gor‘kij proklamiert, wird der sozialistische Realismus als neue Form der Kunst und Literatur aufwendig massenmedial inszeniert. Der Schriftstellerkongress wird schriftlich protokolliert, von fast allen Reden gibt es eine Stenokopie, die Sitzungen werden live im Radio übertragen und in der Radiozeitschrift Govorit SSSR ausführlich diskutiert und kommentiert. Diese transmediale Inszenierung des Schriftstellerkongresses und damit auch der neuen Kunst des sozialistischen Realismus ist jedoch wenig verwunderlich, betrachtet man die Entwicklung des Radiodiskurses vom Ende der 1920er Jahre bis zum Kongress. Von einer technisch orientierten und medienreflektierten Betrachtung des Radios u.a. mit Bestrebungen zur Schaffung einer eigenständigen Radiokunst oder literarischen Experimenten der Avantgarde wie z.B. Majakovskijs Arbeit35 für das Radio in den 1920er Jahren, neigt die Erfassung des Radio innerhalb der Ausbildung der sozialistischen Kunst immer mehr zu einer Position des Vergessens ihrer technischen Gemachtheit und zu einer unmittelbaren Erfahrung des radiophonen Raums. In der Sonderausgabe zum Schriftstellerkongress zelebriert Govorit SSSR die Errungenschaften der sowjetischen Literatur und die unmittelbare Teilhabe des Rundfunks an diesem Prozess. „Zusammen mit den Schriftstellern freuen wir uns über ihre ersten Siege, wir, Arbeiter des Rundfunks, fordern die sowjetischen Schriftsteller auf, mehr Aufmerksamkeit und Verbundenheit mit dem Rundfunk und mit den Millionen Rundfunkhörern. Wir rufen Schriftsteller zur Rundfunkarbiet auf!

35 Vgl. J. Murašov: Ėlektrificirovannoje slovo. Radio v sovetskoj literature I kul’ture 1920-30ych godov. In: Sovetskaja vlast I media. Hg. von Hans Günther und Sabine Hänsgen, S. 20ff.

40 | R ADIOPOETIK DES SOZIALISTISCHEN R EALISMUS Kommen Sie zum Mikrofon, erzählen Sie den Radiohörern von Ihrem schöpferischen Weg, lesen Ihre besten Werke vor, erzählen Sie von den Schwierigkeiten Ihrer Arbeit im Kampf um hohe Meisterleistungen, erzählen Sie von der Freude des Schaffens für Millionen. Wir rufen alle Schriftsteller, Dramatiker, Kritiker zur Teilnahme an der Radiopresse auf. Helfen Sie die schöpferischen Fragen zu stellen und Probleme des Rundfunks zu lösen. [Вместе с писателями радуясь их первым победам, мы, работники радиовещания, предъявляем к советским писателям требование более внимательного и чуткого отношения к радио, и миллионам радиослушателей. Мы зовем писателей на радио! Приходите к микрофону, расскажите радиослушателю о своем творческом пути, прочтите ему свои лучшие произведения, расскажите ему о трудностях вашей работе в борьбе за высокое мастерство, расскажите о радости творчества для миллионов. Мы зовем писателей, драматургов, критиков к участию в радиопечати. Помогите нам ставит и разрешать проблемно-творческие вопросы радиовещания.]“36

Schnell wird deutlich, dass es in diesem Artikel nicht um eine Berichterstattung geht, die einen Informationscharakter trägt, sondern dass es sich um einen Text handelt, der einem agitationspolitischen Modus folgt. Der Schriftsteller rückt in den Fokus der radiophonen Arbeit und wird aufgefordert, seiner Verpflichtung den proletarischen Massen gegenüber nachzukommen, seine Kunst zum Eigentum der Masse zu machen und seine literarische Arbeit dem neuen Medium zu verschreiben. Es geht nicht nur darum, Radioprogramme mit literarischen Beiträgen zu bereichern, sondern in erster Linie darum, eine sozialistische Literatur zu kreieren, die medienübergreifend fungiert und damit gleichzeitig einen ästhetischpolitischen Raum schafft, der eine allumfassende totale Wirkungsmacht entfaltet. Dieser Aufforderung, nach mehr Zuwendung des Schriftstellers zum Radio, wird in der gleichen Zeitschrift in einer weiteren Ausgabe auch sofort entsprochen. Govorit SSSR publiziert einen Artikel mit dem Titel Pisatel’ i radio und leitet diesen mit dem Zitat von A. Steckij aus seiner Rede auf dem Kongress ein: „Liebe Genossen sehen Sie es auch so, dass jetzt auf der wieteren Stufe der historischen Entwicklung, im Jahrhundert der Elektrizität, des Rundfunks, im Jahrhundert des Sozialismus und der sowjetischen Macht in unserem Land, die besten Zeiten für die Kunst gekommen sind, wenn das Volk und der Künstler ein Ganzes bilden.

36 Šlem bol’ševistikij privet s’jezdu sovetskich pisatelej. In: Govorit SSSR. 1934. H 15, S.1ff. Vgl. ebenfalls Jurij Murašov: Das elektrifizierte Wort. Das Radio in der sowjetischen Literatur und Kultur der 20er und 30er Jahre. In: die Musen der Macht. Hg. von G. Witte und J. Murašov. München 2003, S. 81-112.

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[Не кажется ли вам товарищи, что тепeрь, на другой ступени исторического развития, в век электричества, радио, в век социализма и советской власти в нашей стране, к нам пришли лучшие времена искусства, когда народ и художник составляют одно целое.]“37

Elektrizität, Radio und sowjetische Macht werden in einem Zug als Voraussetzung für die sozialistische Literatur und Kunst genannt. Mehr noch wird in diesem Artikel quasi selbstreflexiv der Aufforderung in der vorherigen Ausgabe entsprochen, indem man die Verpflichtung des sowjetischen Schriftstellers zur radiophonen literarischen Arbeit als gegeben voraussetzt und als neue literarische Ästhetik, die dem elektrifizierten Zeitalter entspricht, inszeniert. „Der Kongress der sowjetischen Schriftsteller hat in seiner ganzen Tiefe und Breite die Frage des Schaffens für Massen, der Produktion der großen Meisterwerke, der großen Ideen, der großen Kunst, der großen Einfachheit gestellt. Wenn Schriftsteller mit ihren Werken im Rundfunk auftreten, verwirklichen sie das Hauptprinzip des sozialistischen Realismus – das Schaffen für die Massen. ‚Wenn ich vor dem Mikrofon spreche, empfinde ich eine starke Verbindung mit Millionen von Menschen und ich richte das Wort in den Raum mit dem Gefühl der realen verantwortlichen Anpeilung.‘, sagt Mariėtta Šaginjan. In allen Aussagen, die wir hier drucken, stellt das wachsende Interesse der Schriftsteller zum Rundfunk einen roten Faden dar, so zeigt sich die Wichtigkeit und die Notwendigkeit die Zusammenarbeit der Schriftsteller mit dem Rundfunk. Das bestätigen die Assagen der Genossen Schaginjan, Karavajeva, Jusovski, Amglobeli, Ernst Teller, S. R.Blok, Serafimovič, B.Levin usw. Scharov hält den Rundfunk für seine Lieblingstribüne, und Serafimovič äußert die Überzeugung, dass die Schriftsteller, wenn nicht heute, dann morgen zum Rundfunk kommen werden, ‚auf den Geschmack kommen‘, und ihn nicht mehr missen werden wollen. ‚Der Rundfunk ist der Propagandist des künstlerischen Schaffens‘, sagt Samojski. ‚Es soll keinen Schriftsteller geben, der nicht beim Rundfunk arbeitet.‘ (Karavajeva). A. Romm erzählt, wie in Ufa zu ihm eine Lehrerin mit der Bitte kam, ihr das Gedicht zu geben, das sie ihm Rundfunk hörte. Die Sammlung der Gedichte ist bis Ufa noch nicht gekommen, aber der Rundfunk hat es schon gesendet. Die Hörerzahl des Rundfunks übertrifft alle Verlagsauflagen und macht Literatur sofort Dutzenden Millionen von Menschen zugänglich. [Съезд советских писателей во всю глубину и ширь поставил вопрос о творчестве для миллионов, о продукции высокого мастерства, больших идей, большого искусства, большой простоты.

37 Pisatel’ i radio. In: Govorit SSSR. 1934. H. 19, S.3ff.

42 | R ADIOPOETIK DES SOZIALISTISCHEN R EALISMUS Выступая со своими произведениями на радио, писатели осуществляют основноы принцип социалистического реализма – творчество для масс. ‚Когда я говорю перед микрофоном, я испытываю чyвство общения с миллионами людей, – говорит Мариэтта Шагинян, – и я направляю свое слово в пространство с чувством реального, ответственного прицела‘. Во всех высказываниях, длинный ряд которых мы печатаем, красной нитью проходит все возрастающий интерес писателя к радио, уже определенно подчеркивается важность и необходимость для писателя творческой работы на радио. Это подтверждают высказывания тт. Шагинян, Караваевой, Юзовского, Амглобели, Ернста Теллера, Ж. Р. Блока, Серафимовича, Б. Левина и т.д. и т. д. Жаров считает радио своей любимой трибуной, а Серафимович выражает уверенность в том, что писатели не сегодня – завтра на радио придут, а войдя «во вкус», они его не оставят. ‚Радио является пропагандистов художественного творчества‘ - говорит Замойский. ‚Не должно быть ни одного писателя, не работающего на радио‘ (Караваева). А.Ю. Ромм рассказывает, как в г. Уфе к нему обратилась учительница с просьбой дать ей стихотворение, которое она слышала по радио. Сборник стихов еще не дошел до Уфы, а радио уже передало его в эфир. Тираж радио покрывает собою все издательские тиражи и делает литературу достyпной сразу десяткам миллионнов людей.]“38

Im Anschluss an diesen Artikel, der durchaus auch auf Schwierigkeiten und Mängel der schriftstellerischen Radioarbeit hinweist, folgen auf über vierzig Seiten Aussagen von sowjetischen und internationalen Schriftstellern zu ihrer Radioarbeit, die mit eindrucksvollen Bildern der Schriftsteller vor dem Mikrofon begleitet werden. In den zentralen Vorträgen auf dem Schriftstellerkongress von Maxim Gor’kij, Mairetta Šaginjan oder Aleksandr Afinogenov wird das Radio allerdings als ständiger Begleiter des Schriftstellerkongresses in keinster Weise erwähnt. Ihre Vorträge beschäftigen sich ausschließlich mit der Darstellung der literarischen Arbeitsprozesse und der veränderten Form des sozialistischen Schreibens. Es wird stets von unserer Literatur gesprochen und auf die Einheit und den Zusammenhalt der einzelnen nationalen Literaturen verwiesen, in der regionale, kulturelle und vor allem sprachliche Besonderheiten und Unterschiede keinen Platz haben. Die sowjetische Literatur, so die Botschaft, spricht nur mit einer einzigen Stimme, der des sozialistischen Kollektivs. Die Tatsache, dass diese literarische Gigantomanie einfach praktisch nicht durchsetzbar ist und allein an der

38 Govorit SSSR ebd.

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Vielfalt unterschiedlicher Sprachkulturen scheitern muss, wird völlig ausgeblendet. Mariėtta Šaginjan widmet sich in ihrer Rede dem Problem der sprachlichen Barrieren und analysiert diese wie folgt: „Der Kongress hat uns mit Schrfíftsttellergenossen konfrontiert, die in Dutzenden unterschiedlichen Sprachen schreiben, die dem Russischen nicht ähnlich sind. Der Kongress hat es uns ermöglicht, mit eigenen Augen zu sehen und zu hören, wie in allen Winkeln unserer Union die sozialistische Kultur geschaffen wird. […] […] Wir erleben eine historische Zeit in der Entwicklung unserer Kunst, in der man nicht mehr auf dem kleinen Tableau der Nationalliteratur agieren darf, auch wenn es sich dabei um eine zentrale Nationalliteratur handelt, sondern die vielfältgen Literaturen des Sozialismus auf einem Tableau zusammenfassen muss. [Съезд поставил нас лицом к лицу с нашими товарищами по перу, пишущими на десятках языков, отличные от русского. Съезд дал нам воочию увидеть и услышать, как во всех глухих уголках нашего Союза созидается социалистическая культура.[…] […] наступила такая пора в истории развития нашего искусства, когда уже нельзя обобщать на узком полотне литературы одной национальности, хотя и ведущей, и надо обобщать на широком, сравнителном полотне многочисленных литератур социализма.]“39

Wie diese seltsame gemeinschaftliche literarische Sprache praktisch funktionieren soll, versucht sie im Weiteren zu beschreiben. So geht es ihr vor allem um drei wesentliche Kriterien der sprachlichen Angleichung: Zum einen liegt der Fokus auf der Übertragung der nationalen Schriftkulturen aus arabischen und turksprachigen Schriften ins Lateinische, zum Teil auch (wie es im Kasachischen der Fall ist) in die kyrillische Schrift. Zum anderen geht es ihr um die Einführung gemeinsamer Wörter russischer und lateinischer Herkunft in die jeweilige nationale Sprache. Schließlich soll die jeweilige nationale Schrift sich an oralen Traditionen der eigenen Sprache orientieren. Als Beispiel für diesen Prozess führt sie ein anscheinend erfolgreiches Beispiel des sowjetisch-ukrainischen Dichters Pavlo Tyčinаs ein. Sie sagt: „Es scheint, dass dieser doppelte Prozess, d. h. die Erweiterung des gesamtpolitischen Wortschatzes der Sprache und seine Ergänzung durch Volksliteratur, ein widersprüchlicher Prozess ist. Aber schauen Sie so einen musikalischen Dichter wie Pawlo Tyčina und seine letzten Gedichte an. Die letzten Gedichte Tyčinas, seine politische Lyrik, eine Mischung aus

39 Mariėtta Šaginjan: Reč’ na pervom vsesojuznom s’jezde sovetskich pisatelej. In: Mariėtta Šaginjan. Ob iskusstve i literature. Moskau 1957, S. 140, 141.

44 | R ADIOPOETIK DES SOZIALISTISCHEN R EALISMUS politischen Zeitungswörtern mit dem zarten und scharfen Wörterbuch Ševčenkos erschüttert buchstäblich den Leser sogar dann, wenn er ukrainisch schlecht versteht. Es ist nicht das Muster der persönlichen Umgestaltung Tyčinas, wie einige ukrainische Kritiker behaupten, es sind echte Perlen der weltweiten Lyrik. [Казалось-бы, что этот двойной процесс, то есть расширение общеполитического словаря языка и внедрение в него народной словесности, есть процесс противоречивый. Но возьмите такого музыкального поэта, как Павло Тычина, и посмотрите его последние стихи. Последние стихи Тычины – его политическая лирика, смесь политико-газетных слов с нежным и острым словарем Шевченко – буквально потрясают читателя, даже того, кто плохо понимает по-украински. Это не образец личной перестройки Тычины, как думают некоторые украинские критики, это подлинные перлы в мировой лирике.]“40

Die politische Lyrik Tyčinas, so Šaginjan, ist auch mit schlechten Kenntnissen der ukrainischen Sprache zu verstehen, weil sie nicht nur eine Eigenart des Dichters Tyčina darstellt, sondern eine Art Symbiose zwischen dem sowjetischen politischen Soziolekt und der lyrischen Sprache Ševčenkos als ukrainischer klassischer Dichter eingeht und damit eine neue Sprache schafft, die nun ohne Übersetzung quasi universell einsetzbar ist. Während Tyčinas lyrische Sprache als isoliertes Beispiel für diese sprachliche Symbiose bleibt, wechselt Šaginjan von der sprachlichen Ebene auf die inhaltliche und unterlässt dabei zu beschreiben, wie diese sprachliche Universalisierung jenseits der slavischen Sprachen durchsetzbar sei. Sie beschreibt nun diesen Prozess der Schaffung eines gemeinsamen literarischen Sprechens als formula nacional’nogo raznoobrazija formy pri socialističeskom edinstve soderžanija (eine Formel der nationalen Vielfalt der Form bei sozialistischer Einheit des Inhalts). Šaginjans Rede, die zu Beginn als eine Anleitung zur Schaffung einer neuen Form des literarischen Schreibens anmutet und einen praktischen Vergleich zwischen unterschiedlichen nationalen Literaturen in der Sowjetunion anstrebt, entwickelt sich im weiteren Verlauf immer mehr zur Inhaltsanalyse einzelner Beispiele, bei denen sie nach Gemeinsamkeiten sucht und schließlich am Motiv der Liebe in sowjetischen Werken den ideologischen Werteunterschied zum nationalsozialistischen Deutschland zieht. Sie umschifft damit ein eigentlich unlösbares Problem eines einheitlichen literarischen Schreibens in der ganzen Sowjetunion, ohne dass dabei einzelne nationale Sprachen aufgegeben oder verdrängt werden müssen.

40 Ebd., S. 142.

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Diese ungelöste theoretische Frage des gemeinsamen sozialistischen Sprechens / Schreibens, das universell fungieren soll, bringt eine Loslösung des literarischen Schreibens aus seiner Verortung in der eigenen nationalen Schrifttradition hervor. Denn wenn eine Angleichung der einzelnen nationalen Sprachen, wie Šaginjan beschreibt, die Vereinfachung der Schrift und Einführen des neuen politischen Wortschatzes einerseits und das Zurückgreifen auf orale Traditionen der jeweiligen Sprache andererseits bedeutet, so verschiebt sich vor allem der Ort, von dem die neue sozialistische Literatur nun sprechen soll. Sie wird aus ihrer Schrifttradition gelöst und spricht aus einem akustischen Raum, der an eine volkstümliche41 Mündlichkeit angeknüpft, die allerdings auf einer radioakustischen Erfahrung basiert. Dieser radioakustische Klangraum, von dem aus die Literatur nun sprechen soll, wird an keiner Stelle angesprochen und entwickelt sich zu einem transzendentalen Ort, der stets im Verborgenen bleibt und nur als die ganze Erde umspannendes Äther42, wie Lunačarskij ihn beschreibt, in Erscheinung tritt. Hier im Radioäther kann die sozialistische Literatur kollektiv sprechen, die Universalität der nichtexistenten sozialistischen Sprache medial inszenieren und dabei die Unterschiede zwischen einzelnen Nationalliteraturen völlig ignorieren. Für dieses sozrealistische Sprechen gibt es keine tatsächliche Verortung mehr. Es

41 Vgl. J. Murašov: Jenseits der Mimesis. Russische Literaturtheorie im 18. und 19. Jahrhundert von M. V. Lomonosov zu V. G. Belinskij. München 1993, S. 191ff. Vgl. hier ausführlich Belinskijs Begriff der „Volkstümlichkeit“ in ihrer Bedeutung für die russische Literaturtheorie des 19. Jahrhunderts und darüber hinaus ihren Einfluss auf den soz. Realismus. Murašov schreibt: „Wenn Belinskij aber den Begriff der „Volkstümlichkeit“ auf konkrete Phänomene der russischen Literatur und Kulur bezieht, dann verwandelt er dieses axiologisch ganz neutrale klimatische Kulturmodell in eine Art utopisches Konzept oder in ein Programm für nationale Identität und kulturelle Autochtonie – in ein Konzept, mit dem er wieder nach zwei Seiten hin operieren kann: in eine polemisch-kritische Richtung, um der russischen Kultur und Literatur keine bzw. nur eine bedingte, relative „Volkstümlichkeit“ zu attestieren und in eine utopisch-prophetische, um Russland wahre „Volkstümlichkeit“ erst für die Zukunft vorherzusagen.“ Šaginjans Anknüpfen an die utopisch-prophetische Funktion der russsichen Literatur, die M. bei Belinskij beobachtet, wird von ihr in ein übernationales Postulat der sozrealistischen Literatur umgewandelt. Damit werden kulturellen und sprachlichen Grenzen im Sozrealismus quasi eliminiert und literarische Ästhetik zu einer Art transzendentalen Raum erhoben, wo sich eine sozialistische Gemeinschaft im Geiste bilden kann. 42 Vgl. Anatolij Lunačarskij: Radio v kul’turnoj revolucii [Auszug aus der Rede auf der Moskauer Konferenz des ODR], in: Radioslušatel‘, H. 14 (1928), S. 1. Vgl. ebenfalls ausführlich dazu Kap 2.

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kann nicht mehr auf die Schrift in ihren regionalen, kulturellen und auch individuellen Besonderheiten und Differenzierungen zurückgeführt werden, sondern bleibt im Radioäther als einem medialen transzendentalen Raum quasi hängen. Der Radioäther ist auch der Ort, an dem der Schriftsteller sich losgelöst von seiner Schrift und seinem Werk mit dem Gefühl einer kollektiven Verantwortung sich der sozialistischen Gemeinschaft komplett verschreibt, deren bereitwilliges Opfer er wird und damit erst überhaupt die Berechtigung zum literarischen Sprechen erlangt. Er wird in den Strudel der sakralen Symbolik und Opferfigurationen hinein katapultiert, die der sozialistischen Gemeinschaftsstiftung dienen und in der innerweltlichen profanen Sphäre des Politischen religiöse Strukturen entwickeln. Deutlich wird diese Opferung des Schriftstellers dem Kollektiv und Ritualisierung seines Schreibens auch an der Inszenierung des Schriftstellerkongresses in der Radiozeitschrift Govorit SSSR. Der Artikel zum Schriftstellerkongress zeugt von ständigen Wiederholungen: Die im fließenden Text des Artikels aufgezählten Schriftsteller werden zitiert, deren Aussage wird in Kombination mit der Abbildung noch einmal in einem abgetrennten Rahmen unter der Extra-Rubrik Pisateli o radio wiederholt. Die Aussagen der unterschiedlichen Schriftsteller entsprechen alle dem gleichen Kanon, denn sie stellen die Radioarbeit als einen untrennbaren Teil ihrer literarischen Arbeit dar. Akribisch aufbereitete Darstellung der literarischen Radioarbeit wird wiederum von Aussagen der ideologischen Führer Stalin, Ždanov, Lunačarskij, Schmidt begleitet. Diese werden mit Hilfe von gerahmten Rechtecken aus dem fließenden Text hervorgehoben. Dieser Artikel entfaltet seine Wirkung vor allem aus der Verbindung zwischen dem erzählenden Text, dem Bild des Schriftstellers und den Lehrsätzen der ideologischen Wegbereiter. Er bedient sich eines dialektischen Verfahrens, das man vor allem aus der christlichen Ikonografie kennt, in der die Erzählung, das Bild und der theologische Lehrsatz eine Gesamtheit des Heiligen als Vorbild für Gläubige bilden. Ähnlich wie der Umgang und der erzieherische Auftrag der Ikonen in der russischen Orthodoxie eine untrennbare Verbindung mit der Vita des Heiligen eingeht, zum Nachahmen aufruft und im Rahmen des sakralen Rituals eine Offenbarung des Heiligen darstellt43, erfüllt die literarische Praxis des sozialistischen Realismus durch die radiophone Massenmedialisierung den Auftrag eben nicht die imitatio der Welt zu sein, sondern die sozialistische Gemeinschaft zu beschwören und diese unmittelbar erscheinen zu lassen.

43 Vgl. hierzu Natascha Drubek. Russisches Licht. Von der Ikone zum frühen sowjetischen Kino. Kap. III: Die Ikone als Medium des Sehens. Wien 2012, S. 204-307.

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So funktioniert dieser Text u.a. als eine rituelle Beschwörung, die die literarische Praxis durch das Einwirken des Radios in eine theologische verwandelt und eine Hagiografie des Mediums mit den ikonischen Aussagen und Bildern der Künstler und politischer Führer schreibt. Damit wird zugleich eine radioakustische Literatur propagiert, die sich gegen die Schrift wendet und sich aus der bürgerlichen Schriftbefangenheit zu befreien sucht, indem sie zu den Massen eben nicht als Briefträger44, wie Konstantin Fedin im Interview mit Govorit SSSR 1934 sagt, durch den Buchstaben, sondern durch das Radio direkt in die Seele der Menschen spricht. Nicht zuletzt wird diese Erfahrung der unmittelbaren Kommunikation durch das Radio von den Schriftstellern als eine Art Wunder beschrieben, das sie ergreift, ihnen eine besondere Verantwortung abverlangt und sie als Vermittler sozialistischer Botschaft auszeichnet. An dieser Rolle des sowjetischen Schriftstellers als Verkünder der sozialistischen Botschaft zeigt sich deutlich die Verlagerung christlicher Opfer- und Märtyrerfigurationen auf die Figur des sozialistischen Schriftstellers, der nun in seinem politischen und künstlerischen Handeln zur quasi religiösen Figur erhoben wird. Damit zeichnet sich auch ein Mediumwechsel für den sozialistischen Schriftsteller ab: Denn er ist nun in seiner Rolle als sozialistischer Märtyrer nicht mehr ein stiller, passiver Zeuge, der das Geschehene aufschreibt, sondern ist ein aktiv Kämpfender, der mit seinem Wort handelt und dieses als ein Machtinstrument einsetzt. Folgt man Šaginjans Aufforderung einer Universalisierung der sozialistischen Literatur, die am Ende ihres Vortrags nur noch als Sprache der Liebe fungiert und damit einen Grundstein für „neuen Humanismus und neuen Menschen legt”45, entsteht eine Situation für den sozialistischen Schriftsteller, in der er sich seiner individuellen Schriftsprache entledigen und an deren Stelle ein kollektives literarisches Sprechen setzen soll, das die orale literarische Traditionen medialakustisch reproduziert. Šaginjans Auffassung von sozialistischer Literatur bewegt sich somit weg vom literarischen Schreiben hin zum literarischen Sprechen, das allerdings stark von medialen Rahmenbedingungen des neuen Massenmediums Radio bestimmt wird46 und eben letztlich verlangt, so zu schreiben, als würde man sprechen.

44 Konstantin Fedin. Pisateli o radio. Govorit SSSR. 1934. H. 19, S.7 45 Vgl. Mariėtta Šaginjan: Reč’ na pervom vsesojuznom c’jezde sovetskich pisatelej 1934. In: M. Š. Ob iskusstve i literature. Sovetskij pisatel’. Moskau 1958, S. 146-147. 46 Vgl. Jurij Murašov: Das elektrifizierte Wort. In: Die Musen der Macht. Hg. von G. Witte, J. Murašov. München 2003, S. 81-112 hier ab S. 103.

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Zwischen Schriftfixierung und kollektivem Sprechen Der Umgang mit der Schrift im sozialistischen Realismus folgt einer doppelten Strategie. Auf der einen Seite entwickelt sich eine fast krankhafte Fixierung auf die Schrift, die von den pädagogischen Bestrebungen der Massenalphabetisierung der Bevölkerung, bei denen auch das Radio eine wichtige Ausbilderrolle übernimmt, über Gor’kijs Versuche einer Laienliteratur und literarischer Lehre47 bis hin zu sowjetischen Grafomanie48 reicht, in der das Beschwerdewesen und die Selbstkritikpraxis blühen. Auf der anderen Seite zeichnen sich besonders im literarischen Erzählen deutliche Bestrebungen ab, die Schrift als bürgerliche Überreste zu überwinden und an deren Stelle ein neues sozialistisches Sprechen zu setzen, das maßgeblich von neuen elektronischen Massenmedien wie dem Radio geprägt wird. Während die Schrift immer stärker als Medium der kollektiven und staatlichen Kontrolle von der politischen Führung eingesetzt wird, müssen zunehmend Inszenierungsstrategien entwickelt werden, um die Schrift nicht nur als reines Machtinstrument und nicht als Instrument der Unterdrückung, sondern als ein Verbindungsmedium zwischen Volk und Führer erscheinen zu lassen. In den zahlreichen Abbildungen des kollektiven Lesens, die in der sozrealistischen Kunst stark verbreitet sind, fungiert die Schrift als ein wichtiges Element der Gemeischaftsstiftung. So sind die Szenen des kollektiven Lesens und Schreibens49 in der Malerei weit verbreitet. Auch im Film tauchen die Lese- und Schreibszenen immer wieder auf, wie z.B. bei Kozincev / Traubergs ODNA, als die Bauern im Altaj einen Gemeinschaftsbrief verfassen, um die kranke Lehrerin Kuz’mina vor dem Tod zu retten. Selbst in der Literatur wird das Lesen und Verfassen von schriftlichen Texten aufwendig inszeniert, wie bei Michail Šolochovs Podnjataja celina (Neuland unterm Pflug) in der Szene, als die verspätete Zeitung aus der Stadt endlich im Dorf ankommt und von Bauern abwechselnd laut vorgelesen

47 Vgl. Jurij Murašov: Schrift und Macht in den 1920er und 1930er Jahren der sowjetischen Kultur. Zur Medienanthropologie des Sozialistischen Realismus. In: Schrift und Macht. Zur sowjetischen Literatur der 1920er und 1930er Jahre. Hrsg. von Tomáš Lipták und Jurij Murašov. Wien 2012, S. 1-41. 48 Vgl. dazu Svetlana Boym: Graphomanie und literarische Praxis und Strategie ihrer Sabotage. In: Die Musen der Macht. Medien in der sowjetischen Kultur der 20er und 30er Jahre. Hsg. von Jurij Murašov und Georg Witte. München 2003, S. 39-59. 49 Vgl. Jurij Murašov: Schrift und Macht in den 1920er und 1930er Jahren der sowjetischen Kultur. In: ebd.

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wird50. Darüberhinaus erscheint der schriftliche Text, sei es ein Brief, Zeitungsartikel, Verfassungsentwurf immer als Begleiter Stalins, mehr noch der geschriebene Text avanciert zum wichtigsten Attribut seiner Macht. Erst durch die Schrift zeichnet sich Stalin als Lenins Erbe aus und ist zudem der Hüter Leninschen Wortes, seines Testaments.51 Während der Leichnam Lenins im Mausoleum als physischer Überrest, als körperliche Hülle an die Geburtsstunde der sowjetischen Macht erinnert und damit auch ihre Legitimation garantiert, ist es die Schrift, Lenins Testament, sein quasi unantastbares heiliges Wort, über die allein Stalin als sein „natürlicher“ Nachfolger verfügen kann und die nun agitationspolitisch in bildender Kunst, in der Werbung, im Film und im sozrealistischen Roman in Szene gesetzt wird. Auch das neue schriftlose Massenmedium Radio wird durch die Schrift kontrolliert und zensiert. Bezeichnend dafür sind Archivunterlagen, die die russische Historikerin Tatjana Gorjajeva in den 1990er Jahren untersucht und veröffentlicht hat. Hier nur ein kurzer Einblick: „Rundschreiben des ZK WKP(b) zu den Sendungen im Radio (vom 10. Juni 1939) GEHEIM An alle Sekretäre der Regionskomitees, der Kreiskomitees und Zentralkomitees der WKP(b) der Sowjetrepubliken Laut Angaben des GlavLit (Zentrale Kontrollbehörde für Literatur und Verlagswesen) wurde festgestellt, dass es in einigen Kreisen, Regionen und Republiken Fälle gibt, dass Materialien im Radio veröffentlicht wurden, die zur Preisgabe der Kriegsgeheimnisse führen. Mit dem Ziel, die Preisgabe der Staats- und Kriegsgeheimnisse zu vermeiden und aufgrund der politischen ideologischen Kontrolle der Presse und des Radios, schlägt der Zentralkomitee der WKP(b) vor: 1.

Alle Auftritte im Radio ohne Ausnahme nur am Text wiederzugeben, der zuvor von

der zentralen Behörde der Zensur (GlavLit) kontrolliert wurde. 2.

Alle Texte, die zur Veröffentlichung bestimmt sind, sind ohne Ausnahme der Zensur

der Organen des GalvLits unterstellt Sekretär des ZK WKP(b) GA RF. F. R. _ 9425. Op. 1. D. 12. 88. – Original. [ПРОЕКТ ЦИРКУЛЯРА ЦК ВКП(б) О ПЕРЕДАЧАХ ПО РАДИO (Не ранее 10 июня 1939 г.) СЕКРЕТНО

50 Vgl. Kap. IV.2. 51 Vgl. J. Murašov. ebd., S. 11.

50 | R ADIOPOETIK DES SOZIALISTISCHEN R EALISMUS ВСЕМ СЕКРЕТАРЯМ КРАЙКОМОВ, ОБКОМОВ ВКП(б) И ЦК КП (б) СОЮЗНЫХ РЕСПУБЛИК По данным Главлита установленно, что в отдельных областях, краях и республиках имеются случаи опубликования и передачи по радио материалов без просмотра органами цензуры, приведшие к разглашению военных тайн. B целях предотвращения возможности разглашения государственных, военных тайн и политико-идеологического контроля в печати и радиовещании, Центральный комитет ВКП (б) предлагает: Все без исключения выступления и передачи по радио производить по текстам, предварительно просмотренным органами цензуры – Главлитом. Все без исключения, предназначенные к опубликованию и распространению, произведения печати подлежат предварительной цензуре органами Главлита. СЕКРЕТАРЬ ЦК ВКП (б) ГА РФ. Ф.Р-9425. Оп. 1. Д. 12. Л. 88. – Подлинник.]“52

Aus diesem Dokument geht deutlich hervor, dass die idealistische Vorstellung, dass das Sprechen im Radio eine Eroberung der neuen künstlerischen Sphäre darstelle und damit einen neuen räumlich unbegrenzten Wirkungsbereich der Wortkunst eröffne, der den machtpolitischen Interessen weichen muss, denn die Staatsmacht muss nun das unkontrollierte Sprechen befürchten und versucht dieses institutionell zu kontrollieren. Es zeigt sich also eine Ambivalenz im Umgang mit der Schrift und mit dem radioakustischen Sprechen, die richtungsweisend für das Schreiben und Sprechen im sozialistischen Realismus wird: es ist der Versuch der Literatur die Schrift als bürgerliches Überrest der vergangenen Epochen zu verabschieden und gliechzeitig Kontrollmechanismen zu entwickeln, um die „klingende”, „authentisch sprechende” Literatur ähnlich wie die schirftliche Literatur institutionell zu kontrollieren. Denn der Aufforderung, sich als Schriftsteller von der Schrift zu lösen und sich dem neuen Medium Radio zu öffnen, um eine neue sprechende Literatur zu erschaffen, folgt zugleich der Ruf nach mehr Kontrolle durch die staatlichen Institutionen, die wiederum die Schrift als Sanktionierungsund Zensierungsinstrument einsetzen. Auch Radiozeitschriften, wie z. B. Govorit SSSR, die den Schriftsteller auffordern, mehr Aufmerksamkeit dem Medium Radio zu schenken und eine Radioliteratur zu schaffen, greifen letztlich selbst auf die Schrift zurück, in dem sie Radiosendungen kommentieren, eine schriftliche Zusammenfassung der literarischen Radiosendungen veröffentlichen und auch

52 Gorjaeva, T. M.: History of soviet political censorship. Documents & commentaries

(ru). Moscow 1997, p. 83.

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von den Schriftstellern eine aktive Unterstützung der Arbeit der Radiopresse verlangen.53 Der ersten Euphorie, über das sich im Äther grenzenlos verbreitenden Wortes, folgt also das Unbehagen des kontrollosen Sprechens. Neben der Tendenz, die Massenmedien durch die Schrift zu kontrollieren und das radiophone Sprechen durch die Schrift abzusichern, findet ebenfalls eine Sanktionierung der Schrift selbst statt, die seit 1930 in Gor’kijs Zeitschrift Literaturnaja učeba (Literarische Lehre) Ausdruck findet. Dort werden nicht nur junge Schriftsteller belehrt und beraten, sondern in gleicher Weise auch gestandene sowjetische Schriftsteller kritisiert und von dem großen Literaturmeister Gor’kij belehrt. Zum einen wird natürlich diese Praxis des Belehrens und der pädagogische Auftrag der Literaturnaja učeba unter Gor’kijs Führung zu einer staatlich organisierten und unterstützten Kanonisierung, die die ästhetischen Normen durch staatliche Institutionen reguliert54, zugleich aber profitiert gerade diese Praxis der Sprachreinigung wesentlich von der sekundären Oralität55 des sozialistischen Schreibens. Das Eingehen oraler Traditionen in die literarische Schrift, die M. Šaginjan als volkstümliche Mündlichkeit in ihrer Rede auf dem Schriftstellerkongress bezeichnet, mündet in einem Prozess der ständigen Kritik und Hinterfragung des eigenen geschriebenen Wortes durch sich selbst und die Anderen und entwickelt sich zu

53 Vgl. Pisatel’ i radio. In: Govorit SSSR. 1934. H. 19. 54 Vgl. dazu Hans Günther: Gegen Vieldeutigkeit und ideologische Konterbande. Die Diskussion über die Sprache des Jahres 1934. In: Schrift und Macht. Zur sowjetischen Literatur der 1920er und 30er Jahre. Hsg. von Tomáš Lipták und Jurij Murašov. Wien 2012, S. 97-119. Vgl. ebenfalls Jurij Murašov: Schrift und Macht in den 1920er und 1930er Jahren der sowjetischen Kultur. In ebd. S.1-45, hier bes. S.14-17. 55 Vgl. Walter Ong. Oralität und Literalität. Die Technologisierung des Wortes. Darmstadt 1987. Ong beschreibt s.O. zum einen in Nachfolge der primären Oralität, der Oralität in einer Zeit vor der Schrift, zum anderen in Nachfolge der Schrift und des Drucks. Er schreibt: „Die elektronische Transformation des verbalen Ausdrucks hat nicht nur die Überführung des Wortes in den Raum verstärkt, die mit dem Schreiben begann und von Drucken fortgeführt wurde, sie hat auch das Augenmerk auf ein neues Zeitalter sekundärer Oralität gerichtet. […] Diese neue Oralität besitzt eine überraschende Ähnlichkeit mit der alten, sowohl was die Mystik der Partizipation, als auch was ihre Förderung des Gemeinschaftssinnes, ihre Konzentration auf die Gegenwart und auf den Gebrauch von Formeln anbelangt. Es ist jedoch wesentlich eine mehr zufällige und selbstverständliche Oralität, die stets auf dem Gebrauch des Schreibens und Druckens basiert, welche für die Herstellung, die Anwendung und den Gebrauch der elektronischen Ausrüstung notwendig sind.“, S. 136.

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einem unaufhörlichen Fortlaufen des Schreibaktes, der auch immer ein Sprechen und Handeln ist und immer in den kollektiven Kommunikationsprozess eingebunden ist. Diese ständige Überprüfung und Überarbeitung literarischer Werke macht die Schrift zum Eigentum des Kollektivs. Es ist aber nicht etwa die „Masse“ der Leser, sondern das elitäre Kollektiv parteipolitisch auserwählter Schriftstellerkollegen, die sich gegenseitig belehren und damit auch öffentlich denunzieren. Obwohl die Schreibweisen der Schriftsteller durchaus sehr unterschiedlich sind, wie man aus Aufsätzen zur literarischen Arbeit bei vielen sowjetischen Schriftsteller in den 1930er Jahren erkennen kann, etabliert sich eine Leitlinie des sozrealistischen Schreibens, die als allgemeine Vorgabe des Schriftstellerverbandes seit 1932 nun institutionell geregelt wird. Wie man im vierten Kapitel dieses Buches an einzelnen Beispielen des literarischen Erzählens und an literarischen Schreibweisen beobachten wird, gehen Schriftsteller wie Konstantin Fedin, Michail Šolochov, Nikolaj Ostrovskij und Leonid Leonov sehr ambivalent damit um, wie das sozrealistische Schreiben nun sein muss. Es wird allerdings deutlich, dass sie alle mit dem Problem konfrontiert werden, sich einerseits der Aufforderung Gor’kijs von den Klassikern aber auch voneinander zu lernen56 beugen, sich dem kollektiven Literaturdiktat unterordnen und andererseits Strategien entwickeln müssen, um als Einzelner mit der Stimme des Kollektivs sprechen zu können. Unter den Vorzeichen des neuen elektrischen Mediums Radio wird allerdings auch deutlich, wie der Auftrag Bildung der Massen und die gezielte Schulung des sozialistischen Schriftstellers unter anderem auch Gor’kijs Literaturnaja učeba nicht nur institutionell innerhalb des sowjetischen Literaturbetriebs stattfindet, sondern gerade auch zum wichtigen Pfeiler der Radioarbeit wird. Der pädagogische Auftrag des Radios widmet sich zwischen 1925 und 1929 dem Projekt der kulturellen Bildung und Alphabetisierung der Massen. Ein großer

56 Vgl. Maxim Gor’kij: Kurze Ansprache auf dem Allunionskongress der sowjetischen Schriftsteller 1934. XXX Vgl. ebenfalls Tomáš Liptak: Die Entstehung des sozialistischen Realismus: Maxim Gor’kij und die Laienschriftsteller in den 1930er Jahren. Konstanz 2012. S. 21-70. In seiner Dissertation macht Liptak eine ausführliche Untersuchung Gor’kijs Rolle auf die Entstehung der Literatur des Sozrealismus und zeigt am Beispiel Gor’kijs Arbeit als Chefredakteur der Zeitschrift Literaturnaja učeba, wie sich aus dem pädagogischen Auftrag der Ausbildung neuer Laienschriftsteller eine Leitlinie der politisch-literarischen Vorgaben des sozrealistischen Schreibens an die professionellen Schriftsteller entwickelt. Die Institutionalisierung des Literaturbetriebs und die uneingeschränkte Macht des ersten sowjetischen Schriftstellers mit direkter Beziehung zum Kreml zeugen von Verflechtungen von politischer und literarischer Sphären, die zum Grundstein der neuen Literatur in Sowjetunion werden.

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Teil der Sendungen, aber auch vor allem ein großer Teil der Artikel in den Radiozeitschriften Radiofront, Radioslušatel‘, Radio vsem beschäftigen sich damit. So erscheint paradoxerweise gerade Radio, ein akustisches Medium, als Ort zur Erlangung der schriftlichen Kompetenz57. Als Grundvoraussetzung für die erfolgreiche Bildung der Massen durch das Radio wird die Schulung des richtigen Hörens und des richtigen Zuhörerverhaltens propagiert. Neben den technischen Anleitungen unter den Titeln wie Kak vybrat‘ lampu dlja priemnika (Wie sucht man sich die richtige Lampe für den Radioempfänger) (Radio vsem, 1926 H.9), Masterskaja druga radio (Werkstatt der Radiofreunde) oder Voprosnik radioljubitelja (Fragen der Radioliebhaber) (Radio vsem, 1925 H. 7) erscheinen auch Artikel, die genaue Anweisungen für die Schulung der Massen und für den Einsatz des Radios als politisch-pädagogisches Medium geben. Demnach ist der Umgang mit dem neuen Medium nicht nur eine Frage der technischen Apparatur und dem richtigen Einsatz dieser, sondern es geht vor allem um das „richtige“ Verhalten vor und mit dem Radio als Medium zur Schaffung des sozialistischen Ethos. Die Verbindung zwischen Schrift und radiophoner Akustik spielt dabei eine wichtige Rolle. Als Beispiel dafür dienen u. a. Leser-/Hörerbriefe , die in der Radiozeitschrift Radio vsem (Radio für alle) zitiert werden. So heißt es in der Septemberausgabe der Zeitschrift: „T. Lutčenko aus Artjomovsk, schreibt dem Lektor in Donbass: ‚Um Ihren Vorlesungen zuzuhören, versammeln sich bei mir ca. 10-15 lokaler Radioamateure. Das Interesse an den Vorlesungen ist riesig. Die Form der Darlegung und die Reihenfolge stellt alle zufrieden. Alles Gesendete wird leicht verstanden,‘ und weiter: ‚die Begleitliteratur zu einzelnen Fragen zusammen mit den Vorlesungen geben einen umfangreichen Gesamtüberblick‘. T. Borodulin schreibt, wie die Vorlesungen im Kreis der Radioamateure der 1. Regiment der schweren Artillerie Vorošilovs gehört warden: ‚Es haben sich die Interessierten versammelt, namen ein Brett, Kreide, zeichneten Diagramme der vorliegenden Vorlesung auf und studierten die Vorlesung unter der Leitung Radiosprechers und den zusätzlichen Erklärungen des Leiters der Gruppe aufgezeichnet. Nach der Vorlesung wurde ein Vortrag eines Zuhörers gehalten, damit war das Lehrmaterial verfestigt. Den Genossen Radiohörern ist unsere Methode der Aneignung von Vorlesungen zu empfehlen.‘

57 Vgl. Jurij Murašov: Das elektrifizierte Wort. Ebd., S. 85. Am Beispiel des satirischen Gedichts Tante Theklas Antenne aus Radio vsem (1925) zeigt J. M. wie die Bäuerin über das Radio zum Lesen findet und sagt: „Das neue akustische Medium des Radios substituiert nicht die Schrift, sondern wird zur propädeutischen Instanz für den Erwerb von Literalität.“

54 | R ADIOPOETIK DES SOZIALISTISCHEN R EALISMUS [Т. Лутченко, гор. Артемовск, Донбасс пишет лектору: ‚Слушать Ваши лекции собирается у меня человек 10-15 местных радиолюбителей. Интересс к лекциям огромный. Форма изложения и порядок удовлетворяют всех. Все передоваемое легко усваивается‘, а далее: ‚имеющаяся по этому вопросу литература совместно с лекциями создают довольно обширный кругозор‘. Тов. Бородулин пишет, как производится прием лекций в кружке радиолюбителей 1го Тяж. Артполка им. тов. Ворошилова: ‚Собрались желающие, взяли доску, мел, начертили схемы данной лекции и под разговор репродуктора и дополнительные разъяснения руководителя кружка у сваивали лекцию. После лекции – доклад одного из слушателей, и урок усвоен‘. ‚Товарищам радиослушателям предлагаем наш метод усвоения лекции‘]“58

Der neue Weg der agitationspolitischen Arbeit mit den Massen, den dieser Artikel verspricht, orientiert sich vor allem an der propädeutischen Funktion des Mediums Radio. Die Radioakustik dient als Einstieg in die Schriftkompetenz von Bauern, Arbeitern, Soldaten und reguliert deren politisch-ideologische Formung. Auch in Abbildungen wird die Radioausbildung in Szene gesetzt. Abbildung 1: Club der Radioliebhaber der Artillerietruppe „Voroschiov“ hört eine Radiovorlesung

Radio vsem (1926). H. 9, S. 3

58 Novyj kurs w massovoj rabote. In: Radio vsem. September 1926, H. 9, S. 2.

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Das Artillerieregiment, das im Artikel seine Methode zum Radiounterricht anbietet, wird auch im Bild (Abb.1) als schreibende und zugleich hörende Truppe inszeniert Überhaupt gehören Abbildungen mit den schreibenden Radiohörern (Abb. 2), besonders Bauern oder noch besser zentralasiatischen oder kaukasischen Bauern, zu einem der beliebtesten Motive in Radiozeitschriften Ende der 1920er Jahre. Ähnlich wie M. Gor’kijs Literaturnaja učeba (Schulung junger Schriftsteller) beginnt auch der agitationspolitische und propädeutische Auftrag des Radios mit der Schulung „ungebildeter“ Massen, die nun zur alphabetisierten, literarisierten sozialistischen Gemeinschaft zusammenwachsen sollen. Abbildung 2: Ameliku Camarandža, Mitglied ZIK Turkmenistans, Bauer, schreibt eine Radiosendung auf.

Radio vsem (1926). H.6, S.3

Während Gor’kijs Projekt in der Ausbildung der Laienschriftsteller zu einer Art schreibender Arbeiter- und Bauernschaft letztlich in einem institutionellen Kontrollnetzwerk über die Schriftsteller mündet, lässt sich auch in den Radiozeitschriften verstärkt die Tendenz beobachten, dass die Literarisierung der Massen zugunsten eines professionellen literarisierten Sprechens zurücktritt. Anstelle der schreibenden Radiohörer kommen nun ab 1932 vermehrt sprechende Schriftsteller

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zu Wort, die im Schriftstellerkongress und der langen Rubrik Pisatel‘ o radio in Govorit SSSR 1934 einen Höhepunkt finden. Auch in Abbildungen sind es nun hörende und sprechende Schriftsteller, die ihre Schreibarbeit in eine Verinnerlichung vor dem Mikrofon59 und in eine literarische Sprecharbeit verwandeln. Abbildung 3: Mariėta Šaginjan

Nacional’nyje pisateli na radio. In: Govorit SSSR 1934. H. 19, S. 11.

59 Vgl. J. Murašov: Das elektrifizierte Wort. ebd., S. 104.

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Abbildung 4: Vorsitzender der kirgisischen Schriftstellerunion, Dichter Ali Tokombajev

Pisatel‘ i radio. In: Govorit SSSR 1934. H.19, S. 2. (Vgl. auch J. Murašov: Das elektrifizierte Wort [2003])

In der Aufforderung der Schriftsteller, für das Radio zu arbeiten, ertönt unweigerlich der Anspruch an eine Literatur, die für das Radio geschrieben sei, so der Artikel Mikrofon ždet pisatelja in Govorit SSSR (1934): „Die Zeit des unprofessionellen individualistischen Sendens ist vorbei. Das Mikrofon soll in den Händen der Meister und in erster Linie in den Händen der Meister des Wortes, der qualifizierten Schriftsteller liegen. […] Wir können noch keinen Schriftsteller nenne, der unser alltägliches Leben kennt und die Bedingungen der Arbeit mit dem Rundfunk ernsthaft studiert und aufgrund dessen seine Sendungen schuf. Den gibt es noch nicht. Es soll jetzt zur zentralen Aufgabe unserer ganzen Arbeit mit den Schriftstellern werden. […] Zum ersten Erfolg dieser Arbeit zählt die Tatsache, dass die traditionelle Kälte der Schriftsteller gegenüber Radio maßgeblich gebrochen ist. [Время кустарного, ‚доморощенного‘ вещания прошло. Микрофон должен быть в руках мастеров и в первую очередь – мастеров слова, квалифицированных авторов. […] Мы не можем указать писателя, который глубоко вошел бы в нашу повседневную жизнь, серьезно изучил условия работы на радио и на основе этого создавал передачи. Этого еще нет. И это должно стать сейчас центральной задачей всей нашей работы с авторами. […]

58 | R ADIOPOETIK DES SOZIALISTISCHEN R EALISMUS Залогом успеха этой работы служит то, что традиционный холодок самих писателей к радио в значительной мере сломлен.]“60

In diesem Artikel wird nach einem Schriftsteller verlangt, der in die alltäglichen Arbeitsprozesse des Radios eintaucht und damit eine Literatur schafft, die eine Radioliteratur ist. Der Feststellung, dass es so einen Autor noch nicht gibt, folgt die Aufforderung, einen eben solchen zu schaffen, demnach den Schriftsteller in seiner schriftstellerischen Arbeit umzuformen. In einem anderen Artikel derselben Ausgabe des Govorit SSSR ergeht allerdings bereits ein Urteil darüber, dass jede gute sowjetische Literatur wie geschaffen für das Mikrofon sei und nur kleiner inhaltlicher Abkürzungen bedürfe: „Jedes gute Werk der sowjetischen Literatur legt sich problemlos ‚ins Mikrofon‘ und erreicht jeden Zuhörer. Manchmal fordert es einige Anpassungen an die Bedingungen des Rundfunks, Anpassungen, die gewöhnlich eine Vereinfachung von Inhaltslinien, eine Abnahme zusätzlicher Darstellungsebenen und eine Kürzung des Materials bedeuten. Eine solche Anpassung des Werks oder des Werkfragments soll der Schriftsteller selbst durchführen. [Любое хорошее произведение советской литературы легко ‚ложится в микрофон‘ и хорошо доходит до слушателя. Порой оно требует некоторого приспособления к условиям радио, приспособления, выражающегося обычно в упрощении сюжетных линий, снятии боковых сюжетных ходов, в сокращении материала. Подобное приспособление произведения или отрывка из него к условиям радио должен произзводить автор произведения.]“61

Somit ergeht bereits, bevor es eine solche Radioliteratur und einen solchen sprechenden Schriftsteller gibt, ein Verdikt darüber, dass jede wahrlich sowjetische Literatur genuin eine Radioliteratur ist und der Radiopoetik folgt. Damit wird die institutionalisierte Kontrolle der literarischen Schrift durch den Verband der sowjetischen Schriftsteller oder durch GlavLit wie auch damit eng zusammenhängende Funktion Gor’kijs Literaturnaja učeba um ein weiteres Kontrollelement erweitert: Es ist die tägliche Überprüfung des literarischen Schreibens auf seine massenmediale Tauglichkeit, die zugleich die Verkehrung des individualistischen Schreibens ins kollektive Sprechen bedeutet und damit für den Schreibenden zur unabdingbaren Voraussetzung dafür wird, ob man zur Stimme des Kollektivs wird oder ins künstlerische Abseits gerät.

60 Mikrofon ždet pisatelja. In: Govorit SSSR 1934. H. 19, S. 7. 61 Pisatel‘ i radio. In: Govorit SSSR 1934. H. 19, S. 5.

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Z UM B EGRIFF DER R ADIOPOETIK Wenn man von der Aristotelischen Poetik als Kunst des Nachahmens ausgeht, so fragt man sich zwangsläufig, was denn nun eine Poetik nachahmt, die keine künstlerische, kreierende Funktion, sondern lediglich eine mediale, vermittelnde Funktion übernehmen soll. Kann man überhaupt von einer Poetik eines Massenmediums wie die des Radios sprechen? Aristoteles wertet in der Kritik auf Platons Ideenlehre62 die Kunst enorm auf. In seiner Poetik misst er der Dichtkunst eine schöpferische Dimension bei, die eben nicht nur Nachahmung von Dingen, sondern Handlungen sei und so eigene Geschehnisse kreiert. „[…] es [ist] nicht Aufgabe des Dichters mitzuteilen, was wirklich geschehen ist, sondern vielmehr, was geschehen könnte, d.h. das nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit Mögliche.“63

Damit steht Poetik bei Aristoteles auch über der Geschichtsschreibung und ist ernsthafter und philosophischer als jene, da sie das Allgemeine und nicht das Besondere mitteile64. Als Nachahmung der Natur steht die Kunst eben nicht als Nachbildung in zweiter Reihe, sondern bestimmt das, was der Mensch in der Welt aus eigener Kraft leisten und kreieren kann. Die Kunst vollendet, was die Natur nicht zu Ende zu bringen mag und ahmt sie andererseits nach65. Aus dieser doppelten Funktion resultiert Hans Blumenberg:

62 Platon: Der Staat. Übers. und Hg. von K. Vretska. Stuttgart 1958. X. Buch, S. 431ff. [In der Hierarchie des Nachahmens erscheint die Kunst als Nachahmung dritter Reihe und damit am weitesten von der göttlichen Idee entfernt.] 63 Aristoteles: Poetik. Hg. und übers. von Manfred Fuhrmann. Stuttgart 1999, S. 29. / Vgl. auch J. Murašov: Jenseits der Mimesis (1993), S. 98. 64 Vgl. Aristoteles: Poetik. Ebd., ab S. 29. 65 Vgl. Aristoteles: Physik. Vorlesung über die Natur. In: Philosophische Schriften. Übers. von H. G. Zekl. Darmstadt 1995, Bd. 6, S 13ff. Vgl. auch Hans Blumenberg: Nachahmung der Natur. Zur Vorgeschichte der Idee des schöpferischen Menschen. In: Ästhetische und metaphorische Schriften. Hg. von A. Haverkamp. Frankfurt a.M. 2001, S. 947 hier bes. S. 10.

60 | R ADIOPOETIK DES SOZIALISTISCHEN R EALISMUS „Natur und Kunst sind strukturgleich: die immanenten Wesenszüge der einen Sphäre können für die der anderen eingesetzt werden.“66

Eben an dieser Strukturgleichheit leitet Blumenberg den Begriff der Technik ab, die er jenseits der Unterscheidung zwischen künstlich und künstlerisch setzen möchte und das Schöpferische des Menschen als Selbsterprobung und Bezeugung seiner genuinen Seinsmächtigkeit67 bezeichnet. Er schreibt: „Das Neue zu sehen und hervorzubringen, ist nicht mehr eine Sache triebhafter ‚Neugier‘ im Sinne der mittelalterlichen curiositas, sondern es ist zum metaphysischen Bedürfnis geworden: der Mensch sucht das Bild zu bewahrheiten, das er von sich selbst hat. Nicht weil Not erfinderisch macht, ist ‚Erfindung‘ der signifikante Akt in der modernen Welt; und nicht, weil unsere Wirklichkeit so mit technischen Strukturen durchsetzt ist, tauchen sie in der Kunst der Zeit abbildlich auf – hier ist vielmehr die prägnante Kraft des homogenen Impulses zu verspüren, der auf Artikulation eines radikalen Selbstverständnisses des Menschen drängt.“68

An diesem Ausschnitt wird Blumenbergs These zur Verbindung zwischen Kunst und Technik besonders deutlich: am Aristotelischen Kunst-Begriff orientiert, ist Kunst jene Technik, mit der der Mensch seine schöpferische Kraft gegenüber der Natur behauptet. Die Abwertung der Natur in der Moderne kann damit nach Blumenberg als Resultat dieser menschlichen Selbstbehauptung angesehen werden. So Blumenberg weiter: „Der Entwertungsprozess der Natur ist nur deshalb nicht schlechthin ein nihilistischer Vorgang, weil der Glaube möglich geworden ist, dass das Sichtbare im Verhältnis zum Weltganzen nur isoliertes Beispiel ist, und dass andere Wahrheiten latent in der Überzahl sind, und dass diese Welt nicht die einzige aller Welten ist. So deutet die Kunst nicht mehr auf ein anderes exemplarisches Sein hin, sondern sie ist selbst dieses für die Möglichkeiten des Menschen exemplarische Sein: das Kunstwerk will nicht mehr nur etwas bedeuten, sondern es will etwas sein.“69

66 Hans Blumenberg: Nachahmung der Natur. Zur Vorgeschichte der Idee des schöpferischen Menschen. In: ebd., S. 10. 67 Vgl. ebd., S.10. 68 Vgl. ebd., S. 11. 69 Ebd., S. 45.

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Dieser Anspruch der Kunst etwas zu sein, den Blumenberg an Paul Klee beobachtet und zugleich seiner Poetik als Ausbruch aus der Mimesis in gewisser Weise ein Scheitern bescheinigt, da „im Spielraum des frei Geschaffenen sich unvermutet Strukturen kristallisieren, in denen sich das Uralte, Immer-Gewesene eines Urgrundes der Natur in neuer Überzeugungskraft zu erkennen gibt.“70

Allerdings, und das ist ein Schimmer Hoffnung am Ende von Blumenbergs Aufsatz, bedeute dies nicht, den ewigen Zirkel der Evidenz, aus dem man nicht ausbrechen könne, sondern die Möglichkeit, das Unausweichliche „als Kern von Evidenz im Spielraum der unendlichen Möglichkeit wieder [zu] finden und in freier Einwilligung anerkennen [zu] können. Das wäre, worum es letztlich ging, die Verwesentlichung des Zufälligen.“71

Genau diese Hoffnung, die Blumenberg am Ende seines Aufsatzes in Aussicht stellt, erfüllt der sozialistische Realismus nicht und im Radiodiskurs der 1920er und 30er Jahre wird dies besonders deutlich. Der Anspruch des Menschen, den Äther mit menschlichen Gedanken zu besiedeln, die neue Technik, die als Massenmedium die menschliche Schöpfungskraft in der elektrifizierten Welt sofort und überall verbreitet und die sich nun selbst als Kunst bezeichnet, will von einem Realen, von einem Kern der Evidenz zunächst nichts hören. Radio behauptet sich als Kunst, die nicht nur sein will, sondern die beansprucht, das Sein zu kreieren. Der Radioslušatel’ bietet dazu einige Beispiele, in denen die Verfechter der Radiokunst ihren schöpferischen Anspruch immer wieder aussprechen: „Viele Radiohörer haben sich so an den Klang der Töne im Radio gewöhnt und halten sie somit für naturgegeben, dass die Wahrnehmung gewöhnlicher, nicht durch Radio gehörten Töne einiger Instrumente am Radio gemessen werden. So meint, zum Beispiel, die immer größere Zahl der Zuhörer, dass die Geige im Radio besser als Konzertsaal klingt. [Многие радиослушатели так привыкли к трансформации звучаний по радио и считают ее настолько, так сказать, законной, что даже к оценке обычного (не через эфир воспринимаемого) звучания того или иного инструмента, подходят с точки зрения

70 Ebd., S. 46. 71 Ebd., S. 46.

62 | R ADIOPOETIK DES SOZIALISTISCHEN R EALISMUS радиозвучания. Так, например, все большее число слушателей считает, что скрипка по радио лучше звучит, чем в обычных условиях концертного зала.]“72

Die Technik als wichtigster Faktor der Radiokunst ermöglicht es, Instrumente neu zum Klingen zu bringen, überhaupt einen neuen Ton, neue Musik hervorzubringen. So ist es nicht die Geige, sondern ein durch Radio transformierter Klang einer Geige, der nun zur neuen Wirklichkeit ausgerufen wird. Zum Abschluss des Artikels heißt es noch einmal verstärkt: „Der sozialistische Bau bedeutet Umbau der Wirtschaft und der Gesellschaft. Es ist eine sehr aktive Handlung. Die Kunstsendungen, die das Werkzeug sozialistischen Umbaus sind, werden als eine Errichtung verstanden, die die Massen ergreift und, sie zu entsprechenden Handlungen auffordert. Die entschlossene Problemstellung der Radiokunst wird helfen, existierende mechanische Formen der Kunstsendungen zu überwinden und die Kunstsendungen zur selbständigen, aktiven Form des Massenkunstwerks zu machen, bei der die Massen der Radiohörer in die Handlungen des sozialistischen Baus immer mehr einbezogen werden, und der Rundfunk zum aktiven Faktor der kulturellen Revolution der arbeitenden Massen, besonders derer auf dem Land, wird. [Социалистическое строительство заключается в перестойке хозяйства и общества. Это – весьма активное действие. Художественное вещание, как орудие социалистической пересторйки, предполагает такую постановку вещания, чтобы это захватило массы, стимулируя их на соответствующие действия. Решительная постановка проблемы радиоискусства поможет перебороть существующие механические формы вещания и сделает художественное радиовещание самостоятельной, активной формой массовой художественной работы, при которой массы радиослушателей все более будут втягиваться в дело социалистической стройки, а самое радиовещание станет активным фактором культурной революции в самой гуще трудящихся, особенно в деревне.]“73

Damit stellt sich die Radiokunst nicht in den Dienst der sozialistischen Ideologie, sondern beansprucht für sich ein aktiver Gestalter und Generator dieser Ideologie zu sein. Schwierig wird es für die Radiokunst, wenn sie auf die ideologische Forderung das Leben sei Kunst trifft. Im Artikel Kogda žizn’ stanovitsja iskusstvom (Wenn das Leben zur Kunst wird) wird die Radiokunst in dieser poetisch-schöpferischen Funktion, dem Kreieren der neuen sozialistischen Gesellschaft, deutlich zurückgestuft.

72 Radioiskusstvo. In: Radioslušatel’. 1930. H. 14, S. 2. 73 Ebd., S. 3.

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„Die Aufgabe der Radiokunst besteht gerade darin, dass das Material zum mikrofon gelangt, das mit dem tiefen aufregenden Inhalt gefüllt ist. Sie fordern unmögliches – woher soll man solche Werke nehmen? Wer wird sie schreiben? Wo sind diese Schriftsteller? Es gibt einen Schriftsteller, der mit Erfolg alle anderen ersetzen wird. Sein Name? Das sowjetische Leben. Kein Operngott und kein dramatischer Held in den besten weltberühmten Werken ist zu solchen Gipfeln des Heldengeistes gelangt, wie z.B. das Kollektiv des Dneprostorjs! Ob das nicht besser ist, wenn man die Kunst des Lebens einfach radiofotografiert? [Задача радиоискусства заключается именно в том, чтобы подавать к микрофону материал, насыщенный глубоким волнующим содержанием. Вы требуете невозможного – где взять такие произведения? Кто будет их писать? Где эти авторы? Есть один автор, который с успехом заменит всех. Имя? Советская жизнь. Ни один оперный бог и драматический герой в лучших мировых произведениях не поднялся еще до таких вершин героики, как – ну, хотя бы коллектив Днепросторя! Не лучше ли радио-фотографировать искусство жизни?]“ 74

Hier kommt das mimetische Prinzip wieder in Erscheinung und das Radio wird zum Dokumentationsmedium des sozialistischen Lebens, das selbst Kunst ist. Zugleich bedeutet diese genuine Verbindung zwischen Radio und Leben nicht etwa die Rückbesinnung der Radiokunst auf das Prinzip der Nachahmung der Natur, sondern die Ausrufung des Lebens zur Kunst. Somit funktioniert nicht die Kunst nach den Regeln der Natur und bietet Szenarien des Möglichen, wie man es bei Aristoteles vorfindet, sondern das Leben funktioniert nun nach den Regeln der Kunst, genauer der Radiokunst. Am Ende seines Artikels postuliert sein Verfasser: „Sobald das Leben zur Kunst wird, wird Kunst zu einer ziemlich schwierigen Aufgabe. [Когда жизнь становится искусством, искусство ствновится очень сложным занятием.]“75

Als 1934 Govorit SSSR die Radiokunst als puren Formalismus verabschiedet und zur literarischen Radiophonie aufruft, erscheint es zunächst nicht nur als Scheitern des poetischen Anspruchs der Radiokunst, das sozialistische Leben zu kreieren, sondern auch generell als Scheitern des Radios in ihrem Anspruch eigenständige Kunst zu sein.

74 Kogda žizn’ stanovitsja iskusstvom. In: Govorit Moskva. 1930. H. 33 (101), S. 5. 75 Ebd., S. 5.

64 | R ADIOPOETIK DES SOZIALISTISCHEN R EALISMUS „Nirgendwo hat diese Theorie soviel unmittelbaren, konkreten Schaden, wie in literarischer Radiophonie eingerichtet.[…] Und wenn zu Beginn 1933 theoretisch wie auch künstlerisch der Bankrott der Radiokunst-Theorie offen erklärt wurde, nachdem es mit absoluter Klarheit bewiesen wurde, dass die Suche nach der neuen Radiokunst nichts gebracht hat, dass einzelne erfolgreiche Radiokompositionen gar keine Werke irgendeiner besonderer Kunst sind, wenn endlich der riesige Schaden der Absonderung des Rundfunks von anderen Gebieten des künstlerischen Schaffens festgestellt wurde, lag die literarische Radiophonie, wie man es sagen würde, in Scherben. [Ни на одном из участков радиоработы эта теория не понесла столько непосредственного, конкретного вреда, как в литературном вещании.[…] И когда к началу 1933 года стал очевидным как теоретический, так и творчевкий крах теории радиоискусства, после того как с полной ясностью было обнаружено, что искания нового радиоискусства ни к чему не привели, что отдельные удачные радиокомпозиции вовсе не являются произведениями какого-то особого искусства, когда наконец огромная вредность отгораживания радио от других областей художественного творчества стала доказанным, осознанным фактом, – литературное вещание оказалось, что называется ‚у разбитого кaрыта‘]“76

Dem Medium Radio wird damit zwar seine schöpferische Funktion abgesprochen, allerdings verlagert sich seine Poetik, und das lässt sich spätestens seit dem Schriftstellerkongress gut beobachten, auf die Literatur. Das literarische Schreiben als eine genuin individuelle Technik, das Neue, Naturähnliche zu schaffen, die Blumenberg als ein Phänomen der Selbstbezeugung des modernen Menschen beschreibt, wird durch eine mediale Technik der Radiophonie vor das Problem des kollektiven künstlerischen Schaffens gestellt. In den Forderungen der Vortragenden des Schriftstellerkongresses nach einer gemeinsamen, gemeinschaftlichen Literatur, die vor dem Leben steht und damit ein Vorbild für das sozialistische Leben sein soll, wird eine Poetik entwickelt, die sich vornimmt, die bürgerliche Literalität mit dem sozialistischen Sprechen zu ersetzen, das sich dabei auf die sekundäre Oralität der Radioakustik stützt. Wenn Jurij Murašov von der von der Geburt des sozialistischen Realismus aus dem Geist der Radiophonie77 spricht, greift er damit vor allem auf Walter Ongs

76 Literaturnoje veščanije v 1933 godu. In: Govorit SSSR. H. 1, S. 23. 77 Vgl. Jurij Murašov. Das elektrifizierte Wort. Das Radio in der sowjetischen Literatur und Kultur der 20er und 30er Jahre. In: Die Musen der Macht. Medien in der sowjetischen Kultur der 20er und 30er Jahre. Hg. von Georg Witte und Jurij Murašov. München 2003, S. 81-113.

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Begriff der sekundären Oralität78 zurück, die mit dem Auftreten des Radios als neues Medium mit dem schriftlich literarischen Wort in Konkurrenz tritt und die Literatur in ihrer Schriftfundiertheit zu überwinden sucht. Der Begriff der sekundären Oralität zeichnet sich bei W. Ong vor allem durch die Verbindung zwischen den neuen oralen Techniken wie Telefon, Radio, Fernseher und der literalisierten Gesellschaft, die mit dieser neuen Art der Oralität sich konfrontiert sieht, aus. Einerseits sind elektrische Medien die Fortsetzung der Schriftlichkeit und basieren vor allem auf der Literalität, andererseits verändern die neuen elektrischen Medien die alte Schrifttechnik enorm: Sie verstärken sie und sie verleihen ihr eine geplante Spontanität.79 Ongs Gedanke der geplanten Spontanität ist für die Entstehung der sozialistisch realistischen Radiopoetik von großer Bedeutung: Während die Schrift die Sprachkultur linear organisiert und differenziert, greift das radioakustische Sprechen auf das System einer primären vorschriftlichen Oralität zurück, muss aber seine analytische Reflektivität, die die Schrift ermöglicht, immer wieder ausblenden und ihre Literalität verdecken. Um Emotionalität und Unmittelbarkeit einer primären oralen Kommunikation als Vorstellung eines vorliteralisierten Urzustandes einer Kultur zu erzeugen, müssen elektronische Medien des 20. Jahrhunderts ihre Schriftfundiertheit verleugnen und zugleich schriftliche Medien vereinnahmen. Das Verdecken der Schriftbezogenheit fällt dem Radio nicht schwer, da es als gemeinschaftstiftendes Medium zugleich theologische Sprachkonzepte nachlebt. Das gesprochene Wort im Radio avanciert zu einem von der Schrift befreiten Wort. Mit dieser Verdrängung der Schrift beerbt die Radiopoetik das christlichorthodoxe Heilskonzept des Metropolit Illarion aus dem 11. Jahrhundert. In Slovo o zakone i blagodati (Das Wort über das Gesetz und das Heil80) entwirft Illarion ein System der Unterscheidung zwischen dem alten und neuen Testament, das er als Übergang vom schriftlichen Gesetz zur unmittelbaren lebendigen und damit wahrhaftigen Erfahrung des Göttlichen in der Passion Christi beschreibt: „Aber über das Gesetz des Moses und über die Glückseligkeit und die Wahrheit, die durch Christus erschienen ist, sei diese Erzählung; und darüber, waas das Gesetz und was die

78 Vgl. Walter J. Ong: Oralität und Literalität. Die Technologisierung des Wortes. Opladen 1987, S. 136. 79 Vgl. Walter J. Ong. Ebd., S. 135-137. 80 Metropolit Illarion: Slovo I zakone I blagodati. Hg. von V. J. Derjagin. Moskau 1994, S.29ff.

66 | R ADIOPOETIK DES SOZIALISTISCHEN R EALISMUS Glückseligkeit erreicht hat. Früher war das Gesetz später die Glückseligkeit; früher gab es Schatten später die Wahrheit. [...] Und der Gott hat doch gewünscht und geplant seinen Sohn in die Welt zu schicken, um die Glückseligkeit erscheinen zu lassen. [...] Denn das Licht ist vom Mond weggegangen, als die Sonne schien, so ist auch das Gesetz weggegangen, als die Glückseligkeit erschienen war; und die nächtliche Kälte ist verschwunden, als die Sonne die Erde erwärmt hat. Und schon wird die Menschheit nicht vom Gesetz erdrückt, sondern bewegt sich frei in der Glückseligkeit. Denn beichteten die Juden doch bei der Kerze des Gesetzes die Christen aber finden Rettung in der wohltuenden Sonne. So rechtfertigten sich Juden im Schatten und vor dem Gesetz, retteten sich aber nicht, Christen aber rettetn sich in der Wahrheit und in der Glückseligkeit und rechtfertigen sich nicht. Denn bei den Juden ist die Rechtfertigung, bei den Christen ist aber die Rettung. Und weil die Rechtfertigung in dieser Welt und die Rettung im nächsten Jahrhundert liegt, erfreuen sich die Juden an dieser Welt und die Christen aber an himmlischen Glück. [Но о законe через Моисея данном, и о благодати и Истине, явленной через Христа, повесть сия; и о том, чего достиг Закон а чего – Благодать. Прежде Закон потом Благодать; прежде тень потом Истина. [...] И Бог ведь прежде век изволил и замыслил Сына Своего в мир послать и тем явить Благодать. [...] Ибо отошел свет от луны, когда солнце воссияло, - так и Закон отошел, когда явилась Благодать; и стужа ночная сгинула, когда солнечное тепло землю согрело. И уже не теснится в Законе человечество, но в Благодати свободно ходит. Ведь иудеи при свече Закона делали свое оправдание, християне же при благодатном солнце свое спасение созидают. Так, иудеи тенью и Законом оправдывались, но не спасались, храистиане же Истиною и Благодатью, не оправдываются, а спасаются. Ибо у иудеев – оправдание, у христиан же спасение. И поскольку оправдвние в этом мире, а спасение в Будущем Веке, иудеи земному радуются, христиане же сущему на Небесах.]“81

An Stelle des schriftlichen Gesetzes setzt Illarion ein Heilsversprechen, das sich direkt in den Körper des lebendigen Gottes einschreibt. Es ist kein geschriebenes Gesetz, an das man sich hält, sondern eine sakrale Opferung, die bezeugt und nachgeahmt werden muss. So wird das Medium Schrift in seiner Vergänglichkeit und Unzulänglichkeit des Erlebens des Göttlichen disqualifiziert und zugunsten einer Handlung herausgeschoben, die das Wort als heiligen Akt der Opferung begreift, in welcher sich das Göttliche selbst offenbart, also unmittelbar wirkt.

81 Ebd., S.29ff.

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Das Sprechen im Radio profitiert enorm von diesem Wortkonzept, das als unmittelbarer Ausdruck des Göttlichen gefasst wird. Es ist jene unsichtbare Stimme, die ohne einen sichtbaren Adressaten sich zur metaphysischen Stimme der Macht erhebt, die überall klingt und den öffentlichen Raum komplett ausfüllt. Es ist auch jene Stimme, die als Erscheinung der Macht in anderen Medien, wie Film und Literatur, reproduziert und als eine Stimme des Heiligen inszeniert wird. Gleichzeitig wird in Illarions Überlegungen zum schriftlichen Gesetz und der lebendigen Worttat Gottes die Schrift einem permanenten Verdacht der Lüge, der Verdrehung des göttlichen Wortes ausgesetzt. Das Beerben dieser theologischen Sprachkonzeption durch die Radiopoetik bringt das literarische Schreiben in eine schwierige Lage: zum Einen will und soll die Literatur zum kollektiven Schöpfertum des sozialistischen Realismus beitragen und wird aufgefordert, das Medium der Schrift zugunsten einer sekundären Oralität des Radios zu verlassen, zum Anderen entpuppt sich gerade dieses Vorhaben als unmöglich, da Literatur sich aus der Schrift schöpft. Es werden somit mediale und poetische Strategien entwickelt, die die literarische Schrift in Schreibprozessen, die durch staatliche Kontrolle, Kritik und Selbstkritik bestimmt sind, auszublenden versucht. Es entsteht eine Radiopoetik, die einerseits durch Medialisierung und Radiofizierung des literarischen Wortes den Menschen als Schöpfer der Natur entgegenstellt und damit das Aristotelische Nachahmungsprinzip auszuhebeln versucht, die andererseits aber immer brüchig bleibt, da die Selbstbezeugung des Menschen als Schöpfer der Welt durch die Kunst deutliche Risse bekommt, wenn sich unvermutet Strukturen kristallisieren, in denen sich das Uralte, Immer-Gewesene eines Urgrundes der Natur in neuer Überzeugungskraft zu erkennen gebe, wie H. Blumenberg trefflich bemerkt. In ihrem politisch-ideologischem Auftrag der kanonischen Literatur greift die Poetik des sozialistischen Realismus auf theologische Urszenen zurück und produziert mit ihrem positiven Helden rituelle Opferungen und Märtyrernarrative, die als Reste vergangener Religion immer wieder auf das Scheitern radiopoetischer Literatur verweisen und an ihre Verwurzelung in der Schriftlichkeit erinnern. Tatsächlich kann man das radiopoetische Schreiben nicht als Leitlinie des sozialistischen Realismus betrachten, sondern als Schreibstrategie des Umgangs des sozialistischen Schriftstellers beschreiben, der sich aus der Künstlichkeit seiner individuellen Schrift zu befreien sucht, um zu einer überindividuellen, kollektiven

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Literatur der Wahrheit zu werden, die sich jeder philologischen Auslegung, jeder Hermeneutik zu entziehen vermag82. Dieses radiopoetische Schreiben führt vor allem in der Beziehung zwischen dem Schriftsteller und seinem künstlerischen Wort zu einem enormen Problem. Zum einen durch die Zensur des GlavLit, zum anderen durch die öffentliche Kritik der Schriftstellerkollegen in der Presse, woran sich auch Stalin selbst unter unterschiedlichen Pseudonymen beteiligt, wohl auch durch die öffentliche Aufforderung zu Selbstkritik, werden die Texte von sozrealistischen Schriftstellern solange überarbeitet, bis sie tatsächlich die Autorstimme gänzlich verlieren und damit auf eine skurrile Art zum Allgemeingut werden, die sich als schwarze Seite der Bachtinschen Polyphonie83 herausstellt. Das Ankämpfen gegen die Schrift ist vor allem als ein Versuch zu verstehen, die eigene Stimme im literarischen Prozess zu überwinden. So zu erzählen, dass das Wort vom Leben durchdrungen selbst zum Leben wird. Damit wird der Schriftsteller zum Opfer seiner eigenen literarischen Schöpfung, sein Werk fordert eine absolute Selbstvergessenheit und Aufgabe. Nur durch diese restlose Auflösung seiner Individualität kann er selbst zum Mythos des Wahrheitsbringenden und –stiftenden Sprechers werden. In einer seiner Reden im Radio an die jungen Schriftsteller, sagt Nikolaj Ostrovskij: „Unsere Literatur ist die Literatur der Wahrheit, der sozialistischen Wahrheit der gegenwärtigen und der zukünftigen Menschheit. [...] Wir brauchen nicht zu lügen. Unser Leben ist unglaublich schön und romantisch. Das Leben gibt uns eine Masse an bemerkenswerten Gestalten, die wie Schwadronen in unser Gehirn eindringen, ihn ausfüllen, und jede Gestalt ist schöner und mächtiger als die andere. Wir kommen kaum dem Leben seiner stürmischen Bewegung hinterher. Und schon zeichnet sich vor uns die die Gestalt des neuen eines noch nie dagewesenen Menschen mit kommunistischer Moral, die Gestalt des schönen Menschen der Zukunft. Wir müssen ihm in unseren Werken eine Gestalt geben. [Наша литература – литература правды, социалистической правды настоящего и будущего человечества. [...] Нам же нечего лгать. Жизнь наша изумительно красива,

82 Vgl. Jurij Murašov. Schrift und Macht in den 1920er und 1930er Jahren der sowjetischen Kultur. In: Schrift und Macht. Zur sowjetischen Literatur der 1920er und 30er Jahre. Hg. von T. Liptak und J. Murašov.Wien 2012, S.1-45, hier bes. S.27. 83 Vgl. Michail Bachtin: Das Wort im Roman. In: Die Ästhetik des Wortes. Hg. von Rainer Grübel. Frankfurt am Main 1979. Bachtin beschreibt das Wort im Roman als ein durch andere fremde Worte innerlich durchdringtes Wort. Das Wort im Roman lebt demnach von dem Dialog und Polyphonie des Wortes, das ständig dem Dialog mit fremden Worten ausgesetzt ist.

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романтична. Она дает нам массу замечательных образов, они эскадронами врываются в мозг, заполняют его, один прекраснее, могущественнее другого. Мы едва успеваем за жизнью, за ее стремительным, бурным движением вперед. И уже вырисовывается перед нами образ нового, невиданного никогда раньше человека коммунистической морали, прекрасного человека будущего. Мы должны дать образ его в наших произведениях]“84

Mit seiner Literatur der Wahrheit löst Ostrovskij die Literatur aus ihrer Funktion der Nachahmung der Natur heraus. Es ist keine Literatur, die das in der Natur Mögliche darstellt oder das aufgreift, was die Natur ausgelassen hat. Literatur wird zu einem Ort, an dem unmittelbar die Wahrheit spricht und damit keine mimetische, sondern ikonische Angelegenheit wird. Der Schriftsteller avanciert zum Ikonografen, das literarische Schaffen zum sakralen Ritual85. Was auf der Inhaltsebene als Homogenisierung und Orientierung an einigen Masterplots wie z.B. M. Gor’kijs Mat’86 erscheint, entwickelt sich auf der Ebene der Textproduktion zu einem komplexen Verhältnis zwischen Schriftsteller und Öffentlichkeit einerseits und Schriftsteller und politischer Macht andererseits, bei dem der Schriftsteller einer dauerhaften Kommunikation seiner Werke gegenüber tritt und in diesem Prozess unentwegt dem Verdacht der Lüge seines individualistischen und künstlichen Wortes ausgesetzt vor der sakralen Wahrheit des politischen Kollektivs bestehen muss. Dabei entwickeln unterschiedliche Schriftsteller eigene Strategien, um mit dem kollektiven Ethos umzugehen. Es sind Krisenfälle des literarischen Schreibens, die unterschiedlich in Erscheinung treten und doch eins gemeinsam haben. Mit einer durch elektronische Medien möglich gewordenen Vervielfältigung und Popularisierung der eigenen Werke sehen sich Schriftsteller einer oralen Öffentlichkeit ausgesetzt, die eben nicht nur über das Werk des Autors spricht, sondern aktiv in den Produktionsbetrieb eingreift. Der Schriftsteller befindet sich in dieser medialisierten Öffentlichkeit mitten in einer ständigen kollektiven Kommunikation, die mit ihrer polyphonischen Stimme den einzelnen Autor eliminiert.

84 Nikolaj Ostrovskij: Nužna upornaja volja, ogromnaja učëba. Vystuplenije po radio na s’jezde Aztovo-Černomorskogo kraja. Soči 6.12.1935. In: Sočinenija. Band 2 „Molodaja gvardija“. Moskva 1952, S. 220-222. 85 Vgl. Katerina Clark. The Soviet Novel. History as Ritual. Chicago 1981, S. 4. 86 Vgl. K. Clark. Ebd.

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R ADIOPOETISCHES S CHREIBEN ? Betrachtet man einerseits die Entwicklung des akustischen Massenmediums Radio, das als Sinnbild für erfolgreiche Modernisierung Russlands durch die russische Revolution in der Sowjetunion gilt und andererseits die Verknüpfungen zwischen dem neuen akustischen Massenmedium und literarischem Erzählen, lässt sich beobachten, dass das literarische Schreiben über die Experimentierphase der russischen Avantgarde mit der Stimme als Medium der Literatur hinaus, nachhaltig von der akustischen massenmedialen Verbreitung des Wortes verändert wird. Es sind vor allem Verbindungen und Verschränkungen zwischen Massenmedialität, schriftlichem literarischem Erzählen und Inszenierungsstrategien der sowjetischen Macht, die für die neue Poetik des sozialistischen Realismus ausschlaggebend sind, die man in dieser Arbeit als Radiopoetik bezeichnen möchte. Das radiopoetische Schreiben des sozialistischen Realismus knüpft an zwei wichtige Faktoren an: Zum einen strebt es die Abkehr vom mimetischen Prinzip der Literatur und zum anderen fordert es eine literarische Schreibpraxis, die sich nicht an individuellen schriftlichen, sondern am kollektiven mündlichen Volkserzählen orientiert und damit die Künstlichkeit der Schriftlichkeit überwinden soll. Dabei geht dieses Schreiben als ein Als-ob-Sprechen allerdings immer von einer Mündlichkeit aus, die auf einer radiophonen Erfahrung basiert und damit eine sekundäre Oralität voraussetzt, die ihre technische Gemachtheit und massenmedialen Ursprung stets verschweigt.

Schauplätze der Radiopoetik

R ADIO

ALS FIKTIONALE

E RZÄHLUNG

Radio v derevnju! (Radio aufs Land!)1, ist eine agitationspolitische Forderung der Radiozeitschrift Radio vsem. Als Titel eines Artikels in der Septemberausgabe 1926 der Zeitschrift rekurriert diese Aufforderung vor allem auf die ständige Rubrik Radio v derevne der gleichen Zeitschrift. Bei diesem Artikel handelt es sich um eine Reihe technischer, ökonomischer und ideologischer Forderungen, die die Zeitschrift an die zuständigen Organe adressiert, die für den Ausbau des Rundfunknetzes in ländlichen Regionen zuständig sind und zudem eine ideologische Basis für die Agitpropaganda auf dem Land legen. Diese in erster Linie agitationspolitische Aufgabe des Radios, das sowjetische Dorf an die Elektrifizierung und Radiofizierung des Landes anzuschließen, entwickelt sich allerdings zu einer radiopoetischen Fiktion, in der die Säkularisierung der sowjetischen Gesellschaft erzählt wird. Es entstehen in Radio vsem literarische Texte, in denen Heilungsprozesse der gläubigen Bauern aus der religiösen Verblendung beschrieben werden. Als wichtigstes ästhetisches Mittel wird das Auslachen der sakralen Rituale und dessen Akteure angewendet. 1926 erscheint in Radio vsem ein satirisches Gedicht Tëtkina antenna (Die Antenne der Tante), das zunächst den Konflikt zwischen dem technikbegeisterten Neffen und seiner gläubigen Tante Thekla beschreibt. Die alte Tante bezeichnet das Radio als Teufelszeug und Hexerei: „Lass mich in Ruhe, du Teufel!! Das ist keine Wissenschaft, sondern alles Tricks des Antichrisen! Was lacht ihr? Hier gibt es nichts zu lachen! Ihr werdet es sehen,

1

Radio v derevnju! In: Radio vsem. (9) 1926. H. 8, S. 1-2.

72 | R ADIOPOETIK DES SOZIALISTISCHEN R EALISMUS für diesen Spaß werdet ihr Sünder die Verantwortung übernehmen müssen! Ich als arme Witwe will nichts von der Zauberei hören! [-Отвяжись ты сатана!! Никакой тут нет науки, Все антихристовы штуки! Что смеетесь? Не до смеха! Будет вам ужо потеха, Уж придется на том свете, Быть вам грешникам в ответе! Я ж для моего вдовства, Не желаю колдовства!]“2

Das Lachen der Masse wird in diesem Text zur zentralen Figur des sozialistischen Lachens, die Eizenštein in Bolševiki smejutsja (1956) als jene sozialistische Waffe bezeichnet, die als leichtere, jedoch ebenfalls tödliche Waffe dort zum Einsatz komme, wo es keine Notwendigkeit gäbe, schwere Geschütze einzusetzen.3 Es ist kein erlösendes oder reinigendes Lachen, auch kein befreiendes oder entspannendes Lachen, sondern ein kämpfendes, zerstörerisches, märtyrerisches Lachen4. Das kollektive Lachen avanciert in diesem Gedicht ähnlich wie die Lachenkonstruktion bei Eizenštein zu einer kämpferischen, zerstörerischen Handlung und erweist sich als effektivste ideologische Waffe gegen die Religiosität im Dorf. Es ist dieses kollektive Lachen, das den Verlauf der Handlung zum Höhepunkt und schließlich zum Umschwung bringt. So ist es auch ein Lachen, das keine befreiende Funktion hat und keinerlei komische Situationen oder Personen beinhaltet, sondern allein der Zerstörung des Alten gilt – ein siegreiches Lachen, wie ihn Eizenštein bezeichnet.5 Dieses Lachen erreicht es nun auch, dass der Dorfpope sich für geschlagen erklärt und auf Bitten der verzweifelten Tante nicht mehr erwidern kann als, dass die Kirche nichts gegen die modernen Dämonen ausrichten kann:

2

Tetkina antenna. In: Radio vsem. 1925. H. 2, S. 33.

3

Eizenštejn, Sergej: Bol’ševiki smejutsja. Mysli o sovetskoj komedii. In: Eizenštein, S.

4

Ebd., S. 81.

5

Vgl. Ilija Kalinin: Smech kak trud i kak tovar. (stachanovskoje dviženije i kapitalis-

Izbrannyje proizvedenija. Moskau. Iskusstvo. 1969. Bd. 6, S. 84.

tičeskij konvejer). In: NLO. 03/2013. H. 121.

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„Hör zu, Weib, Jetzt ist unsere Sache schwach, Es gab mal die Zeit als mein Gottesdienst In allen Nöten half. Wir heilten durch das Gebet, und vertrieben den Teufel, Aber jetzt ist die letzte Stunde angebrochen: Und der Teufel selbst vertreibt uns! [-слушай баба, Нынче дело наше слабо,Было время мой молебен Был от всяких бед целебен Мы молитвой исцеляли, Лютых бесов изгоняли,Но настал последний час: Нынче бесы... гонят нас!]“6

Innerhalb des Gedichts wird die Institution Kirche dabei durch die Darstellungen des ständig betrunkenen und in Halbschlaf versunkenen Popen als heilbringende Instanz disqualifiziert. Die gläubige Tante allerdings kann ihrer Neugier irgendwann nicht mehr widerstehen und hört nachts heimlich das neuinstallierte Radio. Das erste Radiohören erlebt sie als wahres Wunder und Erleuchtung: „In dieser Nacht erlebte sie ein Wunder: Plötzlich und unerwartet, völlig hell und klar kamen ihr Gedanken: Sie dachte über Lügen des Popen, und über die religiöse Blendung nach. Nun, dachte sie, sei es an der Zeit mit all dem aufzuhören, Denn das Haar ist schon grau, und sie lebt immer noch wie die alte Närrin in der Dunkelheit und in der Finsternis, und sieht das Volk nicht, das ein neues Leben baut und sich unaufhörlich forwärts bewegt! [в эту ночь случилось чудо:

6

Ebd., 1925. H. 3, S. 61-62.

74 | R ADIOPOETIK DES SOZIALISTISCHEN R EALISMUS Вдруг неведомо откуда,Ясны, ярки, не угрюмы,Налетели к Фекле думы: Про поповские обманы, Чудотворные туманы,Мол,- пора все это бросить,В волосах видна уж проседь, Ты-ж живешь все той же дурой, Жизнью темною и хмурой, И не видишь как народ, Строит, движет, прет вперед!..]“7

Das Radiohören erfüllt hier nicht nur seinen pädagogischen Aufklärungsauftrag, sondern leitet auch einen Säkularisierungsprozess im Dorfalltag ein. Die Tante entsorgt alle Heiligen von ihren Wänden und übernimmt ab jetzt selbst den Aufklärungsauftrag, den sie medialakustisch empfangen hat. Zu ihrem Neffen sagt sie: „Ich, mein lieber Neffe, bin auch nicht ganz ohne Verstand!!. Jetzt wurde mir alles klar, Dass ich nun vergeblich betete, Dass die Popen uns täuschen, Dass die Propheten nichts prophezeien, Dass es keine Wunder auf der Welt gibt, Dass das Volk in Finsternis lebt, Dass wir alle lernen müssen, dass wir nicht die Zeit mit Beten vergeuden dürfen, Dass uns niemand helfen wird, Dass jeder tricksen kann, und dass alle Götter vom Radio geschlagen sind! [Я, племяничек, сама Тоже, чай, не без ума!!. Все теперь мне стало ясно,Что молилась я напрасно, Что попы нас всех морочат, Что пророки не пророчат,

7

Ebd., 1925. H. 4, S. 87.

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Что чудес на свете нету, Что живет народ без свету, Что всем надобно учиться, Что не надо зря молиться, Что никто нам не поможет, Что чудесить – всякий может, И что всех богов покрыл, Тот, кто ‚радью‘ смастерил!]“8

In dieser Aufklärungsrede spricht die alte Tante dem religiösen Wunder seine Wirkungsmächtigkeit ab, an deren Stelle sie das technische Wunder Radio setzt. Hier findet also die entscheidende Substitution statt. Während die erste Begegnung der Tante mit dem Radio von ihr eindeutig als Wunder empfangen und beschrieben wird, findet an dieser Stelle bereits eine Verdrängung dessen, was man als Sakralisierung des Profanen und Politischen im Zuge der Säkularisierung des Heiligen / Religiösen bezeichnen müsste, statt. Das Reduzieren des nächtlichen Wundererlebnisses der Tante auf die profane technische Beschaffung und Bedeutung des Radios verdeckt die Funktion des Mediums Radio als Erbe der Religion und erhebt Tante Thekla zum Sprachrohr der Säkularisierung im Dorf, die mit ihrem radiofiziertem Haus die Kirche ersetzt: „Seit jener Zeit laufen Leute aus ganz Barvicha zu Theklas Haus wie früher in die Kirche, um Abendkonzerte zu hören… Tante Thekla streitet, belehrt, jubelt voller Stolz mit roten Wangen Sie erklärt allen das Radio. Sie hat sich mit den Komsomolzen angefreundet. Man hört, sie habe lesen gelernt. [с той поры со всей Барвихи К дому Феклы сторожихи На вечерние концерты Прет народ, как раньше к церкви... Тетка-ж Фекла – руки в боки, Разгориться, красны щеки, Спорит, учит всех, ликует. Всем про радио толкует.

8

Ebd., 1925. H. 6, S. 132.

76 | R ADIOPOETIK DES SOZIALISTISCHEN R EALISMUS С комсомольцами сдружилась. Слышно, - чтенью научилась.]“9

Das Radio dient Tante Thekla zum einen als Instanz zum Erwerb der Literalität10, denn sie lernt vom Radio inspiriert nun auch lesen. Darüber hinaus passiert mit dem Entsorgen der Heiligen durch die Tante gleichzeitig eine Umbesetzung der sakralen Instanzen: kirchliche Lehre als Lüge entlarvt, wird durch das Radio ersetzt, Tante Theklas Haus wird für Dorfbewohner zur neuen Kirche. Tante Thekla, die nun erleuchtet, mit Komsomolzen befreundet ist und lesen kann, avanciert zum neuen Prediger. So buchstäblich und plakativ der Text mit der Säkularisierung auch umgeht, so genau übernimmt er auch das säkulare Schweigen über die sakrale Aufwertung des Profanen und in Tante Theklas Fall auch besonders des Politischen. Nur beiläufig erwähnt wird die Dimension der politischen Theologie des Gedichts deutlich. Der sowjetische Staat selbst ist es, der über allem wacht und allein über die Kategorie der absoluten Wahrheit verfügt. Nachts, wenn die Dorfbewohner sich zurückziehen und nur einzelne verliebte Paare sich in der Dämmerung verstecken, erscheint im Abendhimmel der Neumond als die sowjetische Sichel: „Der Abend ist gekommen. In ganz Barvicha Dämmert es. Leise-leise... leuchtet irgendwo mal das Licht im Fenster, oder jemand fährt manchmal vorbei. Dann wird es wieder still. An den Zäunen Kann man ein leises Flüstern hören, Man kann hören; - Mischa, Dascha... Schurka... Die Burschen schniegen sich an die Mädels, Und die Bräute wählen aus… Und im blauen, blauen Himmel Erscheint in Form der hellen Sichel Das Zeichen des sowjetischen Wappens. [Свечерело. Вся Барвиха Задремала. Тихо-тихо... Кое-где окошко светит, Кое-кто порой проедет.

9

Ebd., 1925. H. 7, S. 134.

10 Vgl. Jurij Murašov. Das elektrifizierte Wort. In: Die Musen der Macht. Hg. von G. Witte und J. Murašov. München 2003, S. 85.

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Снова стихнет. Вдоль заборов Слышен шепот разговоров,Слышно;- Миша, Даша... Шурка... Парни к девкам жмутся юрко, И невесты тянут жребий... А на синем-синем небе – В виде светлого серпа Знак советcкого герба.]“11

Unmittelbar am Abend bevor Tante Thekla ihr Radiowunder erlebt, erscheint das Symbol des Sowjetstaates am Himmel. Als eine Naturerscheinung codiert, erlangt der Sowjetstaat seine Legitimation als über dem Menschen stehende Macht. Das Erscheinen der sowjetischen Macht am Himmel als Vorzeichen für die kommende nächtliche Veränderung der alten Tante steht jenseits des Plots und hat in diesem Moment nur die Funktion einer übermenschlichen Macht, die den Lauf der Welt bestimmt. In diesem Gedicht werden der über allem wachende Staat, sowie die Verabschiedung der alten christlichen Religion durch das Radio zu einer Metapher. Der Säkularisierungsprozess auf dem Land wird zu einer Erzählkategorie, die den Übergang von sakralen zu politischen Begriffen markiert und mit der „Entzauberung“ der Religion gleichsam eine „Verzauberung“ des Politischen12 vorführt. Das Gedicht über die alte Tante grenzt sich deutlich von sämtlichen politischen und ideologischen sowie pädagogischen Texten der Radiozeitschrift ab: Zum einen durch seine Form als durchgehend in Trochäen verfasstes Gedicht, zum anderen durch die deutliche Benennung des eigenen Genres positioniert sich Tantes Theklas Geschichte als ein literarischer Text. Zu Beginn bezeichnet sich das Gedicht als byl’ (wahre Geschichte) und wechselt am Schluss zum Märchen: „Wir unterbrechen hier unser Märchen Und schicken ihr einen Gruß. [Мы же сказку здесь прервем И с поклоном ей пошлем.]“13

Durch die Selbstbezeichnung als Märchen am Ende des Gedichts entlarvt sich der Text quasi selbst als eine Fiktion und lässt den aufwendig erzählten Bildungsweg

11 Tetkina antenna. Ebd., 1925. H. 3, S. 62. 12 Daniel Weidner: Zur Rhetorik der Säkularisierung. In: Deutsche Vierteljahresschrift der Literatur und Geistesgeschichte. 2004. 13 Tetkina antenna. Ebd., 1925. H.7, S. 134.

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der alten Tante von der gläubigen Analphabetin zur aufgeklärten und literalisierten Befürworterin des neuen politischen Systems im radiophonen Mysterium münden. Dieses Gedicht beinhaltet zwei wichtige Elemente: Zum einen wird der Säkularisierungsprozess in der Sowjetunion zu einer fiktiven Erzählung, die sich selbstreflektiv als ein Märchen bezeichnet. Zum anderen erscheint das Radio, das eindeutig als politisches Aufklärungsmedium eingesetzt wird, als modernes Technikwunder. Radio wird zum Erben der Theologie, von dem die politische Macht der Sowjets profitiert. Innerhalb dieser theologischen Funktion des Radios positioniert sich die Sowjetmacht wiederum als Naturschauspiel und als göttliche Erscheinung. Ein anderes Beispiel für das Radio als Erzählfigur der sozialistischen Säkularisierung auf dem Land ist auch die kurze Erzählung von Ilja Renz Trubnyj glas (Ruf der Posaunen)14, in der der alte Demjan Luzga das Jüngste Gericht erwartet. Als Auslöser für seine Erwartung dient dabei der sozialistische Lebensstil seines Sohnes, der beschlossen hat, ohne kirchliche Trauung mit seiner Ehefrau zu leben. Diese säkulare Trauung des Sohnes in der Stadt bringt die Welt des alten Luzga ins Wanken. Seine Sorgen versucht er nun im Alkohol zu ertränken. Fest von der Richtigkeit seines Glaubens überzeugt, sieht er einen Traum: „In der Nacht träumte Demjan etwas sehr Verwirrendes: In diesem Traum tauchte sowohl der Schmied, als auch der Ziegenbock auf, ebenso träumte er von der Schnapsbrennerin Pavla und vom Mädchen mit dem hellen Kopftuch, auch von den Stiefeln träumte er, die man noch kaufen muss. Das Wichtigste, was der Alte träumte und was er sich klar merkte, war ein großes glänzendes Rohr, aus dem eine donnernde menschliche Stimme tönte. Und Demjan Lusga bewegte friedvoll seinen Schnurrbart im Traum, weil er wusste, dass diese Stimme, die Stimme Gottes sei, nach dessen Ähnlichkeit der Mensch geschaffen wurde, und obwohl er nicht verstehen konnte, was da gesprochen wurde, war er überzeugt, dass der Ruf der Posaunen den Menschen jene Wahrheit bringt, die er in dieser Welt nicht finden konnte. [Ночью приснился Демьяну путанный сон, в котором сплетались и кузнец, и козел, и самогонщица Павла, и девушка в ярком платочке, и сапоги, которые нужно купить, но главное, что увидел старик и что запомнилось четко, как на яву – это большая блестящая труба, из которой звучал громовой человеческий голос.

14 Gemeint ist hier die in Johannes Offenbarung, in der der Erzengel Michael am Jüngsten Gericht die Toten mit den Posaunen Klängen erweckt. Vgl. Das Neue Testament. Die Offenbarung des Johannes. Hg. i.A. d.dt. Bischöfe. Stuttgart 1980. Die sieben Siegel und die sieben Posaunen: 6,1 – 11,19.

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И Демьян Лузга умиленно двигал седыми щетинистыми усами во сне, потому что знал, что этот голос бога, по подобию которого сотворен человек, и хотя не мог разобрать слов – убеждался, что в трубном гласе нисходит к людям та правда, наконец, которой не мог он найти на земле.]“15

Diese Nähe der Apokalypse, die er in seinem Traum ganz real erlebt, führt ihn in eine tiefe Glaubenskrise, als er am nächsten Morgen in der Stadt den etwas anderen göttlichen Klang vernimmt: „In einem nebligen Moment wurde der Alte an den Traum erinnert. Er sah die Posaune, sie war groß, schwarz, in der Sonne glänzend und er hörte die laute Stimme Gottes, nach welchem Bild der Mensch geschaffen wurde, und die Stimme sprach zu den Menschen durch die Posaune. Wie auch im Traum waren die Worte zuerst sanft unklar. ‚Ja‘, dachte er bleich vor Aufregung, ‚ich weiß‘, dachte der Alte, ‚ich sehe schon, die Wissenschaft kenne die Posaunenrufe nicht... Ja, ja…‘. […] Und die Stimme verkündete: ‚Verstehen Sie, wenn Sie beim Krämer kaufen, bestehlen Sie sich selbst.‘ […] Demjan Lusga hatte das Gefühl zu ersticken. Es war nicht so, dass die Posaunenrufe die Texte verkündeten, welche vom Schmied versprochen waren und welche die Sünder vernichten sollten, um die Gerechten zu retten, sondern sie sagten jene verhassten Wörter, die Demjan von seinem in Ungnade gefallenen Sohn Mitrij hörte, jene verlogenen Worte, weswegen sein Sohn vom Krämer keinen anderen Namen verdiente außer ‚Räuber‘. […] Der Zug ging erst in fünf Stunden und die ganze Zeit saß Demjan Lusga einsam auf der Bahnhofsbank und starrte bewegungslos und wütend auf die Menschen, die ringsumher redeten und lachten. Sie alle waren ungläubige, die mit jedem Laut das Heiligtum der Posaunen beschmierten und über den Alten lachten, den die Stadt so schmerzhaft gekränkt hatte. [В туманном мнгновении припомнился старику сон. Приблизился и увидел трубу – большую, черную, отливавшую под солнцем ясным трубу – и услышал громкий голос бога, на подобие которого сотворен человек, голос, снисходивший к людям из горней трубы. Как и во сне слова сначала были сладостно-неясны... -Ага, подумал, бледнея от волнения, старик, агаю „Наука не знает трубного гласа“... Ага. […] И глас вещал: -Поймите же, что покупая у лавочника, вы обкрадываете сами себя. […]

15 Trubnyj golos. In: Radio vsem. 1925. H. 2, S. 37.

80 | R ADIOPOETIK DES SOZIALISTISCHEN R EALISMUS Демьян Лузга задыхался. Мало того, что трубный глас вещал совсем не те тексты, которые обещаны были кузнецом и который должны были, сокрушая грешников, поставить праведников на заслуженное им место,- трубный глас произносил те самые ненавистные слова, которые слышал Демьян от опального сына Митрия, те самые нечестивые слова, за которые не было Митрию от лавочника иного имени, как ‚разбойник‘. […] Поезд отходил через пять часов, и все это время Демьян Лузга просидел одиноко на вокзальной скамье, сердито тараща неподвижные глаза на людей, которые говорили вокруг и смеялись. Все они были нечистивцы, каждым звуком своим посрамлявшие святыню трубного гласа и смеявшиеся над стариком, которого так больно обидел город.]“16

Die eindeutig profane Botschaft aus dem Lautsprecher, die zum Boykott gegen die Privatwirtschaft aufruft, irritiert den alten Mann umso mehr, als er sich nun allein gelassen fühlt und niemanden sieht, der so wie er den heiligen Ruf und den Beginn des Jüngsten Gerichts wahrnimmt. Die Bloßstellung des Alten, die an dieser Stelle bereits deutlich wird, findet seinen Höhepunkt, als nun auch der Schmied, den Luzga eindeutig auf seiner Seite sieht, ihn darüber aufklärt, dass nicht die Posaunen des Erzengels, sondern das Radio, der neue technische Apparat für donnernde Klänge verantwortlich ist: „‚Wieso schweigst du wegen des Krämers? Sagte er es dir schon? Wurden die Posaunen gehört?‘ Der Schmied machte ein ernstes Gesicht und schüttlete unerwartet kräftig seinen riesigen Kopf, so dass seine verwirrte grauschwarze Mähne nochmehr durcheinandergeriet. ‚Es wird für uns keine Posaunenrufe geben, Demjan Lawrentjewitsch. Warte nicht. Der Krämer wird mit dem Peter bei uns im Dorf eine neue Abteilung eröffnen.‘ Der Alte verstand nichts. Der Schmied ärgerte sich teils über sich selbst, teils über den Krämer und Peter und wurde in seiner Rede immer sicherer und wütender: ‚Zum Teufel damit. Jetzt verkaufen sie an allen Stellen, die in der Nähe der Stadt liegen, ein solches Gerät, das du auf den Tisch stellen kannst und daraus die Stimmen von überall auf der Welt hören kannst. Radio nennen die das, verstehst du?‘ [-Ты что же насчет лавочника помалкиваешь? Сказывал он тебе? Дождались трубного гласу? Кузнец насупился еще больше, а потом неожиданнo встряхнул огромной головой, так что спутанная сивая грива его слегка вздыбилась.

16 Ebd., S. 37.

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-Не будет нам трубного гласу, Демьян Лаврентьевич. Не жди. Лавочник с Петрушкой моим на селе отделение открывают. Старик ничего не понял. Кузнец сердясь не то на него, не то на себя, не то на лавочника с Петрушкой, осмелел: -Чорта с два его ждать. Нынче во всех местах, где к городу близко, такой инструмент продают, что поставишь на стол – и всего света голосу слышно. Радио – зовут, понимаешь?]“17

Auch in dieser Erzählung wird die Religiosität als Mangel an Bildung charakterisiert, allerdings findet die Bekehrung des alten Demjan Luzga nicht so eindeutig wie in Tetkina antenna mit der alten Thekla statt. Zwar kehrt der Alte nach Hause zu seiner Familie zurück und beginnt wieder zu arbeiten, der Text lässt aber im Unklaren, ob der Alte sich aus seiner Religiosität befreit hat oder nicht. Da der Text diesen Schritt nicht macht, bleibt auch die theologische Funktion des neuen Wunders hinter den Kulissen der Erzählung. Hier erscheint der Radiolautsprecher in seiner säkularen Funktion als Aufklärungs- und Bildungsmedium, ohne auf die Allmächtigkeit des neuen Staates hinzuweisen. Der Ausgang bleibt offen und dem Leser damit die Sakralisierung der Macht der Sowjets erspart. Dennoch haben diese beiden Erzählungen Tetkina antenna wie auch Trubnaj glas eine Gemeinsamkeit. Beide sind innerhalb der Radiozeitschrift Radio vsem eindeutig als fiktive Erzählungen markiert und bedienen sich literarischer Gattungen. Tetkina antenna als Gedicht verfasst bezeichnet sich als byl‘ (wahre Geschichte) und dann als skazka (Märchen), Trubnyj glas wird im Titel neben dem Verfassernamen als rasskaz (Kurzgeschichte) kategorisiert. Hier in Radio vsem findet neben den ideologischen Artikeln zur Radiofizierung ländlicher Regionen mit technischen Anweisungen und Agitpropaganda gleichzeitig eine Fiktionalisierung der Säkularisierung statt, die das erfolgreiche Bekämpfen der Volksreligiosität erzählt. Damit entwickelt sich in diesen fiktionalen Radiogeschichten das radiopoetische Verfahren, das in der literarischen Produktion des sozialistischen Realismus den Schriftsteller an die Grenzen des Erzählens bringt, hier jedoch vom kollektiven Ethos und überindividuellen Erzählen profitiert. So wie Säkularisierung zu einer Erzählkategorie wird, entwickelt sich das radiopoetische Erzählen in den Radiozeitschriften zu Hagiografie des Mediums, in der die Grenzen zwischen fiktionalem und faktografischem Erzählen, zwischen Berichten aus den entlegenen ländlichen Regionen und den Märchen von erfolgreich radiofizierten Dörfern vollkommen verschwimmen.

17 Ebd., S. 38.

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1928 erscheint in Radioslušatel‘ ein Artikel mit dem Titel Pesn‘ antenn, in dem der durch Dörfer reisende Reporter von vollkommen elektrifizierten Kolchosen berichtet. Am Ende seines Berichts erzählt er eine Geschichte von einer Mutter und ihrem Sohn, die dem Sujet aus Tetkina antenna entnommen zu sein scheint, nur dass es an dieser Stelle nicht mehr als literarische Fiktion, sondern als ein faktografischer Bericht in Erscheinung tritt. „Ein weiterer interessanter Fall ereignete sich mit dem Schüler dieser Schule. Der Bursche wollte nicht von seinen Kameraden abgehängt werden und wollte sich auch ein Radio besorgen. Aber jedes Mal, wenn er mit seiner Mutter, die einer Sekte angehörte, darüber reden wollte, wurde ihm von ihr ein starker Schlag mit einem Holzstab oder mit etwas anderem verpasst. Letztlich hat das Streben nach Wissen und die Neugier das Gefühl der Angst überwunden. Und an einem Sonntag, als die Mutter auf einer Versammlung ihrer Sekte war, hat er alles vorbereitet und mit Hilfe seiner Kameraden den Radiomasten aufgestellt und die Antenne gespannt. Die Mutter erstarrte vor Schreck. Denn für sie war das Radio das Werk des Teufels. Sie nahm eine lange Stange und wollte die Antenne abreißen. Aber zum Glück war die Antenne so hoch gespannt, dass sie diese mit der Stange nicht greifen konnte. Die Mutter schwor, dass sie so oder so diesen Masten zerstören wird. Dann hat ihr Söhnchen, um die Antenne von den möglichen Anschlägen zu retten, mit seinen Kameraden den Schutz der Radiomaste organisiert. Aber alles ist glücklich ausgegangen. Nach einer Woche kämpfte zwar die Mutter mit ihrem Sohn… aber nur um das Recht auf die Kopfhörer. [Еще один интересный случай произошел с учеником этой школы. Парнишка не желая отставать от своих товарищей, тоже хотел поставить себе радио. Но при каждом напоминании об этом своей матери – сектанке, он получал от нее увесистый удар поленом или чем-либо другим. Наконец в этом парне тяга к знанию и любознательность перебороли чувство боязни, и в одно из воскрксений, когда мать ушла на сектантское собрание, он предварительно все подготовил, с помощью своих товарищей поставил радиомачты и натянул антенну. Вернувшись мать пришла в ужас от этого. Для нее радио было дьявольским навождением. Схватив длинную жердь, она хотела сорвать проволоку. Но, к счастью, антенна была подвешена довольно высоко, и жердью ее достать было невозможно. Мать поклялась, что она все-равно тем или другим путем эти мачты уничтожит. Тогда ее сынишка, для того, чтобы спасти свою работу от возможных покушений, организовал из товарищей охрану радиомачт. Но все обошлось благополучно. Через неделю мать воевала с сыном из-за права на... наушники.]“18

18 Pesn‘ antenn. Iz pojezdki po derevnjam Vоlosovskogo rajona Leningrdskoj oblasti. In: Radioslušatel‘. 1928. H. 12, S. 3.

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Der Erzählinhalt in Tetkina antena und in diesem Bericht sind fast, auch der satirische Anspruch der Geschichte über die Mutter und den Sohn innerhalb des Berichts korrespondiert mit Tante Thekla. Allerdings verschwinden jene Markierungskategorien, die den Text als eine fiktionale Narration ausweisen. Hier wird eine allgemeine sozialistische Wahrheit berichtet, die keinen Märchenstatus mehr hat. Auch in der Autorschaft findet eine Verschiebung statt: Während in Tetkina antenna wie auch in Trubnyj glas der Autorname an prominenter Stelle neben dem Titel erscheint und damit eine literarische Autorität imitiert, handelt es sich bei diesem Autor um einen Reporter, der eben keine offensichtliche Autorität über das geschriebene Wort hat, sondern nur ein Berichterstatter ist, der nun auch kein Erzähler-ich besitzt, sondern aus der Wir-Perspektive schreibt. So lässt sich in Radioslušatel‘ einerseits eine Verschiebung von einer Imitation des literarischen Erzählens, als solche man die poetischen Versuche in Tetkina antenna oder Trubnyj glas bezeichnen könnte, zu einem hagiografischen quasi-faktografischen Erzählen in Pesn‘ antenn beobachten, das die sozialistische Erfolgsgeschichte kreiert. Andererseits wird die Verschiebung der individuellen Autorschaft zugunsten einer überindividuellen, anonymen und zugleich allgemeingültigen Aussageinstanz deutlich. Die Autorinstanz verschwindet hinter dem allgemeinen Wir, so dass nun auch die Verfasser sämtlicher Berichte nicht einmal mehr namentlich erwähnt werden. Das literarische Wort, das jedem gehört und von allen gleichermaßen gesprochen wird, das als ästhetisches Vorhaben des sozialistischen Realismus innerhalb der literarischen Produktion scheitert und auch alle Versuche des kollektiven Schreibens wie Gor’kijs Geschichte der Fabriken und Betriebe nicht zu erwarteten Ergebnissen führen, findet im radiopoetischen Wir des hagiografischen Erzählens in Radiozeitschriften seine Erfüllung. Es sind nun namenlose Radioreporter, Arbeiter und Bauern, die von ihren radiophonen Erfahrungen berichten. In einem kurzen Artikel Na cerkovnom dvore in Radioslušatel‘ von 1930 wird dieses kollektive radiopoetische Erzählen offensichtlich. Es ist ein Ehepaar aus dem Dorf, das nun vom seinen Kampf gegen die Kirche im Dorf mit Hilfe des Radios berichtet: „Wir leben mit meinem Mann, beide Arbeiter, in Čerkizov zusammen mit den früheren Ausbeutern der Arbeiterklasse. Das Fenster unseres Zimmers geht direkt auf den Kirchenhof, wo jeden Tag einpaar von den Dienern Gottes, hauptsächlich alte Frauen und Nonnen, auf der langen Bank sitzen und auf die Abendmesse warten. Vor kurzem haben wir einen Lautsprecher aufgestellt und jetzt unterhält das Radio die Gottesdiener mit Liedern, Tänzen, mit Musik, und mit den antireligiösen Reden. Der Pope läuft nervös auf dem Hof herum, aus der Kirche in die Wohnung und wieder zurück, dabei wirft er böse Blicke auf unser Fenster.

84 | R ADIOPOETIK DES SOZIALISTISCHEN R EALISMUS An Samstagen und an den Sonntagen versammeln sich auf dem kirchlichen Hof nicht nur die alten Frauen und Nonnen, es kommen auch elegant gekleidet die früheren Ausbeuter mit ihren Familien, die Kulaken, die jetzt Mitglieder der Genossenschaft sind, Enteignete und andere Typen. Sie singen ‚Gott rete die Menschen‘ und das Radio begleitet sie mit ‚Vo sadu li v ogorode‘. Fast alle schauen auf unser Fenster. Und die Mädchen, die zur Kirche nur deswegen kommen, um den schönen Diakon Sergej zu sehen, lachen ganz offen. Das Radio siegt. Die Popen ärgern sich. Nicht nur die Popen, auch unser Hausbesitzer ärgert sich, der zu Enteigneten gehört und jetzt Mitglied der Genossenschaft ist. Sobald er sich betrinkt, schreit er wieder: ‚Ich zünde alles an! Ich schlitze die Kommunisten auf! Ich schmeis das Radio weg!‘ Aber dem Radio ist es egal, es singt weiterhin laut über die ganze Straße. Am Abend versammelt sich das Volk unter dem Fenster, um Radio zu hören. Auch der Pope hört zu, der sich hinter einer Wand in seinem Zimmer mit offenem Fenster versteckt. Soll er ruhig hören, wie siegreich das Herz der Sowjetunion schlägt...] [Мы с мужем, рабочие, живем в Черкизове среди вчерашних эксплоататоров рабочих. Окно нашей комнаты выходит на церковный двор, где каждый день несколько ‚рабов божих‘ - старух и монашенок, - садятся на длинную скамью в ожидании вечерни. Недавно мы себе поставили громкоговоритель, и сейчас радио рабов божих ‚развлекает‘ - песнями, танцами, музыкой, антирелигиозной беседой. Поп нервно бегает по двору, из церкви в квартиру и обратно, бросая злые взгляды на наше окно. По субботам и воскресеньям на церковном дворе собираются не только старухи и монашенки, приходят со своими семьями, шикарно одетые вчерашние эксплоататоры, кулаки – сегдня члены артели, лишенцы и т. п. типы. Они умильно поют ‚Спаси господи люди твоя‘, а в радио им аккомпанирует: ‚Во саду ли в огороде‘. Все почти лица обрашены в сторону нашего окна. А девушки, которые приходят в церковь только для того, чтобы посмотреть на красавца псаломщика Сережу, отровенно смеются. Радио побеждает. Попы злятся. Да и не только попы, злится и наш домовладелец, лишенец, а теперь член артели. Как только напьется, кричит: - Подожгу! Перережу коммунистов! Радио выброшу! А радио ничего – поет на всю улицу. Вечером собирается народ под окно послушать. Слушает и ... поп, притаившись в пристенке своей комнаты у открытого окна. Пусть слушает, как победоносно бьется сердце Советского Союза...]“19

Auch in diesem Text findet die Entmachtung der Kirche über das Eindringen des Radios in die sakrale Sphäre des religiösen Rituals statt: die sakrale Handlung

19 Na cerkovnom dvore. In: Radioslušatel’. 1930. H. 31.

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wird ausgelacht und an deren Stelle die Omnipräsenz der Radiobeschallung gesetzt. Auch der Pope kann der Allmacht des neuen Mediums nicht entgehen und unterstellt sich mit dem heimlichen Hören des Radios unfreiwillig der sozialistischen Ideologie. Das Radio siegt, die Popen ärgern sich, schreibt das Ehepaar, das in diesem Text nun zur Stimme des sowjetischen Volkes avanciert. Diese Stimme des Volkes, die nur im Radio als unmittelbare Macht des Sowjetstaates erfahrbar wird, überwindet sämtliche räumliche und institutionelle Grenzen. Denn diese Stimme kennt keinen eigenen Raum, sondern betritt sämtliche öffentliche, private und sakrale Räume, die sie zugleich in politische verwandelt und damit zum Verschwinden bringt, wie die Szene auf dem Kirchenhof es deutlich zeigt. In Radiozeitschriften werden somit radiopoetisch politische Räume kreiert, die sich an folgenden Kriterien organisieren: Erstens handelt es sich bei diesen Texten um eine Imitation des schriftlich-literarischen Erzählens. Die Texte hangeln sich an bekannten und populären literarischen Formen, Gattungen und Figuren entlang. Zweitens verschwinden innerhalb dieses radiopoetischen Erzählens sämtliche Möglichkeiten einer Autorschaftzuordnung. Die Stimme des Autors wird zur kollektiven Stimme, weil keine individuelle Identifikation des Schreibenden mehr möglich ist. Es wird irrelevant, wer schreibt. Drittens verschwindet mit der Autorschaft auch die Präsenz der Stimme der Macht aus den schriftlichen Texten, die sich auf eine Metapher reduziert, die als Natur oder göttliche Erfahrung sich jenseits des schriftlichen Textes positioniert und auf die Allmacht des Politischen verweist. Die Stimme der Macht funktioniert damit nur als eine akustische, die nur im radiophonen Raum unmittelbar erfahrbar wird. Hier kann man von einer weiteren Besonderheit der Radiopoetik sprechen. Die Suche der Literatur des sozialistischen Realismus nach der Möglichkeit eines Schreibens, das die allgemeingültige, übermenschliche Wahrheit sprechen lässt und damit die Nachahmung der Natur als Voraussetzung zur Poetik unterbricht, mündet bei den radiopoetischen Texten der Radiozeitschriften in der Nachahmung von literarischen Strukturen und Formen, die auf eine textexterne Wahrheit der politischen Macht verweisen. Der schriftliche Text erschafft nicht einen neuen Lebensraum und wirft die literarische Mimesis über Bord, sondern konstruiert ideologische Räume, die nach theologischen Regeln organisiert sind. Der schriftliche Text funktioniert somit nur in Kombination mit der Radioakustik. Er wird zu einer Art ikonischen Verbindung zwischen Schrift und Radiofonie, die das Ikonenschreiben der russischen Orthodoxie nachahmt. So wie der Text der heiligen Ikone in dialektischer Verbindung mit dem Heiligenbild steht

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und auf die unmittelbare Erscheinung des Heiligen im Bild verweist20, verweist auch der radiopoetische Text der Radiozeitschrift auf den heiligen Klang der politischen Macht, die im Radio unmittelbar die politisch-theologische Botschaft sendet.

R ADIORÄUME Radiofizierte Kolchose Während die Texte der Radiozeitschriften zu einem eigenständigen Genre der Radiopoetik werden und die Säkularisierung des sowjetischen Alltags literarisch erzählen, konzentrieren sich die Sujets dieser Texte vor allem auf die Radiofizierung des Dorfes. Zwar widmen sich die bildungspolitischen Initiativen der sowjetischen Radiophonie auch in großen Teilen der städtischen Bevölkerung und der Bildung der Arbeiter, indem z. B. Radiouniversitäten21 entstehen, jedoch beobachtet man auch einen besonderen Umgang und eine enorme Konzentration der Agitpropaganda auf das sowjetische Dorf. Es ist kein Zufall, dass die im vorherigen Kapitel genannten Beispiele wie Tetkina anttenna oder Trubnyj glas sich im sowjetischen Dorf verorten. Vielmehr ist es die Konsequenz der Leitlinie zur Verbreitung der Radiophonie im ganzen Land, die Anatolij Lunačarskij als die Beseelung des leeren Raums des Radioäthers beschreibt und damit die Figur der Landnahme von C. Schmitts Nomos-Kategorie22 vorwegnimmt. Denn gerade das sowjetische Dorf erscheint im Radiodiskurs der 1920-30er Jahre als eine Art kulturell unbesiedelter Raum, den man nun mit sozialistischer Ideologie füllen kann. Die ideologische Besiedlung des rückständigen

20 Vgl. Natascha Drubek: Russisches Licht. Von der Ikone zum frühen sowjetischen Kino.Wien 2012, S. 204ff. 21 Rabočij radio-universitet. In: Radioslušatel’ 1928. H. 5, S. 3: “Пятнадцатого октября 18928г. Московский радиовещательный узел открывает Первый Рабочий Радио.университет с одногодичным курсом, в составе следующих циклов: общеобразовательного, имеющего значение вспомогательного, и трех специальных – административно-хозяйственного, кооперативного и профработы.“ In weiteren Ausgaben der Zeitschrift Radioslušatel’ werden regelmäßig Vorlesungen der Radiouniversität angekündigt und Aufgaben zur Klausuren veröffentlicht. 22 Vgl. Carl Schmitt: Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum. Köln 1950, S. 11ff.

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dörflichen Raums mündet zunächst in einer konkreten Bildungsoffensive auf dem Land, bei der das Radio die zentrale Rolle übernimmt. So wird das Radio in vieler Hinsicht zu einem Raum, an dem die Bildung der aliteralisierten Landbevölkerung stattfindet – ein Phänomen, das vor allem mit den zahlreichen Bildungssendungen, wie Vorlesungen aus den Universitäten, Bibliotheken, Theater, Zoos, Radiounterricht usw., die allesamt in Radiozeitschriften dokumentiert und kommentiert werden, sichtbar wird. Bereits seitdem das Radio zum ersten Mal in der Sowjetunion sendete, erscheint dieses Medium als das Medium für Bildung der Massen und wird in den Dienst des pädagogischen Programms der russischen Revolution einer flächendeckenden Literalisierung der Bevölkerung genommen. So finden sich bereits ab der Mitte der 1920-er Jahre in Radio vsem und in Radioslušatel‘ zahlreiche Artikel zu dieser Bildungskampagne, die das Radio als den Ort der Bildung inszenieren. Ganze Ausgaben der Radiozeitschriften diskutieren Erfolge und Misserfolge der Verbreitung des neuen Massenmediums in den Dörfern, es werden am laufenden Band Artikel und Reportagen über die entlegenen ländlichen Regionen produziert, die vor allem agitationspolitischen Charakter tragen. Bereits seit 1925 setzt sich die Radiozeitschrift Radio vsem (Radio für alle) energisch für die Radiofizierung im ganzen Land ein und nimmt das russische Dorf ins Visier. In jeder Ausgabe der Zeitschrift erscheint nun die Rubrik Radio v derevne (Radio im Dorf), in der neben der Berichterstattung aus der sowjetischen Peripherie auch konkrete Maßnahmen zur Radiofizierung des Dorfes gefordert werden. Diese Aufforderung zur allgemeinen Radiofizierung erscheint zum einen in Form eines Ratgebers an die Radiohörer, z. B. mit praktischen Tipps, wie man selbst einen Radioempfänger baut, zum anderen werden paratextuelle Botschaften verfasst, die (s. Abb. 6) als Banner am Rande der Artikeltexte politische Propaganda verbreiten. Auch als Bild und nicht nur als Erzählung wird das Radio im sowjetischen Dorf inszeniert (s. Abb. 5). Die deutlich als Fotomontage zu erkennenden Bilder von interessierten Bauern sind ein wichtiger Bestandteil jeder Ausgabe des Radio vsem. Besonders ihre Montagetechnik lässt vermuten, dass diese Abbildungen von Radio hörenden Bauern nicht als Material der Reiserecherche fungieren, sondern vielmehr etwas darstellen, was die Schrift der Erzählung nicht zum Ausdruck bringen kann: Sie machen den radiophonen Raum sichtbar.

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Abbildung 5: Im Haus eines Bauern des Mosovets. Sie hören eine Radiosendung

Radio vsem, H. 8 (10.09.1926), S. 3.

Abbildung 6: Freunde des Radios! Festigt die Union der Arbeiter und Bauern, verbreitet Radio im Dorf.

Radio vsem, H. 4 (31.05.1926), S. 3

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In den Artikeltexten selbst wird in aufwendiger Dramaturgie alles darangesetzt, das von religiöser Verblendung befreite und dem neuen sozialistischen Alltag zugewandte Landleben zu inszenieren, wie es am nächsten Beispiel deutlich wird: „Wir kommen in das Dorf Znamenka, das ist das 17. Grundstück der Kolchose ‚Der Riese‘. Auf dem Wipfel der großen weißen Kirche, wo früher das Kreuz war, flattert die rote Fahne. ‚Dort ist unser Volkshaus‘, sagt unser Fuhrmann, ‚wo die Abendvorstellungen und Versammlungen stattfinden und wo das Radio spielt.‘ [...] Als der Vorsitzende erkennt, dass wir aus Moskau sind, fragt er interessiert nach dem Bau im Zentrum. Ein Gespräch beginnt, das einen großen Hörerzirkel versammelt. ‚Das Radio hören wir bei uns in der Kirche jeden Tag abwechselnd in Gruppen, aber manchmal ist der Empfang schlecht und der Monteur kommt selten‘, sagt ein junger Radiohöer. ‚Es wäre gut, wenn das Zentrum (Sverdlovsk) uns mehr Empfänger zur Verfügung stellen würde, die reichen sonst nicht. Wir wollen aber gern hören, was in Moskau so los ist.‘ Wir fahren weiter. Nach 12 Kilometer kommen wir in einem Dorf in ein kleines Haus, um uns aufzuwärmen. Man begrüßt uns freundlich. […] Im Haus wie auch in allen anderen Häusern, die zur Kolchose gehören, schauen von den Wänden anstelle von Ikonen entweder Iljitsch oder Marx. [Въезжаем в село Знаменку – 17-й участок ‚Гиганта‘. На макушке большой белой церкви развевается красный флаг вместо снятого креста. - Это наш народный дом, - замечает возница, - где бывают спектакли, вечера, собрания и играет радио. [...] Узнав, что мы из Москвы, секретарь живо заинтересовается строительством в центре. Пошла беседа, собравшая большой кружок. - Радио у нас в церкви каждый день поочередно слушают гуртом, да только кое-когда плохо получается, а монтер бывает редко, - замечает молодой радиослушатель. - Хорошо было бы, ежели бы центр (Свердловск) побольше нам приемников установил, а то нехватает. Послушать бы, што в Москве делатца. Едем дальше. Проехав километов 12, в попутной деревне заходим в избу погреться. Встречают приветливо. […] В избе, как и во всех других, объединенных в колхоз, вместо икон со стен смотрят либо Ильич, либо Маркс.]“23

Hier wird das Radio eindeutig in die ideologische Kampagne der Zerschlagung religiöser Strukturen auf dem Land einbezogen. Abgesehen von diesem Artikel übernimmt das Radio oft durch speziell für die Dorfbevölkerung konzipierten Aufklärungssendungen wie Krest’janskij radiožurnal (Radiojournal der Bauern)

23 Stroim giganty socializma. Radio v kolchozach. In: Radioslušatel‘. H. 6 (1930), S. 7.

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oder Krest’janskaja radiogazeta (Radiozeitung der Bauern)24 einen pädagogischen Auftrag. Die erzieherische Funktion des Radios wird dagegen zum Motiv der Selbstinszenierung des Mediums und zur tragenden Säule im Prozess der kulturellen Umwandlung des Dorflebens. Die pädagogische Arbeit der politischen Lehre in den Dörfern orientiert sich dabei an zwei Punkten: Zum einen geht es verstärkt darum, die Verbindung zwischen dem Dorf und der Stadt zu verstärken und den Dorfalltag an den städtischen anzugleichen. Dazu Radio vsem 1926: „Das Problem der Elektrifizierung, wie auch das Problem der Verbindung zwischen der Stadt und dem Dorf ist unmittelbar an das Problem der Radiofizierung gebunden und somit steht die Radiofizierung allen Problemen voran. Ja, wir sind ein rückständiges Land, wir haben keine ausgebauten Straßen, keine Brücken, das Vorantreiben der Elektrifizierung geht schleppend voran, allerdings um diesen Ausbau zu beschleunigen, muss man alles Notwendige tun, damit das Dorf die Stadt hört und von ihr wie von der älteren, technisch besser ausgerüsteten und kulturelleren Schwester lernen kann. [Проблема электрификации, как проблема смычки города с деревней, прямо и непосредственно упирается в проблему радиофикации, а радиофикация предпосылается всему остальному. Да, мы страна отсталая, шоссейных дорог у нас нет, мостов нет, выполнение программы электрификации идет медленно, но для того, чтобы ускорить это выполнение надо сговориться, надо, чтобы деревня умела слушать город, как старшего, технически более вооруженного и более культурного брата.]“25

Zum anderen rückt die Entwicklung der passenden Lehrmaterialien für die Dorfbewohner in den Vordergrund, die sich zwar durch das Radio politisch ausbilden und weiterbilden, allerdings auch hier nicht ohne schriftliche Lehrbücher auskommen sollen: „Das Dorf braucht ein richtiges, ernstes und gleichzeitig populäres Radiobuch. Das Dorf fordert ein solches Buch und wir glauben, wir müssen gerade jetzt das Dorf mit der notwendigen radiotechnischen Literatur ausrüsten.

24 Als Phonodokumente existieren diese Sendungen nicht mehr, so dass man Inhalte und Darstellungsweise nicht beschreiben kann. Aus dem Programmteil der Zeitschrift Radioslušatel‘ ist jedoch ersichtlich, dass Sendungen wie Krest’janskij radiožurnal oder Krest’janskaja radiogazeta in regelmäßigen Abständen von zentralen Radiosendern aus Moskau ausgestrahlt wurden. 25 Pervyj vsesojuznyj s’jezd ODR. In: Radio vsem 1926. H. 2, S. 3.

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[В деревню надо дать настоящую, серьезную и, в то же время, популярную радиокнижку. Деревня требует такую книжку и, нам кажется, что тепрь прежде всего деревню надо удовлетворять радио-технической литературой.]“26

Die flächendeckende Organisation der Bauern in Kolchosen dient als Grundlage der Modernisierung des sowjetischen Dorfes durch die Radiofizierung und fordert einen neuen wirtschaftlichen und kulturellen Alltag des Dorflebens. Die Kollektivierung und die Radiofizierung sind somit fest miteinander verbunden, wie die Ankündigung der Radiosendung Kul’tura i byt kolchhozov in Radioslušatel’ verrät. „Die Kolchose ist nicht nur eine wirtschaftliche Organisation. Ihre Aufgabe besteht nicht nur darin, die wirtschaftliche Ordnung des Dorfes zu ändern. Ihre wichtigste Aufgabe besteht darin, das rückständliche dörfliche Alltagsleben umzuordnen, es kulturell aufzurüsten. Natürlich erfüllen bis jetzt nur wenige existierende Kolochosen diese große Aufgabe mit Erfolg, denn selbst die Existenz der Kolchosebewegung ist lediglich einpaar Jahre alt. Aber man kann jetzt schon eine Reihe an überzeugenden Beispielen finden, wo die Kolchose den Beginn einer neuen Kultur und eines neuen Alltagslebens markiert. [Колхозы – не только хозяйственная организация. Не только один хозяйственный строй деревни призваны перестроить они на новых началах. Их прямое дело- перестраивать и отсталый деревенский быт, делать его культурным. Конечно пока немногие из существующих колохозов выполняют с успехом эту большую задачу – ведь самое колхозное движение насчитывает всего лишь несколько лет своего существования. Но можно уже теперь найти ряд убедительных примеров того, как колхоз проводит в жизнь начала новой культуры и нового быта.]“27

In der Sendung des Komintern einen Monat später spricht man bereits von Novaja derevnja (Neues Dorf) und betont dabei die Aufgabe der Radiosendung, das wahre Gesicht des neuen Dorfes zu zeigen. „Es ist eine sehr wichtige und interessante Aufgabe, das wahre Gesicht des Dorfes zu zeigen, von seinen Nöten und Problemen zu erzählen, vom großen Bau des neuen Dorfes zu berichten, von der Umgestaltung des Alltagslebens, vom Kampf für die Kollektivierung, vom Einfluss auf die Massen der Bauernschaft zu sprechen.

26 Radioknigu v derevnju. In: Radio vsem. 1926. H. 12, S. 3. 27 Kul’tura i byt kolchozov. Ankündigung der Radiosendung für 27.09.1928 der Sendestation Im. Kominterna um 8.35h. In: Radioslušatel’ 1928. H. 3, S. 12.

92 | R ADIOPOETIK DES SOZIALISTISCHEN R EALISMUS Die Radiozeitschrift ‚Neues Dorf‘ wird jedem Arbeiter und auch jedem anderen Menschen helfen, der sich für die Fragen im Dorf interessiert, die Neuerungen zu verfolgen und sich am Kampf für das neue sozialistische Dorf teilzunehmen. [Это очень важная и интересная задача, показать подлинное лицо деревни сегоднешнего дня, рассказать о ее нуждах и запросах, дать предстaвление о грандиозной стpойке новой деревни, о ломке быта, о борьбе за коллективизацию, за влияние на массы крестьянства. Радиожурнал ‚Новая деревня‘ поможет каждому рабочему и всем, интересующимся вопросами деревне, не только следить, но ипринять самому активное участие в борьбе за новую социалистическую деревню.]“28

Das neue sozialistische Dorf wird in dieser Sendungsankündigung zu einem Ort, an dem nicht nur eine große gesellschaftliche Umwälzung stattfindet, sondern an dem auch die Teilhabe zur Verwirklichung eines funktionierenden sozialistischen Raumes möglich wird. Der Radiohörer wandelt sich vom passiven Empfänger der Radiobotschaft zum aktiven Mitgestalter des sozialistischen Alltags. Einen wichtigen Schritt auf dem Weg zum neuen Dorf bildet auch die aktive Bekämpfung der Religiosität im Dorf, wie man es in solchen fiktionalen Erzählungen und Gedichten wie Trubnyj glas oder Tetkina antenna29 beobachten kann, indem der christliche Glaube der Bauern ins Lächerliche gezogen und als Bildungsmangel dargestellt wird. Spätestens seit 1928 rufen Radiozeitschriften zum aktiven Kampf gegen die religiösen Strukturen und Institutionen auf dem Land auf. In diesem Prozess der „Volksaufklärung“ spielt das Radio als wichtigstes Medium eine entscheidende Rolle, wie man es an einem der vielen Beispiele aus Radioslušatel‘ (1929) im Artikel Cerkovnyje kolokola – dlja promyšlennosti (Kirchenglocken für die Industrie) beobachten kann. In diesem Artikel geht es eindeutig um die Entnahme der Kirchengüter für die Industrie, die in Radioslušatel‘ anhand der Briefe von Radio hörenden Bauern diskutiert wird. Natürlich befürworten alle bis auf ein Brief die Entnahme und das Einschmelzen der Kirchenglocken. Der einen Gegenstimme wird die Anonymität und Verleumdung von Fakten vorgeworfen, damit gilt diese als überstimmt. Interessanter an dieser Stelle ist jedoch nicht nur die Diskussion um die Kirchenglocken unter den Bauern, sondern der Ort, an dem dieser Disput inszeniert wird: Es ist das Radio und die Radiozeitschrift. Im Radio wird in der Sendung Krest’janskij

28 Novaja derevnja. Ankündigung der Radiosendung für 04.10.1928 der Sendestation Im. Kominterna um 5.00h. In: Radioslušatel’ 1928. H. 4, S. 12. 29 Vgl. Kap.II.1.

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čas po radio (Radiostunde für Bauern) während der Osterfeiertage dafür geworben, die Feiertage abzuschaffen und stattdessen die Kirchenglocken an die Industrie abzugeben, was, wie bereits erwähnt, in den zitierten Hörerbriefen einen breiten Zuspruch im Radioslušatel‘-Artikel findet. Am Ende des Artikels heißt es nun: „Das Radio ist ein wichtiger Helfer der Partei im Kampf gegen die Religion. Und es ist nicht schlimm, dass es bei der Vielzahl positiver Meinungen auch Briefe gibt, die bösartig sind. Es ist das richtige Zeichen, dass die Sendungen für die Bauernklasse genau richtig sind. [Радио – верный помошник партии в борьбе с религией. И ничего, что в груде положительных отзывов встречаются злопыхательные письма. Это верный показатель, что классовая линия крестьянских передач правильная.]“30

Radio erscheint in diesem Artikel als ein wirksames Instrument im ideologischen Kampf gegen die Religion. Allerdings, und das wird an einem anderen Beispiel deutlich, findet zugleich ein Substitutionsprozess statt, in welchem das neue Medium in seinem Kampf gegen die Religion selbst Strukturen und Mechanismen übernimmt, das ihn in die Nähe eines religiösen Wunders bringt. Im Artikel Bogi rydajut (Götter weinen) aus Radioslušatel‘ (1928) wird zunächst die Wissenschaftlichkeit des Mediums beteuert und ihm die Abwesenheit des Wunders und jeglicher Mystik bescheinigt. Damit macht das Radio die religiösen Verblendungsmechanismen sichtbar, allerdings begibt sich der Artikel im Weiteren auf eine Erzählebene, von der aus das Radio als ein modernes Wunder, als geheimnisvolle Kiste erscheint und damit sich in religiöse Strukturen und Erzählstrategien einschreibt, wie es im nachfolgenden Zitat deutlich wird. „Das Radio kommt in das Dorf. Diese Macht verbreitet sich in den Dörfern, in den Auls, in den Kischlaks und verzeichnet dabei die ersten Erfolge. Und der erste qualvolle Prozess vollzieht sich im Dorf: ‚Die Götter weinen‘. Genau so fühlt sich der Bauer aus dem Tambover Gouvernement oder aus den kaukasischen oder aserbaidschanischen Bergen oder aus der kasachischen Steppe. […] Eine unbändige Kraft schlägt auf die Götter. Mit Mühe und Schrecken fragen die Leute im Dorf: ‚Und was ist mit Gott?‘ Man kann ins Dorf die beste Bibliothek mit antireligiöser Literatur senden, man kann zehn Vorlesungen über die göttlichen Mythen halten, aber ein einfacher Radioapparat wird die Menschen mit einer solchen Kraft erschüttern, so wie es die Aktivisten der antireligiösen

30 Cerkovnyje kolokola dlja promyšlennosti. In: Radioslušatel‘ 1929. H. 22, S. 7.

94 | R ADIOPOETIK DES SOZIALISTISCHEN R EALISMUS Kampagne noch nie erlebt haben. Man kann der geheimnisvollen Kiste nicht widerstehen. Sie macht Angst und zieht an, sie bezaubert... ihre Kraft ist klar, wirkungsvoll, unbesiegbar. Man kann ihre Macht nicht bestreiten. Man kann sich abwenden, aber man kann sie nicht leugnen. Und selbst der ungebildetste Mensch wie so ein Tungus- Schamane aus der Tundra kann im Radioapparat den Spott über die Götter nicht übersehen und muss ershrocken fragen: ‚Und was ist mit Gott?‘ Die Götter und relgigöse Kulte wie Gebete, Salbungen, der Klang der Kirchenglocke und die Aufrufe der Muezins oder das Singen der Schamane sehen wie irgendwelche Tricksereien aus, wenn der Mensch Radio hört. Jeder Glaube lebt vom Verlangen nach dem Wunderbaren. Jedes Gebet ist schließlich vom Verlangen nach Wunder erfüllt. Aber es gibt keine Wunder. Die toten Idole schweigen. Die Altäre sind von Kälte umgeben und in die Finsternis versunken. Selbst der pfiffigste Pope und der weiseste Rabbiner können nichts Ungewöhnliches machen. Dafür kaufen die Komsomolzen für fünfundzwanzig Rubel ein einfaches Spielzeug und dieses Spielzeug ist ein solches Wunder, welches Christus, Buddha, Mohammed und der alte jüdische Gott nicht vollbringen können. [Радио идет в деревню. Сила эта только надвигается на села, аулы, кишлаки, ознаменовывая еще первые победы. И первый исключительно важный и мучительный процесс происходит в деревне. -Боги рыдают. Именно так чувствует крестьянин Тамбовской губернии или гор Кавказа и Азербайджана или казахских степей. […] Страшная сила бьет по божеству. Прежде всего в деревне говорят, скрывая внутренний ужас и открыто мучаась: -А как же бог? Можно прислать в деревню прекрасную библиотеку антирелигиозной литературы, можно прочитать десять лекций о божественных мифах, но один простой радиоприемник потрясет людей с такой силой, которой не могут наблюдать антирелигиозники. Таинственный ящичек действует неотразимо. Он пугает и привлекает, очаровывает... силa его явная, действенная, неприодолимая. Нельзя и не о чем спорить. Можно отвернуться, но нельзя отвергнуть. И самый темный человек – какой-нибудь тунгусшаманист в тундре – видит в радиоаппарате умную насмешку над божеством и сам, пугаясь или усмехаясь, вопрошает: -А как же бог? И само божество, и культ его – молитвы, намазы, звон колоколов и призывы муэдзинов, поющие бубны шаманов и все другое – превращаются в какую-то выдумку, кoгда слушает человек радио. Самое пылкое верование обусловленно жаждой чудесного. В конце концов, каждая молитва исполнена жажды чуда. А чудес нет. Мертвые идолы безмолвны. Алтари овеяны холодом, окутаны мраком. Самый жуликоватый поп и

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мудрейший из раввинов не умеют совершить что-нибудь необыкновенное. Но комсомольцы за двадцать пять рублей покупают немудренную игрушку и эта игрушка является таким чудом, какого не знали Христос, Будда, Магомет и старый многоопытный еврейский бог.]“31

In diesem Text wird auf eine eindrucksvolle Art die Besonderheit des Radios, auf Menschen unmittelbar zu wirken, ohne sie überzeugen zu müssen, hervorgehoben. Seine Macht ist klar und unüberwindbar, man kann ihr nicht widersprechen, heißt es im Artikel. Die Anpreisung des Radios zu Beginn des Artikels als eine wissenschaftliche Erfindung, die nach rationalen und nicht emotionalen Kriterien funktioniert und damit den Dorfbewohner Aufklärung und Bildung bringt, verwandelt sich selbst in ein Medium, das die göttliche Erscheinung unmittelbar in der profanen Welt erfahrbar macht. Die Profanität des Apparats, der nur 25 Rubel kostet, wird komplett aufgehoben, wenn er als direkter Nachfolger von Christus, Mohammed, Buddha und vom alten erfahrenen jüdischen Gott proklamiert wird. Dabei entpuppt sich der pädagogische Auftrag des Radios als Aufklärungsmedium für die Bauern selbst als Nachahmung religiöser Machtmechanismen, in denen politische Handlungen sakralen gleichgesetzt werden. Die Kirche wird in einen Dorfklub und Radiohörsaal umgewandelt, die Gebetsecke im Bauernhaus zu einem Radioraum umfunktioniert. In dem Moment, wenn Ikonen der Heiligen von der Wand verschwinden und an deren Stelle Bilder von Lenin und Marx gesetzt werden und der Radioempfänger in der Gebetsecke des Bauernhauses angebracht wird, verwandelt sich der private Raum der Bauern in einen radiophonen, in dem eine unmittelbare Verbindung zum politischen Zentrum im weit entfernten Moskau zelebriert wird. In eine einfache Erzählung verpackt, erzählen diese Artikel die Geschichte der Säkularisierung in Sowjetrussland und streben damit ganz im Sinne Carl Schmitts an, theologische Begriffe durch politische zu ersetzen. Dabei tritt das Radio an die Stelle des theologischen Wunders32 und etabliert sich als eine über dem Menschen

31 N. Pogodin: Bogi rydajut. In: Radioslušatel’. 1928. H. 3, S. 3. 32 Vgl. Carl Schmitt: Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität. Berlin 1990, S.49ff. Schmitt stellt den rechtsstaatlichen Ausnahmezustand dem theologischen Wunder gleich und sagt: „Denn die Idee des modernen Rechtsstaates setzt sich mit dem Deismus durch, mit einer Theologie und Metaphysik, die das Wunder aus der Welt verweist und die im Begriff des Wunders enthaltene, durch einen unmittelbaren Eingriff eine Ausnahme situierende Durchbrechung der Naturgesetze ebenso ablehnt wie den unmittelbaren Eingriff des Souveräns in die geltende Rechtsordnung.“ Der Ausnahmezustand wird für Schmitt damit zu einer Situation, in der der Souverän sich

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stehende Ausnahmeerscheinung, die sich einer medienkritischen Reflexion entzieht. Ganz auf den Aufklärungsauftrag der sowjetischen Macht konzentriert, bleibt die Ästhetisierung der politischen Macht, die sich im Radio entfaltet, gänzlich ausgeblendet, sie wirkt stets im Verborgenen. Das Radio erschafft somit mediale Räume des Politischen, in denen die sozialistische Kolchose als komplett elektrifizierter und radiofizierter Raum tatsächlich funktioniert, jedoch eine medial-ästhetische Konstruktion bleibt, die außerhalb des radiophonen Raums nicht existiert. Es handelt sich um eine Ästhetisierung des Politischen im medialakustischen Raum des Radioäthers, in dem der Unterschied zwischen den real existierenden schlechten Lebensbedingungen auf dem Land und der blühenden radiofizierten Kolchose im Radio nicht mehr zu erkennen ist. Während die erfolgreiche Säkularisierung in der Sowjetunion zu einer radiopoetischen Erzählung wird, wie man an Beispielen wie Tetkina antenna oder Trubnyj glas bereits beobachten konnte, wird das sowjetische Dorf als ein Ort inszeniert, an dem die Säkularisierung erfolgreich ist und an der der Sozialismus funktioniert. Das neue Dorf (Novaja derevnja) ist eine sozialistische Kolchose und verdankt dem sozialistischen Bau seine kulturelle Aufwertung. Novaja derevnja ist aber auch eine Radiosendung, eine radiopoetische Geschichte, die zugleich die Hagiografie des Mediums schreibt. Es sind Geschichten von Menschen und dem Radio auf dem Land, die das Radio zum Medium der Modernisierung und zur Figur der erfolgreichen Verbreitung des Sozialismus in Russland machen. In den Artikeln und Reportagen entstehen literarische Orte, die als komplett elektrifizierte und radiofizierte Räume des funktionierenden Sozialismus inszeniert werden.

über der Rechtsordnung erhebt. Als Folge seines Handelns bleibt ihm nach dem Verschwinden der royalen Macht nur die Diktatur. Ungeachtet bleibt bei Schmitt die wichtige Besonderheit der analogen Beziehung zw. theologischem Wunder und Ausnahmezustand, nämlich der Zustand, dass es sich in dieser Beziehung um eine Nachahmungspraxis der theologischen Strukturen und Rituale im politischen handelt und damit die christliche Nachahmungspraxis der Passion im politischen beerbt wird. Auch im politischen Ausnahmezustand werden Zeugen und Märtyrer der außerhalb des Rechtsstaates stehenden Ausnahmeerscheinung produziert. Damit schreibt sich der politische Ausnahmezustand unweigerlich in die Strukturen der christlichen Passion ein. Den Schmittschen Gedanken zum Rechtsstaat ähnlich wird auch der sowjetische Radiodiskurs geführt, indem nun das Radio in die Fußstapfen des theologischen Wunders tritt und damit zur Stimme der politischen Macht wird, die sich jenseits der politischen Rechtsordnung setzt und sich damit im transzendentalen radioakkusitschen Raum verortet.

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Als ein solcher radiofizierter sozialistischer Raum begegnet dem Zeitschriftenleser das sowjetische Dorf in einer Ausgabe der Zeitschrift Radioslušatel’ aus dem Jahr 1928: „Nach der Kurve hinter dem Hügel eröffnete sich uns eine unerwartete seltsame Aussicht. Über den grauen Dächern des unten gelegenen Dorfes Ondorowo erstreckte sich das ununterbrochene Netz aus den verknüpften Antennen. Es war ein richtiges radiofiziertes Dorf, wo es fast in jeder Hütte einen Radioapparat, und in einigen sogar, zwei gab. [Из-за поворота дороги с пригорка неожиданно открылся причудливый вид. Над серыми крышами расположенной внизу деревни Ондорово протянулась сплошная сетка из сплетающихся антенн. Это была настоящая радиовицированная деревня, где почти в каждой избе имелся радиоприемник, а в некоторых даже по два.]“33

Aus einem Panoramabild über den Dächern des vollkommen radiofizierten Dorfes wird im nächsten Abschnitt des Berichts eine detaillierte Einsicht in das Innere des Hauses: „Wir schauten in eine halbzerfallene Hütte hinein. An der Wand am Fenster hängt die Kiste des Radioempfängers, der Plan der Sendungen des Leningrader Radiosenders Narkompotschtel hängt daneben. Um den Radioempfänger herum hat sich fast die ganze Familie versammelt, um abwechselnd die Sendung des symphonischen Konzerts aus der Leningrader Philharmonie zu hören. [Заглянули в одну полуразвалившуюся избу. На стене у окна чернеет коробка приемника, рядом висит расписание передач Ленинградской радиостанции Наркомпочтеля. У приемника собралась почти вся семья и слушает поочередно трансляцию симфонического концерта из Ленинградской Филармонии.]“34

Der Blick wird privater – aus dem Panoramabild wird eine Nahaufnahme. Dieses Hineinsehen ins Private gibt dem Artikel auch seine erzählerische Dramaturgie, die weit über eine publizistische Darstellung hinausgeht und das Radio zu einer literarischen Figur macht. Dass das Radio als das neue elektroakustische Massen-

33 Pesn‘ antenn. Iz pojezdki po derevnjam Volosovskogo rajona Leningradskoj oblasti. In: Radioslušatel‘, H. 12 (1928), S.3. 34 Ebd., S. 3.

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medium nachhaltig den Alltag auf dem Land verändern soll, taucht in diesem Artikel nun nicht mehr als eine agitationspolitische Aufforderung auf, sondern erscheint als eine Tatsache, über die der reisende Reporter Bericht erstatten kann. Radio wird so zum Motiv einer literarischen Fiktion, die hagiografisch die Geschichte des Mediums erzählt und diese innerhalb des sozialistisch realistischen Kanons35 zur Norm erklärt. Damit ist auch die Wahl des Erzählgenres als Reisebericht, der mit dem Titel Pesn‘ antenn. Iz pojezdki po derevnjam Volosovskogo rajona Leningradskoj oblasti (Das Lied der Antennen. Berichtet aus der Fahrt durch die Dörfer des Bezirks Volovskoj des Leningrader Gebiets) bereits angekündigt ist, mehr als trefflich. Er ermöglicht die Imagination eines objektiven Betrachters, erschließt und vereinnahmt neues Territorium, ästhetisiert und verklärt den neu erschlossenen Raum. Die Berichterstattung über die Vereinnahmung des Dorfes und der damit einhergehenden Verkehrung zum politischen Raum macht aus der Radiofizierung und damit der Modernisierung der rückständigen Teile des Landes durch die Revolution eine Erfolgsgeschichte. Die sozialistische Kolchose wird durch das Radio zu einer überholten, verbesserten und idealisierten Version des sowjetischen Dorfes und erfüllt zugleich die Funktion eines staatlich organisierten Gesamtkunstwerks36, das mit der sowjetischen Wirklichkeit nichts gemein hat. Man kann vielmehr von einer staatlichen Aneignung und Usurpierung des Ästhetischen zugunsten einer totalen Harmonisierung der Gesellschaft sprechen37, da die idealisierte Fassung der Radio-Kolchose medienübergreifend in Literatur, Film, Malerei und Fotografie reproduziert 35 Vgl. Hans Günther: Verstaatlichung der Literatur. Entstehung und Funktionsweise des sozialistisch-realistischen Kanons in der sowjetischen Literatur der 30er Jahre. Stuttgart 1984. 36 Vgl. hierzu Boris Groys: Gesamtkunstwerk Stalin. München 1988. Groys konstatiert in seinem Buch die entscheidende Rolle der russischen Avantgarde in der Entstehung des stalinistischen Gesamtkunstwerks und sagt über die stalinistische Kunst: „Die Stalinzeit erfüllte die Hauptforderung der Avantgarde, die Kunst solle von der Darstellung des Lebens zu seiner Umgestaltung im Rahmen eines totalen ästhetisch-politischen Plans übergehen; damit wurde die Stalin’sche Poetik, wenn man in Stalin das Modell des Tyrannen-Künstlers sehen will, der den für die Zeit des kontemplativen, mimetischen Denkens modellhaften Tyrannen-Philosophen ablöst, unmittelbare Erbin des künstlerischen Konstruktivismus.“ (S. 42-43). 37 Vgl. hierzu Hans Günther: O krasote, kotoraja ne smogla spasti socializm [Über die Schönheit, die den Sozialismus nicht retten konnte]. In: Novoje Literaturnoje Obozrenije [Neue literarische Rundschau]. H. 101 (2010), http://magazines.russ.ru/nlo/2010/ 101/gu2-pr.html.

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wird und damit den Status der einzig anerkannten gesellschaftlichen Norm erreicht. Die in der slavistischen Forschung umstrittene Aussage von Evgenij Dobrenko, dass im sozialistischen Realismus die Ästhetik keine Übertreibung oder Verschönerung, sondern das eigentliche Sein des sozialistischen Realismus sei und man von sozialistischer Realität nur als Produkt ihrer eigenen Ästhetisierung und Medialisierung sprechen kann38, ist im Zusammenhang mit dem Radio sehr weitreichend. Hans Günther widerspricht dieser These zwar mit dem Argument, dass die Kehrseite der idealisierten Welt des sozialistischen Realismus der „hässliche“ sowjetische Alltag immer mitgedacht werden muss39, da der schöne Schein des sozialistischen Realismus nur durch Gewaltherrschaft des totalitären Systems aufrechterhalten werden konnte und sich schließlich unter dem Druck realer Probleme als Lüge entlarvte. Allerdings bleibt die Konkurrenz zwischen dem schönen Schein und der hässlichen Wirklichkeit des Sozialismus, die H. Günther trefflich beschreibt und die für Literatur und Film zutrifft, im Zusammenhang mit der Wirkungsmächtigkeit des Radios als Massenmedium eher ambivalent. In Radiozeitschriften wird das Radio als technisches Wunder hochgelobt oder als Teufelswerk von Bauern gefürchtet. Zugleich wird mit dem Radio ein akustischer Raum geschaffen, der sich jenseits der profanen weltlichen Ordnung platziert und im radiophonen unsichtbaren Äther, der über der Weltkugel schwebt, wie Lunačarskij in

38 Vgl. Evgenij Dobrenko: Political economy of socialist realism. Yale Univ. Pr. 2007. Preface, S. xii. 39 Vgl. Hans Günther: O krasote, kotoraja ne smogla spasti socializm. In: Novoje Literaturnoje Obozrenije [Neue literarische Rundschau], H. 101 (2007). URL: ), http://magazines.russ.ru/nlo/2010/101/gu2-pr.html. [Übers. aus dem Russischen: Gewiss, erwirbt die wachsende Kraft von Simulakra durch die Medien eine neue Qualität, allerdings den vollen Verlust der Realität zu konstatieren, wie es Baudrillard macht, wäre doch eine starke Übertreibung. Sowjetische Medien konnten natürlich in bestimmten Grenzen die Realität ergänzen oder auswechseln, doch insgesamt, wie es mir scheint, muss anerkannt werden, dass die Realität und mediale Hyperrealität miteinander konkurrierten. […] So waren "die schönen" Gestalten, die in der Sowjetunion produziert wurden, von ihren "hässlichen" Doppelgängern im realen Leben untrennbar. […] Der schöne Schein blieb immer unvollendet, unvollständig und begann, zu zerfallen, sobald er von der herrschenden Diktatur nicht mehr mit Gewalt durchgesetzt werden konnte. So wie die Hypnose des schönen Scheins sich durch den Einfluss realer Probleme aufzulösen begann, erschien der sozialistische Realismus als Lüge und Überlackierung der Wirklichkeit.]

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seiner Rede vor dem ODR40 konstatiert, und scheinbar unmittelbar wirkt, ohne zwangsläufig auf etwas in der „realen“ Welt verweisen zu müssen. So entspricht der sozialistischen radiophonen Kolchose kein Äquivalent in der wirklichen Welt, da es aus der öffentlichen Wahrnehmung komplett eliminiert wird. Damit können sich auch solche bizarren Situationen erklären, die z. B. im Briefwechsel zwischen Michail Šolochov und Stalin zu beobachten sind. Als Šolochov Missstände in seinem Dorf beklagt, in dem er auf die Willkür der Behörden und die hohe Kriminalität hinweist, bekommt er daraufhin von Stalin eine Antwort mit dem Hinweis, Šolochov würde mit seinem Brief keine Literatur, sondern Politik betreiben. Dies solle aber Šolochov gefälligst ihm, Stalin, überlassen und sich nicht einmischen, da ihm der Blick fürs Ganze fehle. Er könne die tatsächliche Situation in den sowjetischen Kolchosen nicht erkennen41. Dem Autor vom Stillen Don versperrt seine eingeschränkte Sicht der Dinge also die Möglichkeit, die moderne sozialistische und glückliche Kolchose zu erkennen. Die Willkür der lokalen Behörden, Massenverhaftungen und hungernde Bauern werden auf ein lokales Problem abgestuft, während der Vorwurf der Sabotage und des antikommunistischen Handelns auf dem Land generalisiert wird. Stalins Brief erweckt den Eindruck, Šolochov berichte von einer Kolchose, die es so nicht gebe und selbst wenn es die gebe, so handle es sich um antisowjetische Machenschaften. Stalin beendet seinen Brief mit der Feststellung:

40 Vgl. Anatolij Lunačarskij: Radio v kul’turnoj revolucii [Auszug aus der Rede auf der Moskauer Konferenz des ODR], in: Radioslušatel‘, H. 14 (1928), S. 1. 41 M. A. Šolochov: Pis’ma (Briefe) Hrg. Von A.A. Kozlovskij, F. F. Kutnecov, A. M. Ušakova, A. M. Šolochova. Moskau RAN (Russische Akademie der Wissenschaft) 2003. Gemeint ist der Brief an Stalin vom 16.04.1933 aus dem Dorf Vešenskaja. S. 127135. Šolochov bemängelt in diesem Brief nicht nur schlechte ökonomische Umstände auf dem Land und tatsächlich hungernde Bauern, sondern beklagt ebenfalls die Willkür der lokalen Behörden und vor allem Massenverhaftungen durch NKVD [Volkskomissariat für innere Angelegenheiten]. Zwar wird von Stalin finanzielle Hilfe angeordnet und auch die zuständigen lokalen Parteifunktionäre verhaftet und zum Tod durch Erschießen verurteilt, so wird aber auch Šolochov von Stalin belehrt. U. a heißt es in Stalins Brief: „Вы видите одну сторону, видите неплохо. Но это только одна сторона дела. Чтобы не ошибиться в политике (Ваши писма не - беллетристика, а сплошная политика), надо обозреть, надо уметь видеть и другую сторону. [Sie sehen nur die eine Seite und sie sehen sie nicht schlecht. Aber das ist nur eine Seite der ganzen Sache. Um in der Politik keine Fehler zu machen, und Ihre Briefe sind keine Belletristik, sondern pure Politik, muss man auch die andere Seite sehen und erfassen können.]“ (S.133).

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„Es ist jedoch mehr als deutlich, dass die hochverehrten Bauern nicht so harmlos sind, wie es aus der Entfernung vielleicht aussieht. [Но все же ясно как божий день, что уважаемые хлеборобы не такие уж безобидные люди, как это могло бы показаться издали.]“42

Selbst wenn die sowjetische Macht einräumen soll, dass alle Anschuldigungen, die Šolochov in seinem Brief beschreibt, stimmen, bleibt es dennoch unverrückbar, dass die Kolchose als Ganzes den ästhetischen Darstellungen und nicht den „realen“ Tatsachen entspricht. Im letzten Satz von Stalins Brief wird das Verhältnis zwischen sowjetischer Macht und der Kolchose als eine Beziehung der Nähe gefasst: Es ist nämlich Šolochov, der sich im Ganzen irrt, weil er die Situation zwar vor Ort, jedoch ideologisch aus der Ferne betrachtet und es ist Stalin, der zwar geografisch weit entfernt ist, jedoch einen Blick aus der Nähe auf die Dinge hat. Diese Umkehrung der Distanzverhältnisse, die die geografische Entfernung quasi außer Kraft setzt und die Tatsache, dass die politische Macht trotz ihrer Abwesenheit dauerhaft und überall präsent ist, sind nicht zuletzt die Folge einer Medialisierung und Radiofizierung des politischen Raums. Sozialistischer Raum Aufgrund der Intensität, mit welcher der sowjetische Radiodiskurs auf die Bedeutung des Mediums im Aufbau der sozialistischen Gesellschaft immer wieder pocht und sich selbst hagiografisch in den Schaffungsprozess der neuen Gesellschaft, des neuen Menschen, des neuen Alltags und des neuen Dorfes stets in allen Artikeln und Berichten der Radiozeitschriften einschreibt, lässt vermuten, dass mit dem Radio nicht nur eine Bühne zur Verbreitung sozialistischer Ideologie geschaffen wurde, sondern, dass sich das sowjetische Radio als einer der wichtigsten Akteure im Projekt des sozialistischen Aufbaus betrachtet und damit nicht zuletzt zum Generator sozialistischer Ideologie wird. Diese ideologiebildende Eigenschaft des Radios lässt sich teilweise in der Medientheorie Marshall McLuhans wiederfinden, der mit seiner radikalen Definition, das Medium sei eine Botschaft, unweigerlich die Dimension der Wirkmächtigkeit der elektronischen Medien erweitert, indem er sie aus der Rolle des Mittlers heraushebt und als Ausweitung und Beschleunigung des menschlichen Körpers betrachtet. Besonders in der Betrachtung totalitärer Systeme und in der Frage der

42 Stalin an Šolochov. 06.05.1933. In: M. A. Šolochov. Pis’ma. Moskau RAN 2003, S. 133.

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Herausbildung von Ideologien eröffnet McLuhans Medientheorie einige interessante Beobachtungen. In Understandig Media notiert er: „In einer Kultur wie der unseren, die es schon lange gewohnt ist, alle Dinge, um sie unter Kontrolle zu bekommen, aufzusplittern und zu teilen, wirkt es fast schockartig, wenn man daran erinnert wird, dass in seiner Funktion und praktischen Anwendung das Medium die Botschaft ist. Das soll nur heißen, dass die persönlichen und sozialen Auswirkungen jedes Mediums – das heißt jede Ausweitung unserer eigenen Person – sich aus dem neuen Maßstab ergeben, der durch jede Ausweitung unserer eigenen Person oder jede neue Technik eingeführt wird.“43

Dem Differenzierungsprogramm der Moderne setzt McLuhan eine Medienauffassung entgegen, die sich jenseits dieses Programms der Moderne befindet. Konsequenz dieses Denkens des Mediums als Botschaft ist, dass Medien in ihrer Funktion und ihrer Anwendung nicht nach Maßstäben der gesellschaftlichen Ausdifferenzierung, die der europäischen Moderne als Grundvoraussetzung dienen, gedacht werden können, sondern innerhalb anderer Strukturen beschrieben werden müssen. McLuhan wählt speziell für das Radio eine Beschreibung, die sich in die theologische Sphäre begibt: „Das Radio ist wie jedes Medium mit einer Tarnkappe versehen. Offensichtlich tritt es und gegenüber direkt auf, wie von Mensch zu Mensch, privat und intim, während es tatsächlich aber, und das ist wichtiger, eine unterschwellige Echokammer ist, die die Zauberkraft besitzt, längst vergessene Saiten erklingen zu lassen. […] Die Macht des Radios, die Menschen in die Stammesgesellschaft zurückzuführen, kommt einer fast augenblicklichen Verkehrung des Individualismus in den Kollektivismus gleich. Der Faschist oder Marxist blieb unerkannt.“44

Das Radio, so McLuhan, macht es möglich, entgegen der Individualisierung der europäischen Moderne, die Menschen in einem Kollektiv zusammen- und zugleich in die Zeit der vormodernen Stammesgesellschaft zurückzuführen. Die Magie des Radios allerdings entfaltet sich umso besser, je schlechter die Alphabetisierung einer Gesellschaft vorangeschritten ist, da er in der Schrift die Grundlage

43 Marshall McLuhan: Die magischen Kanäle. „Understanding Media“. Düsseldorf 1992, S. 17. 44 Marshall McLuhan: Die magischen Kanäle. „Understanding Media“. Düsseldorf 1992, S. 345, 347.

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für die moderne Ausdifferenzierung sieht, der Elektrizität dagegen das antithetische Vermögen bescheinigt, das die Information augenblicklich vermittelt und die gesellschaftliche Explosion in Implosion verwandelt. Es ist aber auch eine persönliche Berührung, das Sprechen des Radios in die Seele des Menschen hinein, das es zu einem Medium macht, das sich der Medienreflexion entzieht. Das Radio ist die Erweiterung des menschlichen Nervensystems, das zu einer Art gemeinschaftlichen Nervensystem, zu einem kollektiven Lebensraum wird: „Eine der vielen Auswirkungen des Fernsehens auf das Radio war es, dass aus den Radio als Medium der Unterhaltung eine Art Informationsnervensystem wurde. Nachrichtensendungen, Zeitzeichen, Verkehrsmeldungen und vor allem Wetterberichte dienen dazu, die dem Radio eigene Macht, Menschen zusammenzubringen, noch zu steigern. Das Wetter ist das Medium, das alle Menschen in gleicher Weise angeht. Es bildet den wichtigsten Programmpunkt des Radios, das unser Ohr berieselt und den tönenden Raum oder Lebensraum schafft. […] Das Radio berührt die meisten Menschen persönlich, von Mensch zu Mensch, und schafft eine Atmosphäre unausgesprochener Kommunikation zwischen Autor, Sprecher und Hörer. Das ist der unmittelbare Aspekt des Radios. Ein persönliches Erlebnis. Die unterschwelligen Tiefen des Radios sind erfüllt vom Widerhall der Stammeshörner und uralten Trommeln. Das ist dem Wesen des Mediums eigen, das die Macht hat, die Seele und die Gemeinschaft in eine einzige Echokammer zu verwandeln.“45

Das, was McLuhan beschreibt, ist nichts anderes als die Tendenz des Medium Radio innerhalb einer säkularen Gesellschaft eine theologische Funktion zu erfüllen. Es ist eine Art modernes theologisches Wunder, das unmittelbar einwirkt, ohne dass es in seiner Gemachtheit reflektiert werden kann. Nur deshalb kann es einen Lebensraum schaffen, weil es wie McLuhan sagt, mit einer Tarnkappe versehen ist46. Es ist jedoch nicht nur das Verstecken der technischen Gemachtheit, dem das Medium seine magische allgegenwärtige Präsenz verdankt, es ist in gleichem Maße das Eindringen des Mediums in die intime Privatheit des Menschen, die ihn zugleich zur Teilhabe an öffentlicher Interaktion zwingt, der er sich nicht entziehen kann. Es ist eine Verkehrung der Privatheit in eine politische Handlung, die in der Sowjetunion im Radio propagiert und durch das Radio generiert wird. Nicht zuletzt kann man von einem Streben nach medialer Gleichschaltung des Riesenimperiums als politische Landnahme sprechen. McLuhan spricht gerade

45 Marshall McLuhan: Die magischen Kanäle. „Understanding Media“. Düsseldorf 1992, S. 341-343. 46 Ebd., S. 345.

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hier an diesem Punkt dem Radio zu, der Gleichschaltung entgegen zu wirken und ein pluralistisches Medium zu sein. Allerdings fügt er hinzu, dass das Streben der Schrift danach in ihrer linearen Ausrichtung zu zentralisieren, sich auch auf das Radio abfärbt und auch Radiopraxis zu Zentralismus zwingt. Durch das Fernsehen abgelöst, kann allerdings Radio in Westeuropa wieder individuell verwendet werden. Es ist eher die Verkleinerung der Welt, ein Zusammenziehen unterschiedlicher Kulturen, die durch das Radio verbunden werden. „Das Radio führt zu einer Beschleunigung der Informationsbewegung, die auch andere Medien beschleunigt. Es reduziert auf jeden Fall die Welt auf einen Dorfmaßstab und lässt unersättlich dörfliche Bedürfnisse nach Klatsch, Gerüchten und persönlichen Bosheiten aufkommen, bewirkt aber keine Gleichschaltung der Dorfviertel. […] Das Radio kann nicht nur mit Macht alte Erinnerungen, Kräfte und Gefühle wecken, sondern dezentralisiert und ist eine pluralistische Kraft, was eigentlich für alle elektrischen Medien und auch für den elektrischen Strom gilt. […] Das Radio wurde vom zentralistischen Druck des Rundfunknetzes durch das Fernsehen befreit. […] Das Radio, das einmal zum Gemeinschaftsempfang ganze Kirchen leerte, wird seit dem Aufkommen des Fernsehens wieder privat und individuell verwendet.“47

Während die Tendenz des Ineinandergreifens von Schrift und Radio besonders in der sowjetischen Radiophonie daran erkennbar ist, dass das Radio auf die Schriftkonvention immer wieder zurückgreift und die Schrift tatsächlich von den staatlichen Organen als Kontrollinstitution eingeführt wird48, lässt sich auch beobachten, dass sich das Radio entgegen McLuhans Meinung nicht zwingend zu einem pluralistischen Medium entwickeln muss. So wie das Radio in den USA und Westeuropa vom Fernsehen abgelöst sich zu einem privaten Unterhaltungs- und Informationsmedium entwickelte, war es auch möglich, dass sich Radio in totalitären Systemen, speziell in der Sowjetunion, zu einem Medium der Macht erheben konnte. Dort war das Radio in der Lage, einen Lebensraum zu schaffen, der nicht nostalgisch die Saiten der vergangenen Stammesgesellschaft erklingen lässt, sondern ganz konkret zum politischen Raum wird, der totalitäre Machtkonstellationen produziert, in denen eine Familiarisierung des Politischen wie auch gleichzeitig eine Politisierung des Privaten stattfindet. Speziell in der Sowjetunion avanciert der radiophone Lebensraum zu einer ästhetischen Landnahme durch den sozialistischen Realismus, die ganz im Sinne von Carl Schmitt als nach Innen und Außen begründetes Recht in Erscheinung

47 Ebd., S.349-350. 48 Vgl. Kap. 2.1., Zit. 42.

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tritt. Im Innen begründet die Landnahme die Unterscheidung zwischen Privat und Öffentlich und im Außen sieht sie vor, als frei geltende und den anerkannten Besitzern weggenommene Gebiete zu besetzen49. Nach Innen findet eine Vereinnahmung jeglicher Individualität und Privatheit statt, wie man an literarischen und filmischen Helden des Sozrealismus, die sich immer gegen das eigene individuelle Glück und für den Dienst an der sozialistischen Gesellschaft entscheiden, beobachten kann. Durch diese innere / geistige Landnahme wird die Unterscheidung zwischen Privat und Öffentlich nicht wie etwa bei Schmitt gezogen, sondern das Private zugunsten des Öffentlichen komplett eliminiert und durch einen ideologisch durchdrungenen radiophonen Raum des Politischen ersetzt. Nach Außen findet ganz im Schmitt’schen Sinne eine territoriale Landnahme statt, die allerdings in ihrer Legitimierung eine doppelte Strategie verfolgt. Besonders im Film werden die durch den Sozialismus eingenommenen Gebiete als leerer, unbewohnter Raum inszeniert. Die radiophone Ästhetik basiert auf der Vorstellung, ideologisch leeren und unbesiedelten Raum, den Radioäther mit akustischen Inhalten auszufüllen und eine politische Ordnung zu etablieren, wie es 1928 Anatolij Lunačarskij in einer Rede vor dem ODR (Obščestvo druzej radioveščanija / Gemeinschaft der Freunde des Rundfunks) beschreibt. Die Unterwerfung des leeren Funkraums wird dabei zur wichtigsten sozialistischen Aufgabe: „Wenn wir über die Heldentaten des menschlichen Geistes und der Kunst reden, dann nennen wir zwei Errungenschaften Luftflotte und Rundfunk. Worin besteht diese siegreiche kolossale Kraft des Rundfunks? Sie besteht darin, dass der Mensch sich eine neue Umgebung, die Funkumgebung, unterwirft. Der Äther umgab uns schon immer, aber er wurde nicht benutzt, es war eine leere und unnötige Sphäre. Jetzt ist der Äther von menschlichen Gedanken ausgefüllt; man braucht nur das technische Ohr, um zu fühlen, wie der Äther lebt, und dass er mit Musik, Literatur, Nachrichten, Propaganda usw. gefüllt ist [Когда мы говорим о самых последних подвигах человеческой мысли и человеческого искусства, - мы называем две вещи: авиация и радио. В чем заключается эта победоносная колоссальная сила радио? В том, что человек подчиняет себе новую среду, эфирную среду. Некогда земной шар плыл в эфире, и эфир имел способность кругогвого распростронения вокруг земного шара, но это была ничем не заполненнная и никому не нужная сфера. Сейчас она вся

49 Vgl. Carl Schmitt: Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum. Köln 1950. Hier bes. S. 16-17.

106 | R ADIOPOETIK DES SOZIALISTISCHEN REALISMUS переполнена человеческой мыслью; надо только иметь техническое ухо, для того, чтобы почувствовать, что эфир живет, что он полон музыкой, литературой, информационными сведениями, пропагандой и т.д.]“50

Ähnlich der Nomos51-Vorstellung bei Carl Schmitt beschreibt Lunačarskij die Vereinnahmung des radiophonen Raums, der sich über die ganze Erdkugel erstrecken soll. Die Beseelung des leeren Äthers, der sich mit Musik, Literatur und Propaganda füllt, generiert vor allem einen Raum, der sich aus der Spannung zwischen der scheinbar unüberwindbaren Distanz der Peripherie zum politischen Zentrum und dem Radio als Verbindungsmedium konstituiert, der die Weiten eines Riesenreichs überwindet, die Menschen zu einer Nation vereint und damit eine Art neuen Nomos schafft. Gleichzeitig aber begegnet der Sozialismus gerade dort in den zu besetzenden Gebieten einer bereits bestehenden Ordnung, die nun in aufwändigen Erzählplots in Film, Literatur und auch Radiozeitschriften als volksschädliche und auf Sabotage ausgerichteten Strukturen entlarvt werden muss, damit sich die neue sozialistische Ordnung legitimieren kann. In Radiozeitschriften werden dazu agitationspolitische Artikel verfasst, die den Ausbau der Rundfunkstationen besonders in entlegenen Regionen der Sowjetunion fordern und damit aber die Radiofizierung zugleich als Ideologisierung begreifen und ländliche Regionen ideologisch besetzen. So auch N. Preobraženskij in einem Artikel der Radio vsem 1925: „Prüfen Sie ihre Anlagen, kontrollieren sie diese, überprüfen sie, ob sie richtig funktionieren und richtig genutzt werden und ergreifen sie, wenn nötig, Maßnahmen zur Erweiterung des Radionetzes in den Dörfern. Denn dann werden wir das Vermächtnis W.I.Lenins erfüllen. Wenn Sie Anlagen organisieren und installieren, vergessen Sie keine Minute das Dorf, mit dem richtigen Radioprogramm zu versorgen. [...] Hier befindet sich das breite Feld der Herausbildung des neuen sowjetischen Alltags und der neuen Kultur im Kampf um das sowjetische Dorf. [Проверяйте установки, ведите им точный учет, следите за их правильной работой и использованием и принимайте все зависящие меры по расширению сети радиустановок в деревни. Тогда мы выполним один из заветов В. И. Ленина. Однако, налаживая организацию установок радиоприемников, ни минуты не забывайте об организации

50 Anatolij Lunačarskij: Radio v kul’turnoj revolucii [Auszug aus der Rede auf der Moskauer Konferenz des ODR], in: Radioslušatel‘, H. 14 (1928), S. 1. 51 Vgl. Carl Schmitt: Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus Publikum Europäum. Berlin 1997.

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правильной нужной деревне программы радиопередачи. [...] – тут широкое поле для создания нового советского быта и культуры на важном фронте работы в деревне.]“52

Diese Verbreitung des Mediums auf dem Land steht jedoch nicht nur in der Pflicht der ideologischen Erziehung, sondern dient in gleicher Weise als Bindeglied zwischen einzelnen Regionen und garantiert damit die Einheit des sowjetischen Imperiums, das speziell im Radio als ein gemeinsamer und gemeinschaftlicher Lebensraum konzipiert wird. „Der Ausbau des Radionetzwerkes in allen Winkeln unserer Union der Sowjetischen Sozialistischen Republiken hat deswegen eine große Bedeutung, weil die Funkverbindung günstig, schnell und leicht zugänglich ist. [...] Für den Bund der Arbeiter und Bauern soll die ganze Arbeit der Festigung ihres Staates und der Umgestaltung des alten bürgerlichen Apparates auf den sowjetischen nicht nur von sowjetischen ‚Zentren‘, sondern auch vom ganzen Kollektiv der Bauern- und Arbeiterklasse gemacht werden. Deshalb begrüsste Wladimir Iljitsch Lenin in seinem ersten Brief an das Nižegoroder Radiolabor so das Vorhaben ‚die Zeitung ohne Papier und über jede Entfernung hinweg zu bauen und einen Millionenhörsaal zu organisieren‘. Gerade diese Funktion des Radios, die bequem und für die Erfassung der Massen bedeutend ist, stelltte der große Führer der Arbeiter- und Bauernklasse als dringendste Aufgabe der sowjetischen Arbeit dar. [Установка радиоприемников во всех уголках нашего Союза Советских Социалистических Республик имеет ту громадную ценность, что радиосвязь наиболее дешевая, наиболее быстрая и наиболее доступная. [...] Для союза рабочих и крестьян – вся работа по укреплению своего государства и переустройству старого буржуазного аппарата на новый советский ведется не только одними советскими 'центрами', но коллективным творчеством всего рабоче-крестьянского населения. Вот почему в своем первом письме на имя Нижегородской радиолабаратории Владимир Ильич Ленин так приветствовал начинание ‚строить газету без бумаги и расстояния, организуя многомиллионную аудиторию‘. Именно это значение радиосвязи, как наиболее удобной и имеющей прежде всего значение массового охвата – великий вождь союза рабочих и крестьян в первую очередь ставил как неотложную задачу в советской работе.“53

Ähnlich ideologisch geht auch die Zeitschrift Radioslušatel’ mit der medialen Vereinnahmung des ländlichen Raums um. 1929 erscheint unter dem Titel Bez

52 Ebd. 53 N. Preobraženskij: Radio v derevne. Pobol’še vnimanija meločam. In: Radio vsem. Nr1, 15.09.1925.

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provoloček, v samuju gluš ein Artikel, der über die agitationspolitische und erzieherische Verbreitung des Rundfunks auf dem Land eine kulturelle Vereinnahmung und Generierung eines ideologischen Raumes auf dem Land fordert. „Wenn in den kapitalistischen Ländern die Bourgeoisie mit dem Rundfunk versucht, die Aufmerksamkeit der Arbeiter von politischen und sozialen Fragen abzulenken, so organisiert bei uns der Rundfunk die Arbeiterklasse politisch und unterstützt ihre Verbundenheit mit den Bauern. Im Haus des Bauers angekommen, strebt das Radio mit seinen Inhalten an, den Bauern aus dem engen Kreis seiner häuslichen familiären Privatheit heraus- und in die aktive Arbeit zur Umgestaltung seines Alltags hineinzuführen. Das Radio gibt uns jetzt die Möglichkeit, unseren Führern nicht nur in den Kongressen, sondern unmittelbar bei den speziellen Fragen in kleinen Versammlungen und bei Geschäftssitzungen zuzuhören. [Если в капиталистических странах буржуазия путем радио пытается отвлечь внимание трудящихся от политических и социальных вопросов, то у нас радио прежде всего политически организует рабочий класс и практически содействует смычке его с крестьянством. Проникая в избу крестьянина, радио своим содержанием стремится вывести крестьянина из узкого круга его семейных и домашних дел на активную работу за переустройство своего быта. Радио дает теперь полную возможность непосредственно слушать наших вождей не только на съездах, но и по отдельным вопросам на небольших собраниях и деловых заседаниях.]“54

Die Umformung des Alltags der Landbevölkerung und deren Anbindung an die Arbeiterklasse geht über das Radio und verkehrt damit das private Leben in eine öffentliche politische Handlung, die einem theologischen Muster folgt und damit eine dogmatische Ideologie formt. Die russische Historikerin Tatjana Gorjajeva, die in den letzten Jahren einige Archivdokumente veröffentlicht und kommentiert hat, in denen die Entstehung, Etablierung und Zensierung des Mediums dokumentiert wird, vertritt unbeirrt die These, dass das Radio als ein freies Medium geboren, in der Stalinzeit zensiert und institutionell vereinnahmt wurde. Es handelt sich, so Gorjajeva um ein genuin freies oder befreiendes Medium, das von der stalinistischen Diktatur deformiert

54 Bez provoloček v samuju gluš. In: Radioslušatel’. 1929, H.6.

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wurde und bis heute sich von dieser Deformierung nicht befreien kann55. Damit befindet sie sich im Einklang mit Marshall McLuhan, übersieht jedoch, dass das Radio vor allem an der Institutionalisierung und Vereinnahmung des öffentlichen wie privaten Raums durch die totalitäre Ideologie maßgeblich beteiligt ist. Die wesentliche ideologiebildende Eigenschaft des Radios besteht darin, dass es als ein technisches Wunder innerhalb einer säkularen Gesellschaft eine quasi religiöse Funktion erfüllt56. Ähnlich McLuhans Auffassung vom Radio als ein gemeinschaftsbildendes Medium, das an die archaischen Stammesgesellschaften erinnert, erscheint auch Walter Ongs Technologisierung des Wortes als eine Verbindung aus mündlichen Traditionen, deren technischen Reproduktion und deren Anbindung an die religiöse Sakralität des gesprochenen Wortes57. Aus dieser vermeintlichen Unmittelbarkeit des gesprochenen Wortes, das sich nicht materialisieren lässt, sondern durch die Schrift das Alphabeth lediglich, laut Walter Ong, entfremdet wird, resultiert eine Auffassung von Oralität im Radio als eine Erweiterung des gesprochenen Wortes, das unmittelbar auf den göttlichen Ursprung der Sprache, entsprechend dem 2. Korintherbrief, denn der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig58, verweist. Diese Auffassung, wenn auch unter anderen

55 Vgl. Tatjana Gorjajeva: History of soviet political censorship. Documents & commentaries (ru). Moscow 1997. 56 Vgl.: J. Murašov: Schrift und Macht ab S.23. Murašov spricht von einer Verlagerung des künstlerischen Schaffens als poetische und ideologische Technologie in die Sphäre des Unmittelbaren. Entscheidende Rolle spielt dabei Gor’kijs Hervorheben und Instrumentalisieren von mündlichen Volksdichtungen, die als Vorbild aus einer vorschriftlichen und damit bürgerlich entfremdeten Zeit dem soz. Realismus dienen sollen, die allerdings in einem medialen Kontext sekundärer Oralität des Radios in Erscheinung treten, von Gor’kij als solche an keiner Stelle problematisiert und damit kollektive Identifikationsnarrative schaffen, aus denen sich der Ethos der Gemeinschaft speist (hier S. 25). 57 Vgl. Walter Ong: Oralität und Literalität. Die Technologisierung des Wortes. (dt. Fassung) Opladen 1987. „Die verinnerlichende Kraft des oralen Wortes hängt in besonderer Weise mit dem Sakralen, mit den tiefsten Bezügen der Existenz zusammen. In den meisten Religionen spielt das gesprochene Wort eine wesentliche Rolle in Zeremonie und Andacht. […] Das gesprochene Wort ist immer ein Ereignis, eine Bewegung in der Zeit, ganz ohne die dingliche Ruhe des geschriebenen oder gedruckten Wortes. In der Theologie der Dreifaltigkeit ist die zweite Person der Gottheit das Wort und das menschliche Analogon für dieses Wort ist nicht das geschriebene, sondern das gesprochene Wort. Gottvater ‚spricht‘ seinen Sohn: Er schreibt ihn nicht.“ 58 Vgl. W. Ong: ebd., S.78.

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Vorzeichen, lässt sich in der Proklamation des sozialistischen Realismus von Gor’kij 1934 beobachten, der eine Zuwendung zur Volksdichtungen anstrebt und auch in seinen Projekten wie Literaturnaja učeba oder in Istorija fabrik i zavodov anfänglich programmatisch auf Laienschriftsteller und schreibende Arbeiter setzt, um der künstlichen Ästhetisierung der Sprache zu entgehen. Dabei geht es hier tatsächlich zunächst um eine Abkehr von bürgerlicher literarischer Schreibtradition, die als entfremdet gilt und mit authentischen noch nicht entfremdeten mündlichen Erzähltraditionen des Volkes überwunden werden soll. Daraus ergeht auch Gor’kijs Aufforderung an die sowjetischen Schriftsteller, sich an mündlichen Dichtungstraditionen zu orientieren59. Erst im Kontakt mit dem neuen Massenmedium Radio ergibt allerdings diese Aufforderung an die Schriftsteller, so zu schreiben, als würde man sprechen und damit in die Fußstapfen der Volkssänger zu treten, auch überhaupt einen Sinn. Dass, was Literatur als in der Schrift verankerte Kunst nicht erfüllen kann, wird nun auf das neue akustische Medium übertragen. Man stellt allerdings fest, dass obwohl vom sozialistischen Realismus ein klarer Mediumwechsel des literarischen Schaffens gefordert wird und der Schriftstellerkongress zu einem massenmedialen Spektakel avanciert, die Radioakustik als Ort, von dem nun die neue Literatur sprechen soll, von den führenden Schriftstellern wie Gor’kij, Šaginjan oder Fedin in ihren Vorträgen auf dem Kongress mit keiner Silbe erwähnt wird. Dadurch entsteht eine skurrile Situation: die radioakustische Massenmedialisierung des literarischen Schaffens wird verschwiegen und in gewisser Weise auch tabuisiert. Die entkörperte Stimme im Radio, dessen Träger nie zu sehen ist, erreicht die höchste Priorität und erhebt sich quasi über alle anderen Medien. Im Radio werden Ansprachen von politischen Führern zu rituellen Beschwörungen, die in den Radiozeitschriften in Artikeln zitiert aber auch paratextuell am Rande des Artikeltextes als quasi heilige Botschaften erscheinen. Gleichzeitig wird versucht, die Wirkungsmächtigkeit des gesprochenen, medialakustisch reproduzierten Wortes in den schriftlichen Prozess des literarischen Schaffens zu integrieren und damit eine Schrifttradition zu entwickeln, die die orale Tradition imitiert und damit an die sakrale Konnotation des gesprochenen Wortes als lebendig und wahr anknüpft. Nun soll es die Aufgabe der sozrealistischen Schrift sein, die Saiten der vergangenen Stammesgesellschaft erklingen zu lassen, wie es M. McLuhan dem Radio zuschreibt, und die genuin individualistische literarische Schrift kollektiv sprechen zu lassen.

59 Vgl. J. Murašov: Schrift und Macht in den1920er und 1930er Jahren der sowjetischen Kultur. In: ebd., S.1-45, hier ausführlich S.21-27.

S CHAUPLÄTZE DER R ADIOPOETIK | 111

Die Tatsache, dass die Literatur damit insgesamt zu einem Krisenfall wird, ermöglicht es wiederum, die sozrealistischen Texte insofern aus einer anderen Perspektive zu betrachten, da man sie nun nicht als Ergebnis einer zensierten und politisch sanktionierten Kunstpraxis analysiert, sondern als Versuche betrachtet, mit den veränderten Rahmenbedingungen fertig zu werden. Mit dem Radio wird nämlich ein neuer sozialistischer Nomos geschaffen, von dem aus nun auch die Literatur sprechen soll. Das systematische Verbergen seiner technischen Gemachtheit macht aus dem medialakustischen Raum des Radios einen Lebensraum, in dem der idealisierte Sozialismus funktioniert, in dem aber gleichzeitig als Preis dafür die intime Privatheit des Menschen zugunsten einer permanenten Teilhabe am Öffentlichen verschwindet. Jede private Handlung wird zu einer politischen, die ständig unter der strengen Aufsicht der sakralen Machtstimme steht.

Z WISCHEN E RZÄHLEN

UND

K REIEREN

Es fällt auf, dass in Radiozeitschriften vor allem Geschichten vom Radio erzählt werden, die allerdings auch die die Geschichte des Mediums selbst hagiografisch erzählen. Die Geschichte des Radios zerfällt in einzelne Radiogeschichten, die mit der Zeit immer fiktiver werden und damit die Geschichte des Mediums in eine fiktionale Erzählung von glücklichen radiohörenden Bauern und elektrifizierten Dörfern verwandeln. Gleichermaßen kreiert das Radio auch neue Räume des Politischen, die als radiofizierte Kolchose und als ein Raum erscheinen, in dem der Sozialismus sich verwirklicht hat. Hier wird die Entkoppelung des realistischen Erzählens vom Realen am stärksten deutlich. Denn gerade an solchen Orten, wo die sowjetische Macht aus dem politischen Zentrum am schwierigsten hinkommt, an Orten, die an den Rändern des sowjetischen Imperiums liegen und wo die Wirkungsmächtigkeit der Ideologie sich abschwächt, werden Räume evoziert, in denen der Sozialismus einer Utopie gleich existiert und erfahrbar wird. Es entsteht eine eher transzendentale Verbindung zwischen der politischen Macht im Zentrum und den entlegenen Randregionen, die von dem neuen Medium Radio besonders profitiert. Das Radio ermöglicht eine Verbindung, die nicht an Papier und Buchstabe gebunden ist, sondern sich scheinbar ungehemmt durch das ganze Land verbreitet und an keine Grenzen gebunden ist, so vor allem die Selbstinszenierung des Mediums. Daraus resultiert auch, dass das Radio als bevorzugtes Medium gegenüber der Schrift erscheint, weil es diese unsichtbare Beziehung und die permanente

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Präsenz der politischen Macht an den Rändern des Imperiums scheinbar unmittelbar erfahrbar macht. So wird im Radio die politische Strategie zur Verbreitung ideologischer Propaganda in eine Beziehung zwischen Mensch und Macht umgewandelt, die eine religiöse Verbindung zwischen Mensch und Gott imitiert und die Bestrebungen einer sakralen Aufwertung der politischen Macht unterstützt und bestärkt.

Radiopoetische Motive im Film

S TIMMEN HÖREN IN O DNA Die Poetik des sozialistischen Realismus erschließt neue ästhetische Räume und verlegt damit in den 1930er Jahren ihre Schauplätze tausende Kilometer vom politischen Zentrum ins Altajgebirge, in den fernen Osten, in den tiefsten Norden, in den Kaukasus oder Zentralasien. So entstehen ideale Räume des Sozialismus, in denen das „wirkliche“ Leben stattfindet, wo jeder „richtige“ Mensch hinwill.1 Unabdingbar für das Bestehen dieser sozialistischen Räume ist das Medium Radio, das die Weiten des Riesenreiches überwindet und ihre auch noch so entlegene Regionen mit dem politischen Zentrum in Moskau verbindet. Das Radio garantiert damit die ständige Präsenz der Stimme der Macht und erschafft mit dieser Stimme eine Verbindung und Einheit, die auf das Machtzentrum konzentriert und in Anlehnung an nationalstaatlichen Gedanken, wohl am besten mit C. Schmitts Nomos-Begriff beschrieben werden kann. Als Begriff der räumlichen Landnahme und -teilung eingeführt zielt er vor allem darauf ab, den Prozess einer geografischen Landnahme als einen politischen zu konstituieren und damit staatliche Gründungsvorgänge, in denen Ortung und Ordnung sich verbinden2, als ein Vorgang der völkerrechtlichen Raumordnung

1

Vgl. hierzu Jevgenij Dobrenko. Politėkonomija socrealizma. Moskau 2007, S. 473ff.; engl. Political Economy of Socialist Realism, New Haven 2007, S. 279ff. Dobrenko beschreibt die Affinität des stalinistischen Films der 1930er Jahre zur sowjetischen Peripherie als Konstruktion eines idealen nicht existierenden Raums, in dem sich der Sozialismus als Phantasmagorie entwickelt und in dem die Figur eines unendlich großen Landes kreiert wird, dessen Grenzen sakrosankt werden – Momente, die für die zukünftige Kriegspropaganda aber auch für die Nachkriegskultur des sowjetischen Imperiums entscheidend sind.

2

Vgl. Carl Schmitt. Nomos der Erde. Ebd., S.50f.

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und deren rechtlichen Legitimation zu bestimmen. Um eine Konstitution des neuen Nomos3 geht es, wenn Literatur und Film des sozialistischen Realismus ihre Schauplätze an die äußeren Ränder des Sowjetimperiums verlegen und dort immer wieder neue Orte konstruieren, in denen sich die neue sozialistische Raumordnung legalisieren kann. Besonders im Film wird die Konstituierung der neuen Rechtsordnung immer vom Radio begleitet, das als Stimme der omnipräsenten politischen Macht in Erscheinung tritt. Diese radiophone Stimme der Macht wird auch zum grundlegenden Pfeiler einer sozialistischen Subjektwerdung des Menschen innerhalb der neuen Rechts- und Raumordnung. So wird im Film Odna (Allein, 1931) die Spannung zwischen dem politischen Zentrum und der Peripherie durch die machtvolle Stimme des Radiolautsprechers aufrechterhalten. Der Film handelt von der jungen Lehrerin Kuz’mina, die vor kurzem ihre Ausbildung abgeschlossen hat und nun auf die zentrale Vermittlung ihres ersten Arbeitseinsatzes wartet. Sie ist voller privater und beruflicher Träume: Sie ist verliebt und sucht sich das neue Geschirr mit ihrem Freund aus, sie stellt sich vor allem vor, wie sie den Jungpionieren in der schönen neuen Schule vom wunderbaren Leben im Sozialismus erzählen wird. Ihre Träume werden aber bitter enttäuscht, als sie von der zentralen Vermittlungsbehörde in eine Dorfschule im Altajgebirge geschickt wird. Die junge Lehrerin ist am Boden zerstört und der Film hat damit seinen zentralen Konflikt: Die Protagonistin muss sich nun zwischen ihrem privaten Glück und ihrer Pflicht gegenüber dem sozialistischen Kollektiv entscheiden. Gleich in dem Moment, als sie den Brief aufmacht und von ihrer Versetzung erfährt, rückt die „lebendige“ Stadt, derer Teil sie zuvor noch war, von ihr ab. Die Kamera fokussiert ausschließlich sie. Verloren, geistesabwesend verlässt sie das Verwaltungsgebäude und geht an den schönen Schaufenstern, die sie zuvor noch so begeistert haben, vorbei, bis sie auf einem großen Platz stehen bleibt. Von hohen Gebäuden umrahmt wird der Platz im Bild zu einem geschlossenen Raum, in dessen Zentrum sie isoliert innehält. Hinter ihr ziehen wie in einer Theaterkulisse Wagen und silhouettenhaft

3

Vgl. Ebd., S.50: „Mit jedem Gebietswechsel ist eine Landnahme verbunden, aber nicht jede Landnahme, nicht jede Veränderung der Grenzen und auch nicht jede Neugründung einer Kolonie ist deshalb schon ein völkerrechtlich umwälzender, einen neuen Nomos konstituierender Vorgang. […] Die vielen Eroberungen, Deditionen, Okkupationen, Annexionen, Zessionen und Sukzessionen der Weltgeschichte fügen sich entweder in eine bestehende völkerrechtliche bestehende Raumordnung ein, oder sprengen deren Rahmen und haben, wenn sie nicht nur vorübergehende Gewaltakte sind, die Tendenz, einen neue völkerrechtliche Raumordnung zu konstituieren.“

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Menschen vorbei, die sie nicht beachten. Versunken in ihren Gedanken wird sie erst mit dem Erklingen der Radiostimme von oben aus dem Lautsprecher geweckt und schaut nun etwas irritiert um sich und dann nach oben zum Lautsprecher hinauf. Hier rückt das Radio ins Zentrum der ideologischen Umerziehung der jungen Lehrerin: Die Radiostimme wird zu ihrer inneren Stimme, zur Stimme ihres Gewissens. Der Radiolautsprecher erscheint als wichtigster Kommunikationspartner und zeigt von Beginn an die ideologisch richtige Wegentscheidung. Die räumliche Zuordnung des Lautsprechers auf dem Platz ist nicht möglich, da er ausschließlich in Nahaufnahme gezeigt wird, so dass das Radio seinen Bildraum praktisch selbst erschafft und als überdimensional großer Apparat in Nahaufnahme seine Machtposition gegenüber der kleinen und verwirrten Lehrerin manifestiert. Durch das unsichere Umherschauen der jungen Frau auf dem Platz entsteht der Eindruck, das Radio sei überall, rede auf sie von allen Seiten ein. Und tatsächlich findet hier die omnipräsente Stimme aus dem Radio, die den ganzen Raum erfüllt, in dem Apparat einen sichtbaren Verweis auf den akustischen Raum, der selbst unsichtbar bleibt. Dadurch entwickelt die Radiostimme auch ihre omnipräsente Wirkung. Ohne eine sichtbare menschliche Quelle kommt diese Stimme von überall und erreicht jeden, sie dringt in das Innere des Menschen ein und bestimmt sein Handeln. Im Vergleich zum Radioapparat wirkt die Lehrerin klein und auf dem großen Platz verloren, sie schaut zum Lautsprecher hinauf, als würde sie um Rat bitten. Die Machtverteilung in dieser Filmsituation ist klar: die verwirrte Lehrerin unten ganz klein und der Radiolautsprecher, der über die einzige überindividuelle Wahrheit verfügt unverhältnismäßig groß in der Nahaufnahme und von oben herabblickend. Auch akustisch sind die Prioritäten klar verteilt: Während die Lehrerin zunächst nichts sagt und nur hört, ist es das Privileg der Radiostimme als erste zu sprechen und ihre Botschaft zu verkünden. Daher kann es auch nur als Frevel gegen die allgemeingültige politische Wahrheit gedeutet werden, wenn Kuz’mina nun nicht dem politischen Auftrag folgt und sich auf den Weg der sozialistischen Aufopferung begeben, sondern sich bei den Behörden beschweren will. Ihre individuelle Entscheidung über ihr privates und berufliches Leben wird nun offiziell zu einer politischen Krise. In die Konversation zwischen Kuz’mina und der Radiostimme mischt sich allerdings noch eine andere Stimme ein. Es ist der Chorgesang, der Kuz’mina als Hintergrundmusik begleitet, während sie geistesabwesend auf den großen Platz zuläuft. Immer wieder singt der Chor „bleibe doch, bleibe doch“ und erscheint dabei als die innere Stimme der Protagonistin, die sie in Leningrad hält und davon abhält, ihrer Pflicht nachzugehen. Dieser Chorgesang wird entschieden vom Radio

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unterbrochen, dessen Stimme über den ganzen Platz hallt, allerdings nur für Kuz’mina bestimmt ist. Niemand außer ihr beachtet den Lautsprecher, im Hintergrund laufen die Passanten weiter. Wie eine Beschwörung klingt die Ansprache des Radiosprechers: „Genossen! Es entscheidet sich das Schicksal nicht nur einen oder hundert Menschen, es entscheidet sich das Schicksal von Millionen. In diesem Mmoment soll sich jeder fragen: ‚Was hast du gemacht? Was machst du? Was wirst du machen?‘ [Товарищи! Решается судьба не одного, не сотен, а миллионов людей. В этот момент перед каждым стоит вопрос: ‚Что ты сделал? Что ты делаешь? Что ты будешь делать?‘]“4

Abbildung 7: Ausschnitt aus dem Film ODNA (1930)

ODNA (1930), Regie: Grigorij Kozincev/Leonid Trauberg

4

Odna. Sowjetunion 1931. R: G. Kozincev und L. Trauberg.

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Zwei Stimmen konkurrieren um Kuz’minas Entscheidung: Eine Stimme der bürgerlichen Privatheit mit Anspruch auf ein eigenes Leben und eine andere als Stimme der Macht, die die junge Lehrerin vereinnahmt und in den Dienst des Kollektivs stellt. Der Chorgesang, der wie ein Chor der griechischen Tragödie sich in die Handlung einmischt und die Entscheidung der jungen Lehrerin in Richtung individueller Freiheit lenkt, wird von der Machtstimme im Radio suspendiert. Die Stimme des Volkes, die als polyphonischer Chor in Odna die griechische Tragödie zitiert, wird restlos von einer omnipräsenten Stimme der Macht im Radio verdrängt. An der Aristotelische Poetik angelehnt, wird der Chor im Film wie ein Schauspieler einbezogen, ist ein Teil des Ganzen und beteiligt sich an der Handlung5, allerdings wird er nicht als Teil des Ganzen betrachtet, sondern als Störfaktor ausrangiert. An diesem Punkt bricht der Film deutlich mit den Strategien der klassischen Tragödie und damit auch mit dem tragischen Helden, wie Aristoteles ihn beschreibt: „[…] die Nachahmung von Menschen ist, die besser sind als wir, [man] muss ebenso verfahren wie die guten Porträtmaler. Denn auch diese geben die individuellen Züge wieder und bilden sie ähnlich und zugleich schöner ab.“6

Einige Zeilen zuvor sagt Aristoteles darüber hinaus noch folgendes: „Es ist offenkundig, dass auch die Lösung der Handlung aus der Handlung selbst hervorgehen muss, und nicht […] - aus dem Eingriff Gottes. Vielmehr darf man den Eingriff eines Gottes nur bei dem verwenden, was außerhalb der Bühnenhandlung liegt, oder was vor ihr ereignet hat und was ein Mensch nicht wissen kann, oder was sich nach ihr ereignen wird und was der Vorhersage und der Ankündigung bedarf – den Göttern schreiben wir ja die Fähigkeit zu, alles zu überblicken.“7

Genau an diesem Punkt setzt sich der sozrealistische Film von dem klassischen Drama ab, die er mit dem Chor zitiert. Er bricht damit auch mit dem tragischen Helden des Bürgertums, der sich am griechischen Vorbild orientiert und seine Wirkungsmächtigkeit aus dem individuellen menschlichen Schicksal schöpft. Das Eingreifen Gottes, den Aristoteles aus der Tragödienhandlung verbannt und dies mit der Position des Göttlichen außerhalb der menschlichen Handlung und

5

Aristoteles: Poetik. Übers. und Hg. von M. Führmann. Stuttgart 1982, S. 59.

6

Ebd., S.49.

7

Ebd., S. 49.

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menschlichen Ordnung begründet, verkehrt in Odna zum Eingriff der ideologischen Macht, die sich als Macht der äußeren Sphäre versteht. Mit dem imitierten Eingriff Gottes in die Handlung bricht über Kuz’mina aus dem Radiolautsprecher die omnipräsente Stimme der Macht ein, die sich nicht damit begnügt, ein Teil der Gesamtheit der Handlung zu sein, sondern die Gesamthandlung bestimmt und keinen Widerspruch duldet. Durch das Radio spricht die Stimme der Macht sogar in Kuz‘mina hinein und bringt sie nicht nur auf den ideologisch richtigen Weg, sondern schafft die Grenze zwischen Innen und Außen, zwischen Person und sozialistischer Gemeinschaft ab. Als Folge der radiophonen Vereinnahmung der sowjetischen Macht verschwindet das Individuum gänzlich: der Chor im Kopf verstummt und Kuz’mina entscheidet sich nach einigen Wirrungen für den „richtigen“ Weg. Sie geht ins Altajgebirge, um sich dort als sozialistisches Subjekt zu bewähren. Das Radio löscht und vereinnahmt in Odna jegliche Privatheit und Individualität. Die radiophone Machtstimme wird zur inneren Gewissensstimme der Lehrerin und lässt ihr keine Möglichkeit, über ihre eigene Stimme zu verfügen. Nur für einen kurzen Moment kann Kuz‘mina der Stimme im Radio, die zur gesellschaftlichen Aufopferung aufruft, widersprechen und scheint sich aus einer individuellen Entscheidung als Subjekt innerhalb der Gesellschaft zu konstituieren. Sie bekommt selbst eine Stimme und tritt sofort als direkte Konkurrenz der politischen Macht auf, die von oben aus dem Radioapparat spricht. Dass dieser Versuch zum Scheitern verurteilt ist, wird ebenfalls sofort deutlich, denn selbst Kuz’mina scheint von ihrer Entscheidung nicht überzeugt zu sein. Sie wirkt verwirrt, sucht bei ihrem Freund telefonisch nach Bestätigung für die Richtigkeit ihrer Entscheidung, nicht in den Altaj zu gehen. Sie wird institutionell zwar offenkundig nicht für ihre Entscheidung bestraft oder zum Einsatz im Altajgebirge gezwungen, jedoch wird sie aufs Äußerste moralisch verurteilt. Schließlich findet sie durch eine eindeutig als Klassenfeind markierte Figur des Kleinbürgers im Film Zuspruch und Verständnis für ihre Entscheidung und muss sich jetzt im Angesicht der offensichtlichen ideologischen Verortung ihres Entschlusses im antisowjetischen Milieu endgültig zur sozialistischen Opferung bekennen und in den Altaj gehen. Ihre Subjektwerdung im Sozialismus kann somit nur über Selbstaufgabe und Selbstopferung8 geschehen, die Igor Smirnov als das masochistische Subjekt im Stalinismus beschreibt.

8

Vgl. Igor Smirnov: Psichodiachronologika. Psichoistorija russkoj literatury ot romantizma do našich dnej. Moskva 1994, S. 233 – 304.

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Die Altajregion erscheint im Film als ein geografisch undefinierter Raum mitten im Nirgendwo. Dem Zuschauer eröffnet sich das Bild einer scheinbar grenzenlosen Landschaft, die außer dem Pferdekarren, auf dem Kuz’mina fährt, keine Anzeichen menschlicher Zivilisation aufweist. Irgendwann sind Zaunstücke und einzelne Häuser zu sehen, die zusammen keine Einheit als Dorf darstellen, sondern lediglich isoliert im Bildraum verstreut sind. Während in Leningrad der öffentliche Raum durch Hinweise auf Konsum (Schaufenster mit Kleidern und Haushaltswaren, Marktwagen auf dem Platz usw.) und technischen Fortschritt (Straßenbahn, Autos) geprägt ist und eigentlich ein bürgerliches Leben zeigt, ist der öffentliche Raum im Altaj durch karge Landschaft und Menschenleere gezeichnet. Der Eintritt der jungen Lehrerin in diesen Raum, ihre Abkehr vom städtischen Wohlstand und ihre Entscheidung für die aufopfernde Arbeit in der Einöde des Altajgebirge verleihen diesem Ort zusätzlich eine ideologische Komponente: Das Dorf im Altajgebirge wird zum Ort, wo sich das sozialistische Opfertum vollzieht und wo neue sozialistische Menschen aus ihrem Opferakt heraus neu geboren werden, wie man es an der ideologischen Umerziehung Kuz’minas deutlich beobachten kann. In dieser Einöde, die als Gegenpart zur Großstadt erscheint, wird aber auch die Imagination eines Imperiums und einer Nation suggeriert, über welche die politische Macht durch das Radio immer und überall präsent wacht. Die Bauern im Altaj erscheinen optisch als Kontrast zur modernen Stadt. Mit ihren zerzausten, lumpenartigen Kleidern und ihren dunklen Hütten werden sie auch ideologisch als vormodern gedeutet. Damit wird das Dorf im Altajgebirge zugleich als ein bildungsferner, kulturfreier und politisch unbesetzter Raum inszeniert, in dem Kulaken als Volksfeinde sich unter dem Deckmantel einer funktionierenden Dorfverwaltung frei entfalten können. Es wird also zu Kuz’minas höchster Pflicht, gegen diese Machtstrukturen vorzugehen und dort den neuen sozialistischen Nomos zu installieren. Sie muss ihre politische Mission fast mit ihrem Leben bezahlen, gewinnt jedoch durch ihr Martyrium die Bauern für sich und für die sozialistische Ideologie. Die Bauern entscheiden sich am Ende des Films wie Kuz’mina und wie es bereits in den Städten geschehen ist, für die sowjetische Macht. Sie schreiben einen Brief an die Macht, um die im Sterben liegende Kuz’mina zu retten. Dieses Bittgesuch und auch die Rettung der Lehrerin entwickeln sich zu einem kollektiven transmedialen Ereignis. Die Bauern verfassen schriftlich einen Gemeinschaftsbrief, der sofort nach Moskau telegrafiert wird. Der telegrafierte Text wiederum, der über den drohenden Tod der jungen Lehrerin berichtet, wird vom Radio aufgegriffen, das die Botschaft aus dem Altajgebirge ins politische Zentrum bringt und über das ganze

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Land verbreitet. Wie zu Beginn des Films erscheint ein Radiolautsprecher, dem jetzt viele Menschen aufmerksam zuhören: „Hört, hört! Im Lataj stirbt die Lehrererin Kuz’mina! Nur eine sofortige Operation kann sie retten! Hört, hört!... [Слушайте, слушайте! На Алтае умирает учительница Кузьмина! Только немедленная операция может спасти ее! Слушайте, слушайте!..]“9

Die Kamera wandert über die besorgten Gesichter der Radiohörer, während die Radiobotschaft in Novosibirsk bereits gehört wurde und die Anweisungen für die Luftrettung telegrafiert werden. Dann sieht und hört man wieder den Lautsprecher und die Radiostimme: „Hört, hört! Für die Rettung der eingefrorenen Lehrerin Kuz’mina durch die Entscheidung des Volkskomitees startet ins Altajgebirge..! [Слушайте, слушайте! Для спасения замерзшей учительницы Кузьминой по постановлению НарКомата из Новосибирска вылетел на Алтай!...]“10

Auch jetzt erreicht die Radiostimme alle in der Sowjetunion. Von glücklichen Gesichtern der Arbeiter in der Stadt wandert die Kamera ins Altajgebirge und zeigt auch dort glückliche Bauern, die in die Ferne schauen und jetzt das erblicken, was im Radio nicht zu Ende gesprochen wurde: Als Triumph der sowjetischen Macht erscheint im Himmel das Flugzeug, das Kuz’mina vor dem Tod rettet. Durch Ineinandergreifen verschiedener Medien wie Schrift (gemeinsam verfasster Brief der Bauern), Filmbilder und Radioakustik wird am Ende des Films die Sowjetunion als eine geschlossene Einheit inszeniert, die durch die Stimme der Macht im Radio zu einer Nation zusammenwächst. Die Radioansprache selbst entwickelt sich im Film zu einer Beschwörung, deren hypnotischer Wirkung nicht nur die junge Lehrerin unterliegt, sondern die sozialistische Gemeinschaft insgesamt innehält, wenn die Stimme ertönt. Auch der Brief der Bauern führt erst zur Rettung der Lehrerin, als sie im Radio zu einer das ganze Land umfassenden Botschaft wird. Am Ende des Films wird nun deutlich, wer in der sozialistischen Gemeinschaft die Berechtigung zu sprechen hat und wer nicht: Während die Sprechversuche der jungen Frau zu Beginn des Films als egoistisch und antisowjetisch inszeniert wer-

9

Ebd.

10 Ebd.

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den, entwickelt sich ihr Werden zum sozialistischen Menschen zu einem Trauerspiel, in dem der vollständige Verlust der Individualität und des individuellen Sprechens zum sozialistischen Opfertum und Martyrium wird, aus dem sich die neue sozialistische Gemeinschaft schöpft. Im Altajgebirge avanciert die Lehrerin selbst zu einer Art Medium durch den die überindividuelle Wahrheit des Sozialismus verbreitet wird. Durch sie spricht die Stimme der Macht aus dem Zentrum, sie verbreitet die sozialistische Botschaft, die sie selbst aus dem Radio empfangen hat. So wird Kuz’mina im Altajgebirge zur Auserwählten, die die religiösen Figurationen der Opferung nachahmt. Wie es die Tradition der christlichen Heiligenviten verlangt, folgt nun auf das Bekennen des Heiligen zu seinem Glauben die Verbreitung der göttlichen Botschaft und Bekehrungsarbeit, die Kuz’mina nun innerhalb politischer Agitationsarbeit reproduziert. Während Kuz’mina den Schülern im Dorf vom Sozialismus und seinen technischen Errungenschaften wie von Wundern erzählt, erscheinen im Kontrast dazu die sibirischen Schamanen, die ihren rituellen Tanz aufführen. Hier wird der Übergang von der Religion der Schamanen zur politischen Theologie des Sozialismus offensichtlich, wobei auch in säkularisierter Form erscheinende christlich-orthodoxe Herrschaftsstrukturen in die Welt der Schamanen eindringen, wenn Kuz’mina neben der Aufklärungsarbeit auch gegen die Machtstrukturen im Dorf vorgeht und aktiv die neue, allerdings stark christlich motivierte Rechts- und Normordnung zu konstituieren versucht. Während sie nun die Menschenmassen, wie ihre christlichen Vorgängerinnen, für die neue Ordnung gewinnt und von der einzigen Wahrheit der neuen politischen Ideologie überzeugt, erhält sie Zuspruch auch von oben. Denn als sie allein im Dorf des Altajgebirges im Sterben liegt, ist es die sowjetische Macht aus dem Zentrum, die ihr ein Flugzeug schickt und sie so vor dem Tod rettet. Die schriftlich verfasste Bittschrift der Altajbauern verwandelt sich in eine Radiostimme, die über das ganze Land fliegt und völlig fremde Menschen in einer gemeinsamen Erfahrung von Glück verbindet, als sie an der Rettung der Lehrerin teilhaben. Kuz’mina wird von einer Macht gerettet, die selbst nie in Erscheinung tritt, sondern nur über neue technische Medien wie Telegraf, Telefon, Radio, Flugzeug stets vermittelt wird und dabei selbst unsichtbar und unhörbar bleibt. Denn Stalins Stimme im Radio ist die von Levitan, seine physische Gestalt sind Schauspieler im Film und Abbildungen auf Plakaten, auf Fotografien und in der Malerei. Sämtliche Führer der Partei, die in Ungnade gefallen sind oder ideologisch suspendiert wurden, verschwinden selbst als Abbildung, werden auf Fotos und im Film wegretuschiert, Bilder werden übermalt, Skulpturen entfernt.

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Es ist aber auch die gleiche unsichtbare Macht, die Menschen im ganzen Land zu einer Nation des Riesenimperiums vereint. In den letzten Sequenzen des Films wird deutlich, dass die Gesamtheit der Sowjetunion, ihre unendliche Weite, die zu Beginn des Films durch die leere Landschaft im Altajgebirge suggeriert wird, im Grunde nur durch die Radiostimme zu einer Einheit wird. Aus unterschiedlichen Menschen an unterschiedlichen Orten, die nun abwechselnd im Film gezeigt werden, wird eine Art Gemeinschaft im Geiste, die nun eine gemeinsame Mission hat, nämlich die Rettung der Lehrerin. Es schwingt damit auch in gewisser Weise der Gedanke der Auserwähltheit der sowjetischen Nation als eine Gemeinschaft mit, die den Auftrag der Menschenliebe in sich trägt, wie M. Šaginjan im Abschluss ihrer Rede auf dem Schriftstellerkongress sagt: „Es scheint, als ob jetzt nur wir allein auf der ganzen Welt über den Schlüssel der Liebe verfügen, die die Menschen verschiedener Hautfarbe und Rasse, verschiedener Nationen und Sprachen; mit anderen Worten sind wir die einzigen in der ganzen Welt, die die Idee des neuen Menschen in unserer Kunst austragen. [Кажется, будто сейчас только одни мы во всем мире обладаем ключом любви, связующей людей разной кожи и расы, разных наций и языков; иначе сказать – только одни мы во всем мире вынашиваем в нашем искусстве идею нового человечества.]“11

Die Idee der Auserwähltheit und der Schöpfungsauftrag des neuen sozialistischen Menschen rekrutiert somit auch auf christliche Eschatologie12, die sich in Šagin-

11 Mariėtta Šaginjan: »Rede auf dem ersten Allunionskongress sowjetischer Schriftsteller« [Stenogramm]. In: Ob iskusstve i literature. Stat’i i reči 1933–1957. Hg. von E. V. Starikova. Sovestskij pisatel’. Moskva 1958, S.140-148, hier S. 146. 12 Eschatologie (griech. έσχατογία) als Lehre von den letzten Dingen wird im Christentum als Erwartung des Reich Gottes verstanden. Dabei ist die Ankunft des Reich Gottes bereits mit der Menschwerdung Christi in Gang gesetzt, so dass die Institution der christlichen Kirche wie auch die Figur des christlichen Königs als Platzhalter fungieren, bis die erneute Ankunft Christi das Reich Gottes auf Erden feiert. Es ist also nicht nur ein Ereignis in der Zukunft, das als jüngstes Gericht, Wiederkunft Christi usw. erwartet wird, sondern auch ein bereits in Gang gesetzter Prozess, der die Christen mit ihrem Glauben jeden Tag aufs Neue der Erlösung immer etwas näher bringt. Vgl. dazu Hans Blumenberg: Die Legitimität der Neuzeit. Frankfurt a. M. 1988, Kap. IV: Verweltlichung durch Eschatologie statt Verweltlichung der Eschatologie, S. 46 – 62. Bei Blumenberg erscheint die Ausbildung des Geschichtsbegriffs nicht aus der Verweltlichung und Historisierung des Eschatologiebegriffs, sondern aus der Verlagerung der vom

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jans Rede aus der religiösen Erwartung der Erlösung in einen politischen Aktionismus verwandelt. Die christliche ewige Erwartung verkehrt ins Innerweltliche des Politischen, die sozrealistische Kunst wird zu einem Ort, an dem das eschatologische Versprechen eingelöst werden soll, denn nur sie trage, so Šaginjan, die Idee der neuen Menschheit in sich. So wird die Rettung der Lehrerin nicht nur als ein Akt der Nächstenliebe und des Zusammenhalts einer Gemeinschaft dargestellt, sondern bildet erst überhaupt die Voraussetzung dafür, dass sich die sozialistische Gemeinschaft an diesem Martyrium der jungen Frau als ein Ganzes empfinden kann. Es ist der Körper einer kranken, im Sterben liegenden Kuz’mina, an dem sich die sozialistische Gemeinschaftsstiftung vollzieht. Allerdings, und damit unterscheidet sich Kuz’mina von ihren christlichen Vorgängerinnen, die ein Martyrium erleiden, muss die junge Lehrerin nicht sterben, um im Tod als Heilige gerettet zu werden. Sie wird von der politischen Macht mit einem Flugzeug gerettet. Damit verlagert sich der christliche Opferungsmechanismus in die Sphäre der innerweltlichen politischen Macht, die wiederum durch die Rettung Kuz’minas sich selbst als die höchste Macht der äußeren Sphäre inszenieren kann, denn es bleibt allein ihr vorbehalten, den Menschen in seinem Bitten zu erhören. Die Erlösung erfolgt sofort und bleibt nicht lediglich ein Versprechen, das immer weiter in die Zukunft verlagert wird. Damit knüpft die sowjetische Macht zwar an der christlichen Eschatologie an, setzt sich allerdings gleichzeitig von ihr ab, indem sie die ewige Erwartung des Reich Gottes ins Diesseits des Politischen übersetzt und das Heilsversprechen der christlichen Religion medialästhetisch mit Hilfe neuer Massenmedien und technischen Errungenschaften, wie Radio, Telegraf, Flugzeug einlöst. Die sozialistische Gemeinschaft wird nun durch die Stimme aus dem Radio zum Zeugen der Errettung der Leidenden und begibt sich damit in den Bann der christlichen Zeugnis- und Nachahmungskultur. Die glücklichen Menschen, die der Stimme im Radio lauschen und sich über die Rettung der jungen Lehrerin

jüngsten Gericht zu erwartende Heilsereignisse aus der Zukunft in die Vergangenheit (Bl. Verweist hier auf Johannes, der das Heilsgut Gottes bereits im Besitztum des Menschen verortet). Damit entsteht eine eschatologische Enttäuschung, die nun nicht mehr auf Rettung wartet, sondern sich nur noch in Furcht vom jüngsten Gericht und Weltzerfall befindet und damit auf Gnadenfrist und Aufschub hofft. Somit gründet sich die Säkularisierung nicht auf der Verweltlichung der Eschatologie, sondern auf der Verweltlichung durch Eschatologie und damit Intensivierung des Weltgeschehens und der Besinnung auf das weltliche Dasein.

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freuen, werden zu Beteiligten der Rettung und damit auch zu potentiellen Nachahmern des sozialistischen Opfers, das am Beispiel Kuz’minas konstituiert wird. Betrachtet man den Märtyrer über seine etymologische und religiöse Bedeutung heraus eher als Medium kultureller Serienproduktion13, wird der sozialistische Opferungsmechanismus etwas klarer: Um sich als Gemeinschaft zu konstituieren und sich als solche auch politisch und ideologisch zu legitimieren, muss die Kunst des sozialistischen Realismus, die die Idee der neuen Menschheit in sich trage (Šaginjan), unentwegt politische Märtyrer produzieren. Während das sozialistische Heilsversprechen im politischen und gesellschaftlichen Alltag stets unerreicht bleibt, stiftet die sozrealistische Kunst und Literatur mit ihren bereitwilligen Opfern und Märtyrern eine Genealogie des Sterbens14, die auf religiöse Pathosformeln wie rituelle Tötung, Selbsttötung, Passion und Kreuzigung zurückgreift, diese massenmedial in Film und Radio reproduziert und dadurch die religiöse Ritualität medial beschleunigt und verstärkt. Und so entsteht der Moment der Andacht, indem die radiohörenden Menschen verharren, während sie vom Martyrium und der Rettung der Lehrerin Kuz’mina erfahren, vor allem

13 Vgl. Sigrid Weigel: Schauplätze, Figuren, Umformungen. Zu Kontinuitäten und Unterscheidungen von Märtyrerkulturen. In: Märtyrer-Porträts: von Opfertod, Blutzeugen und heiligen Kriegern. Hg. von S. Weigel. 2007, S. 11-41, hier bes. S. 20: „Denn der Märtyrer ist ein Medium kultureller Serienproduktion. Nicht nur in der klassischen christlichen Version der Imitatio Christi stellen sich Märtyrerfigurationen als Modell der Nachahmung dar. Wo ein Märtyrer auftritt, da wird es bald viele geben. Die Nobilitierung des Todes als – selbstloses, tragisches oder heroisches – Opfer für einen höheren Wert, sei es für die Wahrheit, den Widerstand gegen einen Tyrannen, für die Gemeinschaft oder – in der Moderne – für den Fortschritt von Wissenschaft und Technik, macht den Märtyrer zu einem Vorbild, das Nachfolger hervorbringt und auf diese Weise eine Genealogie von Märtyrern stiftet. Bei ihr handelt es sich, im Gegensatz zur Genealogie leiblicher Reproduktion, die Leben vermehrt, allerdings um eine Genealogie des Sterbens. An die Stelle der consanguinitas (lat. Verwandtschaft) tritt die Gemeinschaft der conmartyres – und in deren Folge das Publikum als Affektgemeinschaft der compassiones. Hierbei wirken Bilder, Erzählungen und Gedenkrituale als Katalysatoren, die zur steten Fortsetzung der Kettenbildung beitragen.“ Für die Betrachtung des sozialistischen Opfers ermöglicht eine solche Sichtweise auf den Märtyrer als Medium der kulturellen Serienproduktion eine Analyse des sozialistischen Helden jenseits seiner ideologischen Formung. Sie macht ihn zum Glied einer Nachahmungskette, in der sich eine Gemeinschaft dadurch konstituiert, indem sie unentwegt neue Opfer und deren Nachahmer produziert und die sich auf einer Genealogie des Sterbens stützt. 14 S. Weigel: Ebd., S. 20.

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dank der Nachahmungskultur, die den religiösen Opferkult zum massenmedialen radioakustischen Ereignis macht.

V ERTOVS R ADIO -K LÄNGE . S IMFONIJA D ONBASA ZWISCHEN ALTER UND NEUER R ELIGION Anders als in Kozincev und Traubergs Odna erscheint das Radio in Vertovs Entuziazm (1930) nicht als Lautsprecher auf der Straße, sondern als Kopfhörer, die als Grenze zwischen der Welt der realen Klänge der Straße und der Welt der Radioklänge beschrieben werden können. Es ist eine Grenze, die den Übergang von der christlichen Orthodoxie zur sakralen Ideologie des Sozialismus markiert und ins Zentrum des Geschehens die Radiohörerin stellt. Es ist auch die gleiche Radiohörerin, die sich nun von der Radioübertragung infiziert, die neue politische Ikone (Lenins Büste) formt. So erscheint das Radio im Film als ein Medium der Demystifizierung der christlichen Religion, schafft jedoch zugleich eine neue magische Welt, in der die technischen Medien zu Agenten neuer Sakralität werden, so zumindest die neueste Forschung15.

15 Vgl. dazu Oksana Bulgakova: sovetskij sluchoglaz: kino I jego organy čuvstv. NLO. Moskau 2010. Ihre ausführliche Filminterpretation baut O.B. auf der Opposition „Klang gegen Auge“ und beschreibt Vertovs Experimente mit dem Filmton und seine dokumentarischen Tonaufnahmen zum Film „Entuziazm“ im Vergleich zu seinem Begriff des „Kino-Auge“. Sie beobachtet dabei eine epistemische Auseinandersetzung mit der Ton- und Filmtechnik, die Vertovs „Entuziazm“ schließlich zur Magie wird. Sie schreibt: „...радиослушательница перешагивает в реальность, создаваемую фильмом, и начинает действовать в ней, создавая статую нового святого. В этот момент иконоборческий характер увертюры, утверждающий ухо над глазом, звук над изображением, радио над церковью, фильм над старыми изобразительными искусствами, самоуничтожается. Увертюра демонтирует старые эмблемы, чтобы заменить их новыми и передать им те же символические и магические функции. В этом смысле вся акция может быть действительно названа «Последнее воскресение». Радио лишь демистифицирует старые сакральные изображения и переворачивает принятую хиерархию чувств (не глаз над ухом, а ухо над глазом), и звуковое кино со своими немиметическими трюками утверждается как новая техника репрезентации над пластическими искусствами XIX в. В первой части симфонии статуя рабочего действительно заговорит, и камера представит пространства и формы новой сакральности (фабрика, митинг, демонстрация). Технические

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Tonaufnahmen der Straßengeräusche konkurrieren zu Beginn des Films mit den Klängen im Radio: Während die Vögel zwitschern und die Kirchenglocke schlägt, schlägt das Metronom den gleichmäßigen Rhythmus der kommenden Symphonie, die mit der Stimme des Radiosprechers eingeleitet im Radio übertragen wird. Die junge Frau mit den Kopfhörern lauscht der Symphonie Posledneje voskresen’je (Der letzte Sonntag), sie lacht etwas verwundert, freut sich aber allem Anschein nach über das, was sie nun hört. Anhand des Umgangs mit dem Kopfhörer, kann man feststellen, dass der Apparat der Radiohörerin bekannt ist. Es ist keine technische Wunderkiste, mit der sie nicht umgehen kann, jedoch verrät ihr Gesicht auch, dass das akustische Erlebnis für sie immer noch voller Überraschungen ist. Die Symphonie, die im Radio übertragen wird und auch für den Filmzuschauer zu hören ist, wird nun auch von Bildern begleitet. Die Musik und die Bilder erzählen eine gemeinsame Geschichte, dabei wird aber deutlich, wie sie beide unabhängig voneinander funktionieren: So wie Entuziazm ohne weiteres als Stummfilm funktionieren würde, kann auch die Musik ohne jedes Bild die Geschichte vom Übergang von der alten christlichen Religion zur neuen politischen Ideologie, um die es in Vertovs Film ausschließlich geht, akustisch erzählen. Vertov selbst legt einen großen Wert auf die bewusste Verknüpfung zwischen Bild und Ton in seinem Film und notiert in den schriftlichen Aufzeichnungen zum Entstehen des Entuziazm: „Wir […] gingen den – unter unseren Bedingungen – Weg des größten Widerstandes, den Weg komplizierter Wechselwirkungen von Bild und Ton.“16

Vertov dokumentiert akribisch seine Aufnahmearbeiten und Schwierigkeiten mit der Aufnahme von Originaltönen und realen Geräuschen. Auf den Vorwurf der Kollegen und Filmkritiker hin, seine Symphonie sei eine Kakophonie17, verteidigt er die Überlagerung von Klängen und Geräuschen in Entuziazm:

медиа – радио и кино, избавленные от старых техник отображения, - займут опустевшее место старого ауратического искусства и будут действовать как агенты новой сакральности. Эпистомолог Вертов превратиться в мага.“ 16 Dziga

Vertov:

Wir

erörtern

den

ersten

Tonfilm

von

„Ukrainfilm“:

„Donbasssymphonie“. In: Dziga Vertov. Schriften zum Film. München 1973, S. 125. 17 Vgl. Oksana Bulgakova: Sovetskij sluchoglaz: kino I jego organy čuvstv. NLO. Moskau 2010, S. 45-52.

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„Wenn in dem Film „Enthusiasmus“ die Industriegeräusche der Großen Allunionsesse (das Industriegebiert in Donbass) auf den Platz kommen, in die Straßen eintreten und mit ihrer Maschinenmusik gigantische Festtagsdemonstrationen begleiten; wenn andererseits die Klänge der Militärkapellen, die Klänge der Demonstrationen, die Wanderfahnen, die Roten Sterne, Begrüßungsrufe, die Kampflosungen, die Reden der Redner usw. sich mit den Klängen der Maschinen, mit den Klängen der miteinander wetteifernden Werkhallen durchdringen; wenn die Arbeit an der Liquidierung des Planrückstandes im Donbass vor uns wie ein kontinuierlicher ‚Subbotnik‘, wie ‚Tage der Industrialisierung‘, wie ein Rot-Stern-Feldzug, wie eine Rot-Banner-Kampagne vorbeizieht, dann sollen wir das nicht als einen Mangel ansehen, sondern als einen ernsthaften zukunftsreichen Versuch.“18

In Vertovs Film übernimmt das Hören die leitende Funktion. Wenn zu Beginn des Films die Radiohörerin als ein Medium erscheint, durch den der Ton als eine eigenständige Filmsprache spricht und in den Film einleitet, entwickelt sich der Film, der einer musikalischen Form der Symphonie und keiner narrativen Struktur folgt, zu einem pädagogischen Poem. Der Ton fungiert als Schulung des sowjetischen Ohrs und kreiert einen idealisierten utopischen Hörer, der zugleich auch Künstler ist, der aus seinem blinden Hören künstlerische Inspiration schöpft19, wie das Mädchen zu Beginn des Films, das nach dem Radiohören die Büste Lenins formt. Neben der Säkularisierungs- und Industrialisierungsgeschichte, die in Wechselwirkung zwischen Ton und Bild erzählt wird und nach dem Vorbild der Musik wie eine Symphonie20 aufgebaut ist, erzählt Vertov auch die Geschichte von der Formung einer neuen politischen Ordnung, die allerdings nicht nur auf Säkularisierungs- und Industrialisierungsmechanismen, die im Film eine zentrale Rolle einnehmen, funktioniert, sondern in gleichem Maße von einer Umformung theologischer Begriffe profitiert. So transformiert sich der Enthusiasmus aus der göttlichen Inspiration zum enthusiastischen Einsatz der sozialistischen Industriearbeiter für den Aufbau des Sozialismus. Posledneje voskresenje (ru. Übers. der Sonntag od. die Auferstehung), dass den letzten Sonntag und damit auch die Zerschla-

18 Dziga Vertov: Ebd., S. 129. 19 Vgl. Oksana Bulgakova: Ebd., S.74. Vgl. auch Sabine Hänsgen: „Audio-vision“. O teorii i praktike rannego sovetskogo kino na grani 1930-ych godov. In: sovetskaja vlast’ I media. Hg. von S. Hänsgen, Hans Günther. St. Peterburg 2006, S. 350-365. 20 Vgl. Oksana Bulgakova. Ebd., S. 52-55.

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gung der Kirche und der Religion ankündigt, entwickelt sich selbst zur Geburtsquelle einer neuen Ideologie, die aus dem Zerschlagen der alten Religion neu aufersteht. Auch das Mädchen, das die Büste Lenins formt und damit die neue Ordnung ankündigt, ist von Enthusiasmus erfüllt. Die göttliche Inspiration wird damit in eine radioakustische umgeformt. Vom Radio inspiriert wird das Mädchen selbst zum Medium, durch das die neue Ideologie spricht. Sie schlüpft in die Rolle der Schöpferin der neuen Religion und erschafft neue Ikonen der politischen Ideologie21, die als ein künstlerisch ästhetischer Akt in Erscheinung treten. Durch das Hören entsteht ein schöpferisches Sehen22, das neue Ideologie anstelle des religiösen Glaubens setzt und zugleich eine sakrale Handlung nachahmt, in dem der künstlerische Akt sich durch das Hören inspiriert zu einem politischen Schöpfungsakt entwickelt. Die Radiohörerin wird aus ihrer Passivität des Hörens gelöst und erhebt sich zum Agens der neuen politischen Macht. Vertovs Mädchen lauscht der Stimme der neuen Ideologie im Radio und wird dann selbst zum Ort, an dem sich die neue Ideologie formiert und nach außen getragen wird. Dabei fungiert das Mädchen mit kurzen Haaren lediglich als Ohr, das den Klang der neuen politischen Ideologie aufnimmt, der sie durchdringt und von da an sich über das ganze Land verbreitet. Die Szene beginnt mit der Nahaufnahme der Ohrmuschel und zeigt danach den Kopf des Mädchens. Der Körper des Mädchens bleibt größtenteils ausgeblendet. Es trägt während des Radiohörens eine weiße Bluse, die sein Körper verhüllt und seine Weiblichkeit damit unkenntlich macht. In der Aufnahme, in der es Lenins Büste formt, kann man zwar ihren Körper sehen, allerdings wird er auch hier durch eine Art Tunika fast vollständig verhüllt. So konzentriert sich die Kamera nicht nur auf das Gesicht des Mädchens, sie reduziert damit auch den weiblichen Körper auf ein Minimum, so dass davon nur das Ohr als signifikanter Körperteil übrigbleibt. Mit dieser Reduktion des Körperlichen wird die ästhetische Schöpfung der neuen Ideologie, die Formung Lenins Büste, zur reinen Kopfgeburt. Das Radio, die Stimme der Macht, spricht durch die Frau hindurch und macht sie damit zum Durchgangsmedium der politischen Botschaft, die durch das Ohr empfangen wird.

21 Vgl. Sabine Hänsgen: „Audio-vision“. O teorii i praktiki rannego sovetskogo kino na grani 1930-ych godov. In: sovetskaja vlast’ i media. Hg. von Hans Günther und Sabine Hänsgen. S.Petersburg 2006, S. 350-365. 22 Vgl. Sabine Hänsgen: „Audio-vision“. Ebd., S. 357.

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Abbildung 8: Dziga Vertov. Entuziazm (Simfonija Donbassa).

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Dziga Vertov. Entuziazm (Simfonija Donbassa). Restaurierte Version 1930 (1972), 65. Rest. von P. Kubelka. Österreichisches Filmmuseum.

Das androgyne Mädchen ist für die Radikalität des ersten Teils des Films, der Ouvertüre Vertovs Symphonie, wie es O. Bulgakova in ihrer Analyse kategorisiert, symptomatisch. Hier bricht Vertov mit Konventionen: das durch die Musik geschulte Hören wird von der Geräuschkulisse mit Orchester, Kirchenglocken, Straßen- und Maschinenlärm ersetzt, der traditionellen Geschlechterkonvention wird ein Mädchen entgegengebracht, das sich visuell dem christlich motivierten gesellschaftlich anerkannten Weiblichkeitskonzept entzieht. Dem Problem der weiblichen Sinnlichkeit, das spätestens seit Augustinus mit seinem Erbsündekonzept als Gefahr des wallenden Blutes 23in Erscheinung tritt, erteilt Vertov eine Absage, indem er die androgyne Optik des Mädchens diametral zur mütterlichen 23 Vgl.mit Aurelius Augustinus: Bekenntnisse. In: Augustinus’ Werke. Übertr. von Wilhelm Thimme. Zürich 1950. Bd.1. In seinen Bekenntnissen thematisiert Augustinus bei der Beschreibung der Theatererlebnisse des Alypius die Gefahr des „warmen Blutes“: „Denn sobald er das Blut sah, durchdrang ihn wilde Gier, konnte er sich nicht mehr abwenden, sondern war von dem Anblick wie gebannt, schlürfte Wut ein und wusste es selbst nicht, hatte seine Wonne an dem frevlen Kampf und berauschte sich an grausamer Wollust.“ Die Ambivalenz des Blutes als sakraler Symbol der Opferung Christi auf der einen Seite und als Symbol der Erbsünde und sinnlicher Wollust auf der anderen

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Weiblichkeit des Christentums und damit die christliche Akzentuierung auf den Eintritt des Göttlichen in die profane Welt durch die Frau als menschlichen körperlichen Akt24 außer Kraft setzt. Dennoch findet auch bei ihm eine Fortsetzung der Nachahmung des Heiligen statt. Auch bei Vertov wird die Geburt einer neuen politischen Ordnung unmittelbar an den weiblichen Körper gebunden. Genauer betrachtet ist das Christentum eine Religion, die vor allem ein neues politisches Ordnungs- und Wertesystem dem Polytheismus der Antike entgegen setzten will und dabei selbst vom tragischen Potenzial des Opferungsaktes der Antike profitiert 25. Es schreibt die antike Menschwerdung Gottes durch eine Frau fort, allerdings schafft es sich damit gleichzeitig auch ein neues Problem an, nämlich der Fleischwerdung des Geistes und der Vergänglichkeit des Menschen, mit dem es im Hinblick auf die Ewigkeit des Reich Gottes stets konfrontiert wird. Der ständige Versuch des Christen, das Weltliche und das Körperliche zu überwinden und zugleich aber das zerstörerische Ende der Welt immer wieder aufzuschieben und in ewige Erwartung umzuformen26, wird bei Vertov insofern radikalisiert, da dieser ewigen Erwartung eine Innerweltlichkeit entgegengebracht wird, die den christlichen Schöpfungsakt als eine politische Neuschöpfung medialästhetisch reproduziert. Das Mädchen, das die Botschaft durch das Ohr empfängt und in den Schöpfungsakt der neuen Ideologie übersetzt, fungiert als Medium, durch das die neue politische Macht spricht. Das Problem der weiblichen Körperlichkeit als Gefäß, durch den das Heilige in die Welt kommt und unweigerlich den Eros ins Spiel bringt, wird bei Vertov

manifestiert sich damit als eine Figur der kulturellen Repräsentation der weiblichen Opferung und Martyriums bis in die Literatur der Moderne hinein. 24 Zur kulturellen Reproduktion der christlichen Weiblichkeitskonzepte, dessen Ambivalenz zwischen Heiligkeit und Eros und des Eingangs der weiblichen Opferungsakte in die europäische Literatur als Gründungsopfer, Opfer der Tugend, Opfer für die Kunst vgl. u.a. Sigrid Weigel: Lucretia – Exemplum, Gründungsopfer und Blutzeugnis. In: Märtyrer – Porträts. Hg. von S. Weigel. München 2007. Waltraud Pulz: Imitatio – Aemulatio – Simulatio? Leibhaftige Heiligkeit und scheinheilige Leiber. In: Vorbild, Inbild, Abbild. Religiöse Lebensmodelle in geschlechtergeschichtlicher Perspektive. Hg. von Peter Burschel und Anne Conrad. Freiburg im Breisgau 2003. Romy Marschall und Sigrid Weigel: Gottesliebe, Visionen, süße Pein – die imaginierten Martyrien der Mystikerinnen. In: Märtyrer – Porträts. Von Opfertod, Blutzeugen und heiligen Kriegern. Hg. von Sigrid Weigel. München 2007. Albrecht Koschorke: Die heilige Familie und ihre Folgen. Frankfurt am Main 2000. 25 Vgl. S. Weigel: Märtyrer-Porträts (2007). 26 Vgl. H. Blumenberg: Legitimität der Neuzeit (1988).

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ausgeblendet, da die Schöpfung der neuen Ideologie als reine Kopfgeburt dargestellt wird, die durch das Ohr empfangen und in ein Kunstwerk, in ein schöpferisches Sehen, umgewandelt wird. Das Hören erlangt hier einen übergeordneten Status. Nicht nur, weil der Film zu Beginn narrativ auf das Radio verweist und darauf strukturell aufbaut, sondern auch weil das radiohörende Mädchen zur Figur der kulturellen Produktion einer heiligen Handlung, des christlichen Schöpfungsaktes wird, den sie mit der Formung von Lenins Büste nachahmt. Das Hören wird zur Quelle der Neuschöpfung. Auch in Vertovs Arbeitsprozessen, die er in Notizen und kurzen Aufsätzen festhält, wird die Aufwertung des Hörens und der Akustik als eine eigenständige und signifikante Filmsprache deutlich. In seinem Aufsatz Ohne Worte, in dem er die Zuschauerreaktionen auf den Film Drei Lieder über Lenin kommentiert, kommt die Bedeutung der universellen Filmsprache aus Bild und Ton zum Ausdruck: „[…] Herbert Wells erklärt: auch wenn Sie mir nicht ein einziges Wort übersetzt hätten, ich hätte den Film ganz, von der ersten bis zur letzten Einstellung, verstanden. Alle Gedanken und Nuancen dieses Films kommen bei mir an und wirken auf mich ganz unabhängig von den Worten. […] Ungefähr dasselbe sagten zur Vorführung eingeladene Japaner, Amerikaner und Engländer. […] Ebenso war es auch bei den übrigen Vorführungen, als deutsche, schwedische und französische Schriftsteller den Film sahen. Bedeutet das, dass die ganze Arbeit an den Texten, an den Reden usw. umsonst gemacht wurde und dass man diese 1300 Wörter aus Ton und Bild hinauswerfen könnte? Natürlich geht es nicht darum. Es geht nur darum, dass die Darbietung der „Drei Lieder“ nicht über den Wortkanal verläuft, sondern auf anderen Bahnen, auf der Linie der Wechselwirkung von Ton und Bild, auf der Resultante vieler Kanäle, dass sie auf tiefgründigen Bahnen verläuft, manchmal ein Dutzend Worte an die Oberfläche spülend. Die Bewegung der Gedanken, die Bewegung der Ideen geht über viele Leitdrähte, aber in einer Richtung, zu einem Ziel. Die Gedanken laufen von der Bildwand herab, dringen in das Bewusstsein des Zuschauers ein, ohne dass sie in Worte übersetzt würden. […] […] Der Inhalt der „Drei Lieder“ entwickelt sich spiralförmig, mal in Ton, mal im Bild, mal in der Stimme […]. Dieser Film lässt sich schlecht in die Sprache der Worte übersetzen, obwohl er in seiner bildhaften Sprache zu einem beliebigen Massenauditorium leicht Kontakt findet.“27

27 Dziga Vertov: Ohne Worte. In: Schriften zum Film. Hg. von Wolfgang Beilenhoff. München 1973, S. 129-130.

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Vertovs Überzeugung von der Universalität der Filmsprache bekommt in den Drei Lieder für Lenin wohl eine besondere Bedeutung, indem der Film als Requiem für den großen Führer vor allem als Liturgie funktioniert und dadurch eindeutig ein sakrales Ritual zitiert. Jedoch lässt sich diese Wechselwirkung zwischen Bild und Ton, die für ihn zentral ist, im Entuziazm ebenfalls als die Basis jener sakralen Filmbotschaft erkennen, die in spiralförmiger Bewegung das Massenpublikum berauscht. Die Beschreibung dieser berauschenden Wirkung des Films wirkt jedoch nicht entlarvend, sondern untermauert vielmehr die Mystifizierung der audiovisuellen Sprache. Gerade in diesem kurzen Text wird deutlich, dass die dokumentarische Arbeitsweise bei Vertov, die nach der Überwindung jeglicher filmischen Inszenierung und nach der Filmwahrheit strebt, selbst einer Ordnung folgt, die sakrale Ritualität reproduziert. So sagt z.B. Vertov 1934 zur Filmwahrheit: „Mithin war schon im Moment der Geburt des ‚Kinoglaz‘ nicht von Tricks, nicht vom ‚Kinoglaz‘ um des ‚Kinoglaz‘ willen die Rede. Die Rapidaufnahme (das rapide Auge) wurde als Möglichkeit verstanden, Unsichtbares sichtbar, Unklares klar, Verborgenes offenbar, Verhülltes offenkundig, Spiel zu Nichtspiel, Unwahrheit zu Wahrheit, zu Filmwahrheit (das heißt zu einer Wahrheit, errungen mit kinematografischen Mitteln, mit Mitteln des ‚Kinoglaz‘, in diesem Fall mit Mitteln des rapiden Auges) zu machen. […] Keine ‚Tricks‘, sondern die Wahrheit – das ist die Hauptsache in der ‚filmauglichen‘ Arbeit.“28

Wenn Vertov von Filmwahrheit spricht und ihr universelles Verständnis anpreist, so geht es vor allem darum, eine Wahrheit mit filmischen Mitteln zu kreieren, die einzigartig und authentisch ist, eben ein Nichtspiel, das wohl mit Walter Benjamins Aura-Begriff29 des Kunstwerks vergleichbar wäre. Damit kehrt in Vertovs dokumentarischer Arbeit die Ritualfunktion des Films wieder, die das filmische Kunstwerk an seine theologische Funktion erinnert und seine Verwurzelung im

28 Dziga Vertov: Kinopravda. In: ebd., S. 106. 29 Vgl. mit Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. In: Gesammelte Schriften. Hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Bd. I 2, Frankfurt am Main 1978. Benjamin bezieht die Einzigartigkeit des Kunstwerks auf seine Einbettung in der Tradition und Kult und bezeichnet diese als Aura. „… Es ist nun von entscheidender Bedeutung, dass diese auratische Daseinsweise des Kunstwerks sich niemals durchaus von seiner Ritualfunktion löst. Mit anderen Worten: der einzigartige Wert des „echten“ Kunstwerks ist immer theologisch fundiert. Diese Fundierung mag so vermittelt sein wie sie will: sie ist auch noch in den profansten Formen des Schönheitsdienstes als säkularisiertes Ritual erkennbar.“

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Kult preisgibt. Wenn Benjamin die Emanzipation des Kunstwerks aus seinem parasitären Dasein am Ritual30 durch die technische Reproduktion beschreibt, bescheinigt er dem Film seine technische Reproduzierbarkeit auf der Grundlage der hohen Produktionskosten und technischer Komplexität, die den Film bereits im Produktionsprozess zum Masseneigentum, zur Anschaffung des Kollektivs macht und damit seine Einzigartigkeit entscheidend einbüßt. Dass allerdings das Element des Kollektiven das Rituelle des Films unterstützen und sogar verstärken kann, wird bei Vertov deutlich. Die Zerstückelung des Films in einzelne Bilder, die Störung der Chronologie der schauspielerischen Arbeit und die durch den Apparat vertretene Kontrolle des Massenpublikums, die für Benjamin zentral ist und eben als tragende Säule der Befreiung vom Ritual dient, findet auch in Vertovs Kinoglaz ihren Platz. Allerdings wird gerade durch die Aufwertung des Films als Filmwahrheit eine Interaktion mit dem religiösen Kult offensichtlich, in der das Verborgene offenbart und in Verbindung mit dem Filmton eine in sich geschlossene Einheit geschaffen wird. Durch die musikalische Komposition geschultes Hören wird in Vertovs akustischer Filmsprache unterbrochen. An die Stelle des normativen Hörens wird mit Straßen- und Fabrikgeräuschen eine Art universelles Weltrauschen gesetzt. Es entwickelt sich eine universelle Sprache, die ohne Worte verständlich sein soll, die über eine Authentizität verfügen soll, die etwa mit der Vorstellung einer ursprünglichen Sprache als eine tönende von Herder31 vergleichbar wäre.

30 Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. In: ebd., S. 442. 31 Vgl. Johann Gottfried Herder: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. In: Werke

1764 – 1772. Hg. u.a. von M. Bollacher, J. Brummack. Bd. 1. Frühe Schriften. S.. „Schon als Tier hat der Mensch Sprache. Alle heftigen und die heftigsten unter den heftigen, die schmerzhaften Empfindungen seines Körpers, alle starken Leidenschaften seiner Seele äußern sich unmittelbar in Geschrei, in Töne, in wilde unartikulierte Laute. […] Einer der Verteidiger des göttlichen Ursprungs der Sprache findet darin göttliche Ordnung zu bewundern, „daß sich die Laute aller uns bekannten Sprachen auf etliche zwanzig Buchstaben bringen lassen.“ Allein das Faktum ist falsch, und der Schluss noch unrichtiger. Keine einzige lebendigtönende Sprache lässt sich vollständig in Buchstaben bringen, und noch weniger in zwanzig Buchstaben: […] […] es kommt nicht auf den göttlichen, sondern grad auf einen tierischen Ursprung. Vernunft und Sprache taten gemeinschaftlich einen furchtsamen Schritt, und die Natur kam ihnen auf halbem Wege entgegen - durchs Gehör. Sie tönte das Merkmal nicht bloß vor, sondern tief in die Seele hinein! Es klang! Die Seele haschte - da hat sie ein tönendes Wort! Der Mensch ist also als ein horchendes, merkendes Geschöpf zur Sprache natürlich gebildet, und selbst ein

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Mit Vertovs Filmwahrheit und seiner Fixierung auf den Ton erleben rituell produzierte Strukturen und Figuren des Christentums eine mediale Beschleunigung. Vor allem durch das Radio, als bis dahin noch nie da gewesene Sensibilisierung und Erweiterung des menschlichen Gehörs32, werden Elemente der religiösen Gemeinschaftsstiftung des Christentums im Prozess der Etablierung einer politisch-ideologischen Werteordnung wie der Sozialismus in der Sowjetunion zu Beginn der 1930er Jahre produziert. Mit Vertovs radiohörendem Mädchen wird deutlich, wie stark das moderne Massenmedium Radio mit religiösen Symbolen und Figuren interagiert und damit vor allem der Nachahmungskultur des Christentums nahekommt. Die rituelle Reproduzierbarkeit des christlichen Opferungkonzepts und deren performativer Charakter werden in Vertovs Film zu Strategien der Heraus-

Blinder und Stummer, siehet man, müßte Sprache erfinden, wenn er nur nicht fühllos und taub ist. Setzet ihn gemächlich und behaglich auf eine einsame Insel: die Natur wird sich ihm durchs Ohr offenbaren“ (Ü.d.U.d.Sp., S. ) Herder unterscheidet deutlich zwischen Schrift und Sprechen und schafft damit eine Differenz zwischen Unmittelbarkeit der tönenden Rede und der Mittelbarkeit der Schrift als unzulängliches Medium der Vermittlung jener „wilder, unartikulierter Laute“ der ursprünglichen Tiersprache des Menschen. Die Unmittelbarkeit jener tönenden Sprache und die Natur, die sich dem Menschen in ihrem Ursprung durch das Ohr offenbart, macht Herders Sprachphilosophie zu einer Art Wiedergänger der christlichen Dichotomie zwischen Buchstabe und Geist, die sich im „zweiten Korintherbrief“ des Apostels Paulus ausgesprochen wird: „Wir treiben keinen Handel mit dem Wort Gottes wie die Meister, […] von euch ist offenbar geworden, dass ihr ein Brief Christi seid, ausgefertigt von uns im Dienst, geschrieben nicht mit Tinte, sondern mit dem Geist des lebendigen Gottes, nicht auf steinerne Tafeln, sondern auf Tafeln, die fleischerne Herzen sind. […] Denn der Buchstabe tötet, der Geist aber macht lebendig.“ Die Gegenüberstellung des toten Buchstaben und des lebendigen Geistes wird zum programmatischen Unterschied der neuen religiösen Gemeinschaft von der alten, als Absetzung des Christentums vom Judentum und das nicht nur auf einer inhaltlichen Ebene, sondern auch im Medium der religiösen Botschaft. Nicht mit Tinte auf Stein, sondern mit dem Geist auf dem „fleischernen Herzen“ wird nun die Botschaft geschrieben. Der Übergang von „Buchstabe“ zu „Geist“ ist bei Paulus allerdings nicht die endgültige Verabschiedung der Schrift, sondern das Aufleben der Dichotomie zwischen Buchstabe und Geist im Christentum. Vgl. ausführlich dazu David Martyn: Der Geist, der Buchstabe und der Löwe. In: Transkribieren. Medien / Lektüre. Hg. von L Jäger und G. Stanizek. München 2002, S.44 ff. 32 Vgl. Marshal MacLuhan: Understanding Media. Die magischen Kanäle. Düsseldorf 1992, hier bes. S. 340-351.

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bildung einer aufopfernden aber zugleich befreienden Arbeit im Sozialismus umgeformt und verbreiten so die sozialistische Botschaft, die medialakustisch inspiriert wurde, vom radiohörenden Mädchen über die Stadt und die Fabrik in die Dörfer, so dass ein filmischer Raum entsteht, der eine ideologisch verbundene Gemeinschaft evoziert. Die Kompatibilität zwischen einerseits ritueller, performativer Reproduzierbarkeit von religiösen Symbolen und Figuren und andererseits medialen Inszenierungen der politischen Ideologie des Sozialismus wird bei der näheren Beobachtung von Vertovs eigenen Beschreibungen und Bewertungen des künstlerischen Schaffensprozesses offensichtlich. Zur Arbeit an der Entuziazm schreibt er: „Wenn die Begrüßungen und diese Losungen und die Klänge der Militärkapellen und die Klänge der Demonstrationen und die Reden der Redner und die Revolutionslieder in den Betreib eintreten, die Klänge der Maschinen, die Ausrufe der Arbeiter, die Klänge der wetteifernden Werkhallen durchdringen, und wenn andererseits die Industrieklänge der Großen Allunionsmesse auf den Platz kommen, in die Straßen eintreten und mit ihrer Maschinenmusik die sozialistischen Demonstrationen begleiten, verwandelt sich die ganze Arbeit an der Liquidierung des Planrückstands im Donbass in einen gigantischen ‚Subbotnik‘, in einen gigantischen ‚Tag der Industrialisierung‘, in einen Rot-Stern-Feldzug, in eine Rot-Banner-Kampagne. Im Feuerschein der Hochöfen laufen radiotelegrafischen Berichte ein. In die Zukunft heulen und laufen sozialistischen Sirenentöne. Durch Feuerwerke blendender Stahlfunken wird unaufhörlich die Nacht erschossen. Sonne um Sonne richten sich die Bessemerbirnen empor. Die Klänge der Werkbänke fließen mit den Tönen der ‚Internationale‘ zusammen. Und Spezialmaschinen zählen den Enthusiasmus der Donbassarbeiter, in Ziffern verwandelt.“33

Die lange Liste der unterschiedlichen Klänge, die alle an einem Platz zu einem Klang, nämlich der kommunistischen Internationale, zusammenfließen, mündet in einem euphorischen Gemeinschaftsgefühl. Das Erzählen steigert sich mit jeder neuen Wendung immer stärker in den Sog der eigenen Sprechbewegung. Die Erhabenheit der letzten Szenen infiziert den Zuschauer und nimmt ihn in den Bann der kreisenden, vibrierenden Bewegung. Darüber hinaus sagt Vertov über sich selbst als Filmemacher:

33 Dziga Vertov: Donbasssymphonie (Enthusiasmus). In: ebd., S.127-128.

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„Ich bin Filmschriftsteller, Filmdichter. Ich schreibe nicht auf Papier, sondern auf Zelluloid. Wie jeder Schriftsteller muss ich schöpferische Vorbereitungen treffen. Notiere Beobachtungen, Skizzen. Jedoch nicht auf Papier, sondern auf Zelluloid […] Der Unterschied besteht darin, dass ich nicht auf Zelluloid schreiben kann, wenn die Ereignisse bereits stattgefunden haben. Ich kann nur gleichzeitig mit den Ereignissen schreiben.“34

Mit dieser Beurteilung der eigenen Arbeit stellt Vertov zugleich zwei wichtige Anforderungen an das Filmemachen: Indem er sich als Filmschriftsteller bezeichnet, misst er zum einen dem Film und vor allem seiner Filmarbeit die Bedeutung eines medienübergreifenden, Schrift, Ton und Bild vereinnahmenden Gesamtkunstwerks bei. Zum anderen scheint Vertovs Film eine sozrealistische Forderung zu erfüllen, die in unterschiedlichen Ausprägungen in den 1930er Jahren vor allem als literarisch-ideologisches Programm erscheint: Es ist die Forderung nach der Abkehr von einer Literatur der Nachahmung hin zu einer Literatur, die das sozialistische Reale formt. Diese Sehnsucht nach der Generierung eines authentischen Kunstwerks, das dem Leben voraus ist, findet man in N. Ostrovskijs35 Radioansprachen an die jungen Schriftsteller ebenso wie in A. Afinaogenovs36 Rede auf dem 1. Schriftstellerkongress 1934 aber auch in der Zukunftsutopie Der Weg zum Ozean von L. Leonov. Diese Einforderung des Sozrealismus, die in vorherigen Kapiteln unter dem Begriff der Raidopoetik problematisiert wurde, scheint zur Maxime Vertovs Films

34 Dziga Vertov: Tagebücher / Arbeitshefte. Konstanz 2000, S. 60. 35 Vgl. hierzu Radiorede „Wie soll der Schriftstellers unseres Landes sein“ bei der Versammlung des Partaktivs der Stadt Soči : „Я хочу сказать о том, каким должен быть писатель Советской страны. Это прежде всего строитель социализма, а не равнодушный «созерцатель». Это боец. Боец, учитель, трибун. Человек с большой буквы“ oder auch Radiorede bei der Kreiskonferenz der Schriftsteller der AsovSchwarzmeerregion: „Наша литература – литература правды, социалистической правды настоящего и будущего человечества. (...) Мы едва успеваем за жизнью, за ее стремительным, бурным движением вперед. И уже вырисовывается перед нами образ нового, невиданного никогда раньше человека коммунистической морали, прекрасного человека будущего.“ 36 Vgl. mit Aleksandr Afinogenov: Vystuplenije na pervom vsesojuznom s’ezde sovetskich pisatelej. In: P’jesy, stat’i, vystuplenija. Moskva „Iskusstvo“ 1977. Bd. 1, S. 511-512 „Нам нужна не успокоенность, не стремление ограничить свою задачу описанием существующего уровня, уже достигнутого, а нам нужна непрестанная работа изобретательской, конструкторской творческой мысли по созданию образов и характеров нового человека.“

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zu werden, der seine Wirkung und seine Euphorie aus der Wechselwirkung zwischen Ton, Bild und Schrift generiert. Während die Schriftsteller im Radio und auf dem Schriftstellerkongress beklagen, dem Leben mit der Schrift nicht hinterher zu kommen, ist es das audiovisuelle Medium des Tonfilms, das die Unmittelbarkeit des Lebens sprechen lässt. Prekär wird allerdings dabei die Frage der Autorität über das mediale Sprechen: Wer spricht und Wer entscheidet, was gesprochen werden darf? Wie akut dieses Thema auch für Vertov ist, zeigt sich deutlich in der Kritik zum „Entuziazm“ in der Stellungnahme der Zeitschrift Proletarskoje kino zu Vertovs Artikel über den Film. Die Kritik ist nicht personifiziert und trägt den Charakter einer kollektiven Stellungnahme der Redaktion, die Vertov darin beschuldigt, für sich persönlich und seinen Film Werbung zu machen, während der Erfolg des Films allein der kollektiven Errungenschaften des Sozialismus zu verdanken sei. So heißt es unter anderem in dieser Kritik: „Warum hat ENTHUSIASMUS beim sowjetischen Zuschauer keinerlei Enthusiasmus hervorgerufen? […] Weil ‚der Prophet im eigenen Lande nichts gilt‘, weil wir die hohe Kunst nicht schätzen? Daran liegt es sicher nicht, wenn Vertov nicht versteht oder nicht verstehen will, dass der Arbeiter-Zuschauer im Ausland nicht dem Film, sondern der heldenhaften Arbeiterklasse in der UdSSR, nicht den Errungenschaften des Films, sondern den Errungenschaften des sowjetischen Aufbaus, nicht den Erfolgen des sowjetischen Tonfilms (davon gibt es leider zu wenige im ENTHUSIASMUS), sondern den Erfolgen des sowjetischen Aufbaus applaudiert. Einige unserer Regisseure, die im Ausland bekannt geworden sind, neigen dazu, diese ausschließlich ihrer ‚Meisterschaft‘, ihrem ‚Talent‘ zuzuschreiben. Indessen müssen sie begreifen, dass sie ihre Berühmtheit vor allem der Revolution, dem Charakter und dem Leben unseres Landes verdanken.“37

Ähnlich wie die Schriftsteller des sozialistischen Realismus, sieht auch Vertov durch das Kollektiv seine künstlerische Autorität in Gefahr. Auf den drohenden Verlust der eigenen Stimme an das Kollektiv reagiert Vertov mit Krankheit und spricht dabei von nervlichen Erschütterungen: „Als ich mit den vorbereitenden Arbeiten für den Film TRI PESNI O LENINE begann, war ich einer wilden Hetzjagd von Seiten der ‚kinematografischen RAPP‘ ausgesetzt. Man

37 Stellungnahme der Redaktion der Zeitschrift „Proletarskoje kino“ (Nr. 5, 1932) zu Vertovs Artikel „Charlie Chaplin, Hamburger Arbeiter und die Anordnungen des Dr. Wirth“. In: Dziga Vertov. Tagebücher / Arbeitshefte.Konstanz 2000, S, 45.

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wollte mich mit administrativen Maßnahmen dazu zwingen, den Dokumentarfilm aufzugeben […] Wir taten alles Mögliche, um den Film rechtzeitig zum 10. Todestag des Genossen Lenin in Bolschoj-Theater zeigen zu können. Der erste schwere Schock für mein Nervensystem war das Verbot, den Film an diesem Tag im Bolschoj-Theater zu zeigen, obwohl er fertig war. All das wurde begleitet von einer Reihe von Erniedrigungen, Beleidigungen, betonter Missachtung, Spott, Mückenstichen der kleinen, aber doch schädlichen prinzipienlosen Leute. Ich musste mich beherrschen, die Nerven schonen und nur innerlich leiden, während ich nach außen hin Kaltblütigkeit und Ruhe bewahrte. Wie jetzt aus Ergebnissen aus Prof. Sperankskijs Labor hervorgeht, ist ‚nicht nur Schädigung des Trigeminus festzustellen, sondern eine Reihe anderer nervlicher Erschütterungen haben einen dystrophischen Prozess in verschiedenen Geweben und Körpergegenden zur Folge‘. Meine Krankheit entstand als Resultat einer Reihe von Schocks für mein Nervensystem. Meine Krankheitsgeschichte ist eine Geschichte der ‚Unannehmlichkeiten‘, Erniedrigungen und nervlicher Erschütterungen, die mit meiner Ablehnung der Forderung, die Arbeit auf dem Gebiet des Dokumentarfilms aufzugeben, zusammenhängen.“38

Die Arbeit am poetischen Dokumentarfilm bringt den Filmschriftsteller Vertov in Konflikt mit der politischen Macht. Ähnlich wie der literarischen Schrift ergeht es auch Vertovs audiovisuellen Universalsprache - sie wird ihm entnommen. Eine zeitweise Heilung von seiner Nervenkrankheit bringt ihm die Akzeptanz und die Hervorhebung seiner Arbeit durch die Partei, die jedoch nicht die Sprachenteignung rückgängig macht, sondern diese lediglich ins Verborgene des Administrativen verschiebt und ihn aus dem sozialistischen Versorgungssystem einfach ausschließt. Seine Verzweiflung bleibt unbeantwortet: „Du bist unbeliebt! – antwortet mir einer der Leiter unserer Filmorganisationen auf alle meine erstaunten Fragen. […] Wer ist es denn, der mich nicht liebt? Die Partei und die Regierung? Nein. Partei und Regierung haben mich mit einer hohen Auszeichnung gewürdigt. Die Presse? Nein. Die Presse, von der ‚Prawda‘ bis hin zu Zeitungen hinter dem Polarkreis, hat mich mit hervorragenden Rezensionen gewürdigt. Die Öffentlichkeit? Nein. Die Öffentlichkeit hat mich durch die besten Repräsentanten – große Schriftsteller, Arbeiterkollektive, Künstler usw. – an ihren Schild genommen. Wer also liebt mich nicht? Ich bin ein lebendiger Mensch. Und es ist eine unentbehrliche Notwendigkeit für mich, dass man mich liebt.“39

38 Dziga Vertov. Tagebücher / Arbeitshefte. Ebd., S.44, 46. 39 Ebd., S.48.

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Hier in der Suche Vertovs nach jemandem, der ihn liebt, wird die Trennung zwischen dem Künstler und seiner Arbeit, die man in literarischen Arbeitsprozessen des Sozrealismus beobachten konnte, auf den Punkt gebracht. Seine Arbeit ist anerkannt und hoch gelobt, er selbst ist allerdings dabei überflüssig geworden. Damit zeigt sich die Brüchigkeit von Vertovs Enthuziazm. Auf der einen Seite mündet die Loslösung von religiösen Machtmechanismen des Vertovschen Films in einem Umbesetzungsverfahren der religiösen durch politische Symbolik. Auf der anderen Seite aber wird das Streben nach einer unmittelbaren Filmwahrheit, die keine Nachahmung ist, sondern neue Ordnungs- und Erzählstrukturen schafft, zur medialen Reproduktionsserie christlicher Imitatio-Kultur und macht damit Reste einer alten Religion in säkularisierter Form zum Bestandteil der neuen politischen Theologie des Sozialismus.

Z UR S ICHTBARKEIT

DES

T ONS

An den hier angeführten Filmbeispielen wird deutlich, dass die beiden Filme Vertovs Enthuziazm und Kozincevs / Traubergs Odna mit dem Ton im Film sehr unterschiedlich umgehen, gleichzeitig zeugen sie auch von einer Gemeinsamkeit: Sie lenken die Blicke der Zuschauer auf den Ton und verleihen der Akustik uneingeschränkte Machtbefugnisse. Während bei Kozincev / Trauberg die Radiostimme zur Stimme einer totalen Macht avanciert, die über das ganze Land tönt und allein durch ihre Stimme, neue Territorien erschließt, entwickelt sich der Ton bei Vertov in einen allesumspannenden Klang, der die Sphäre des Sakralen mit dem Profanen verbindet und in einer neuen politischen Ideologie zusammenfließen lässt, die sich nicht nur als eine geistige Landnahme entpuppt, die sich alles unterordnet, sondern auch den Regisseur selbst vereinnahmt und auslöscht. Denn schließlich spricht der Enthusiasmus des unaufhörlichen Heldentums des sowjetischen Volks selbst für sich, wie Vertovs Kritiker bemerken und bedarf dabei keines Autors. Der Filmautor verstummt und auch dem sprechenden Individuum im Sozialismus wird seine Berechtigung zu sprechen abgenommen. Es ist nur noch die Stimme der Macht, die sich massenmedial akustisch verbreitet und allein über Sprechbefugnisse verfügt. Damit entwickelt sich das Motiv des Radios, mit dem beide Filme beginnen, einerseits zu einer Aufwertung des mündlichen Sprechens oder des Klangs gegenüber dem Filmbild oder der Schrift und wird andererseits zum Ort von dem aus die politische Macht spricht und agiert, und an dem sie ihre Wirkungsmächtigkeit als eine totale Macht entwickelt.

Radiopoetische Erzählstrategien

K ONSTANTIN F EDIN : S ICH

AUS DER

S CHRIFT

BEFREIEN

Als erstes Fallbeispiel für radiopoetisches Schreiben dient Konstantin Fedin, der speziell in seinem Roman Brat’ja (1927-28) sich der Frage nach der revolutionären Kunst stellt und die Musik als eine universale aliterale Sprache zur allgemeinen überindividuellen Sprache erhebt. Sein Umgang mit der Schrift ist dabei sehr interessant. Abgesehen von Motiven, Metaphern und Figuren in seinem Roman, sind es vor allem immer wieder seine essayiestischen Anmerkungen und Überlegungen zum eigenen schriftstellerischen Schaffen, in denen der Kontrast zwischen dem lebendigen Sprechen einerseits und der totalen Verausgabung während des Schreibens andererseits in den Vordergrund treten. Im Rahmen der Radioberichterstattung zum ersten Schriftstellerkongress wird er von Govorit SSSR 1934 zitiert: „Fedin: ...Wir wollen wissen, wie wir sprechen sollen. Es ist keine Frage der Sprechtechnik, wie man sonst denken würde, es ist eine Frage der Verbindung mit dem Leser, weil wir uns an den Leser immer noch als Briefträger wenden, während das Radio schon längst erfunden ist... (Aus der Rede auf dem Schriftstellerkongress)] [Федин: ... Мы хотим знать, как мы должны говорить. Это вопрос не только технологии, как принято думать,- это вопрос связи с читателями, потому что мы все еще часто обращаемся к читателю при помощи почтальона, в то время как давно уже изобретено радио... (Из речи на съезде писателей)]“1

1

Konstantin Fedin. Pisateli o radio. Govorit SSSR. 1934. H. 19, S. 46.

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Zum einen erkennt Fedin in dieser kurzen Aussage die Unzulänglichkeit der literarischen Schrift, den Anforderungen der sozrealistischen Radiopoetik zu entsprechen, zum anderen taucht eine beinahe verzweifelte Frage auf: „Wie sollen wir sprechen?“ Dabei geht es nicht um methodische oder technische Schwierigkeiten im Umgang mit dem neuen technischen Medium Radio, sondern es handelt sich um eine ästhetische Frage der Literatur, die das Medium von der Schrift zum Sprechen wechselt. Die Dualität zwischen Sprechen und Schreiben, die bei Fedin in diesem Interview offensichtlich wird, stellt den Schriftsteller in eine neue Position: nicht der mystische Zustand des poetischen Hörens ist für ihn von Bedeutung, so wie es Andrej Belyj2 in seiner Poetik entwirft, sondern das neue literarische Schreiben, das vom Sprechen und vom Hören inspiriert wird. In einem Essay O svojej rabote (Über meine Arbeit) schreibt Fedin: „Ich lese schweigend, aber ich sage innerlich jedes Wort genau so, als würde ich es laut lesen. Dabei höre ich jede kleinste Betonung der nicht ausgesprochenen Rede so deutlich, als würde ich einem Vorleser zuhören. Das Selbe geschieht mit mir während des Schreibens: in erster Linie höre ich, was ich schreibe. Deshalb kann ich nicht weiterschreiben bis ich mit dem vorhergehenden Satz nicht vollständig zufrieden bin, so dass er mich mit seiner Unperfektion nicht mehr ärgert. Wenn ich eine Seite oder zwei geschrieben habe, lese ich sie von neuem durch, ich entferne die überflüssigen Sätze und Wörter, ich ersetze sie mit anderen. Manchmal geschieht es dutzende Male, so dass ich schließlich den Text auswendig kenne. Bevor ich mit der Arbeit wiederbeginne, lese ich das früher Geschriebene, ich passe

2

Vgl. Andrej Belyj: Ritm kak dialektika. Chicago 1968. Das poetische Sprechen, die Intonation, die Stimme des Dichters drängt sich in Andrej Belyjs theoretischen Schriften in den Vordergrund, seiner Poetik liegt vor allem der Sprechakt zugrunde. Gerade weil das Sprechen zur wichtigsten Voraussetzung für die Poesie wird, erscheint das Wort in erster Linie als Laut, sowie der Rhythmus gegenüber dem Metrum hervorgehoben wird. Man könnte sagen, dass die avantgardistische Grenzüberschreitung bei Belyj eben nicht in der Zerlegung und Zerstörung der Sprache liegt, sondern im Mediumwechsel der poetischen Sprache von der Schrift zum mündlichen Sprechakt zu begründen sei. Dem poetischen Sprechen geht jedoch jenes poetische Hören voraus, das Belyj al eine Art mystischen Zustand beschreibt. Das Hören einer poetischen Intonation ist eine Art magischer Ort, an dem und nur an dem sich die künstlerische Schöpfung offenbaren kann. Das Wiedergeben dieser sei nur einer Verzerrung im Spiegel gleich, so Belyj.

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mich an den rhythmischen Lauf der Erzählung an und folge ihm gehorsam. Nach dem Abschluss der Arbeit oder, wenn es eine umfangreiche Arbeit ist, lese ich einige Teile davon einigen Zuhörern vor und mache die letzten Korrekturen. [Я читаю молча, но мысленно произношу каждое слово точно так, как произносил бы его, читая вслух. При этом я отчетливо слышу малейшую интонацию непроизносимой речи, как если бы слушал чтеца. То же самое со мной происходит во время письма: я прежде всего слышу, что пишу. Поэтому я не в состоянии перейти к последующей фразе, не закончив предыдущей так, чтобы она не раздражала меня своей неслаженостью. Написав страницу, две, я перечитываю их заново, удаляю лишние фразы и слова, заменяю одни другими. Иногда это происходит десятки раз, так что в конце концов я запоминаю текст наизусть. Перед началом работы я читаю написанное ранее, ввожу себя в ритмический ход рассказа и послушно следую ему. По окончании работы или, она обширна, части ее я всегда прочитываю написанное нескольким слушателям и делаю последние исправления.]“3

Das Hören der eigenen Sprache wird zum Grundpfeiler der literarischen Prosa bei Fedin, das seine Sprachkonzeption voraussetzt. Durch das Vorlesen, das Vertonen eigener Texte wird die Schrift erst lebendig, sie wird zum gemeinschaftlichen Erlebnis, zum Dialog. Damit knüpft Fedin entschieden an der Vorstellung des lebendigen Klangs der Sprache im Gegensatz zum toten Schriftzeichen4 an. Und wenn

3

Konstantin Fedin: O svojej rabote. In: Pisatel’, iskusstvo, vremja. Moskva 1973, S. 385.

4

Der Unterschied zwischen dem lebendigen Geist und totem Buchstaben kann auf die christliche Tradition der Vermittlung der göttlichen Botschaft durch die menschliche Sprache und damit als Dichotomie zwischen dem lebendigen Klang, das unmittelbar Wort Gottes ist und dem toten Buchstaben, von dem sich das Christentum als neue Religion und Werteordnung abzusetzen versucht, in Erscheinung tritt. Zentral dazu ist der 2. Korintherbrief von Paulus (2,17 – 3,6). Vgl. dazu ausführlich David Martyn: Der Geist, der Buchstabe und der Löwe. In: Transkribieren. Medien / Lektüre. Hg. von L Jäger und G. Stanizek. München 2002, S.44 ff. Herders Ursprung der Sprache, die als Sprache der Natur zur Sprache des Menschen wird, indem sie sich dem Menschen durch das Ohr offenbart, wird dagegen zu jener Sprachphilosophie, die der Sprache den göttlichen Ursprung abspricht und damit gleichzeitig eine Unterscheidung zwischen dem lebendig klingenden Wort, das auf den natürlichen tierischen Ursprung des Lauts verweist und dem künstlichen Buchstaben, der sich vom Ursprung immer weiter entfernt. Damit wird Paulus Unterscheidung zwischen dem lebendigen Geist und toten Buchstaben in gewisser Weise von Herders Sprachphilosophie beerbt. Vgl.: Johann Gottfried Herder: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. In: Werke 1764 – 1772. Hg. u.a. von M. Bollacher, J. Brummack.

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auch in etwas anderer Form, so verdichtet sich jedoch in seinen Beschreibungen jene Vorstellung vom innerlich dialogisierten Wort5, die man in M. Bachtins Ästhtetik des Worts vorfindet. Mit der Kritik der klassischen Stilistik und Poetik des Symbolisten beginnend, mündet Bachtins Wort im Roman in einem polyphonen Wort, das von fremden Worten durchdrungen ist und erst dadurch seine Form und seine Individualität erlangt6. Bei Fedin wird die Wechselwirkung zwischen dem eigenen und dem fremden Wort, das polyphone Durchdringen des eigenen Wortes, zu einem Schreibprozess, das von einem ständigen Wechsel zwischen Sprechen und Schreiben bestimmt wird. Das literarische Sprechen und Hören wird zur wichtigsten Voraussetzung des schriftlichen Produktionsprozesses. Dadurch wird Fedins schriftstellerische Ar-

Bd. 1. Frühe Schriften. Herders Sprachphilosophie ist für den sozialistischen Realismus insofern interessant, da die Unterscheidung zwischen Schrift und Sprechen zur Grundvoraussetzung für das literarische Schreiben wird, in der zugleich die Dichotomie zwischen Wort und Buchstabe ausgeblendet bleibt, im sozrealistischen Schreiben allerdings in Verbindung mit dem Radio als ideologisch und kulturell zentrales Massenmedium wieder akut wird und das literarische Schreiben an die Grenzen des schriftlichen Erzählens bringt. Die literarische Schrift wird mit dem sekundär oralen Wort im Radio konfrontiert, das an die christliche Aufwertung des mündlichen lebendigen Wortes erinnert und damit das schriftliche literarische Schreiben als künstlich und formfixiert deklassiert. 5

Vgl. Michail M. Bachtin: Das Wort im Roman. In: Die Ästhetik des Wortes. Hg. von Rainer Grübel. Frankfurt am Main 1979: „Das Wort des traditionellen stilistischen Denkens kennt nur sich selbst (d. h. seinen Kontext), seinen Gegenstand, seine direkte Expression und seine einheitliche und einzige Sprache. Ein anderes Wort, das außerhalb dieses Kontextes steht, wird als nur neutrales Wort der Sprache, als niemandes Wort, als bloße Möglichkeit der Rede betrachtet. Das direkte Wort, wie es die traditionelle Stilistik versteht, trifft, weil einzig auf den Gegenstand gerichtet, allein auf den Widerstand des Gegenstandes selbst (…), es stößt auf seinem Weg zum Gegenstand nicht auf die wesentliche und vielfältige Gegenwirkung eines fremden Wortes. Es wird von niemandem gestört, niemand zweifelt es an. / Doch das lebendige Wort steht seinem Gegenstand keineswegs identisch gegenüber: zwischen Wort und Gegenstand, zwischen Wort und sprechender Person liegt die elastische und meist schwer zu durchdringende Sphäre der anderen, fremden Wörter zu demselben Gegenstand, zum gleichen Thema. Und gerade im Prozess der lebendigen Wechselwirkung mit dieser spezifischen Sphäre kann sich das Wort stilistisch individualisieren und Form annehmen“ (S. 169).

6

Vgl. Michail Bachtin: ebd.

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beit von einem ständigen Mediumwechsel zwischen Schrift und Sprachklang beherrscht. So wie Fedin im Zitat des Govorit SSSR danach fragt, wie man nun im Zeitalter des Radios sprechen soll, wird in seiner Beschreibung der eigenen literarischen Arbeit deutlich, wie die sekundäre Oralität des Radios auf seinen schriftlichen Schaffensprozess Einfluss nimmt. Die Verbindung mit dem Leser, auf die er sich im Radiozitat konzentriert, wird in seinem Aufsatz Über meine Arbeit zur direkten Interaktion mit dem ausgesuchten Leser, mit dem Hörpublikum. Damit findet im literarischen Schreibprozess eine wichtige Verschiebung vom imaginierten Leser zum konkreten Hörer statt, der als Kontrollinstanz fungiert. Hinter der vagen Vorstellung eines Massenpublikums, die im Radiozitat anklingt, kann allerdings eher eine ausgewählte Hörerschaft aus Schriftstellerkollegen und staatlichen Kontrollinstanzen vermutet werden. Die Arbeit am Wort, wie Fedin sein Schreiben bezeichnet, organisiert er in drei Kategorien: „Erstens soll das Wort genauestens den Gedanken bestimmen. Zweitens soll es über musikalischen Ausdruck verfügen. Drittens soll es einen Umfang haben, der von der rhythmischen Konstruktion gefordert wird. [Во-первых, слово должно с наибольшей точностью определять мысль. Во-вторых, оно должно быть музыкально-выразительно. В-третьих, должно иметь размер, требуемый ритмической конструкции.]“7

Während mit dem Streben nach dem präzisen Ausdruck noch nicht der schriftlichen literarischen Tradition widersprochen wird, wird bereits mit der zweiten Kategorie, mit der Forderung nach dem musikalischen Ausdruck des Wortes und seiner rhythmischen Konstruktion in der dritten Kategorie die Unterwanderung Fedins Schrift durch die Akustik deutlich. An einer weiteren Stelle im gleichen Text kommt dieses veränderte Schreiben noch stärker zum Ausdruck: „Am schwierigsten ist es mit der Sprache der Menschen aus dem Kreis der Inteligenzija, die auf die Begrenztheit der Buchsprache beschränkt sind. Es ist leichter, die Besonderheiten der Sprache eines Bauers, eines Handwerkers, eines Händlers zu erfassen, und das Spiel und die Schattierungen des Straßenwortes aufzufangen. [Сложнее всего обстоит дело с языком людей интеллигентного круга, ограниченным условностями книжной речи. Легче улавливать особенности языка крестьянина, ремесленника, торговца, игру и оттенки уличного слова.]“8

7

Konstantin Fedin: O svojej rabote.(1930) In: Pisatel‘, iskusstvo, vremja. 1973, S.383.

8

Konstantin Fedin: O svojej rabote, S. 385.

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Fedins Arbeit am Wort ist von einer deutlichen Abkehr von der schriftlichen literarischen Tradition gezeichnet und führt ihn quasi in die Menschenmassen hinein, die in seinen Ausführungen der literarisierten Kultur fern sind, die in ihrer Mündlichkeit noch versprechen, über authentische, ungeschönte Sprache zu verfügen. Darauf will er seine literarische Sprache aufbauen, die sich bis ins Mark seiner literarischen Produktionsarbeit einschreibt. Der Verweis am Rande seiner Schilderungen: „Apropo, ich kann bis heute mich nicht daran gewöhnen, ein Notizbuch zu führen und mein Tisch ist voll mit kleinen Zettelchen, die ihn wie Schnee bedecken. [Кстати, до сих пор на могу приучить себя вести записную книжку, и стол мой во время письма засыпан бумажонками, точно снегом.]“9

zeugt von einer Inszenierung des schriftlichen Arbeitsprozesses, der nicht mehr im Stande ist, einer schriftlichen Ordnung zu folgen und an Stelle der geordneten Notizen im Notizbuch ein unübersichtliches und zugleich ein lebendiges Chaos der Zettelfetzen darstellt. Dabei beschreibt Fedin die Verzettelung seines Schreibprozesses mit der Schnee-Metapher und verweist damit auf einen Als-Ob- natürlichen Ursprung seiner Sprache. In seinen Überlegungen zum „richtigen“ literarischen Schreiben im Sozialismus beginnt Fedin mit der Kritik an der Poetik des Symbolismus und wirft u.a. Chlebnikov das „bloße Wortspiel“ vor. „Das Spiel mit dem Wort wird zum Kult, es wird zum Wort-Fetisch und nicht zum Ausdruck eines Gedankens oder einer Figur. [Игра со словом становится культом, слово – фетишем, a вовсе не выразителем мысли или образа.]“10

Andrej Belyjs Poetik bezeichnet er darüber hinaus als Schamanentum: „Er hat sich der Sprache wie ein Schamane hingegeben, der sich der Erregung hingibt. Die Sprache war für ihn ein ursprüngliches Phänomen, das physiologisch existieren würde. Das sind Glossen und ihre Anziehungskraft, und Belyj nannte seine Schriften selbst Glossalien. Die Welle der Phrase zog hinter sich die Gedanken Belyjs, die von immer feiner und launiger werdenden Worten nebliger wurden.

9

Konstantin Fedin: O svojej rabote, S. 385.

10 Konstantin Fedin: О masterstve, S. 398.

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[Он отдавался языку именно как шаман, отдающийся самовозбуждению. Язык был для него первозданным феноменом, живущим как бы физиологически. Это – стихия и глоссы, и Белый сам называл свои писания голоссолалиями. Волна фразы тащила за собой мысли Белого, которые становились тем туманнее, чем изощреннее, капризнее было слово.]“11

Belyjs mystische Weltanschauung, so Fedin, hindere ihn daran, sich dem neuen Schrifttum zu öffnen. Damit bleibe Belyj ziellos in seiner metaphysischen Welt gefangen und würde sich der Wahrheit des Realen12 verschließen. Um die Wahrheit des Lebens geht es Fedin, die er zur höchsten Meisterleistung des Schriftstellers erklärt. Die metaphysische Welt des Wortes, die Belyj gefangen nimmt und von der sich Fedin angeblich löst, findet bei ihm allerdings an einer anderen Stelle einen Wiedergänger: Es ist die Aufwertung der Arbeit am Wort zu einer metaphysischen Größe, das sich über den Künstler erhebt und keine Grenzen kennt. Der Schriftsteller wird so mit einer Tätigkeit konfrontiert, die ihn quält und ihn leiden lässt, die sein Leben immer schwerer macht, je näher er dem Ideal des Meisters kommt. „Damit will ich sagen, dass die Erkenntnis der Wahrheit der Realität den Künstler zur Suche nach der Wahrheit der Darstellung ermutigt und die Harmonie zwischen ihnen bewirkt. [...] Man darf das Wesentliche nicht vergessen: der Meister ist kein Titel oder Auszeichnung. Wenn man Meister der Literatur geworden ist, darf man nicht aufhören, sich weiter ständig zu verbessern. [...] Die Erfahrung der großen Schriftsteller hat gezeigt, dass es dem dem erfahrenen Schriftsteller mit der Zeit die Arbeit nicht leichter, sondern schwerer fällt. Aber diese Arbeit ist nicht nur eine Marter, sie ist auch ein Genuss und andauernde Freude. [Этим я хочу сказать, что познание правды действительности толкает художника к поискам правды изображения и обусловливает гармонию между ними. [...] Не надо забывать основного: мастер – это не титул и не звание. Сделавшись мастером литературы, писатель не прекращает работу над мастерством. Мастерство не имеет границ. [...] Опыт больших писателей показал, что мастеру со временем становится не легче работать, а все труднее. Но этот труд – не только мука, он – наслаждение, он – настоящая радость.]“13

11 Konstantin Fedin: O masterstve., S. 425. 12 K. Fedin: O masterstve, S. 425. 13 Konstantin Fedin: ebd., S. 425-426.

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Die Qual des Schreibens ist eben auch ein Genuss und eine wirkliche Freude, die zu einem ständigen Arbeits- aber auch zu einem Disziplinierungsprozess wird. Der unermüdliche Prozess der Arbeit rückt bei Fedin in den Vordergrund und gilt als Weg zur Erlösung. Mit der selbstauferlegten Qual, die schließlich Freude bringt, mit dem etwas befremdlichen genussvollen Leiden lehnt sich Fedin in seinen Essays über seine Arbeit an der christlichen Opferkonstelationen an. Ohne, dass sein physisches Leben auf dem Spiel stehen würde oder dass Fedin als Schriftsteller in seinen Essays tatsächlich zum Märtyrer wird, werden allerdings christliche Opferungsmechanismen in einem Rahmen der ästhetischen Aufopferung für die literarische Arbeit inszeniert und ideologisch reproduziert. An Stelle des lebendigen, klingenden Wortes des Symbolismus tritt die enthusiastische, aufopfernde Arbeit am Wort, wobei die Konfliktbeziehung zwischen der toten Schrift und dem lebendigen, wahren Wort, in die sich die symbolistische Poetik begibt, keineswegs abgeschwächt wird. In seiner Beschreibung des eigenen Arbeitsprozesses wird dieser Konflikt besonders deutlich: er hört immer das, was er schreibt und fügt sich in den Rhythmus der Sprache ein, um weiter arbeiten zu können. Schließlich wird der geschriebene Text einer Kontrolle durch lautes Lesen vom Publikum unterzogen. Er verlässt sich somit nicht auf die Schrift allein, sondern muss sie durch Vorlesen, durch Sprechen seiner Texte absichern. Erst im Prozess des kollektiven Sprechens seiner Texte durch ihn und andere gelangt der literarische Text zu seiner Vollendung. Um die Distanz der Übertragung vom Autor zum Leser möglichst gering zu halten, um einen möglichst genauen Transfer der Botschaft zu garantieren, wird eher auf das Sprechen des „Autors“ und das Hören des „Lesers“ als auf das Schreiben und Lesen vertraut, wobei auch die orale literarische Botschaft nicht ohne die Schrift auszukommen vermag – ein Zustand, das Fedin als eine immer schwieriger werdende Arbeit am Wort und die Erschöpfung nach dem Beenden des Werks charakterisiert14 . Anders als bei Belyj ist die Schöpfung des Wortes nicht in ein mystisches Geheimnis gehüllt und nur als ein akustisch wahrnehmbarer Raum gekennzeichnet, sondern es findet bei Fedin eine konkrete Verortung in seiner Arbeit. Die Umsetzung seiner aufgestellten Schreibtechniken und die Verbesserung seiner Arbeit am Wort, bezeichnet Fedin selbst als einen unendlichen Prozess der von Roman zu Roman immer präziser und vollkommener wird. So charakterisiert er seinen Roman Brat’ja (Brüder) als einen Fortschritt im Vergleich zu Goroda i

14 Vgl. Konstantin Fedin: O svojej rabote. / O masterstve. In: Pisatel’, iskusstvo, vremja. Moskva 1973, S.386

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gody (Städte und Jahre), in dem er eine deutlichere Annäherung an seine drei Kategorien (1. Das Wort als präziser Ausdruck des Gedankens, 2. Musikalität des geschriebenen Wortes und 3. Rhythmische Eingliederung des Wortes in die Gesamtheit des Textes) sieht. In Brat’ja (Brüder) (1924-28) widmet sich Fedin einem akustischen Thema und zeichnet neben der Geschichte der Entwicklung der russischen Intellektuellen nach der Revolution und dem Bürgerkrieg auch die Geschichte des Klangs als eine überindividuelle Sprache des Sozialismus. Dem schriftlichen Text, dem Romansujet, wird in Brat’ja die Sprache der Musik entgegengesetzt, die als literarische Figur im Roman sich quasi aus der Schrift emanzipiert und sich jenseits der schriftlichen literarischen Tradition innerhalb des Romans zu platzieren versucht. Es ist die Musik, die den Protagonisten aus der Einsamkeit des bürgerlichen Individualismus befreit und in die sozialistische Gesellschaft eingliedert und es ist ebenfalls die universelle Sprache der Musik als reine akustische Klangwelt, die den Protagonisten als Intellektuellen aus seiner Schrift- und Buchgefangenschaft befreit, die Fedin in seinen Essays über seine Arbeit als Einschränkung durch Buchsprache der russischen Inteligencija15 bescheinigt. Der Protagonist Nikita Karev steht als Komponist, so wird es immer wieder betont, zwischen zwei Welten, der einen des privaten Lebens, der bürgerlichen Familiengeschichte und der anderen Welt der Musik, die zugleich den Eintritt in das sozialistische Kollektiv bedeutet. In allen Schlüsselmomenten des Romans entscheidet sich der Kampf zwischen diesen zwei Welten immer zugunsten der Musik. Das findet nicht immer aus Nikitas innerer Entscheidung heraus statt, sondern wird von außen bestimmt. Es sind Umstände oder Personen, die Nikita in seine Welt der Musik zurückstoßen und ihn damit gleichzeitig aus seinem Mikrokosmos in den großen Verlauf der Geschichte eingliedern, wie ein Kommentar zur Gesamtausgabe Fedins Werk aus den 1980-er Jahren konstatiert. „Es ist nicht klar wie sich das Leben Nikitas weiterentwickelt, zugleich wird deutlich, dass das Epigraf zum Roman: ‚Auf Wiedersehen, auf Wiedersehen und wenn es für immer ist, dann auf Nimmerwiedersehen!‘, eine Verabschiedung mit der Vergangenheit und gleichzeitig die Erkennung dessen ist, dass das individuelle Glück und das Glück des künstlerischen Schaffens nicht abseits des großen Geschichtsverlaufs erreicht werden kann.

15 Vgl. K. Fedin: Osvojej rabote, S. 385.

150 | R ADIOPOETIK DES SOZIALISTISCHEN REALISMUS [Не ясно как сложится судьба Никиты, но вместе в тем очевидно, что эпиграф к роману: ‚Прошай, прощай, и если навсегда, то навсегда прощай!‘ – это прощание с прошлым, осознание того, что личное счастье, счастье творчества не может быть достигнуто на путях, пролегающих в стороне от столбовой дороги истории.]“16

Es ist interessant festzustellen, dass nicht nur im Roman selbst, sondern auch in der Interpretation der Konflikt zwischen dem Mikrokosmos des Künstlers, pylinka (ein Staubkörnchen), wie es Fedin im Fall Nikitas nennt, und dem Kollektiv, das auf die Kunst und den Künstler Anspruch erhebt, ausgetragen wird. Im Kapitel Konzert reagiert Nikita auf Irinas Unverständnis, warum er denn nicht einfach immer weiter und weiter schreiben könne, mit der folgenden Überlegung: „Sehen Sie, heute zum Beispiel: so ein äußerer Anstoß wie das Konzert. Dort waren zwei Männer, die haben mich geradezu verblüfft. Zuerst nichts als Kerne geknabbert, aber dann vor Begeisterung geschwitzt. Es ist merkwürdig, wie die Musik so was vollbringt, dass solche einfache Leute so tief empfinden, dass sie wirklich so erregt werden. Wie ich das gesehen hab‘, hab‘ ich auf einmal verstanden, es heißt wieder verstanden, dass es Wert ist, zu komponieren. Und manchmal… [- Видите ли... Вот как сегодня: какой-то внешний толчок, этот концерт. Там я видел двух таких человечков, они меня поразили. Сначала грызли семечки, а потом их даже в пот ударило от музыки. Это изумительно, что музыка может такое сделать и что такие люди так глубоко все это понимают, волнуются по правде. Я увидел это и сразу понял, что стоит писать музыку. А иногда...]“17

Erst nach dem Erlebnis im Konzert und nach dem Treffen mit Irina findet Nikita wieder zurück zur Musik. Irina, wie auch die zwei Matrosen aus dem Konzert, führen ihn in die Gemeinschaft hinein, geben seiner Arbeit wieder einen Sinn, befreien ihn von der depressiven Einsamkeit des Künstlers. Erst im Kollektiv bekommt Nikita eine Stimme. Als Einzelner, so evoziert der Text immer wieder, hat er keine Stimme, erst im ständigen Kommunikationsprozess ist er in der Lage, wieder zu seiner Stimme, zu seinem Gehör zu gelangen. Im Gegensatz zu Andrej Belyjs mystischem Ort des poetischen Hörens, seiner ursprünglich klingenden Welt, kann Fedins Protagonist den Klang des Lebens erst durch den Einbruch der großen Geschichte in seinen Mikrokosmos hören. Zum Komponieren braucht er

16 A. Starkova: Kommentar zu: Konstantin Fedin. Brat’ja. In: Sobranije sočinenij v dvenadcati tomach. Tom tretij. Moskva 1983, S. 435. 17 Konstantin Fedin: Die Brüder. Übers. von E. Honig. München 1962, S. 365 / ru.: Brat’ja. In: Sobranije sočinenij v dvenadcati tomach. Tom tretij. Moskva 1983, S. 249.

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einen Anstoß, ein Ereignis, das ihn aus seiner individuellen Ohnmacht und aus seiner inneren Gefangenschaft herauslöst. Diese Sehnsucht Nikitas nach einem realen Erlebnis, das Verlangen nach einem lebendigen Ereignis führt ihn in seine Erinnerungen an die Kriegserlebnisse in Uralsk. „Jetzt war Nikita allein. Niemals noch hatte er die Einsamkeit so unerbittlich, so klar und hart erkannt wie in dieser geflügelten Minute des sonnenübergossenen Dreiklangs Gold, Weiß, Blau. Hätte er sich jetzt der Musik zuwenden wollen, der Versuch, die Freude auszudrücken, wäre unfruchtbar geblieben. Das letzte Mal hatte er an seiner Sinfonie im stürmischen Frühling während des Durchbruchs der Belagerung von Uralsk gearbeitet. An Nikitas Ohr war der Donner der Schlacht gedrungen, die am stillen, stehenden Tschangangsgewässer geschlagen wurde. Wo einst friedliche Fischer ihre Angeln ausgelegt hatten, traten Väter und Söhne zum letzten Gang gegeneinander an. In den Buchten des Flusses, im Dickicht des Schilfs schwammen schwarze Krusten Kosakenbluts. Im Grollen der Schlacht war die Stimme der Vergeltung zu hören, und wiederum, wie in der Kindheit, empfand Nikita die Ruhe der Ermüdung. Alles Unrecht, schien ihm, war durch den Sieg in Tschagan erlöst, Rostislaw gerächt, eine unfaßbare chimärische Schuld Nikitas vor Rostislaw durch diesen Sieg getilgt. [Теперь Никита был один, и никогда еще он не понимал неумолимости одиночества так ясно, так жестоко, как в минуту мимолетной радости при виде залитого солнцем веселого сочетания золота, снега и воздушной синевы. И если бы он обратился теперь к музыке, - попытка выразить эту радость оказалась бы бесплодной. Последний раз он писал свою симфонию бурной весной, когда была прорвана осада Уральска. До Никиты доносился грохот баталии, развернувшейся на мирном стоячем Чагане, где когда-то на берегах сиживали рыболовы с удочками, а тепрь решался последний спор отцов с сынами, и по заводям, в чаще кpуги, плавали разводы казачей крови. В раскатах боя слышался голос возмездия, и опять как в детстве, Никита испытывал покой усталости: всю неправду, казалось ему, искупила победа на Чагане, и Ростислав был отомщен ею, и какая-то неуловимая, призрачная вина Никиты перед Ростиславом была эта победа снята.]“18

Das Donnern des Kampfes, das Tönen der Vergeltung bilden ein schöpferisches Erweckungsmotiv, das als Eintritt Nikitas in den pulsierenden unaufhaltsamen Lauf der Geschichte, in den Prozess der Erneuerung der Welt dargestellt wird und

18 Konstantin Fedin: Brüder / Brat'ja. Ebd., dt. S.359 / ru. S. 246.

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ihn zum Bestandteil dieses stürmischen Frühlings macht. Das Leben, so die Botschaft, bricht in Nikitas Welt ein, erweckt ihn und schafft so die Voraussetzung des künstlerischen Schaffens. Nicht die Abgeschiedenheit des Künstlers, sondern eben die Teilhabe am kollektiven Heldentum, an den großen Umwälzungen der Geschichte ist die Basis seiner Musik. Die Materialschlacht, die völlige Zerstörung und zugleich die Erneuerung, Erweckung dringt zu Nikita durch das Ohr, das Donnern des Krieges wird zur Musik. Nur ist allerdings der Einbruch des Realen in Nikitas Künstlerdasein eine in jeder Hinsicht ästhetische Kategorie, die sich ihm durch das Hören offenbart. Diesen lebendigen Lärm der Welt (das Donnern des Krieges) erlebt Nikita aus seinem Zimmer heraus, den er durch das Fenster wahrnimmt und der ihn zu seiner Symphonie, die unvollendet zu bleiben droht, inspiriert. Es entsteht eine paradoxe Situation in doppelter Hinsicht. Zum einen ist das Reale des Bürgerkriegs nur aus der Entfernung zu hören, nicht für Nikita sichtbar, er ist auch nicht direkt beteiligt, was im Roman ausdrücklich betont wird, d.h., dass die Wahrnehmung des Realen nur durch die akustisch ästhetischen Bilder zu ihm durchdringt, die er nun in Musik übersetzen kann. Zum anderen scheint die Wahrnehmung des Realen erst zu funktionieren, wenn sie zwar bereits in ästhetisierter Form auftritt, jedoch als solche verschwiegen wird. Es ist ein Moment der Verdeckung eines in ästhetisierter Form auftretenden Klangs des Realen. Damit entsteht in Fedins Roman so etwas wie ein Reales der sozrealistischen Musik, das seine Medialität stets verbirgt. Hier wird Fedins Roman mit dem Problem der Undarstellbarkeit des Klangs mit und durch die Schrift konfrontiert, wofür es im Roman keine wirkliche Lösung gibt. Der Versuch, die Unvereinbarkeit zwischen Klang und Schrift zu lösen, mündet in einem expressionistischen Zugang zur Musik als Gesamtkunstwerk, die mit der Beschreibung des Hörens von Wagners Rienzi-Ouvertüre, die zu einem Erweckungsmoment avanciert, deutlich wird. Das Erleben des Konzerts, das Erleben Wagners Musik aber auch das Erleben der Gemeinschaft, die in den zwei von Wagners Musik ergriffenen Matrosen erbildlicht wird, bilden den Moment der Wiedergeburt Nikitas als Künstler. „[…] Er irrte unter den Menschen umher wie in der Steppe, bis ein neuer Frühling stürmisch und unerwartet in seine Einsamkeit einbrach. […] Der Saal war von einem für Konzerte ungewöhnlichen Publikum erfüllt, wie man es sonst in einem Zirkus oder in einem Vorstatvarieté antreffen könnte. […] Es war ein Lärm besonderer Art, die Lebhaftigkeit hatte etwas Feindliches, Straßenmäßiges, als wären die Leute hergekommen, um zu protestieren, sich aufzuregen, Recht zu suchen. […]

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Nikita dachte an Wagner – das Konzert begann mit der ‚Rienzi‘-Ouvertüre – und zuckte mit den Achseln. Während das Orchester seine Plätze einnahm, wuchs der Lärm im Saale. Der Dirigent wartete geduldig, und mit ihm Nikita, erregt und widerwillig gegen die unruhige Menge. Dann lenkte ihn die Musik ab, er begann gewohnheitsmäßig die tonalen Verbindungen zu zerlegen, ihren Zusammenhang mit den Grundverbindungen zu suchen und sich in die Vielfalt der Klangfärbungen hineinzuhören. Die Musik […] klang und schwang, schlagend und siegreich wie ein Kampf. Unmerklich wurde Nikita in den triumphierenden Kreislauf eingereiht, aus der kalten Betrachtung kompositioneller Gedankengänge gerissen: er hörte Musik. [[…] и Никита заблуждал среди людей, как в степи, до тех пор, пока новая весна внезапно и бурно не ворвалась в его одиночество. [...] Зал был наполнен необычайной для концертов толпой, какую легче всего встретить в цирке или в окраинном театре, [...] Стоял сильный шум совсем особого оттенка, и оживление было враждебным, уличным, точно люди пришли сюда протестовать, возмущаться, искать какой-то справедливости. [...] Никита вспомнил о Вагнере (концерт открывался увертюрой 'Риенци') и пожал плечами. Когда музыканты стали размещаться за пюпитрами, шум в зале усилился. Дирижер подойдя к пульту, долго и терпеливо ждал тишины, и вмете с ним ждал её Никита, чувствуя неприязнь к неугомонной толпе. Потом музыка отвлекла его, он стал привычно разлагать звуковые сочетания, отыскивать связь их с основным мотивом, вслушиваться в многообразно комбинированные тембры. Музыка [...] овладевала всеми оттенками звуков, она звенела и сотрясалась, разящая и победная как война. Незаметно она вовлекла Никиту в свой торжествующий круговорот, вырвала его из холдного созерцания композиционных задачек и бросила в простор: он слушал музыку.]“19

Fast selbstverständlich folgt auf die Beschreibung der berauschenden Wirkung von Wagners Musik die Übersetzung des akustischen Erlebnisses im Konzert als Krieg, der vernichtet und bereinigt, zugleich jedoch Nikita aus der künstlerischen Ohnmacht befreit. Aus dem bedrohlichen Lärm der Straße und der fremden Stimmen, die ihn stören und aufregen, wird plötzlich siegreiche Musik, die ihn mitreißt. Zunächst aber, als das Orchester zu spielen beginnt, greift Nikita zum gewohnten Umgang mit Musik: Er analysiert sie, zerlegt sie in Phrasen, sucht nach dem Leitmotiv, bis er sich unbemerkt in den triumphierenden Kreislauf der Musik hineinziehen lässt. Das ist auch der entscheidende Umschwung in der Textsituation,

19 Konstantin Fedin: Brüder / Brat’ja. Ebd., dt. S. 361 / S.246-47.

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Nikita beginnt die Welt anders zu sehen und zu hören. Die Schrift der Musik, die kühle Betrachtung der Kompositionstricks verschwinden, müssen ausgelöscht werden, damit Nikita sich befreien kann und damit der Text einfach nur sagen kann: er hörte Musik. Hier steht Fedins Roman vor einer Herausforderung: Die Welt der Buchstaben, die tote Schrift soll in einen lebendigen Klang des Realen umgewandelt werden. Es scheint allerdings eine unlösbare Aufgabe für den Text zu sein, denn die Schriftgefangenschaft des Romans bleibt stets präsent. Die Buchstaben holen den Text immer wieder ein und lassen ihn nicht los. Die Verwirrung Nikitas in der Welt der Buchstaben und zugleich der verzweifelte Versuch des Romantextes, diese zu überwinden, wird an folgender Stelle deutlich, in der Nikita verstört und verloren durch die Straßen der Stadt herumirrt: „Es gleiten keine Gespenster entlang den schwankenden Wänden und fließen über die Brücken, sondern lebendige Menschen […] Und doch scheint es als wären es keine lebendigen Menschen, sondern Gespenster, Gespenster, Gespenster. Den Regalen der Bibliothek entflohen rauschend sie wie Buchseiten. Sie verstellten sich als wären sie einfache Menschen oder alltägliche Dinge oder feste Materie. Und sie sprechen, sie vermehren sich wie Druckerzeugnisse und sie haben die Menschheit von ihrer Echtheit, von ihrer tierischen Natur überzeugt. Aber das alles ist doch Dickens, die gesammelten Schriften des Schriftstellers Charles Dickens, vorgestellt in einer unvergleichlichen Inszenierung! […] Und wohin, wohin konnte dieses aufgeregte Umherwandern Nikita Karev noch bringen? [Не призраки – живые люди, скользят вдоль зыбких стен, струятся по мостам, (...) И все же как будто – не живые люди, но призраки, призраки, призраки. Сорвавшись с библиотечных полок, шуршащие, как книжные страницы, они притворились простыми людьми, обыденными вещами, осязаемой тленной материей. И они говорят, они плодятся, как печатные изделия, они убедили человечество в вещности, животности своей природы. Но это же – Диккенс, это – полнейшее собрание сочинений Чарльза Диккенса, представленное в бесподобной обстановке! [...] И куда же, куда еще могли привести Никиту Карева эти взволнованные скитания?]“20

20 Konstantin Fedin: Brat’ja. Ebd., S. 34-35 (eigene Übersetzung).

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Das Umherwandern zwischen den toten Seiten verlangt nach einem Ausbruch. Der Versuch kommt prompt: „Der Sturm wühlte Trichter in die Luft. Ein gleitendes Tosen folgte ihm durch die endlosen Straßen. Ströhme rauschten durch die Abflußrohre, Ströme klatschten auf die Dächer. Eine lange stöhnende Tonwelle wälzte sich Nikita entgegen, wuchs und wuchs, wollte ihn fortspülen, zur Seite werfen. Er hörte die Noten, die diese verkneteten Geräusche lösen sollten, sie standen fest in seinem Kopf, er konnte sie vor sich hinsingen, fünf Noten, durch die Nase, die Melodie dieses teilnahmslosen, ungebärdigen Wetters. Wieder sang er die fünf Noten, die ihm im Kopf saßen, stark genug, den gischtenden Kamm der Lärmwelle wegzuscheren, sie in Ruhe aufzulösen. Aber die Welle stürmte wieder auf ihn ein, ihre Geräusche wuchsen ins Breite, umkreisten ihn von allen Seiten, hielte sich auf derselbsen quälend gespannten Höhe. Er wünschte, sie sollte ihm gegen die Brust schlagen, er wollte sie mit mit seinem Körper durchpflügen, beschleunigte seine Schritte, rannte. Schwermut befiel ihn, wie sie den Menschen niederdrückt nach quälenden Traumgesichten. [И закрученный воронками вьюги, исчезнувший в рябой суматохе несчетных пятен, Никита кружил по бесконечным слепым улицам города. Его сопровождал непрерывный сильный шум: (...) В этом шуме сама собой нашлась стонущая длинная волна каких-то звуков. Он слышал они были в нем, он знал их, он даже промычал их одну за другой через нос, числом пять, гнусаво и коротко, точно давая тон безучастной, неподчиняющейся погоде, он даже прикрикнул: - Ну же, ну! И вновь прогнусавил пять нот, сидевших в голове и единственно способных сбить гребень с волны, уронить её, сравнять с поверхностью потока. Но волна продолжала мчаться на него, все усиливая свое звучание, разливаясь в ширь, окружая Никиту со всех сторон и упрямо держась на одной и той же напряженной, мучительной высоте. Ему хотелось, чтобы она ударила его в грудь, он думал рассечь её, он ускорил шаги, побежал, и его охватило то чувство тоски, которое давит человека после томительного сновидения.]“21

Der toten Welt der Bücher und Buchstaben wird eine Ahnung des lebendigen Klangs entgegengestellt, die eine Erlösung verspricht und dennoch unerfüllt bleibt. Diese Passage im Roman ist fast schon symptomatisch für den Konflikt um das tönende Wort der Literatur. Die Ohnmacht und Sehnsucht nach der Befreiung aus der Schrift und die gleichzeitige Gefangenschaft des literarischen Worts in der Schrift werden zur Falle für das literarische Schreiben des Sozrealismus, das nun immer wieder neue Strategien entwickeln muss, um diese Aporie aufzuheben.

21 Ebd., dt. S. 45 / ru. S. 35.

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Fedin greift hier zu Richard Wagners Musik, die als jener lebendige Klang in Erscheinung tritt, nach der sich der Schriftsteller in seinen Essays über seine Arbeit sehnt. Die Musik steht jenseits des Romanplots, mehr noch sie reißt Nikita aus dem Romangeschehen heraus und wirft ihn in die Welt des Klangs. Als direkter Gegenpart von Charles Dickens Gesamtausgabe steht Wagners Oper Rienzi jenseits der Schrift und kann auch von Fedin nicht in die Schrift übersetzt werden. Stattdessen widmet sich Fedin dem Hörpublikum zu, um dem Publikum die Spiegelung Nikitas Musikerfahrung wiederzugeben. Das, was nicht in Schriftworten ausgedrückt werden kann, avanciert nun zu einer Beschreibung eines Gemeinschaftsgefühls, das Fedin zwar nicht mit seinem Leser, allerdings Nikita mit seiner Hörgemeinschaft teilen kann. Mehr noch, erst überhaupt durch das gemeinsame Hören von Wagners Musik, entsteht eine Gemeinschaft, deren Teil Nikita nun werden kann. Als er im Konzert von Wagners Rienzi Ouvertüre ergriffen im Saal um sich herumschaut, fällt sein Blick auf zwei Matrosen, die zuvor noch mit ihrem pöbelhaften Benehmen auf Nikita widerwertig wirkten, und jetzt von der Musik ergriffen auf die Bühne starrten und sich gegenseitig festhielten. „Beide sahen wie gebannt auf den Dirigenten, und als die Musik die Grenzscheide erreicht hatte und abzuklingen begann, blickten sie sich in die Augen, seufzten erleichtert auf und lächelten, als hätten sie die Höhe des Berges gewonnen. Zugleich mit ihnen fühlte Nikita eine glückliche Leichtigkeit. Als die Ouvertüre zu Ende war, klatschte er hingerissen, gemeinsam mit den Matrosen, die aus vollen Halse ihr Bravo schrien, gemeinsam mit der ganzen Menge, die zum Podium strömte. [Оба приятеля не отрываясь глядели на дирижера и, когда музыка достигла предельной силы и начала стихать, переглянулись, глубоко, облегченно вздохнув и улыбнувшись, точно забрались на какую-то гору. И вместе с ними Никита почувствовал счастливую легкость и после конца увертюры хлопал с увлечением в ладоши, заодно с матросами, во всю глотку кричавшими ‚браво!‘, заодно со всей толпой, подступившей к эстраде.]“22

Erst jetzt kann Nikita wahres Glück empfinden, erst durch die von der Musik ergriffenen Matrosen spürt er Leichtigkeit und lässt sich von der Gemeinschaft im Konzertsaal mitziehen, mit der er Eins wird. Es wird jedoch deutlich, dass diese Befreiung aus der toten Welt der Materie, der Schrift, der Noten und Akkorde nur funktioniert, wenn der Text selbst seine Schriftlichkeit vergisst und sich der Metaphysik der kollektiven Stimme hingibt. Der Text entwickelt eine Art metaphysische Ebene, auf der durch das Vergessen der eigenen sprachlichen Medialität die

22 Konstantin Fedin: Brüder / Brat’ja. Ebd., dt. S. 362 / ru. S. 247-48.

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klingende Welt unmittelbar erfahrbar wird, was an das Auflösen des Einzelnen im Kollektiv gebunden ist. In jenem Moment, wenn die Schrift zum Klang wird, verlässt sie den privaten Raum, mehr noch existiert der private Raum einfach nicht mehr. Da wird auch Fedins Gemeinsamkeit zur platonischen Musikauffassung offensichtlich, die er (Fedin) auf sein literarisches Schreiben überträgt. Er verwendet nicht nur die drei platonischen Kategorien Wort, Tonart und Rhythmus23 für sein Schriftkonzept, sondern setzt ganz im Sinne platonischer Lehre die Musik als Grundpfeiler der Staatserziehung ein. Die pöbelnden Matrosen, die Fedins Nikita abstoßend findet, werden durch das Hören Wagners Rienzi umerzogen: Die Musik avanciert in Fedins Roman an dieser Stelle zur klaren ideologischen Erziehung, die Platon in seiner Politeia als einen der wichtigsten Bausteine der individuellen Erziehung durch den Staat erachtet, weil: „am tiefsten in die Seele Rhythmus und Harmonie eindringen, sie am stärksten ergreifen und ihr edle Haltung verleihen: solch edle Haltung erzeugen sie, wenn man richtig erzogen wird, wenn nicht, dann entgegengesetzte. Und zum andern, weil das Fehlerhafte und Schlechte am Kunstwerk wie in der Natur am schärfsten der erkennt, der in der Musik richtig erzogen ist.“24

Während die Welt der Materie sich immer mehr in Nikitas Welt zu toten Buchstaben verwandelt und Menschen zu Dickens Gesammelten Schriften und zu wandelnden Toten werden, macht Wagners Musik lebendig und verhilft zu edler Haltung, erzieht die Matrosen aber auch Nikita zu edleren Charakteren, die der sozialistischen Gemeinschaft entsprechen. Wagners Musik bereinigt die Welt der toten Schrift und entlässt nun Nikita in eine transzendentale Sphäre des Klangs, die zugleich eine geistige Gemeinschaft voraussetzt, die zwischen ihm und dem sozialistischen Kollektiv entsteht. Wenn Nikita der toten Welt der Schrift entfliehen kann, so führen Fedins Versuche sich einer klingenden Literatursprache zu öffnen und sich so auf die radiopoetischen Strukturen des sozrealistischen Schreibens einzulassen in eine Sackgasse. An Stelle einer überschwänglichen Erfahrung der Erlösung und Bereinigung durch die Musik, kommt die schriftliche Narration des Romans an dem Punkt der Unsagbarkeit an, an dem es nicht weitererzählen kann und mit der Feststellung Er hörte Musik25 aus der Welt des alles umfassenden Klangs, der zerstörend und schöpferisch ist, ausgeschlossen bleibt.

23 Platon: Der Staat (Politeia). Stuttgart 1982. Übers. von K. Vretska, S. 179. 24 Platon: Der Staat, S. 183. 25 K. Fedin: Brat’ja, S. 247.

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M ICHAIL Š OLOCHOV : D IE M ACHT

DES

K OLLEKTIVS

Michail Šolochovs Auseinandersetzung mit dem oralen Schreiben und seine Bewältigungsstrategien der radiopoetischen Anforderungen des sozialistischen Realismus sind einer etwas anderen Natur als bei K. Fedin. Auf der einen Seite lässt sich beobachten, dass in Šolochovs Romanen die politische Macht immer wieder als das Medium Schrift in Erscheinung tritt und als solche problematisiert wird. Besonders akut wird die Situation z. B. in seinem Roman Podnjataja celina (Neuland unterm Pflug), in dem die politökonomischen Kollektivierungsmaßnahmen sich im Gespräch der Romanfiguren zum Problem des Mediums Schrift entwickeln, das schließlich weder von den Romanfiguren auf der inhaltlichen Ebene noch strukturell im Text gelöst werden kann. Auf der anderen Seite mündet Šolochovs eigene schriftstellerische Arbeit in einem ständig andauernden Kommunikationsprozess, der seine literarische Schrift zu einem kollektiven Ereignis macht und so dem radiopoetischen System unterwirft. Für Šolochov als schreibende Figur wird dieser Prozess der Kollektivierung und Massenmedialisierung seines Schreibens zu einem ständigen Kampf, der zwischen der Stimme des Autors, der Autorität anderer Stimmen und der Stimme der Macht ausgetragen wird. Besonders in seinen Briefen an unterschiedliche literarische und politische Freunde, staatliche Institutionen, literarische Gremien und schließlich auch an Stalin wird sein Kämpfen um die Verfügung über sein eigenes Wort deutlich. Der Schreibprozess seiner großen Romane Der stille Don und Neuland unterm Pflug wird zu einem öffentlichen Ereignis: Buch für Buch entstehen diese Romane über mehrere Jahre hinweg und werden von zahlreichen Kritikern und Schriftstellerfreunden ständig gegengelesen und so lange überarbeitet, bis sie in die Gemeinschaft des sozialistischen Realismus eingehen dürfen, was Šolochov zur puren Verzweiflung bringt. In den Briefen an A. Fadeev, E. Levickaja26 und Stalin wird die tragische Situation, des Schriftstellers offenbart, der einer ständigen Kritik und Verurteilung im Hinblick auf den Stillen Don unterliegt und dennoch, trotz seiner ziemlich heiklen politischen Situation immer wieder eine beinahe absolute Unterstützung durch Stalin erfährt. Dabei scheint nicht allein die Angst um das eigene physische wie literarische Leben des Schriftstellers der Grund für seine Verzweiflung, die in den Briefen zum Ausdruck kommt, zu sein. Es ist in gleicher Weise die Angst um den

26 Jevgenija Grigorjevna Levickaja (1880-1961): Bibliothekarin, Abteilungsleiterin des Verlags „Moskovskij rabočij“, ist eine der ersten Leser des „Stillen Dons“ und hat sich für die Herausgabe des Buches eingesetzt, Vertraute Šolochovs. Vgl. mit M. A. Šolochov. Pis’ma. Hg. von A. A. Kozlovskij u.a. Moskau 2003.

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Verlust der eigenen Stimme und der verzweifelte Versuch dagegen anzugehen, die hier zum Ausdruck kommen. Die Zeitspanne der Entstehung des Stillen Dons beträgt über 15 Jahre. In einem Brief an E. Levickaja schreibt Šolochov im Dezember 1935: „Ich arbeite Tag und Nacht. Im Frühling gebe ich den ‚Stillen Don‘ ab. Es bleibt noch eine letzte Erzählung und dann ist Schluss! Obwohl ich zu Hause viele Enttäuschungen erlebe, fühle ich mich wie das Geburtstagskind. Ich habe im Stillen nur für mich zehn Jahre des ‚Stillen Dons‘ gefeiert. Denn ich habe bereits im Herbst 1925 begonnen zu schreiben. [Тружусь денно и нощно. К весне сдам ‚Тихий Дон‘. Осталось еще одно последние сказание – и все! Хоть и одолевают всякие домашние огорчения, все же чувствую себя именинником. Тихо отпраздновал (про себя) десятилетие ‚Тихого Дона'. Началто писать осенью 1925 г.]“27

Es sind zehn Jahre, in denen der Stille Don in Teilen in Zeitschriften wie Oktjabr’ und Roman gazeta erschienen ist, einer ständigen Kritik und Polemik unterlag, zensiert, wieder gedruckt, von Šolochov immer wieder überarbeitet wurde, in einzelnen Teilen auch als Buch erschien. Im Oktober 1929 schreibt er an Fadeev: „Ich will dich darüber informieren, dass ich in diesem Jahr den ‚Stillen Don‘ nicht im ‚Oktjabr‘ drucken werde. Der Grund ist einfach: Ich kann keine Fortsetzung abliefern, denn der siebte Teil ist noch unvollendet und der sechste wird inTeilen überarbeitet. [Хочу поставить тебя в известность, что в этом году печатать в ‚Октябре‘ ‚Тихий Дон‘ я не буду. Причина проста: я не смогу дать продолжение, т.к. 7 часть у меня не закончина, и частично перерабатывается 6.]“28

Die Veröffentlichung des 6. Teils des Romans entwickelt sich ziemlich schwierig: 1930 wird das Drucken der Fortsetzung des Stillen Dons von der Redaktion der Zeitschrift Oktjabr’ abgelehnt. Aleksandr Fadeev als Redaktionsmitglied der Zeitschrift, schlägt Šolochov in einem Brief eine Reihe an Änderungen vor, auf die Šolochov in einem Brief an Serafimovič folgender Maßen reagiert: „Sie wissen vermutlich bereits bescheid, dass der sechste Teil des ‚Stillen Dons‘ nicht veröffentlicht wird und Fadeev (er hat mir vor kurzem einen Brief geschickt) schlägt mir solche Korrekturen vor, die ich auf keinen Fall annehmen kann.

27 Zit. nach M. A. Šolochov. Pis’ma. Hg. von A. A. Kozlovskij u.a. Moskau 2003. Brief an E. G. Levickaja. 27.12.1935. Vešenskaja, S. 170-171. 28 Zit. nach ebd., Brief an A. A. Fadeev. 03.10.1929. Rostov na Donu, S. 42-43.

160 | R ADIOPOETIK DES SOZIALISTISCHEN REALISMUS [Вам уже наверное известно, что 6 часть ‚Тихого Дона' печатать не будут, и Фадеев (он прислал мне на днях письмо) предлагает мне такие исправления, которые для меня никак не приемлемы.]“29

Im weiteren Verlauf des Briefs fleht er um die Meinung Serafimovičs und um Unterstützung seinerseits des 6. Teils des Stillen Dons. An E. Levickaja schreibt Šolochov am nächsten Tag: „Er (Fadejev) sagt, wenn ich Grigorij nicht einen von den unseren machen werde, so kann der Roman nicht gedruckt sein. Und Sie wissen, wie ich das Ende des dritten Buches geplant habe. Grigorj endgültig zum Bolschewiken zu machen, kann ich nicht. Die Lorbeeren des Kibalčič interessieren mich nicht. Das habe ich Fadejev auch geschrieben. Was die anderen Korrekturen im sechsten Teile betrifft, habe ich nichts dagegen, aber die ganze Geschichte so zu gestalten, dass sie am Ende so ist, wie es jemandem wünschenswert erscheint, werde ich nicht tun. Das erkläre ich kategorisch. Ich werde es bevorzugen, lieber nicht zu drucken, als den unterschiedlichen Wünschen zu entsprechen und dabei dem Roman und mir selbst einen Schaden zuzufügen. So stehe ich zu diesem Problem. und Fadejev (er ist ja jetzt der Führer...) kann mir beweisen, so viel er will, dass das Gesetz des Kunstwerks ein solches Ende fordert, sonst wird der Roman reaktionär. Das ist kein Gesetz. Der Ton seines Briefes ist unannehmbar. Und ich will nicht, dass man mit mir in einem solchen Ton spricht, und wenn alle diese Aktivisten des RAPP mit mir weiterhin auf diese Art und Weise alle Fragen besprechen wollen, die mit dem Ende des Buches verbunden sind, so ist es besser, überhaupt nichts mit mir zu besprechen. Ich persönlich bevorzuge das Letztere. [Он (Фадеев) говорит, ежели я Грегория не сделаю своим, то роман не может быть напечатан. А Вы знаете, как я мыслил конец 3 кн. Делать Григоря окончательно большевиком я не могу. Лавры Кибальчича меня не смущают. Об этом я и написал Фадееву. Что касается других исправлений (по 6. части), - я не возражаю, но делать всю вещь – и, главное, конец – так, как кому-то хочется, я не стану. Заявляю это категорически. Я предпочту лучше совсем не печатать, нежели делать это помимо своего желания, в ущерб и роману и себе. Вот так я ставлю вопрос. И пусть Фадеев (он же 'вождь' теперь...) не доказывает мне, что 'закон художественного произведения требует такого конца, иначе роман будет объективно реакционным‘. Это – не закон. Тон его письма – безапеляционен. А я не хочу, чтобы со мной говорили таким тоном, и ежели все они (актив РАППа) будут в этаком духе обсуждать со мной вопросы, связанные с концом книги, то не лучше ли вообще не обсуждать. Я предпочитаю последние.]“30

29 Ebd., Brief an A. S. Serafimovič. 01.04.1930. Vešenskaja, S. 51-53. 30 Ebd., Brief an E. G. Levickaja. 02.04.1930. Vešenskaja.

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Die verzweifelte Bitte an Serafimovič um literarische Unterstützung, die in Šolochovs Brief an ihn zum Ausdruck kommt, erweckt noch den Anschein eines erbitterten Kampfes des Schriftstellers um sein Werk und gegen die institutionell politische Zensur des RAPP. Im Brief an Levickaja wird jedoch noch ein anderer Aspekt seiner tragischen Situation deutlich: Es ist die Angst um den Verlust der eigenen Autorstimme im Prozess der dialogisierten Literaturproduktion des sozialistischen Realismus. Das Reden der Anderen über seinen Stillen Don macht Šolochov ohnmächtig gegenüber seinem Roman. Es sind nicht nur zweimal wiederkehrende Plagiatsvorwürfe, die ihn zu schaffen machen, sondern und vor allem der Konflikt zwischen der eigenen Stimme und der Stimme des Kollektivs. In diesem Konflikt verdichtet sich eine ideologisch politische Problematik, die über das literarische Schaffen des Schriftstellers hinausgeht. Bei Šolochov ist der Verlust der Verfügung über das eigene Wort, der Autorität über die eigene Schrift viel deutlicher ausgeprägt, als bei anderen hier vorgestellten Schriftstellern. In seinem Kampf um das eigene Wort wird auch die Dimension des radiopoetischen Schreibens als Verschiebung der individuellen literarischen Schrift des Autors hin zu einem als mündlich inszenierten kollektiven Sprechen deutlich. Es ist vor allem das Radio als wichtiges und als einzig akustisches Massenmedium, in dem ein solches kollektives Sprechen zelebriert werden kann und der ins Literarische übertragen, sich auf individuelle Schriftbesonderheiten des einzelnen Autors als vernichtend erweist. Eben gegen diese Vernichtung des eigenen individuellen Wortes versucht Šolochov anzugehen und entwickelt in diesem Prozess eine durchaus widersprüchliche Beziehung zur sowjetischen Macht: Während er mit regionalen politischen Institutionen in Konflikt gerät und immer wieder von Seiten der Partei dem Verdacht des antikommunistischen Verhaltens und der Unterstützung der Kulaken ausgesetzt wird, erweist sich Stalin in jeder Hinsicht als sein Gönner. Der Schriftsteller schreibt mehrmals an Stalin, bittet um finanzielle Unterstützung seiner Region am Don, die er auch erhält, trifft sich laut der Besucherliste in Kreml von 1931-1940 beinahe regelmäßig mit ihm. 1938 schreibt er eine kurze Nachricht an Stalin: „Lieber Genosse Stalin! Ich komme zu Ihnen in großer Not. Empfangen Sie mich bitte für einpaar Minuten. Ich bitte sehr darum. [Дорогой т. Сталин! Приехал к Вам с большой нуждой. Примите меня на несколько минут. Очень прошу.]“31

31 Šolochov an Stalin. 16.10.1938. In: Pis’ma. ebd.

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Šolochov bittet um ein Treffen mit Stalin, weil er von einer Observation durch NKVD erfährt und so auf Schutz von Stalin hofft. Laut P. Lugovojs32 Aufzeichnungen handelte es sich bei dem Treffen mit Stalin am 23. Oktober 1938 um eine Befragung von zuständigen Agenten des NKVD, im Beisein Šolochovs, durch Stalin persönlich in seinem Büro. Stalin endet die Befragung mit den Worten: „Schade, dass Sie Genosse Šolochov geglaubt haben, dass wir den Lügnern glauben würden. [Напрасно вы, товарищ Шолохов подумали, что мы поверили бы клеветникам.]“33

Als gerechter Machthaber und Richter über Leben und Tod inszeniert, erscheint Stalin nicht nur in dieser Erinnerung von Lugovoj, sondern ist vor allem in den Briefen von Šolochov an ihn als solcher erkennbar. Es sind lange Bittschriften von Šololchov an den Führer im Kreml, in denen es um die schlechte wirtschaftliche Lage der Kolchosen am Don geht, in denen er um finanzielle Unterstützung bittet und sich über die Willkür der lokalen Parteifunktionäre beschwert. Es sind lange, ausführliche Briefe, auf die Stalin, wenn überhaupt direkt, dann mit einer kurzen Notiz antwortet. Nur in einem veröffentlichen Brief an Šolochov äußert sich Stalin mit einem ausführlichen Kommentar zur Lage am Don: „Das ist so. Aber das ist nicht alles Genosse Šolochov. Die Sache ist die, dass Ihre Briefe zu einseitig sind. Darüber will ich Ihnen einige Worte schreiben. (Ihre Briefe sind keine Belletristik, sondern richtige Politik). Ich habe Ihnen für die Briefe gedankt, weil sie die Wunde unserer politischen sowjetischen Arbeit offenlegen. Sie decken auf, wie unsere Mitarbeiter im Kampf gegen die Feinde auch unbeabsichtigt auch Freunde treffen und steigern sich dabei bis hin zum Sadismus. Das heißt aber nicht, dass ich in allem mit Ihnen übereinstimme. Sie sehen bloß eine Seite und sehen sie nicht schlecht. Das ist aber nur eine Seite des Ganzen. Um in der Politik keine Fehler zu machen, muss man auch die andere Seite sehen. [Это так. Но это не все т. Шолохов. Дело в том, что Ваши письма производят несколько однобокое впечатление. Об этом я хочу написать Вам несколько слов. (Ваши письма – не белетристика, а сплошная политика). Я поблагодарил Вас за письма, так как они вскрывают болячку нашей партийно-советской работы, вскрывают то, как иногда наши работники, желая обуздать врага, бьют нечаянно по друзьям и докатываются до садизма. Но это не значит, что я во всем согласен с Вами. Вы

32 Vgl. P. Lugovoj: S krov’ju i potom. In: Don 1988. H. 8, S.135. Vgl. ebenfalls M. A. Šolochov: Pis’ma. IMLI RAN Moskau 2003, S. 211-213. 33 Šolochov: Pis’ma. 2003, S. 213.

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видите одну сторону, видите не плохо. Но это только одна сторона дела. Чтобы не ошибиться в политике, надо уметь видеть и другую сторону]“34

Hier ist es Stalin selbst, der sich als die Macht der Mitte inszeniert und dem Schriftsteller seine einseitige Haltung vorhält. Interessant ist an dieser Stelle vor allem Stalins Einwand, dass es sich in Šolochovs Briefen um keine Belletristik, sondern um Politik handle. Als Politiker der „goldenen Mitte“ inszeniert, zieht Stalin jedoch eindeutig eine Grenze, die nicht überschreitbar ist. Das ist die Grenze des Machtanspruchs und seiner Machtsouveränität. In Gesamtkunstwerk Stalin macht B. Grojs eine interessante Bemerkung im Hinblick auf den Untergang der russischen Avantgarde unter Stalin. In Bezug auf die Unterdrückung der Kunstbewegung durch die Staatsmacht sagt er: „Eine solche Unterdrückung wäre nicht erforderlich gewesen, wenn deren Schwarze Quadrate und „Zaum“-Verse sich tatsächlich auf den ästhetischen Raum beschränkt hätten. Allein die Tatsache der Verfolgung der Avantgarde zeigt, dass sie auf demselben Territorium operierte wie die Macht.“35

Der totale Anspruch der Avantgardekunst in der Sowjetunion, die Welt umzuformen und eine neue Menschheit zu schaffen, steht somit nicht in Opposition zum sozialistischen Realismus, sondern bereitet diesen vor und überschreitet damit gleichzeitig den Bereich des Ästhetischen, wie Grojs im „Gesamtkunstwerk Stalin“ einleuchtend beschreibt. Die Verschränkung des ästhetischen und politischen Raums, die in diesem Brief von Stalin an Šolochov anklingt und genereller zwischen Šolochovs Verhältnis zur Macht und seiner literarischen Arbeit beobachtet werden kann, zeigt zugleich eine bestimmte Eigenschaft des sozialistischen Realismus, die ihn von der Avantgarde entscheidend unterscheidet: Es ist eine Popularisierung und Massenmedialisierung der literarischen Produktion. Während die Kunst der Avantgarde das Leben durch die Kunst kreieren will, konzentriert sich der sozialistische Realismus auf der Massenverbreitung der Kunst. Allerdings soll dies nicht bedeuten, dass die sozrealistische Literatur per se eine Literatur des Volkes und für das Volk war. Das dies nicht der Fall war, konnte man allein an gescheiterten Projekten Gor’kijs wie Literaturnaja učeba als Schulung von Laienschriftstellern oder Istorija fabrik i zavodov als eine Werkstatt für schreibende Arbeiter sehen. Allerdings entwickelt sich die Literatur des sozialistischen Realismus, und dies ist in

34 Stalin an Šolochov. 06.05.1933. In: Šolochov. Pis’ma. 2003, S. 133. 35 Boris Grojs: Gesamtkunstwerk Stalin. München 1988, S. 41.

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erster Linie der Wirkungsmächtigkeit des Massenmediums Radio zu verdanken, immer mehr zu einer Selbstinszenierung der sozrealistischen Literatur als Literatur der Massen. Gerade diese Inszenierungstendenz der sozrealistischen Literatur verleiht Šolochov den Nimbus eines Schriftstellers der Massen, einer Art literarischen „Volkssänger“, macht ihn zur Stimme des Volkes und nimmt ihm zugleich jegliche Verfügungsgewalt über das eigene geschriebene Wort. Und obwohl er zum unangefochtenen Volksschriftsteller und Publikumsliebling avanciert, spricht Šolochov in seinen Briefen nie über seinen Leser, über sein Publikum. Dafür sind es Verlagslektoren, Schriftstellerkollegen, literarische Kontrollorgane, Institutionen, Parteifunktionäre, schließlich Stalin selbst, die zum Leser und auch zum Autor seiner Romane in der totalen Polyphonie des Sozrealismus werden. Die Popularisierung seiner Texte, die durch die Massenmedien wie Presse und Rundfunk begünstigt werden, versetzen den Schriftsteller Šolochov in die Position der absoluten Ohnmacht, die durch seine räumliche Trennung vom Zentrum (Vešenskaja liegt über 1000 km von Moskau entfernt) nur noch offensichtlicher wird. Seine fast schon feindliche Gesinnung gegenüber der Presse äußert sich in einem kurzen Brief an die Redaktion der Literaturnaja gazeta (Die Literaturzeitung), in dem er sich über die Veröffentlichung seines Bildes aufregt: „Ich protestiere gegen die selbsgefällige, unwürdige Darstellung der Unterhaltung mit den Schriftstellern durch die sowjetische Zeitung. Ich denke, dass kein sowjetischer Schriftsteller eine solche niedere Popularisierung seiner Arbeit braucht. Das trifft auch auf mich zu. [Протестую против самочинного, недостойного советской газеты ‚иллюстрирования‘ бесед с писателями. Думаю, что никто из советских писателей не нуждается в такой низкоподобной «популяризации» его работы. В том числе и я.]“36

Neben einer ganz simplen Aufregung über die unerlaubte Veröffentlichung seines Bildes in der Zeitung als Begleitung zum Interview, ist es vor allem die Popularisierung seiner Arbeit, gegen die er polemisiert und als einen billigen Werbetrick charakterisiert. Diese heftige Reaktion auf die Illustrationen in der Zeitung ist nur ein kleines Puzzleteil, das auf die Zerrissenheit und Ohnmacht seiner Situation hinweist.

36 Šolochov an die Redaktion der „Literaturnaja gazeta“ 07.02.1934. Moskau. In : Pis’ma. ebd., S. 153.

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Während er sich gegen die unfreiwillige Werbung in der Presse aufregt, ist dieser Popularisierungsprozess, den er der Zeitschrift vorwirft, längst zum festen Bestandteil seiner eigenen literarischen Produktion geworden, indem er seine schriftstellerische Arbeit in transmediale Prozesse einbindet und z.B. seine noch unvollendeten Romane verfilmen lässt. Der Verlust der eigenen Stimme gegenüber dem Kollektiv, der unweigerlich immer mehr mit dem Weiterschreiben von Tichij Don (Der stille Don) und Podnjataja celina (Neuland unterm Pfulg) voranschreitet und von medialen Einbindung in Film- und Radioproduktionen begünstigt wird, lässt ihn vermutlich auch immer wieder zu Stalins Gerechtigkeit anrufen. Die Popularisierung des schriftstellerischen Arbeitsprozesses, gegen die sich Šolochov immer wieder zu wehren versucht, wird allerdings an den tatsächlichen Versuchen der Massenmedialisierung seiner Romane deutlich. Bereits 1930 erscheint die erste Verfilmung vom Tichij Don. Die beiden Regisseure des Films I. K. Pravovoj und O. I. Preobraženskij wurden bei der Arbeit am Film wohl ziemlich intensiv von Šolochov unterstützt, in den Titeln zum Film taucht er unter den beiden Regisseurnamen als Berater auf. Während der Roman noch längst nicht beendet ist und Šolochov gerade an der Fortsetzung des Romans arbeitet, werden bereits die ersten beiden Bücher von insgesamt vier verfilmt. In einem Brief an Emma Cesarskaja, die die Rolle der Aksinija spielt, schreibt Šolochov im Januar 1930: „Was die Gerüchte um den Stillen Don betreffen, als ob ich das Verbot des Films unterstützt hätte oder mich darüber gefreut hätte, ist absoluter Quatsch! Über so viel ‚Diplomatie‘ verfüge ich nicht. Es ist selbstverständlich, dass ich kommen und alles dafür tun werde, damit der Don in die Kinons kommt. Aber weißt du, eigentlich glaube ich an diese Gerüchte nicht, ich glaube, das sind wieder Sabotageversuche der Moskauer Hurrensöhne und -töchter. [Что касается ‚Тихого Дона‘ и того, что я будто бы способствовал или радовался его запрещению, - чушь! До таких вершин ‚дипломатии‘ я еще не дошел. Разумеется, приеду, и, разумеется, буду делать все от меня зависящее и возможное, чтобы ‚Дон‘ пошел по экрану. Но знаешь ли, мне не вериться во все эти слухи, по моему это очередная инсинуация московских сукиных сынов и дочерей.]“37

Das euphorische Kämpfen für die Verfilmung und Beschimpfungen seiner Kritiker (vermutlich sind hier neben einzelnen Kritikern auch Institutionen und Zensurorgane gemeint) zeigen die ganze Bedeutung der Romanverfilmung für Šolochov, die zu einer sehr emotionalen Angelegenheit für ihn wird. Hier zeigt sich

37 Šolochov an Cesarskaja. Januar 1930. Vešenskaja. In: Pis’ma. 2003, S. 50-51.

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eine doppelte Entwicklung Šolochovs Arbeit: Zum einen ist es seine rigorose Ablehnung jeglichen Dialogs, jeglicher Überarbeitung seiner Romane, die er als Eingriffe auf seine Autorschaft empfindet und ständig gegen die Popularisierung seiner Arbeit polemisiert. Zum anderen jedoch setzt er selbst auf die Popularisierung seiner Arbeit, indem er an der Transmedialisierung seiner Romane intensiv beteiligt ist. Dabei kommen unterschiedliche Medien zum Einsatz: Während der Tichij Don nur verfilmt wird, findet der Medienwechsel bei Podnjataja celina eindeutiger statt. 1933 beginnt Šolochov mit N. M. Šengelaja38 die Arbeit an der Verfilmung des Podnjataja celina, während er noch am zweiten Buch arbeitet. Die Gespräche zwischen dem Filmregisseur und dem Schriftsteller werden jedoch bis Herbst 1933 unterbrochen, weil Šolochov in dieser Zeit den politischen Säuberungen unterliegt. In dieser Zeit steht Šolochov im ständigen Briefkontakt mit Stalin und reist mehrmals nach Moskau, um sich mit der Partei aber auch persönlich mit Stalin, zu treffen. Im Sommer 1933 schreibt Šolochov an Šengelaja: „In Moskau war ich in der ersten Hälfte dieses Monats. Ich bin nicht auf eigenen Wunsch, sondern auf die Anweisung des ZK hingefahren und obwohl ich sehr beschäftigt war, konnte ich mich dennoch mit Ihrer Schwester treffen, […] […] Es geht darum, dass ich nicht mit Ihnen am Drehbuch zum Film, so wie wir besprochen haben, arbeiten kann. […] Bis Ende des Jahres werde ich am letzten Buch des Neulands unterm Pflug arbeiten. Wenn Sie mich fragen, ob ich einen vollständigen Plott des Buches habe, werde ich Ihnen ehrlich sagen: ‚Nein‘. Das ist alles noch in Arbeit. Deshalb denke ich, einen Film bloß vom ersten Buch zu machen, nicht gut ist. Man muss gleich die Sache komplett inszenieren, ohne Folgen und Fortsetzungen. […] Ich spreche darüber ziemlich unübersichtlich, weil ich endgültig aus dem Sattel geflogen bin. Alles geht zum Teufel. Ich habe gerade etwasa Zeit für die künstlerische Arbeit gewonnen und selbst diese Zeit ist sehr knapp. Ich will wie verrückt arbeiten, aber die Zeit fehlt… [В Москве я очутился в первых числах этого м-ца, выехал туда отнюдь не по своим делам, а по вызову ЦК, и, несмотря на то, что был очень занят, все же успел поговорить с Вашей сестрой, [...] [...] Дело в том, что работать над сценарием вместе с Вами (как мы договаривались) я не могу. [...] До конца года я буду занят работой над окончанием последней книжки

38 Nikolaj Michaijlovič Šengelaja (1903 - 1943) ist Filmregisseur und Drehbuchautor, arbeitete mit Šolochov gemeinsam am Drehbuch für die Verfilmung des „Neulands unterm Pflug“. Die Arbeit wurde jedoch 1934 von der Hauptverwaltung der Filmindustrie gestoppt, das Drehbuch abgelehnt.

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'Поднятой целины'. Если Вы меня спросите, имею ли я завершенный (сюжетно) план этой книжки? я Вам по-честному отвечу – нет. Все это еще в работе. А мне думается, что делать картину по одной первой книжки не хорошо. Надо очень густо замесить и выпечь безо всяких ‚серий‘ и ‚продолжений‘. [...] Я говорю об этом несколько сумбурно и это потому, что я основательно выбит из седла. Все к черту смешалось, только что ухитрился выкроить время (и то в недостаточном количестве) для творческой работы, а работать хочется зверски, но времени мало...]“39

Neben den eindeutigen Verweisen auf seine politischen Probleme, die ihn von der Arbeit am Roman abhalten, berichtet dieser Brief von einer durchaus interessanten Arbeitsweise Šolochovs. Wie auch beim Tichij Don entstehen der Roman und der Film beinahe zeitgleich. Und obwohl Šolochov in diesem Brief seine Zweifel an der gleichzeitigen Arbeit am Roman und am Film zu Šengelaja äußert, wird die Arbeit am gemeinsamen Drehbuch 1933 fortgesetzt, nachdem Šengelaja im Herbst 1933 Šolochov in Vešenskaja besucht. Ohne im Detail und mit absoluter Sicherheit die Ereignisse des Jahres 1933 rekonstruieren zu können, fällt jedoch auf, dass der Medienwechsel der Literatur, die Verbindung zwischen der Literatur und den neuen Medien der 1930er Jahre wie Film oder Radio in Šolochovs literarischen Prozess zur unabdingbaren Voraussetzung wird. Šolochov beteiligt sich aktiv an der Diskussion zur gemeinsamen Arbeit von Literatur und Film und schreibt in einem Artikel im Kino u.a.: „Die Aufgabe ist dem Publikum durch den Film die lebendigen Bilder meiner Helden zu vermittelt ... Jetzt nach dem Abschluss der literarischen Entwicklung des Materials, bin bereit dieses Material dem Regisseur anzuvertrauen, damit er meine Ideen und Gedanken in ein vollständiges Filmkunstwerk umsetzen kann. Unsere gemeinsame Arbeit am Drehbuch zeigte, dass Šengelaja mich versteht und genauso wie ich über die Helden von ‚Neuland unterm Pflug‘ denkt. Es lässt mich hoffen, dass ich in den Helden des Films meine lieben Menschen erkenne, die ich erschaffen habe. [Задача – через фильм донести до зрителя живые образы моих героев... Теперь, закончив литературную разработку материала, я смело вверяю его режиссеру для воплощения моих идей и мыслей в полноценное кинематографическоу произведение. Наша совместная работа над сценарием показала, что Шенгелая понимает меня и одинаково со мной думает о героях ‚Поднятой целины‘. Это позволяет надеяться, что в героях фильма я узнаю близких мне, созданных мною людей.]“40

39 Šolochov an Šengelaja. 23.07.1933. Vešenskaja. In Pis’ma. ebd., S. 140-141. 40 Zit. nach Šolochov: Pis’ma. 2003, S. 142.

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Das Lebendigwerden der Literatur im Film, die Šolochov an dieser Stelle anstrebt, scheitert bei ihm allerdings daran, dass er zwar seinen Roman für einen Mediumwechsel öffnet, allerdings auf einer strengen Einhaltung der literarischen Muster und Mechanismen beharrt, denn die Idee des Romans, so Šolochov, solle unantastbar bleiben. Und obwohl die Arbeit an der Verfilmung von Podnjataja celina in Literaturnaja gazeta einen so großen Platz einnimmt, wird das Drehbuch durch die Hauptverwaltung der Film- und Fotoindustrie zensiert und die Dreharbeiten am Don gestoppt. Ein ähnliches Schicksal ereilt auch die Radioinszenierung von Podnjataja celina. Die Radioinszenierung wird zwar ausgestrahlt, bekommt jedoch vernichtende Kritik von Govorit SSSR. Als wichtigster Kritikpunkt wird in Govorit SSSR die Unzulänglichkeit der Radioinszenierung genannt, die volle Tiefe Šolochovs Roman zu zeigen und stattdessen nur episodenhaft, einzelne Szenen präsentiert. „Der Inhalt des Romanes konnte wegen seines Umfangs nicht vollständig in den Rahmen der Komposition hineinfließen, selbst wenn auch diese anderthalbstündig war. Die Auswahl der Fragmente, man muss eher sagen, der Dialoge aus dem Roman war ziemlich mechanisch ausgewählt. Es hat sich also eine zufällige Auslese der einzelnen Szenen ergeben. [...] Ganz ungelöst ist die Charakterdarstellung der Helden in Tönen geblieben. Dabei entfaltet sich der Rundfunk ausschließlich durch das Hören. Der Ton ist sein einziges wirksames Mittel. Man muss den Zuschauer sehen lassen, was er hört. [...] Im Endeffekt wurde die Komposition lediglich zur lautlichen Inszenierung der einzelnen Szenen aus dem ‚Neuland unter Pflug‘, die keine Vorstellung seinem Zuhörer über den Roman insgesamt gibt, der den Roman nicht gelesen hat. Wenn man den Inhalt des Romanes nicht kennt, kann weder der inhaltlichen noch der charakterlichen Entwicklung der Protagonisten folgen, denn man ist nicht in der Lage sich diese vorzustellen. Die ganze Inszenierung kann man lediglich als ausdrucksvolles Vorlesen [...] beschreiben. [Огромное содержание романа не могло, понятно, вместиться в рамки композиции, хотя бы и полуторачасовой. Отбор же отрывков (вернее говоря - диалогов) из романа был произведен довольно механически. Получился случайный подбор сценок. [...] Совершенно нерешенной оказалась задача звуковой характеристики героев. Ведь радио адресуется по существу только к слуху. Звук является его единственным воздействующим средством. Зрителя надо суметь застсвить видеть то, что он только слышит. [...] В результате композиция свелась лишь к звуковой инсценировке отдельных сцен из ‚Поднятой целины‘, не дающей представления о романе в целом человеку его не читавшему. Не зная содержания романа, нелзя было ни следить за развитием действия,

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ни внести отчетливого впечатления о действующих лицах, ни представить себе обстановку событий. Значение постановки ограничилось лишь выразительным чтением [...].]“41

Man sieht an diesem Zitat deutlich, wie die literarische Radiophonie an ihre Grenzen kommt. Die Aufforderung an das Radio, den Zuhörer das sehen zu lassen, was er hört, scheitert am literarisch schriftlichen Text, der im akustischen Raum des Radios lediglich zu besonders gut betontem Vorlesen avanciert, jedoch sich von seinem literarischen Wesen nicht gänzlich lösen kann. Die Radiopoetik, die hier in diesem Artikel vom Radioregisseur aber auch vom Schriftsteller gefordert wird, geht weit über das Arrangieren des schriftlich literarischen Textes im radiofizierten Sprechen hinaus, sie verlangt nach einer Radioliteratur, die tatsächlich in der Lage sein soll, den Zuhörer sehen zu lassen. Eine Stellungnahme Šolochovs zu dieser Kritik oder überhaupt zur Radioinszenierung ist nicht bekannt, es zeigt sich jedoch, dass der Prozess der Öffnung des literarischen Schreibens gegenüber dem visuellen Medium Film und dem akustischen Medium Radio zu einer Aporie von Šolochovs Schreibens führt. Zwar engagiert er sich für die Verfilmungen seiner Romane, betont jedoch immer wieder die Bewahrung der Originalität seines literarischen Schaffens im Prozess der Transmedialisierung. Die Wechselbeziehung zwischen den unterschiedlichen Medien, in denen sich seine Romane nun bewegen sollen, wird völlig ausgeblendet. Die Tatsache, dass das Schreiben, die Kritik, die Zensierung, die massenmediale Verbreitung im Radio wie auch in der Presse, die Verfilmung der Romane absolut zeitgleich stattfinden und dass auch das literarische Schreiben dieser ständigen Bewegung, dem ständigen Kommunikationsprozess ausgesetzt wird, wird an keiner Stelle explizit als Problem angesehen und führt damit umso stärker zur Zerlegung der literarisch schriftstellerischen Arbeit. Die zerstörerische Kraft einer totalen Kommunikation kann sich dabei voll entwickeln. Während Šolochovs Romane sich dem massenmedialen und radiopoetischen Anspruch des sozialistischen Realismus durchaus beugen und damit bis heute zum kollektiven Eigentum der russischen Literatur zählen, bleibt der Schriftsteller Šolochov als tragische Figur hinter diesem Prozess zurück. Dem kollektiven Sprechen unterlegen, verharrt der Schriftsteller in seiner Ohnmacht und kann nur noch den Verlust des Autorwortes konstatieren. Bei dem erbitterten und zugleich von Beginn an zum Scheitern verurteilten Kampf um die eigene schriftstellerische Autorität, geht es im Fall Šolochov um nichts Geringeres, als um die Frage der Macht.

41 Radio-Shakespeare. In: Govorit SSSR. Nr. 6. März 1934.

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Die Frage, wem schließlich sein Werk gehört, wird zum ständigen Begleiter seiner Arbeit und offenbart die Unzulänglichkeit des individuellen Autoritätsanspruchs gegenüber der politischen Macht, die die Schrift längst vereinnahmt hat. Sein Roman wird als kollektives Wort des Sozialismus innerhalb des Literaturbetriebs zum überindividuellen Gemeinschaftsgut. Der Autor allerdings, der sich weigert, seine Stimme dem sprechenden Kollektiv zu opfern, wird dagegen von der Gemeinschaft zurückgewiesen. Diese Aporie zwischen dem individuellen Verfügen über die Schrift und deren kollektive Vereinnahmung durch das Sprechen wird besonders an einer Stelle in Šolochovs Roman Podnjataja celina offensichtlich. Inmitten der aktiven Enteignungsprozesse in den Dörfern wird eine Zeitung von der Dorfbevölkerung in Empfang genommen, die die Vorgehensweise der radikalen Kollektivierung kritisiert, allerdings diese im Dorf Gremjačij Log nicht mehr verhindern kann, da die Zeitung erst verspätet ankommt. Das Zuspätkommen der Zeitung löst einen ideologischen Konflikt aus, der schließlich in einer Sackgasse endet. Mit diesem Zeitungsartikel wird neben der ideologischen Entscheidung für oder gegen die absolute Kollektivierung im Dorf auch das ideologische Problem des Umgangs mit der Schrift offensichtlich. An dieser Stelle in Šolochovs Roman wird zwar nicht das Schreiben allerdings das Lesen der Schrift zum individuellen Akt erhoben, was unweigerlich zu einer Krise zwischen den Romanfiguren führt. „Am 20. März brachte der Bote die des Hochwassers wegen verspätet eingetroffenen Zeitungen mit Stalins Artikel ‚Vor Erfolgen von Schwindel befallen‘ nach Gremjatschij Log. Drei Exemplare des ‚Molot‘ machten im Laufe des Tages die Runde durch alle Haushalte und hatten sich bis zum Abend in fettige, feuchte und zerfetzte Lappen verwandelt. Seit Gremjatschij Logs Bestehen hatte noch keine Zeitung so viele Leser gefunden wie an diesem Tag. Man las sie in Gruppen versammelt in den Häusern, auf den Straßen, Höfen und Speichern. Einer las vor, die anderen hörten in tiefster Stille und mit größter Aufmerksamkeit zu, ängstlich besorgt, nur ja kein Wort davon zu verlieren. Und überall rief dieser Artikel große Diskussionen hervor. Jeder legte ihn auf seine Weise aus. Das heißt, so wie es ihm am besten zusagte. Und fast immer wurde die Zeitung bei Dawydows und Nagulnows Erscheinen schnell von Hand zu Hand gereicht, bis sie, in irgendeiner beiten Tasche verschwandt. [Двадцатого марта кольцевик привез в Гремячий Лог запоздавшие по случаю половодья газеты со статьей Сталина ‚Головокружение от успехов'. Три эземпляра ‚Молота' за день обошли все дворы, к вечеру превратились в засаленные, влажные, лохматые лоскутки. Никогда за время существования Гремячего Лога газета не собирала вокруг себя такого множества слушателей, как в этот день. Читали собираясь группами, в куреньях, на проулках, по забазьям, на приклетках амбаров... Один читал

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вслух, остальные слушали, боясь проронить слово, всячески соблюдая тишину. По поводу статьи всюду возникали великие спорища. Всяк толковал по-своему, в большинстве так, кому как хотелось. И почти везде при появлении Нагульного или Давыдова почему-то торопливо передавали газету из рук в руки, пока она, белой птицей облетев толпу, не исчезала в чьем-нибудь широченном кармане.]“42

In diesem Zitat verdichten sich gleich mehrere wichtige Aspekte im Umgang mit dem geschriebenen Wort. Erstens erscheint Stalin als unangefochtene Verfügungsgewalt über das Wort. Zweitens wird die Vergänglichkeit der Schrift im Gegensatz zur Dauerhaftigkeit der sprachlichen Botschaft hervorgehoben, denn so wie die Zeitung mit dem darin abgedruckten Artikel von Stalin in Einzelteile zerfällt und sich in zasalennyje, vlažnyje, lochmatyje loskutki (schmutzige, nasse, ausgefranzte Lappen) verwandelt, verselbstständigt sich Stalins Botschaft und wird im Akt des kollektiven Lesens zur lebendigen Wahrheit seines Wortes. Schließlich wird aber auch die Problematik und Unzulänglichkeit der Schrift thematisiert: Die Zeitung erreicht nur verspätet seinen Adressaten auf dem Land, weil sie im Gegensatz zu elektroakustischen Medien von äußeren Bedingungen, wie z.B. Flut im Frühjahr, abhängig ist und bei der Zustellung behindert wird. Daran schließt sich auch das eigentliche Problem der Schrift an, denn während das Wort der Macht bereits ausgesprochen wurde, werden auf dem Land weiterhin ideologische Fehler begangen, weil das Landvolk das Wort nicht hört, da die Schrift die Zeit und Entfernung nicht überwinden kann. Die augenblickliche Kommunikation mit der Macht im weit entfernten politischen Zentrum ist mittels des Mediums Schrift nicht möglich. Darüber hinaus birgt sich in der Schrift auch die Gefahr der eigenen Auslegung und Infragestellung der politischen Leitlinie, weil eben zwar nicht Stalin, jedoch der Schrift widersprochen werden kann. Das Erscheinen von Stalins Artikels zur Kollektivierung auf dem Land in der Zeitung entfacht zwischen Nagul’nyj und Davydov bei einer internen Parteiversammlung eine kontroverse Diskussion zum weiteren Vorgehen der Enteignungen im Dorf. Im Wesentlichen geht es darum, ob das Kleinvieh den Bauern von der Kolchose wieder zurückgegeben werden soll und in welchem Ausmaß. Allerdings entwickelt sich die Gesprächssituation auf der Versammlung zu einer grundsätzlichen politischen Debatte um die offizielle, von Stalin nun proklamierte Parteilinie und dabei auch um den Umgang mit dem schriftlichen Wort in der Zeitung und um die Autorität des Artikels.

42 M. Šolochov: Podnjataja Celina. Buch 1. In: Sobranije sočinenij. Moskau 1958. Bd. 6., S. 228. / Ernte am Don. Auus dem Ru. von E. Šuslik. München 1966. Teil 1, S. 228.

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Während es für Davydov kein Problem darstellt, den Zeitungsartikel als das unangefochtene und authentische Wort Stalins als höhere Gewalt und einzig wahre Stimme der Partei zu akzeptieren, zieht Nagul’nyj eine deutliche Grenze zwischen dem authentischen Machtwort Stalins und der Schrift in der Zeitung. Während Nagul’nyj durchaus bereit ist, eigene Fehler gegenüber der Partei einzugestehen, verweigert er dem schriftlichen Wort in der Zeitung seine Gefolgschaft, mit der Begründung, der Artikel sei falsch. Die ideologische Brüchigkeit der Schrift als Medium der Macht wird in Nagul’nyjs Kritik auf die Spitze getrieben. Während im vorherigen Zitat die Vieldeutigkeit der Schrift als Mangel angesehen wird, wenn die Zeitung im Dorf die Runde macht und der Roman konstatiert, dass jeder Stalins Artikel so interpretiert habe, wie es ihm gefiel, so wird mit der Figur Nagul’nyj als überzeugter und parteiergebener Kommunist der Schrift gänzlich der Vorwurf einer Lüge gemacht. Zur Begründung seiner Einstellung und zur Verteidigung seines Standpunktes sagt Nagul‘nyj: „Wenn Stalin nach Gremjatschij Log käme, dann würde ich zu ihm sagen: ‚Lieber Josif Wissarionovitsch, du bist also dagegen, dass dass man unseren Mittelbauern Beine macht. Sie tun dir leid und du willst sie sanft überreden. […] Nun, wenn Genosse Stalin, nachdem er sich diese Leute angesehen hat, weiterhin darauf bestehen sollte, ich sei die Ursache der Verzerrungen und hätte die Kolchosebauern um ihre Ideale gebracht, dann würde ich ihm geradeheraus sagen: ‚Der Teufel soll Ihre Ideale hüten, Genosse Stalin, aber meine Gesundheit wurde an allen Fronten erschüttert und ich kann nicht mehr. [А вот, кабы товарищ Сталин приехал в Гремячий Лог, я бы ему так и сказал: ‚Дорогой наш Осип Вицарионыч! Ты, значится, супротив того, чтобы нашим середнякам острастку задавать? [...]‘ Ну, а уж ежели товарищ Сталин, поглядев на такой народ опять настаивал бы, то тут бы я прямо сказал ему: ‚Пущай их черт венчает, товарищ Сталин, а я больше не могу через состояние своего раскиданного по фронтам здоровья.‘]“43

Der imaginierte Dialog Nagul’nyjs mit dem Führer im Kreml entzieht dem Medium Schrift seine Machtposition. Der toten Schrift, die er als ideologisch falsch bezeichnet, setzt Nagul’nyj eine lebendige face-to-face Kommunikation entgegen, die einen mündlichen Sprechakt mit der Macht inszeniert. Dabei zeugt dieser imaginierte Dialog mit Stalin von einer durch massenmediale und radiophone Akustik durchdrungenen Mündlichkeit, die dem Medium Schrift eine lebendige Kommunikation entgegenbringt.

43 M. Šolochov: ebd., dt. S. 232, / S. 232.

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Dem Radio als Zeitung ohne Grenzen44 wird in Šolochovs Text keine Aufmerksamkeit geschenkt, allerdings ist Nagul‘nyjs Vorstellung vom direkten Dialog mit Stalin durchaus der elektroakustischen Verbreitung der Stimme im Radio geschuldet und unterscheidet sich nicht sonderlich von radiophonen Konzepten in Radiozeitschriften dieser Zeit. Die geografische Entfernung, die sich durch das Radio in das Gefühl der unmittelbaren Nähe verwandelt und auf dem die Verbindung zwischen der politischen Macht und der sozialistischen Gemeinschaft gefestigt wird, ruft Nagul’nyj in seinem Gespräch mit Stalin in das Romangeschehen hinein. Obwohl Nagul’nyj auf die körperliche Anwesenheit des Führers in seinem imaginierten Gespräch verweist, wird dennoch deutlich, dass es hier um eine Präsenz geht, die sich als quasi physische Präsenz von Stalins Stimme erweist und nicht seiner konkreten Anwesenheit als Person. Es ist eine Stimme der Macht, die man als solche nur als massenmediales Phänomen aus dem Radio kennt und die aus der massenmedialen Akustik ihre Wirkungsmächtigkeit entwickelt. So entsteht bei Šolochov eine Radiopoetik avant le lettre, die in der Szene mit der verspäteten Zeitung eine primäre unmittelbare Kommunikation mit der Macht inszeniert, dabei allerdings ihren medialtechnischen Ursprung in der Radioakustik verschweigt. Symptomatisch für die Radiopoetik des sozialistischen Realismus ist auch der Ausgang des Streits um Stalins Wort. Während Davydov an dem etappenweise Lebendigwerden von Stalins Wort vom Zeitungsartikel zum unantastbaren Machtwort keinen Zweifel hegt, wird der reflektierte Umgang mit dem Medium Schrift zur Unzurechnungsfähigkeit Nagul’nyjs durch seinen Alkoholkonsum erklärt. Das Misstrauen gegenüber der Schrift, die Nagul’nyj hier an den Tag legt, steht im Gegensatz zum Transformationsprozess der Schrift zur Stimme der Macht und kann damit in Šolochovs Roman nicht verhandelt werden. Stattdessen endet der Disput zwischen Nagul’nyj und Davydov mit Davydovs endgültigem Fazit: „‚Genug jetzt! Es reicht für heute!‘, Dawydow stand auf, trat dicht zu Nagulnow und fragte mit ungewohnter Kälte: ‚Genosse Nagulnow, Stalins Brief ist die Richtlinie des Zentralkomitees. Bist du mit diesem Brief einverstanden?' ‚Nein.‘ ‚Und gestehst du deine Fehler ein? Ich zum Beispiel gebe die meinen zu. Gegen Tatsachen kann naicht angehen und nicht über eine bestimmte Höhe springen. […] […] ‚Es hat keinen Zweck über den Artikel zu diskutieren. Du wirst die Partei nicht nach deinem Sinn ummodeln, sie hat ganz anderen als dir die Krallen gestutzt und sie zum Gehorsam gezwungen. Wieso verstehst du denn das nicht?

44 Vgl. G. A. Kazakov: Leninskije idei o radio. Moskau Politizdat 1968, S. 5.

174 | R ADIOPOETIK DES SOZIALISTISCHEN REALISMUS [- А, ну довольно! Хватит на сегодня! – Давыдов встал, подошел к Макару вплотную, с не присущим ему холoдком в голосе спросил: - Письмо Сталина, товарищ Нагульнов, это линия ЦК. Ты что же не согласен с письмом? - Нет - А ошибки свои признаёшь? Я, например свои прзнаю. Потив факта не попрешь и выше кое чего не прыгнешь. [...] [...]- Дискуссию вокруг статьи нечего устраивать. Партию ты по-своему не свернешь, она не таким, как ты, рога обламывала и заставляла подчиняться. Как ты этого не поймешь!]“45

Nagul’nyjs individualistischer Lesart können nun tatsächlich keine Argumente der kollektiven Stimme entgegengebracht werden, stattdessen greift hier rigoros der Einspruch der totalen Macht, die als das Wort der Partei über die einzige und unangefochtene Wahrheit verfügt. Das kollektive überindividuelle Sprechen des Kollektivs kommt an dieser Stelle an seine Grenzen und kann der Unbeugsamkeit der individuellen Einstellung Nagul’nyjs nichts entgegensetzen, so dass es einer konkreten Machtintervention bedarf. Die Figur Nagul’nyj kann innerhalb des Romans dagegen nur gerettet werden, weil er als Betrunkener für unzurechnungsfähig erklärt wird und seine politische Einstellung, die er verteidigt, so nur als persönliche situative Schwäche erscheint und nicht zur generellen Leitlinie des Romans ausgebaut wird. Die sowjetische Macht agiert an dieser Stelle als totalitäre Macht, die sich allerdings auch hier als eine kollektive Stimme inszeniert, die sich hinter Davydovs Aussage und sonst einer schweigenden Masse verbirgt und dadurch ihren totalitären Anspruch, nicht als Gewaltherrschaft, sondern als Herrschaft der Gerechtigkeit und des Ausgleichs ausbaut und eben als die Macht der Mitte fungiert, die nur alles Radikale beseitigen wolle46. So wird die Schrift in Šolochovs Roman zum Konfliktfeld, auf dem die Verfügungsgewalt nicht nur über die Schrift selbst, sondern auch über das Sprechen im Sozialismus zwischen dem Individuum, dem Kollektiv und der politischen Macht ausgetragen wird. Während Šolochov selbst mit seinem Schreiben immer wieder um die Autorität seiner eigenen Stimme gegen das Kollektiv ankämpft und zu Stalin als dem absoluten Machthaber aufruft und damit eine fast religiöse Beziehung zur politischen Macht entwickelt, wird in seinen Romanen immer deutlicher, dass die rettende Macht, die aus dem politischen Zentrum in die weite Peripherien des Landes

45 Michail Šolochov: Podnjataja Celina. Buch 1. In: Sobranije sočinenij. Moskau 1958. Bd. 6, S. 233-234. 46 Vgl. Boris Groys: Gesamtkunstwerk Stalin. München 1988, S. 41ff.

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spricht, eben nicht nur über die Schrift, sondern auch über das Sprechen im Sozialismus verfügt. Und obwohl das Radio als das Massenmedium, das das Sprechen der Macht überall im Land präsent macht, in Šolochovs Romanen gänzlich ausgeblendet bleibt, ist die Dimension und Totalität jener politischen Macht, die sich massenmedial scheinbar unbegrenzt verbreitet, überall ertönt und über jedes einzelne gesprochene Wort wacht und selbst das individualistische Schreiben ins kollektive Sprechen verwandelt, stark spürbar. So erklingen zwar mit dem Radio nicht die längst vergessenen Saiten einer Stammesgesellschaft47 in Šolochovs Romanen, allerdings lassen sich radiopoetische Tendenzen als Auswirkungen der Macht des kollektiven Sprechens auf Šolochovs Schreiben feststellen.

N IKOLAJ O STROVSKIJ : D IE Q UALEN DES S CHREIBENS N. Ostrovskijs Roman Kak zakaljalas’ stal’ (Wie der Stahl gehärtet wurde) erweist sich als eine paradoxe Praxis des Schreibens gegen die Schrift48. Die Krankheit und der damit zusammenhängende physische Zerfall des Schriftstellers und gleichzeitig auch der seines Romanhelden Pavel Korčagin werden zum Sinnbild der Loslösung der literarischen Produktion aus der Materialität der Schrift. Sie spitzen sich in einer Strategie der Auflösung des Körperlichen zugunsten einer reinen Geistigkeit des literarischen Schreibens zu. Zugleich wächst die Bedeutung des neuen Mediums Radio für den erblindeten Schriftsteller, das nicht nur zum einzigen Kommunikationsmedium und dem einzigen Weg der Teilhabe an der sozialistischen Gemeinschaft für den Schriftsteller erhoben wird, sondern auch in seinem Roman zum Ort wird, von dem aus die sozrealistische Literatur als eine aus der Schrift befreite spricht. Ostrovskjs Held Pavel Korčagin ist die Vorbildfigur eines Revolutionärs, der im Laufe des Romans eine Entwicklung vom Berufsrevolutionär zum sowjetischen Schriftsteller macht. Während sein Körper physisch zerfällt, wachsen seine mentalen Fähigkeiten, bis er geistig in der Lage ist, seinen ersten Roman zu schreiben. Diese Entwicklung des sowjetischen Helden, die in der Erforschung des Sozrealismus bereits sehr ausführlich betrieben wurde, bringt jene Motive heraus, die für den authentischen Klang gegenüber der toten Schrift entscheidend sind: die Entmaterialisierung des Körpers, der Verlust der Visualität (Pavel erblindet) und

47 Vgl. M. McLuhan: Die magischen Kanäle. Düsseldorf 1992, S. 340ff. 48 Vgl. J. Murašov: Das elektrifizierte Wort. In: Die Musen der Macht. München 2003, S.107.

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die Konzentration auf das Radio, welches zum metaphysischen Raum der kollektiven Stimme wird.49 Als ein Erweckungserlebnis, als die Rückkehr in die Gemeinschaft wird die Installation der Radioantenne in Pavels Haus beschrieben: „In der Dämmerung leuchteten im Zimmer drei Radioröhren auf. Lew überreichte Pawel feierlich die Kopfhörer. Im Äther herrschte ein Chaos von Tönen. […] Und in diesem Gewirr von Geräuschen und Tönen fand das Variometer eine ruhige und sichere Stimme und holte sie näher heran. ‚Achtung! Achtung! Hier spricht Moskau…‘ Das Leben, das Pawel abseits geschleudert hatte, drang durch die stählerne Membran zu ihm ins Krankenzimmer, und erspürte seinen mächtigen Atem. […] […] Das Radio gab ihm das, was ihm die Blindheit genommen hatte: die Möglichkeit zu lernen. Und dieser keine Hindernisse kennende Drang ließ ihn die qualvollen Schmerzen des immer noch fiebernden Körpers, das Brennen in den Augen und das ganze harte, ihm so ungnädige Leben vergessen. [В сумерки зажглись в комнате три ‚микро‘. Лев торжественно подал Павлу наушники. В эфире царил хаос звуков. […] В этом ворохе шумов и звуков катушка вариометра нашла и примчала спокойный и уверенный голос: - Слушайте, слушайте, говорит Москва... Жизнь, от которой Павел был отброшен, врывалась сквозь стальную мембрану, и он ощутил ее могучее дыхание. [...] [...] Радио дало ему то, что отняла слепота, - возможность учиться, и в этом, не знающим преград стремлении забывал мучительные боли продолжавшего гореть тела, забывал пожар в глазах и всю суровую, неласковую к нему жизнь.]“50

Das Chaos der Töne, das Gewirr von Geräuschen wird zu einem imaginären Ort, an dem Pavel seine moralische Berechtigung findet, zu schreiben. Mit Hilfe einer Schablone, fast erblindet, schreibt er Zeile für Zeile:

49 Vgl. J. Murašov: Das elektrifizierte Wort. In: Die Musen der Macht. München 2003, S. 81-113. 50 Nikolaj Ostrovskij: Kak zakaljalas' stal'. In: Sobranije sočinenij. Moskau 1955. Bd. 1, S. 396-398. / dt. Übers: Wie der Stahl gehärtet wurde. Leipzig 1974, S. 497. Vgl. auch Vgl. J. Murašov: Das elektrifizierte Wort. (München 2003)

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„Alles, was er schrieb, musste er Wort für Wort im Gedächtnis behalten. Verlor er den Faden, so stockte die ganze Arbeit. [Все, что писал, он должен был помнить слово в слово. Потеря нити тормозила работу.]“51

Während die akustische Wirklichkeit des Radios ihn ins Leben zurück holt, ihn als Teil der Gemeinschaft spüren lässt, wird das Schreiben zu einer Qual. Erst als die ersten drei Kapiteln auf dem Postweg verloren gehen, als er sie zur Korrektur nach Odessa schickt, ist der Weg zur Entmaterialisierung der Schrift geebnet. Er diktiert die verlorenen Kapitel aus dem Kopf seiner Schriftführerin Galja, lässt sie immer wieder das Geschriebene vorlesen und wenn er nicht zufrieden ist, schreibt er selbst und setzt sich wieder den Qualen des Schreibens aus: „Durch die schmalen Streifen der Vorlage gehemmt, hielt er es manchmal nicht mehr aus und ließ das Schreiben wieder sein. Dann zerbrach er in grenzenloser Wut über das Leben, das ihm sein Augenlicht genommen hatte, die Bleistifte, und auf den wundgebissenen Lippen zeigten sich Blutspuren. [Скованный узкой полоской транспаранта, иногда не выдерживал – бросал. И тогда в безграничной ярости на жизнь отнявшею у него глаза, ломал карaндаши, а на прикушенных губах выступали капельки крови.]“52

Die Gegenüberstellung zwischen der Stimme des Schriftstellers Korčagin und der Schrift seines Romans ist eine Sphäre der Unvereinbarkeit: während Pavels Legitimation zur literarischen Tätigkeit aus dem quasi authentischen Hören durch das Radio gewonnen wird, mündet seine tatsächliche Schreibarbeit in einer Krise. Zum einen stellt seine Blindheit eine unabdingbare Voraussetzung dafür, eine Literatur zu schaffen, die allein aus Hören und Sprechen entsteht. Zum anderen kann die literarische Produktion nicht auf die Schrift, auf das Manuskript und auf das Buch verzichten. So entwickelt sich das Schreiben zu einem unendlichen Prozess des Leidens, das zugleich auch die Grundlage seines Selbstwerdungsprozesses als sozialistischer Held darstellt. Korčagins widersprüchliche Beziehung zur Schrift lässt sich an einer Stelle des Romans besonders gut beobachten. Als er von seiner Krankheit erfährt, die droht, ihn körperlich komplett zu zerstören und ihn komplett handlungsunfähig zu machen, steht Korčagin kurz vor einem Selbstmord und will sich erschießen.

51 Ebd., dt. S. 503 / ru. S. 401. 52 Ebd., dt. S. 505 / ru. S. 403.

178 | R ADIOPOETIK DES SOZIALISTISCHEN REALISMUS „Was blieb ihm zu tun übrig? Diese ungelöste Frage tat sich vor ihm wie ein tiefer, gähnender Abgrund auf. Wozu leben, wenn er das Wertvollste – die Fähigkeit zu kämpfen – verloren hatte? […] Eine Kugel ins Herz – und Schluss! Hast verstanden, nicht schlecht zu leben, also versteh es auch, rechtzeitig abzuschließen. […] Seine Hand tastete in der Tasche nach einer Browning. Mit gewohnter Bewegung umklammerten die Finger den Griff. Langsam zog er die Waffe hervor. Wer hätte gedacht, dass es einmal so kommen würde? Die Mündung der Pistole schien ihn verächtlich anuzublinzeln. Pawel legte sie aufs Knie und stieß einen wütenden Fluch aus. Das ist phrasenhaftes Heldentum, weiter nichts mein Lieber! Sich niederknallen – das kann jeder Dummkopf – immer und jederzeit. […] Weg mit der Pistole, und niemandem ein Wort darüber! Du musst auch dann zu leben verstehen, wenn das Leben unerträglich wird. Trachte danach, dieses Leben nützlich zu gestalten. [Что же делать? Угрожающей черной дырой встал перед ним этот неразрешенный вопрос. Для чего жить, когда он уже потерял самое дорогое – способность бороться? […] Пуля в сердце – и никаких гвоздей! Умел неплохо жить, умей вовремя и кончить. […] Рука его нащупала в кармане плоское тело браунинга, пальцы привычным движением схватили рукоять. Медленно вытащил револьвер. - Кто бы мог подумать, что ты доживешь до такого дня? Дуло презрительно глянуло ему в глаза. Павел положил револьвер на колени и злобно выругался. - Все это бумажный героизм, братишка! Шлепнуть себя каждый дурак сумеет всегда и во всякое время. […] Спрячь револьвер и никому никогда об этом не рассказывай! Умей жить и тогда, когда жизнь становится невыносимой. Сделай ее полезной.]“53

Der unaufhaltsame körperliche Zerfall fordert ihn heraus und stellt ihn vor die Entscheidung, seinem Leben ein Ende zu setzen. Ein solches Handeln bezeichnet Korčagin allerdings als Papierheroik, die seinem Selbstmordversuch ein vorzeitiges Ende bereitet. Es sind nicht moralische, soziale oder religiöse Grenzen, die ihn vom Selbstmord abbringen, sondern die Assoziation mit der literarischen Heldenpoetik, die ihn die Verwerflichkeit seiner Tat erkennen lassen. An dieser Stelle werden bestimmte religiöse Formeln, wie die des absoluten Verbots der Selbsttötung aufgerufen, die allerdings den christlichen Sündenfall in ein unwürdiges Verhalten des sozialistischen Helden verwandeln. Bezeichnender Weise sind es literarische Vorbilder, die ihn in einem Moment der persönlichen

53 N. Ostrovskij: Kak zakaljalas‘ stal‘. Moskva 1956, S.383-384. / dt. S. 480-481.

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Schwäche daran hindern, in seinem Selbstwerdungsprozess nicht nur die äußeren Feinde zu bekämpfen, sondern auch die Schwäche des eigenen Körpers zu besiegen. Mit Pavels Entscheidung sich nicht zu töten, wir es für ihn möglich, seine Körperlichkeit zu überwinden und dadurch eine Berechtigung zu erlangen im Sozrealismus eine Literatur zu schaffen, die eben nicht durch die Schrift, sondern unmittelbar durch das Handeln des Helden spricht. Das Problem, dass die Schrift als Medium des Romans selbst nicht überwunden werden kann, wird zu einer verbitterten Suche nach einem neuen Ort und einem neuen Medium, aus dem die sozialistische Literatur sprechen kann. Bei Korčagin mündet diese Suche im Medium Radio, das nicht nur zum einzigen Ort wird, an dem Korčagin mit der sozialistischen Gemeinschaft kommuniziert, sondern auch zum Ort wird, an dem sein Roman entsteht. Hier besteht auch eine untrennbare Verbindung zwischen dem Romanheld Korčagin und dem Schriftsteller Ostrovskij. Die Krankheit wird in ein Martyrium des Romanhelden umgedeutet und löst damit auch den Schriftsteller aus seinem persönlichen Schicksal heraus. Der Schriftsteller Ostrovskij wird nun selbst zur Figur des sozialistischen Märtyrers, zum überindividuellen Held seines Romans. Die Angleichung zwischen Korčagin und Ostrovksij geht soweit, dass die Unterscheidung zwischen dem Romantext und den Reden und Aufzeichnungen Ostrovskijs über die Entstehung und den Schreibprozess seines Romans, nicht möglich ist. In einem Aufsatz, der erst nach seinem Tod 1938 in Komsomol’skaja pravda (Die Wahrheit des Komsomols) veröffentlicht wird, beschreibt Ostrovskij seine Arbeit am Roman und zeichnet dabei die Verbindung zwischen künstlerischer Imagination, der Akustik und dem Schreibprozess: „Wenn ich diktiere, bevor ich diese oder jene Figur beschreibe, stelle ich mir diese Figur im Geiste vor. [...] Ich glaube, dass kein Schriftsteller, der mit seiner Arbeit gerade beginnt, eine Figur oder ein Bild ohne dieses geistige Bild der Phantasie beschreiben kann. Vielleicht klingt es seltsam, aber ich kann mir dann besonders klar die Bilder, die in meinem Kopf entstehen, vorstellen, wenn ich leise, melodische Musik höre, besonders Violine. Der Tod von Sergei wurde persönlich durch meine Hand geschrieben, als ich im Radio „Kaukasische Melodien“ von Ippolitov-Ivanov hörte. [Когда я диктую, прежде чем рассказать о том или ином действующем лице, я мысленно в своем воображении представляю этого человека. [...] Я считаю, что начинаюший писатель не может ярко записать человека и картину без этого мысленного воображения. Может это чудно, но мне особенно ясно предстваляются картины, вызываемые в моем воображении, когда я слушаю мелодичную тихую музыку, oсобенно скрипки.

180 | R ADIOPOETIK DES SOZIALISTISCHEN REALISMUS Гибель Сережи записана лично моей рукой, как раз, когда я слушал по радио «Кавказские мелодии» Ипполитова-Иванова.]“54

Hier führt Ostrovskij seine Vorstellungskraft, das Hören (den Klang der Musik) und das Schreiben zu einer Figur zusammen, die als Voraussetzung für seinen literarischen Schaffensprozess dient. So werden diese drei Komponenten zu einer untrennbaren Einheit in der Entstehung seines Romans. Diese Einheit wird an einer anderen Stelle von ihm allerdings eingegrenzt. Denn zu Beginn desselben Aufsatzes schreibt er: „Ich selbst dachte, dass die Blindheit unüberwindbare Hindernisse für meine Arbeit bereiten wird, weil man nicht weiß, ob es möglich ist, die eigenen Gedanken durch fremde Hand aufschreiben zu können, die man selbst auf Papier verwirklichen wollte. Jeder weiß, dass man einen Brief an einen Freund, den man eigenhändig verfasst, mit sehr spannenden Erlebnissen und Gedanken ganz einfach und deutlich ausdrücken kann. Aber wenn man den gleichen Brief einem Fremden diktiert, wir dieser in den meisten Fällen blasser und trockener wirken. [Я лично думал, что слепота создаст мне непреодолимые препятствия к работе, так как не знал, можно ли будит записать чужими руками все те разнороднейшие и часто с трудом улавлиаемые мысли, которые хочешь записать на бумаге. Каждый знает, что написать письмо другу, где своей рукой заносятся волнующие тебя переживания и мысли, можно легко и ярко. Но если диктовать то же письмо постороннему, то оно в подавляющем большинстве случаев будит бледнее и суше.]“55

Die Einheit des schriftstellerischen Schöpfungsprozesses bekommt bereits zu Beginn des Aufsatzes bei Ostrovskij erhebliche Einschränkungen. Das Eintauchen in die akustische Welt der Musik, die im ersten Zitat als Quelle zur Inspiration dient, wird im zweiten Zitat in der Notwendigkeit des Diktierens mit der Voraussetzung, sich ausschließlich auf das Hören verlassen zu müssen, als ein Verlust des persönlichen Ausdrucks, als Verlust der Intimität des Schreibens charakterisiert. Dieser Verlust wird bei Ostrovskij allein durch die Figur des ständigen Kampfes und der Überwindung ausgeglichen:

54 Nikolaj Ostrovskij: Moja rabota nad povest’ju „Kak zakaljalas’ stal’“. In: Sobranije sočinenij v trëch tomach. Hg. von „Molodaja gvardija“ 1974. Bd. 2, S. 213. 55 Ebd., S. 210.

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„Aber, weil ich keine andere Wahl hatte, habe ich meine Arbeit diktiert und habe mit Sorge verfolgt, wie das Produkt meiner Arbeit sich entwickelt. Jetzt als die Erzählung fertig geschrieben ist, kann ich überzeugt den Führer zitieren: ‚Es gibt keine Festungen, die die Bolscheviken nicht erobern könnten.‘ [Но поскольку у меня не было другого выхода, я начал свою работу с диктовкой, с тревогой следя, какая продукция получается. Теперь, когда повесть написана, я могу сказать укбежденно словами вождя: ‚Нет таких крепостей, которых большевики не могли бы взять.‘]“56

In einer Rede an die Partei wird er noch deutlicher: „Wie wurde ich zum Schriftsteller? Die Krankheit hat mich aus der Bahn geworfen. Ich konnte nicht mehr unter euch sein, ich habe aufgehört, mich zu bewegen, zu sehen. Das Leben hat mich dazu gezwungen, neue Waffen zu finden, mit denen ich wieder in den Reihen des Proletariats kämpfen kann. Denn schreiben kann man, ohne sehen und sich bewegen zu können. [Как я стал писателем? Болезнь вывела меня из строя. Я не мог быть среди вас, перестал двигаться, видеть. Жизнь поставила передо мной задачу овладеть новым оружием, могущем вернуть меня в ряды наступающему по всему фронту пролетариата. Писать можно не видя и не двигаясь.]“57

In diesen beiden Zitaten wird die doppelte Funktion der Verbindung zwischen Schreiben und Hören besonders deutlich. Der Verlust des Sehens, das Einbüßen der Visualität ist eine beinahe unüberwindbare Barriere und ist dennoch die unbedingte Voraussetzung für die schriftstellerische Arbeit Ostrovskijs. Den zentralen Knotenpunkt in dieser Konstellation der literarischen Produktion stellt die Krankheit Ostrovskijs, der langsame aber absolute Zerfall seines Körpers dar. Somit bedeutet das Schreiben in doppelter Hinsicht ein unaufhörliches Leiden, das nur im Sieg der literarischen Anerkennung Erlösung finden kann. Beinahe wortgleich taucht diese Beschreibung der Krankheit als Voraussetzung für Literatur in seinem Roman auf:

56 Ebd., S. 210. 57 N. Ostrovskij: Moj tvorčeskij otčët. Otčët na zasedanii bjuro Sočinskogo gorodskogo komiteta VKP(b). In: ebd., S. 244.

182 | R ADIOPOETIK DES SOZIALISTISCHEN REALISMUS „Pawels Krankheit tat ihr Weg. Unerträglich, wie Feuer brennend, begann ein Enzündungsprozess im rechten Auge, der dann auch auf das Linke übergriff. Ein dunkler Schleier bedeckte alles um ihn herum – und zum erstenmal im Leben erfasste Pawel, was es heißt, blind zu sein. […] Pawel begann zu arbeiten. Er plante ein Buch, das der heldenhaften Kotowskidivision gewidmet sein sollte. Der Titel fand sich von selbst. ‚Die Sturmgeborenen‘ Von diesem Tag an konzentrierte sich sein ganzes Leben auf seine Arbeit an diesem Buch. Langsam, Zeile um Zeile, wuchsen die Seiten an. Ganz im Bann der von ihm geschaffenen Gestalten, vergaß er alles andere. Zum erstenmal erlebte er die Qual des Schaffens, als sich die lebendig vor ihm entstehenden, so gegenärtigen, unvergesslichen Bilder nicht auf das Papier bannen ließen und die Zeilen blass, ohne Feuer und Leidenschaft blieben. [Болезнь делала свое дело. Огнем нестерпимой боли запылал правый глаз Корчагина, от него загорелся и левый. И впервые в жизни Павел понял, что такое слепота - темной кисеей затянулось все кругом него. [...] Павел начал работать. Он задумал написать повесть, посвященную героической девизии Котовского. Название пришло само собой: ‚Рожденные бурей‘. С дня вся его жизнь переключилась на создание этой книги. Медленно, строчка за строчкой, рождались страницы. Он забывал обо всем, находясь во власти образов и впервые переживая муки творчества, когда яркие незабываемые картины, так отчетливо ощущаемые, не удавалось передать на бумагу и строки выходили бледные, лишенные огня и страсти.]“58

In seinen Reden und Aufsätzen aber auch in seinem Roman wird die Bestimmung der literarischen Arbeit von Ostrovskij durch die Radiopoetik offensichtlich. Die Voraussetzung für die Literatur ist der Verlust des Sehens und erinnert unweigerlich an die Definitionsbestimmungen der Radiokunst Ende der 1920er Jahre. Zur Beschreibung der Entstehung eines Radiofilms sagt Afinogenov, der Autor müsse blind sein, denn dann würde ihm der Radiofilm am besten gelingen. Nun schlägt die Blindheit des Autors in Ostrovskijs Arbeit auf die literarische Produktion um und codiert damit das literarische Schreiben als ein sozialistisches Martyrium, das nun im Mysterium der radiophonen Akustik seine Erlösung finden kann. Das Radio gab ihm das, was die Blindheit nahm, heißt es im Roman und obwohl Ostrovskij in seinem Aufsatz das Diktieren als Behinderung der literarischen Arbeit

58 N. Ostrovskij: Kak zakaljalas‘ stal‘. In: Sobranije sočinenij. Moskva 1955. Bd. 1, S. 394, 400-401. / dt. S. 493, 502-503.

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charakterisiert, wird es dennoch zur Voraussetzung für den Vorbildroman des sozialistischen Realismus. Die Polemik gegen das Buch, die man bei Andrej Belyj in Magija slov (Magie der Worte) oder wenn auch in einer veränderten Akzentuierung bei Fedin in Brat’ja (Brüder)59 vorfindet, mündet bei Ostrovskij in einem Sujet, das gegen das Funktionieren der Schrift anschreibt. Die Entmaterialisierung der Schrift, der Verlust des Körperlichen wird bei Ostrovskij quasi ad absurdum geführt, indem tatsächlich die Qualen der Schrift und das Martyrium des Schreibens den Protagonisten zur Erlösung führen: „Pawels Herz schug höher. Der ersehnte Traum war Wirkichkeit geworden! Der eiserne Ring war gesprengt. Abermals – mit einer neuen Waffe – war er in die Kampfreihen, zum Leben zurückgekehrt. [Сердце учащенно билось. Вот она, заветная мечта, ставшая действительностью! Разорвано железное кольцо, и он опять – уже с новым оружием – возвращался в строй и к жизни.]“60

Der Sieg über die Krankheit mündet in einem quasi metaphysischen, körperlosen, rein geistigen Zustand des Autors, der imstande ist, seine körperliche Hülle zu verlassen, im Kollektiv einzugehen. Damit münden die Versuche der Entmaterialisierung der Schrift so wie die Versuche, das literarische Schreiben zu überwinden, in einer buchstäblichen Entmaterialisierung des Autors, der als physische Größe komplett ausgelöscht wird. Die zerstörerische Kraft der kollektiven Stimme entfaltet bei Ostrovskij ihre Wirkung, indem der Autor, sein Schreiben und sein Romanheld zu einer Figur werden, die sich durch sozialistische Aufopferung bestimmt. Durch den Roman, durch Ostrovskijs Radioreden und Selbstrechtfertigungsschreiben entsteht eine Hagiographie des Autors, die die Grenze zwischen der physischen Person des

59 Vgl. Zitat 25 und 59. Belyj stellt das grafische Wort dem lebendigen klingenden Wort gegenüber und stellt damit Weichen für seine Wortpoetik, die nach dem Ursprung des poetischen Wortes fragt. / Fedin spricht von Geistern, die von den Buchregalen gekommen die Stadt bevölkern und die Menschheit von Materialismus überzeugt und hinters Licht geführt haben. Keine Menschen, sondern literarische Geister von Dickens bevölkern die Stadt. Das Motiv der Lüge des literarischen Wortes wird durch die Anspielung auf Dickens deutlich und stellt die Materialität und Endlichkeit des Buchstabens gegenüber dem gemeinschaftsstiftenden Klang der Musik, dem lebendigen Laut gegenüber. 60 N. Ostrovskij: Kak zakaljalas‘ stal‘. Ebd., S. 404.

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Schriftstellers, seinem Roman, seinem Held und dem sozialistischen Kollektiv verschwimmen lässt. In Ostrovskijs literarischem Schreiben verdichtet sich die so oft in der Forschung betonte Verbindung seines Romans mit den hagiografischen Heiligenviten (žitije) der byzantinischen Tradition in einem Bild der Überwindung des Körperlichen und des Übergangs in einen entmaterialisierten, geistigen Zustand des Märtyrerhelden. In einer ausführlichen Analyse des Romans Wie der Stahl gehärtet wurde zeichnet Hans Günther die strukturellen Ähnlichkeiten zwischen dem sozrealistischen Vorbildroman und dem hagiografischen Genre nach und zeigt am Aufbau des Romansujets die Entwicklung des positiven Helden als eine innere Entwicklung des Heiligen nach alter mystischer Tradition im Prozess der Vervollkommnung und des stufenweisen Aufstiegs zu Gott61. Das ununterbrochene Martyrium Korčagins, seine Überwindung der Spontanität (stichijnost’) und der Übergang zum Bewusstsein und zur Parteidisziplin, seine Entwicklung vom Schüler zum Erzieher des Sozialismus und schließlich die Überwindung der persönlichen Tragik als generelle Herabstufung des Tragischen im sozrealistischen Roman lassen H. Günther in Pavel Korčagin unverkennbare Züge einer roten Ikone62 erkennen. Allerdings führt die Beobachtung dieser Strukturähnlichkeiten des Sujets zwischen Ostrovskijs Roman und den Heiligenviten H. Günther zu einer weiteren Überlegung: „Da nicht anzunehmen ist, dass Ostrovskij als schriftstellerischer Laie bewusst auf hagiografische Vorbilder zurückgriff, muss man fragen, wie die Parallelen zum Genre des Heiligenlebens zu erklären sind.“63

Weiterhin stellt sich H. Günther die Frage nach der Beziehung zwischen Autobiographie und Fiktion in Ostrovskijs Roman. Die bei Ostrovskijs Forschung üblichen sujetbasierten biografischen Gemeinsamkeiten werden in H. Günthers Untersuchung um die quasi-hagiografische Intention des Romans erweitert, die er vor allem auf die redaktionellen Überarbeitungen des Romans zurückführt. Im Vergleich zu mystischen Heiligenviten des 15. Jahrhunderts spricht er die regelmäßige Überarbeitung und Anpassung des Romans von Ostrovskij an die ideologischen Normen der Stalinzeit an, die zur Kanonisierung des Romans als Muster des

61 Vgl.: mit Hans Günther. Die Verstaatlichung der Literatur. Entstehung und Funktionsweise des sozialistisch-realistischen Kanons in der sowjetischen Literatur der 30er Jahren. Stuttgart 1984, S. 95-107. 62 Ebd., S. 106. 63 Ebd., S. 104.

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sozialistischen Realismus entscheidend beitragen. In einem Begleitbrief zum ersten Manuskript seines ersten Romans Wie der Stahl gehärtet wurde schreibt Ostrovskij folgendes: „Als ich begonnen habe, mein Buch zu schreiben, wollte ich es zuerst in Form von Erinnerungen und einer Reihe von Fakten schreiben. Aber als ich mich mit Genosse Kostorov damals, als er Redakteur der „Jungen Garde“ war, getroffen habe, hatte er mich überzeugt, das Buch in Form einer Erzählung oder eines Romans zu schreiben, in dem ich das Leben der Arbeiterjugend, ihre Kindheit, ihre Arbeit und schließlich ihren Klassenkampf darstelle. [Когда я принялся писать мою книгу, я думал написать ее в форме воспоминаний, записей целого ряда фактов. Но встреча с товарищем Костровым в бытность его редактором ‚Молодой гвардии‘, который предложил написать в форме повести или романа историю рабочих подростков и юношей, их детство, труд, и затем участие в борьбе своего класса, изменила это намерение.]“64

Während H. Günther an diesem Zitat die Vermischung zwischen Faktographie und Literatur bei Ostrovskij Schreiben beobachtet und das Einschreiben der hagiografischen Elemente erst im Kanonisierungsprozess durch unterschiedliche Redaktionen des Romans attestiert, könnte man an dieser Stelle diese Frage auch etwas anders stellen: Inwiefern kann man im Fall Ostrovskij eine generell veränderte Technik des Schreibens beobachten, in dem es grundsätzlich zur Zurückdrängung des individuellen Autorwortes zugunsten einer schreibenden Gemeinschaft kommt? So war Ostrovskij als unerfahrener Literat und ziemlich ungebildeter Schreiber selbst vermutlich kaum in der Lage, so filigran byzantinische Heiligenviten-Tradition ins Sujet seines Werks strukturell einzuführen, allerdings erweitert sich das Schreiben des Romans Kak zakaljalas‘ stal‘ um das Wissen der Redaktoren der Molodaja gvardija, der Kritiker und Schriftstellerkollegen, die ebenfalls zu Autoren von Ostrovskijs Roman werden. In einem Aufsatz zu seiner Arbeit am Roman schreibt er: „Es ist schlecht, dass in den Zeitschriften, die dem Schriftstelleranfänger helfen sollen, die großen Schriftsteller nie über ihre praktische Arbeit schreiben wie z.B. die Montage des Buches oder der Aufbau eines Kapitels usw, weil sie das für unwichtig halten und stattdessen zu viel Raum den theoretischen Ausführungen geben. Der Anfänger braucht aber technische Tipps für seine Arbeit und braucht einfache Hilfe bei der Erstellung des Arbeitsplans.

64 N. Ostrovskij: Ot avtora. Pis’mo, priložennoje k rukopisi pervoj časti romana “Kak zakaljalas’ stal’ ”. In: Sobranije sočinenij. Hg. von Molodaja gvardija. 1974. Bd. 2, S. 207. Vgl. auch H. Günther: Die Verstaatlichung der Literatur. (1984), S. 107.

186 | R ADIOPOETIK DES SOZIALISTISCHEN REALISMUS [Плохо то, что в журналах, помогающих молодому писателю, крупные писатели не пишут о черновой практической своей работе, хотя бы о монтаже книги, о построении главы и т. д., считая это ненужной мелочью, а давая много места общим теоретическим разговорам. А начинающему писателю необходимо также знать технику работы, получить, хотя бы такую простую помощь, как создать план работы. Сколько энергии тратится зря, пока начинающий товарищ найдет то, что давно уже известно литераторам.]“65

An dieser Stelle wird das Ausmaß des kollektiven Schreibens bei Ostrovskij deutlich. Es ist eben keine Rede von künstlerischer Inspiration oder der Stimme des Autors, es geht nun einzig und allein um Literatur als Arbeitsprozess, der gleichzeitig ein Gemeingut ist. Die literarische Arbeit von Ostrovskij ist ein Beispiel der totalen Kommunikation, die sich aus unermüdlichem Lernen, Belehren, Kritik, Selbstkritik und der Polyphonie der Stimmen der Anderen zusammensetzt und damit die intime Schöpfungssituation des literarischen Schreibens völlig aufbricht. Es entsteht eine Art Ökonomie der künstlerischen Arbeit. Ostrovskij spricht von Energieersparnis und Arbeitsplan. Es ist die Sehnsucht nach Ordnung und System, das Beharren auf Wahrheit und Reinheit der Sprache. Neben der Derealisierung des Lebens und Poetisierung der Arbeit, die E. Dobrenko der sozrealistischen Literatur bescheinigt, entwickelt sich bei Ostrovskij ein Prozess der Ökonomisierung des literarischen Schaffens, die auf der Grundlage eines polyphonischen Schreibens basiert. Mit dieser Ökonomisierung des Schreibens, die in Ostrovskijs Überlegungen zum Ausdruck kommen, büßt der Künstler entscheidend seine Magie ein und wird zu einer Art Ikonograf der Parteilinie, wie Katerina Clark66 trefflich bemerkt. Gleichzeitig verschiebt sich aber auch der Ort, von dem aus Ostrovskijs Literatur spricht. Während Pavel Korčagin mit dem Radio das Medium findet, das ihn in das sozialistische Kollektiv wiedereinführt, entsteht bei Ostrovskij auf der Basis der radioakustischen Erfahrung eine Art zu schreiben, die ihn als Autorinstanz völlig eliminiert und an deren Stelle ein sprechendes Kollektiv aus Lektoren, Verlagsredakeuren, literarischen Institutionen usw. setzt, das sich hinter dem Namen Ostrovskij vermuten lässt. Dieses restlose Aufgehen des Autors im Kollektiv äußert sich bei Ostrovskij in einer totalen Auflösung des Körperlichen. Das physische Verschwinden des Autors als persönliche Tragödie des ans Bett gefesselten und erblindeten Schriftstellers verbindet sich mit der sozialistischen Heiligenvita des Romanhelden Pavel

65 N. Ostrovskij: Moja rabota nad povest’ju “Kak zakaljalas’ stal’ ”. In: Ebd., S. 213. 66 Vgl. Katerina Clark: The soviet novel. History as Ritual. Chicago 1981.

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Korčagin. Das Leben des Autors wird von dem seines Romanhelden ununterscheidbar. Mehr noch verschwindet das individuelle Schicksal des Autors hinter einem überindividuellen Leiden seines Helden, der zum sozialistischen Märtyrer avanciert und damit den Märtyrer als Ausnahmefigur des Christentums politisch und ästhetisch reproduziert. Mit Ostrovskij / Korčagin als überindividuelle Figur der sozialistischen Aufopferung und des scheinbar grenzenlosen Leidens wird die ideologische Produktion der christlichen Nachahmungskultur67 als ästhetische Strategie des sozialistischen Realismus offensichtlich. So stellt der Fall Ostrovskij zwar eine Ausnahmesituation dar, seine Tat und sein Schicksal bleiben einmalig, füllen jedoch zugleich eine Vorbildfunktion aus und fordern nach Zeugen und Nachfolgern. Ostrovskijs Aufsätze und Radioreden, Kommentare seiner Kritiker folgen alle der Struktur seines Romans, sein Roman wiederum gibt die pathetischen Schriften eines Revolutionärs, einer predigenden Radiostimme, der überschwänglichen Rufen seiner Zeitgenossen und sowjetischer Literaturwissenschaftler wieder, die die Geschichte seines Martyriums immer wieder neu erzählen. Als letzter materieller Überrest bleibt tatsächlich sein Roman, der zum quasi physischen Nachweis des Autors wird und diesen überdauert. Eben diesen Rest zu überwinden bleibt utopisch und entwickelt sich zum unaufhörlichen Prozess des sozialistischen Realismus, das literarische Schaffen aus seiner Schriftgefangenheit zu befreien. Die Qualen des Schreibens, die bei Ostrovskij als ein unaufhaltsamer Prozess des körperlichen Zerfalls in einer Figur der literarischen Neuschöpfung münden, werden nun im sozrealistischen Kanon zu einer Art Opferungsritual umgeformt, das das literarische Schreiben zu einer Passion, zum leidenschaftlichen Erleiden und einer selbstgewählten Opferung68 eines sozrealistischen Schriftstellers erhebt und damit auf eine fast schon absurde Art und Weise die religiöse Bezeugnis- und Nachahmungskultur des Christentums fortschreibt.

67 Vgl. Sigrid Weigel: Schauplätze, Figuren, Umformungen. Zu Kontinuitäten und Unterscheidungen von Märtyrerkulturen. In: Märtyrer-Porträts: von Opfertod, Blutzeugen und heiligen Kriegern. Hg. von S. Weigel. 2007, S. 11-41. 68 Vgl. mit Erich Auerbach: Passio als Leidenschaft. In: Gesammelte Aufsätze zur romanischen Philologie. Hg. Von G. Konrad. Bern 1967, S. 164 – 165. Die Umcodierung des passiven Opfers zum aktiven Sich-Opfern stellt Erich Auerbach eindrucksvoll als das christliche Verständnis der Passion an und bietet damit eine philologische Deutung der christlichen Opferbereitschaft an. So ist das christliche Leiden vor allem eine aktive Handlung auch wenn dies bedeutet, jede erdenkliche Handlung zu unterlassen und sich der Pein und dem Tod zu ergeben.

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L EONID L EONOV : AM E NDE

DES

E RZÄHLENS

Der Roman Der Weg zum Ozean (1936) von Leonid Leonov stellt auf eine eindrucksvolle Weise den sozialistischen Übermenschen dar. In der Figur des Protagonisten Kurilov verdichten sich gleichermaßen Züge eines leidenden, sich aufopfernden sozialistischen Helden und eines kompromisslosen und beinahe menschenverachtenden Parteifunktionärs. Bereits zu Beginn des Romans wird dem Leser das Rückenleiden Kurilovs eröffnet, das sich als unheilbare Krankheit herausstellt, an der Kurilov schließlich stirbt. Dieses Rückenleiden bereitet ihm wohl unvorstellbar starke Schmerzen, die Kurilov allerdings ohne weiteres erträgt. Seine Härte gegenüber eigenen Schmerzen äußert sich allerdings gegenüber anderen Menschen als Rücksichtslosigkeit, für deren menschliche Schwächen und Fehler er lediglich Verachtung übrighat. Als Vorgesetzter der politischen Abteilung der Eisenbahn ist Kurilov faktisch der oberste Leiter des Eisenbahnwesens in Čeremšansk und damit beschäftigt, sich die missliche Lage und den schlechten Zustand der Eisenbahn vor Augen zu führen. Gleich auf den ersten Seiten des Romans wird deutlich, dass Kurilov in jeder Hinsicht über Machtbefugnisse verfügt, die ihn zum einzigen Herrn und Richter machen, der über Leben und Tod seiner Untergebenen entscheidet. Zum Bericht und Rechtfertigung ihrer Arbeit angetreten wird den Verantwortlichen für die Bahnstation in Čeremšansk schnell deutlich, dass der auf den ersten Blick zurückhaltende Kurilov tatsächlich hier ist, um zu richten. Kurilov verfügt nicht nur über Handlungsmacht in Čeremšansk – er ist sowjetische Macht, die höchstpersönlich in Čeremšansk antrifft. Der Text konstatiert gleich zu Beginn in Bezug auf die Mehrheitsverteilung in Kurilovs Besprechungsraum:

„[…] nicht die Ruhe des Weisen, sondern die Unterwerfung unter das Unrecht setzten die christlichen Autoren den passiones entgegen – nicht sich der Welt zu entziehen, um Leiden und Leidenschaft zu vermeiden, sondern die Welt leidend zu überwinden ist ihre Absicht. Stoische und christliche Weltflucht sind tief verschieden. Nicht der Nullpunkt der Leidenschaftslosigkeit außerhalb der Welt, sondern das Gegenleiden, das leidenschaftliche Leiden in der Welt und damit auch gegen die Welt ist das Ziel christlicher Weltfeindschaft; und gegen das Fleisch, gegen die bösen passiones dieser Welt, setzen sie weder die stoische Apathie, noch auch noch die ‚guten Gefühle’ (bonae passiones), um etwa durch vernünftigen Ausgleich die aristotelische Mitte zu gewinnen – sondern etwas ganz Neues, bis dahin Unerhörtes: die gloriosa passio aus glühender Gottesliebe. […] Die offenen Wunden Christi sind es, in die sich der Märtyrer birgt und die das Liebesfeuer in ihm entzünden, so dass er über die Qualen des eigenen Körpers ekstatisch triumphiert; sie sind ihm Zeugen für Christi Liebe.“

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„Die Gesichter der Gäste wurden lang und länger. Sie waren sieben, und er war einer, aber sie waren dennoch weniger, da hinter Kurilow die Partei stand! [Лица гостей сделались длинные и скучные. Их было семеро, а он один, но их было меньше, потому что за Куриловым стояла партия.]“69

Eben dieser direkte Verweis, hinter ihm stehe die Partei, macht Kurilov zum unangefochtenen Repräsentant der politischen Macht, die jegliche Mehrheitsverhältnisse immer für sich entscheidet. Leonovs Roman handelt allerding nicht nur vom Selbstwerdungsprozess eines sozialistischen Helden und parteiergebenen Kommunisten, sondern ist eher ein Zurückschauen des bereits gestandenen und formierten Helden Kurilov, der aus den Erfahrungen der Vergangenheit und Gegenwart heraus, durch die Gefährten, die ihn begleiteten, eine Zukunftsvision kreiert von einer Stadt der Zukunft, die er Ozean nennt, die gleichsam eine Utopie eines verwirklichten Kommunismus darstellt. Das Erzählen des Romans verläuft somit auf zwei unterschiedlichen Zeitachsen: zum einen geht es um aktuelle Geschehnisse in Čeremšansk mit kurzen Rückblenden in Kurilovs Vergangenheit und zum anderen ist es eine Erzählung aus der Zukunft, aus einer Welt, die Kurilov kreiert und welche von einem Geschichtsschreiber aus der Zukunft berichtet wird. Um gleich zu Beginn des Romans Kurilov als die einzige gerechtigkeitsbringende Machtinstanz in der Jetztzeit des Romans zu positionieren, wird ein Eisenbahnunfall dramatisch in Szene gesetzt. Im zweiten Kapitel wird der Unfall als eine gigantische Katastrophe inszeniert, bei der es neben den vielen menschlichen Toten vor allem auch um eine politische Katastrophe geht. Denn der entgleiste Zug transportierte Weizen, das im Romantext sofort in seiner ideologischen Dimension als das erste sozialistische Brot bezeichnet wird, mit dem die neue Ära begann70. Das Bild des Unfalls, das sich Kurilov bietet, wird einem barbarischen Altar gleichgesetzt, auf dem das Opfer noch im Todeskampf liegt: „Haufen verbogenen alten Eisens türmten sich auf dem Bahndamm. Auf geknickten Wagenrahmen, mit immenser Kraft ineinandergetrieben, ruhte dieser Barbarenaltar. Noch rauchte das Opfer. Ein Kesselwagen, auf den höchsten Punkt hinaufgeschleudert, wirkte wie der Kadaver einer Riesenbestie. In Streifen zuckte der Fackelschein über seine öligen Flanken. Unvergesslich war der stumpfe Block des Halses. Das Mordwerkzeug war noch vorhanden: zwei kumme Schienen staken im Kesselwanst. Noch troff aus der Wunde dicker

69 Leonid Leonov: Doroga na okean. Moskva 1977, S. 4. / dt. Übers. Weg zum Ozean. Übers. von D. Pommerenke und H. Burck. Berlin 1968, S. 7. 70 Leonid Leonov: Doroga na okean. Moskva 1977, S. 10. / dt. S. 12.

190 | R ADIOPOETIK DES SOZIALISTISCHEN REALISMUS schwarzer Saft. Als wolle das Opfer allein sein im Todeskampf, verbot ein engehängtes Schild, sich mit Feuer zu nähern. [Горы путаного железного лома громоздились на насыпи. Мятые вагонные рамы, сплетенные ужасной силой, служили основанием этого варварского алтаря. Еще дымилась жертва. Тушей громадного животного представлялась нефтенная цестерна, вскинутая на самую вершину. Судорожные полосы факельного света трепетали в ее маслянистых боках. Навсегда запоминался тупой обрубок шеи. Орудие убийства было налицо: два кривых рельса уходили в подбрюшье цистерны. Еще капал из раны густой и черный сок. И точно затем, чтобы никто не видел агонии, висела фанерка с запрещением подносить огонь.]“71

Die bildlich überladene Szenerie des Unfalls als Todeskampf des Opfers auf dem Altar macht das Eisenbahnunglück erst zu einer Katastrophe, indem die Unfallstelle und die auseinander gerissenen Waggons durch die aufgeladene Symbolik des archaischen Rituals regelrecht verlebendigt werden. In dieser Situation, in der der entgleiste Zug als ein heidnischer Opferungsritus inszeniert wird, kommt nun auch Kurilov in seiner Rolle als richtende Gewalt voll zur Geltung. Die Katastrophe eines gigantischen Ausmaßes fordert sein sofortiges Handeln und Kurilov weiß natürlich sofort, was die Zukunft bringt. Als Reaktion auf die Rechtfertigungsbemühungen des Stationsvorgesetzten heißt es über Kurilov: „Wie das Schicksal starrte er dem Mann dort ins Gesicht, dem er sein Los voraussagen konnte. [Как судьба, он безотрывно глядел теперь в лицо этого человека, участь которого была ему известна наперед.]“72

So wie die Unfallstelle als Opferungsritual dargestellt wird und auf die göttliche Macht verweist, der das Opfer gebracht wird, erscheint auch Kurilov als eine Verkörperung der Macht, die das Schicksal von seinem Begleiter besiegelt. Es geht aber noch um etwas anderes: Denn jener göttlichen Macht ähnlich, der das Opferungsritual gilt, verlangt auch Kurilov nach Opfern. Nicht nur der Stationvorsteher sondern auch der Ingenieur, der für Reparaturen der Gleise zuständig ist, muss sich der entgrenzten Wut der Gerechtigkeit Kurilovs beugen. Nun tritt der Ingenieur in die Rolle des Opfers:

71 Leonid Leonov: Doroga na okean. Moskva 1977, S. 7-8. / dt. S. 10-11. 72 L. Leonov: doroga na okean, S. 9 / dt. S.13.

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„Das Opfer war gefunden. Man reckte sich, es ein letztes Mal in Augenschein zu nehmen, bevor es dem Staatsanwalt übergeben wurde. [Жертва была найдена. Потянулись взглянуть на нее в последний раз перед тем, как отдадут ее прокурорам.]“73

Mit der Bemerkung: „‚Mit Ihrer Person werden sich noch die Gerichte beschäftigen‘, sagte der CHEP [Я вас выпущу из своих рук только под суд... – сказал начподор]“74

geht Kurilov wütend davon. Von der Partei zur Überwachung des Ausbaus der Eisenbahnstrecke abkommandiert, ist Kurilov der Inbegriff des sozialistischen Heldenkults, stählern und parteiergeben. Er ist ein Vollstrecker im Dienste jener hohen Parteiziele, die er zugleich in seiner utopischen Stadt Ozean entwirft. Kurilov ist vor allem ein Beispiel des positiven Helden des sozialistischen Realismus, wie ihn etwa Hans Günther beschreibt75. Nur ist Kurilov als eine Figur des Verschmelzens zwischen zwei mythischen Gestalten Prometheus und Christus in einer paradoxen Synthese von Stolz und Barmherzigkeit, Demut und Tollkühnheit76 nur bedingt erkennbar. Die Verbindung von Kämpfer und Opfer, die in Gor’kjs Mutter offensichtlich ist, wird in Leonovs Roman deutlich zugunsten des Kämpfenden, des Kompromisslosen verschoben. Ein Menschenfreund ist dieser Kurilov nicht: „Ihn trieb es weg, von diesem menschlichen Abfall. [Он заторопился из этой человеческой ямы.]“77

Vielmehr interessiert er sich für ökonomische als für menschliche Verluste, für das Getreide, das verschüttet wurde. Die Welt der Objekte erscheint zu Beginn des Romans als ein Gegenpol zur menschlichen Nichtigkeit und Schwäche. Getreide sei das Wort der Epoche, so der Erzähler, das längst keine rein ökonomische

73 L. Leonov: Doroga na okean, S. 11. / dt. S. 15. 74 L. Leonov: Doroga na okean, S. 12 / dt. S. 15. 75 Hans Günther: Die Verstaatlichung der Literatur: Entstehung und Funktionsweise des sozialistisch-realistischen Kanons in der sowjetischen Literatur der 30-er Jahre. Stuttgart 1984, S. 40ff. 76 Hans Günther: Der sozialistische Übermensch: Gor’kij und der sowjetische Heldenmythos. Stuttgart 1993, S.14ff. 77 L. Leonov: Doroga na okean, S. 12 / dt. S.16.

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sondern vor allem politische Bedeutung besäße78. Aus seiner primären Nutzung komplett herausgehoben, wird das Getreide wie auch die Eisenbahnstrecke selbst, die im Zentrum des Romans steht, zu einer politisch ideologischen Kategorie. Dabei steht Kurilov der Eisenbahn doch eher skeptisch gegenüber: „Mit der Eisenbahn hatte Alexej Nikititsch eigentlich nicht viel im Sinn. Zu absurd schien der Gedanke, dass längst der gesamten Strecke von Ozean zu Ozean Hozkolben lagen, benäht mit Zehnmeterstangen teuren hochgezüchteten Walzstahls. Selbst die Lokomotive, diese unvorteilhafte parasitäre Maschine, deuchte ihn ein Wahrzeichen des kapitalistischen Systems, markanter und treffender als die Wassermühle von Marx. [Алексей Никитич вообще не одобрял железной дороги. Было смешно знать, что весь путь от океана до океана выложен деревянными плахами, а на них нашиты десятиметровые стальные полосы дорогой и вычурной прокатки. Самый паровоз, невыгодная, паразитическая машина, казался ему более острым и метким символом капиталистической системы, чем Марксова водяная мельница. [...]]“79

Die Eisenbahn gewinnt für Kurilov nur als Weg (železnaja doroga) an Bedeutung und dient dem Roman als Titel in einer doppelten Weise: zum einen als Weg zur Kurilovs utopischem Ort Ozean und zum anderen als Eisenbahnstrecke, die bis zum Ozean ausgebaut wird. Ähnlich wie das Getreide wird die Maschine aus ihrer primären, praktischen Bedeutung als Verkehrs- und Transportmittel herausgelöst, um zum ideologischen Symbol zu werden und als Figur der Verbindung zwischen der kapitalistischen Vergangenheit und der sozialistischen Zukunft an der Erkenntnis des ewigen Lebens teilzuhaben. Viel stärker als für aktuelle Nichtigkeiten interessiert sich Kurilov für die Zukunft, in der er seine eigene Vision vom verwirklichten Kommunismus entwirft, der er sich in seinen Tagträumen hingibt: „Gern ließ Kurilow seine Gedanken jenen fernen Zielpunkt umkreisen, dem seine Partei zusteuerte. Das war die einzige Art Kurilowscher Entspannung. Freilich vermochten sich seine Phantasien nur im begrenzten Rahmen seiner Lektüre zu bewegen, die auf Kosten seines Schlafs oder seiner Tätigkeit ging. Und diese imaginäre Welt, gleichwohl völlig materiell und angepasst den menschlichen Erfordernissen, gipfelte, wie er meinte, in der höchsten Erkenntnis – der des ewigen Lebens. [Курилову всегда хотелось явственно представить себе ту далекую путеводную точку, куда двигалась его партия. Это был единственный способ куриловского отдыха. Разумеется, он мог предаваться фантазиям лишь в тесных пределах книг, на

78 L. Leonov: Doroga na okean, S. 12 / dt. S. 15. 79 L. Leonov: Doroga na okean, S. 23 / dt. S. 30.

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которые удавалось украсть время у сна или работы. И этот воображаемый мир, вполне материальный и соответсвующий человеческим потребностям, увенчивался в его догатках пределом знания – неумиранием.]“80

Dabei ist die imaginäre Welt, die Kurilov ansteuert, die er als Ziel setzt, bereits selbst eine Lektüre, eine Erzählung, die existiert, materiell und an die Bedürfnisse der Menschen angepasst ist. In dieser Situation erscheint Kurilov in einer doppelten Rolle: Er ist Leser und Autor zugleich. Das Buch, das er liest, wird zum Ort, an dem seine Fantasie entsteht, aus den Büchern schöpft er seine Vorstellung von der Zukunft. Gleichzeitig ist das Buch aber auch eine imaginäre Welt, die er, Kurilov, selbst kreiert. Seine Schöpfung der neuen Welt, des Ozeans ist nur in den Grenzen der Bücher möglich, jener Bücher, die er liest und die er sich einverleibt und aus denen er eine eigene Geschichte entwickelt, die er im Verlauf des Romans an den jungen Historiker aus der Zukunft Aleksej Peresypkin diktiert. So entsteht in Leonovs Roman eine geschlossene Welt der Erzählungen, die alle in sich vernetzt sind und auch im Prinzip keine Entwicklung kennen, sondern sich im IstZustand der Zukunft manifestieren, der sich unmittelbar an die Unsterblichkeit bindet. Genau das ist Kurilovs Problem: „Wie die meisten seiner Zeitgenossen entsetzte ihn der Gedanke, es könnte ihm nicht gegeben sein, die reifen Früchte vom Baume zu langen, der da schon wuchs, sich verzweigte und wurzelstark die Erde auseinandertrieb. Er fürchtete den Tod nicht, nur wollte er ihn nicht. [Как и большинство его современников, он пугался мысли, что ему не придется держать в руках зрелых плодов дерева, которое вот уже росло, ветвилось и могучими корнями распирало землю. Он не боялся смерти, он только не хотел ее.]“81

Seine Sterblichkeit steht ihm im Weg. Nicht die Angst vor dem Sterben, sondern das Ablehnen seiner Sterblichkeit wird zum Thema des Romans. Er stand bereits oft selbst im Krieg dem Tod nahe, hat das Sterben gesehen und doch bringt ihn gerade der Tod seiner Frau ins Wanken. Denn es ist ein Sterben, das jenseits der heroischen Kategorie steht und damit nur auf die Vegänglichkeit des Menschen ohne jede Transzendenz hindeutet. Der Tod seiner Frau Katerinka erinnert ihn unweigerlich an die sterbliche menschliche Physis, von dem er systematisch flieht. Je mehr sie an ihrer Krankheit körperlich dahinschwindet, desto weniger lässt er sich bei ihr im Krankenhaus blicken. Dabei ist es nicht der persönliche Verlust,

80 L. Leonov: Doroga na okean, S. 23 / dt. S. 30. 81 L. Leonov: Doroga na okean, S. 23 / dt. S.30.

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der ihn so trifft, sondern die Begrenzung des menschlichen Daseins, die er erkennt und die ihm Angst macht. „Bei jedem Besuch, fand er Katerinka verändert. Ihre Augen blickten immer fremder und sanken ein, zwischen den Brauen furchte es sich erdfahl; Tag und Nacht wirkten ihm unfaßliche Kräfte an dieser Frau. […] Das Beisammensein wurde zusehends quälender. Die Krankheit schien zu verharren. Noch ein Stück, meinte man, und die Ärzte hätten die Frau auf ihre Seite herübergezogen. Kurilow ließ nun mehr die Besuchstage aus; er vergrub sich in die Arbeit. [В каждое посещение он заставал Катеринку иной, чем была прежде. Чужали и западали глаза, углублялась землистая морщинка меж бровей; днем и ночью трудились над этой женщиной непонятные ему силы. […] Все тягостнее становилось бывать здесь. Процесс как будто остановился. Казалось еще немного - и доктора перетянут ее на свою сторону. Курилов стал пропускать дни посещений; он засиживался на работе.]“82

Katerinkas Tod wird zu einer intimen Angelegenheit, die ihn verstört, weil es ihn an die eigene Sterblichkeit verweist. „In den letzten Monaten nun hatte er aus nächster Nähe gesehen, wie man starb, nicht auf aufgewühlten Schlachtfeldern, wo die Angst erlosch im großen Todes- und Vernichtungstaumel. Diesmal wurden Experimente arrangiert mit der Akribie eines Laboratoriums. Es geschah im Krankenhaus für höhere Funktionäre. […] Der Tod war in diesem Asyl der Unglücklichen ein medizinisches Geheimmittel, nötig zur letzten Heilung. […] Und er hatte gemeint, das gehe so unmerklich vor sich, als ob ein Fenstervorhang sacht zugezogen wird, wenn ein Säugling schlummert. [Однако в последние месяцы ему довелось наблюдать умирание совсем вблизи и это происходило не посреди истоптанного военного поля, где самый страх гасился неодолимым вихрем гибели и уничтожения. На этот раз опыт был обставлен с лабораторной тщательностью. Больница предназначалась для ответственных работников. […] Самая смерть в этом убежище представлялась таинственным средством, необходимым для последнего исцеления. […] А он то полагал, что ЭТО происходит незаметно, как неслышно задергивают оконную занавеску, чтобы не будить задремавшего ребенка...]“83

82 L. Leonov. Doroga na okean, S. 25 / dt. S. 32. 83 L. Leonov. Doroga na okean, S.24-25. / dt. 31, 33.

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Die Nähe zu seiner sterbenden Frau bringt ihn in Verlegenheit. Er kann mit dieser Intimität des Todes nicht umgehen. Als seine Kollegin Marina an der Schwelle einer beginnenden Romanze, Kurilov nach seiner Frau fragt, sagt er: „Sie war sehr ehrlich zu anderen Menschen und schätzte alle anderen besser als sich selbst. Sie war eine einfache Arbeiterin. In den Haftjahren hat sie viel für mich und die Genossen getan. Alle, die sie kannten, nannten sie Katerinka… [Она была очень честная к людям и всех считала лучше себя. Она была простая работница. В годы тюрьмы она много сделала для меня и товарищей. Все, кто знал ее, называли ее просто Катеринка…]“84

Kein Wort emotionaler Bindung, keine besondere Beziehung, die ihn mit seiner Frau verbindet. Sie ist vielmehr ein Teil des Kollektivs, ein Gemeinschaftsobjekt, das für alle da ist. Sie ist für alle einfach die Katerinka. Die emotionale Distanzierung und Ablehnung der eigenen Sterblichkeit und Tabuisierung seines Menschseins, sind die unbedingte Voraussetzung auch die für Kurilovs imaginäre Welt Ozean. Kurilov sieht sich als Titan, der neue Menschen im Auftrag der Partei erschaffen will. „Ihn trieb es weg von diesem menschlichen Abfall. […] Kurilow grübelte über diese Leute, da er sich weniger aus der Sicht von gestern als von morgen sah. Im letzten Monat waren Hunderte vor ihm vorübergezogen: Weichensteller, Schaffner, Ingenieure, Betriebs- und Zugkontrolleure. […] Die Partei erwartete Antwort von ihm. Kurilow schwieg vorläufig. [Он заторопился из этой человеческой ямы. […] Курилов много думал об этих людях, потому что глядел на них не из вчерашнего дня, а из завтрешнего. За последний месяц перед ним прошли сотни людей: стрелочники, кондуктора, инженеры, ревизоры движения и пути. […] Партия ждала ответа от него, Курилов пока молчал. Он еще не знал...]“85

Kurilov ist derjenige, der über Leben und Tod entscheidet, er blickt aus der Zukunft. Trotz aller Versuche kann er sich seiner eigenen Menschlichkeit dennoch nicht entledigen. Es sind seine Schmerzen im Rücken, die ihn vom Denken ablenken und ihn daran hindern, die endgültige Entscheidung über diese Menschen zu fällen. Er betritt die Grenze seiner eigenen Physis, die er im engen Rahmen der Romanerzählung nicht überwinden kann. Ein Ausweg für Kurilov bietet seine gigantomanische Weltutopie, die in der Stadt der Zukunft Ozean mündet, die nicht

84 L. Leonov. Doroga na okean, S. 30. / dt. S. 36-37. 85 Ebd., S. 11-13. / dt. S. 16-17.

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in die Handlungsstruktur des Romans eingebunden wird, sondern sich etwas befremdlich in den Text jenseits des Plots hineinschiebt. Es sind insgesamt drei Kapitel und der Epilog, die sich dem Ozean widmen und eine Reise durch die neue Kurilovsche Welt beschreiben. Die demiurgische Rolle Kurilovs verbindet sich in der Ozean-Utopie mit einem prophetischen Blick in die Zukunft, der die Grenzen zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft aufzuheben versucht. Der Text nimmt sich vor, die Zeitlichkeit zu überwinden und es scheint, als würde sich die avantgardistische Forderung, mit der Vergangenheit zu brechen, die Tradition über Bord zu werfen, das Leben einer reinigenden allesverbrennenden Flamme hinzugeben und die Zukunft sofort zu leben86, auf eine sonderbare Art zu erfüllen. Die selbstzerstörerische, grenzüberschreitende Bewegung der Avantgarde erstarrt quasi im Sozrealismus in ewiger Erwartung.87 Es tritt ein Ruhezustand ein, bei dem man nicht mehr entscheiden kann, ob man sich noch bewegt oder nicht, der allerdings den Moment der avantgardistischen Selbstzerstörung beerbt, indem er das Motiv der Verbrennung als sakrales Ritual zu einer politischen Säuberung ästhetisch umcodiert. Es wird zu einem Ritual der Reinigung, einer Art Bereinigung der neuen Welt vom Menschen – ein Zustand, den der Romanerzähler in

86 Vgl. V. Papernyj. Kultura dva. Moskau 1996, S. 45ff. 87 Vgl. V. Papernyj. Kultura dva. Moskau 1996, S. 45ff. Am Bsp. Moskauer Architektur zeichnet V. P. den Übergang der Architektur der Avantgarde zur Architektur des soz. Realismus, die er als Übergang von Kultura 1 zu Kultura2 bezeichnet. Einer der Unterscheidungen zwischen den beiden Kulturen sei die Verschiebung der avantgardistischen Forderung nach dem Bruch mit der Vergangenheit und dem sofortigen Eintritt der Zukunft hin zu einer Vorstellung von Zukunft, die in Unendlichkeit sich immer weiter entfernt und in ihrer Unveränderbarkeit erstarrt: „Будущее, превратившууся в вечность, настолько однородно и неизменно, что там уже ничего невозможно разглядеть, туда бессмысленно и смотреть – взгляд культуры постепенно оборачивается назад, как бы развернувшись на 180°. Настоящий момент оказывается уже не начальной точкой истории, а скорее ее финалом. Культуру начинает интересовать путь, которым она пришла к настоящему моменту, начинает интересовать история. Создаваемое культурой 2 не сжигается, не бросается «как падаль», напротив, оно мнгновенно затвердевает, превращаясь в памятники истории, причем этот процесс затвердeвания происходит одновременно с созиданием.“ (S. 45-46) Eine ähnliche Figur der sofortigen Verwandlung der Gegenwart und der Zukunft in die Geschichte lässt sich auch in Leonovs Text beobachten, wo die etwas befremdliche Vermischung von unterschiedlichen zeitlichen Dimensionen im Roman wohl mit Papernyjs Vorstellung der sofortigen Erhärtung am besten beschrieben werden kann.

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einer metatextuellen Diskussion dem Parteihelden Kulrilov auf seiner Reise durch den Ozean vorwirft: „‚Sie sind auf dem besten Weg, unser ‚Ozean‘ in ein christliches Paradies umzumodeln!‘, schrie ich, den dreck ausspuckend, der uns ins Gesicht flog. ‚Sie wollen mit Cherubinen und unerschütterlichen Statuen beginnen. Sollen sie sich herumprügeln, abquälen, verzichten. Das ist das Leben.‘ ‚Warum suchen Sie überall Dreck, Genosse Literat?‘ ‚Vielleicht deshalb, weil er auf die Gegenwart des leibhaftigen Menschen hinweist! Der Mensch wandelt auf Erden und hinterlässt Schmutz, großen und kleinen, die Asche seines Brennens.‘ und vieles andere mehr sprach ich bei dieser Gelegenheit offen aus. [-Но вы же собираетесь соорудить христианский рай из нашего Океана! – кричал я отплевываясь от гадости летевшей нам в лицо. – Вы намерены его херувимами и невозмутимыми статуями. Пускай они тоже дерутся, мучатся, расстаются... в этом жизнь. -Почему вы везде ищите гряз, товарищ литерат? -Хотя бы затем, что это и указывает на присутствие живого человека! Человек проходит по земле и оставляет сор, большой и маленький, пепел своего горенья... Не хотел бы дожить до времени, когда некому будет сорить на зeмле... – И много другого на ту же тему выложил я ему в тот раз.]“88

Der Romanerzähler gerät in Konflikt mit dem Protagonisten. Was auf den ersten Blick als ein erzählerischer Trick erscheint, entwickelt sich im Laufe des Romans zum eigentlichen Problem der Erzählung. Es wird immer deutlicher, dass der Erzähler immer mehr seine Legitimität des Erzählens verliert und Kurilov nichts entgegenhalten kann. Die Autorität des Erzählens geht dem Erzähler verloren, so dass er schließlich zugeben muss, dass er der überindividuellen Wahrheit Kurilovs unterlegen ist: „‚Er zündete ärgerlich seine Pfeiffe an, und ging in der felsenfesten Gewissheit, dass Dispute weniger den Gegner überzeugen als die Richtigkeit der eigenen Ansichten beweisen sollen.‘ [Он стал сердито раскуривать трубку, и я ушел от него, вполне убежденный, что споры ведуться не столько с целью разубедить противника, сколько с намерением доказать самому себе правильность своих воззрений.]“89

88 Leonov: ebd., dt. S. 147 / ru. S. 120. 89 Ebd., dt. S. 147 / ru. S. 120.

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Es entsteht dabei eine sonderbare Erzählsituation: Der Erzähler tritt seiner Figur entgegen und bezeichnet diese Freundschaft als eine, die über die Grenzen des Gewöhnlichen hinausgeht. Kurilov und der Erzähler gehen auf Reisen, richten ihr Blick in die Zukunft und planen aus der Zukunft heraus sorgfältig die Geschichtsschreibung. „‚Reichte das Auge nicht aus und wolte es die Sehkraft des Poeten mit dem Scharfsinn des Politikers aufnehmen, bemühten wir auch die Phantasie. Sie war uns der schwanke Steg über dem Abgrund, in dem drunten, ungewiss, in welcher Höhe, der Strom toste. Es war schwierig, da, so vernünftig die Geschichte auch geplant wird, ein ganzer Anteil daran den Zufälligkeiten, Genies und Narren eingeräumt werden muss. […] Die besseren Züge tat Alexej Nnikititsch bei diesen Partien; auf mein Konto gehen Ungenauigkeiten, Bildgeklingel, unvermeidliche Weglassungen.‘ [Когда нехватало глаза и прозорливость поэта равнялась проницательности политика, мы пользовались и вымыслом. Он служил нам зыбким мостком через бездну, на дне которой – неизвестно в какую сторону – шумит поток. Это было трудно потому, что, разумно планируя историю, всегда приходится оставлять кое-что на долю случайностей, гениев и дураков. […] Все лучшее в этих партиях принадлежит Алексею Никитичу; мне же лишь неточности, побрякушки образов и опущения, неминуемые при пересказе.]“90

Während Kurilov die Welt kreiert, erfüllt der Erzähler nur eine berichtende Funktion. Darüber hinaus korrigiert Kurilov den Erzähler und greift durch Fußnoten91 in die Erzählung ein. „‚Falsch, Herr Literat‘, korrigierte mich Kurilow. ‚Der Baumeister realisiert keine Phantasien, sondern eiserne Notwendigkeit! Ich stimme ihm gern zu.‘ [Не правильно, товарищ литерат, - поправил меня Курилов. Строитель реализует не фантазии, а железную необходимость! Я с ним согласен.]“92

90 Ebd., dt. S. 137 / ru. S. 111. 91 Vgl. L. Leonov: ebd., dt. S. 137 / ru. S. 111. 92 Ebd., dt. S. 137 / ru. S. 111.

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Schließlich findet ein Seitenwechsel statt: Nicht der Erzähler, sondern Kurilov hat die absolute Autorität über den Roman. Das erzählerische Ich wird von Kurilov mit Herr Literat angesprochen und in seinen Verfehlungen entlarvt, so dass er nun über kein eigenes Wort mehr verfügt. Auch im Medium des Erzählens unterscheiden sich die beiden. Während der Erzähler nun eindeutig schreibt, ist Kurilov immer derjenige, der liest, korrigiert, diktiert. Kurilov spricht und schreibt nicht, und aufgrund der deutlichen Autorität seiner Aussage im Roman wird bei Leonov wie auch bei anderen literarischen Beispielen in dieser Arbeit, das mündliche Sprechen gegenüber dem Schreiben deutlich aufgewertet. Nur im Sprechen gelingt es Kurilov, sich über den geschriebenen Text zu stellen und den Roman, der über ihn geschrieben ist, in dem er lediglich eine Figur ist, zu sabotieren. Der Ort, an dem die Grenzen zwischen den Erzählebenen verwischen, in dem der Übermensch Kurilov sich über den Text stellt, ist ein Raum, in dem sämtliche zeitliche Grenzen aufgehoben sind. Schließlich entledigt sich der Roman seiner Wirklichkeit. „‚Wir entnahmen uns der Gegenwart; wir beseitigten jene transportable Wand zwischen zukunft und Vergangenheit, und da erhielten diese beiden nichtsein gleichermaßen Evidenz. Wir traten in die vierdimensionale Welt hinaus; alles wurde uns zugänglich, faßlich wurde die undenkbare Parallelität der Ereignisse. Kleinmütig stürzte ich vorwärtz, zum Tor des Gartens, von dem die bravsten Erdenkinder in so verschiedener Weise schwärmten; am liebsten wäre ich hindurchgerannt, durch Blut und Feuerbrände der unvermeidlichen Katastrophen, doch mein spöttischer Vergil führte mich unerbittlich zu allen Erschütterungen, die an den Schnittpunkten der Geschichte liegen. Mitunter stahlen wir uns so dicht heran, dass es uns an Weisheit fehlte, über Gut und Böse zu entscheiden.‘ [Мы изымали себя из настоящего; мы уничтожали эту подвижную перегородку между будущим и прошлым, и тогда оба эти небытия приобретали одинаковую убедительность. Мы выходили в четырехмирный мир; все становилось нам доступно, и внятной была удивительная единомерность событий. Я малодушно рвался вперед, к воротам сада, о котором так по-разному мечтали лучшие дети земли; мне хотелось прорваться сквозь кровь и пламена неминуемых несчастий, но мой насмешливый Вергилий непреклонно вел меня черезвсе потрясенья, что размещены в узловых пересечениях истории. Иногда мы забирались так глубоко, что уже не хватало мудрости определить, что добро и где зло.]“93

93 L. Leonov: ebd., dt. S. 137 / ru. S. 111.

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Die Beseitigung der Wand zwischen Vergangenheit und Zukunft bedeutet, sich seiner Gegenwart zu entledigen, die Wirklichkeit zu überwinden, so dass die Gegenwart zu einem völlig metaphysischen, immateriellen, ja utopischen Raum wird und der Realismus des Sozialismus so auf eine paradoxe Weise das Reale entsorgt. Der Roman erzählt sich quasi autopoetisch weiter und bedarf keines Autors, keiner Erzählerfigur. Der Roman endet mit einem Epilog, der eine Berichtserstattung aus Kurilovs utopischer Stadt Ozean ist. Hier begegnen sich nun zum letzten Mal der Erzähler, der junge Historiker Peresypkin und der am Nierenversagen qualvoll verstorbene Kurilov: „‚Mein junger Gast war gleichfalls nicht abgeneigt, bisweilen einen Blick hinter diesen herabgelassenen Vorhang zu tun – und so traten wir über die Grenzen des engen, verräucherten Zimmers und der regnerischen Julinacht hinaus. Im Grunde waren wir zu dritt: Alexej Nikititsch befand sich bei uns, da mit dem Verlassen der Gegenwart er nicht minder real war als wir. [Мой юный гость также бывал склонен иногда заглянуть за этй плотно припущенную занавеску, - мы вышли за пределы тесной прокуренной комнаты и дождливой июльской ночи. По существу, мы вышли втроем: Алексей Никитич находился с нами, потому что с выходом из настоящего его реaльность становилась теперь не меньше нашей.]“94

Das Aufheben der zeitlichen und räumlichen Grenzen schafft eine Vorstellung vom Realen, die den Sozialismus zu einem gänzlich metaphysischen Ort, zu einer prognostischen Erzählung, zur Prophetie des kommunistischen Erlösungsmodells macht. Kurilovs Ozean steht schließlich als Erfüllung seiner Prophetie mit der Aufforderung, den Menschen hinter sich zu lassen, ihn zu überwinden. Am Ende bleibt nur der junge Alexej Peresypkin, der als Kind von Kurilov gerettet wurde, der als Vertreter der nächsten Generation in den Roman eingeführt wird. Peresypkin als enthusiastischer Kämpfer für die sozialistische Zukunft geht historischen Forschungen nach und will ein Epos des Welteisenbahnwesens schreiben, der den Titel Wie ein Nachfahr die Vergangenheit sieht! tragen soll. Am Ende des Romans verwandelt sich die Zukunft in die Vergangenheit. Sie wird zum historischen Narrativ und klammert gleichzeitig die Gegenwart komplett aus, so dass der Kurilovsche Sozialismus zur Utopie wird und der neue Mensch des Sozialismus nur im Rahmen eines seltsamen Blicks aus der Zukunft in die Vergangenheit existiert, ohne eine gegenwärtige Wirklichkeit zu besitzen. Jedoch ist

94 Ebd., dt. S. 638 / ru. S. 525.

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nicht nur die Wendung des Erzählplots zum Utopischen allein für die Derealisierung des Sozialismus in Leonovs Roman ausschlaggebend, es ist auch die Art zu erzählen, die sich selbst einer Gegenwart beraubt und mit dem Anspruch, über dem Menschlichen und dem Zeitlichen zu stehen, mythisch wird. Auf der Sujetebene gehen Kurilovs Visionen vom Ozean gut auf; im Roman eröffnen sich zwei Erzählebenen, die im Laufe des Romans immer mehr ineinanderfließen und mit dem Tod Kurilovs auch tatsächlich in seiner Stadt Ozean zu einem gemeinsamen Bild finden. Nun führt aber dieser Anspruch des Sozrealismus, nicht nur das Leben abzubilden, sondern selbst das sozialistische Leben zu sein, letztlich dazu, dass er jeglichen Anschluss an das Leben verliert, sich komplett immaterialisiert. Ähnlich wie in Fedins Brat‘ja (Brüder) Musik zu einem metaphysischen Ort wird, an dem die sozialistische Gemeinschaft möglich wird oder in Ostrovskijs Kak zakaljalas‘ stal‘ (Wie der Stahl gehärtet wurde) die völlige körperliche Auflösung Pavels zur Voraussetzung der sozialistischen Literatur wird, schreibt sich Leonovs Erzähler als Zeuge aus dem Roman heraus. Während er zu Beginn des Romans noch mit Kurilov streitet und ihm klein beigeben muss, existiert er am Ende des Romans nur noch als Statist, nur noch als Schatten der Vergangenheit ohne jede Zukunft. Am Ende des Romans sind nun die drei Figuren Peresypkin, Kurilov und der Erzähler in ihrem Ozean angekommen, allerdings ist der Preis dafür das Ende des schriftlichen literarischen Erzählens. Der Roman als Ort der sozialistischen Wirklichkeit ist zu Ende, es gibt einfach nichts mehr zu erzählen. Das Erzählen erzählt sich einfach weg. Der Versuch, die individualistische schriftliche Narration zu überwinden, die Literatur zu einem gemeinschaftlichen Eigentum zu machen, findet in Leonovs Roman, anders als es der Fall bei den anderen in dieser Arbeit aufgeführten Beispielen ist, tatsächlich innerhalb des Textplots statt. Hier wird der Prozess des Schreibens nicht motivisch, wie bei Ostrovskij thematisiert, sondern strukturell zum Hauptziel des Romans erklärt. So lassen sich die Konzepte des radiopoetischen Schreibens bei Leonov auf einer metaphorischen Ebene beobachten. Das Radio als Massenmedium in seiner politisch- ideologischen Bedeutung spielt in seinem Roman keine Rolle, allerdings werden hier Schreibmechanismen sichtbar, die den Schrift-Sprechen-Konflikt in der sozrealistischen Literatur, der durch die radioakustische Massenmedialisierung des Wortes in Gang gesetzt wird, als literarisches Bild, als Metapher lesbar machen. Die Autorität des Erzählers wird zum Herrn Literat ohne eigene Stimme herabgestuft, Kurilovs Sprechen überdauert allerdings tatsächlich selbst seinen Tod. Indem er sich nun auch seiner lästigen menschlichen Physis entledigt, erlangt Kurilov einen metaphysischen, entkörperten Status, aus dem er seine Legitimation zu sprechen gewinnt. Er diktiert dem jungen zukünftigen Historiker Peresypkin die

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einzige existierende Wahrheit über den Ozean, die das Zeitliche überdauert und über die nur Kurilov selbst verfügt. Der Erzähler kann allerdings diesen Schritt nicht gehen, er bleibt quasi in der Schrift gefangen, die nun auch tatsächlich am Ende des Romans angekommen ist. Das, was am Ende bleibt ist ein schriftlicher Text, der sich selbst systematisch Stück für Stück entsorgt, bis fast nichts mehr übrigbleibt. So wie das Menschliche zu Beginn des Romans von Kurilov nur als Abfall betrachtet und in seinem utopischen Ozean auch tatsächlich entsorgt wird, entledigt sich nun auch der Roman seiner Schriftlichkeit als letzte materielle Instanz. Das kontinuierliche Zerbrechen der Erzählerfigur im Roman, die durch den sprechenden Kurilov unterbrochen und dann durch den zukünftigen Historiker Peresypkin ersetzt wird, führt nicht nur zur Überlagerung von untereinander konkurrierenden Erzählebenen innerhalb des Romans, die schließlich ineinander fließen, sondern führt gleichermaßen dazu, dass das literarische Erzählen seinen Ort, von dem es agiert, vom schriftlichen Text zum transzendentalen Klangraum aus der Zukunft ändert und auch sein Medium von der Schrift zum Sprechen performativ wechselt. Das literarische Schreiben wird bei Leonov als prognostisches Erzählen inszeniert, die Poetik des sozialistischen Realismus schlägt damit einen prophetischen Ton an. Die Forderung nach einer prophetischen Stimme der sozialstischen Literatur kann man auch auf dem ersten Schriftstellerkongress 1934 beobachten. Aleksandr Afinogenov sagt z.B.: „‚In Bezug auf uns Schriftsteller bedeutet der Titel ‚Ingenieure menschlicher Seelen‘,dass wir uns nicht damit zufrieden geben dürfen die psychologischen Zustände des Menschen lediglich zu registrieren, wir konstruieren diese Seelen, wir sind Produzenten und Organisatoren dieses menschlichen Materials. [...] Wir brauchen keine Ruhe, kein Streben danach, unsere Aufgabe darauf zu beschränken, das existierende Niveau, das, was bereits erreicht wurde, zu beschreiben, wir brauchen unaufhörliche Arbeit am Erfindungs- und schöpferischen Konstruktionsgedanken bei der Herausbildung der Gestalt und des Charakters des neuen Menschen. ‘ [В применении к нам, писателям, название инженеров человеческих душ означает, что мы не просто регистраторы психологических состояний, мы конструкторы этих душ, мы производственники, организаторы этого человеческого материала. [...]

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Нам нужна не успокоенность, не стремление ограничить свою задачу описанием существующего уровня, уже достигнутого, а нам нужна непрестанная работа изобретательской, конструкторской творческой мысли по созданию образов и характеров нового человека.]“95

Innerhalb der literarischen Schreibpraxis lässt sich das allerdings nur schwer verwirklichen. Auch Afinogenov muss in seiner Rede konstatieren: „Auf die Bühne kamen neue Menschen und sprachen: ‚Beschreibt uns, schreibt über uns.‘ Wenn man sich einer bloßen Beschreibung dieser Menschen widmen würde und warten, bis du das Schauspiel geschrieben hast, bis das Schauspiel auf der Bühne inszeniert wird, wird sich dieser Mensch bereits weiterentwickelt haben. Er würde sich im Theater ein Schauspiel über sich anschauen, und sich gar nicht mehr erkennen und sagen: ‚So war ich vor drei Jahren, jetzt bin ich ganz anders.‘ [На трибуну выходили новые люди, они говорили: опишите нас, напишите про нас. Если заняться простым описанием этих новых людей, то, пока будешь описывать этого нового человека, пока напишешь пьесу, пока пьесу поставят в театре, этот новый человек уже так вырастет, что придя посмотреть на эту пьесу, которая была зачята в момент, когда он стоял на трибуне съезда, он сам себя не узнает и скажет: таким я был три года назад, теперь я стал совершенно иным.]“96

Dabei ist es nicht nur das Zuspätkommen der Literatur, das sich als Problem erweist, sondern das konträre Entgegentreten des genuin individualistischen Schreibens dem kollektiven Ethos der sozialistischen Stimme. Man kann beobachten, dass nicht nur die Vergemeinschaftung des literarischen Wortes den Schriftsteller in eine tiefe Krise stürzt, wie es bei Fedin oder Šolochov erkenntlich ist, sondern auch dass überhaupt die tatsächlichen Versuche eines kollektiven Schreibens zum Scheitern verurteilt sind, wie es an Gor’kijs Projekt Istorija fabrik i zavodov (Geschichte der Fabriken und Betriebe) deutlich wird97. Vor allem scheitert Gpr’kijs

95 Aleksandr Afinogenov: Vystuplenije na pervom vsesojuznom s’ezde sovetskich pisatelej. In: P’jesy, stat’i, vystuplenija. Moskva „Iskusstvo“ 1977. Bd. 1, S. 511-512. 96 Aleksandr Afinogenov: Vystuplenije na pervom vsesojuznom s’jezde sovetskich pisatelej. In: P’jesy, stat’i, vystuplenija. Bd. 1. Moskva “Iskusstvo”. 1977, S. 512. 97 Vgl. u.a. Sergej Žuravlev: In der sowjetischen Schreibwerkstatt. Gor’kijs Projekt Geschichte der Fabriken und Betriebe. In: Schrift und Macht. Zur sowjetischen Literatur der 1920er und 30er Jahre. Hg. von J. Murašv und T. Lipták. Wien 2012, S. 69-97, hier S.69-73. Žuravlev beschreibt das Projekt IFZ als den Versuch, das werktätige Kollektiv mit seiner eigenen Stimme, seine eigene Geschichte und Gegenwart zu erzählen. Für

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Projekt an den Machtbefugnissen über die Schrift: Der sozialistische Realismus in seinem Streben nach dem kollektiven Ethos der Literatur verfolgt nicht, wie es am Beispiel der Geschichte der Fabriken und Betriebe deutlich wird, das gemeinsame Schreiben, sondern steuert ein poetisches Konzept an, dass überindividuell operiert und sich nach mythischer Zeitlosigkeit und Allgemeingültigkeit sehnt. So auch die Geschichtsphilosophie L. Leonovs, die in literarischer Fiktion erprobt wird und weder Vergangenheit, noch Zukunft oder Gegenwart kennt, sondern sich an einen Ort begibt, wo sämtliche zeitliche und physische Grenzen aufgehoben sind. Als Konsequenz dieser Geschichtsphilosophie bleibt allerdings Leonovs erfüllter Sozialismus lediglich als eine Phantasmagorie zurück.

W AS

NACH DEM

E NDE

BLEIBT

Nicht nur in Leonovs Weg zum Ozean auch an den zuvor analysierten Fallbeispielen des sozialistischen Realismus bei K. Fedin, M. Šolochov und N. Ostrovskij wird deutlich, dass der poetische Anspruch des sozialistischen Realismus, das Individuelle und Menschliche der Schrift zu überwinden, sie in einem kollektiven Sprechen zu vereinen und sie angelehnt an die unmittelbare Erfahrung des elektroakustischen Mediums Radio zur unantastbaren Stimme der Wahrheit zu machen, letztlich zur Überregulierung der schriftlich-literarischen Produktion führt. Die Brüchigkeit dieser Radiopoetik wird vor allem in regelrechter Überflutung der schriftlichen literarischen Texte mit sakralen Motiven und Figuren deutlich, die als Reste alter Religion auf die sakralen Strukturen der neuen politischen Theologie verweisen. Die Verneinung der Mimesis als radikale Poetik des Wortes, das die Welt erschafft, stößt an ganz profane Grenzen des literarischen Erzählens, das aus seiner kleinen individuellen Welt nicht hinaustreten kann. Um diese Grenze zu überwinden, muss sich diese Literatur zum Ausnahmefall erklären, der sich jenseits der

Gor’kij sei das ein Projekt zur Schaffung einer neuen kollektiven Literatur gewesen, die aus der Stille des Büros hinaus in eine kulturelle und erzieherische Massenbewegung übergeht. Das Projekt erweist sich allerdings als schwierig, weil zum einen die wahrheitsgetreue und historisch korrekte Betrachtung der Vergangenheit und der korrekte Umgang mit historischen Quellen ohne literarische fiktionale Erzählungen von fiktiven Personen und Dialogen nicht auskommt und zudem dem mangelhaften Bildungsniveau der Arbeiter begegnet. Zugleich widerspricht die Archivsammlung des Projektes, der unermüdlich wächst, der negativen Haltung Stalins gegenüber den Archiven, der in Voprosy Leninzma von „Archivratten“ spricht.

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menschlichen Rechtsordnung manifestiert. Diese Literatur erzählt nicht mehr, sie ist eine politische Entscheidung, die immer wieder neue Strategien entwickeln muss, um ihre Medialität auszublenden und unmittelbar wirken zu können. Als Konsequenz dieser Transformation des literarischen Schreibens zum politischen Handeln, implodieren die Romane des sozialistischen Realismus. Sie stoßen an die Grenzen ihrer menschlichen Vergänglichkeit, können ihre materielle Buchstabenwelt letztlich nicht überwinden und finden erst durch mediale Reproduktion in elektronischen Medien ihre Erlösung. Die totale Polyphonie des Kollektivs, die ständig in die Schreibprozesse eingreift, erweist sich für die literarische Schriftproduktion als äußerst zerstörerisch. Sie hinterlässt den Schriftsteller mit einer inneren Leere zurück, wie es Fedin beschreibt. Sie lässt Šolochov ständig zum omnipräsenten Herrscher aufrufen und um Gnade bitten. Sie bringt Ostrovskij zum kompletten Verschwinden und führt Leonovs Weg zum Ozean in eine absolute erzählerische Sackgasse. Das, was bleibt, sind menschliche Überreste, die an die alte, nicht restlos überwundene, Ordnung des literarischen Schreibens erinnern: Es sind Fedins Romane, die entgegen seiner Methode der literarischen Lehre, sich dennoch nicht aus der Tradition des realistischen Romans befreien können. Es sind auch Šolochovs Briefe an Freunde und Kollegen, die den verzweifelten Autor zeigen, wie er um seine Autorität über das literarische Wort kämpft. Es ist ebenfalls der gemarterte Körper des Pavel Korčagins, hinter dem der Schriftsteller Ostrovskij verschwindet. Und es ist Leonovs Ozean, der sich als christliches Paradies entpuppt. Eine scheinbare Rettung findet die Literatur des sozialistischen Realismus in ihrer Massenmedialisierung durch das Radio und später auch durch das Fernsehen, wo radiopoetische Anforderungen zu funktionieren scheinen und die Literatur in ein überindividuelles literarisches Sprechen verwandelt wird.

Sakralisierung des Politischen

H EILIGE F IGUREN

UND IHRE

F OLGEN

Während in den Romanen der 1930er Jahre an den vorhergehenden Beispielen eine Verkehrung des sozialistischen Heldentums ins Innere des Helden beobachtet werden konnte, indem ein Selbstwerdungsprozess des neuen sozialistischen Menschen wie Nikita Karev, Pavel Korčagin oder Aleksej Kurilov ins Zentrum der Romanhandlung rückt und damit ein Kampf vor allem gegen innere Feinde inszeniert wird, lässt sich in der Kriegs- und Nachkriegsliteratur der 1940-50 Jahre beobachten, dass die Produktion der sozialistischen Märtyrer im sozialistisch realistischen Roman regelrecht explodiert und sich zu einer kulturellen und massenmedialen Serienproduktion entwickelt. Die Reproduktion des Heiligen in sozrealistischen Texten der 1930er Jahre funktioniert in erster Linie nicht über einzelne Figuren und Motive, sondern vor allem über Schreibprozesse, die den Schreibenden zum bereitwilligen Märtyrer machen, der sich selbst opfert, letztlich gegen das eigene individuelle Wort bis zur Selbstauslöschung kämpft, um die kollektive Erlösung zu empfangen. Der Schreibakt wird zu einem Grenzfall, der sich über die eigenen literarischen Ordnungsstrukturen stellt und damit einen ständig andauernden Ausnahmezustand schafft. In diesem Akt der ständigen Opferung verharrt, wird die Erlösung vor allem von den neuen elektrischen Medien, besonders Film und Radio erhofft, so dass es wenig verwundert, dass das Interesse am Medium Radio bei den sozrealistischen Schriftsteller auch nach dem Abklingen der experimentierfreudigen AvantgardeBewegung der 1920er Jahre nicht nachlässt, sondern im Gegenteil zu einer radiopoetischen Literatur führt, die nun nicht nach den Ordnungsprinzipien einer schriftlich-literarischen Narration funktionieren will, sondern sich den Anforderungen einer kollektiven Öffentlichkeit der Massenmedien beugt. Es fehlt der Literatur der 1930er Jahre allerdings eine entscheidende Figur in der literarischen Opfer- und Märtyrerkonstellation: Es ist die Figur des Tyrannen.

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Während in der Literatur der Nachkriegszeit der Tyrann eine konkrete Gestalt in Form eines gewalttätigen willkürlichen und gnadenlosen Eroberers bekommt, der auch mit seiner faschistischen Ideologie als Gegenpart des sozialistischen Märtyrerhelden fungiert, bleibt die Position der Tyrannenfigur in der Literatur der 1930er Jahre gänzlich unbesetzt. Zwar wird die Szenerie von zahlreichen Volksfeinden, Landesverrätern, Kulaken und generell vom Kleinbürgertum als Feinde der neuen sozialistischen Ideologie beherrscht, bleiben diese jedoch immer im Rahmen der herrschenden Rechtsordnung und begehen lediglich Verbrechen, die juristisch und gesellschaftlich bestraft werden müssen, während der Gegenpart zum sich opfernden Märtyrer der außerhalb des Rechts stehende Herrscher / Tyrann eine Leerstelle hinterlässt. Es erweckt den Anschein, dass hier im sozrealistischen Roman der 1930er Jahre eine Opferung der Opferung wegen stattfindet, die nicht von einem tyrannischen Herrscher provoziert wird. Allerdings, und das lässt sich wohl am stärksten bei Nikolaj Ostrovskijs Korčagin beobachten, verkehrt die Passion des sozialistischen Märtyrers auf seinem Weg zur Umformung und Wiedergeburt als neuer sozialistischer Mensch gerade im Produktionsroman der 1930er Jahre ins Innere des Helden. Der Kampf richtet sich gegen den eigenen Körper, der der Wiedergeburt als neuer Mensch im Wege steht. Das Problem der sterblichen Physis, die der christliche Märtyrer mit seinem Tod überwindet, seine Macht gegenüber dem tyrannischen Herrscher manifestiert und damit den Anspruch auf Souveränität mit dem Entzug des eigenen Lebens in die Tat umsetzt, implodiert quasi innerhalb der Heldenfigur Korčagin, dem die eigene Physis klare Grenzen setzt. Die Narration ist eine Daueranklage gegen den eigenen kranken Körper, der ihn, Korčagin, von sozialistischen Heldentaten abhält. Nur die Überwindung des „verräterischen“1 Körpers, wie Korčagin ihn bezeichnet, bringt ihn wieder in die „Reihen der Kämpfenden“2 zurück. Neben dem Kampf gegen den eigenen Körper, der nicht nur Ostrovskijs Korčagin, sondern auch für L. Leonovs Kurilov im Der Weg zum Ozean zur zentralen Angelegenheit wird (Kurilov leidet an Nierenversagen und stirbt langsam und schmerzvoll an seiner Krankheit, für die es keine Heilung gibt), ist es auch konsequente Verweigerung jeglicher menschlicher Gefühle und Regungen, die sich im gestörten Verhältnis zu Liebe und Erotik im sozrealistischen Roman etabliert. Korčagins Frauen scheinen immer zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein, sie passen nie zu seiner aktuellen Entwicklung als sozialistischer Held, sie stören.

1

Nikolaj Ostrovskij: Kak zakaljalas‘ stal‘. Moskau 1955, S. 384.

2

Ebd., S. 403.

S AKRALISIERUNG

DES

P OLITISCHEN | 209

Seine erste Beziehung zu Tonja, der Förstertochter, scheitert daran, weil der Klassenunterschied zwischen ihr und Korčagin trotz aller Bemühungen nicht beseitigt werden kann. Diese Beziehung wird letztlich Korčagin zur Last, weil Tonja ihren billigen Individualismus3 nicht überwinden kann. Die Trennung von ihr, bevor noch eine Beziehung überhaupt richtig entstehen kann, wird damit zu einer klaren Entscheidung für die kollektive Pflicht im Sozialismus und gegen die private Liebesbeziehung. Seine zweite Beziehung zur Parteikollegin Rita wird von Korčagin dagegen gleich im Keim erstickt. Die plötzliche Eifersucht und körperliche Zuneigung gegenüber Rita deutet er als Schwäche und bricht daraufhin jeden Kontakt zu ihr ohne Erklärung ab. Es ist eine menschliche Schwäche, die ihn vom sozialistischen kompromisslosen Heldentum abhält und im Roman als Hindernis für seine erfolgreiche Entwicklung zum neuen sozialistischen Menschen markiert wird. Überhaupt zeigt sich Korčagin aggressiv und auch verstört, wenn es um Sexualität geht, selbst wenn es sich gar nicht um seine, sondern um die seiner politischen Freunde handelt. Jede Art von sexueller Beziehung ist für ihn Rückkehr zum bürgerlichen Lebensstil, die er als schmutzig und pervers verurteilt und kriminalisiert. Schließlich findet dennoch der politisch gestandene, allerdings körperlich erkrankte, Korčagin in Taja eine Geliebte und Ehefrau. Diese Beziehung wird allein dadurch im Text legitimiert, da sie als eine Vereinbarung auf Zeit zwischen Korčagin und Taja geschlossen wird. Während Taja zur ideologischen Schülerin Korčagins wird und durch die Verbindung mit ihm von ihrem dogmatischen Vater weg- und in das sozialistische Kollektiv eingeführt wird, ist die Liebesbeziehung aufgrund Korčagins körperlichen Zerfalls bereits in ihren Anfängen limitiert. Die Auflösung der Beziehung von dem vollständig gelähmten Korčagin erweist sich somit als hinfällig. Je stärker Taja sich der sozialistischen Ideologie verschreibt und als Parteifunktionärin eine Karriere macht, desto stärker entfernen sie sich voneinander, was von Korčagin uneingeschränkt als Erfolg der Beziehung angesehen wird. Die Beziehung erfüllt einen klaren ideologisch-pädagogischen Zweck, nach dessen Erfüllung sie keine Bedeutung mehr hat. Mit dem Ende dieser letzten Beziehung erreicht aber auch Korčagin den ideologischen Höhepunkt seiner Karriere, indem er alles Menschliche und Vergängliche mit seinem dahinschwindenden Körper hinter sich lässt und damit eine Art absoluten Zustand im Ästhetischen seiner Schriftstellerarbeit findet.

3

Ebd., S. 190.

210 | R ADIOPOETIK DES SOZIALISTISCHEN REALISMUS „Als die Arbeit zu Ende ging, begannen häufiger als sonst verbotene Empfindungen die immer wache Willenskraft zu sprengen. Verboten waren ihm Kummer und andere einfache menschliche Gefühle, heiße und zärtliche, die jeder haben durfte nur er nicht. Wenn er nur einem dieser Gefühle nachgeben würde, so könnte die Sache ein tragisches Ende nehmen. […] Das letzte Kapitel war geschrieben. […] Mit dem Schicksal des Buches, entschied sich auch das Schicksal Pawels. […] ‚Nachricht aus Leningrad!‘ Es war ein Telegramm vom Gebietskomitee. Einige knappe Worte aus dem Formular: ‚Roman begeistert aufgenommen. Wird sofort herausgegeben. Herzliche Glückwünsche zum Erfolg.‘ Pawels Herz schlug höher. Der ersehnte Traum war Wirkllichkeit geworden! Der eiserne Ring war gesprengt. Abermals – mit einer neuen Waffe – war er in die Kampfreihen, zum Leben zurückgekehrt. [К концу работы чаще обычного стали вырываться из тисков недремлющей воли запрешенные чувстваю Запрещены были грусть и вереница простых человеческих чувств, горячих и нежных, имеющих право на жизнь почти для каждого, но не для него. Если бы он поддался хотя бы одному из них, дело кончилось бы трагедией. […] Дописана последняя глава. […] Судьба книги решала судьбу Павла. […] - Почта из Ленинграда!!! Это была телеграмма из обкома. Несколько отрывистых слов на бланке: «Повесть горячо одобренна. Приступают к изданию. Приветствуем победой». Сердце учащенно билось. Вот она, заветная мечта, ставшая действительностью! Разорвано железное кольцо, и он опять – уже сновым оружием – возвращался в строй и жизни.]“4

Am Ende des Romans wird eine reine Geistigkeit des schriftstellerischen Wortes proklamiert, die zu einer politischen Handlung wird. Sie wird zum Höhepunkt seiner Heldengeschichte und Märtyrerlegende. Alles Körperliche, alle individuellen Emotionen kann er nun hinter sich lassen und komplett in seinem Roman aufgehen, selbst zur Romanfigur werden. Auch Leonid Leonovs Kurilov legt ein kompliziertes Verhältnis zu Frauen an den Tag. Seine Ehefrau, zu der er eine politisch freundschaftliche und auch eine sexuelle Beziehung unterhielt, stirbt und befreit ihn damit von seinen menschlichen Gefühlen, die als Schwäche verurteilt werden. Sein sexuelles Verlangen gegenüber einer weiblichen Kollegin bekämpft Kurilov damit, dass er sie mit den

4

Ebd., S. 403-404.

S AKRALISIERUNG

DES

P OLITISCHEN | 211

Worten Nach Penza mit ihr!5 wegschickt. Auch bei Kurilov wird die affektive Emotionalität und Sexualität als ideologische Schwäche codiert und im sozrealistischen Roman tabuisiert. Die menschlichen Affekte stellen einen enormen Störfaktor der sozrealistischen Narration dar, die jegliche Art von Individualität zu verdrängen versucht. Erst im Moment seines physischen Verschwindens erlangt der sozialistische Held den Höhepunkt seines Selbstwerdungsprozesses. Mit seinem entkörperten Zustand, sei es durch die komplette körperliche Lähmung wie bei Korčagin oder durch den Tod wie bei Kurilov oder auch durch eine ästhetische Auflösung der Person im Kollektiv, die wie bei Nikita Karev als absolute Welt des Klangs in Erscheinung tritt, erreicht der sozialistische Held einen Zustand absoluter Geistigkeit. Und erst in diesem Moment seiner individuellen und körperlichen Auflösung erlangt er auch die uneingeschränkte Berechtigung zum Sprechen. Korčagin schreibt seinen „aus der Schrift befreiten“ Roman, Kurilov kommt in seinem Ozean an und erzählt die „wahre“ Geschichte des verwirklichten Sozialismus und Nikita Karev schreibt seine „überindividuelle“ Symphonie. Mit dem Auftritt des Tyrannen in sozrealistischen Romanen der 1940er Jahre, die während und kurz nach dem zweiten Weltkrieg entstehen, spitzen sich allerdings die Strategien des sozialistischen Martyriums und Selbstopferung dagegen in einer regelrechten Folterszenerie zu, die in der Literatur des sozialistischen Realismus einen Schauplatz finden, wo aus dem schaurigen Zerschlagen der Märtyrerkörper ein heiliges Opfer des Sozialismus gewonnen wird. Ein solches barockes Überladen durch Bilder der Zerstückelung der Märtyrerkörper6 erfährt vor allem Aleksandr Fadeevs Roman Molodaja gvardija. Am Ende des Romans nach tagelanger Folter schlagen die jungen Partisanen aus Krasnodon ihren letzten Weg ein und werden zu Abtransport und Hinrichtung in die Lastwagen geladen. Die zuvor einzelnen Beschreibungen der Folter eines

5

L. Leonov: Der Weg zum Ozean. Sovetskij pisatel‘. Moskau 1977, S.28.

6

Ohne an dieser Stelle eine facettenreiche Analyse des barocken Dramas durchführen zu können, wird jedoch eine Verbindung angedeutet, in der das barocke Märtyrerdrama, vor allem das deutsche oder englische und nicht das russische und der Umgang des Sozrealismus mit den Figuren des Opfers und der Heiligen strukturelle Gemeinsamkeiten aufweisen, die auf eine ähnliche Art und Weise das heilige Opfer des christlichen Märtyrers in ein politisches Handeln transformieren und in ein politisches Opfer umdeuten. Es findet eine politische Opferung statt, die das sakrale Opfer des Christentums nachahmt und damit auch von der Nachahmungskultur des Christentums ideologisch profitiert.

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jeden einzelnen Partisanen erfahren eine Steigerung und enden schließlich in einer Gräuel- und Marterszene, die dem barocken Märtyrerdrama7 im Nichts nachsteht. „Man führte die Gefangenen auf das freie Gelände hinaus, das im Mondschein dalag, und lud sie in zwei Lastautos. Als ersten brachte man den völlig entkräfteten und geistesgestörten Stachowitsch, schwenkte ihn und warf ihn aufs Auto. Viele ‚Junggardisten‘ konnten nicht mehr allein gehen. Man trug Anatoli Popow heraus, dem ein Fuß abgehauen worden war. Vitja Petrow mit ausgestochenen Augen wurde von Ragosin und und Shenja Schepeljow geführt. Wolodja Osmuchin hatte man die rechte Hand abgehauen, aber er ging selbst. Wanja Semnuchov wurde von Tolja Orlow und Kowaljow getragen. Hinter ihnen kam, schwankend wie ein Grashalm im Wind, Serjoshka Tjulenin. [Их выводили на пустырь, облитый месяцем, и сажали в два грузовика. Первым вынесли лишившего всяких сил и потерявшего рассудок Стаховича и, раскачав, бросили в грузовик. Многие молодогвардейцы не могли идти сами. Вынесли Анатолия Попова, у которого была отрублена ступня. Витю Петрова с выколотыми глазами вели под руки Рагозин и Женя Шепелев. У Володи Осьмухина была отрублена правая рука, но он шел сам. Ваню Земнухова вынесли Толя Орлов и Ковалев. За ними, шатаясь, как былинка, шел Сережка Тюленин.]“8

Wie W. Benjamin über die Leiche als oberstes emblematisches Requisit9 des barocken Trauerspiels spricht, werden Fadeevs Märtyrerhelden zum Emblem der sozialistischen Marter, die sich aus Bild und Schrift zusammensetzt. Durch die

7

Vgl. Walter Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels. Hg. von Rolf Tiedemann. Frankfurt a. M. 1963. B. beschreibt die Märtyrertragödie des Barocks als Trümmer / Bruchstück, daher auch Zerstückelung der Körper als Widergewinnung des Heiligen im Profanen.

8

Aleksandr Fadeev: Die junge Garde / Molodaja gvardija. Moskau 1947 / Stuttgart 1974.

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Walter Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels (1963). Die Verbindung zwischen Bild und Schrift, die als Nachleben der christlichen Ikonenverehrung sich im sowjetischen Umgang mit dem geschriebenen Wort wieder findet, erinnert an die BildSchrift-Beziehung der Allegorie im Barock, die Walter Benjamin im Ursprung des deutschen Trauerspiels beschreibt:„Von der offenbarten Sprache nämlich lässt ohne Widerspruch ein lebendiger, freier Gebrauch, in welchem sich nichts von ihrer Würde verlöre, sich denken. Nicht so von deren Schrift, als welche die Allegorie sich zu geben suchte. Die Heiligkeit der Schrift ist vom Gedanken ihrer strengen Kodifikation untrennbar. Denn alle sakrale Schrift fixiert sich in Komplexen, die zuletzt einen einzigen und unveränderlichen ausmachen oder doch zu bilden trachten. Daher entfernt sich die Buchstabenschrift als eine Kombination von Schriftatomen am weitesten von der

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Schrift setzt sich das schreckliche Bild der gepeinigten Körper durch, seine Wirkungsmächtigkeit entwickelt die Szene allerdings erst durch das überladene Bild der jungen Menschen, die beinahe zur Benjaminschen barocken Allegorie der Leiche avancieren. Fadeev entwickelt an dieser Stelle eine Märtyrerkonzeption, die sich an der Ikonenverehrung der christlichen Orthodoxie10 orientiert. Die jungen Widerstandskämpfer werden zu Ikonen erhoben und verehrt, weil sie als Bild der geschundenen und jungfräulichen Körper in Erscheinung treten. Es ist das Bild ihrer Leichen, die nach dem Entdecken ihres Massengrabes noch einmal die Romanbühne betreten und damit die Unsterblichkeit der neuen Heiligen garantieren. Interessant an dieser Stelle bei Fadeev ist auch die Bedeutung der Schrift, die sich Stück für Stück einer Beschwörung annähert und dabei die Medialität und Materialität der Buchstabenwelt eines schriftlichen Textes zum Verschwinden zu bringen versucht. Als nun deutlich wird, dass Kovalev geflohen und dem Tod entkommen ist, triumphiert Serežka, der ihm bei der Flucht geholfen hat. „‚Weg ist er!... Weg!...‘ schrie Serjoshka mit unaussprechlichem Triumph in seiner dünnen Stimme und stieß die wüstesten Schimpfworte aus, die ihm nur zur Gebote standen. Aber diese Schimpfworte klangen jetzt aus Serjoshkas Mund wie eine heilige Beschwörung. [- Ушел!.. Ушел!.. – с невыразимой силой торжества кричал Сережка тонким голосом и ругался самыми страшными словами, какие только знал. Но эти ругательства звучали сейчас в устах Сережки как святое заклятие.]“11

Schrift sakraler Komplexe. Diese prägen in der Hieroglyphik sich aus. Will die Schrift sich ihres sakralen Charakters versichern – immer wieder wird der Konflikt von sakraler Geltung und profaner Verständlichkeit sie betreffen -, so drängt sie zu Komplexen, zu Hieroglyphik. Das geschieht im Barock. Äußerlich und stilistisch – in der Drastik des Schriftsatzes wie in der überladenen Metapher – drängt das Geschriebene zum Bilde.“, S. 247. 10 Vgl. Natascha Drubek: Russisches Licht. Von der Ikone zum frühen sowjetischen Kino. Wien 2012. Drubek bezeichnet in ihrer neuen Studie zum frühen sowjetischen Film das Kino als elektrifizierte Ikone und führt vor, wie Querverbindungen zwischen russischer Ikonografie und dem frühen Filmemachen in Sowjetunion funktionieren. Ihr Augenmerk richtet sich vor allem auf die Bedeutung des Lichts, die in der orthodoxen Tradition der Ikonenmalerei als heilige Erscheinung codiert im frühen sowjetischen Film ein Nachleben findet und ähnlich wie die Ikone in der russischen Orthodoxie auch im sowjetischen Kino didaktisch eingesetzt wird. S. 463ff. 11 Aleksandr Fadeev: Molodaja gvardija. Moskau 1947, S. 627.

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Die Schrift kann zwar den triumphierende Serežka darstellen, allerdings nicht die Worte seiner sakralen Beschwörung wiedergeben. Die Mündlichkeit dieser sakralen Beschwörung kann nicht in Buchstaben übersetzt werden, Worte Serežkas müssen verborgen bleiben. Die profane Schrift greift auf die Mündlichkeit des Wortes zurück, die sie zugleich ausblendet. Der nächste Schritt im Prozess der Transformation der Schrift in die seltsame Form eines transzendentalen Sprechens geht in Fadeevs Roman über die leidende Mutter von Oleg Koševoj, die zur ideologischen Erbin ihres Sohnes wird. „In der kleinen gealterten Frau mit den dunklen, eingefallenen Wangen, mit Augen tiefsten Grams, der starke Naturen mit besonderer Heftigkeit trifft, war nur schwer die frühere Jelena Nikolajewna Koschewaja zu erkennen. Dadurch aber, dass sie während all dieser Monate die Helferin ihres Sohnes gewesen war, und vor allem durch seinen Tod, der ihr so viel Leid verursacht hatte, erschlossen sich in ihr seelische Kräfte, die sie über ihren persönlichen Kummer emporhoben. Es war, als sei die Hülle des Alltags, die ihr die große Welt des menschlichen Kampfes, der menschlichen Mühen und Leidenschaft verborgen hatte, von ihr abgeglitten. Sie betrat diese Welt in Fußstapfen ihres Sohnes, vor ihr eröffnete sich die breite Straße des Dienstes an der Allgemeinheit. [Трудно было узнать в маленькой постаревшей женщине, с темными ввалившемися щеками, с глазами, выражавшими глубокое страдание, какое с особенной силой поражает цельные натуры, - трудно было узнать в ней прежнюю Елену Николаевну Кошевую. Но то, что она все эти месяцы была помошницей сына, а особенно гибель его, обрекшая ее на эти страдания, раскрыли в ней такие душевные силы, которые подняли ее над ее лличным горем. Словно спала завеса будней, скрывавшая от нее большой мир человеческих борений, усилий и страстей. Она вошла в этот мир вслед за сыном, и перед ней открылась большая дорога общественного служения.]“12

Hier erfüllt der Märtyrertod seine theologisch - pädagogische Funktion: aus den Zeugen seiner Passion werden Nachahmer und Erben seiner Ideologie. Sein Überwinden der profanen Welt eröffnet seinen Nachfolgern den Zugang zu der Welt der heiligen Opferung. Einer Heiligenvita gleich werden bei Fadeev die Folgen des Märtyrertods als Triumph gegen den Tyrannen zu einer sakralen Handlung erhoben. Auch die Erhöhung der Schrift in den sakralen Status findet im Abschluss des Romans statt. Mit einem kurzen Absatz eingeleitet heißt es im Text:

12 Ebd., dt. Bd. 2, S. 255 / ru.S.635

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„Hier sind sie, diese Namen: Oleg Koschewoj, Iwan Semnuchov, Uljana Gromova, Sergej Tjulenin, Ljubov Schewzova, Anatolij Popow, Nikolaj Sumskij, Wladimir Osmuchin, Anatolij Orlow, Sergej Lewaschov, Stepan Safonow, Viktor Petrow, Antonina Jeliseenko, Viktor Lukjantschenko, Klawdija Kowaljowa, Maja Pegliwanowa, Aleksandra Bondarjowa, Wassili Bondarjow, Aleksandra Dubrowina, Lidija Androsowa, Antonina Maschtschenko, Jewgenij Moschkow, Lilija Iwanichina, Antonina Iwanichina, Boris Glowan, Wladimir Ragosin, Jewgenij Scheoeljow, Anna Sopowa, Wladimir Shdanow, Wassili Piroshok, Semjon Ostapenko, Genadij Lukaschow, Angelina Samoschina, Nina Minajewa, Leonid Dadyschew, Aleksandr Schischenko, Anatolij Nikolajew, Demjan fomin, Nina Gerasimova, Georgij Schtscherbakow, Nina Starzewa, Nadeschda Petlja, Wladimir Kulikow, Eugenija Kijkowa, Nikolaj Shukow, Wladimir Sagorujko, Juri Wizenowski, Michail Grigorjew, Wassili Borissow, Nina Kessikowa, Antonina Djatschenko, Nikolaj Mironow, Wassili katschow, Pawel Palaguta, Dmitri Ogurzow, Viktor Subbotin. [Вот они эти имена: Олег Кошевой, Иван Земнухов, Ульяна Громова, Сергей Тюленин, Любовь Шевцова, Aнатолий Попов, Николай Сумской, Владимир Осьмухин, Анатолий Орлов, Сергей Левашов, Степан Сафонов, Виктор Петров, Антонина Елисеенко, Виктор Лукьянченко, Клавдия Ковалева, Майя Пегливанова, Александра Бондарева, Василий Бондарев, Александра Дубровина, Лидия Андросова, Антонина Мащенко, Евгений Мошков, Лилия Иванихина, Антонина Иванихина, Борис Гловань, Владимир Рагозин, Евгений Шепелев, Анна Сопова, Владимир Жданов, Василий Пирожок, Семен Остапенко, Генадий Лукашев, Ангелина Самошина, Нина Минаева, Леонид Дадышев, Александр Шишенко, Анатолий Николаев, Демьян Фомин, Нина Герасимова, Георгий Щербаков, Нина Старцева, Нaдежда Петля, Владимир Куликов, Евгения Кийкова, Николай Жуков, Владимир Загоруйко, Юрий Виценовский, Михаил Григорьев, Василий Борисов, Нина Кезикова, Антонина Дьяченко, Николай Миронов, Василий Ткачев, Павел Палагута, Дмитрий Огурцов, Виктор Субботин.]“13

Die Namen der Jungen Garde bilden in sich eine Gesamtheit, die den Schriftkörper des Romans aufbricht. Die Namen vom einfachen Holzobelisk, der auf dem Gemeinschaftsgrab der Jungen Garde aufgestellt wird, sind nicht mehr mimetisch, bilden nichts ab und beschreiben keine Handlung. Sie stehen nur für sich da und verweisen direkt auf das Martyrium der Widerstandskämpfer. Am Ende des Romans wird die Schrift selbst zur heiligen Beschwörung, die sie zuvor noch bei Serežkas Beschimpfungen verdeckt ließ. Hier werden bei Fadeev Strukturen der heiligen Opferung aufgerufen, die die Märtyrerkonstellationen des Christentums

13 Ebd., S. 637-638.

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und deren Nachahmung aufrufen und ins politische Opfertum verwandeln, wobei aus dem Wechsel zwischen Bild und Schrift, mit dem der Roman operiert, vor allem die russischorthodoxe Praxis des Ikonenschreibens nachgeahmt wird. Wenn man sich aber das „Ursprungsszenario“ des Märtyrers als Nachfolger Christi, als Nachahmer seines Leidens und Zeuge seiner Passion anschaut, wird deutlich, wie stark die Figur des Märtyrers überhaupt vom Tragischen des Christentums profitiert. In seiner Imitation der Passion Christi wird der Märtyrer in den Heiligengeschichten des Christentums zum tragischen Helden, der mit seinem Blut seine Zugehörigkeit zum christlichen Glauben bezeugt. Darüber hinaus verteidigt er seinen Glauben bis in den Tod, um dem Bösen dieser Welt zu widerstehen aber vor allem um seine Treue und seine Liebe zu Gott zu beweisen. Durch diese Liebe zu Gott erfährt der Märtyrer nun eine Erweiterung der bloßen Zeugenschaft. Diese Liebe zu Gott macht ihn zum Handelnden, zum leidenschaftlichen Vertreter seiner Religion. „[…] nicht die Ruhe des Weisen, sondern die Unterwerfung unter das Unrecht setzten die christlichen Autoren den passiones entgegen – nicht sich der Welt zu entziehen, um Leiden und Leidenschaft zu vermeiden, sondern die Welt leidend zu überwinden ist ihre Absicht. Stoische und christliche Weltflucht sind tief verschieden. Nicht der Nullpunkt der Leidenschaftslosigkeit außerhalb der Welt, sondern das Gegenleiden, das leidenschaftliche Leiden in der Welt und damit auch gegen die Welt ist das Ziel christlicher Weltfeindschaft; und gegen das Fleisch, gegen die bösen passiones dieser Welt, setzen sie weder die stoische Apathie, noch auch noch die ‚guten Gefühle’ (bonae passiones), um etwa durch vernünftigen Ausgleich die aristotelische Mitte zu gewinnen – sondern etwas ganz Neues, bis dahin Unerhörtes: die gloriosa passio aus glühender Gottesliebe. […] Die offenen Wunden Christi sind es, in die sich der Märtyrer birgt und die das Liebesfeuer in ihm entzünden, so dass er über die Qualen des eigenen Körpers ekstatisch triumphiert; sie sind ihm Zeugen für Christi Liebe.“14

Die Umcodierung des passiven Opfers zum aktiven Sich-Opfern stellt Erich Auerbach eindrucksvoll als das christliche Verständnis der Passion an und bietet damit eine philologische Deutung der christlichen Opferbereitschaft an. So ist das christliche Leiden vor allem eine aktive Handlung, auch wenn dies bedeutet, jede erdenkliche Handlung zu unterlassen und sich der Pein und dem Tod zu ergeben. Die Figur des Märtyrers ist eine, die Grenzen übertritt, eine Figur, die den Raum zwischen Profanität und Sakralität ausfüllt und damit von Beginn an bereits

14 Erich Auerbach: Passio als Leidenschaft. In: Gesammelte Aufsätze zur romanischen Philologie. Hg. Von G. Konrad. Bern 1967, S. 164 – 165.

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jenseits der menschlichen Ordnung steht. Es funktioniert dabei nicht nur in eine Richtung, so dass der Mensch zum Heiligen durch sein Martyrium, das er erträgt, aufgewertet wird, sondern es geht in umgekehrter Richtung auch darum, dass sich das Heilige im Körper des Leidenden festschreibt und damit sichtbar wird. Verstörend und in seiner Radikalität äußerst totalitär erscheint dieses leidenschaftliche Leiden des christlichen Märtyrers, der nicht nur um des Heils willen die Pein erträgt, sondern auch weil sie ihn (seinen Körper) sichtbar auszeichnet. Es sind seine Wunden, sein Blut, die ihn zu einer Figur an der Schwelle vom Profanen zum Sakralen aufwerten, nur so kann er selbst zum Heiligtum werden. Durch seine Erhöhung zum Heiligen schafft es der Märtyrer selbst, das Tabu der Selbsttötung zu überwinden und damit die Gewalt, Folter und Tötung zu legitimieren. Die im Profanen so verwerfliche Aggression und Gewalt können im Übergang zum Sakralen durch die Opferung einen legitimen Status erlangen. Durch den Tod wird das Opfer zur heiligen Reliquie, am Opfer vollzieht sich die kultische Reinigung des Opfernden und die Opferung selbst wird zum religiösen Akt15. Natürlich setzt sich der Märtyrer mit seiner Handlung zugleich über jede Rechtsnorm hinweg und schafft somit einen Ausnahmezustand, der nur durch den Tod des Märtyrers überwunden werden kann. Als zweideutig Ding16 bezeichnet Walter Benjamin das Blut des Märtyrers: denn es verweist auf seine menschliche Physis und ist zugleich das Zeichen seiner Teilhabe am Göttlichen. Nur durch diese Verbindung funktioniert die Legitimation seiner blutigen Tat, die eben nicht politisch, sondern als heilige Opferung gedeutet wird. Eben diese Überwindung des Menschlichen an der Schwelle zum Heiligtum und seine außergewöhnliche

15 Vgl. dazu Henri Hubert / Marcel Mauss: Sacrifice. Its Nature and Functions. Hg. von E. E. Evans-Pritchard. Chicago 1964, S. 13. Hentry Hubert und Marcel Mauss stellen folgende Definition des Opferungsaktes auf: „Sacrifice is a religious act which, through the consecration of a victim, modifies the condition of the moral person who accomplishes it or that of certain objects with which he is concerned.“ Die im Deutschen unsichtbare Unterscheidung zwischen einem Opfernden und dem Opferobjekt (oder -subjekt) wird bei Hubert und Mauss deutlicher unterschieden. In ihrem Buch stellen die Autoren drei Kategorien auf, die beim Opferakt von Bedeutung sind: Zum einen ist es der „sacrifier“ als Person, die durch den Ritual gereinigt werden muss, außerdem spielt der „sacrifiser“ als Priester eine Rolle, der schließlich den Ritual ausführt und zuletzt das „victim“ als Objekt, das geopfert wird und häufig in religiösen Kulten ein Tieropfer darstellt. 16 W. Benjamin: Zur Kritik der Gewalt. Ebd.

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Affinität zum tragischen Leiden als Erbe griechischer Tragödie17 macht den Märtyrer zum faszinierenden Motiv für Kunst und Literatur. Der gefolterte menschliche Körper, in dem sich die christlich-religiöse Symbolik verdichtet, stellt zum einen für die christliche Ikonografie ein zentrales Element der religiösen Erziehung dar18, was auch in politisch theologischen Konzepten ein Nachleben findet. Zum anderen fungiert der gemarterte Körper des Märtyrers als die erschreckend schöne, bis zu Pornografie erotische Figur, die den Leser oder Betrachter erschauern lässt und zugleich fasziniert. Während die reale Gewalt immer ein Akt der Grenzenüberschreitung ist, setzt die Inszenierung der Folter und Tötung des Märtyrers dem realen Gewaltakt Grenzen, indem sie der realen Gewalt eine übergeordnete spirituelle Bedeutung beimisst. Das Folteropfer erwirbt sich ebenfalls durch die Marter eine erhöhte Bedeutung, die wiederum durch den literarischen Text für andere erfahrbar wird. Als Vorbild solcher immer wiederkehrender ästhetischer Reproduktion eines sakralen Opfers dienen zahlreiche Heiligenviten, die bis heute im christlichen generell aber auch im russischorthodoxen Ritus neben der Ikonenverehrung19 ihren festen Platz finden. Katharina von Alexandrien erfreut sich z. B. bis heute einer Verehrung in der russischen Orthodoxie wie auch im Katholizismus und hat nach dem orthodoxen Kirchenkalender am 24. November ihren Gedenktag. Die Hagiografie der Heiligen Katharina von Alexandrien wird in der Orthodoxie auf den byzantinischen Autor und den orthodoxen Heiligen Symeon Methaphrastes zurückgeführt, der im 10. Jahrhudert in kirchen-kalendarischer Form die Heiligenviten nach Monaten sortiert verfasst hat. Eine berühmtere und später ver-

17 Vgl. Sigrid Weigel: Schauplätze, Figuren, Umformungen. Zu Kontinuitäten und Unterscheidungen von Märtyrerkulturen. In: Märtyrer-Portraits. Von Opfertod, Blutzeugen und heiligen Kriegen. Hg. von S. Weigel. München 2007, S. 11-41. 18 Vgl. Sigrid Weigel. München 2007, S. 11-41. 19 Vgl. hierzu Natascha Drubek: Russisches Licht. Von der Ikone zum frühen sowjetischen Kino. In: Osteuropa Medial. Wien 2012, S. 204ff. In der Beschreibung der orthodoxen Ikonenverehrung geht sie vor allem auf den Aspekt des Ikonenschreibens (ikonopis’) ein, die eine mediale Verbindung zwischen Schrift, Bild und heiliger Person darstellt und zur religiösen Erziehung der Gläubigen eingesetzt werden. Sie schreibt: „Die Schrift der Heiligenviten und mit ihnen die Vitenikonen (oft mit biografischen Episoden-Bildchen auf dem erhabenen Ikonenrand) sind Vorbilder für die Gläubigen, die diese nachahmen sollen (ebenso wie die Ikonen Abbilder sind von den urbildlichen Ikonen). Dieses gerade auch visuell potenzierte Kopieren des Göttlichen spielt in der Orthodoxie eine wichtige Rolle.“

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fasste Variante der Heiligenviten stammt von Dmitrij Rostovskij aus dem 17. Jahrhundert. Der Metropolit von Rostov hinterließ eine Sammlung an Heiligenviten Četji-Minei, in der für jeden Tag des Jahres die Viten von Heiligen versammelt sind, die an dem jeweiligen Datum ihren Gedenktag feiern. Als Quelle für seine Viten benutzte Rostovskij vermutlich neben den Manuskripten von Symeon Methaphrastes auch Quellen westlicher Geistlichen20, in denen er auch die Vita der Heiligen Katharina verfasste. Als in ihrem Glauben standhafte und weise Frau wird Katharina von Alexandrien bei Dmitrij Rostovskij hagiografisch inszeniert. Dabei folgt die Erzählung im biografischen Stil einer konkreten Struktur mit Einführung, mit Angaben zur Herkunft und dem Stand der heiligen Katharina, darauf folgt ein in Dialogen und Erzählerkommentaren dargestellter Werdegang und Bekenntnis zum Christentum, das mit der Marter mit anschließender Tötung der Leidenden als Höhepunkt der Erzählung abschließt. Über einen ähnlichen Aufbau verfügen alle Heiligenviten von Dmitrij Rostovskij und zeugen damit von einer klar ausgeführten literarischen Tätigkeit des Geistlichen. Bemerkenswerterweise ist Dmitrij Rostovskij nicht nur Verfasser von Heiligenviten, sondern auch Autor von einigen Schauspielen, von denen zwei, Roždestvenskaja drama (Erstaufführung 1704) und Uspenskaja drama bis heute erhalten sind. Diese Verbindung zwischen Theatralität und theologischer Narration, die bei Rostovskij aber auch bei westlichen Verfassern von Heiligenviten wie z. B. Legenda Aurea von Jacobus de Voragine aus dem 13. Jahrhundert beobachten lässt, trägt entscheidend dazu bei, dass die Heiligen und Märtyrer über die theologisch pädagogische Funktion hinaus vor allem ästhetisch reproduziert werden und als dramatische und literarische Figuren bis ins zwanzigste Jahrhundert hinein Nachahmer finden. Auch im Roman des sozialistischen Realismus erfreuen sich Heiligenfiguren einer hartnäckigen Langlebigkeit. Am Beispiel der heiligen Katharina lässt sich gut zeigen, wie eine solche literarische Reproduktion der heiligen Figur funktionieren kann. Als besonders prominent aus der Heiligenvita der Katharina von Alexandrien erscheint dabei die Szene im Kerker, in der hungernde Katharina als zukünftige Braut Christi von Jesus Zuspruch erhält: „Dann befahl der zornige Zar, Jekaterina auszuziehen und die Entkleidete mit den Ochsensehnen zu schlagen. Die Diener schlugen die Märtyrerin grausam auf die Schultern und am ganzen Körper zwei Stunden lang, so dass ihr ganzer Körper mit Wunden bedeckt und entstellt wurde; das Blut floss, wurde zu Bächen und färbte die Erde rot. Aber die Heilige

20 Vgl. Fedotova, M.A.: Žitije svjatogo Dimitrija Rostovskogo. In: Drevnjaja rus‘. Voprosy mediavistiki 2007. H. 3 (29).

220 | R ADIOPOETIK DES SOZIALISTISCHEN REALISMUS erleidete diese Qualen mit solcher Anmut und solchem Heldenmut, dass alle, die es sahen, erstaunt waren. Danach hat der grausame Zar befohlen, Jekaterina in den Kerker zu schließen, ihr weder Essen noch Trinken zu geben, bis er sich neue Qualen ausgedacht hat, um sie zu verderben. […] Gnädiger und menschenliebende Christus hat die heilige Braut wie ein Vater, der seine Kinder liebt nicht ohne Fürsorge gelassen. Jeden Tag flog eine Taube an ihr Fenster brachte Nahrung. Endlich kam auch der Märtyrer selbst unser Gott Jesus Christus zu ihr. Er war umgeben von höchsten Lobpreisungen und allen himmlischen Dienstgraden und hat ihren Mut gefestigt und ihren Geist mit Stärke erfüllt: […] ‚Fürchte dich nicht, meine liebgewonnene Braut, sagte er zu ihr, keine Qualen werden dich treffen; durch dein Leiden wirst du zu Mir geführt und als Belohnung dafür erhälst du alle unvergänglichen Siegeskränze. Sie mit solchen Worten getröstet wurde der Gott wieder unsichtbar. […] Am Morgen hat der Zar, der im Gericht Platz genommen hatte, befohlen, Jekaterina zu bringen. Sie ist zum Zaren gegangen, voll seelischer Glückseligkeit und Erleuchtung, so dass alle, die in der Nähe standen, vom Glanz ihrer Schönheit geblendet waren. Der Zar war sehr verwundert, und dachte, dass irgendjemand ihr im Kerker zu essen gab, sodass ihr Körper nicht mager war und ihre Schönheit nicht erblasst ist. Deshalb wollte er ihre Wächter zum Tode verurteilen. Aber die heilig Jekaterina hat ihm die ganze Wahrheit erzählt, weil sie nicht wollte, dass andere schuldlos für sie leiden sollten ‚Zar, du musst wissen, dass keine menschliche Hand, mir Essen gereicht hatte, sondern der Herrscher selbst, mein Christus war es, der sich unsichtbar um seine ergebene Diener kümmert, ernährte mich. [Тогда сильно разгневанный царь велел снять с Екатерины порфиру и обнаженную бить немилосердно воловьими жилами. Слуги били мученицу жестоко в течение двух часов по плечам и чреву, так что всё тело ее покрылось ранами и обезобразилось; кровь текла ручьями и обагряла землю. Но все эти мучения святая переносила с таким мужеством и доблестью, что смотревшие на нее были поражены великим изумлением. После сего жестокий царь приказал заключить Екатерину в темницу и не давать ей ни пищи, ни питья до тех пор, пока он не измыслит новых мук, чтобы погубить ее. […] Милостивый же и человеколюбивый Христос не оставил святую Свою невесту без попечения, но, как чадолюбивый отец, промышлял о ней. Каждый день к ней влетала в окно голубица и приносила пищу. Наконец, и Сам благий Подвигоположник Господь наш Иисус Христос посетил ее, окруженный великою славою и всеми небесными чинами, и еще более укрепил ее в мужестве, и исполнил духом смелости:

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—Не бойся, возлюбленная Моя невеста,— сказал Он ей— Я всегда с тобою и никакое мучение не коснется тебя; терпением своим ты многих обратишь ко Мне, и в награду за то сподобишься многих нетленных венцов Утешив ее такими словами, Господь стал невидим. На утро царь, воссев в судилище, приказал привести Екатерину. Она вошла к царю, сияя духовною благодатью и каким-то блаженным озарением, так что близ стоящие были озарены сиянием от ее красоты. Царь был весьма удивлен, и думал, что ктолибо подавал ей пищу в темнице, и потому она не ослабела телом, и не изменилась в красоте лица своего, посему хотел предать казни ее стражей. Но святая Екатерина, не желая, чтобы другие были мучимы безвинно, поведала ему всю истину, сказав: —Знай, царь, что никакая рука человеческая не подавала мне пищу, но Владыка мой Христос, Который невидимо печется о рабах Своих, питал меня ]“21

In dieser Szene verbindet sich auf eindrucksvolle Art und Weise körperliche Marter mit der geistigen Schönheit: der gemarterte und nackte, gepeinigte Körper strahlt göttliche Liebe aus und zeichnet Katharina damit aus, so dass selbst der heidnische König nicht widerstehen kann, dieses geistige Scheinen allerdings in sexuelle Begierde umwandelt. Die klare Aufteilung zwischen dem mächtigen Herrscher, der von Affekten geleitet tyrannisch auf sein Recht pocht und der standhaften Märtyrerin, die als Braut Christi dem Mächtigen Widerstand leistet, verleiht der Heiligenvita einen dramatischen Charakter. In ihrer Kompromisslosigkeit und radikalen Gottestreue fordert Katharina den Tod heraus, sie entblößt den Tyrannen in seiner Willkür und stellt seine Legitimation in Frage. Das macht sie nicht nur zu einer standhaften Christin, sondern zeugt auch von einer äußerst starken Performanz- und Inszenierungstaktik der christlichen Lehre. So wird bereits in Dmitrij Rostovskijs Text das sakrale Wunder der Erscheinung Christi und Fütterung Katharinas durch die Gaben der Taube aus ihrem theologischen Kontext entnommen und in eine dramatische Inszenierung umgewandelt. Gerade dieser Umcodierung ist zu verdanken, dass die Szene mit der Taube und die Aufwertung des gepeinigten weiblichen Körpers zur Braut Christi zu einem Wandermotiv wird, dass man in der Literaturgeschichte nur allzu oft findet. Ohne an dieser Stelle jede dieser Variationen des Katharina-Motivs aufzurufen, sollte man jedoch auf ein sozrealistisches Beispiel hinweisen, dass dieses Motiv aufgreift und deutlich vorführt, wie eine Erschei-

21 Dmitrij Rostovskij: Žitije i stradnije cvjatoj velikomučenicy Jekateriny. In: Žitija svjatych (Četji minei). Kijevo-Pečerskaja Lavra. 2010.

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nung des Heiligen innerhalb eines säkularen Textes aufgegriffen und politisch umgedeutet wird. Es ist die Protagonistin aus V. Iljenkovs Romans Bol’šaja doroga (Der lange Weg) Mascha, die zu einer Legende wird: „‚Tanja, es ist ein guter Name. Man hört, es geht ein Mädchen in den Dörfern umher, das auch Tanja heißt. Kleine Blätter teilt sie aus, und in jenen Blättern steht alles, was die Menschen machen müssen... Die Deutschen versuchen sie zu fangen, und schaffen es nicht. Es scheint, als würde sie in der Erde einfach verschwinden, und weg ist sie und dann hört man wieder, dass sie in einem anderen Dorf erschienen ist. In Schemjakino war sie, hat alles erkundet, was bei den Deutschen ist, wo welche Waffen versteckt sind, und später sind unsere Soldaten gekommen und haben die Deutschen komplett zerschlagen... Es geht durch Feuer und Eisen, durch Wände und bleibt unversehrt. Einmal haben die Deutschen sie im Keller eingeschlossen und als sie am Morgen kamen, hing das Schloss an der Tür und von ihr gab es keine Spur ...‘ Mascha hörte mit dem Lächeln der Erzählung zu und wunderte sich, wie schnell sich die Information unter den Menschen verteilt. Die Wirklichkeit vermischte sich mit der Fiktion. Die Menschen erfanden die Legende über das wunderbare Mädchen und Mascha war gerührt, dass die märchenhafte Tanja und sie die gleiche Person sind, aber gleichzeitig konnte Masche ihr unabhängiges Leben führen. Gleichzeitig lebte auch Tanja weiter, weil Menschen den Glauben an einen starken Menschen brauchen, der den Tod verachtet. [- Хорошее имя – Таня... Слыхать, ходит по деревням девушка, тоже Таня. Листочки раздает, а в тех листочках все сказано, чего надо делать людям... Немцы ее все ловят, а поймать никак не могут. Прямо на глазах сквозь землю проваливается, и нет ее, а там опять слыхать: в другой деревне появилась. В Шемякино приходила, все разглядела, что у немцев, где какое оружие, а потом как ударили по немцу наши пушки, все начисто разбили... И проходит она невредимо сквозь огонь и железо, сквозь стены каменные. Закрыли раз ее немцы в подвал каменный, а наутро пришли – замок висит на дверях, а ее и след простыл... Маша с улыбкой слушала рассказ, удивляясь, как быстро узнают обо всем люди. Действительность переплеталась с вымыслом – складывали легенду о чудесной девушке, - и Маше было приятно, что сказочная Таня и есть она, Маша, но живет своей, независимой от нее жизнью и будет жить, потому что людям нужна вера в сильного человека, презирающего смерть.]“22

Der Bericht über das wunderbare Mädchen Tanja, das der deutschen Übermacht widersteht, basiert vor allem auf der Teilung zwischen dem physischen und mystischen Körper der Märtyrerin Mascha, die sich selbst in dem Bericht erkennt. Die

22 Vasilij Iljenkov: Bolšaja doroga. In: Sovetskij pisatel’. Moskau 1950, S.315.

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Vermischung von Fakt und Fiktion ist die notwendige Voraussetzung für das Weiterleben der Märtyrerin, während sie, Mascha, als Gefangene der Willkür des SSOffiziers ausgeliefert ist und unmittelbar ihren Tod erwartet. Narrativierung und Fiktionalisierung der politischen Handlung macht sie zum Mythos. Ausschlaggebend für das Martyrium bei Iljenkov ist, dass es mit der Figur Fuchs einen konkreten, sichtbaren Tyrannen an die Seite bekommt, der mit seinen Argumenten der sozialistischen Märtyrerin nichts entgegnen kann und darauf affektiv mit Gewalt reagiert. Damit beweist er physische Überlegenheit und zugleich geistige Ohnmacht. Ähnlich wie die heilige Katharina in ihrer Gefangenschaft nicht aufhört, Menschen zu bekehren und standhaft für ihren Glauben einzustehen, verhält sich auch die Konfrontation zwischen dem SS-Offizier Fuchs und der gefangenen Mascha, die sich zu einem ideologischen Disput zuspitzt: „Mascha hatte den Eindruck, dass sie diesen Menschen mit dem satten und gleichgültigen Gesicht und dem fetten Kinn schonmal irgendwo sah, aber besonders bekannt kamen ihr die kleinen grausamen Augen vor. ‚Sie haben natürlich nicht erwartet, dass wir uns noch einmal treffen würden‘, sagte er und stoß gelangweilt die Worte mit dem Zigarettenrauch hinaus. ‚Freilich, waren Sie damals besser gekleidet und waren fröhhlicher... Sie deklamierten sogar etwas. Mascha hat sich an die hellen Feuer im Foyer des Konservatoriums erinnert. Das ist doch der Korrespondent der deutschen Telegrafenagentur... Fuchs! ‚Wir werden also unser Gespräch jetzt fortsetzen‘, sagte Fuchs sarkastisch und lehnte sich dabei auf den Rücken des Sessels zurück. ‚Bis Moskau sind von hier aus gerademal zweihundertachtzig Kilometer. Ich hoffe, jetzt sind Sie überzeugt davon, wer stärker ist, der Faschismus oder der Kommunismus?‘ ‚Kommunismus wird siegen!‘, sagte Mascha laut. ‚Und warum?‘, fragte Fuchs und lächelte dabei immer noch spötisch. ‚Weil..., Weil...‘, vor Aufregung fand Mascha nicht die richtigen Worte, dabei wollte sie etwas sagen, das so stark und unwiderlegbar war, dass es dem siegessicheren Feind Angst und Bange wird. Und plötzlich erschienen vor ihrem innerlichen Blick in feurigen Buchstaben die Worte Stalins: ‚der Westen mit seinen imperialistischen Menschenfressern hat sich in eine Brutstätte der Finsternis und der Sklaverei verwandelt...‘ ‚Weil Sie Menschenfresser sind!‘, rief Mascha laut. ‚Weil nur wir, sowjetische Menschen, in uns das große Licht der Wahrheit tragen! Und dieses Licht wird niemand auslöschen! Es gibt keine solche Kraft auf der Erde! Ja, wir Kommunisten schauen sicher in die Zukunft, weil die Gesetze des Lebens für uns sprechen... Das Licht kommt aus dem Osten!‘

224 | R ADIOPOETIK DES SOZIALISTISCHEN REALISMUS [Маше показалось, что она где-то видела этого человека с холеным холодно-равнодушным лицом и жирным подбородком, но особенно знакомыми казались маленькие жестокие глаза. - Вы не ожидали, конечно, что нам придется встретиться еще раз,- проговорил он, лениво выталкивая из себя слова вместе с табачным дымом. – Правда, тогда вы были одеты получше и чувствовали себя веселей... Вы даже декламировали что-то. Маша вспомнила яркие огни в фойе консерватории. Кореспондент немецкого телеграфного агенства... Фукс! - Ну, что ж, продолжим наш разговор,- откинувшись на спинку кресла, с насмешливой улыбкой прговорил Фукс. – До Москвы отсюда ровно двести восемдесят километров. Надеюсь, вы тепрь убедились, кто сильней: фашизм или коммунизм? - Победит коммунизм! – громко сказала Маша. - Это почему же? – все с той же усмешкой спросил Фукс. - Потому что... потому что... – от волнения Маша не находила нужного слова, а ей хотелось сказать что-то такое сильное, неотразимое, чтобы даже этому опьяненному победой врагу стало страшно. И вдруг перед мысленным взором ее вспыхнули огненными буквами сталинские слова: ‚Запад с его империалистическими людоедами превратился в очаг тьмы и рабства...' - Потому что вы – людоеды! – воскликнула Маша. – Потому что только мы, советские люди несем миру великий свет правды! И этот свет не погасить никому! Нет такой силы на земле! Да, мы, коммунисты, уверенно смотрим вперед, потому что законы жизни за нас... С Востока свет!“23

In dieser Szene Iljenkovs Romans wird der theologische Disput der Heiligenvita zu einem politischen umcodiert. Hier findet eine Umkehr der Machtverhältnisse statt, die auch für die Martyrien der christlichen Heilige von zentraler Bedeutung ist. Durch die Kraft des Wortes und die absolute Bereitschaft zur Opferung kehrt der Märtyrer die Machtverhältnisse um. Der physischen Macht und Gewalt des Tyrannen wird geistige Stärke entgegengesetzt, gegen die der Tyrann ohnmächtig ist. Aus seiner ausweglosen Situation und der unmittelbaren Erwartung des eigenen Todes gewinnt der Märtyrer politische Bedeutung und wird zur ideologisch überlegenen Macht. „‚In einen eisernen Käfig haben diese wilden Tiere unsere Maschenka gesperrt‘, sagte sie endlich und fing an zu weinen. Und auch ich habe gesündigt… Aber es war Jaschka aus Schmjakino, der sie verraten hat… Und so sitzt sie im Käfig wie ein trauriges eingesperrtes

23 V. Iljenkov: ebd., S. 318.

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Vögelchen. Sie geben ihr nichts zu essen und zu trinken. Es kommt immer wieder einer mit dem Totenkopf auf dem Ärmel, legt neben dem Käfig ein Stück Brot hin und ruft: ‚Entsage dem Kommunismus, dann gebe ich dir Brot!‘ Fünf Tage hungert sie schon… [В железную клетку заперли Машеньку, звери лютые,- проговорила она наконец и заплакала. – И мой грех взяла на свою душеньку... А выдал ее врагам Яшка шмякинский... И сидит она в клетке, как птица несчастная. Ни пить, ни есть ей не дают. Придет како-то с черепом на рукаве, положит кусок хлеба возле клетки и кричит: 'Отрекись от советской власти – тогда дам хлеба!‘ Пятый день голодом морят ее...]“24

Neben der Verbindung zu Märchenmotiven und Darstellungen Maschas als Fortleben des blauen Vogels, wird hier das christliche Motiv der Entsagung zentral. Wie der christliche Märtyrer bis in den Tod sich zu Christus bekennt, bekennt sich Mascha zur Sowjetmacht und versetzt den tyrannischen Herrscher in Angst. Besonders das plötzliche Verschwinden seines Opfers zusammen mit dem Käfig, in dem es gefangen war, bereitet ihm Sorge und bringt ihn zur Verzweiflung: „Fuchs las Hitlers Befehl noch am Vortag. Er dachte lange nach, saß unbewegt da und rauchte eine Zigarre. Später zwang ihn irgendwelche Kraft, sich umzudrehen und aus dem Fenster zu schauen. Er sah den alten, vom Feuer schwarz gewordenen Apfelbaum und erschrack. Er wollte seinen Blick vom Fenster abwenden und konnte nicht. Ihn ergriff unerklärte und unüberwindbare Angst. Er war bewaffnet. Überall um ihn herum war eine Menge Soldaten für seinen Schutz. Es schien, nichts bedrohte ihn, und dennoch wurde die quälende Erwartung, dass etwas Furchtbares, was sich hinter dem Fenster verbarg, passieren würde, immer stärker. Fuchs stand sogar auf, nahm die Pistole aus der Revolvertasche heraus und schloss die Tür ab. Aber die Besorgnis verließ ihn nicht, noch einmal blickte er aus dem Fenster, dorthin, wo früher der Käfig stand und nur ein dunkler Kreis auf der Erde war. Plötzlich verstand Fuchs, dass es nicht der Tote ist, der ihm Angst machte, die Lebende, die alle Qualen des Hungers ertrug und jetzt plötzlich verschwand. Um diesen Kreis auf der Erde nicht zu sehen, verhing Fuchs das Fenster und zündete die Akkumulatorenlampe an. Aber die Angst ging nicht. Dann verstand er, dass der Ausdruck der Ohnmacht vor der unsichtbaren Macht der Menschen war, die er qualvollen Foltern unterzog und hinrichtete, aber die er nicht zwingen konnte, sich von ihrem Glauben loszusagen. [...] Fuchs fühlte eine tatsächlich existierende und die schreckliche Macht der Menschen zum ersten Mal, die unter keinen Foltern bereit waren, dem Kommunismus zu entsagen.

24 V. Iljenkov: ebd., S. 320.

226 | R ADIOPOETIK DES SOZIALISTISCHEN REALISMUS ‚Es gibt zweihundert Millionen von denen... Sind sie alle so wie der?‘, dachte er, während er auf das verhängte Fenster schaute, hinter dem sich etwas Furchtbares und Unverständliches verbarg. [Фукс прочитал приказ Гитлера еще накануне. Он задумался и долго сидел неподвижно, дымя сигарой. Потом какая-то сила заставила его повернуться и посмотреть в окно. Он увидел старую, почерневшую от огня яблоню и вздрогнул. Он хотел отвести свой взгляд от окна и не мог. Им овладевал безотчетный и неодолимый страх. Он был вооружен. Всюду вокруг было множество солдат охраны. Казалось, ничто не угражало ему, и, однако, все сильней становилось томительное ожидание чего-то страшного, что стояло за окном, Фукс даже вынул пистолет из кобуры и закрыл дверь на ключ. Но тревога не оставила его и, взглянув еще раз в окно, туда, где раньше стояла клетка, а теперь остался лишь темный круг на земле, Фукс понял, что его страшит не мертвый, а та, живая, что перенесла все муки голода и вдруг исчезла. И чтобы не видеть этот круг на земле, Фукс завесил окно и зажег аккумуляторный фонарь. Но страх не проходил. И тогда он понял, что страх этот порожден ощущением бессилия своего перед невидимой силой людей, которых он подвергал мучительным пыткам и казнил, но не мог заставить отречься от своей веры. (...) Фукс впервые почувствовал действетельную и грозную силу людей, которых он не мог заставить отречся от коммунизма ниакаими пытками, никакими лютыми казнями. 'Их двести миллионов... Неужели они все такие, как этот?‘ - подумал он, косясь на завешенное окно, за которым стояло что-то страшное и непонятное.]“25

Diese unerklärliche Angst, das Unbehagen des Tyrannen, erhöht das durchaus im Text zuvor erklärte Verschwinden der gefangenen Mascha zu einem Mysterium. Mehr noch, durch Maschas Leiden und Vladimirs Tod erfährt das sowjetische Volk, als eine Ausweitung des heiligen Märtyrerkörpers im Ausdruck der unerklärlichen Tyrannenangst, eine sakrale Erhöhung. Mit ihrem Beispieltod provozieren sie zahlreiche Nachahmer. Es sind zweihundert Millionen von denen. Sind die etwa alle so?, konstatiert für sich Fuchs und kann das in seinen Kopf festgebrannte Bild des getöteten Märtyrers nicht loswerden. In dieser Szene der anschleichenden Angst wird der Übergang des Partisanen aus dem profanen ins sakrale möglich. Beide, Mascha wie Vladimir, werden zum Mysterium und schreiben sich in die Märtyrergenealogie ein.

25 V. Iljenkov: ebd., S. 332-333.

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So vermischen sich in der Figur des sowjetischen Märtyrers Elemente der göttlichen und rechtlichen Gewalt. Um ideologische Treue zu beweisen, leidet und blutet der Märtyrer, es ist sein Glaubensbekenntnis, den er gegen jede Folter ausruft und der ihm immer wieder einen Zuspruch von „oben“ garantiert: Im entscheidenden Moment erinnert sich Mascha an Worte Stalins, die wie Feuer brennen. Auch im letzten Moment vor dem entscheidenden Kampf, der zum Scheitern verurteilt ist und nur dazu dient, Opfer zu bringen, um etwas Zeit zur Verteidigung Moskaus zu gewinnen, ist es Stalins Dankbarkeit, die die auf Auszeichnungen wartende Soldaten zu weiteren Martyrien anspornt: „[…] Im Auftrag von Genosse Bulganin überreiche ich Ihnen die Dankbarkeit des Genossen Stalin für Ihren beispiellosen Heldentum, den Sie in diesem großen Kampf gezeigt haben… ‚Da ist sie, die verdiente Dankbarkeit!‘, dachte Michail Andrejevič aufgeregt und fühlte, wie seine Augen sich mit Tränen füllten. Er stand auf, um etwas darauf zu antworten und rief plötzlich: ‚Für den lieben Stalin, Hurraaaa!‘ Und alle schrien gemeinsam ‚Hurra‘ und übertönten damit den Lärm der Granaten, die in der Nähe explodierten. [[...] И я, по поручению товарища Булганина, передаю вам благодарность товарища Сталина за беспримерный героизм, проявленный вами в этом великом сражении... «Вот она – награда!» - взволнованно подумал Михаил Андреевич, чувствуя, что к глазам подступили слезы. Он поднялся, чтобы сказать ответное слово, но вдруг неожиданно для себя крикнул: ‚Родному Сталину ура-а!' И все дружно и громко тподхватили 'ура', заглушая грохот разрывавшихся близко снарядов.]“26

Wie Christus in Heiligenviten immer wieder in unterschiedlichen Gestalten den Heiligen erscheint, so wird es auch zu Stalins Schicksal in sowjetischen Märtyrergeschichten, immer wieder eine Erscheinung zu sein, die die zweifelnden oder geschwächten Märtyrer in ihrem Opfer bestärkt. Der sowjetische Märtyrer wird zum mythischen Helden, der sein Schicksal gegen die tyrannische Herrschaft herausfordert, sich gegen diese auflehnt und damit die unausweichliche Konsequenz seiner Tötung voraussetzt. Als Mensch einer feindlichen Rechtsordnung unterworfen, entzieht er sich derer mit seinem Tod und erfüllt den Tyrannen mit Sorge. Interessant inszeniert ist bei Iljenkov die Märtyrerin Mascha, die eben nicht von der Hand des Tyrannen stirbt, sondern mit ihrem Käfig verschwindet. An ihrer

26 V. Iljenkov: ebd., S. 336.

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Stelle wird im Roman Vladimir geopfert, der lebendig verbrannt und dessen Tod, wie es sich für einen Heiligen gehört, öffentlich bezeugt wird: „‚Zum letzten Mal frage ich dich! Wer bist du? Wer?‘ Und Vladimir antwortete siegesreich: ‚Ich bin ein Kommunist!‘ Fuchs befahl das Feuer anzuzünden. Ein dünner blauer Streifen des Feuerrauchs näherte sich Vladimirs Füßen. Olga schrei auf und alle Menschen gingen ängstlich zur Seite. Ein Soldat kippte Benzin ins Feuer und die Flammen sprangen auf die Äste des Apfelbaums, die knisterten und verbogen sich im Feuer, als ob sie den Menschen umarmten und sein von Schmerzen entstelltes Gesicht verbargen. ‚Na dann,… so habe ich also mein Buch geschrieben‘, dachte Vladimir und erinnerte sich an die Worte des Partorgs Nikolaj Nikolajevičs und das war sein letzter Gedanke. [- Последний раз! Кто ты? Кто?! Владимир громко и тожествующе сказал: - Я коммунист! Фукс приказал зажеч костер. Тонкая голубая струйка дыма поднялась к ногам Владимира. Ольга вскрикнула, и все люди, вздрогнув, отшатнулись. Солдат плеснул бензин в костер, пламя вскинулось к ветвям яблони, и они затрещали, воспламеняясь, корчясь от огня, как будто дерево обнимало человека, укрывая его искаженное болью лицо. ‚Ну, вот... я и написал книгу', - подумал Владимир, вспомнив слова парторга роты Николая Николаевича, и это была его последняя мысль.]“27

Während Vladimir mit seinem Tod sein Buch schreibt, ist es Mascha, die bereits eine Erzählung ist. Sie ist eine Heiligenlegende, das Mädchen Tanja, das durch Feuer und Wände geht und dabei unversehrt bleibt. Mit ihrem schwachen Körper und dem neuen Leben in ihr, denn sie ist von Vladimir schwanger, garantiert sie die physische Nachfolge der Heiligen, festigt die ideologische Macht des sowjetischen Regimes und bringt sich selbst damit ebenfalls in die Sphäre der politischen Theologie. Das kompromisslose Entgegenhalten dem Tyrannen Fuchs bringt Iljenkovs Helden in eine Szenerie der radikalen Angleichung des theologischen an das politische Handeln. An diesen zwei Beispielen Fadeevs Molodaja gvardija und Iljenkovs Bol’šaja doroga aus der sozrealistischen Literatur, die während des II. Weltkriegs entsteht,

27 V. Iljenkov: ebd., S. 331-332.

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wir ein kurzer Einblick in die Mechanismen deutlich, mit welchen der sozialistische Realismus operiert. Die ausufernde Serienproduktion der sozialistischen Opfer und Märtyrer, die bereitwillig für ihre ideologische Überzeugung in den Tod gehen, ist aber nicht nur ein Produkt der Kriegspropaganda, die auf bewährte und kulturell bekannte Opferfigurationen des Christentums zurückgreift, um den II. Weltkrieg als heiligen Krieg aufzuwerten und damit die Menschen in die Pflicht der christlichen Nachahmungskultur zu nehmen, sondern auch das Resultat und die Zuspitzung des sozialistischen Helden, der in der Literatur 1930er Jahre geformt wird. Die Figur des sozialistischen Märtyrers ist auch das Produkt der radiopoetischen Literatur des sozialistischen Realismus, die die Grenzen der schriftlichen Medialität aufzubrechen versucht und den tragischen Helden aus seiner singulären Position herauslöst. Indem die Radiopoetik des sozialistischen Realismus den tragischen Helden zum massenmedialen Phänomen umformt, verwandelt sie ihn immer stärker zu einer überindividuellen religiösen Figur der heiligen Opferung und des Martyriums, die aus der literarischen Schrift herausgelöst in dem neuen Medium Radio und später vor allem auch im Fernsehen seine Erfüllung als Motiv des kollektiven Leidens des sowjetischen Volkes findet.

R ELIGION , M ACHT , M EDIEN Zu Beginn dieses Buches wurde die Frage gestellt, wie die Massenmedialisierung der Literatur im Radio die Regeln für die literarische Schriftproduktion verändert und wie im Zuge dessen sich eine politische Macht formiert, die ihren totalitären Anspruch aus der kulturellen Reproduktion von heiligen Figuren und Symbolen gewinnt. An einzelnen literarischen, publizistischen und filmischen Beispielen konnte man beobachten, dass mit dem Aufkommen des Radios dem neuen elektroakustischen Massenmedium sich ein neuer Umgang mit der literarischen Schrift formiert, der die literarischen Schreibprozesse zugunsten eines Als-Ob-Sprechens verschiebt. Das radiopoetische Schreiben wird zum wesentlichen Aspekt der Formierung der sozrealistischen Literatur, die sich auf einer vermeintlich authentischen Oralität des Volkserzählens stützen will, dabei allerdings im Hintergrund immer ein Konzept des mündlichen Sprechens hat, das sich auf sekundärer Oralität der radioakustischen Erfahrung gründet. Während die Aspekte der technischen Vermittlung des Wortes im Radio hinter den ideologischen Konzepten der Unmittelbarkeit des radiophonen Sprechens verschwinden, entsteht eine Literatur, die stets gegen die eigene Schriftlichkeit ankämpft, um im kollektiven Sprechen der

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sozialistischen Gemeinschaft eine Erlösung zu finden. Dabei spitzen sich im literarischen Schreiben Elemente der christlichen Nachahmungskultur zu, die in Figurationen der sozialistischen Opferung die christlichen Märtyrer- und Opferkonzepte politischideologisch produzieren. Während die Romane der 1930er Jahre den Selbstwerdungsprozess des sozialistischen Helden beschreiben und diesen als einen inneren Kampf gegen den eigenen Körper oder den Kampf gegen die Materialität des Schriftcorpus als nichtüberwundenen Rest der bürgerlichen Individualität inszenieren, explodiert die Literatur der Kriegs- und Nachkriegszeit in den 1940er und frühen 1950er Jahren in einer regelrechten Serienproduktion des Märtyrers, der für die sozialistische Idee bereitwillig in den Tod geht. Dabei knüpft die radiopoetische Mündlichkeit der sozrealistischen Literatur, die aus der massenmedialen Erfahrung der Radioakustik gewonnen wird, an die Vorstellung des lebendigen Wortes gegenüber der toten Schrift des Christentums an und setzt ihre Dichotomie fort. An literarischen Beispielen, die in dieser Arbeit untersucht wurden und an der Beobachtung von literarischen Schreibprozessen, die sich im Zuge der Massenmedialisierung verändern, lässt sich feststellen, dass die Bestrebungen des Sozrealismus in der Sowjetunion der 1930er Jahre, die Individualität der Schrift zu überwinden, in einem Prozess der Literaturproduktion münden, die die Differenz zwischen dem religiösen und dem weltlichen (wissenschaftlichen, politischen usw.) Diskurs zu neutralisieren28 versuchen. Beide Diskurse fallen quasi innerhalb einer totalen Kommunikation der sozrealistischen Literatur ineinander, so dass der Prozess der Säkularisierung und die Sakralisierung des Politischen gleichzeitig stattfinden. In dem Maße, wie das religiöse Wunder durch technischen Fortschritt und vor allem durch die modernen Kommunikationsmedien wie Radio, Telefon, Telegraf aus der Welt verdrängt und als Verblendung ideologisch entlarvt wurde, war die sozrealistische Literatur darum bemüht, religiöse Figuren und Formeln im Politischen äußerst variationsreich zu inszenieren. Hier bietet es sich an, die sowjetische Macht über ihre historische und politisch-ideologische Bedeutung heraus als ein Akt der Selbstinszenierung zu betrachten und ihren performativen Charakter stark zu machen. Es geht nicht nur um das bloße Ersetzen der religiösen Figuren und Begriffe durch politische und im Gegenzug der sakralen Aufwertung der politischen Helden und Führer, sondern auch um eine Produktion und Weiterschreibung der religiösen Nachahmungspraxis, die die politische Macht als eine totale legitimiert und den Ausnahmezustand zur Norm erklärt. Hier wird das Problem der Säkularisierung und des Fortlebens

28 Vgl. Igor Smirnov: Psichodiachronologika. Psichoistorija russkoj literatury ot romantizma do našich dnej. NLO Moskva 1994, S.275.

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der religiösen Begriffe innerhalb des Politischen aktuell, die in der sowjetischen Philosophie allerdings nicht wie etwa in der nationalsozialistischen durch Carl Schmitt behandelt werden, sondern sich in den Bereich der literatur-ästhetischen Produktion verschieben29 und innerhalb der Transformationsprozesse des literarischen Schreibens in massenmediales Sprechen verhandelt werden. In Politische Theologie verabschiedet Carl Schmitt 1934 religiöse Begriffe, setzt an deren Stelle politische und beschwört damit zugleich eine nie enden wollende Diskussion um das Problem der Säkularisierung. An dieser Stelle wird nicht der Versuch unternommen, dieses Problem zu lösen. Es ist vielmehr eine Notwendigkeit, die Säkularisierung sakraler Begriffe und die Sakralisierung des Politischen als deren Wiedergänger auf den Plan zu rufen, um die Inszenierungen der totalitären Macht, speziell der sowjetischen, deren Ästhetisierung und Legitimation der Gewalt, deren absoluten Anspruch auf das Leben analysieren zu können. Es geht dabei vor allem um religiöse Muster und Ordnungen, die aus dem Sakralen herausgelöst zur politischen Handlung werden und damit a) die sakrale Ordnung imitieren und b) damit in der Lage sind, politische Gewalt als eine göttliche zu postulieren und als unantastbar über jeder menschlichen Ordnung stehende zu legitimieren. Wenn also Carl Schmitt in seiner Politischen Theologie feststellt: „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet. Diese Definition kann dem Begriff der Souveränität als einem Grenzbegriff allein gerecht werden. Denn Grenzbegriff bedeutet nicht einen konfusen Begriff, wie in der unsauberen Terminologie populärer Literatur, sondern einen Begriff einer äußersten Sphäre. Dem entspricht es, dass seine Definition nicht anknüpfen kann an den Normalfall, sondern an einen Grenzfall.“30

So ist es nicht nur eine juristische Definition des politischen Souveräns. Es geht hier um den Anspruch des staatlichen Souveräns, jenseits jeder profanen Rechtsordnung zu stehen und damit einer sakralen anzugehören. Weiterhin führt Schmitt aus: „Alle prägnanten Begriffe der modernen Staatslehre sind säkularisierte theologische Begriffe. Nicht nur ihrer historischen Entwicklung nach, weil sie aus der Theologie auf die Staatslehre übertragen wurden, indem zum Beispiel der allmächtige Gott zum omnipotenten

29 Vgl. Igor Smirnov: Socrealizm: antropologičeskoje izmerenije. In: Socrealističeskij kanon. St. Petersburg 2000, S. 16-26, hier bes. S. 16. 30 Carl Schmitt: Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität. Berlin 1990, S. 11.

232 | R ADIOPOETIK DES SOZIALISTISCHEN REALISMUS Gesetzgeber wurde, sondern auch in ihrer systematischen Struktur, deren Erkenntnis notwendig ist für eine soziologische Betrachtung dieser Begriffe.“31

Der omnipräsente Gesetzgeber tritt nicht nur an die Stelle des allmächtigen Gottes und substituiert damit eine alte (religiöse) mit der neuen (säkularen) Rechtordnung, er übernimmt gleichzeitig seine heiligen Insignien, die vor ihm zuvor die christlichen Könige innehatten. Somit findet eine Imitation des Heiligen zweiter Ordnung statt, in der sich die politische Herrschaft in Nachfolge der absolutistischen und davor einer göttlichen als heilige manifestiert und sich als eine Macht der äußeren Sphäre festigt. Es ist auch jene politische Macht, die Walter Benjamin in seinem Aufsatz Zur Kritik der Gewalt anprangert32. Sein Ansatz folgt vor allem den Überlegungen zur Vermischung theologischer Begriffe mit politischer Rechtsetzung und der prekären Lage der Ableitung der politischen Begriffe aus theologischen. Er beschreibt die Rechtsetzung als Machtsetzung und insofern als ein Akt von unmittelbarer Manifestation von Gewalt33. Dieser Manifestation der Gewalt als rechtsetzende, die sich nicht auf einen gesetzten Zweck bezieht, sondern sich nur auf die Manifestation des eigenen Daseins beruft, liegt eine Art affektive Willkürlichkeit zugrunde, deren ungeheuer folgenschwere Anwendung34 er im Staats-

31 Carl Schmitt: Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität. Berlin 1990, S. 49. 32 Vgl. Sigrid Weigel: Souverän, Märtyrer und „gerechte Kriege“ jenseits des Jus Publikum Europaeum. Zum Dilemma Politischer Theologie, diskutiert mit Carl Schmitt und Walter Benjamin. In: Figuren des Europäischen. Kulturgeschichtliche Perspektiven. Hg. von Daniel Weidner. München 2006, S. 101-129. Als Rückkehr gerechter Kriege im 21. Jahrhundert betrachtet Weigel den islamistischen Terrorismus und setzt damit Benjamins Kritik der rechtsetzenden Gewalt, die ihre theologische Herkunft verschweigt als Zäsur gegen Schmitts Vorstellung der Politischen Theologie, die eben den „gerechten Krieg“ in der Moderne aus dem Völkerrecht bahnt, indem sie die theologischen Begriffe endgültig verabschiedet. Damit beschreibt sie einen Einbruch der Theologie in das öffentliche Bewusstsein der letzten Jahrzehnte als Problematik des politischen und völkerrechtlichen Verständnisses, das dem fanatischen Selbstmordattentäter, der sich als Märtyrer inszeniert, ratlos gegenübersteht. Diese Widerkehr der Religiosität kann, wie Weigel beschreibt, als symptomatisch auch für die totalitären Systeme in Europa, besonders auch des Sowjetrussland im 20. Jhd. bezeichnet werden. 33 Vgl. Walter Benjamin: Zur Kritik der Gewalt. In: zur Kritik der Gewalt und andere Aufsätze. Mit einem Nachwort von Herbert Marcuse. Frankfurt a. M. 1965, S. 55. 34 Vgl. ebd., S. 57.

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recht beobachtet. Sein Votum gilt dabei einer klaren Trennung zwischen der politischen und theologischen Sphäre und richtet sich eben gegen jene Staatsgewalt, die sich als Mischform von weltlicher und göttlicher Gewalt konstituiert und dabei ihren theologischen Ursprung stets verschweigt. Es ist aber auch Unmöglichkeit und zugleich Dringlichkeit des Menschen zu entscheiden, wann eine reine Gewalt in einem bestimmten Falle wirklich war, […] weil die entsühnende Gewalt für den Menschen nicht zutage liegt.35 Damit wird jede politische Macht, die sich als Grenzfall begreift zu einer tyrannischen, da sie ihren theologischen Anspruch der Machttotalität als einen politischen codiert und damit die Entscheidungsmöglichkeit nimmt, das Politische vom Theologischen zu differenzieren. Interessante Überlegungen ergeben sich daraus für das politisch-theologische Konzept der russisch-orthodoxen Kirche, das sich zwischen dem Anspruch der Machttotalität der orthodoxen Kirche über der weltlichen Macht und der Vorstellung einer Symphonie der Gewalten, die das Ideal des Einklangs zwischen weltlicher und sakraler Macht verfolgt, bewegt. Dabei lässt sich ein theologisches Denken in russischer Orthodoxie beobachten, das die politische Kultur nachhaltig beeinflusst. Da sich weder die Machttheologie, noch die Symphonie der Mächte konsequent im Theologischen durchsetzen können, entsteht eine Politik, die sich zwar am theologischen Symphoniegedanken orientiert und nach außen im Prozess der Säkularisierung eine Trennung der sakralen und weltlichen Macht vollzieht, dabei jedoch entschieden von der Theologie der Machttotalität profitiert und damit sich zur Totalität der politischen Macht entwickelt.36 Die politische Entwicklung der Sowjetunion kann damit als Fortschreibung dieser politisch-theologischen Tradition betrachtet werden. An Benjamins Kritik der Gewalt angelehnt, wird die Problematik dieses totalitären Anspruchs der russischen und nachfolgend sowjetischen Politik deutlich. Sie baut sich konsequent auf der Vermischung theologischer und politischer Sphären auf und verschweigt dabei stets ihren theologischen Ursprung. Besonders kompliziert wird die Unterscheidung zwischen politischer und theologischer Sphären, wenn sich das neue politische Ordnungssystem auf einem atheistischen Gesellschaftskonzept gründet und damit der theologische Diskurs komplett aus dem öffentlichen Leben verschwindet. Damit wird die konsequente Trennung theologischer und politischer Sphären unmöglich. Der staatliche Souverän entpuppt sich als im Affekt handelnder Tyrann, der sich stets als Märtyrer zu inszenieren vermag, um seine politische Legitimation zu sichern.

35 Ebd., S. 64. 36 Vgl. Konstantin Kostjuk: Der Begriff des Politischen in der russisch-orthodoxen Tradition. Padeborn 2005, bes. S. 205-242.

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Eine Erweiterung des theologischen Symphoniegedankens bietet der russische Historiker Boris Uspenskij in seinem Buch Car‘ i patriarch an. Die Verbindung zwischen dem russischen Zaren und dem Patriarchen der russisch-orthodoxen Kirche beschreibt er nicht nur als eine symphonische, sondern auch als eine charismatische, bei der nicht nur das Oberhaupt der Kirche, sondern auch der politische Herrscher durch das sakrale Ritual der Salbung einen sakralen Status erhält und damit über das Irdische gestellt wird. Im Anknüpfen an die byzantinische Tradition beschreibt er gerade die Präsenz des Zaren als Voraussetzung für die Figur des Patriarchen, die in Russland von juridischen, wie es in Byzanz der Fall war, zu einer charismatischen Verbindung umcodiert wird, die man als Charisma der Macht bezeichnen kann. In seinen Schlussfolgerungen notiert Uspenskij: „In beiden Fällen beobachten wir weiterhin eine Wiederholung der gewissen sakralen Handlung, die im Prinzip nicht wiederholt werden soll. Es gibt der betreffenden Person den besonderen sakralen Status – das besondere Charisma. Tatsächlich stellen sich der Zar wie auch der Patriarch außerhalb der Handlungssphäre der allgemeinen kanonischen Regeln: für sie gelten jene Gesetzmäßigkeiten nicht, denen sich alle übrigen Sterblichen unterwerfen; als ob sie einer anderen, höheren Sphäre des Daseins angehören. Daraufhin werden die administrativen Funktionen des Staatsoberhauptes und des Oberhaupts der Kirche (des Zaren und des Patriarchen), die in Byzanz auf Basis juristischer Regelungen festgelegt wurden, in Russland als eine Erscheinungsform des besonderen Charismas, als Charisma der Macht wahrgenommen. So verwandeln sich die juristischen Vollmachten in charismatische Vollmachten: die Symphonie der Macht wird in die Symphonie des Charismas umgewandelt. [В обоих случаях, далее, мы наблюдаем повторение некоего сакраментального действия, которое в принципе не должно повторятся. Это придает поставляемому лицу особый сакральный статус – особую харизму. Действительно как царь, так и патриарх оказываются как бы вне сферы действия общих канонических правил: на них не распространяются те закономерности, которым подчиняются все прочие смертные; они как бы принадлежат иной, высшей сфере бытия. В результате административные функции главы государства и главы церкви (царя и патриарха), которые в Византии определялись специальными юридическими установлениями, воспринимаются в Росии как проявление особой харизмы – харизмы власти. Так юридические полномочия превращаются в полномочия харизматические: симфония власти претворяется в симфонию харизмы.]“37

37 B. A. Uspenskij: Car’ i patriarch. Charizma vlasti v Rossii. Vizantijskaja model’ I ee russkoje pereosmymslenie. Moskau 1998, S. 516.

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Damit findet zunächst eine sakrale Aufwertung von weltlicher Rechtsordnung statt, die zur Vermischung beider profanen und sakralen Sphären entscheidend beiträgt. Der reibungslose Übergang der theologischen Begriffe in juridische, die Schmitt seiner Politischen Theologie voraussetzt, muss tatsächlich immer wieder an Mischformen der Macht scheitern, die, wie in Uspenskijs Untersuchung deutlich wird, in der russisch-orthodoxen Tradition der Symphonie der Macht über die institutionelle Regelungen hinaus zu einer charismatischen Verbindung werden, die wiederum über die absolutistische Herrschaft hinaus im politischen Souverän des 20. Jahrhunderts einen Wiedergänger finden. Die Verbindung in Russland zwischen staatlicher und sakraler Macht beschreibt Uspenskij als eine untrennbare Beziehung, durch die sich beide Sphären (politisch / sakral) gegenseitig legitimieren und damit zur Voraussetzung werden, uneingeschränkt Macht auszuüben. Eben dieser Verbindung bescheinigt Uspenskij das Verständnis von Moskau als Drittes Rom und eine sakrale Aufwertung der Stadt als Ort der Erneuerung byzantinischen Erbes. „Jener Umstand, dass in Russland das Vorhandensein des Zaren die Ernennung des Patriarchen bestimmt, und nicht andersherum, verweist das Moskauer Reich auf die Anfangsperiode des Byzantinischen Imperiums, als im Einklang mit der Entscheidung von Chalkidonskij Kathedrale im Jahr 451 in Konstantinopel neben dem Kaiser (dem Zaren) auch der Patriarch erscheint. Dies erklärt das Selbstverständnis Moskaus als das Neue Konstantinopel und des Moskauer Herrschers als neuen Konstantin. Dementsprechend kann das Moskauer Reich im Kontext der Wahrnehmung Moskaus als Drittes Rom auch als Neues Konstantinopel verstanden werden, das nicht die Fortsetzung, sondern die Erneuerung der byzantinischen Geschichte bedeutet. [То обстоятельство, что на Руси наличие царя определяет поставление патриарха, а не наоборот, соотносит Московское царство с начальным периодом Византийской империи, когда в соответсвии с решением Халкидонского (IV Вселенского) собора 451г., в Константинополе наряду с императором (царем) появляется и патриарх. Это отвечает пониманию Москвы как Нового Константинополя и московского государя – как Нового Константина. Соответственно, Московское царство может пониматься – в контексте восприятия Москвы как Третьего Рима и Нового Константинополя – не столько как продолжение, сколько как обновление византийской истории.]“38

Gleichzeitig wird die Figur Moskva-Tretij Rim (Moskau-Drittes Rom) zu einem Denkmuster, das auf die Eschatologie der russischen Geschichtstradition verweist.

38 B. A. Uspenskij: Car’ i patriarch. Charizma vlasti v Rossii. Vizantijskaja model’ I ee russkoje pereosmymslenie. Moskau 1998, S. 517.

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In einem Brief von Mönch Filofej (Philotheos) an den Moskauer Beamten Michail Misjur‘-Munechin erstmals erwähnt, macht diese Figur erfolgreich Karriere in der Selbstbehauptung und Legitimation der Stadt Moskau als politisches und geistliches Zentrum Russlands und der orthodoxen Christen mit dem Anspruch, die einzig wahrhaftige Erbin der byzantinischen Tradition zu sein39. Als spirituelles Zentrum Russlands ist Moskau zugleich eine heilige Stadt und wird besonders im 20. Jahrhundert zu einer geeigneten Plattform für nationalistische und ideologische Formationen, die auf der theologischen Figur Moskau-Drittes Rom basierend, der Stadt nicht nur die Rolle der theologischen Erbin zuschreiben, sondern auch darauf eine messianische Politik gründen und Moskau wie dem russischen / sowjetischen Volk eine göttliche Auserwähltheit zuschreiben. Besonders in den 1930er Jahren dient Moskau der Sakralisierung der sowjetischen Macht und wird damit auch den grandiosen und monumentalen Umbauten unterworfen.40 Mit dieser Verortung auf Moskau als heilige Stadt auch nach der russischen Revolution, wird dem politischen Souverän und nicht nur dem russischen Zaren ein besonderer, quasi sakraler Status beigemessen. Dennoch bleibt die Verbindung der theologischen Symphonie als Grundlage der Politik in Russland eine prekäre. Im kurzen Einblick in die Zeit nach 1917 und den Status des russischen Patriarchen in Verbindung mit weltlicher Macht stellt Uspenskij im Abschluss seiner Arbeit folgendes fest: „Der beschriebene Charakter des Verhältnisses vom Zaren und Patriarchen wird bei der Aufhebung des Patriarchats in Russland im Jahr 1721 besonders deutlich. Es ist kein Zufall, dass mit der Aufhebung des Patriarchats auch der Titel des Monarchen geändert wird: der Zar wird zum Imperator [...] Zugleich zerstört die Wiederherstellung des Patriarchats in Russland nach 1917 die für Russland traditionelle Korrelation, bei der das Vorhandensein des Zaren das Vorhandensein des Patriarchs bestimmt. In diesem speziellen Sinn, wie paradox es auch klingen mag, steht die Aufhebung des Patriarchats 1721 in einer größeren Übereinstimmung mit der Tradition, als ihre Wiederherstellung 1917. [Рассмотренный характер соотношения царя и патриарха отчетливо проявляется при упразднении патриаршества в России в 1721 г. Не случайно упразднению патриаршества сопутствует изменение титула монарха: царь становится императором (...) Вместе с тем восстановление патриаршества в России в 1917 разрушает традиционную для России корреляцию, при которой наличие царя определяет наличие патриарха. В

39 Vgl. Franziska Thun-Hohenstein: „Moskau-Drittes Rom“. Nachklänge einer alten Denkfigur in der russischen Kultur des 20. Jahrhunderts. In: Figuren des Europäischen. Hg. von Daniel Weidner. München 2006, S. 79-97. 40 Vgl. Vladimir Papernyj: Kultura 2. Moskva 2006, S. 305ff.

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этом специальном смысле – как это не парадоксально – упразднение патриаршества в 1721 г. оказывается в большем соответствии с традицией, чем его востановление в 1917г.]“41

Tatsächlich fällt die Ernennung des neuen russischen Patriarchs 1917 mit der russischen Revolution zusammen. Damit ist der Zeitpunkt der Erneuerung der patriarchalen Struktur der russisch-orthodoxen Kirche zugleich der Zeitpunkt des Beginns der staatlichen Verfolgung der kirchlichen Würdenträger und Enteignung der Kirche durch die neue sowjetische Regierung. Trotz politischer Verfolgung bleibt die russische orthodoxe Kirche bis zu ihrer Legitimierung durch Stalin 1943 und bis heute unter der Führung des Patriarchen. Dieser Zustand denkt man ihn in B. Uspenskijs Kategorie von der charismatischen Verbindung zwischen Macht und Religion (Zar und Patriarch) wird zu einer brüchigen Konstruktion sobald die physische Repräsentation der politischen Macht quasi fehlt, weil sie faktisch durch die Diktatur des Proletariats ersetzt werden soll. Es entsteht eine Art Leerstelle, die institutionell gefüllt werden muss. Vor allem an den Kämpfen um das Territorium der Macht42 zwischen politischen Institutionen einerseits und künstlerischen und literarischen Organisationen der russischen Avantgarde andererseits bis Ende der 1920er Jahre wird dieses Ringen um den politischen Souverän und seinen sakralen Anspruch deutlich. Während die institutionelle Trennung zwischen Kirche und Staat durchaus vollzogen werden kann und die Symphonie der Macht damit unterbrochen wird, kann man auf der anderen Seite beobachten, dass die Überwindung der charismatischen Macht auch innerhalb der neuen sowjetischen Ordnung nicht stattfindet. Damit bleibt auch in Sowjetunion die sakrale Aufwertung des politischen Souveräns und sein Charisma bestehen, indem sie sich quasi ins Ästhetische verschiebt und innerhalb der sozialistisch realistischen Literatur immer wieder performativ ausagiert wird. Besonders an den Inszenierungen von Stalin in Literatur, bildender Kunst und Film als der Erbe Lenins, als großer Führer und Vater43 des sowjetischen Volkes

41 B. A. Uspenskij: Car’ i patriarch. Charizma vlasti v Rossii. Vizantijskaja model’ I ee russkoje pereosmymslenie. Moskau 1998, S. 42 Vgl. Boris Groys: Gesamtkunstwerk Stalin. S. 19ff. 43 Vgl. Boris Groys. Gesamtkunstwerk Stalin. 1988, aber auch mit Michail Jampol’skij: Der feuerfeste Körper. Skizze einer politischen Theologie. In: Die Musen der Macht. Hsg. von Jurij Murašov und Georg Witte. München 2003. Oder auch Riccardo Nikolosi: Dźambul i Kantorovicz. Političeskaja teologija stalinskoj ėpochi i ee intermedial’naja

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wird sichtbar, dass die Legitimierung Stalins als Führer und Legitimierung seiner Macht sich über das Beerben der charismatischen Autorität konstituieren und damit das Fortschreiben politischer Theologie der sowjetisch-sozialistischen Ordnung beflügeln. Ähnlich wie Uspenskij das Charisma der Macht zwischen Zar und Patriarch in Russland beschreibt, erscheint in einem etwas anderen kulturellen Kontext auch die These Ernst Kantorowicz von den zwei Körpern des Königs, die für die Konstruktionen der Macht im sowjetischen Russland als äußerst interessant sind. Über die Verdoppelung der königlichen Macht im Europa des Mittelalters schreibt Kantorowicz in Anlehnung an Schriften vom normannischen Anonymus folgendes: „Nach dem Kommen Christi auf Erden, nach seiner Himmelfahrt und Erhöhung zum Christus der Herrlichkeit, erfuhr folgerichtig auch das irdische Königsamt eine Veränderung; […] Die Könige des neuen Bundes waren nicht mehr die Vorläufer Christi auf Erden, sondern seine Schatten und Nachahmer. Der christliche Herrscher wurde zum christomētēs, buchstäblich Schauspieler und Darsteller Christi, das lebende Bild des Zweinaturen-Gottes auf der irdischen Bühne, auch im Hinblick auf die beiden unterscheidbaren Naturen. Der göttliche Prototyp und sein sichtbarer Stellvertreter waren einander ähnlich, einer spiegelte sich in dem anderen. Nach dem Anonymus gab es nur einen, allerdings wesentlichen Unterschied zwischen dem Gesalbten der Ewigkeit und seinem irdischen Gegenstück, dem Gesalbten auf Zeitlichkeit: Christus war König und Christus durch seine Natur, während sein Vertreter auf Erden König und christus nur durch die Gnade war. […] Mit anderen Worten: der König wird durch die Kraft der Gnade für eine kurze Zeitspanne „deifiziert“, während der himmlische König von Natur aus ewig König ist.“44

Das Gottwerden auf Zeit des mittelalterlichen Königs sichert zugleich eine charismatische Machtposition des politischen Souveräns gegenüber anderen Menschen und legitimiert ihn zugleich als göttliche Macht. „Der König ist ein Doppelwesen, menschlich und göttlich, genau wie der Gottmensch, wenn auch der König nur durch die Gnade und in der Zeitlichkeit von zweifacher Natur ist, nicht von Natur aus und (nach Himmelfahrt) für die Ewigkeit: der irdische König ist keine Doppelperson, er wird dazu durch Salbung und Weihe.“45

reprezentacija. In: Dźambul Dźabajev. Hsg. von K. Bogdanov, R. Nicolosi, J. Murašov. NLO Moskau 2013. 44 Ernst Kantorowicz: Die zwei Körper des Königs. Eine Studie zur politischen Theologie des Mittelalters. Stuttgart 1992. 45 Ebd., S. 68-69.

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Die Deifizierung des europäischen Königs des Mittelalters oder des russischen Zaren als Nachfolger byzantinischer Tradition werden allerdings vom modernen Staat und seinem Souverän, hier speziell ist die Konstituierung und Festigung der sowjetischen Macht gemeint, dahingehend beerbt, da sie gerade diese Konstruktion des „mystischen Körpers“, von der Kantorowicz in seiner Studie spricht, nachlebt. Der corpus mysticum, der von der Kirche des Spätmittelalters selbst quasi säkularisiert wurde, indem er, so Kantorowicz, mit weltlichen Inhalten vollgepumpt wurde46, erfuhr dagegen in den Ideologien der entstehenden territorialen weltlichen Staaten des Spätmittelalters eine sakrale Aufwertung. Ohne an dieser Stelle eine historische Chronologie zwischen der Etablierung der sowjetischen Macht in Russland und dem europäischen Spätmittelalter herzustellen, lassen sich jedoch auf struktureller Ebene Kantorowiczs Beschreibung des Wandels der sakralen Begriffe in politisches Handeln der Nationalstaaten auch in politischen Machtkonstellationen der Legitimierung der sowjetischen Macht in Russland besonders in der frühen Stalinära Gemeinsamkeiten feststellen. Der verstörende und scheinbar völlig aus der russischen Tradition herausfallende Moment des Aufbewahrens des Leichnams Lenin im Mausoleum wurde von Slavisten unterschiedlich bewertet47, allerdings wird gerade hier die Verdoppelung des souveränen Körpers offenbart. Zum wichtigen Bestandteil eines Königs, der niemals stirbt, zählt bei Kantorowicz die Sicherung der Kontinuität der königlichen Macht, deren größter Gegner die Unterbrechung durch den tatsächlichen physischen Tod des Souveräns ist, der zugleich eine Situation eines Interregnums herbeiruft und damit eine stabile Konstruktion der Macht brüchig macht. Um diese Unterbrechung durch das Interregnum zu vermeiden, werden im spätmittelalterlichen Europa neben sakralen auch juristische Faktoren eingebaut, die den Fortbestand des politischen Souveräns sichern sollen, so Kantorowicz. „Die stete Fortdauer des Staatsoberhauptes und der Begriff eines rex qui nunquam moritur, eines Königs, der ‚nie stirbt‘, beruhte hauptsächlich auf dem Zusammenwirken von drei

46 Ebd., S. 221. 47 Vgl. u.a. R. Nicolosi: Džambul i Kontorovič. Političeskaja teologija stalinskoj ėpochi i ee intermedial’maja reprezentacija. In: Džambul Džabajev. Moskau 2013, S. 220-243. / M. Jampol’skij: Der feuerfeste Körper. Skizze einer politischen Theologie. In: Die Musen der Macht (2003), S. 285-308.

240 | R ADIOPOETIK DES SOZIALISTISCHEN REALISMUS Faktoren: der Fortdauer der Dynastie, dem korporativen Charakter der Krone und der Unsterblichkeit der Königswürde.“48

Während die Monarchie die Beseitigung des Interregnums durch die Dynastie aufhebt und den Fortbestand des unsterblichen Souveräns durch das Geburtsrecht seiner Nachkommen sichert, entsteht in Sowjetrussland mit dem Tod Lenins eine Ausnahmesituation, eine Unterbrechung der souveränen Macht. So ist es nicht nur das Problem des mystischen Körpers, der in einer atheistischen Gesellschaft kompensiert werden muss, sondern gerade die menschliche sterbliche Physis und das Fehlen der „natürlichen“ dynastischen Nachfolge, die für die Legitimierung der sowjetischen Macht zum Problem wird. Stalin fehlt die dynastische Legitimierung als neuer Führer, damit wird seine Machposition zunächst eine prekäre. Um diese Situation des Interregnums zu überwinden, die durch Lenins Tod entsteht und um Stalin als neuen Machthaber und ideologischen Führer zu legitimieren, muss eine doppelte Strategie verfolgt werden. Auf der einen Seite wird Stalin medialästhetisch in Literatur, Kunst, Film und Massenmedien (besonders im Radio) aufwendig als zweiter Lenin inszeniert und beerbt damit seinen mystischen Körper. Zum anderen muss Lenins Leichnam im Mausoleum mit seiner physischen Dauerpräsenz immer wieder auf die körperliche Kontinuität der legitimen Erbfolge verweisen und damit das dynastische Fortbestehen des Souveräns imitieren. Das Aufbewahren Lenins Leichnams dient damit nicht nur der Wiederherstellung der Einheit zwischen Körper und Geist als Rückgriff auf vorchristliche Tradition und auch nicht ausschließlich der Erhebung des Führers einer heidnischen Gottheit gleich, sondern muss ganz offensichtlich in einem theatralischen, dramatischen Kontext betrachtet werden, in dem es um eine Inszenierung des Führerkörpers geht, der als Allegorie der Leiche in die Welt des ideologischen Dramas eingeht. Hier werden jene Inszenierungsstrategien der sowjetischen Macht offensichtlich, die die Sphäre des Sakralen und Weltlichen miteinander verbinden und eine religiöse Ästhetik ohne religiöse Inhalte, ohne jegliche transzendentale Vorstellung als Gegenpol zur profanen Welt, schaffen. Die sakrale Sphäre wird konsequent ins Diesseits des Politischen verlegt und findet im Ästhetischen einen Ort der Erlösung. Die ganze Theatralik des ausgestellten Körpers verweist nicht nur auf die Heiligkeit des sozialistischen „Königtums“ und legitimiert Stalin damit als Lenins Nachfolger, sondern sie dient in gleicher Weise der Inszenierung des Führers als Märtyrer, dessen Leiden sich in den Leichnam einschreibt. Gleichzeitig ist es auch

48 Ernst Kantorowicz: Ebd., S. 324.

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dessen schöne Leiche im Gegensatz zum Normalsterblichen, die die Vergänglichkeit überwindet, und damit seinen Geist und seinen Körper sakral erhöht. So leidet der große Führer der Revolution ganz im Sinne eines Märtyrers, wie ihn Walter Benjamin im barocken Trauerspiel beschreibt: „Wenn das Martyrium den Körper des Lebendigen dergestalt emblematisch zurüstet, so ist es doch daneben nicht unwichtig, dass der physische Schmerz schlechtweg als Aktionsmotiv jederzeit dem Dramatiker präsent war. Nicht nur der Dualismus des Cartesius ist barock; im höchsten Grade kommt als Konsequenz der Lehre von der psychophysischen Beeinflussung die Theorie von den Passionen in Betracht. Da nämlich der Geist an sich pure, sich selbst treue Vernunft ist und körperliche Influenzen ganz allein ihn mit der Außenwelt in Fühlung setzen, so lag die Qualgewalt, die er erleidet, als Basis heftiger Affekte näher als sogenannte tragische Konflikte. Wenn dann im Tode der Geist auf Geisterweise frei wird, so kommt auch nun der Körper erst zu seinem höchsten Recht. Denn von selbst versteht sich: die Allegorisierung der Physis kann nur an der Leiche sich energisch durchsetzen. Und die Personen des Trauerspiels sterben, weil sie nur so, als Leichen, in die allegorische Heimat eingehen. Nicht um der Unsterblichkeit willen, um der Leiche willen gehen sie zu Grunde.“49

Es ist in erster Linie eine schöne Leiche, die erst im nächsten Schritt ästhetisch aufgewertet und sakralisiert wird, weil sie mit ihrer Physis an das Leiden Lenins erinnert, allerdings mit ihrer Unversehrtheit das Ewige imitiert. Im Rahmen einer politischen Theologie betrachtet, erfüllt die Allegorisierung in Lenins Fall zwei Funktionen: zum einen markiert sie endgültig den Übergang zur neuen politischen Ordnung und ist zum anderen als Bild der sichtbare Rest der alten Ordnung, die den mumifizierten Leichnam des Führers immer wieder in die Ewigkeit blickend bannen soll. Wenn Benjamin in seinen Überlegungen zum Übergang von der Antike zum Mittelalter schreibt: „Hätte die Kirche kurzerhand die Götter aus dem Gedächtnis ihrer Gläubigen verdrängen können, so wäre die Allegorese nie entstanden. Denn sie ist nicht epigonales Denkmal ihres Sieges; viel eher das Wort, das einen ungebrochenen Rest antiken Lebens bannen soll“ 50

So ist die Aufbewahrung Lenins im Mausoleum zwar Legitimierung Stalins politischer Macht, allerdings auch zugleich das sichtbare Scheitern der Überwindung

49 Walter Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels. Frankfurt am Main 1972, S. 245-246. 50 Walter Benjamin: ebd., S. 252.

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der charismatischen Macht und der Bestätigung der untrennbaren Beziehung zwischen Religion und Staat im sowjetischen Russland und damit auch das gescheiterte Bannen der alten „christlichen“ Götter aus dem neuen Ordnungssystem. Benjamins Allegorie-Begriff liegt ein wesentlicher Aspekt zugrunde: Es ist ein Konstrukt des Wandels und Umbruchs, der eben in solchen Übergangsphasen wie von der Antike zum Christentum oder im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit in Erscheinung tritt, welche mit ihrer Zerstörungswut dem Menschen seine Vergänglichkeit vor Augen führen. Es ist die Allegorie der sterblichen Physis, die die Trümmer der alten Ordnung wieder ins Neue rettet und damit die mit dem Anspruch des Ewigen ausgestatteten Rechtsnormen51 fortleben lässt. Allegorisch an der schönen Leiche Lenins festgeschrieben, inszeniert sich die neue sowjetische Macht als eine sakrale, die sich jenseits der Rechtsordnung platziert und damit für sich beansprucht, Entscheidungen zu treffen, die zuvor jenseits der Welt in absoluten Akten der Gottheit gefällt worden waren52. Der säkularen atheistischen Gesellschaft wird damit politische Macht entgegengesetzt, die sich als sakrale manifestiert und nach heiligen Opfern und Märtyrern verlangt. Es ist eine politische Macht, die die theologische Machttotalität nachlebt und diese in den staatlichen Anspruch der politischen Totalität übersetzt. Seine mediale Verkörperung findet der sowjetische Totalitarismus in der sozialistisch realistischen Literatur, die eine Universalität aller Bereiche der Erkenntnis für sich beansprucht und alle andere Diskurse ausschließt53, wie Igor Smirnov trefflich bemerkt. Es ist eine Literatur, die sich selbst als Grenzfall auf eine masochistische54 Art und Weise positioniert, ihre eigene Schriftlichkeit bekämpft, um radiopoetisch überindividuell und universell sprechen zu können. Das Fatale dieser Universalität ist die Setzung der politischen Macht als Grenzfall ganz im Sinne Carl Schmitts Politischer Theologie. Kritisch bemerkt der wohl bekannteste Schmitt Kritiker Hans Blumenberg zum Grenzbegriff bei C. Schmitt: „Aus einem ‚Grenzbegriff‘ lässt sich wohl ohnehin nicht ‚ontologisch‘ argumentieren, denn dafür, wer über den Ausnahmezustand entscheidet, gibt es keine Zuständigkeit. […] Weil eine Person notwendig ist, muss es Säkularisierung geben, die sie verschafft, und zwar aus dem Fundus derjenigen Tradition, zu deren zweifellos autochtonen Beständen der Personenbegriff gehört. Man muss sich ohnehin darüber verwundern, dass unter den vielen Belegstücken der Säkularisierungsthese der Begriff der Person keine ausgezeichnete Rolle

51 Vgl. mit Walter Benjamin: ebd., S. 253. 52 Hans Blumenberg. Die Legitimität der Neuzeit. Frankfurt am Main 1966, S.99. 53 Vgl. Igor Smirnov: Psichodiachronologika. 1994, S. 285. 54 Vgl. Igor Smirnov: ebd., S. 276.

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spielt, ja kaum vorkommt. Aber bei Carl Schmitt muss vorbehalten bleiben, dass der Träger dessen, was im eminenten Sinne Entscheidung ist, Person nur im metaphorischen Sinne sein kann – und nicht sein darf, weil die Person zugleich mit der Fähigkeit zur Entscheidung die Legitimität der Entscheidung beizubringen hat. Die ‚politische Theologie‘ ist eine metaphorische Theologie. Die quasi-göttliche Person des Souveräns hat Legitimität und muss sie haben, weil es für sie Legalität noch nicht oder nicht mehr gibt, denn sie soll diese erst oder wieder konstituieren. Die beneidenswerte Lage, in die sich der ‚politische Theologe‘ durch das Instrument der behaupteten Säkularisierung versetzt, besteht darin, dass er den Bestand seiner Figuren vorfindet und sich dadurch den Zynismus einer offen ‚theologischen Politik‘ erspart.“55

Blumenberg setzt damit den Legitimitätsbestrebungen des quasi-göttlichen Souveräns das Problem der Legalität entgegen. Die Säkularisierung bedarf einer konkreten Verortung auf eine Person, die eine Entscheidung trifft und sie trifft diese, so das ideale Funktionieren der säkularen Handlung, aus ihrem menschlichen vergänglichen Dasein, was wiederum diese Entscheidung zu einer vergänglichen und einer unkontinuierlichen macht. Eben diese Brüchigkeit der Entscheidung ist für C. Schmitt ein Problem, denn eine solche Souveränität kann niemals außerhalb der Rechtsordnung stehen, eine Macht der äußeren Sphäre sein. So muss der Souverän, der in Zeiten des Umbruchs sich Legalität verschaffen will, sich immer wieder über theologische Machtinstitutionen, sakrale Rituale und ästhetische Aufwertungen politischen Handelns als sakrale legitimieren, um eben nicht als Person, sondern als deren metaphorische Aufspaltung und mediale Vervielfältigung in Erscheinung zu treten, um (wie Blumenberg trefflich bemerkt) sich den Zynismus einer offenen theologischen Politik zu ersparen. Im Fall der Legitimationsbestrebungen und Legalisierungsprozesse lässt sich beobachten, dass das neue politische System in Russland eine enorme Energie aufwenden muss, um sich zu etablieren. Die Ausweitung des Politischen auf die Sphäre des Ästhetischen und die Beanspruchung jeglicher literarischen, künstlerischen und kulturellen Bereiche der Gesellschaft ist dabei eine konsequente und unausweichliche Folge dieser Legitimationsbestrebungen. Der sozialistisch realistische Literaturbetrieb verkehrt somit in ein alles umfassendes Kommunikationsnetz, in dem die Totalität der politischen Macht in einer permanenten massenmedialen Inszenierung in Erscheinung tritt. Die Stimme des Kollektivs, die die Radiopoetik der sozrealistischen Literatur medienübergrei-

55 Hans Blumenberg. Ebd., S. 112.

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fend im Radio, in der Schrift, im Film erklingen lässt, bringt nicht nur das sprechende Individuum zum Schweigen, sondern löscht jegliche individuelle, nationale, religiöse Zugehörigkeiten eines Menschen innerhalb des sozialistischen Kollektivs aus, indem sie ihn zu einer Gruppe zusammenwachsen lässt, die eine transsoziale Gemeinschaft56 darstellt und einer religiösen Gemeinde ähnlich, eine Gemeinschaft im Geiste bildet. Der Einzelne, der sich in sozialistischer Gemeinschaft auflöst, verschwindet nicht nur, sondern wird in der massenmedialen Literatur des Sozrealismus regelrecht negiert und tabuisiert. Das Zusammenfallen der sakralen und profanen Sphäre resultiert aus dieser Negation des Menschlichen im Sozialistischen Realismus57, erklärt den Menschen zum Grenzfall und stellt ihn in die Genealogie des christlichen Märtyrers, der ebenfalls als Ausnahmefall das Menschliche in seinem Leiden und in seiner Nachahmung der Passion Christi überwindet und die Grenze zwischen profaner und sakraler Welt aufhebt. Nur kennt der sozialistisch realistische Märtyrer kein Jenseits, wo er mit seinem Tod die Transformation zum sakralen Opfer vollziehen kann, vielmehr verkehrt die sakrale Welt ins sozrealistische Diesseits, strebt im Diesseits innerhalb der profanen Welt eine quasi sakrale Erlösung an. Der Ausnahme- und Grenzfall des Martyriums wird so zur Norm des sozrealistischen Handelns. Die Negation des Menschen und seiner vergänglichen kranken Physis entwickelt sich zu einer selbstzerstörerischen Praxis der sozialistischen Kultur, die alle materiellen Reste zu beseitigen versucht. Während die sozialistisch realistischen Helden körperlich zu Grunde (z.B. Ostrovskijs gelähmter Pavel Korčagin) gehen, alle erdenklichen körperlichen Strapazen (z. B. Leonovs Kurilov, der permanent Schmerz erträgt und an Nierenversagen stirbt oder auch hier Pavel Korčagin, der unter starken Schmerzen blind schreibt) und Verstümmelungen (z. B. Fadeevs Junge Garde) ertragen, wird der literarische Schreibprozess selbst zu einer Praxis der permanenten Auslöschung und Tabuisierung der eigenen materiellen Grundlage, der literarischen Schrift. Die literarische Praxis des Sozrealismus geht weit über die Verstaatlichung der Literatur58 hinaus, denn es ist eine Literatur, die sich selbst in einer totalen massenmedialen Kommunikation der kollektiven Stimmen radiopoetisch aufzuheben versucht und damit in einem permanenten Ausnahmezustand verharrt.

56 Vgl. Igor Smirnov: Psichodiachronologika. 1994, S. 281. 57 Vgl. Igor Smirnov: Socrealizm: Antropologičeskoje izmerenije (2000), S. 18. 58 Vgl. Hans Günter: Die Verstaatlichung der Literatur. Stuttgart 1984, S. 170ff. Vgl. Igor Smirnov: Psichodiachronologika. (1994).

Zusammenfassung

Dieses Buch hat sich die Aufgabe gestellt, einen etwas anderen Blick auf die Literatur des sozialistischen Realismus in der Sowjetunion der 1930er Jahre zu werfen. Es ging darum zu fragen, wie sich die sowjetische Literatur im Übergang von der russischen Avantgarde zum sozialistischen Realismus unter den Voraussetzungen des Aufkommens des neuen Massenmediums Radio formiert und dabei die Sakralität der politischen Macht produziert. Es wurde die These aufgestellt, dass das neue Massenmedium Radio die Schriftpoduktion in Sowjetunion nachhaltig verändert und damit die Voraussetzungen für die Schreibpraxis des sozialistischen Realismus legt. An einzelnen sozrealistischen Romanen konnte man exemplarisch beobachten, dass durch das Radio die literarische Produktion einen Mediumwechsel vom Schreiben zum Sprechen vollzieht und damit zugleich die christliche Dichotomie zwischen dem toten Buchstaben und dem lebendigen Wort ästhetisch reproduziert. Es entsteht dabei eine neue Poetik, die in diesem Buch als Radiopoetik bezeichnet wurde. Die Radiopoetik des sozialistischen Realismus unternimmt den Versuch, das Mimetische der Literatur, ihre Nachahmungspraxis zu überwinden und eine quasi unmittelbare Literatur zu schaffen, die nicht das Leben abbildet, sondern es kreiert. Durch die Radiopoetik verharrt allerdings die Literatur des sozialistischen Realismus in einem permanenten Ausnahmezustand, in welchem sich die Überwindung der Schrift zum dauerhaften Bewältigungsprozess des literarischen Schreibens entwickelt. Die schriftliche Medialität des literarischen Produktionsprozesses wird negiert und tabuisiert, indem sie durch ein transzendentales überindividuelles Sprechen ersetzt wird. Eben dieses überindividuelle Sprechen erscheint im Sozrealismus als ein vermeintliches authentisches Sprechen gegenüber der künstlichen unnatürlichen Schrift. Allerdings funktioniert die radiopoetische Praxis nur dann, wenn verschwiegen wird, dass diese Authenzität des Sprechens auf einer Massenmedialität der radioakustischen Erfahrung basiert.

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Mit dem Versuch der Auflösung der literarischen Schrift im massenmedialen Sprechen wird auch die Wahrnehmung der politischen Macht sakralisiert. Die These des Zusammenfallens der sakralen und profanen Sphären innerhalb des Sozrealismus soll dabei nicht der Verallgemeinerung der hier vorliegenden literarischen Beispiele auf die kulturelle Praxis dienen. Vielmehr soll diese Betrachtungsweise einen Blick auf den Sozrealismus eröffnen, von dem man aus die Frage nach dem Auftritt der sowjetischen Macht als eine sakrale, nicht nur aus einer historischen und diskursiven Perspektive, stellt, sondern vor allem die Inszenierungsstrategien der sowjetischen Macht beobachtet. Denn es lässt sich stark vermuten, dass die absolute Verfügungsgewalt der sowjetischen Macht über das Leben, ihre Positionierung jenseits der Rechtsnorm sich auf eine performative Praxis des Politischen zurückführen lässt, die von der christlichen Nachahmungskultur profitiert. Betrachtet man die sakralen Figuren des Christentums und ihr kompromissloses Handeln im Dienste der Religion, indem sie die Passion Christi nachahmen und auf dem Höhepunkt ihres Leidens zum Grenzfall zwischen profaner und sakraler Sphäre werden, wird deutlich, dass der sozialistische Held nicht nur zum Erben des christlichen Märtyrers wird, sondern auch mit der Radikalität seines Handelns die Grenzen zwischen sakral und profan verwischt. Weil der sozialistische Märtyrer und Held die Erlösung seiner Selbstopferung nicht im Jenseits sondern im Diesseits des Politischen einfordert, wird die Sphäre des Sakralen eliminiert. Das Selbstopfer, das im Christentum als Grenzfall fungiert und mit dem Übergang des Märtyrers in die sakrale Sphäre performativ gesühnt und ausgeglichen wird, manifestiert sich im Sozrealismus als politische und kulturelle Norm des menschlichen Handelns. Das sozialistische Selbstopfer wird in der massenmedial agierenden Literatur des Sozrealismus inszeniert. Seine Wirkungsmächtigkeit radikal vervielfältigt und verstärkt.

Literatur

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Abbildungen

Abbildung 1: Radio vsem (1926). H. 9, S. 3. Abbildung 2: Radio vsem (1926). H.6, S.3 Abbildung 3: Nacional’nyje pisateli na radio. In: Govorit SSSR 1934. H. 19, S. 11. Abbildung 4: Pisatel‘ i radio. In: Govorit SSSR 1934. H.19, S. 2. (Vgl. auch J. Murašov: Das elektrifizierte Wort (2003)) Abbildung 5: Aus Radio vsem, H. 8 (10.09.1926), S. 3, Übers.: Im Haus des Bauern von Mossovet. Sie hören eine Radiosendung Abbildung 6 Aus Radio vsem, H. 4 (31.05.1926), S. 3 Abbildung 7: Ausschnitt aus dem Film Odna (1930), Regie: Grigorij Kozincev / Leonid Trauberg Abbildung 8: Dziga Vertov. Entuziazm (Simfonija Donbassa). Restaurierte Version 1930 (1972), 65. Rest. von P. Kubelka. Österreichisches Filmmuseum.

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Uta Fenske, Gregor Schuhen (Hg.)

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Dieter Heimböckel, Georg Mein, Gesine Lenore Schiewer, Heinz Sieburg (Hg.)

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