Radio-Topologie: Zur Raumästhetik des Hörfunks 9783839441909

From experiences listening to the radio in World War One to reverberating effects in modern radio sound design: radio ae

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German Pages 282 [280] Year 2018

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Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
1. Einleitung
I. Das Raumdispositiv des Radios
2. Psychologie und Physik
3. Raumakustik und Architektur
4. Reportage
II. Der ästhetische Raum des Radios
5. Produktion
6. Moderation
7. Design
8. Fazit
Literatur
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Radio-Topologie: Zur Raumästhetik des Hörfunks
 9783839441909

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Kiron Patka

RADIO-TOPOLOGIE Zur Raumästhetik des Hörfunks

ist Tontechniker mit Schwerpunkt Radio-Sound­design. Er hat an der Eberhard ­Karls ­Universität ­Tübingen im Fach Medien­ wissenschaft promoviert und war aka­de­mischer Mitarbeiter von Jürg Häusermann. Er forscht und unter­richtet zu aktuellen und historischen Facetten von Radio, u. a. Radio- und Audiojournalismus, Radio-Sound­ design sowie Production Studies im Rundfunkkontext. KIRON PATKA

Kiron Patka

RADIO TOPOLOGIE Zur Raumästhetik des Hörfunks

Medien- und Gestaltungsästhetik 5 Hrsg. v. Prof. Dr. Oliver Ruf

Die vorliegende Arbeit wurde im Sommersemester 2017 von der Philosophischen Fakultät der Universität Tübingen als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar © 2018 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigung, Übersetzung, Mikroverfilmung und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Natalie Herrmann, Theresa Annika Kiefer, Lena Sauerborn, Elisa Siedler, Meyrem Yücel Designkonzeption: Andreas Sieß Umschlagabbildung: Dörte Lüdemann Abbildung »Radioskala 1952« (S. 9/10 u. w.): Maximilian Schönherr Gestaltung und Satz: Kiron Patka Lektorat: Carolina López Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN Print: 978-3-8376-4190-5 ISBN PDF: 978-3-8394-4190-9 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhaltsverzeichnis Vorwort – 11

1 Einleitung – 13 Ästhetik des Radios als Ästhetik des Raums | Quellen | Forschungskontext

I.

DAS RAUMDISPOSITIV DES RADIOS

2 Psychologie und Physik  –  29 2.1 Experimentalsituation: Räumliches Hören im Ersten Weltkrieg  –  29 Raumhören als ›Frontinstinkt‹ | Von der Schallwelle zum elektrischen Signal | Apparaturen zur Raumerforschung

2.2 Frühe Forschung: Die Hörbarkeit des Raums  –  39 Hören mit zwei Ohren | Richtungswahrnehmung | Entfernungswahrnehmung | Eine besondere Qualität: Das ›plastische Hören‹

2.3 Elektroakustik: Die Übertragung des Raums  –  49 Stereofonie 1881 | Die Utopie der perfekten Raumübertragung | Kopf oder Raum: Zwei Verfahren auf dem Prüfstand | Der stereofone Standard

2.4 Es ist kompliziert: Radio und Raum  –  58 Stereo-Technik fürs Radio | Die neue Stereo-Ästhetik | Zwischen Mono und Stereo | Zusammenfassung: Radio vs. Raum

3 Raumakustik und Architektur  –  67 3.1 Am Anfang der Raum: Schalldämmung im frühen Rundfunk  –  67 Eine besondere Atmosphäre | Aufnahmeraum 1923 | Vom Eigenklang des Raums | Aufnahmeraum als akustische Heterotopie | Das Raumproblem der Audiotechnik | Von toten Räumen zu schönen Sälen

3.2 Raumkonzept für Musik: Radio als Hörbühne  –  81 Moderne Sendesäle ab 1930 | Das virtuelle Konzert | Grenzen der Hörbühne

3.3 Raumkonzept für Stimme: Radio und Intimität  –  89 Intimität des Raums | Akustische Isolation des Sprechers | Sprechen im stillen Raum | Zusammenfassung: Sprecher im Schaltkreis, Musik in der Luft

4 Reportage – 103 4.1 Neues Sprechen: Die Stimme in der Reportage  –  103 Kommunikative Rollen im Radio | Anfängliche Sprachlosigkeit im deutschen Radio | Stimmen im Raum | Befreiung des Sprechens

4.2 Klang der Welt: Die Ästhetik der Reportage  –  115 Das Mikrofon auf Reisen | Der Klang von Sport | Ästhetik des Realen | Zusammenfassung: Das Raumkonzept der Reportage

II. DER ÄSTHETISCHE RAUM DES RADIOS

5 Produktion – 131 5.1 Mikrofon als Ohr: Akustische Perspektive  –  131 Radio als ästhetischer Raum | Raumstruktur alles Hörbaren: Akustische Topologie | Akustischer Raum als journalistische Aussage | Mythos Objektivität

5.2 Im Tonstudio: Produktion ästhetischer Räume  –  146 Grammatikalisierung des Klangs | Konstruktion von Soundscapes | Das Mikrofon als Skalpell | Stereotype Räume | Kein Radio ohne Raum: Konstruktion von Stille

5.3 Unmögliche Raumkomplexe: Radiostimme zwischen den Welten  –  159 Ästhetik radiofoner Wirklichkeit | Die raumlose Stimme als Weltvermittler | Zusammenfassung: Der Wirklichkeitsbezug im Radio

6 Moderation – 167 6.1 Topografie im Radio: Die Raumbezüge des Sendens  –  167 Moderatoren als Weltvermittler | Die Welt auf der Stationsskala | Radio auf Fernempfang | Von der Welt in die Region | Weltgefühl und Vision: Die neue Topografie

6.2 Radio als soziales Medium: Von Moderatoren und Hörern  –  179 Zu Gast beim Hörer | Das Paradox abwesender Anwesenheit | Störfaktor Studio | Das Raumproblem beim Live-Interview

6.3 Ein Versuch: Erzählebenen des Radios  –  190 Radio und Erzähltheorie | Kommunikationsmodell radiofoner Narrationen | Ebenen des Radioraums | Radionarratologie in der Praxis | Zusammenfassung: Raumvermittlung im Radio

7 Design – 205 7.1 Klangarchitektur: Zur Eigenständigkeit ästhetischer Räume  –  205 Ästhetischer Raum als Metapher | Der Klang des Dokumentarischen | Von Klangarchitektur zum Raum-Design | Radiojournalismus: Grenzen des freien Raums

7.2 Raumsemiotik: Das Ausdruckspotential stereofoner Räumlichkeit – 214 Links und Rechts als Ordnungsstruktur | Raumgestaltung als akustische Gesellschaftskritik | Zeit als Raum und Raum als Zeit | Über die Grenzen des ästhetischen Raums hinaus

7.3 Rhetorik des Nachhalls: Vom Raumeffekt zum Soundeffekt  –  225 Nachhall als autonomes Klangobjekt | Ästhetik der Effizienz | Vom Hallraum zum Reverb-Plugin | Ansatz zu einer Rhetorik des Nachhalls

8 Fazit – 237 Literatur – 243

»Radio is Sound.« Gordon Lea, 1926

Vorwort Dieses Buch hat viel dem Umstand zu verdanken, dass ich in der Zeit seines Entstehens sowohl an der Uni als auch beim Radio arbeiten konnte. Am Tübinger Institut für Medienwissenschaft hat es mir Jürg Häusermann durch seine mehr freundschaftliche als professorale Begleitung ermöglicht, zu Radio­ ästhetik zu forschen – auch wenn ich seinen Ratschlag, mich lieber nach einem sicheren Job umzuschauen statt eine akademische Laufbahn zu verfolgen, ein ums andere Mal in den Wind geschlagen habe. Meine Kollegin Pia Fruth hat mich immer wieder zu aufregenden wie aufwendigen gemeinsamen Lehrprojekten verführt; abgesehen davon hat sie die erste Fassung dieser Arbeit kritisch gelesen und gleichermaßen kommentiert. Die Zeit in unserem gemeinsamen Büro hat mich für all die Wochenenden am Schreibtisch mehr als entschädigt. Auch von Ute Kleiber habe ich in diesen Jahren wertvolle Unterstützung erfahren. Ulrich Hägele sowie Horst Tonn haben mit ihren ausführlichen Stellungnahmen zu entscheidenden Verbesserungen in der Druckfassung beigetragen – vielen Dank! Meine Arbeit beim Stuttgarter SWR war nicht nur in finanzieller Hinsicht hilfreich; sie hat sich auch im für das Buch elementaren Praxisbezug niedergeschlagen. Meine Abteilung für Studiotechnik hat diese Verbindung von Theorie und Praxis möglich gemacht und ist mir in vielem weiter entgegen­ gekommen, als selbstverständlich gewesen wäre. Mein Dank gilt vor allem ­Johannes Steuer, Susanne Schan und Lars Hoffmann. Wenn Teenager zuhören und sogar kritisch nachfragen, während man beim Abendessen über das Dissertationsthema schwadroniert, dann ist man wohl auf dem richtigen Weg. Jojo und Maya waren in dieser Hinsicht gute Seismografen. Und meine Eltern Hildegard und Tapash Biswas haben mich – schon immer – auf jede ­erdenkliche Weise unterstützt.

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Eine unverzichtbare Hilfe und Inspiration in fachlichen und methodischen Fragen, aber auch in Fragen der Arbeits- und Lebensbewältigung war ­Melanie Mika. Sie hat das Entstehen des Buches von Anfang an begleitet – mit Kritik, mit Impulsen, nicht zuletzt auch als Korrektorin. Zur abschließenden Gestalt des Textes hat Carolina López mit ihrem Lektorat wesentlich beigetragen. Unsere lange Freundschaft hat es mir erlaubt, mich ihrem stilsicheren Urteil mal blind zu unterwerfen, mal eigensinnig zu widersetzen. Nicht nur in diesen Fällen gilt: Alle Fehler und Auslassungen, die sich jetzt noch finden, sind nur mir selbst zuzuschreiben. Oliver Ruf danke ich für die freundliche Aufnahme in die transcript-Reihe »Medien- und Gestaltungsästhetik«. Kiron Patka, Tübingen, 1. September 2017

1 Einleitung Radio und Raum

Ästhetik des Radios als Ästhetik des Raums

Der Rundfunk ist ein Wunder. Ein kleiner Kasten spuckt Töne aus, eine Stimme wird vernehmbar, Musik schallt in den Raum, aber außer einem grünen elektronischen Auge und einer metallenen Antenne ist nichts zu sehen – kein Sprecher, kein Musiker: ein Wunder. Zeitzeugen erinnern sich an ihre Kindheit in den 1920er-Jahren: »Ich bekam Angst und glaubte, ein Geist ist im Kasten und kommt heraus.«1 Auch wer genau wusste, woher die Stimme kam, war nicht minder beeindruckt. Ein Journalist der Londoner Times war bei seinem ersten Kontakt mit dem Radio in Amerika 1922 fasziniert davon, dass er Baseballergebnisse aus Pittsburg (»rund 550 Kilometer entfernt«), ein Livekonzert aus Schenectady (»nur 400 Kilometer entfernt«) oder eine Stimme aus Chicago (»1100 Kilometer entfernt«) hören konnte – nur durch eine Drehung an einem Handgriff: »Es ist wahr, die Tage der Zauberei sind noch nicht vorüber.«2 Noch 1935 erzählt Rudolf Arnheim eine Anekdote aus einem süditalienischen Fischerdorf, wo er aus dem Radioempfänger auf der Terrasse eines Cafés deutsche Volkslieder von einem britischen Sender, französische Chansonettes von einem italienischen gehört habe; die Fischer seien lauschend stehen geblieben. »Das ist das große Wunder des Rundfunks«, schreibt Arnheim und 1 

Erinnerungen an die Anfänge der Radiozeit hat Helga Maria Wolf 2004, hier S. 146, gesammelt und herausgegeben. 2  Ein unbekannter Verfasser hat diesen Times-Bericht in der Wiener Arbeiter-Zeitung aufgegriffen, der wiederum zitiert wird in Kucher/Unterberger 2013, S. 45f.

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fügt nicht ohne ironischen Unterton hinzu: »Die Allgegenwärtigkeit dessen, was Menschen irgendwo singen und sagen, das Überfliegen der Grenzen, die Überwindung räumlicher Isoliertheit, Kulturimport auf den Flügeln der Welle, gleiche Kost für alle, Lärm in der Stille.«3 Erst 1942 reduziert der Psychologe Wolfgang Metzger das große Wunder aufs Prosaische: »Im Wesen des Rundfunks liegt beschlossen die Überwindung des Raumes«.4 Ein ›Ohr zur Welt‹,5 das ist eine zentrale Metapher für diese Überwindung des Raums. Eine weitere Metapher lautet: Durch das Radio habe man ›die Welt daheim‹.6 Denn: Das Radio »erspart dem Hörer den Weg in die Welt: um ihrer teilhaftig zu werden, muß er sich nicht zu ihr hinbewegen, noch ­weniger in ihr, denn die Welt steht vor dem Zimmer und braucht nur eingelassen zu werden.«7 Die beiden Metaphern, Ohr zur Welt und Welt daheim, drücken scheinbar das gleiche aus: das Wunder von der Überwindung des Raums. Doch bei genauerer Betrachtung stehen sie für sehr unterschiedliche Formen der Annäherung und Hinwendung; man könnte auch sagen, für unterschiedliche ›Richtungen der Raumüberwindung‹. »Die Welt daheim«: Hörer befinden sich zuhause vor ihrem Radiogerät, und das Fremde tritt zu ihnen und wird Teil ihrer privaten Sphäre. »Ohr zur Welt«: Radio entführt Hörer an einen fernen Ort, präsentiert ihnen das Unbekannte und wird zu einer Art Hörbühne; Rezipienten gehen hörend auf die Welt zu und nehmen sie aktiv in sich auf. Im einen Fall findet Radio im Heim des Hörers statt, das andere Mal in einer fernen Umgebung, zu der Hörer akustischen Zugang durch das Radio erhalten. Der scheinbar kleine Unterschied zwischen den beiden Metaphern, die Differenz zwischen beiden ›Richtungen der Raumüberwindung‹, stellt eine Lücke dar, an der ich mit dieser Arbeit ansetze. In dieser Lücke entsteht ein Spannungsfeld, das die Ästhetik des Radios nachhaltig bestimmt, und aus ihr heraus erklärt sich das Entstehen radiofoner Darstellungsformen, wie wir sie heute jeden Tag im Radio hören können. 3 

Arnheim 2001 [1936], S. 13. Als Entstehungsjahr für die Neuen Einleitung zur Aufsatzsammlung Rundfunk als Hörkunst, aus der das Zitat stammt, hat Helmut H. Diederichs 1935 ermittelt. Arnheims Rundfunkaufsätze selbst sind dagegen wohl schon in den Jahren bis 1933 entstanden, 1936 in englischer Sprache erschienen, in Deutschland dagegen erst 1979 (vgl. Diederichs 2001, S. 230). 4  Metzger 1942, S. 11. 5  Vgl. Bleicher 2000. Vgl. auch die Variante »Fenster zur Welt«: Dammann 2005. 6  Vgl. Fickers 2006, S. 84f. 7  Friemert 1996.

Einleitung

Die topografische Differenz, die das Radio überbrückt, die Differenz zwischen einem Hier und einem Dort,8 sein medientechnisches Dispositiv, hat eine hörbare, akustische Komponente: Das Radio bringt zwei Räume zur Überlagerung, einen, in dem das Mikrofon steht, und einen, in dem der Lautsprecher steht, der das Aufgenommene wiedergibt. Beide fallen ineinander, sobald das Radio seine Arbeit aufnimmt. Wer Radio hört, hört zwei Räume, den eigenen und den fremden, den nahen und den fernen, den der Wiedergabe und den der Aufnahme. Diese Tatsache, die ich als das Raumdispositiv des Radios bezeichne, steht in einem engen Zusammenhang zur ›Richtung der Raumüberwindung‹. Die Akustik des Aufnahmeraums – oder allgemeiner: der Aufnahmesituation – erweist sich als die Variable, die maßgeblich beeinflusst, wie sich die Annäherung zwischen Hörern und der Welt durch das ­R adio vollzieht, die sich somit auf das Hörerleben, das Raumgefühl beim Hören, gar das Weltgefühl auswirkt. Diese Variable liegt in der Hand derjeniger, die Radio machen. Deswegen blicke ich in dieser Arbeit ganz auf deren Arbeit und schaue, wie Radioproduzenten mit dem Raum umgehen. Sie gestalten nämlich bewusst unterschiedliche Aufnahmesituationen: Sie isolieren beispielsweise Stimmen von der Außen­welt – oder sie nehmen sie gemeinsam mit ihrem akustischen Kontext der klingenden Welt auf. Mit dieser Praxis gestalten sie zugleich, wie sich Raum Radiohörern anbietet, wenn er aus Lautsprechern oder Kopfhörern tönt. An dieser Stelle schon legen sie fest, welche Richtung die Raumüberwindung des Radios einschlagen wird. Es ist der Gestalt des übertragenen Raums geschuldet, ob Radiohörer dorthin gezogen, an diesen anderen Ort versetzt werden, oder ob sich der übertragene Raum ganz dem heimischen Raum einfügt und Teil der privaten Situation des Hörens wird. Wie sich zeigen wird, haben Radioproduzenten auch einen direkten, gestalterischen Zugriff auf diesen Raum, der ›im Radio‹ steckt und den ich ästhe­ tischen Raum nenne. Radioproduzenten können den ästhetischen Raum bewusst gestalten, indem sie mit technischen Mitteln Stimmen und Geräusche in ihm verteilt platzieren: links oder rechts, nah oder fern. Auch diese gestalterische Arbeit nehme ich in den Blick. Mit zunehmenden technischen Möglich­ keiten wird bei alledem die reale Aufnahmesituation immer unwichtiger, der kreative Gestaltungsspielraum von Produzenten immer größer.

8 

Vgl. dazu mit Blick auf das Kabel Gethmann/Sprenger 2014, S. 31ff.

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Wer an die Protagonisten des Radios denkt, denkt wahrscheinlich vor allem an Stimmen, an Moderatoren und Reporterinnen, vielleicht auch an Techniker, Toningenieurinnen und an Produzenten, die in den Tonstudios mit Schnittsystemen und Mischpulten unterschiedliche Beiträge und Programm­ elemente herstellen. Ich möchte in diese Arbeit aber auch weitere Berufsgruppen einbeziehen, die ebenfalls einen zentralen Beitrag zur Ästhetik des Radios leisten und an die man zunächst nicht denkt: Akustikerinnen und Psycho­logen, die das räumliche Hören erforschen und damit die grundlegenden Parameter für die Gestaltung des ästhetischen Raums benennen, sowie Ingenieure und Architektinnen, die die Akustik von Rundfunkstudios planen, Studios mit akustisch wirksamen Bauelementen ausstatten und damit wesentlich den Klang der Aufnahmen bestimmen. All diese Berufsgruppen und -rollen arbeiten auf je unterschiedliche Weise am Raum – sie gestalten Aufnahmesituationen und greifen somit in das Raumdispositiv des Radios ein, oder sie gestalten den ästhetischen Raum des Radios und erzeugen damit hörbare Raumein­drücke. Das tun sie an je unterschiedlichen Stellen im komplexen Prozess der Produktion von Radiosendungen. Die einzelnen zentralen Schritte und Aspekte dabei bilden die Grundlage für die einzelnen Kapitel dieser Arbeit. Damit ist die zentrale These dieser Arbeit bereits aufgezeigt: Radioästhetik ist Raumästhetik. Mit dieser These verlasse ich ein intuitives Verständnis von Radio: Radio erscheint uns als ein Zeitphänomen, es erstreckt sich als lineares Medium und als audio stream entlang der Dimension Zeit. Es hat keinen Anfang und kein Ende. Das ist zwar richtig, aber anders als Lessing mit seinem Laokoon behauptet hatte,9 stehen sich Raum und Zeit in den Künsten bzw. Medien keineswegs unversöhnlich gegenüber. Dass Radio eine Zeitdimen­ sion besitzt ist unbestritten. Dennoch möchte ich zeigen, wie sich Radio von Anfang an entlang einer Auseinandersetzung mit dem Raum entwickelt hat. Denn das Radio fing zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit einer doppelten Störung des bis dahin gültigen Zusammenhangs von Raum und Schall an. Die Überwindung des Raums ist eine von beiden, und diese findet sich in einer Reihe ähnlicher Phänomene jener Zeit: Der Zusammenhang von Raum und Zeit hatte bereits durch die Erfindung der Eisenbahn einen tiefen Riss bekommen, und die Entwicklung neuer wissenschaftlicher und philosophischer

9 

Vgl. Lessing 1978, S. 14ff.

Einleitung

Raumkonzeptionen vertiefte den Riss nur noch.10 Ähnlich ging es dem Zusammenhang von Schall und Zeit. Die Bindung des Schalls an den Augenblick seines Hervorbringens war spätestens mit Edisons Erfindung des Phonographen 1877 aufgehoben worden; seitdem füllen sich die Archive dieser Welt auch mit Tondokumenten. Gemeinsam waren all diese Störungen Teil einer Entwicklung, die unter dem schlichten Namen »Die Moderne« beschrieben wird.11 Radio brachte eine weitere Störung des Verhältnisses von Schall und Raum mit sich. Der Nachhall, der im Innern eines Raums entsteht, war in den Aufnahmeräumen des Radios nicht erwünscht. Deswegen wurden die Aufnahme­ räume schallgedämmt – und so auch dieser bislang starre Zusammenhang zwischen Schall und Raum aufgehoben. Der Nachhall verschwand, die Stimme klang ›tot‹, wie man sagte, und wieder hatte der Mensch die Natur überlistet. Mit diesem Anfang erschien das Radio zuallererst als Raumphänomen, das darauf aus war, den Schall vom Raum zu befreien – sowohl von den Grenzen des topografischen Raums der Welt als auch von den physikalisch-­akustischen Bedingungen des architektonischen Raums in den Funkhäusern. Und auf dieser Prämisse baut meine Arbeit auf. Die enge Auseinandersetzung des Radios mit dem Raum ist bis heute ungebrochen, und wer Radio produziert, gestaltet nach wie vor in erster Linie einen Raum, den ästhetischen Raum des Radios. Ich möchte zeigen, wie Radio­ praktiker das tun, auf welchen Ebenen diese Raumgestaltung stattfindet und wie dadurch neue ästhetische Raumkonventionen entstehen. Mit meinem Ansatz, die Ästhetik des Radios als Ästhetik des Raums zu beleuchten, möchte ich zugleich das ästhetische Potential des Radios ausloten. Quellen

Mit dem Blick auf die produktionsästhetische Seite der Radiomacher schließe ich weitgehend die Frage aus, ob und wie Radiohörer Radio als Raum­

10 

Das gilt insbesondere für Einsteins Relativitätstheorie; vgl. Stephan Günzels Einleitung zum ersten Teil des Sammelbandes Raumtheorie (2006, S. 19 – 43). 11  Dazu gehören auch Entwicklungen der visuellen Wahrnehmung und Medienproduktion, die oftmals eng mit dem Entstehen auditiver Medien zusammenhängen. Mit L ­ ázló Moholy-Nagy oder Walter Benjamin finden sich Künstler und Kritiker, die eine Brücke schlagen zwischen auditiven und visuellen Ausdrucksformen, und nicht zuletzt stellten frühe Rundfunkzeitschriften wie auch später die Plattencover von (Stereo-)Schallplatten eine je neue Spielfläche für Künstler der Avantgarde dar. Vergl. dazu Hägele 2017.

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phänomen erleben. Mir geht es um das ästhetische Potential des ­R adios, um das, was Radiopraktiker mit dem Radio als Raum machen. Daher beziehe ich mich in erster Linie auf zweierlei Quellen: einerseits schriftliche Dokumente, vor allem Reflexionen von Protagonisten des frühen Radios über das damals neue Medium, andererseits Radioprodukte selbst. Die schriftlichen Dokumente, die ich heranziehe, stammen zum großen Teil aus der Frühzeit des Radios. Seine Auseinandersetzung mit Raum wurde nämlich im Laufe der Zeit, im Zuge einer Gewöhnung an das Medium immer seltener reflektiert und thematisiert. Überhaupt: Das Nachdenken darüber, was Radio eigentlich ist und was Radio bedeutet, fand vor allem in den ersten Jahren des Rundfunks statt. Daher stammen die meisten Berichte, auf die ich zurückgreife, aus den 1920er- und frühen 1930er-Jahren. Insofern stütze ich mich in erster Linie auf eine Analyse zeitgenössischer Diskurse zum ­R adio in seiner Anfangszeit. Heutige Radiomacher beziehen ihr Praxiswissen von Ausbildern und Vorbildern. Das Handwerk des Radiojournalismus zu lernen, geschieht – wie in anderen Handwerken auch – oft im Modus der Imitation. Radio als Sound­ medium macht es einem dabei einfach: Viele sind mit dem Radio aufgewachsenen und haben in ihrer Kindheit Radio gehört – sie haben den Klang von Radio aufgesogen und im Gedächtnis abgespeichert. Ihr Umgang mit Raum ist demzufolge oft ein sehr pragmatischer: Sie gestalten Radio so, dass es vertraut klingt, und aktualisieren auf diese Weise tradierte Klangmuster und Klang­gestalten. In aktuellen Handbüchern und Lehrwerken zum Radio wird der ästhetische Raum daher selten thematisiert und schwingt oft nur mit. Wo er thematisiert wird, stehen oft normativ ausgerichtete Praxistipps für eine »gute« oder »richtige« Aufnahme im Vordergrund.12 Die Kategorie des Raumklangs ist denn auch schwer in Worte zu fassen, so wie es überhaupt schwer ist, über Klang und Sound zu reden. Versuche dazu stammen weniger aus radiobezogener Literatur als vielmehr aus dem Bereich der Popmusikforschung.13 Es ist überhaupt interessant zu beobachten und wäre eine eigene Arbeit wert, wie sich Radioproduktion und Musikproduk­ tion teils nebeneinander her, teils miteinander, teils gegeneinander entwickeln – zwei Felder, die viele Gemeinsamkeiten und Parallelen aufweisen und sich weder im Hinblick auf Organisationsstrukturen noch im Hinblick auf die ver-

12  13 

Zum Beispiel: Marchl 2009; Rein 2007. Vgl. dazu Pfleiderer 2003 sowie Schätzlein 2005, S. 20.

Einleitung

wendeten Technologien und erst recht nicht im Hinblick auf ästhetische Entwicklungen strikt voneinander trennen lassen. Vor allem in den letzten Jahrzehnten sind sehr viel mehr Arbeiten zur Ästhetik von Popmusik geschrieben worden als zur Ästhetik des Radios, und hier sind auch Ansätze und Begrifflichkeiten entstanden, die das Reden über Klang und Sound möglich machen und auf die ich zurückgreife. Da ich meine Arbeit als eine explorative Studie betrachte, in der ich eine Idee entwickle – die Idee von Radioästhetik als Ästhetik des Raums –, war es mir nicht daran gelegen, die Quellen aus der Frühzeit des Radios systematisch vollständig zu erfassen. Ich habe mich vor allem auf eine Zeitschrift konzentriert – das Rundfunk Jahrbuch, herausgegeben von der Reichs-Rundfunk-­ Gesellschaft – und bin darüber hinaus den Spuren gefolgt, die andere Forscher schon gelegt hatten. Mir ging es darum, aus dem Knäuel an Texten und Reflexionen zum Radio einige Fäden herauszuziehen, um sie dann zu einem Konzept zu verflechten, das beschreiben kann, wie Radio mit Raum umgeht. Um sicherzustellen, dass die Ergebnisse und Schlüsse, die ich aus diesen Fäden entwickle, nicht nur theoretische Konstrukte sind, ergänze ich sämtliche Überlegungen durch entsprechende Analysen von praktischen Beispielen aus dem Radio. Auf diese Weise trage ich Sorge dafür, dass die Ergebnisse dieser Studie sich auf das echte Radio beziehen und nicht allein auf vagen Überlegungen gründen. Radio macht es Forschern in dieser Hinsicht allerdings nicht einfach, denn Radiomitschnitte vergangener Sendungen sind nicht ohne weiteres zugänglich. Viele Radiosendungen werden schlicht nicht archiviert – das betrifft vor allem das ›Alltagsradio‹, Radio ›an sich‹, wie wir es heute vor allem kennen, das aus Nachrichten und Informationen, aus Verkehrsmeldungen und Wetter­ berichten, aus Ansagen und Absagen, aus Jingles und Musiktiteln besteht. Um Beispiele aus solchen alltäglichen Radiosendungen zu beziehen, habe ich unterschiedliche Herangehensweisen kombiniert. Zum einen habe ich auf Podcasts zurückgegriffen – manche Sender stellen ausgewählte Sendungen für einen begrenzten Zeitraum online zur Verfügung. Zum anderen habe ich eigene Mitschnitte unterschiedlicher Radiosender angefertigt. Meine Überlegungen zur Ästhetik des Radios beziehen sich zu einem wesentlichen Teil auf diesen ›nicht-künstlerischen‹ Bereich, und die grundlegendsten Beobachtungen zum Umgang mit dem Raum zeigen sich daher auch in den unscheinbarsten Beispielen. Schwieriger war es tatsächlich, prägnante Beispiele aus den künstlerischen Produktionen, aus Radiofeatures und Hörspielen zu finden. Viele selbst der

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hochwertigsten Produktionen sind öffentlich nicht zugänglich, schlummern in Archiven und werden nur gelegentlich einmal ausgestrahlt. Selbst wo Archive Zugriff gewähren, kann eine wahllose Suche nach hörbaren Raumphänomenen nicht zum Erfolg führen. Was ich suchte, die Art, wie Produzenten mit dem Raum umgehen, findet sich schließlich nicht in Schlagwortfolgen und Produktionsnotizen, die in Datenbanken verzeichnet sind. Auch deswegen bin ich in vielen Fällen anders herum vorgegangen. Ich habe viel Radio gehört, und wo mir Raumphänomene untergekommen sind, waren diese dann Ausgangspunkt für weitere Recherchen in aktueller Literatur und in frühen Berichten. Neben die Auswertung von Diskursen, Berichten, Forschungs- und Praxis­ literatur und neben die Analyse von Radiosendungen und -produktionen tritt noch eine dritte Quelle hinzu: Meine eigene Erfahrung als Radiopraktiker. Ich arbeite seit Jahren als Tontechniker und Produzent im Radio und kenne daher viele Techniken der Radioproduktion aus eigenem praktischen Handeln. Zudem habe ich mich immer wieder mit Kollegen aus Redaktion und Produktion, mit Moderatoren, Reportern, Ingenieuren und Technikern über Ideen, Ansätze und Phänomene ausgetauscht. All diese Erfahrungen und Gespräche fließen in diese Arbeit mit ein. Schließlich soll sie auch dazu dienen, einen Wissens­transfer in beide Richtungen in Gang zu setzen: Wie Radio­ produzenten arbeiten und welchen Ideen und Schemata sie folgen, das sind wichtige Impulse für eine medienwissenschaftliche Auseinandersetzung mit Radio. Und gleichzeitig, das haben meine Recherchen auch gezeigt, findet der Umgang mit Raum in der praktischen Arbeit oft unbewusst statt. Ein Wissens­transfer hinein in die Radiopraxis kann Praktikern helfen, das ästhetische Potential des Radios weiter auszuloten. Forschungskontext

Indem ich mich in dieser Arbeit dem Radio von seiner akustischen Seite her nähere und Radio als Sound betrachte, bewege ich mich in einem Forschungs­ kontext, der in den vergangenen zwei Jahrzehnten an Aufmerksamkeit gewonnen hat und der unter dem Begriff Sound Studies etwa um die Jahrtausendwende im angloamerikanischen Bereich entstanden ist.14 Dieses interdisziplinäre

14  Als Gründungstexte gelten die Monografien The Audible Past von Jonathan Sterne und Sonic Warefare von Steve Goodman sowie Mark Katz’ Sammelband Capturing Sound.

Einleitung

Forschungsfeld sieht sich in der Tradition der Akustischen Ökologie um den kanadischen Komponisten und Klangforscher R. Murray Schafer und hat von Anfang an die technologischen Bedingungen in den Blick genommen, unter denen Sound entsteht, verarbeitet und wahrgenommen wird – insbesondere beeinflusst durch die Science and Technology Studies (STS).15 Die Differenz zwischen einem vormedialen, ›natürlichen‹ Hören und Praktiken des medialen Umgangs mit Sound rückt in den Fokus. Im deutschsprachigen Bereich sind zwischen 2008 und 2013 mehrere Bände einer Buchreihe Sound Studies erschienen, die im experimentellen Forschungsumfeld des Sound Studies Lab in Berlin entstanden sind.16 Ein etwas anderer Schwerpunkt wird im Sammelband Auditive Medienkulturen von Axel Volmar und Jens Schröter deutlich.17 Bereits der Titel des Bandes weist auf eine Abgrenzung vom Begriff Sound Studies und einen stärkeren Medienbezug hin: Es geht um »Fragen nach der kulturellen Bedeutung von gestalteten und kommunizierten Klängen«, um »Klänge im jeweiligen Kontext historisch und lokal spezifischer Praktiken in Netzwerken aus Personen, Zeichen und Technologien«,18 um das, was sie »auditive Medienkulturen« nennen. Diese Hinwendung zum Sound in den Medien lässt sich nicht nur als eine Infragestellung der oft behaupteten anthropologischen Dominanz des Visuellen gegenüber dem Auditiven lesen.19 Sie zeigt vielmehr auch eine Aufwertung des Sinnlichen, eine Wende hin zu einem »neuen ästhetischen Denken«.20 Insofern sehe ich meine Studie auch im Kontext einer philosophischen Ästhetik in der Tradition Alexander Gottlieb Baumgartens, die sich als Aisthesis mit der sinnlichen Wahrnehmung, hier mit dem Hören, beschäftigt.21 Baumgarten systematisiert Ästhetik in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts als Erkenntnistheorie und fügt sie in das epistemologische System von Leibniz

Erste Sammelbände zeigen noch eine große Nähe zur Musikwissenschaft (zum Beispiel Cox/Warner 2006) sowie zu den angloamerikanischen Cultural Studies (zum Beispiel Bull/Back 2005). 15  Vgl. Pinch/Bijsterveld 2012a, S. 7. 16  Schulze 2008; Spehr 2009; Schulze 2012; Schoon/Volmar 2012; Bijsterveld 2013. 17  Volmar/Schröter 2013a. 18  Volmar/Schröter 2013b, S. 9f. 19  Vgl. Welsch 1996, S. 236ff. sowie Sterne 2003, S. 15. 20  Vgl. Welsch 1993, S. 46ff. sowie Schmicking 2003, S. 60ff. 21  1735 formulierte Baumgarten den ersten Ansatz zu einer philosophischen Ästhetik in der Schrift Meditationes philosophicae de nonnullis ad poema pertinentibus, und 1750 legte er mit der Aesthetica den ersten Teil seines unvollendet gebliebenen Hauptwerks vor.

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und Wolff als ein analogon rationis ein, als ein der kognitiven (vernünftigen, logischen, philosophischen) Erkenntnis entsprechendes oder ähnliches Prinzip: Ästhetik ist die Kunst und die Wissenschaft der sinnlichen Erkenntnis, die gleichzeitig auch Kunsttheorie, Kunstpraxis und Kunstkritik beinhaltet. Von diesem Denkzusammenhang ausgehend wird es plausibel, dass ich als Radiopraktiker nicht nur Sprecher sehe, die sich in klar definierten Zeichen­ systemen artikulieren (zu denen man auch die erkennbaren Geräuschen der Welt zählen kann). Radiopraktiker sind alle am Klangergebnis Beteiligten, auch wenn sich ihre Arbeit oft nur auf subtilen klanglichen Ebenen im ­R adio niederschlägt. Damit grenze ich mich auch ab von anderen Verwendungen von Radio­ ästhetik oder Rundfunkästhetik, die damit das Verhältnis zwischen Radio einerseits und (hoher) Literatur oder (anspruchsvoller) Musik als ›ästhetische Kunstformen‹ andererseits thematisiert. Dieser Ansatz kommt beispielsweise in Kucher und Unterbergers Sammelband Akustisches Drama zum Tragen, der den Untertitel trägt: »Radioästhetik, Kultur- und Radiopolitik in Österreich 1924 – 1934.«22 Die hier versammelten Texte kreisen hauptsächlich um die damals neue Kunstform des Hörspiels und die Möglichkeiten, Literatur im Radio zu übertragen, um Neue Musik und Kulturpolitik. Ästhetik, wie ich sie verstehe, fragt nicht danach, ob Radio Kunst ist oder nicht, sondern schaut (im Sinne einer Aisthetik) auf die Wahrnehmungsbedingungen des Dispositivs und ihre Bedeutung für die Möglichkeiten der ästhetischen Gestaltung von Radio. Auch aus diesem Grunde schaue ich in dieser Arbeit nicht nur auf Hörspiele, künstlerische Radiofeatures und Musik, sondern auch auf ›Alltags­ radio‹. Gerade im Fall von Musik ist es ohnehin praktisch nicht mehr möglich, die Grenze zu ziehen zwischen Musik als Kunstwerk, das in seiner Gestalt als abgeschlossenes Werk ins Radioprogramm inkorporiert wird, und vielen anderen Formen von und Umgängen mit Musik, die uns im Radio begegnen: Jingles und Musikbetten, mit denen Moderatoren ihre Stimmen in allen Dimen­sionen rahmen, Radio-Edits von Songs, die eigens fürs Radio produziert werden, Musik als O-Ton schließlich, die in journalistischen Beiträgen zum Thema der Berichterstattung wird.23 Ähnliches gilt auch für das Hörspiel,

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Kucher/Unterberger 2013. Forschungsliteratur fasst Radio vorrangig als publizistisches Medium auf und konzentriert sich somit oft auf das, was zwischen den Musiktiteln passiert. Dem steht entgegen, dass Musik in vielen Radioprogrammen quantitativ den größten Anteil einnimmt. Und: Viele Menschen hören Radio wegen der Musik. Schließlich gehören Radio­sender

Einleitung

das im heutigen Formatradio vor allem in Form von miniaturisierten Szenen in Werbespots auftaucht. Da ich Radioästhetik als Raumästhetik beschreibe, ist die Raumforschung ein wichtiger Kontext für diese Studie. Mit der Proklamierung eines spatial turn, eines topological turn sowie eines topographical turn haben sich die Kulturwissenschaften verstärkt mit Raumfragen befasst – Raum ist gar zu einem »kulturwissenschaftlichen Dauerbrenner«24 geworden. Die akustische Dimension des Raums spielt im Unterschied zu Untersuchungen des visuellen Raums dabei eine eher untergeordnete Rolle. Eine einflussreiche Ausnahme ist die Studie von Alain Corbin, der die topografische Bedeutung von Kirchenglocken auslotete und zeigte, wie diese eine klang­ lich-räumliche Struktur für die Dorfbewohner darstellte.25 Zudem haben verschiedene Arbeiten zuletzt den städtischen Raum als einen Klangraum zu erfassen versucht und dabei zum Beispiel Fragen der Lärmbelästigung und Lärmvermeidung untersucht.26 Der Blick auf Landschaften, Biotope oder die ganze Welt als Klangraum spielt eine zentrale Rolle für die klangökologischen Frage­stellungen der Soundscape-Forschung – R. Murray Schafer steht Pate für diese Forschungsrichtung und gilt zudem als einer der Vordenker der Sound Studies.27 Für diese Arbeit ist die Raumforschung insofern ein Ansatzpunkt, als ich mit verschiedenen Raumkonzeptionen arbeite, die alle in die Ästhetik des ­R adios als Raum einfließen. Das Raumdispositiv des Radios verbindet bereits zwei unterschiedliche Raumkonzeptionen: Zum einen findet die Raum­ überwindung des Radios im Ätherraum statt, in einem Raum, der durch seine Fähigkeit, Radiowellen zu transportieren, definiert ist. In seiner Ausdehnung wird er nach einer Seite von der Topografie der Erdoberfläche begrenzt, nach der anderen Seite von der Ionosphäre – dieser Raum wird nach seinem Entdecker auch »Heaviside-Raum« genannt.28 Zum anderen hat das Raumdispo-

auch zu den wichtigsten Kulturförderern und Kulturschaffenden gerade im Musik­ bereich: Radiosender unterhalten Orchester und Chöre, produzieren Musik, fördern Komponisten und Musiker. 24  Frank u. a. 2008, S. 8. 25  Vgl. Corbin 1995. Die französische Originalausgabe erschien 1994 unter dem Titel Les cloches de la terre. Paysage sonore et culture sensible dans les campagnes au XIXe siècle. 26  Vgl. zum Beispiel Bijsterveld 2013, Bijsterveld 2008 sowie Flitner 2014. 27  Vgl. Schafer 2010; Breitsameter 2010. 28  Der britische Physiker Oliver Heaviside hat die reflektierende Schicht in der Ionosphäre um 1900 als erster beschrieben (vgl. Gethmann/Sprenger 2014, S. 79ff.).

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Radio-Topologie

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sitiv des Radios eine raumakustische Komponente; Raum ist in diesem Fall ein physikalisch-akustischer Raum, der als architektonischer Raum von seinen Wänden begrenzt wird, als freier Raum aber auch lediglich einen Boden besitzen kann. Diese Raumbegrenzungen sind hier vor allem Reflexions­ schichten, an denen Schallwellen zurückgeworfen, gebrochen und gebeugt werden, und deren Materialität, Form und Größe Einfluss auf alles haben, was darin zu hören ist. Neben dem Ätherraum der Radiowellen und dem physikalisch-akustischen Raum der Schallwellen verwende ich vor allem, als zentrales Konzept, den »ästhetischen Raum« des Radios, wie ich ihn nenne. Der ästhetische Raum ist kein materieller Raum unserer Lebenswirklichkeit. Als ästhetischen Raum bezeichne ich die Raumdimension dessen, was über das Radio übertragen werden kann und von den Radiogeräten mit ihren Lautsprechern wieder in Schall überführt wird. Im ästhetischen Raum tauchen Stimmen, Geräusche, Instrumente auf, die beispielsweise nah oder fern klingen, die aus der Mitte, eher links oder eher rechts zu hören sind. Ich lehne mich damit an Ernst Cassirers Begriff vom ästhetischen Raum an: Cassirer bezieht sich auf den Raum künstlerischen Schaffens, auf den Raum, den Gemälde, Plastiken und Architektur erzeugen, den sie konstituieren und darstellen.29 Im ästhetischen Raum sieht Cassirer einen »›Lebensraum‹, der nicht, wie der theoretische, aus der Kraft des reinen Denkens, sondern aus den Kräften des reinen Gefühls und der Phantasie aufgebaut ist«30 – einen Raum, der eine Zwischenposition zwischen den materiellen Räumen der Lebenswelt und den theoretischen Konstrukten mathematischer Raummodelle einnimmt. Er spricht diesen ästhetischen Räumen eine Gegenständlichkeit zu, aber eine neue Gegenständlichkeit, die sich dadurch von der lebensweltlichen unterscheidet, dass sie gemacht, hervorgebracht und gestaltet wurde und somit künstlerisches Ausdruckspotential besitzt. Cassirer hat in erster Linie die bildenden Künste im Blick, die sich auch in materiell greifbaren Kunstwerken manifestieren. Bezogen auf auditive Medien­produkte sind vor allem im Umfeld der Popmusikforschung Modelle entstanden, die diesen ästhetischen Raum analytisch zu fassen versuchen. In

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Vgl. Cassirer 2006 [1931], S. 497f. Vgl. Cassirer 2006 [1931], S. 498.

Einleitung

dieser musikwissenschaftlichen Forschungstradition finden sich entsprechend einige Ansätze, die Raum- und Soundfragen in Zusammenhang bringen.31 Die popmusikwissenschaftlichen Modelle zum ästhetischen Raum gehen vom standardisierten stereofonen Setting aus und beschreiben den unter idealen Abhörbedingungen akustisch vernehmbaren Raum, der sich vor Hörenden entfaltet. Der kanadische Musiker und Musikwissenschaftler Serge Lacasse hat das Konzept des »Phonographic Staging«32 entwickelt, der britische Musik­ wissenschaftler Philip Tagg das Konzept des »Aural Staging«33. Beide beziehen sich teils in Übereinstimmung, teils in Differenz oder Weiterentwicklung auf das Konzept der »Sound-Box« des ebenfalls britischen Musikwissenschaftlers Allan Fredrick Moore.34 Dieses Konzept stellt den ästhetischen Raum als einen vierdimensionalen Container dar, in dem die einzelnen Instrumente ihren Ort einnehmen. Die drei Raumdimensionen sind die Links-rechts-Verortung im Stereofeld, die Entfernung zum Hörer und die vertikale Anordnung, die Moore bezeichnenderweise mit der Tonhöhe in Verbindung bringt. Als vierte Dimension kommt noch die Zeit hinzu. Dieses scheinbar triviale Konzept hat sich für die Analyse von Popmusik nicht zuletzt deswegen als einfluss­ reich erwiesen, weil es den musikwissenschaftlichen Fokus weg von klassischen semiotischen Parametern wie Harmonik, Melodie und Rhythmus, wie sie sich in schriftlichen Partituren abbilden lassen, hin zur materiell manifesten Musik­aufnahme lenkte.35 In diesen popmusikwissenschaftlich geprägten Forschungen verbinden sich die Beschäftigung mit Sound und Raumfragen zu einer Auseinandersetzung mit auditiven Ästhetiken. Allein – sie beziehen sich ausschließlich auf die Produktion von Musik; das Radio spielt in diesem Kontext keine Rolle. Von einem medientechnischen Standpunkt aus gesehen sind die Parallelen groß –

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Jüngst erschienen ist in diesem Kontext unter dem Titel Der hörbare Raum. Ent­ deckung, Erforschung und musikalische Gestaltung mit analoger Technologie die Dissertation von Martha Brech 2015. Gleichzeitig ist ein Sammelband erschienen, der – wie Brech betont – als sinnvolle Ergänzung zu ihrer Dissertation zu sehen ist: Brech/Paland 2015. 32  Vgl. Lacasse 2010. 33  Vgl. Tagg 2013, S. 299ff. 34  Vgl. Moore 1993. Moores Studie erscheint 2017 in dritter Auflage. Vgl. außerdem Moore/Dockwray 2008, Moore u. a. 2009 sowie Dockwray/Moore 2010. Das Konzept wird auch beschrieben von Cook 2009, S. 223ff. 35  Vgl. Moore/Dockwray 2008. Das Sound-Box-Modell wurde rezipiert unter anderem von dem Projekt Designing the rock/pop sound-box, 1966 – 1972, das von 2006 bis 2007 an der University of Surrey stattfand.

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sowohl die massenmediale Musikproduktion als auch das Radio erzeugen ästhetische Räume, die durch die Stereofonie definiert und begrenzt sind. Radio und Musikproduktion arbeiten allerdings von Anfang an unter völlig unterschiedlichen Bedingungen, haben entsprechend verschiedene Entwicklungen genommen und sind zu jeweils eigenen Ergebnissen gelangt. Ein A ­ spekt ist dabei der Wirklichkeitsbezug: Radio als journalistisches Medium orientiert sich in anderem Maße und in anderer Weise an der akustischen Welt, als es die Musikproduktion tut. Geht es also um die Ästhetik des Radios im Bezug auf Raum, sind noch viele Fragen offen, denen diese Studie nachgeht: In welcher Weise spielen Raumdenken und Raumhandeln bei der Produktion von Radio eine Rolle? Inwieweit greifen Radiopraktiker in ihrem Denken und Handeln auf räumliche Kategorien zurück? Mit welchen Mitteln greifen sie in das Raumdispositiv des R ­ adios ein? Wie gestalten Radioproduzenten den ästhetischen Raum des Radios? Welche Spuren von Raumdenken und Raumhandeln finden sich schließlich im Medium Radio und in seinen hörbaren Produkten? Raum, werden wir sehen, ist nicht nur eine zentrale Kategorie für die Ästhetik des ­R adios. Radio­ ästhetik ist Raumästhetik.

I.

Das Raumdispositiv des Radios

»Im Wesen des Rundfunks liegt beschlossen die Überwindung des Raumes.« Wolfgang Metzger, 1942

2 Psychologie und Physik Radio und räumliches Hören

2.1 Experimentalsituation: Räumliches Hören im Ersten Weltkrieg Raumhören als ›Frontinstinkt‹

Das Radio ist aus einer Auseinandersetzung mit dem Raum heraus entstanden. Wer bisher von der Vorgeschichte des Radios spricht, befindet sich oft in einer technikgeschichtlichen Narration von großen Erfinderpersönlich­keiten, die spätestens bei Heinrich Hertz einsetzt und mit Guglielmo Marconi einen Höhepunkt erreicht.1 Wenn ich dagegen den Raum als Kristallisationspunkt für das Entstehen des neuen Mediums ansetze, nehme ich eine neue Perspektive ein, eine Perspektive, die sich zunächst nicht aufdrängt, die aber plausibel

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Heinrich Hertz gelang 1885 der Nachweis der von Maxwell bereits 1860 theoretisch beschriebenen elektromagnetischen Wellen. Damit war überhaupt erst die Grundlage für drahtlose Übertragungen von Signalen jedweder Art gelegt. Marconi setzte das Verfahren um die Jahrhundertwende dann als erster industriell um, entwickelte die drahtlose Tele­ grafie und bot die entsprechenden Funkgeräte an. Vgl. dazu Dussel 2010, S. 20ff. sowie Ketterer 2003, S. 21. Nach Gethmann 2006, S. 90, bestand eine der einflussreichsten Leistungen Marconis darin, den Funk als auditive und nicht als visuelle Technologie konzipiert zu haben. Hagen 2005, S. 54f., dagegen relativiert Marconis Rolle entschieden.

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wird, wenn man den Ersten Weltkrieg als einen sinnesgeschichtlichen Wende­ punkt in den Blick nimmt. Der Erste Weltkrieg ist freilich nicht die früheste Keimzelle des Rundfunks, aber er hat sich als entscheidender Motor in der Vorzeit des Radios erwiesen. Zum einen erlernten Hunderttausende von Soldaten den Umgang mit der damals neuen Funktechnologie. Zum anderen verschob der Stellungskrieg für viele Soldaten tief in den Schützengräben das Gleichgewicht der Sinne weg vom Sehen hin zum Hören und zog eine teils intensive Auseinandersetzung mit dem Hörsinn nach sich. Die beiden Aspekte führten dazu, dass nach Kriegsende unter den Heimgekehrten ein immenses Wissen über und Interesse am auditiven Medium Funk bestand – eine der Voraussetzungen dafür, dass aus dem Funk in den folgenden fünf Jahren der Rundfunk werden konnte.2 Beide Aspekte stellen aber auch Techniken der Raumerforschung dar. Die Funktechnologie hatte in der Kriegsführung bisherige Signalisations­systeme abgelöst und es so einfacher gemacht, die ganze Armee, mehrere Fronten und vor allem auch Kriegsschiffe zu koordinieren.3 Mit dem Funk ließen sich weitere Distanzen überwinden als bisher. Über Funkverbindungen konnten akustische Signale, in elektromagnetische Wellen umgewandelt, unhör- und unsichtbar sowie in Lichtgeschwindigkeit übermittelt werden. Gleichzeitig bestand ein Teil der Kriegsführung darin, den gegnerischen Funkverkehr abzuhorchen – womit das Horchen für viele Soldaten zu einer zentralen Praxis werden sollte.4 Das analytische Hören wurde unter den grausamen Bedingungen des Stellungskrieges zu einer Überlebensstrategie für Soldaten. Schriftsteller wie Ernst Jünger, Robert Musil oder Erich Maria Remarque, die den Ersten Weltkrieg in deutschen Stellungen erlebt haben, berichten darüber: Wer im Schützengraben sitzt, eingegraben in den Erdboden, der sieht nicht viel. Wo sich die gegnerischen Geschützstellungen befinden, aus welcher Richtung der Beschuss kommt, was ringsum geschieht – man sieht es nicht, man hört es nur.

2  Zum politischen Zusammenhang zwischen dem Ersten Weltkrieg und der Entstehung des Rundfunks vgl. Lerg 1965. Zur besonderen Rolle des Hörens im Ersten Weltkrieg siehe Hoffmann 1994, Volmar 2015, S. 88ff. sowie Paul 2013. Es wäre interessant, unter dem Blickwinkel solcher Hörerfahrung die Entwicklung des frühen Rundfunks in Ländern zu untersuchen, die nicht diese Weltkriegserfahrungen gemacht haben. 3  Vgl. Friedewald 2000, S. 457ff. Die Bedeutung der Funktechnologie für den ersten Weltkrieg erläutern auch Wenzlhuemer 2014 sowie Evans 2010. 4  Volmar 2015, S. 88f.

Psychologie und Physik

Um rechtzeitig in Deckung zu gehen, eigneten sich die Soldaten an, was als »Frontinstinkt«, »Fronterfahrung« oder »Frontwitterung«5 beschrieben wurde: die Fähigkeit, anhand ihrer Geräusche die Positionen der Geschütze, die Typen von Geschossen und deren Flugbahnen herauszuhören. Und die Erfahreneren gaben ihr Wissen an Neuankömmlinge weiter. In einer Situation, in der die Soldaten in permanenter Lebensgefahr nichts sehen konnten, waren sie zur räumlichen Orientierung ganz auf das Ohr angewiesen. Der umgebende Raum erwies sich für Frontsoldaten im Ersten Weltkrieg als Hörraum, Raumdenken war für sie Raumhören.6 Auch der Bevölkerung zuhause ging es teilweise nicht anders. Die Gefechte waren oft zu weit weg, als dass man sie hätte sehen können, doch sie kündeten ihr Herannahen durch tiefes Grollen an, das über etliche Kilometer zu hören war.7 Kurz: Für den Ersten Weltkrieg lässt sich – mit den Worten des Medienwissenschaftlers Axel Volmar – eine »Aufwertung des Hörens«8 konstatieren, ausgelöst gerade durch die Gegebenheiten des Stellungskrieges. Ob es allerdings tatsächlich der Erste Weltkrieg war, der die Entwicklung des Radios erst in Gang gesetzt hat, wie es in den Kulturwissenschaften manchmal heißt, ist fraglich. Der Medientheoretiker Dieter Daniels diagnostiziert bereits vor dem Ersten Weltkrieg eine lebendige Funkerszene, deren mögliche Entwicklung hin zu einem öffentlichen und zivilen Rundfunk durch den Krieg jäh unterbrochen wurde. Dass der Erste Weltkrieg ein Motor für die Entwicklung des Radios war, muss daher nicht zwangsläufig bedeuten, dass es ohne den Ersten Weltkrieg nicht hätte entstehen können.9 Dennoch war die Situation nach Ende des Krieges ein idealer Nährboden für den Rundfunk: Es kehrten nicht nur Tausende von Männern mit umfassenden Kenntnissen der Funktechnologie nach Hause zurück, sondern auch 5 

Diese Begriffe nennt der Historiker Matti Münch 2006 auf S. 81 bzw. S. 282. Ihre akustische Situation ist elementar für die Kriegserfahrungen der Soldaten und wird in der zeitgenössischen Kriegsliteratur detailliert beschrieben und aufgearbeitet (vgl. Paul 2013). Sie ist auch Gegenstand etlicher neuerer Publikationen zum Ersten Weltkrieg, die seit den 1990er-Jahren verstärkt die Themen Kriegserfahrung und Frontalltag in den Mittelpunkt rücken (vgl. dazu Schöllgen/Kießling 2009, S. 209f.). 7  Vgl. Münch 2006, S. 67f.; Paul 2013, S. 80. 8  Volmar 2015, S. 89. Volmar bezieht sich dabei auf Forschungen der amerikanischen Kulturwissenschaftlerin Susan Douglas 1999. 9  Vgl. Daniels 2004. Daniels widerspricht damit explizit der Auffassung Friedrich ­Kittlers, der den medienhistorischen Ursprung des Radios wie auch den aller anderen elektronischen Unterhaltungsmedien im Krieg, im »Missbrauch von Heeresgerät« sehe (vgl. dazu Kittler 1986, S. 149). Vgl. zu dieser Debatte auch Gilfillan 2009, S. 36f. 6 

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Männer, für die sich das Hören verändert hatte, die durch Kriegslärm und akustischen Terror in den Schützengräben oft schwer traumatisiert waren. Womöglich stellte der ›Bastelfunk‹, der Bau eigener kleiner Funkempfänger, für viele Veteranen und Invalide nicht nur eine unterhaltsame, sondern auch eine therapeutische Beschäftigung dar. Als Hör- und Funkexperten trugen sie dazu bei, wie Volmar darlegt, dass so etwas entstehen konnte wie eine neue, gut ausgebildete Amateurfunk-Szene, die später zur Grundlage für regelmäßigen Rundfunk wurde.10 Neue Kriegstechnologie – der Einsatz von Flugzeugen, Infanterie und Artillerie mit bis dahin nicht gekannten Reichweiten11 – war nicht nur eine Bedingung für die neue Art der Kriegsführung, sondern in einem rekursiven Prozess auch wieder eine ihrer Folgen. Der besonderen akustischen Situa­tion des Ersten Weltkrieges begegneten die Kriegsparteien, indem sie das Hören einer Professionalisierung und Mediatisierung unterwarfen: In Deutschland wurden Hörgeräte und Hörmethoden der Raumerforschung entwickelt, um gerade das Unsichtbare zu lokalisieren, die herannahenden Flugzeuge und die weit entfernten Geschütze. Die Grundlagenforschung dafür lieferten Psychologen und Akustiker. Von der Schallwelle zum elektrischen Signal

Betrachtet man Radio als Hörmedium, so findet man in den Vertretern der Wahrnehmungspsychologie und der physikalischen Akustik wichtige Wegbereiter des neu aufkommenden Rundfunks. Dass Radiogeräte heute oft zwei Lautsprecher haben, dass wir heute Stereoanlagen besitzen, hängt eng mit der Erforschung des räumlichen Hörens zu Beginn des 20. Jahrhunderts zusammen. Diese Forschung liegt gerade an der Schnittstelle von Wahrnehmungs­ psychologie und physikalischer Akustik, also dort, wo sich zwei im Grunde sehr unterschiedliche Disziplinen berühren. Die physikalische Akustik kann beschreiben, wie sich Schallwellen im Raum bewegen, bis sie das menschliche Trommelfell erreichen, die Grenze zwischen Außen- und Mittelohr. Sie können erklären, welche physikalischen Gesetze dafür verantwortlich sind, dass

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Vgl. Volmar 2014, S. 59. Der Erste Weltkrieg gilt als erster industrialisierter, technisierter und zugleich anonymisierter Krieg (vgl. Hoffmann 1994, S. 263). 11 

Psychologie und Physik

an beiden Ohren des Menschen unterschiedliche ›Schallfelder‹ herrschen, beide Ohren also je etwas Anderes zu hören bekommen. Doch die Akustik kann nichts über die Vorgänge im Gehirn aussagen; das ist das Fachgebiet der Wahrnehmungspsychologie. Diese fragt danach, wie die vom Innenohr gebildeten neuronalen Reize im Gehirn verarbeitet werden. In Hörexperimenten ermitteln Psychologen, welche klanglichen Parameter zu welchen Höreindrücken führen. Solchen experimentellen Forschungen haben sich im frühen 20. Jahrhundert insbesondere die Gestaltpsychologen am Berliner Institut für Psychologie verschrieben. Akustiker wie Psychologen nehmen gleichermaßen den gesamten Prozess des Hörens in den Blick, und oft ist es gar nicht möglich, allein auf Grund­lage ihrer Schriften physikalische und psychologische Perspektiven zu unterscheiden. Für das gesamte Forschungsfeld ist es daher wichtig, Schallphänomene von Hörphänomenen, also die physikalische Welt des Schalls von der menschlichen Sinneswahrnehmung zu trennen.12 In den Berliner Versuchslaboren tritt eine weitere Dimension neben akustische Schall- und psychologische Hörwelt: die elektroakustische Signalwelt.13 Elektrische Versuchsapparaturen, meist eine Kombination aus Mikrofon und Ohrhörer, spielten den Probanden genau kontrollierte Schallereignisse direkt ins Ohr, ohne dass der umgebende architektonische Raum den Schall beeinflussen konnte – dass Raum Schall verändern kann, war den Berliner Wissenschaftlern offenbar bewusst. In ihren früheren Experimenten verwendeten sie noch Stimmgabeln und Hörschläuche, die den gleichen Effekt zeitigten. Schon hier stellten die Wissenschaftler gezielt ›Klangobjekte‹ her, die möglichst rein, ohne Nebengeräusche und ohne alle Störungen das Ohr erreichen

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Die Systematisierung des Hörens in die drei Bereiche der physikalischen Akustik (Außenohr), der physiologischen Anatomie (Mittel- und Innenohr) und der Psychologie (Gehirn) beschreibt der Akustiker Erwin Meyer 1927, S. 524. Die physiologischen Mecha­ nismen haben im Hinblick auf das räumliche Hören offenbar keine besondere Bedeutung – sogar im Handbuch der normalen und pathologischen Physiologie von 1926 ist es der Psychologe Erich Moritz von Hornbostel, der das Kapitel über räumliches Hören beisteuert. 13  Der ursprünglich französische Begriff Signal geht zurück auf den lateinischen Wortstamm signum, Zeichen; Signal und Zeichen werden in der Alltagssprache auch oft syno­ nym verwendet. Ich beziehe mich mit Signal jedoch auf die in der Nachrichtentechnik ­geläufige Bedeutung als Informationsträger, oder genauer: als »Darstellung einer Nachricht durch eine physikalische Größe« – so ist es in der DIN-Norm 44 300 festgelegt. Ein elektrisches Tonsignal liegt als Wechselspannung vor, lässt sich beispielsweise über ein Kabel übertragen und mittels Lautsprecher hörbar machen.

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sollten.14 Die drei Dimensionen Akustik, Psychologie und Elektrotechnik spielen für die frühe Funktechnologie ebenso eine Rolle wie später für den Rundfunk. Geht es in den Versuchslaboren darum, das räumliche Hören zu erforschen, stellt das Radio, wie es in den 1920er-Jahren entstand, eine praktische Anwendung der Forschungsergebnisse dar. Nicht nur die Erlebnisse vieler Menschen während des Ersten Weltkrieges also – so schrecklich diese gewesen sein müssen –, sondern auch die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem räumlichen Hören bildete eine Grundlage für die neu entstehende Institution Rundfunk. Doch räumliches Hören und Radio sollten eine Art Hassliebe zueinander entwickeln. Trotz der Experimente zum räumlichen Hören, obwohl Akustiker und Ingenieure in der Folge immer wieder auch die elektroakustische Übertragung von Räumlichkeit thematisiert, erforscht und schließlich ermöglicht haben, wenngleich bereits die frühesten Stereo-Versuche als Klangerlebnisse gefeiert wurden, ging das Radio doch einen Weg, der den hörbaren Raum gleichermaßen vermied wie begrüßte – das wird in Kapitel 2.4 deutlich werden. Dabei standen auch Erforschung und erste Anwendungen des räumlichen Hörens keineswegs im Dienste ästhetisch ansprechender Unterhaltungssendungen, sondern – natürlich – im Dienste des Krieges. Räumliches Hören als Überlebensstrategie der Frontsoldaten wurde innerhalb kürzester Zeit zu einer hochgradig professionalisierten Kriegsstrategie. Apparaturen zur Raumerforschung

Im Oktober 1913, nur Monate vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges, reichte der Chemiker und Physiker Leo Löwenstein ein Patent ein: Es handelte sich dabei um ein »Verfahren zur Ortsbestimmung von schallerzeugenden Gegen­ ständen, dadurch gekennzeichnet, daß man an mindestens drei Punkten den durch Luft, Wasser oder Erdboden fortgepflanzten Schall auffängt und die Differenz zwischen den Ankunftszeiten des Schalles durch Personen oder elek­trische Aufnahme- und Registrierapparate feststellt«.15 Bei schall­erzeu­

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Unter Klangobjekten verstehe ich einzelne, zeitlich ausgedehnte auditive Gestalten, die sich intuitiv holistisch erkennen und identifizieren lassen. Dabei beziehe ich mich auf die Erkenntnis der phänomenologisch ausgerichteten Psychologie, dass das menschliche Gehör nicht beliebig kleine Zeitabschnitte analysiert, sondern sinnhafte Einheiten kon­ struiert (vgl. dazu Schmicking 2003, S. 96). 15  Löwenstein 1928, S. 22.

Psychologie und Physik

genden Gegenständen dachte der deutsch-jüdische Patriot Löwenstein16 an feindliche Geschütze. Mit seinem sogenannten ›Schallmessverfahren‹ sollte es möglich sein, die genaue Lage solcher Geschützstellungen zu ermitteln, damit die deutsche Artillerie diese dann zerstören könnte. Konkret sah Löwensteins Verfahren so aus: Zwei Mikrofone wurden im Abstand von mehreren Kilometer zueinander aufgestellt und über Kabelleitungen einem Abhörer zugespielt, der sich selbst etwa in der Mitte zwischen den beiden Mikrofonen befand. Der Abhörer empfing den Knall eines Geschützfeuers damit dreimal: je einmal durch jedes Mikrofon, und einmal mit freien Ohren. Da sich Schall im Vergleich zu Licht relativ langsam fortbewegt17 und der Knall die drei Orte zu jeweils unterschiedlichen Zeitpunkten erreichte, konnte der Abhörer zwischen den Signalen einen messbaren Zeitunterschied ermitteln. Nun erlaubte es eine einfache trigonometrische Berechnung, den Ort des Knalls und damit den der gegnerischen Einheit zu ermitteln. Mit diesem Verfahren versuchte Löwenstein, sich mit akustischen Mitteln des Raums um ihn herum zu bemächtigen, seine Umgebung zu erforschen. Es war allerdings im Gegensatz zu späteren Entwicklungen kein intui­ tives Verfahren, denn auch wenn der Abhörer seine Ohren verwendete, um die Zeitunterschiede zu erfassen, musste er diese Unterschiede doch mit der Stoppuhr abmessen und in die Formel einsetzen; diese erst lieferte das Ergebnis. Dementsprechend wurde in weiteren Entwicklungen – der Titel des Patents nahm das bereits vorweg – das Gehör des Abhörers ersetzt durch genauere Systeme, beispielsweise durch fotooptische, bei denen die Zeitdifferenz in eine grafisch auf Film abzulesende Raumdifferenz überführt wurde.18 Löwenstein hatte das Verfahren bereits 1907 entwickelt, dann aber zunächst nichts weiter unternommen. Es sei nämlich, wie er notierte, ein so einfaches Verfahren, dass er habe davon ausgehen müssen, es sei bereits bekannt – ein Irrtum. Für ihn völlig unverständlich war dann aber, dass das deut-

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Die Verleihung des Eisernen Kreuzes 1. Klasse 1917 konnte Löwenstein nicht vor der Deportation nach Theresienstadt im Jahre 1943 bewahren (vgl. die Kurzbiografie von Menges 1987). 17  Die Schallgeschwindigkeit beträgt in 20 °C warmer Luft etwa 343 Meter pro ­Sekunde. Schall legt damit in drei Sekunden etwa einen Kilometer zurück. 18  Zur Verbesserung von Löwensteins System beschäftigte man sich außerdem mit der Beschaffung präziserer Stoppuhren und entwickelte automatisierte Mess- und Aufzeichnungsverfahren (vgl. Löwenstein 1928, S. 23). Der Berliner Psychologe Hans Rupp unter­ suchte dagegen, wie sich die Reaktionszeit des Menschen bei der Zeitmessung in die ­Berechnung einbeziehen ließe (vgl. Hoffmann 1994, S. 265f.).

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sche Militär 1913 überhaupt kein Interesse an seinem Verfahren zeigte. Die APK, die Artillerie-Prüfungskommission, lehnte seinen Vorschlag schlichtweg ab. Erst als sich im Oktober 1914, mehrere Wochen nach Ausbruch des Krieges, die Fronten verhärteten und aus dem Bewegungskrieg ein Stellungskrieg wurde, konnte Löwenstein den praktischen Nutzen seines Verfahrens unter Beweis stellen.19 Gerade in dieser Zeit entwickelten Erich Moritz von Hornbostel und Max Wertheimer ein anderes, erheblich einflussreicheres Verfahren.20 Sie entwickelten einen Richtungshörer, dessen Funktionsprinzip darin bestand, die Basis­breite der beiden Ohren, also ihren Abstand zueinander, künstlich zu vergrößern. Das Herz der Apparatur waren zwei drehbar gelagerte Hörtrichter, die über Schläuche mit beiden Ohren des Abhörers verbunden waren. Was der Abhörer dann wahrnahm, war eine Richtungsempfindung, ein sinnlicher Eindruck davon, aus welcher Richtung ein Geräusch kommt. Richtete der Abhörer die Trichter so aus, dass er das Geschützfeuer aus der Mitte hörte, war die Richtung gefunden. Die breitere Ohrbasis diente dabei dazu, die Genauigkeit der Richtungslokalisation zu erhöhen. Patentiert 1915, war der Richtungs­hörer ab 1916 regulär im Kriegseinsatz. Er war an der Front allerdings gar nicht sonderlich effektiv, weil sich dort oft nur schwer einzelne Geschützlaute ausmachen ließen. Um so besser funktionierte das Verfahren bei der Lokalisation von Grabarbeiten unter der Erde – der Versuch, sich unter den Schützengräben der anderen Seite hindurch zu graben, war Teil des Stellungskrieges – sowie beim Aufspüren von U-Booten im Seekrieg.21 Beide Verfahren, Löwensteins Schallmessverfahren und der Richtungs­ hörer von Hornbostel und Wertheimer, arbeiteten mit einer Apparatur, die sich als Medium zwischen den Schallraum und das menschliche Hören schaltete. In beiden Fällen nahmen Mikrofone bzw. Hörtrichter einen gezielt begrenzten Ausschnitt der akustischen Umgebung auf und leiteten ihn dem ­Abhörer kontrolliert zu. Der Abhörer erfasste also mit seinen Ohren nicht mehr die eigene akustische Umgebung, sondern ein kontrolliertes und planvoll gestaltetes Ensemble aus physikalischen Signalen.

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Löwenstein 1928, S. 21f. Beide, Hornbostel und Wertheimer, waren am Psychologischen Institut der ­Humboldt-Universität Berlin angesiedelt und werden der Berliner Schule für Gestalt­ psychologie zugerechnet. 21  Vgl. Hoffmann 1994, S. 268f. Einem wissenschaftlichen Publikum stellten ­Hornbostel und Wertheimer ihren Richtungshörer erst 1920 vor. 20 

Psychologie und Physik

Der psychologische Vorgang des Abhörens war bei beiden Verfahren dagegen ein völlig anderer. Löwenstein nutzte die Ohren, um die Zeitdifferenzen zwischen den drei Signalen zu identifizieren. Es war im Grunde überhaupt nicht zwingend notwendig, dass sich der Abhörer im Raum ausrichtete, und es war unerheblich, welches der beiden Mikrofonsignale auf welchem Ohr zu hören war. Solange er die Signale korrekt identifizierte, die Differenzen exakt maß und die entsprechende Berechnung vornahm, kam das richtige Ergebnis heraus. Hornbostel und Wertheimer dagegen nutzten die Fähigkeit des Gehörs aus, Richtungseindrücke zu erzeugen. Der Abhörer richtete den Richtungshörer im Raum aus, und oft bedeutete das auch, dass der Abhörer sich selbst mit ausrichtete – er wurde so zu einem Teil der Maschine, die Apparatur zu einer Erweiterung seiner Sinne. Jenseits der unmittelbaren akustischen Umgebung erzeugte der Richtungshörer eine künstliche Klangsphäre, die der Abhörer nur über die Ohrhörer zugespielt bekam. Nicht nur dass die Apparatur gezielt den Schall aus den Hörtrichtern ein- und den Schall der unmittelbaren Umgebung ausschloss – entscheidend war: Die künstliche Akustik, die der Richtungshörer erzeugte war eine stereofone. Die zwei Signale, die dem linken und dem rechten Ohr getrennt zugespielt wurden, lösten einen räumlichen Höreindruck aus und verursachten im Gehör des Abhörers sinnliche Richtungseindrücke. Zwar verstärkten die großen Trichter leise Töne, so dass Geräusche schon aus weiter Entfernung zu hören waren, doch vor allem kam es auf die Genauigkeit der Richtungslokalisation an – und diese Genauigkeit hing von der Basis­breite ab, also dem Abstand der beiden Trichter zueinander, der wesentlich größer war als der Abstand der eigenen Ohren zueinander. Und gerade in diesem Zusammenhang zwischen der Basisbreite und der Richtungslokalisierung bestand die eigentliche Erkenntnis von Hornbostel und Wertheimer. Dass ein größerer Ohrenabstand ein feineres Richtungsempfinden zur Folge hatte, gab den beiden Wissenschaftlern Aufschluss über die Natur des Richtungshörens. Diese Erkenntnis, die zur Entwicklung ihrer so genannten Zeittheorie des räumlichen Hörens führen sollte, hatten Hornbostel und Wertheimer durch eine Reihe von Experimenten noch vor dem Ersten Weltkrieg gewonnen. Der Richtungshörer war das Ergebnis dieser experimentellen Auseinandersetzung mit dem räumlichen Hören. Geräte zur Lokalisation von Schall existierten bereits seit Mitte des 19. Jahrhunderts. Als erstes stereofones Hörinstrument gilt das 1858 vor-

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gestellte Differentialstethoskop von Scott Alison.22 Und ein Lokalisations­ gerät, das in seinem Aufbau bereits große Ähnlichkeit zum Richtungshörer von Hornbostel und Wertheimer aufweist, ist das 1880 patentierte Topophon, konstruiert vom US-amerikanischen Physiker Alfred Marshall Mayer.23 Auch das Topophon besteht aus zwei Hörtrichtern, die über Schläuche mit den Ohren verbunden sind. Im Unterschied zu Hornbostel und Wertheimers Richtungshörer sind beide Schläuche aber miteinander verbunden, so dass die Signale aus beiden Trichtern aufaddiert werden. Der Abhörer nimmt deswegen mit seinem Gehör keine Links-rechts-Lokalisation wahr, sondern er sucht nach der Richtung, in der der Schall am lautesten ist. Das Topophon macht sich auf diese Weise das physikalische Phänomen der Phasenauslöschung zunutze. Als Anwendungsmöglichkeiten des Topophons nennt das Jahrbuch Das neue Universum von 1880 die Schiffsnavigation sowie die Verwendung im Krieg.24 Bereits mehr als 30 Jahre vor dem Richtungshörer entwickelt, zeigt das Topophon, dass die neugierige, experimentelle Auseinandersetzung mit dem Hören im Raum keineswegs erst durch den Ersten Weltkrieg aufgekommen ist. Auch wenn die Erlebnisse des Ersten Weltkrieges für viele Menschen die Auseinandersetzung mit dem eigenen Hören vorangetrieben hat, auch wenn die Ausnahmesituation des Krieges wie so oft zu einem sprunghaften Anstieg der Finanzierung kriegsrelevanter Forschung führte, so stehen die Entwicklungen der 1920er-Jahre doch auch in einem längeren technologieund sinnesgeschichtlichen Zusammenhang. All diese Geräte stellten praktische Anwendungen des räumlichen Hörens dar. Sowohl die Psychologen Hornbostel und Wertheimer als auch der Physiker Mayer waren weniger Tüftler als vielmehr Forscher, und in den von ihnen entwickelten Lokalisationsgeräte drückten sich die Ergebnisse ihrer Forschungen aus. Sie wollten wissen, wie das räumliche Hören genau funktioniert, wie das Gehör in der Lage ist, den Raum in allen Dimensionen wahrzunehmen. Auf der Suche nach physikalischen, akustischen und psychologischen Antworten auf diese Fragen entstanden in der Vor- und Frühzeit des Radios unterschiedliche Theorien des räumlichen Hörens.

22  23  24 

Vgl. Brech 2015, S. 35f.; Sterne 2003, S. 99. Vgl. Brech 2015, S. 63ff. Vgl. N.N.: Das Topophon 1880, S. 192.

Psychologie und Physik

2.2 Frühe Forschung: Die Hörbarkeit des Raums Hören mit zwei Ohren

Aus der physikalisch-akustischen Perspektive war es auch vor Hornbostels Studien längst klar: Unsere akustische Umgebung, die tönende Realität, setzt sich aus einer Vielzahl von Schallereignissen zusammen. Praktisch alles, was sich auch nur minimal bewegt, ist eine Schallquelle, die infolge ihrer Bewegung den Luftraum in Schwingung versetzt und Schallwellen abstrahlt. Schallwellen durchdringen und füllen den Luftraum; die Luft befindet sich in einem permanenten Zittern, ausgelöst von etlichen Schallwellen, die kreuz und quer den Raum durchmessen. Schallwellen verweisen durch die Richtung ihrer Bewegung und durch die Gestalt ihrer Schwingung auf ihre Quelle und den Ort ihres Entstehens. All diese Ursprungsorte stehen in einem räumlichen Verhältnis zueinander; sie stehen aber auch in einem räumlichen Verhältnis zu denjenigen, die sie hören: Wer hört, hört in gewöhnlichen Umgebungen ein heilloses Durcheinander etlicher Schallwellen und kann doch oft genau sagen, von wo was im Einzelnen zu hören ist. Schon der römische Architekt Marcus Vitruvius Pollio, ein Zeitgenosse ­Julius Caesars, hat die wellenförmige Ausbreitung von Schall mitsamt den akustischen Phänomenen Reflexion und Echo in seinem Hauptwerk De ar­ chitectura libri decem beschrieben und mit den kreisförmigen Wellen verglichen, die entstehen, wenn man einen Stein ins Wasser wirft.25 Als im frühen 20. Jahrhundert Akustiker zunehmend auch die psychologische Komponente des Schalls erforschen und Psychologen zunehmend auf akustische Phänomene blicken, geraten das menschliche Gehör und der hörende Mensch stärker ins Blickfeld der Wissenschaft. Der Mensch nimmt Schallereignisse inmitten seiner akustischen Umgebung nämlich stets durch den Filter seines Hörsinns wahr. Das Gemenge aus Schallwellen, das auf das Trommelfell trifft – das sogenannte Ohrsignal –, setzt einen komplexen Wahrnehmungsprozess in

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Vgl. dazu Költzsch 2010, insb. S. 41ff. Vitruv ist insbesondere bekannt für ­seinen Einsatz von Tonkrügen als Resonatoren, um die Akustik in Amphitheatern zu verbessern. Sein Werk, entstanden zwischen 33 und 22 v. Chr., wird bis heute gelesen und ­gedruckt und ist in deutscher Übersetzung zuletzt 2013 in der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft erschienen.

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Gang, in dessen Verlauf das Gehör diese Ohrsignale interpretiert: Aus Schall­ ereignissen werden Hörereignisse.26 Allein die Tatsache, dass wir überhaupt mehrere gleichzeitig erklingende Schallereignisse voneinander unterscheiden können, obwohl die Schallwellen sich zu einem einzigen Ohrsignal komplexer Gestalt vermengen, gibt Forschern Rätsel auf.27 Ein Teil der Analyse besteht darin, aus diesen Hörereignissen akustische Rauminformationen zu extrahieren. Das Gehör lokalisiert die Schallquellen und entwickelt eine Vorstellung von den räumlichen Beziehungen zwischen der eigenen Position und dem Gehörten – es erstellt gewissermaßen eine kognitive Landkarte aus der eigenen Perspektive heraus.28 Die wahrgenommenen Hörorte müssen nicht unbedingt identisch sein mit den tatsächlichen Schallorten der Realität.29 In der Erforschung dieser komplexen Beziehungen zwischen dem Schallraum als physikalischer und dem Hörraum als psychologischer Dimension sind im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts entscheidende Fortschritte zu verbuchen. Die erste grundlegende Erkenntnis datiert Hornbostel dabei allerdings bereits auf 1859. In diesem Jahr habe der böhmische Physiologe Jan Evangelista Purkyně festgestellt: Richtungshören sei allein durch die Tatsache möglich, dass der Mensch zwei Ohren hat.30 Diese Erkenntnis steht in Analogie zum damals bereits bekannten stereoskopen Sehen, bei dem erst beide Augen einen räumlichen Seheindruck ermöglichen – eine Analogie, die immer wieder herangezogen wird, die aber durchaus auch ihre Grenzen hat.31 Dem-

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Die hier verwendeten Fachbegriffe der Wahrnehmungspsychologie stammen von Jens Blauert 1974. Insbesondere die Unterscheidung zwischen objektiver Physikalität und subjektiver Wahrnehmung akustischer Ereignisse ist über die Wahrnehmungspsychologie hinaus ein elementares Kriterium, so zum Beispiel in der Raumphilosophie (vgl. Fischer 2012a; Fischer 2012b) sowie in der Kommunikationswissenschaft (vgl. Truax 1984, insb. S. 5). 27  Vgl. dazu Bregmans Modell der Auditory Scene Analysis von 1994. 28  Vgl. Groh 2014, S. 69ff. Das einflussreiche Konzept der cognitive maps wurde in den 1970er-Jahren von Roger M. Downs und David Stea geprägt (vgl. Downs/Stea 1977). 29  Übrigens sind auch die visuell wahrgenommenen Orte keineswegs immer identisch mit den realen Positionen, an denen sich die sichtbaren Gegenstände befinden (vgl. Blauert 1974, S. 3). 30  Vgl. Hornbostel 1923, S. 64. 31  Hornbostel 1923, S. 65, weist zum Beispiel darauf hin, dass der visuelle Parallaxeneffekt, der entscheidend für das räumliche Sehen mit zwei Augen sei, keine akustische Entsprechung hat.

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entsprechend stehen Forschungen zum räumlichen Hören stets in engem Zusammenhang zu Forschungen zum zweiohrigen Hören.32 Zweiohriges Hören kann wiederum nur dann zu einem Raumeindruck führen, wenn die physikalisch-akustischen Verhältnisse an den beiden Ohren jeweils unterschiedliche sind. Diese geradezu axiomatische Behauptung formuliert der Akustiker Erwin Meyer 1925.33 Meyer war da gerade eben zum wissenschaftlichen Hilfsarbeiter am Telegraphentechnischen Reichsamt Berlin ernannt worden und befasste sich dort mit der »möglichst naturgetreuen Wiedergabe von Musik« über den Rundfunk.34 Seiner Beschreibung nach unterteilt sich das räumliche Hören in zwei Dimensionen: Richtungswahrnehmung und Entfernungswahrnehmung. Wie auch Hornbostel geht er davon aus, dass beide Dimensionen durch unterschiedliche psychische Lokalisationsprozesse geleitet werden. Beide Wissenschaftler sind sich aber durchaus bewusst, dass die beiden Prozesse eng miteinander verknüpft sind. Mit den beiden Dimensionen Richtung und Entfernung nimmt der Hörraum die Struktur einer Sphäre an, einer Kugel, in deren Mittelpunkt sich der Hörende selbst befindet. Richtungswahrnehmung

Die Frage nach der Richtungslokalisation stand im wissenschaftlichen Diskurs stets im Vordergrund. Seit dem späten 19. Jahrhundert bereits gab es den Disput darüber, durch welche messbaren Unterschiede zwischen den beiden Ohren sich die Richtungslokalisation einstellt. Drei Beobachtungen führten zu drei unterschiedlichen Theorien des räumlichen Hörens: Erstens: Spricht uns eine Stimme von rechts an, hören wir sie am rechten Ohr lauter als am linken Ohr. Wie wir heute wissen, gilt das insbesondere für Töne höherer Frequenzen, die durch den Kopf stärker abgeschattet werden.35 So entstehen Laut-leise-Differenzen zwischen den Ohren, sogenann-

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Üblich sind neben den deutschen Begriffen zweiohrig, beidohrig und doppelohrig auch der aus dem Latein stammende Begriff binaural und die aus dem Griechischen stammenden Begriffe diotisch und dichotisch. All diese Begriffe beschreiben – teilweise mit unterschiedlichen Konnotationen – den Hörprozess mit zwei Ohren (vgl. Hornbostel 1923, S. 100). Mit dem Fokus auf die spezifische Raumwahrnehmung mittels beider Ohren verwendet Meyer auch den Begriff des stereoakustischen Hörens. 33  Meyer 1925, S. 805. 34  Guicking 2012, S. 5. 35  Die Frequenz als physikalische Größe von Schallwellen entspricht der Wahr­ nehmung von Tonhöhen. Natürliche Schallereignisse setzen sich immer aus vielen

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te interaurale Intensitätsunterschiede. Zweitens: Das rechte Ohr hört die Stimme in demselben Falle um einen Millisekundenbruchteil früher als das linke Ohr, wodurch interaurale Zeitunterschiede entstehen. Auch diese minimalen Zeitunterschiede kann das Gehör auswerten und in Richtungsinformationen umwandeln. Drittens: interaurale Phasenunterschiede. Die physikalisch informierten Psychologen wussten auch, dass Schall sich in Form von Wellen fortbewegt, dass Schall nichts anderes ist als Schwingungen des Luftdrucks, bei denen Druckmaxima und Druckminima einander abwechseln. Dieser Wechsel zwischen hohem und niedrigem Schalldruck kann nun an beiden Ohren gleichsinnig ablaufen – oder gegensinnig, nämlich dann, wenn ein Druck­ maximum am einen Ohr zeitlich mit dem Druckminimum am anderen Ohr zusammenfällt. Auch alle Zwischenwerte sind möglich. Ein Rechenbeispiel: Die Schallfrequenz von 1000 Hertz, die in der Musik ungefähr dem dreigestrichenen C entspricht, hat eine Wellenlänge von etwa 34 Zentimetern – das ist in etwa das Doppelte des menschlichen Ohrenabstands. Kommt so ein Ton also von der Seite, verläuft der Schalldruck an beiden Ohren genau gegensinnig, der interaurale Phasenunterschied nimmt dann den extremsten Wert an. Der Phasenunterschied hängt also von der Richtung des Schalls ab – aber auch von dessen Frequenz. Bei natürlichen Schallereignissen, die sich stets aus vielen unterschiedlichen Frequenzen zusammensetzen, bestehen also auch komplexe Phasenverhältnisse zwischen den Ohren. Einer oder mehrere dieser drei Parameter – Intensitäts-, Zeit- oder Phasen­ unterschied – mussten den Ausschlag für die Richtungslokalisation geben, ­davon ging man angesichts einer offenbar recht zuverlässigen Links-rechtsLoka­lisation des Menschen aus.36 Ob die Stimme aber von oben oder unten, von vorne oder hinten kommt, das ließ sich nicht mit interauralen DifferenSchwingungen unterschiedlicher Frequenz zusammen. Selbst eine einzelne auf einem ­Instrument gespielte Note beinhaltet eine Grundschwingung sowie weitere Schwingungen höherer Frequenzen, und die spezifische Zusammensetzung dieses komplexen ­Gemisches macht wesentlich die Klangfarbe eines Instruments aus. Eine einzelne reine Schallschwingung kann nur unter Laborbedingungen näherungsweise hergestellt werden; sie ist in erster Linie ein theoretisches Konzept und kleinste Analyseeinheit komplexer Schwingungen. Begriffliche Verwirrung entsteht manchmal dadurch, dass in physikalischen Lehrbüchern mit »Ton« diese reine Schwingung bezeichnet wird, während Lehr­ bücher zur Musik mit »Ton« einzelne gespielte Noten meinen. 36  Die Genauigkeit der Richtungslokalisation hängt neben der Frequenz des ­Tones maßgeblich von der Abweichung von der Horizontalebene ab: Befindet sich die ­Schallquelle weit über oder unter Ohrhöhe, nimmt die Unschärfe zu. Unter idealen ­Bedingungen nennt der Wahrnehmungspsychologe Richard M. Warren 1999, S. 34, eine

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zen erklären. Tatsächlich fällt es dem Gehör auch wesentlich schwerer, sich in dieser sogenannten Medianebene zu orientieren. Hier identifiziert der spätere Physiknobelpreisträger John William Strutt, 3. Baron Rayleigh, 1907 die individuelle Form der Ohrmuscheln als eine Art Filter für den Schall, der dem Klang von hinten, oben oder unten eine spezifische Klangfarbe aufprägt. Ihre besondere Form filtert den eintreffenden Schall, betont bestimmte Frequenzbänder, dämpft andere und versorgt das Gehör so mit einer Information, die von der Schalleinfallsrichtung in der Medianebene abhängig ist.37 Auch wenn Lord Rayleigh diesen Zusammenhang bereits vermutete, wurde er erst Ende der 1960er-Jahre experimentell bewiesen und en detail als »richtungsbe­ stimmende Bänder« beschrieben, unter anderem von Jens Blauert.38 Gestalt­ psychologen wie Rudolf Arnheim und Wolfgang Metzger gehen noch in den 1930er- und 1940er-Jahren davon aus, dass die Unterscheidung zwischen vorne und hinten vor allem dadurch möglich wird, dass wir intuitiv unseren Kopf drehen oder kippen und so die Prinzipien der Links-rechts-Lokalisa­tion zum Einsatz bringen.39 Lord Rayleigh hat in seinem einflussreichen Werk Theory of Sound, das 1880 in autorisierter deutscher Übersetzung erschien, den Disput vorläufig zugunsten einer Intensitätstheorie entschieden. Doch diese Entscheidung war langfristig nicht zu halten, und Lord Rayleigh selbst musste seine Theorie 1907 revidieren, inkorporierte die Phasendifferenz als wirksamen Parameter und formulierte damit seine sogenannte Duplextheorie. Dennoch blieb die Intensitätstheorie über lange Zeit anerkannter Stand der Forschung. Der Psychologe Otto Klemm, der am Leipziger Institut für experimentelle Psychologie forschte, unternahm 1913, noch vor dem Ersten Weltkrieg, erste zögerliche Versuche zur Zeittheorie – und staunte selbst über die positiven Ergebnisse. Mit Ausbruch des Krieges musste er seine Forschungen aber einstellen.40 Es waren dann vor allem Erich Moritz von Hornbostel und sein Kollege Max Wertheimer am Berliner Psychologischen Institut, die sich mit der ZeitGenauig­keit von 1 Grad. Die Auflösungsschärfe des Auges ist im Vergleich etwa sechzigmal so hoch. 37  Vgl. Warren 1999, S. 45ff. 38  Daher auch die Bezeichnung Blauertsche Bänder (vgl. Blauert 1974, S. 80ff.). Der Begriff Bänder bezieht sich auf sogenannte Frequenzbänder, also Teilbereiche des hörbaren Frequenzspektrums. 39  Vgl. Arnheim 2001 [1936], S. 37; Metzger 1942, S. 47f. Diese Techniken des Richtungshörens spielen natürlich ebenfalls eine wichtige Rolle. 40  Vgl. Klemm 1918, S. 72.

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theorie auseinandersetzten, sie experimentell beweisen konnten und mit dem Richtungshörer schließlich sogar zur praktischen Anwendung brachten. Bei ihren Versuchen konnten sie auf die Vorarbeiten weiterer Kollegen zurückgreifen, allen voran auf die Versuchsanordnung samt Apparatur von Wolfgang Köhler, dem Schüler und Nachfolger des Gründungsdirektors des Berliner Instituts Carl Stumpf. Köhler hatte bereits Lokalisationsexperimente unternommen und dafür seinen Probanden Töne über zwei Hörschläuche direkt in die Ohren gespielt. Er hatte dabei allerdings mit Intensitäts- und Phasenunterschieden gearbeitet. Hornbostel und Wertheimer benutzten diese Anordnung, variierten anders als Köhler nun aber gezielt die Zeitdifferenz zwischen beiden Ohren, indem sie einen der beiden Schläuche verlängerten. Im längeren Schlauch war der Schall länger unterwegs, bis er das Ohr erreichte; eine Verlängerung des Rohrs um einen Zentimeter führte zu einer Verzögerung um etwa 0,03 Millisekunden. Und bereits bei dieser Zeitdifferenz kamen sie zu positiven Befunden: Die Probanden nahmen eine seitliche Verschiebung des Geräuschs wahr.41 Die Ergebnisse von Hornbostel und Wertheimer waren so deutlich, dass sie die Zeittheorie zur einzig gültigen Theorie des räumlichen Hörens erklärten. Intensitätsunterschiede könnten zwar auch Richtungsemfpindungen hervorrufen, aber diese seien sehr viel diffuser und vor allem nicht zuverlässig reproduzierbar.42 Allerdings überschätzten Hornbostel und Wertheimer ihre Zeittheorie. So griffen sie bei ihren Untersuchungen auf Klopfgeräusche zurück, die völlig andere Charakteristika aufweisen als die Töne der Stimm­ gabeln, die in früheren Experimenten zum Einsatz gekommen waren. Dass das durchaus einen Unterschied machte, musste Hornbostel selbst einräumen und zugeben, dass die Zeittheorie bei solch periodischem und statischem Schall längst keine so eindeutigen Antworten geben konnte.43 Deswegen griffen und greifen nachfolgende Forschungen immer wieder auf die Duplextheorie Lord Rayleighs zurück und modifizierten und korrigierten diese,44 so dass 41  42 

Vgl. Hornbostel 1926, S. 613. Vgl. Hornbostel/Wertheimer 1920, S. 388; Hornbostel 1923, S. 65 und 86ff. 43  Der Charakter der verwendeten Stimuli sowie weitere Faktoren der Laborsitua­tion, zum Beispiel die Fixierung des Kopfes, tragen maßgeblich zu den ermittelten Ergeb­ nissen bei – das ist in psychologischen Experimenten selten reflektiert worden. Stephen Handel 1989, S. 98, zeigt diese Zusammenhänge auf und verweist auf den oftmals enormen Unterschied zwischen Experimentalsituationen und dem natürlichen Hören. Vgl. außerdem Warren 1999, S. 44f. 44  Vgl. Warren 1999, S. 30ff.

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man heute davon ausgeht, dass das Gehör hohe Töne eher über Intensitätsunterschiede, tiefe Töne eher über Zeitunterschiede lokalisieren kann. Gerade bei den tiefen Tönen, deren Wellenlänge größer ist als der Ohrenabstand, lassen sich Phasenunterschiede als Zeitunterschiede deuten und andersherum.45 Entfernungswahrnehmung

Als sehr viel schwieriger erwies es sich, die Entfernungslokalisation zu erklären. Man fand eine ganze Reihe von Parametern, die offenbar alle irgendwie Anteil am Entfernungshören haben, aber die Entdeckung des einen maßgeblichen Faktors blieb aus. Eine erste Erklärung lag von Anfang an auf der Hand: Alle Geräusche werden in der Entfernung leiser. Diese simple Tatsache reicht zur Einschätzung der Entfernung allerdings nicht aus, denn das Gehör benötigt eine Referenz zur Orientierung. Nur wenn es eine Vorstellung davon hat, wie laut etwas normalerweise ist, kann es die Lautstärke auch zur Entfernungslokalisation heranziehen.46 Die anthropologisch tief verwurzelte Stimme ist so ein Referenzpunkt; wir haben ein gutes intuitives Gefühl dafür, wie laut eine Stimme ist, und können ganz gut von ihrer Lautstärke auf die Entfernung des Sprechers schließen.47 Daneben verändert sich bei sehr weiten Entfernungen auch die Klangfarbe des Hörereignisses. Über etwa 15 Meter beginnt der Schall merklich dumpfer zu klingen, da der Luftwiderstand hohe Töne abschwächt.48 Diese Beobachtung von Hermann von Helmholtz aus dem Jahr 1877 erläutert der Wahrnehmungspsychologe Richard M. Warren anhand eines Gewitters. Ein Blitz erzeugt einen scharfen Knall, aber je weiter sich ein Gewitter entfernt, desto dumpfer wird der Knall, bis er schließlich nur noch als tiefes Grollen zu hören ist.49 Das Beispiel Gewitter führt auch zu weiteren für das Entfernungshören relevanten Faktoren: Echo und Nachhall. Das Grollen des Donners ist nämlich nicht mehr der Knall des Blitzes selbst; der Knall wurde da bereits mehr-

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Das beschreibt so bereits Meyer 1927. Als Standardwerk für Theorien des räumlichen Hörens gilt nach wie vor Blauert 1974. Das Buch ist 1997 in einer erweiterten englischsprachigen Auflage erschienen. 46  Vgl. Blauert 1974, S. 97ff. 47  Vgl. Truax 2013, S. 61. Siehe auch Kapitel 6.2. 48  Vgl. Blauert 1974, S. 102f. 49  Vgl. Warren 1999, S. 52.

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fach reflektiert, vom Boden, von Hügeln und Senken, von Häusern. Innerhalb ­geschlossener Räume wird das noch deutlicher, denn hier wird Schall an Wänden, Boden und Decke, kurz: an allen Oberflächen im Raum reflektiert, und es entsteht schon nach kürzester Zeit ein gleichmäßig im Raum verteilter Nachhall. Der Direktschall dagegen, der uns auf unmittelbarem Weg von seiner Schallquelle erreicht, wird mit der Entfernung leiser. Mit der Entfernung verschiebt sich also das Lautstärkenverhältnis vom Direktschall hin zum Nachhall. Eine weiter entfernte Stimme klingt ›halliger‹, eine nähere Stimme ›trockener‹.50 Dass sich ein Pfarrer in einer großen Kirche kaum ohne Mikro­fon verständlich machen kann, liegt nicht unbedingt daran, dass er nicht laut genug sprechen könnte – in den hinteren Reihen jedoch wird die Sprache durch den diffusen Nachhall derart übertönt, dass zwar viel zu hören, aber wenig zu verstehen bleibt.51 Eine besondere Qualität: Das ›plastische Hören‹

All diese Faktoren tragen zur Entfernungslokalisation bei, erklären aber nicht die eine Beobachtung, die sowohl Hornbostel als auch Meyer immer wieder nennen: Erst durch das zweiohrige Hören entsteht eine spezifische Form der Wahrnehmung, eine eigene Qualität des Hörens, die den Raum um uns in allen Dimensionen erfasst. Zweiohriges Hören ist mehr als die Möglichkeit, rechts und links voneinander zu unterscheiden. Zweiohriges Hören macht die Tiefe des Raumes sinnlich wahrnehmbar, geradezu greifbar. Bereits Klemm war dem Rätsel 1913 auf der Spur: »Es klingt sehr schlicht: aus den beiden selbständigen Richtungswahrnehmungen des linken und des rechten Ohres

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Vgl. Warren 1999, S. 51ff. sowie Békésy 1938, S. 22f. Békésy 1938, S. 27ff., führt schließlich noch einen weiteren Parameter an, den er selbst für ausschlaggebend hält. Er beschreibt eine tieffrequente Luftverschiebung, die im Nahbereich einer Schallquelle zur Betonung tiefer Frequenzen führt. ­Metzger 1942, S. 54f., greift Békésys Beobachtung auf, und auch Warren 1999, S. 54, erwähnt sie, ­liefert aber keine weiteren Erklärungen dazu. Ein endgültige Klärung des P ­ hänomens ist mir nicht bekannt. Es könnte im Zusammenhang mit dem Nahbesprechungs­effekt ­stehen, einer bauartbedingten Betonung tiefer Frequenzen bei manchen Mikrofonen im Nah­ bereich einer Schallquelle. Der Nahbesprechungseffekt tritt aber nur bei b­ estimmten Mikrofon­typen auf und nicht beim menschlichen Gehör. In der Fachliteratur zur Studio­ technik wird der Nahbesprechungseffekt uneinheitlich erklärt. Fraglos führt die Betonung tiefer Frequenzen gerade bei der Stimme tatsächlich zum Eindruck großer Nähe. Blauert 1974, S. 103ff., fasst hierzu eine Reihe von Studien zusammen, die für diesen ­Eindruck je unterschiedliche Erklärungen anbieten. 51 

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müßte eine Tiefenwahrnehmung entspringen, und doch ist damit etwas sehr Rätselhaftes behauptet.«52 »Plastisches Hören« nennt Meyer diese Qualität und sieht sofort als Anwendungsmöglichkeit die Musikübertragung im Rundfunk: »Besonders bei Opernübertragungen könnte das plastische Hören berufen sein, durch die von ihm vermittelte Raumvorstellung bis zu einem gewissen Grade einen Ersatz für die fehlende Anschauung der Bühnenvorgänge zu bieten.«53 Meyer nimmt an, dass der Nachhall womöglich eine wesentlich wichtigere Rolle für das Entfernungshören spielt, als bisher angenommen. Nachhall kommt nämlich stets auch aus unterschiedlichen Richtungen, und durch die Fähigkeit des zwei­ohrigen Hörens lassen sich diese Richtungen auch wahrnehmen. Warum dieser Zusammenhang frühen Forschungen verborgen blieb, lässt sich mit einem moderneren Experiment von Warren erklären. Er hat eine Tonbandaufnahme eines Sprechers nachträglich ›verhallt‹, also mit einem leisen Nachhall versehen. Dasselbe hat er mit einer Rückwärtskopie derselben Aufnahme gemacht und die resultierende verhallte Rückwärtskopie daraufhin wieder umgedreht. Am Ende hatte er zwei Anfertigungen derselben Sprachaufnahme, einmal mit dem ›richtigen‹ Nachhall, einmal mit einem ›umgekehrten‹ Nachhall, der der Stimme immer vorauslief. Was Warren damit zeigen kann: Auf der ›richtigen‹ Aufnahme wird der Nachhall von den Probanden überhaupt nicht als solcher wahrgenommen, er hat die Sprache gewissermaßen überformt, ohne selbst in Erscheinung zu treten. Der ›verkehrte‹ Nachhall dagegen drängt sich dem Ohr überdeutlich und als »quite bizarre« auf. »It appeared as if reverberation in the normal direction was incorporated within the speech, being transformed to a natural-sounding ›lively‹ quality«.54 Ein leiser Nachhall gehört offenbar so sehr zu unserer Alltagserfahrung, dass wir ihn überhaupt nicht bewusst wahrnehmen. Das macht es plausibel, dass frühe Forschungen die Rolle des Nachhalls für das zweiohrige Hören deutlich unterschätzten. Der Gestaltpsychologe Hornbostel verwendet zur Beschreibung der besonderen Qualität zweiohrigen Hörens das ihm eigene Vokabular und spricht von »starken Gestalten«.55 Die stärkste Gestalt entstehe beim Hören in der

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Klemm 1918, S. 113. Meyer 1925, S. 807. 54  Beide Zitate: Warren 1999, S. 53. 55  Hornbostel 1923, S. 101. Zweiohriges Hören stellt aus Hornbostels Sicht die ursprüngliche Form des Hörens dar. Bislang hätte die Forschung versucht, das zwei­ohrige 53 

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Mitte – die Einfachheit dieser Erscheinung entspreche der Ruhestellung des Bewusstseins, führt Hornbostel aus, und schlägt folgerichtig vor, Telefonistinnen mit doppelten Ohrhörern auszustatten, um ihnen die anstrengende Arbeit zu erleichtern.56 Für die natürliche zweiohrige Wahrnehmung sind Schälle Gegenstände, die sich als solche von der Stille oder einem diffusen akustischen Hinter­grund abheben. Schon dieses Auseinandertreten von »Figur« und Grund ist einfachste Gestaltung. Phänomenal entspricht ihr der scharfe Umriß, die Dichte und die bestimmte Lokalisation der zweiohrigen Erscheinungen.57

Was Hornbostel hier mit klassischen Begriffen der Gestaltpsychologie, Figur und Grund, beschreibt, ist mehr als bloße Lokalisation von Schallereignissen; es ist eine räumliche Struktur. Figur, also ein Hörereignis im Vordergrund, und Grund, ein weiter entferntes und ausgedehnteres Hörereignis, bilden gemeinsam eine spezifische Anordnung, die man hören kann – ich nenne das eine akustische Topologie.58 Eine Vogelstimme hebt sich beispielsweise vom Rauschen der Blätter ab, eine menschliche Stimme von dem Stimmengewirr in einem Café. Erst das zweiohrige Hören, so Hornbostel, lasse die Stimme so plastisch heraustreten, dass diese Anordnung auch in ihrer räumlichen Struktur zu hören ist. Die akustische Topologie der Welt entsteht durch all die klingenden Dinge, die sich räumlich zu uns ins Verhältnis setzen, die im Raum ein Vorne und Hinten, ein Nah und Fern, ein Hier, Da und Dort bilden. Das Bewusstsein für die Qualität des zweiohrigen Hörens entstand – das fällt auf – gerade im Zusammenhang mit den mediatisierten Klängen der Versuchsapparaturen und Übertragungsexperimenten der 1910er- und 1920er-Jahre. Was für das Hören im freien Schallfeld, im Alltag, kaum mehr wahrgenommen wird, drängte sich dort in den Vordergrund, wo man sich Schläuche in die Ohren steckte oder Kopfhörer vor die Gehörgänge hielt, wo man bewusst auf den Klang lauschte. Psychologen und Akustiker des frühen

Hören aus einer Verdoppelung des einohrigen Hörens heraus zu erklären. Hornbostel 1926 nimmt den entgegengesetzten Blickwinkel ein: »Biologisch angesehen ist also das einohrige Hören sekundär, aus dem normalen zweiohrigen Hören abgespalten, und nicht das zweiohrige Hören zusammengesetzt aus zwei ursprünglich selbständigen Einzel­ funktionen.« (S. 604) 56  Vgl. Hornbostel 1923, S. 101; Hornbostel 1926, S. 604. 57  Hornbostel 1923, S. 100f. 58  Auf den Begriff der akustischen Topologie gehe ich in Kapitel 5.1 genauer ein.

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20. Jahrhunderts waren damit nicht nur Wegbereiter des Rundfunks überhaupt, sondern auch Wegbereiter der Stereofonie. Meyer prophezeite ihr eine blühende Zukunft.59 Er sollte recht behalten; der stereofone Rundfunk ist tatsächlich entstanden, allerdings erst Mitte der 1960er-Jahre – 40 Jahre nach Meyers Prognose, 40 Jahre nach Einführung des öffentlichen Rundfunks in Deutschland und vielen anderen Ländern.

2.3 Elektroakustik: Die Übertragung des Raums Stereofonie 1881

Die Anfänge der Stereofonie liegen wiederum 40 Jahre vor Einführung des öffentlichen Rundfunks. Damit vergehen über 80 Jahre von der ›Erfindung‹ der Stereofonie bis zu ihrer Implementierung im Radio. Diese Geschichte, die ich hier aus einer wahrnehmungspsychologischen Warte skizzieren möchte, ist deswegen so interessant, weil die Herausforderung, einen stereofonen Standard zu entwickeln, direkt damit zusammenhing, welches Raumkonzept man dem Rundfunk zugrundelegte: Sollte die Stereofonie dazu dienen, Raumklang zu reproduzieren, oder sollte sie eigene Räume schaffen? Zu Beginn der Stereo­fonie stellte man sich solche Fragen noch nicht, da war man vor allem fasziniert von dem plastischen Klangerlebnis. Anlässlich der Internationalen Elektrizitätsausstellung in Paris im Jahr 1881 – Löwenstein, Hornbostel und Wertheimer waren allesamt gerade erst auf die Welt gekommen – übertrug Erfinder-Unternehmer Clément Ader eine Aufführung aus der Pariser Oper über eine Drahtverbindung in den einige Kilometer entfernten Palais de l’Industrie. Interessierte Messebesucher nahmen sich dort je zwei der insgesamt 80 ›Telefone‹ und hielten sie sich an beide Ohren. Die Darbietung muss beeindruckend gewesen sein, denn was die Besucher dort zu hören bekamen, war wohl für jeden einzelnen die erste stereo­akustische Übertragung seines Lebens. Im L’Électricien ist im Oktober desselben Jahres zu lesen:

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Vgl. Meyer 1925, S. 807.

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Radio-Topologie Tous ceux qui ont eu jusqu’ici la bonne fortune d’entendre les téléphones au Palais de l’Industrie ont pu remarquer qu’en écoutant avec les deux oreilles dans deux téléphones, l’audition prend un charactère spécial de relief, de localisation, qu’un seul récetteur est impuissant à produire.60

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Die Metapher Relief zeigt, dass das Hörerlebnis über das reine Lokalisieren von Richtungen hinausgeht, dass sich die Wahrnehmung auch in die Tiefe erstreckt: plastisches Hören. Das System, das Ader »Théâtrophone« nannte, erwies sich als durchaus erfolgreich. Es war über 40 Jahre lang kommerziell in Betrieb, zog etliche ähnliche Systeme in anderen Ländern nach sich und kann gewissermaßen als Vorgänger des Unterhaltungsrundfunks gesehen werden – zumal gerade die Einführung des öffentlichen Rundfunks die Bedeutung solcher drahtgebundener telefonischer Musikübertragung erheblich schmälern sollte.61 »Au commencement était le Théâtrophone« titeln Kira Kitsopanidou und Giusy Pisano und erzählen dann die Geschichte der Opernübertragung.62 Am Anfang war das Theatrophon, das gilt aber ebenso für die Geschichte der stereo­fonen Übertragung von Musik überhaupt. Das Theatrophon brachte zum ersten Mal einen deutlichen akustischen Raumeindruck zu Gehör, der über elektrische Telefonleitungen übertragen wurde. Ein ähnliches stereofones System entstand 1912 zwischen der Berliner Oper und dem Kronprinzen-Palais.63 Trotz seines Erfolges, und obwohl die Berichterstattung über das Theatrophon so viel Gewicht auf den Raumklang legte,64 blieb sein Prinzip der Stereofonie dann doch wenig einflussreich für das Radio. Während der 1920er-Jahre wurde es von dem monofonen, aber drahtlosen Radio überholt. Der fehlende stereofone Raumklang konnte das Radio nicht daran hindern, sich als Wunder der Raumüberwindung zu etablieren. »Ader was too far ahead of his time,« resü60 

Hospitalier 1881, S. 575f. Vgl. Krug 1974. Allerdings wurde der aus dem Theatrophon hervorgegangene »Drahtfunk« niemals vollständig durch den Rundfunk verdrängt. Während des Zweiten Weltkrieges war er ein wichtiger Teil des Warnsystems, mit dem die Bevölkerung über bevorstehende Bombardierungen informiert wurde. Und vor allem in gebirgigen Gegenden mit schwierigem Rundfunkempfang, zum Beispiel in der Schweiz, stellte er das gesamte Jahrhundert hindurch einen alternativen Empfangskanal dar. Altendorfer 2001, S. 226ff., sieht das heutige Breitbandkabelnetz, über das sowohl Radio wie auch Fernsehen und ­Internet übertragen werden, ebenfalls in der Tradition des Drahtfunks. Zum Drahtfunk in Deutschland und Europa vgl. auch Künzel 2000. 62  Kitsopanidou/Pisano 2013, S. 147. 63  Künzel 2000, S. 211f. 64  Zum Beispiel im Scientific American: N.N.: The Telephone at the Paris Opera 1881. 61 

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miert Barry Fox zum 100. Jubiläum des Systems. »Although his system worked and the public was curious, people were not ready to buy stereo sound.«65 51 Die Utopie der perfekten Raumübertragung

Clément Ader war kein Wissenschaftler, sondern Unternehmer. Er hat mit seinem Theatrophon gezeigt, dass Stereofonie funktioniert, ohne fundiert erklären zu können, warum. Das System konnte bei seinen Hörern tiefen Eindruck hinterlassen. Als sich in den 1920er- und 1930er-Jahren Akustiker und Ingenieure daran machen, die Stereofonie weiterzuentwickeln, reichte es ihnen dagegen nicht, eindrückliche Klangerlebnisse zu erzeugen. Sie wollten eine exakte Reproduktion räumlicher Verhältnisse möglich machen. Ein Grund für diesen Ehrgeiz waren sicherlich die Fortschritte in der Erforschung des räumlichen Hörens, die sich in der Zwischenzeit eingestellt hatten. Je mehr sie über das räumliche Hören in Erfahrung brachten, je präziser sie die physikalischen und psychologischen Parameter räumlichen Hörens beschreiben konnten, um so mehr stiegen ihre Ansprüche an eine ›korrekte‹ elektroakustische Übertragung – an ein sinnliches Erlebnis, das nun aber den Vorgaben einer exakten Rekonstruktion der räumlichen Aufnahmesituation zu folgen hatte. Die radiofone Standardsituation, die sie im Blick hatten, war die Übertragung von Musik aus einem Konzertsaal heraus. Während sich der öffentliche Rundfunk zunehmend ausbreitete, stellten die Akustiker und Ingenieure die Frage nach einer realistischen Übertragung. Sie wollten Radiohörern einen Raumeindruck ermöglichen, der demjenigen im Konzertsaal möglichst exakt entsprach. Der Raumklang im Konzertsaal stellte als ›Original‹ zugleich den Maßstab für die gelungene, für die ›richtige‹ Übertragung dar. 1936 formuliert der Physiker Hans-Joachim von Braunmühl: »Das Ziel einer Übertragungseinrichtung von natürlich vorkommenden Schallereignissen muß stets sein, dem Hörer am fernen Ort eine Wiedergabe zu bieten, die sich vom Original nicht unterscheidet.«66 Er schlägt mit Blick auf die Übertragung von Orchesterkonzerten vor, zwei Mikrofone im Kopfabstand mit zweiohrigen Kopfhörern zu verbinden und so eine näherungsweise realitätsgetreue Wiedergabe zu ermöglichen. Ob diese Anordnung auch wirklich einhält, was er verspricht,

65 

Fox 1981, S. 909. Braunmühl 1936, S. 145. Braunmühl war in den 1950er-Jahren am Aufbau des SWF in Baden-Baden beteiligt. 66 

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verrät Braunmühl nicht; er gesteht aber ein, dass auch eine freiere Anordnung zweier Mikrofone mit Wiedergabe über Lautsprecher durchaus »wirkungsvolle« Effekte erzielen kann: Der auffallendste Eindruck beim Wechsel von einer gewöhnlichen zu einer stereoakustischen Übertragung ist der, daß man sich beim Umschalten auf die Stereoanlage sofort in die Darbietung einbezogen fühlt, daß der Schall einen umflutet, während man sich bei einer normalen ­Anlage immer mehr oder weniger als außenstehender Hörer in einem gesonderten Raum vorkommt.67

Den Unterschied zwischen Mono und Stereo beschreibt der Physiker Braunmühl hier nicht nur als akustisches Phänomen, sondern als ein ganzheitliches Raumempfinden. Er setzt sich selbst in ein Verhältnis zum wahrgenommenen Raum, und während er sich im Falle der Monofonie außerhalb des übertragenen Raums fühlt, wird er im Falle der Stereofonie in den Raum einbe­zogen. Braunmühl formuliert hier aus der Perspektive des Elektroakustikers, wie Radio durch unterschiedliche technische Konfigurationen unterschiedliche Raumkonzepte verwirklichen kann. Darauf werde ich noch zurückkommen. Auch in den USA, wo Ingenieure des American Institute of Electrical Engi­ neers 1924 ausführliche Erfahrungen mit mehrkanaligen Übertragungen von Konzerten gemacht hatten, orientierte man sich am Ideal des Originals: An ideal transmission and reproducing system may be considered as one that produces a similar set of vibrations in a distant concert hall in which is executed the same time-sequence of changes that takes place in the original hall. 68

Der Autor dieser Zeilen, Harvey Fletcher von der amerikanischen Forschungseinrichtung Bell Laboratories, hat dabei nicht den öffentlichen Rundfunk im Blick, sondern die Übertragung von Konzerten von einem Konzertsaal in einen anderen, und zwar ohne akustische Einbußen im Hinblick auf den reproduzierten Raumklang. Fletcher muss aber im selben Absatz einräumen, dass dies in der Praxis unmöglich sei. Grund dafür ist die Raumakustik des zwei-

67 

Braunmühl 1936, S. 145f. Fletcher 1934, S. 9. Die Übertragung eines Konzertes von Philadelphia nach ­Washington – über Kabel – veranlasste das American Institute of Electrical Engineers (AIEE) im Jahr 1934, in seiner Zeitschrift Electrical Engineer einen Schwerpunkt mit sechs Aufsätzen zum Thema »Auditory Perspective« zu bringen, in denen vor allem die technischen Aspekte der Übertragung von Raumklang detailliert erläutert wurden. 68 

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ten Saals: Auch wenn die Übertragung selbst absolute Wiedergabetreue mitbringt – und schon das ist eine utopische Annahme –, wird die Raumakustik des Wiedergaberaums den übertragenen Schall in kürzester Zeit nach seinen eigenen Bedingungen formen und verändern, so dass das Ergebnis zwangsläufig ein völlig anderes wird. Beide, Braunmühl und Fletcher, stehen für eine Generation von Akustikern auf der Suche nach einem perfekten elektroakustischen Übertragungssystem. Perfekt soll es gerade im Hinblick auf den Raumklang sein – standen doch die ersten drei Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts ganz im Zeichen einer Verwissenschaftlichung der Raumakustik gerade auch von Konzertsälen.69 Beide stehen aber zugleich für zwei grundlegend unterschiedliche Konzepte. Fletchers Bezugsgröße ist der gesamte manifeste Raum mit den physikalisch-akustischen Verhältnissen, die sich in ihm durch Schallreflexion und -absorption, durch Schallbeugung und -brechung ausbilden. Er adressiert damit ein öffentliches Publikum, das dem übertragenen Konzert gemeinschaftlich zuhört. Braunmühl dagegen denkt an eine Rezeption über Kopfhörer. Er ›begnügt‹ sich damit, das Schallfeld, das an den Ohren eines einzigen Hörers im ursprünglichen Konzertsaal vorhanden ist, über Kopfhörer zu rekonstruieren; seine Bezugsgröße ist der Kopf des Hörers. Beide Konzepte setzen sich in zwei eigenen Entwicklungslinien fort, der »raumbezüglichen« und der »kopfbezüglichen Übertragung«. Kopf oder Raum: Zwei Verfahren auf dem Prüfstand

Braunmühls Konzept der kopfbezüglichen Übertragung zielte darauf ab, die Schallverhältnisse, die an einem bestimmten Ort im Aufnahmeraum vorherrschen – am besten Platz des Konzertsaals –, direkt am Kopf, an den Ohren eines einzelnen Hörers über Kopfhörer zu rekonstruieren. Der Psychologe Wolfgang Metzger, der sich in den 1940er-Jahren intensiv mit den Möglichkeiten der Raumübertragung im Rundfunk beschäftigt,70 sieht allein schon

69 

Vgl. zur Entwicklung der Raumakustik vor allem anhand des Akustikers ­Wallace S­ abine und seinem grundlegenden Beitrag zum Entstehen der wissenschaftlichen ­Disziplin Thompson 1997 sowie Thompson 2004, insb. S. 59ff. 70  Selbst ein Schüler von Max Wertheimer, war Wolfgang Metzger einer der wenigen Vertreter der Berliner Schule, die Deutschland im Dritten Reich nicht verlassen mussten; während des Krieges konnte er an dem gut ausgestatteten Institut für Rundfunkwissenschaft in Freiburg arbeiten (vgl. die Kurzbiografie von Stadler 1994). Dort brachte er ein

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im Prinzip des Kopfhörers den erheblichen Nachteil, dass sich das gesamte Hörbild mitbewegt, sobald man den Kopf auch nur dreht. Metzger überträgt dabei einen Gedankengang auf das Radio, den Hans Warncke als technischer Direktor der Filmproduktionsgesellschaft Klangfilm für den Tonfilm formuliert hat. Warncke sieht die Grenze des Verfahrens dort, wo der architektonische »Wiedergaberaum als solcher für das Bewußtsein des Zuhörenden eine Rolle spielt«.71 Warncke zielt auf den Kinosaal ab. Die Ausrichtung im Raum auf die Leinwand hin ist vorgegeben, Hör- und Sehraum verschmelzen zu ­einem gemeinsamen Wahrnehmungsraum. Nach Metzgers Auffassung gilt ähnliches aber auch fürs Radio, weil ein Schallbild nur dann den zu erstrebenden Charakter besitzen kann, mir wirklich in diesem Raum zu begegnen und gegenüberzustehen, wenn sein Ort und seine Richtung von meinen zufälligen ­Stellungen, Haltungen und Bewegungen unabhängig ist. Macht es die Bewegungen des Zuhörers mit, ist es also in diesem Sinne im Wahrnehmenden selbst verankert, so erhält es – genau wie ein Nachbild –, unentrinnbar den Charakter eines wesenlosen Truggebildes, einer leeren Erscheinung.72

Die Geschichte hat Metzger Unrecht gegeben. Trotz seines Einwands sind Kopfhörer heute allgegenwärtig. Hörer haben gelernt, mit dem Medium umzugehen und das »Truggebilde« als mediales Artefakt zu akzeptieren. Wie gut allerdings die Illusion gelingt, hängt sehr von der Mikrofonierung im Aufnahme­raum ab. Braunmühl sah zwei Mikrofone im Ohrenabstand vor und versuchte damit, die Situation eines Hörers im Konzertsaal nachzuempfinden. Der Gedanke leuchtet ein, nur war Braunmühl nicht akribisch genug. Warncke ging einen Schritt weiter und nahm statt zwei einfacher Mikrofone eine »Kopfnachbildung«73, zu deren beiden Seiten sich die Mikrofone befanden. Diese Aufnahmetechnik (mitsamt der Wiedergabetechnik über Kopfhörer) ist theo-

schmales Bändchen mit dem Titel »Das Räumliche der Hör- und Sehwelt bei der Rundfunkübertragung« heraus (Metzger 1942). Darin stellt Metzger sehr konkrete Überlegungen dazu an, wie Radiohörer Raumwirkungen erleben können und wie das Dispositiv ­R adio konstruiert sein kann, um Rauminformationen im Tonsignal zu kodieren und zu übertragen: »Wie muß Schall beschaffen sein, in welcher Weise muß er auf den empfangenden Menschen einwirken, um für ihn eine sinnlich wahrgenommene oder auch vorgestellte räumliche Welt aufzubauen?« (Metzger 1942, S. 18.) Die Arbeiten, auf die Metzger sich bezieht, stammen teilweise aus dem Bereich des Filmtons und der Musikproduktion. 71  Warncke 1941, S. 175f. 72  Metzger 1942, S. 64. 73  Warncke 1941, S. 175.

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retisch geradezu von zwingender Logik und bestechender Einfachheit. Genau der Schall, der die Ohren eines Zuhörers im Aufnahmeraum erreichen würde, wird über die Mikrofone aufgenommen. Die künstliche Form von Kopf und Gesicht, vor allem die Ohrmuscheln, beugen, dämpfen und filtern den Schall gerade in der Weise, wie es bei einem Konzertbesucher der Fall wäre. Die Nachbildung des Kopfes trägt der Tatsache Rechnung, dass das räumliche Hören auf einer subtilen wie effektiven Ebene durch die räumlichen Verhältnisse in der unmittelbaren Umgebung beeinflusst wird. Was die Mikrofone aufgenommen haben, wird dann über Kopfhörer wieder abgespielt. Schall wird also in Bezug auf den Kopf an exakt der Stelle reproduziert, an der er aufgenommen wurde. Beim Abspielen über Kopfhörer – und nur über Kopfhörer! – werden die Filterfunktion der Ohrmuscheln ebenso übergangen wie die akustischen Effekte von Kopf und Gesicht. Die sogenannte Kunstkopfaufnahme versetzt den Hörer geradezu in den Aufnahmeraum hinein.74 Dementsprechend wird der Raumeindruck als ausgesprochen natürlich und täuschend echt beschrieben, als ein immersiver Raumklang, der auch die Wahrnehmungsdimensionen hinten/vorne und oben/unten mit einbezieht. Die Produktion und Übertragung mittels Kunstkopf ist im Radio allerdings immer eine Nischenpraxis geblieben. Seit den 1930er-Jahren bekannt, hat die Kunstkopfstereofonie erst ab der Berliner Funkausstellung 1973 Aufmerksamkeit auf sich ziehen können. In den frühen 1980er-Jahren, nachdem erhebliche Mängel des Vorgängermodells beseitigt wurden, erlebte das Verfahren dann einen Boom, vor allem in der Hörspielproduktion – und geriet wieder in Vergessenheit.75 Seit infolge mobiler Geräte der Kopfhörer mittlerweile allgegenwärtig ist, arbeiten Rundfunksender wieder verstärkt mit der kopfbezüglichen Stereofonie, die heute aber nicht mehr unbedingt mit realen Kunstkopfmikrofonen aufgezeichnet, sondern digital modelliert wird. Im Gegensatz zur kopfbezüglichen Übertragung sah der raumbezügliche Ansatz nach Fletcher ursprünglich vor, den ersten Raum mit möglichst vielen Mikrofonen, den zweiten mit ebenso vielen Lautsprechern auszustatten. Dazu

74 

Wie subtil und zugleich effektiv die Form von Körper, Kopf, Gesicht und Ohr­ muscheln Einfluss auf die räumliche Wahrnehmung hat, zeigt sich daran, dass wir wirklich perfekte Ergebnisse nur mit dem eigenen Kopf erzielen. Spezielle Mikrofone, die direkt in die eigenen Ohren gesetzt werden, machen den Vergleich möglich: Kopfbezüg­ liche Aufnahmen, die andere gemacht haben, lassen für einen selbst oft keine gute Lokalisation zu (vgl. Groh 2014, S. 120). 75  Vgl. zur Geschichte der Kunstkopfstereofonie Stahl 2001; Brech 2015, S. 170ff.

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ging er von einer gedachten Ebene zwischen dem Orchester und dem Publikum aus. Ziel war es nun, sämtlichen Schall, der diese Ebene im Aufnahme­ raum durchkreuzte, mit Mikrofonen zu erfassen und an der entsprechenden Ebene im Wiedergaberaum wieder abzustrahlen.76 In der theoretischen Modellierung dieses Systems waren unendlich viele Mikrofone und Lautsprecher notwendig. Für eine praktische Umsetzung stellte sich die Frage, wie viele man wirklich brauchen würde, um dem menschlichen Wahrnehmungsapparat eine überzeugende Übertragung der Raumakustik vorzugaukeln. Warncke beantwortete diese Frage: Gerade einmal zwei Lautsprecher reichten aus. Als Grund dafür nannte er den akustischen Effekt der »Schwerpunktbildung«, der heute als Phänomen der »Phantomschallquelle« bezeichnet wird: Strahlen beide Lautsprecher identische Signale ab, so nehmen wir nicht zwei Hörereignisse jeweils bei den Lautsprechern, sondern nur eines ­zwischen den Lautsprechern wahr. Unterscheiden sich die beiden Signale in ihrer Lautstärke, so scheint das Hörereignis mehr aus Richtung des lauteren zu kommen. Deswegen können mit nur zwei Lautsprechern sämtliche ­Richtungen dazwischen abgebildet werden.77 Allerdings setzt diese Schwerpunktbildung voraus, dass man sich an einer Position befindet, die von beiden Lautsprechern gleich weit entfernt ist. Der Reduktion auf zwei Lautsprecher standen aber nach wie vor eine möglichst große Anzahl gerichteter Mikrofone gegenüber, die den Konzertsaal oder die Bühne in jeweils gleich große Sektoren unterteilten und jeweils nur das erfassten, was in diesem Sektor zu hören war. Die Mikrofone sollten dann je nach Position mit je unterschiedlichen Lautstärken auf die beiden Lautsprecher verteilt werden, so dass das Signal eines eher links aufgestellten Mikrofons auch eher links zwischen den Lautsprechern erscheint. Fletchers System mutet reichlich technokratisch an, und sein Ziel, dadurch den einen Raum exakt im anderen abzubilden, ließ sich so nicht erreichen. Dennoch ist die Herangehensweise nicht weit entfernt von heutigen Praktiken der Übertragung vor allem großer Orchester. Typischerweise werden die einzelnen Instrumentengruppen mit separaten Mikrofonen aufgenommen und im Mischpult dann nicht nur Lautstärken, sondern auch Richtungen für die stereofone Übertragung eingestellt. Diese Praxis unterscheidet sich von

76 

Vgl. Fletcher 1934, S. 9. Vgl. Warncke 1941. Zum Phänomen der Phantomschallquelle siehe auch ­ Dickreiter 1997, S. 134ff. 77 

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­ letchers Konzept insofern, als damit nur eine ideale Hörposition erzeugt werF den kann, nämlich die, die ein gleichseitiges Dreieck mit den Lautsprechern bildet. Damit richtet sie sich an einzelne Hörer in privaten Räumen und nicht an eine große Öffentlichkeit in einem Saal. Der stereofone Standard

Was beide Verfahren – raumbezügliche und kopfbezügliche Übertragung – miteinander vereinte, war der ihnen zugrundeliegende Gedanke, eine perfekte Rekonstruktion des Raumklangs zu übertragen. Der Gedanke sollte sich als illu­sorisch erweisen. Zum einen war es weder technisch noch physikalisch möglich, den einen Saal als ganzes in einen anderen Saal hineinzuversetzen. Zum anderen aber löste sich das idealistische Ziel von alleine in Luft auf, und zwar spätestens in dem Augenblick, in dem seine Prämisse einen Riss bekam: Mit Einführung des Magnetbandes nach dem Zweiten Weltkrieg und der weiteren Entwicklung der Produktionstechnik war es keine Selbstverständlichkeit mehr, dass es überhaupt ein Original, eine Aufführung, einen Raum gab, aus dem die Musik übertragen wurde. Der Raum, in dem Musik stattfand, war dann nicht mehr die Bühne oder der Aufnahmeraum, sondern das Tonstudio mit seinen technischen Geräten und Verfahren. Der Raum des Originals existierte dann nur auf der Schallplatte, er wurde nicht reproduziert, sondern designt. Einen ersten Höhepunkt erlebte dieser Emanzipationsprozess mit dem Beatles-Album Sergeant Pepper’s Lonely Hearts Club Band (1967), wie Volkmar Kramarz darlegt: Das Ideal von True Fidelity, verstanden als unveränderte Reproduktion und authentische Dokumentation der Aufführung von Musik, machte Platz einer »wie auch immer gearteten künstlerischen Modifikation und Manipulation« der Klänge im Tonstudio.78 Was die beiden Übertragungsverfahren, die kopf- und die raumbezügliche Übertragung, voneinander unterschied, waren die Raumkonzepte, die mit ihnen realisiert werden sollten. Fletchers Konzept der raumbezüglichen Übertragung war darauf aus, den Aufnahmeraum vollständig im Wiedergaberaum zu reproduzieren. Das musikalische Geschehen sollte scheinbar im Wiedergaberaum stattfinden, aber dennoch die Akustik des Aufnahmeraums transportieren – ein theoretisch wie praktisch aussichtsloses Unterfangen. Bei der kopfbezüglichen Stereofonie dagegen ging es um etwas anderes. Der architek-

78 

Kramarz 2013, S. 257. Vgl. hierzu auch Kapitel 7.1.

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tonische Raum der Wiedergabe verlor an Bedeutung, und das optimale Klang­ erlebnis sollte im Kopfhörer entstehen. Damit wurden virtuelle Klangereignisse denkbar, bei denen sich das Hören von der realen Umgebung freimachen konnte. Entsprechend wurde der Unterschied zwischen beiden Verfahren über die Kategorie der Räumlichkeit beschrieben, wie zum Beispiel in einem Artikel im Spiegel des Jahres 1973: »Anders als bei herkömmlichen Aufnahmeverfahren, bei denen die ursprünglichen Schallquellen – etwa ein Orchester oder ein Hörspiel-Team – über die Lautsprecher gleichsam ins Wohnzimmer versetzt scheinen, werden bei der Kunstkopftechnik ›die Ohren in den Aufnahmeraum gebracht‹ […].«79 Was der Verfasser hier als ›herkömmliches Aufnahmeverfahren‹ beschreibt, ist freilich nicht das, was Fletcher im Sinn hatte, und der beschriebene Raumeindruck – das Orchester wird ins Wohnzimmer versetzt – wird noch zu diskutieren sein. Gleichwohl wird hier deutlich: Die Suche nach einem Übertragungsverfahren war nie ein rein technisches Problem, sondern auch ein ästhetisches – und ein Raumproblem. Das Bemühen, die stereofone Übertragung zu standardisieren, bezog sich sowohl auf die Aufnahme- als auch auf die Wiedergabetechnik. Während sich die Aufnahmetechnik im Zuge der technologischen und ästhetischen Entwicklung weiter professionalisierte und sich dabei festgelegten Standards immer wieder entzog, war es für Gerätehersteller wichtig, einen wiedergabeseitigen Standard zu etablieren. Das simple Setting mit zwei Lautsprechern, das sich langfristig durchsetzen konnte, stammt von einem offenbar an pragmatischen Lösungen orientierten Unternehmen, nämlich von Philips – dem Unternehmen, das später auch die Kompaktkassette entwickeln sollte.80

2.4 Es ist kompliziert: Radio und Raum Stereo-Technik fürs Radio

Die Geschichte von der Etablierung der Stereofonie im Rundfunk ist noch nicht umfassend erforscht. Sie ist zum Teil Technikgeschichte und umfasst dabei die Bereiche Produktionstechnik, Übertragungstechnik sowie Empfangs-

79  80 

N.N.: Ohren verpflanzt 1973, S. 206. Vgl. Metzger 1942, S. 60.

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technik. Sie ist auch Ästhetikgeschichte mit einer gestalterischen Entwicklung, die in vielfältigem Zusammenhang zu technologischen Entwicklungen steht. Nicht zuletzt ist sie auch Sozialgeschichte: Beispielsweise zeigt es sich, dass nicht jede Technikerin und nicht jeder Ingenieur den Umstieg auf stereofone Produktion gleichermaßen bewältigte. Manch eine Berufskarriere brach mit den neuen Anforderungen jäh ab, in einer ähnlichen Weise, wie auch manche Schauspielerkarriere dem Umstieg vom Stumm- zum Tonfilm zum Opfer gefallen war.81 Die Implementierung stereofoner Technik in den Rundfunk jedenfalls kommt im Vergleich zu anderen Medien sehr spät, nämlich erst im Verlauf der 1960er-Jahre. Die Schallplattenindustrie beginnt bereits im vorhergehenden Jahrzehnt mit der Umstellung auf Stereo,82 ab 1954 sind stereo­fone Musik­ aufzeichnungen auf Magnetband erhältlich.83 Die technische Entwicklung der Stereofonie erlebt ihren ersten Höhepunkt sogar schon während des Zweiten Weltkrieges; AEG und BASF stellen 1942 die stereofone Magnetbandaufzeichnung vor.84 Als erster Tonfilm in Stereotechnik gilt Walt ­Disneys Zeichen­ trickfilm Fantasia von 1940.85 Die entscheidenden Patente für die stereofone Schallaufzeichnung gehen auf 1938 (Arthur Keller) und 1933 (Alan Blumlein) zurück.86 Und selbst da lag die erste stereofone elektroakustische Übertragung – die auf der Pariser Elektrizitätsausstellung – bereits über 50 Jahre zurück. Es war dann auch die Schallplattenindustrie, die darauf drängte, dass ihre Stereo-Platten auch übers Radio in voller Stereo-Qualität zu hören sein sollten. Der recht schwerfällige Apparat des öffentlich-rechtlichen Rundfunks sah zunächst wenig Nutzen in stereofonen Sendungen. In einem internen Papier des Instituts für Rundfunktechnik (IRT) aus dem Jahr 1962 klingt es fast ein wenig nach Resignation: »Man kann es als erwiesen ansehen, dass zahlreiche Schallplattenliebhaber im Abhören stereofoner Schallplatten einen erhöhten Genuss empfinden.«87 Aber interne Strukturen waren nicht das einzige Hin-

81 

Das schilderte mir in einem persönlichen Interview am 5. Mai 2017 die Ton­ technikerin und Ingenieurin Agnes Stitzenberger. Sie hat – auch als Personalrätin – in 47jähriger Betriebszugehörigkeit die Geschichte des Süddeutschen Rundfunks bzw. Südwest­rundfunks seit den späten 1960er-Jahren miterlebt. 82  Vgl. Brock-Nannestad 2009, S. 167. 83  Vgl. Hiebler 1999, S. 732. 84  Vgl. Brock-Nannestad 2009, S. 163. 85  Vgl. Brock-Nannestad 2009, S. 171; Hiebler 1999, S. 716. 86  Vgl. Brock-Nannestad 2009, S. 167; Alexander 2000, S. 60ff. 87  Stereofonie-Fragebogen, herausgegeben durch das IRT Hamburg am 30.8.1962.

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dernis. Eine Reihe technischer, wirtschaftlicher und nicht zuletzt medien­ politischer Anforderungen wurden an den Stereofunk gestellt. So war es nicht ganz so einfach wie beim Magnetband oder beim Lichtton des Kinos, zwei unabhängige Tonsignale absolut synchron zu übertragen. Erst das Pilottonverfahren erwies sich als geeignet. Dieses Verfahren, das im analogen Rundfunk bis heute angewandt wird, beruht darauf, dass nicht das ­linke und das rechte Signal übertragen werden, wie es zunächst nahe­läge. Stattdessen bildet man ein Summen- und ein Differenzsignal: links plus rechts einer­seits und links minus rechts andererseits. Radiogeräte bilden aus diesen beiden Signalen wieder Summe und Differenz und gelangen so zu den ursprünglichen beiden Signalen rechts und links.88 Das ist kein schieres Rechen­spiel; es geht darum, dass die alten Radiogeräte, die noch nicht auf Stereo umgerüstet waren, bei einer Stereosendung immer das Summensignal empfangen sollten und damit beide Seiten des Signals – nur eben auf einen Kanal zusammengemischt. Würden Monoradios nur eine der beiden Seiten empfangen, gingen den Hörern womöglich wichtige Elemente des Hörspiels oder der Musik verloren. Das Pilottonverfahren bewahrte so die Kompatibilität stereo­foner Sendungen mit monofonen Radiogeräten, es erfüllte die Forderung nach ›Monokompatibilität‹. Schließlich entsprach das Verfahren auch der medienpolitischen Forderung, dass auch bei zwei Übertragungs­kanälen nur eine Rundfunkfrequenz belegt werden dürfe. 1962 wurde das Pilotton­ verfahren schließlich in Deutschland und anderen europäischen Ländern eingeführt.89 1963 fing zunächst der Sender Freies Berlin (SFB) mit einem Sonderprogramm für die Funkausstellung an, und bis 1966 nahmen dann alle deutschen Rundfunkanstalten Stereosendungen ins Programm. Seit der technischen Einführung der Stereofonie hatte es also mehrere Jahre gedauert, bis Stereo zu einem Standard im Rundfunk wurde. Die neue Stereo-Ästhetik

Von Anfang an ist die Stereofonie von einzelnen, dann schließlich von immer mehr künstlerisch ambitionierten Radiopraktikern euphorisch begrüßt wor-

88 

Addiert man Summensignal (L+R) mit dem Differenzsignal (L–R), so erhält man (L+R)+(L–R)=L+L; subtrahiert man das Differenzsignal vom Summensignal, so erhält man (L+R)–(L–R)=R+R. Auf diese Weise lassen sich die beiden ursprünglichen Signale wieder voneinander trennen; es ist nur noch eine Anpassung der Signalstärke notwendig. 89  Vgl. Rindfleisch 1985, S. 123ff.

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den. Ein Pionier im deutschsprachigen Rundfunk ist der Feature-Autor Peter Leonhard Braun, dessen Hühner (1969) als das erste stereofone Feature gilt. An Brauns Arbeiten – so ordnet es der Feature-Autor Jens Jarisch ein – wird deutlich, dass der Wechsel von Mono zu Stereo nichts anderes war als eine Revolution. Mit der Stereofonie sei eine völlig neue Ausdrucksebene hinzu­ gekommen, die des Raums. Das ist mehr, als Erwin Meyer 1925 prognosti­ zierte. Sah der noch den Effekt der Stereofonie darin, dass das plastische Hören »wesentlich […] die musikalische Wirkung« erhöhe,90 so zeigt sich mit den Arbeiten Brauns: Der Stereo-Raum besitzt selbst narratives Potential. »Die Revolution, die Peter Leonhard Braun im Rundfunk angezettelt hat […] war nämlich keine technische, sondern eine erzählerische«,91 erläutert Jarisch. Er macht das am Beispiel einer Szene aus Brauns London-Report deutlich, einem Feature aus dem Jahr 1965. Die Szene existiert nicht nur in der ursprünglichen Mono-Fassung; Braun hat die Szene zwei Jahre später in einer Stereofassung nachproduziert.92 Es handelt sich um eine atmosphärische Aufnahme aus einem Londoner Beatclub, kombiniert mit einem Sprechertext, in dem der Sprecher seine Selbsterfahrung mit der lauten Musik und dem treibenden Rhythmus auf mimetische Weise zum Ausdruck bringt:93 Harte, rhythmisch hingeworfene Worte und Satzfetzen korrespondieren mit der akustischen Szene im Hintergrund. In der Monofassung bleiben die beiden Schichten der akustischen Montage deutlich voneinander getrennt und liegen als Folien flach aufeinander; nach Brauns eigener Aussage wirkt der »expressive Text idiotisch da oben drauf«.94 Die Stereofassung dagegen – nur die Atmosphäre ist stereo aufgenommen – erzeugt einen Raum, in dem der Sprecher akustisch situiert ist: »Selbst wenn ich die Musik nicht laut nehme, kann ich sie unglaublich breit hinsetzen, und habe also den Erzähler als einen Punkt mittendrin. Er ist also in einem akustischen Raum, und das war das Neue.«95 Das wirkt sich hörbar auf die Sprechhaltung aus. Aus dem staccato­

90 

Meyer 1925, S. 806. Jarisch 2010, S. 1. 92  Es handelte sich um eine Pseudostereo-Fassung. Helmut Kopetzky 2013 zitiert Braun: »In dem Ü-Wagen liefen zwei Aufnahmemaschinen, die das Gleiche mit einer ­winzigen Zeitverzögerung aufnahmen. Die Wirkung ist aus heutiger Sicht natürlich nicht überzeugend.« (S. 63f.) 93  Genauer gesagt: Der Sprecher, der nicht identisch ist mit dem Autor, bringt die ­Erfahrung des Autors Braun zum Ausdruck. 94  Zitiert nach Jarisch 2010, S. 12. 95  Zitiert nach Jarisch 2010, S. 12. 91 

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haften Hämmern aus der ersten Fassung wird der innere Monolog eines Menschen, der umgeben ist von Klang. Und als Hörer sind wir ganz nah dabei, sind ebenso umgeben vom immersiven Raumklang. Es findet ein Perspektivwechsel statt, wir sind Teil des Geschehens. Jarisch resümmiert: »Das Konzept geht plötzlich auf, als hätte eine erzählerische Form einen adäquaten technischen Ausdruck gesucht und im ersten Beispiel von 1965 noch nicht gefunden.«96 Die immersive Qualität stereofoner Klangkulissen bringt einen ungekannten Realismus, aber auch Hyperrealismus und Surrealismus97 ins Feature. Wirklichkeit sei seitdem tatsächlich zu hören, schreibt der Feature-Autor ­Helmut Kopetzky über diesen Umbruch, der »Soundknödel« der Monofonie habe sich entwirrt zur Transparenz stereofoner Hörpanoramas: »Wir können eintauchen in eine Klangwelt, die unserer realen Welt entspricht.«98 Jarisch preist die »Entdeckung von Unmittelbarkeit, von akustischer Sinnlichkeit, von einer plötzlichen Unabweisbarkeit von Geschehnissen, mehr noch, deren Erfahrbarkeit«.99 Damit sei der Hörer zum Ohrenzeugen geworden, zum emo­ tionalen Teilnehmer und Partner.100 Zwischen Mono und Stereo

Auch wenn die Stereofonie von künstlerisch ambitionierten Radioleuten euphorisch aufgenommen wird und sich als Standard für die Rundfunkübertragung etabliert hat, darf man ihre Rolle nicht überschätzen. Heute senden UKW-Sender zwar mit zwei Kanälen. Doch nicht jeder Radioempfänger besitzt tatsächlich zwei Lautsprecher, das sprichwörtliche Mono-Küchenradio ist nach wie vor weit verbreitet.101 Und: Wo zwei Lautsprecher vorhanden sind, ist keineswegs davon auszugehen, dass die Hörer sich ausschließlich in der Stereo-Hörfläche aufhalten, in dem Bereich also, in dem die Stereofonie überhaupt angemessen wahrge-

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Jarisch 2010, S. 13. Moore und Dockwray (2008, S. 220) betonen die Ironie: Obwohl die Stereofonie mit einem Realismus in Verbindung gebracht worden sei, nutzten gerade Musikproduzenten ihr illusionsbildendes Potential dazu, surreale Stereobilder zu erzeugen, die in der Realität nirgends existierten. 98  Kopetzky 2013, S. 63f. 99  Jarisch 2010, S. 17. 100  Vgl. Jarisch 2010, S. 19. 101  Frank Schätzlein 2005, S. 32, weist darauf hin, dass TV-Anlagen längst mit aufwendigerem und höherwertigem Soundequipment ausgestattet sind als Radiogeräte. 97 

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nommen werden kann. Metzger war noch davon ausgegangen, dass Radio­ hörer sich bewusst vor zwei Lautsprecher setzten, in die ideale Mittenposition, und den leeren Punkt zwischen den Lautsprechern anstarrten – diese Annahme hat sich als abwegig herausgestellt.102 Trotzdem gehen Produzenten von Radio (wie auch Musikproduzenten) dort, wo Stereo produziert wird, von exakt dieser Annahme aus – in Ermangelung eines alternativen Konzepts. Der Referenzpunkt für die Audioproduktion ist der Sweet Spot,103 der Abhörpunkt, der mit den beiden Lautsprechern ein symmetrisches Dreieck bildet; Studios sind auf diese Anordnung hin eingerichtet. Auch wenn Reporter vor Ort mit Stereomikrofonen arbeiten, verwenden sie standardisierte gerichtete Mikrofonierungstechniken, die anthropomorph die Blickrichtung des Reporters aufgreifen und so die angenommene Blickrichtung des Rezipienten hin zum Lautsprecherpaar vorwegnehmen. Die etablierten Stereoverfahren gehen davon aus, dass Hörer in idealer Position vor den Lautsprechern sitzen; diese zweifelhafte Annahme ist tief in Technologie und Praxis eingeschrieben. Tatsächlich entzieht sich die Rezeptionssituation von Radiohörern ganz wesentlich der Kontrolle der Produzenten. Allein durch den fehlenden visuellen Referenzpunkt, den fürs Kino die Leinwand darstellt, verliert die ideale Position an Stabilität: Die Ausrichtung auf den leeren Punkt zwischen den Lautsprechern ist auf einen sehr bewusst ausgeführten Akt angewiesen, und diese Ausrichtung zu halten, fällt nicht leicht.104 Sie verlangt die volle Konzentration auf das Hören, und zwar gerade auch auf das Hören auf den Raumklang und nicht nur auf den Inhalt des gesprochenen Textes.105 Es haben sich

102 

Vgl. Metzger 1942, S. 68. Vgl. Grajeda 2015. 104  Ewald Popp (2002), Fachmann für Lautsprecher, reflektiert 1928 darüber, wie ­wichtig für die Psychologie des Radiohörens der sichtbare Lautsprecher als ­Gegenüber wohl sein mag und welche Konsequenzen sich daraus für die Gestaltung von Laut­ sprechergehäusen und ihre Aufstellung im Wohnraum ergeben mögen. 105  Diese Beobachtungen werden ein Stück weit dadurch relativiert, dass Radiohören im Auto durchaus ein stabiles Dispositiv erzeugt. Im Auto existieren feste Sitzpositionen, und die meisten Autos sind heute mit Stereo-Autoradios ausgestattet. Die Abhörposi­ tionen sind dabei keineswegs identisch mit den idealen Positionen, von denen Radio­ produzenten ausgehen; der Fahrersitz befindet sich nicht in der Mitte, sondern weiter links. Die Ergebnisse der regelmäßigen Mediaanalysen zeigen jedes Mal aufs Neue, dass Autofahren zu den typischen Situationen gehört, in denen Radio gehört wird (vgl. zum Beispiel Gattringer/Klingler 2015, S. 404). Es ist eine Überlegung für Radiopraktiker, sich in der Gestaltung von Radioräumen auf die Hörsituation im Auto einzustellen. Gerade bei Autoradios lässt sich überdies beobachten, dass bei schlechterem Empfang das Stereo­ 103 

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aber Rezeptionspraktiken etabliert, die weit weg vom konzentrierten Zuhören liegen: Radiohören lässt sich mit anderen Tätigkeiten verbinden, mit Arbeiten im Haushalt, im Büro, mit Autofahren oder Joggen. Eine der ersten Wahrheiten, die man heute angehenden Radiopraktikern mit auf den Weg gibt, lautet denn auch: Radio ist ein Nebenbei-Medium.106 Während Tonproduzenten der gesamte Medienbranche im Hinblick auf stereofones Hören also den Idealfall annehmen, gehen gerade Radiopraktiker gleichzeitig davon aus, dass ihre Hörer sich völlig unkontrolliert im Raum bewegen, dass die räumliche Situation zwischen Hörer und Lautsprecher weder bekannt noch stabil ist – eine Situation, die Radioproduzenten ein gewisses Maß an Schizophrenie abverlangt. Zusammenfassung: Radio vs. Raum

Zusammenfassend lässt sich konstatieren: Das Verhältnis zwischen Radio und Raum ist ein gespaltenes. Einerseits hängt die Entwicklung des Radios ganz eng mit akustischen Techniken der Raumerforschung zusammen – ­R adio hat sich entlang einer Auseinandersetzung mit Raum entwickelt, und von Anfang an wird Radio vom Raum her gedeutet. Wenn Metzger sagt: »Im Wesen des Rundfunks liegt beschlossen die Überwindung des Raumes«107, betonte er damit, dass Radio Schall über weite Distanzen hinweg übertragen kann, indem es ihn in elektromagnetische Radiowellen transformiert. Über das Radio­gerät können Hörer hier hören, was dort, am Sender, gesprochen wird. Die Feststellung ist aber mehr als eine reine übertragungstechnische Beschreibung; sie hat auch eine hörbare, akustische Seite. Indem Radio von einem Raum zum anderen übertragen wird, verbindet es diese beiden Räume nicht nur, sondern lässt sie ineinander übergehen. Der Aufnahmeraum wird im Wiedergaberaum reproduziert, und Radiohörer bekommen eine Überlagerung beider Räume zu Gehör. Aus einer klangökologischen Perspektive dagegen wendet der Klangforscher R. Murray Schafer diesen Umstand ins Negative. Statt dass die bei-

signal nicht mehr ausgewertet werden kann und das Radio auf den stabileren Mono­ empfang umspringt. 106  Diese ziemlich platte Feststellung entfaltet ihren didaktischen Wert ­beispiels­weise dort, wo junge Radiojournalisten dazu angehalten werden, einfache, klare, deutliche ­Sprache zu verwenden. Eine differenziertere Auseinandersetzung mit Fragen nach Konzentration und Aufmerksamkeit beim Radiohören findet sich beispielsweise bei Carin Åberg 2001 und den Forschungen, die durch ihre Arbeit angeregt wurden. 107  Metzger 1942, S. 11. Vgl. Kapitel 1.

Psychologie und Physik

den Räume verbunden werden, so argumentiert er, werden sie voneinander getrennt. Radio schaffe diskontinuierliche Räume, »niemals zuvor konnten Laute im Raum verschwinden, um irgendwo in der Ferne wieder aufzutauchen.«108 Die Klänge tauchten in Räumen auf, für die sie schlicht nicht gemacht seien, zu denen sie nicht gehörten. Schließlich konstruiert Radio auch neue, eigene Räume, die es so noch nicht gab oder die es so in der Natur nie wird geben können. Die Stereofonie des Features und noch mehr die des Hörspiels beschränkt sich mittlerweile keineswegs auf die Übertragung der akustischen Verhältnisse aus dem Studio oder von einem bestimmten Ort. Mit modernen Produktionsmöglichkeiten – gemeint sind nicht erst die digitalen Systeme der 1990er- und 2000er-Jahre, sondern bereits die studiotechnischen Anlagen der analogen Magnetband-Zeit – lässt sich Raum auf vielfältige Weise manipulieren, verändern und gestalten. Die Radiopraxis reproduziert nicht nur akustische Räume, sondern sie stellt neue her. Dafür ist die Stereofonie zwar keineswegs zwingende Voraussetzung – auch der monofone Rundfunk bringt akustische Räume hervor –, doch sie erweiterte den ästhetischen Raum um eine neue Dimension. Auf der anderen Seite benötigt das Radio, wie ich dargelegt habe, nach seiner Entstehung noch mehr als 40 Jahre, um die längst bekannte Stereofonie in sein ästhetisches Repertoire aufzunehmen. Das Radio hat nicht auf Stereo gewartet, im Gegenteil, Stereo musste auf das Radio warten – und das, obwohl schon 1925 Meyer das stereofone Radio vorausgesehen hatte.109 In wie weiter Ferne das lag, wusste Meyer damals nicht. Keine zehn Jahre später jedenfalls war die Idee des stereofonen Rundfunks wieder zu einer Utopie geworden. Zwar nicht grundsätzlich vom Tisch, glaubte Arnheim dennoch nicht so recht daran: »Das Mikrofon aber ist ein Ohr – und daran ändert sich nichts, wenn wir zwei Mikrofone aufstellen; es sei denn, jedes Mikrofon bediente einen eigenen Sender, und wir hörten beide Sender mittels zweier Lautsprecher stereoakustisch ab.«110 Der Konjunktiv zeigt: Stereofonie ist für ihn kaum mehr als ein Gedankenspiel. Heute ist der stereofone Rundfunk über UKW zu einem technischen Standard geworden, doch nur ein Teil dessen, was im Radio zu hören ist, wird tatsächlich stereofon produziert. Moderationen und Ansagen werden praktisch

108  109  110 

Schafer 2010, S. 168. Vgl. Meyer 1925, S. 807. Arnheim 2001 [1936], S. 38.

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immer mit einem einzigen Mikrofon aufgenommen und stehen somit nur als Monosignal zur Verfügung.111 Dass Reporter ihre O-Töne, Geräusche und Atmosphären mit Stereomikrofonen einholen, ist nicht unüblich, aber auch keineswegs Standard; viele journalistische Beiträge sind Mono-Produktionen. Die Domänen der Stereofonie liegen vorrangig in der künstlerischen Produktion, im Hörspiel, im Feature und in der Musik. Das, was Radio im Alltag ausmacht, die Stimme des Moderators, Berichte von Reportern, Meldungen und Nachrichten, hat mit Stereofonie oft wenig zu tun. Radio scheint den Raum teilweise bewusst und mit großem Aufwand in Szene zu setzen, teilweise scheint es auf die Möglichkeiten des stereo­fonen Raums aber nicht nur zu verzichten, sondern diesen sogar zu vermeiden und zu umgehen. Der Wechsel von monofonen und stereofonen Anteilen im R ­ adio wird zu einem Spiel unterschiedlicher akustischer Räumlichkeiten, bei der Raumlosigkeit und Raumhaftigkeit einander abwechseln und sich überlagern. Um dieser rätselhaften Unentschlossenheit des Radios auf die Spur zu kommen, ist ein genauerer Blick auf die Arbeit von Reportern und Produzenten notwendig. Dabei wird sich herausstellen, dass die Kombination von räumlicher Kulisse und raumloser Stimme einen besonderen Reiz radiofoner Darstellungsformen und Ästhetiken ausmacht. Zuvor möchte ich jedoch den architektonischen Raum in den Blick nehmen, in dem viele Aufnahmen stattfinden, den Aufnahmeraum.

111 

In der modernen Signalaufbereitung im Hörfunk (»Soundprocessing«) ist eine künstliche Pseudo-Stereofonierung allerdings nicht unüblich, durch die monofone ­Stimmen breiter und größer erscheinen.

3 Raumakustik und Architektur Raumkonzepte des Hörfunks

3.1 Am Anfang der Raum: Schalldämmung im frühen Rundfunk Eine besondere Atmosphäre

Als sich das Radio ab etwa 1919 innerhalb weniger Jahre in vielen Ländern der Welt verbreitet, mit regelmäßigen und oft kommerziellen Programmen, entstehen an Hunderten von Orten Aufnahmeräume oder Sendesäle, Sprecherräume oder Rundfunkstudios, also Räume mit unterschiedlichen Bezeichnungen, aus denen heraus Musiker und Sprecher ins Mikrofon hinein singen, spielen und sprechen. Wer heute eine der beliebten Führungen durch ein Funkhaus mitmacht, wird vor allem durch diese besonderen Räume geführt. Interessant für Besuchergruppen sind weniger die Redaktionsräume oder Verwaltungstrakts; die Schreibtische, Computer und Aktenschränke dort sehen nicht unbedingt anders und spannender aus als in anderen Unternehmen und Branchen. Was das Funkhaus zu einem Besuchermagnet macht, sind gerade die Aufnahmeräume mit ihrer besonderen Atmosphäre. Diese besondere Atmosphäre entsteht zum Teil durch die Ausstattung der Räume – gerade die Hörspielstudios sind eigene kleine Welten mit Treppen, Fenstern, Türen, mit geschotterten Böden, Pflastersteinen oder gar Telefon-

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zellen, mit allerlei Dingen aus dem Alltag, die hier völlig aus ihren gewohnten Zusammenhängen herausgerissen erscheinen. Die Atmosphäre entsteht aber auch durch die besondere Akustik und den Klang, den diese Räume haben und der durch eine gezielte raumakustische Gestaltung entsteht. Wer sich durch Hörspielstudios führen lässt, wird eingefangen von einer ungewohnten Stille. Besucher achten bei solchen Gelegenheiten oft viel mehr als sonst auf das, was sie hören oder nicht hören, und verhalten sich dementsprechend ruhig. Sie erleben, dass die besondere Atmosphäre des Studios nicht nur einen besonderen Klang hat, sondern sogar ihr eigenes akustisches Verhalten beeinflusst. Ganz Ähnliches ist auch in den großen Sendesälen zu beobachten, in denen Rundfunkorchester ihre Aufnahmen machen. In Besuchergruppen finden sich immer wieder Einzelne, die in die Hände klatschen und dann auf den Nachhall lauschen, auf der Suche nach der akustischen Schönheit des Raums. Tatsächlich: Die Aufnahmeräume der Rundfunkanstalten sind akustisch bewusst und aufwendig gestaltet, und zwar bereits von den ersten Tagen des Radios an. In diesem Kapitel möchte ich zeigen, dass die akustische Gestaltung des Aufnahmeraums nicht nur dessen Klang verändert – und damit den Klang der Stimme oder der Musik, die im Radio zu hören ist. Die akustische Gestaltung des Raums nimmt auch Einfluss auf das Raumdispositiv des Radios, auf die Art also, wie Aufnahmeraum und Wiedergaberaum zusammenspielen. Radio bringt diese beiden Räume ja akustisch zur Überlagerung. Dass Radio die besondere Akustik des Aufnahmeraums dabei stärker oder weniger stark hörbar machen kann, gibt der akustischen Gestaltung dieses Raums Gewicht: Raumakustik wird zu einer klanglich wirksamen Variablen. Typischerweise kommt diese Variable bei der Übertragung von Musik zum Tragen. Ist bei einer Konzertübertragung die Akustik des Aufnahmeraums deutlich zu hören, so können Hörer die Musik in ihrer Vorstellung verorten – sie können sich vorstellen, an welchem Ort, in welchem Raum das Orchester spielt, können sich womöglich selbst in diesem Raum wähnen. Bei der Übertragung aus einem akustisch prägnanten Aufnahmeraum, so drückt es Arnheim aus, »klingt ein neuer, eigner, unsichtbarer Raum mit, die Sendung spielt sich auf einer ›Hörbühne‹ ab, deren Resonanzcharakter hörbar wird«.1 Daher verwende ich für solche Konstellationen die Bezeichnung ›Raumkonzept der Hörbühne‹ – das Raumkonzept, in dem Radio zu einem eigenen Raum wird, den Hörer als

1 

Arnheim 2001 [1936], S. 65.

Raumakustik und Architektur

Raum wahrnehmen, der die Akustik des eigenen Zimmers überlagert und in den es Hörer geradewegs hineinzieht. Alles, was zu hören ist, befindet sich akustisch auf dieser Hörbühne, und es entsteht ein kohärentes Hörbild, das sich wie ein echtes Konzert anhört. Tritt der Raum dagegen in den Hintergrund, wie es bei Sprachaufnahmen die Regel ist, spricht also zum Beispiel eine Stimme aus dem schallgedämmten Sprecherstudio, so lässt sich akustisch nicht ausmachen, wo sich der Sprecher befindet. Und noch mehr: Die raumlose Stimme nimmt, wenn sie schließlich aus dem Lautsprecher des Radiogeräts tönt, die Akustik des Wiedergaberaums an. Der Sprecher tritt akustisch in den privaten Bereich der Hörer ein, deshalb spreche ich hier vom ›Raumkonzept der Intimität‹.2 Im Raumkonzept der Hörbühne reproduziert das Radio die Akustik des Konzertsaals; im Raumkonzept der Intimität fügt sich die raumlose Stimme ins Wohnzimmer des Hörers ein, als ob der Sprecher selbst dort im Zimmer säße. Die eine Konstellation verbindet den Hörer mit dem öffentlichen Raum des Konzertsaals, die andere den Sprecher mit der privaten Sphäre des eigenen Zimmers; der Unterschied liegt gewissermaßen in der ›Richtung der Raumüberwindung‹. So nimmt die raumakustische Gestaltung des Aufnahmeraums Einfluss darauf, welche Funktion das Radio für die Hörer im Spannungsfeld von Öffentlichkeit und Privatheit ausübt. Dieses Spannungsfeld wurde im Laufe der ersten Jahre des öffentlichen Rundfunks nach und nach ausgelotet. Eben dieses Spannungsfeld kam auch schon in der Vorzeit des Rundfunks zum Tragen. Bevor der Funk zum Rundfunk wurde, war er ein Medium der, wenn nicht gerade privaten, so doch persönlichen Kommunikation zwischen zwei Gesprächspartnern – wobei das Gespräch von allen Funkern mitgehört werden konnte.3 Dann dachte man darüber nach, Radio als »Saalfunk« zu konzipieren, bei dem man sich ähnlich dem Kino gemeinschaftlich in einem öffentlichen Raum versammeln sollte, um Radio zu hören.4 Auch wenn sich das Konzept des Saalfunks nicht durchsetzen konnte, spielte das gemeinsame Hören vor allem in ländlichen Gegenden noch lange Zeit eine große ­Rolle;

2 

Arnheim beschreibt dieses Raumkonzept so, »daß für den in seinem Zimmer s­ itzenden Hörer […] der Klang irgendwo aus dem Raum, in dem der Hörer selbst sich aufhält, her zu tönen scheint; [dadurch] erhält also der Klang nur die Raumeigenschaften des Zimmers, in dem der Lautsprecher steht« (Arnheim 2001 [1936], S. 65f.). 3  Vgl. Häusermann 2009, S. 187. 4  Vgl. Lenk 1997, S. 59f.

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außerdem begannen bereits 1924 die ersten Gaststätten, Hotels, Cafés und Tanzdielen damit, ihre Räume mit Rundfunk zu beschallen.5 Was mit dem Rundfunk dann tatsächlich entstand, war eine Form von Kommunikation, bei der eine offizielle Stelle an alle sendet, aber einzelne Private erreicht: Radio­ senden geschieht im Kontext von Organisationen, Radiohören dagegen in der privaten Sphäre des eigenen Zuhauses.6 Diese Konzeption steht in engem Zusammenhang zur Gestaltung des Radioprogramms und seines Klangs. Die Klangästhetik des Rundfunks und das soziale Gefüge, in dem er operiert, stehen in wechselseitiger Beeinflussung. Aufnahmeraum 1923

Am 29. Oktober 1923, dem Tag, der heute als Geburtsstunde des deutschen Rundfunks gefeiert wird, hatte der Ingenieur Friedrich Weichart anstrengende Wochen hinter sich. Innerhalb gut eines Monats war aus der vagen Idee vom regelmäßigen Rundfunk plötzlich Ernst geworden. Zwar lag diese Idee schon den ganzen Sommer über irgendwie in der Luft – andere Länder sendeten ja bereits –, doch Deutschland erlebte gerade den Höhepunkt der Inflation, die Mittel waren knapp, und die Industrie zeigte sich mehr als zurückhaltend mit Investitionen in das riskante Unterfangen eines öffentlichen Rundfunks.7 Weichart arbeitete neben seinem Physikstudium schon seit Anfang 1920 im ›Senderlabor‹ des Telegraphentechnischen Reichsamtes in Berlin. Im Oktober 1922 übernahm er die Leitung des Labors. Zu den Aufgaben gehörten Prüfung und Qualitätskontrolle von Sendeanlagen und Bauteilen, später auch die Prüfung neuer Funktechnologien. Dabei ging es zunächst noch um U-Boot-Sender und Telegrafenstationen, später dann aber vor allem um die neuen Rundfunksender. Seine erste Ausbildung in Funktechnologie hatte er zu Beginn des Ersten Weltkrieges von Telefunken erhalten, noch vor der mili-

5 

Vgl. Lenk 1997, S. 75ff. Ähnliche Diskussionen gab es beim Fernsehen; vgl. Boddy 1993, S. 17ff. Siehe dazu auch Meyrowitz 1987, S. 77ff. 7  Bereits 1922 hatte die Deutsche Stunde, Gesellschaft für drahtlose Belehrung und ­Unterhaltung G.m.b.H offiziell die Konzession zur Verbreitung von Rundfunk erhalten. Im Sommer 1923 hatte sie sich unter Aufsicht von Reichspostministerium und Reichs­ innenministerium mit dem Vox-Konzern zusammengetan, um regelmäßigen Unter­ haltungsrundfunk auszustrahlen. Ab dem 10. Dezember 1923 übernahm die Funk-Stunde AG den Sendebetrieb, bis zum 29. März 1924 noch unter dem Namen Radio-Stunde. Vgl. dazu Giesecke 1930; Magnus 1930; außerdem Lerg 1980, S. 151ff. 6 

Raumakustik und Architektur

tärischen Grundausbildung. Sein Physikstudium hatte er im siebten Semester unterbrochen, um sich freiwillig zu den »Funkentelegraphisten« zu melden.8 Mitte September 1923 bekam Weicharts Labor den überraschenden und kurzfristigen Auftrag, einen Rundfunksender für Berlin zu bauen. Der Auftrag kam von Hans Bredow, Staatssekretär im Reichspostministerium, der sich später selbst als Vater des Rundfunks sehen sollte.9 Schon seit Jahren hatte er sich nachdrücklich für die Einführung des öffentlichen Unterhaltungsrundfunks stark gemacht und wollte das Projekt nun im Alleingang und ohne jede politische Unterstützung umsetzen. Deswegen durften auch keine Kosten entstehen, und Weichart musste die benötigten Teile aus dem Bestand des Labors zusammensuchen.10 Es gelang, und am Abend des 29. Oktober 1923 sendete die Deutsche Stunde ein einstündiges Konzert.11 Heute gilt Weichart als Rundfunkpionier, als Mann der ersten Stunde, als der Ingenieur, der die erste Rundfunksendung an diesem Oktoberabend möglich gemacht hat. Die Geschehnisse dieser Tage und Wochen sind längst Teil des Gründungsmythos des Rundfunks in Deutschland.12 In Weicharts Bericht, der erst sechs Jahre später veröffentlicht wird,13 ist ein elektrisches Schaltbild des Senders zu sehen, und es finden sich detaillierte Informationen über die verwendeten Vakuumröhren und Mikrofone.14 Und Weichart erzählt nicht ohne Stolz davon, unter welchem Zeitdruck er diesen histori-

8 

Seine Lebenserinnerungen hat Friedrich Weichart zusammen mit Karl Neumann zusammengestellt. Sie sind erst nach seinem Tode im Jahr 1997 erschienen. 9  Vgl. Lersch 2004, S. 30. 10  Jahrzehnte später erklärt der 80-jährige Weichart den energischen Vorstoß ­Bredows mit dessen Verbindung zu Telefunken, dem Unternehmen, das durch den Bau von Radioempfängern maßgeblich von der Einführung des allgemeinen Rundfunks ­profitieren sollte (vgl. Weichart 1973). 11  Weichart/Neumann 1997, S. 64, berichtet, dass die zuvor zurückhaltende ­Telefunken sehr schnell auf den Zug aufsprang und regelmäßig im Anschluss an die abendliche Sendung eine eigene Musiksendung ausstrahlte, und zwar auf der gleichen Frequenz, aber mit höherer Tonqualität. Die Ansage lautete: »Achtung! Achtung! Hier ist die Firma TELEFUNKEN. Wir machen Versuche.« 12  Weichart selbst erzählt die Geschichte an mehreren Stellen in unterschiedlicher Ausführlichkeit, zum Beispiel in Weichart 1930, S. 46ff. und in Weichart/Neumann 1997, S. 59ff. Vgl. außerdem Diller 1998, S. 198. Zudem findet sie sich in etlichen historischen Studien zum Rundfunk wieder. 13  Weichart 1930. 14  Aus sendertechnischer Sicht war die Anlage keineswegs auf der Höhe der Zeit, wie Goebel (1950, S. 363) berichtet. Auch hierin zeige sich der provisorische Charakter des Unternehmens.

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schen Schritt zu meistern hatte, wie kurzfristig noch ein geeigneter Aufstellungsort für die Anlage gefunden werden musste, wie sehr Bredow ihn am Vormittag des 29. Oktober überrumpelte mit dem Befehl, bereits am selben Abend mit der ersten Sendung zu beginnen. Zwei kurze Absätze des Berichts handeln auch vom Aufnahmeraum: Unterdes wurde ein Aufnahmeraum vorbereitet. Ein Zimmer im dritten Stock wurde ausgeräumt und durch Wolldecken etwa im Verhältnis 2:1 geteilt. Der größere Teil dieses Raumes, der zur Abdämpfung des Schalles zunächst locker mit violettem Kreppapier behängt wurde, war als der eigentliche ›Aufnahmeraum‹ gedacht; der kleinere Teil bot Platz zur Aufstellung der notwendigen technischen Einrichtungen. Ein mit zwei Adreß­ büchern belegter Stuhl diente zur Aufstellung der Mikrophone.15

Und weiter: Schon nach wenigen Tagen wurde die Herstellung eines neuen, gepolsterten Aufnahmeraums (es war das Nebenzimmer) in Angriff genommen. Der Fußboden war vollkommen ausgelegt mit rotem Läuferstoff.16

Zwei Dinge fallen auf: Offensichtlich erachtete Weichart es als notwendig, trotz Geld- und Zeitmangels, den Aufnahmeraum zu polstern, Stoff zu verlegen, Wolldecken und Krepppapier aufzuhängen, um den Schall abzudämpfen. Und: Offensichtlich war diese Maßnahme für Weichart so selbstverständlich, dass er auf jegliche weiterführende Erläuterung verzichtete und diesen Aspekt der Vorbereitungen nur en passant erwähnt.17 Dass der erste Aufnahmeraum des deutschen Rundfunks bereits ein akustisch gestalteter Raum ist, muss nicht überraschen. Weichart kann zu diesem Zeitpunkt vermutlich auf eine Reihe eigener Versuche zurückblicken. Doch dass er keinerlei Erklärungen abgibt, deutet darauf hin, dass die Schalldämmung nicht das Ergebnis seiner eigenen Experimente ist, sondern dass er an eine bereits etablierte Praxis anknüpft, an eine Praxis zur Verringerung des

15 

Weichart 1930, S. 48. Weichart 1930, S. 50. 17  Auch in seiner Autobiografie erwähnt Weichart/Neumann 1997, S. 63, die akustischen Maßnahmen, ohne sie näher zu erläutern oder gar zu begründen. Gerhart Goebel 1950, S. 361, berichtet, dass auch der »Besprechungsraum« am Sender Königs Wuster­ hausen, der bereits früher im Jahr schon für Versuchssendungen verwendet wurde, mit Militärdecken gedämpft worden sei. 16 

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Nachhalls in geschlossenen Räumen. Diese Praxis scheint selbstverständlich gewesen zu sein. 73 Vom Eigenklang des Raums

Die Verringerung des Nachhalls ist der unmittelbare klangliche Effekt der Raumdämmung. Nachhall ist ein akustisches Phänomen, das sich in jedem Raum zeigt – nicht nur in geschlossenen Räumen, sondern überall dort, wo Schall auf Hindernisse trifft und von ihnen zurückgeworfen wird, seien es Mauern, Bäume oder schlicht der Boden.18 Die reflektierten Schallwellen treffen wieder auf Hindernisse und werden abermals reflektiert. In einem gewöhnlichen Zimmer werden die Schallwellen innerhalb von einer Sekunde bereits hundert- und tausendfach zwischen den vier Wänden, zwischen Boden und Decke hin- und her geworfen, und der Raum füllt sich mit dem sogenannten Raumschall, einem Gemenge aus Schallwellen, allesamt Reflexionen des einen ursprünglichen Schalls.19 Gleichzeitig nimmt die Energie und damit die Lautstärke der Schall­wellen durch den Luftwiderstand mit der Zeit ab, und auch jeder einzelne Reflexionsvorgang verschluckt noch einmal Energie, so dass der Raumschall nach und nach leiser wird. Was entsteht, ist das, was wir Nachhall nennen. Der Nachhall ist also eine Vertausendfachung des eigentlichen Lauts, die ständige Wiederholung des einen Schallereignisses, die langsam abebbt. Der Nachhall trägt den Klang des Originals in sich, wird aber maßgeblich davon beeinflusst, auf welche Hindernisse die Schallwellen treffen, welche Form die Hindernisse haben, aus welchem Material sie bestehen, wie sie angeordnet sind. Ist der Raum geschlossen? Wie groß und wie hoch ist er, welche Form hat er? Wo­raus bestehen die Wände, sind Tapeten daran oder gar schwere Vorhänge? Ist der Raum leer, oder befinden sich darin Möbel, Säulen, Menschen? Oder handelt es sich überhaupt nicht um einen geschlossenen Raum, sondern einen offenen Hof, eine Straße mit Häuserfronten, einen Wald? Von all diesen Faktoren ist Schallausbreitung abhängig. Mal werden Schallwellen so reflektiert, wie ein Spiegel

18 

Einen kurzen Überblick über den Nachhall als akustisches Phänomen bieten ­ ugoyard/Torgue 2006, S. 111ff. Darüber hinaus wird das gesamte Feld der Raum­akustik A in etlichen Überblickswerken detailliert beschrieben und erklärt, zum Beispiel in Hall 2008 (bezogen auf musikwissenschaftliche Fragen), in Dickreiter 1997 (mit Fokus auf ­Fragen der Elektroakustik) und in Blauert 1974 (im Zusammenhang der Psychoakustik). 19  Vgl. Kapitel 2.2.

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ein scharfes Bild seines Betrachters zeigt, oder der Schall wird gedämpft, zerstreut und in seiner Klangfarbe verändert, so wie unser Spiegelbild in einer Fensterscheibe oder in der unruhigen Wasseroberfläche eines fließenden Baches verzerrt und undeutlich wird und schließlich überhaupt nicht mehr zu erkennen ist: der Nachhall als Schemen des artikulierten Lauts. All diese Faktoren, die architektonische Umgebung samt Raumbegrenzungen, Oberflächen und Materialitäten, formen den Nachhall in seiner Klangfarbe, aber auch in seinem Zeitverlauf und seiner Länge, der sogenannten Nachhalldauer.20 Für den Höreindruck ist vor allem das wichtig, was in den ersten Millisekunden passiert: Die Lücke zwischen der allerersten Schallwelle, die noch direkt und ohne Reflexion unser Ohr erreicht, und den ersten, den sogenannten ›frühen‹ Reflexionen gibt uns Aufschluss darüber, wie groß der Raum ist. Jeder Raum entwickelt so seinen ihm eigenen Nachhall – und umgekehrt: Der Nachall charakterisiert den jeweiligen Raum, stellt eine akustische Signatur des Raums dar. Das Zeitphänomen Nachhall ist maßgeblicher Indikator für den akustischen Charakter des Raums – eine Störung der allzu simplen Vorstellung von der Opposition von Raum und Zeit. Das Gehör kann all diese Parameter im Nachhall sehr gut erkennen und interpretieren. Ob wir uns in einem gekachelten oder ausgepolsterten Raum befinden, ob die Decke eines großen Raums sehr hoch ist wie bei einer Kathedrale, oder sehr niedrig wie in einer Tiefgarage, ob ein Konzertsaal leer oder voller Menschen ist – das alles kann unser Gehör unabhängig von visuellen Reizen erfassen. Insofern trägt das Gehör zurecht den Ruf, das Organ der räumlichen Orientierung zu sein. Insbesondere kleinere Räume sind Resonanzräume, die durch Form und Größe bestimmte Frequenzen, also einzelne Tonhöhen besonders betonen. Diese sogenannten Eigentöne entwickeln sich dadurch, dass sich zwischen parallel verlaufenden Wänden Schallwellen der entsprechenden Wellenlängen besonders stark aufbauen können. Instrumentenbauer nutzen das aus; der Korpus einer Gitarre, einer Geige oder eines Klaviers ist ein Resonanzraum,

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Die Nachhalldauer oder Nachhallzeit wird spätestens seit Carl Eyrings ­Erfindung eines elektrischen Messverfahrens um 1930 als die Zeit bestimmt, in der die Schall­ energie im Raum nach einem plötzlich abbrechenden Schall auf ein Millionstel gesunken ist (vgl. Thompson 2004, S. 289).

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der den Schall der Saiten durch seine spezifische Form in besonderer Weise verstärkt und so den Klang des Instruments maßgeblich formt.21 Der Künstler Alvin Lucier hat die Wirkungsweise von Raumresonanzen in seinem Stück I am sitting in a room 1969 eindrücklich demonstriert. Lucier spielt darin die Aufnahme eines von ihm gesprochenen Textes wieder und wieder über Lautsprecher in einen Raum ein. In jedem Durchlauf nimmt er den Schall über ein Mikrofon im Raum auf und verwendet diese neue Aufnahme dann für den nächsten Durchlauf. Lucier erzeugt so eine Schleife, in der sich die Raumakustik als verfremdendes Element rekursiv immer und immer wieder dem Material aufprägt. Mit jedem Durchlauf wird die Wirkweise des Raums als Filter ein klein wenig stärker. 1980 produzierte Lucier in seinem eigenen Wohnzimmer eine weitere Fassung mit insgesamt 32 Wiederholungen, die zehn Jahre später als CD erschien. Im Begleittext zur CD schreibt Nicolas Collins: By the end we cannot distinguish where one word ends and another begins; the text is completely unintelligible. What was once a familiar word has become a whistled three-note motif; what was once a simple declarative sentence has become a curiously tonal melodic fragment; what was once a paragraph of unaffected prose has become music.22

Lucier hat es geschafft, den Raum an sich hörbar zu machen; was am Ende zu hören ist, trägt nur noch einen unkenntlichen Rest einer Spur des Originals in sich, der Raum hat die Sprache geradezu ausgewaschen. I am sitting in a room zeigt den Raum im Klang. Aufnahmeraum als akustische Heterotopie

Raumakustik ist aber nicht nur Beiwerk zum Klang des Schalls; Raumklang ist vielmehr untrennbar mit dem Hören verbunden: Eine Stimme, der man zuhört, ist immer eine Stimme im Raum, Musik erklingt im Raum, und Raum klingt stets mit Musik und Stimme mit. Der umgebende Raum kann gesehen werden als eine Erweiterung der Stimme oder des Instruments, als ihr Korpus. Musiker wissen das sehr genau und stellen sich beim Musizieren in ho-

21 

Eine Beschreibung der akustischen Resonanz liefern Augoyard/Torgue 2006, S. 99ff. 22  Booklet zur CD ALVIN LUCIER, I am sitting in a room (for voice on tape): Collins 1990. Die drei Töne, die Collins hier anspricht, entstehen durch die drei Dimensionen des architektonischen Raums.

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hem Maße auf den Raum ein, in dem sie auftreten.23 Indem Ingenieure wie Weichart einen Raum bewusst akustisch gestalten, verändern sie nicht nur seinen Klang, sondern auch den der Stimme, der Musik, all dessen, was in diesem Raum erklingen soll. Im Alltag existiert kein akustisches Ereignis ohne Raum. Es gibt wenige Orte, an denen kein Nachhall zu hören ist. Das oft genannte Paradebeispiel dafür ist ein schneebedecktes Feld in den Bergen. Gerade Neuschnee absorbiert Schall beinahe vollständig, so dass auch am Boden keine Reflexionen entstehen. Das künstliche Pendant dazu sind die mit meter­dicken Schaumstoffelementen ausgestatteten Messräume akustischer Labore.24 R. Murray Schafer berichtet, wie unnatürlich und belastend der Aufenthalt in einem sogenannten schalltoten Raum sein kann, und vergleicht ihn mit dem ersten Blick Galileis durch ein Teleskop in die Unendlichkeit des Weltraums: Wenn man einen echolosen und vollkommen schalldichten Raum betritt, spürt man etwas von demselben Schrecken. Man spricht, und die Laute scheinen einem von den Lippen auf den Boden zu fallen. Man horcht angestrengt auf ein Zeichen dafür, daß die Welt noch lebt.25

Auch der Feature-Autor Helmut Kopetzky kennt die Fremdheit des schall­ toten Raums: Wir alle sind daran gewöhnt, dass unsere Stimmen von den Wänden eines Raumes reflektiert werden. Deshalb klingen sie im »Schalltoten« ganz fremd und dünn, akustisch »trocken«, »wie in Watte«. Wir fühlen uns körperlos, weil die Hundertstel-Sekunden-Echos fehlen, die auf die Geräusche unseres Körpers antworten. Wir fehlen uns. Wir empfinden »Stille« – aber eine drückende; eine leblose, die wehtut. Leben braucht Resonanz.26

In jeder anderen Umgebung, in der wir uns aufhalten, gehört der Nachhall immer dazu. Auch wenn wir ihn selten bewusst wahrnehmen, hören wir jede Stimme und jedes Geräusch zusammen mit dem zugehörigen Nachhall. Unsere Wahrnehmung wird insbesondere dann darauf gestoßen, wenn die Nachhallzeiten sehr lang werden, wie zum Beispiel in großen Kirchen, Turnhallen oder Tiefgaragen. Insofern ist der Raumklang Teil des Realitätsempfindens, und Raum ohne eigenen Raumklang erzeugt eine künstliche Welt. Da der 23  24 

Vgl. Steinke 2014, S. 18f. Zum sogenannten schalltoten Raum siehe Hall 2008, S. 340f. 25  Schafer 1971, S. 15. 26  Kopetzky 2013, S. 327.

Raumakustik und Architektur

Raumklang nicht allein als Klangobjekt existiert, sondern erst dann erklingt, wenn jemand in diesem Raum spricht, wenn ein Laut in diesem Raum entsteht, gehören Raumklang und Stimme immer eng zusammen. Insofern erscheint die Stimme, die in der künstlichen Welt des schalltoten Raums erklingt, selbst als eine künstliche.27 In Weicharts erstem schallgedämmtem Rundfunkstudio wird dieser Zusammenhang zwischen Raum und Schall gestört. Poröse und weiche Flächen im Innenraum verhindern Reflexionen an den Wänden, hängende Decken hemmen die ungestörte Ausbreitung des Schalls, und es kann sich nur ein sehr geringer Raumschall ausbilden, der sehr schnell wieder verebbt. Es wird insgesamt sehr viel leiser, und die akustischen Charakteristika gehen verloren. Der Raum verschwindet aus unserer auditiven Wahrnehmung, der Schall wird ›enträumlicht‹. Das Studio wird so zu einem raumlosen Raum, zu einem Raum, der seine eigene Räumlichkeit verbirgt: das Rundfunkstudio als akustische Heterotopie. Mit diesem Begriff möchte ich die Eigenschaft und den Zweck von schallgedämmten Räumen zum Ausdruck bringen, sich selbst akustisch zum Verschwinden zu bringen und damit der Aufnahme die Möglichkeit einzuräumen, die Akustik eines anderen Raums zu übernehmen.28 Das Raumproblem der Audiotechnik

Was den Eindruck einer Verarmung macht, war doch bewusst herbeigeführt worden. Auch wenn Weichart selbst sich nicht weiter zu den Gründen äußert, liefern doch mehrere Ingenieure, die sich in der Folgezeit mit dem Bau von Aufnahmeräumen befassen, einige Hinweise, warum man Aufnahmeräume akustisch gestaltet und gedämmt hat. Sie tun das bereits mit dem Blick von Historikern, denn bis zum Ende des Jahrzehnts hat sich die Praxis der Schalldämmung schon verändert.

27 

Die raumlose Stimme lässt sich vergleichen mit dem »Acousmêtre« des Films, mit der Stimme, deren Körper noch nicht zu sehen war. Michel Chion weist dieser ­Stimme ohne Körper und ohne Ort im Filmbild all jene Eigenschaften zu, die sich aus ihrer ­Differenz zum Menschlichen und Natürlichen ergeben: »the ability to be everywhere, to see all, to know all, and to have complete power. In other words: ubiquity, panopticism, omniscience, and omnipotence.« (Chion 1999, S. 24.) 28  Théberge 2004, S. 766, bringt den Aufnahmeraum mit Marc Augés Konzept des Nicht-Ortes in Verbindung. Der Begriff Heterotopie wird dagegen oft mit Michel Foucaults sozialphilosophisch geprägtem Konzept von Orten verbunden, die in besonderer Weise außerhalb des gesellschaftlichen Lebens stehen (vgl. Foucault 2013).

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So führt der Berliner Ingenieur Günther Lubszynski das Bedürfnis zur Schalldämmung im Jahr 1930 rückblickend auf technologische Einschränkungen zurück: Der begrenzte Frequenzgang früher Mikrofone und Verstärker habe den Nachhall übermäßig betont, so dass ein »sonst so schöne[r] Saal gänzlich unbrauchbar« für die Rundfunkübertragung sei; man sei daher gezwungen gewesen, »jeden Senderaum übermäßig stark mit dicken Stoffen zu dämpfen«.29 Mit der Verbesserung der Übertragungstechnik habe sich allmäh­ lich auch wieder eine Orientierung hin zu schöneren und angenehmeren Räumen ergeben – allerdings mit einer zeitlichen Verzögerung: »Wir hatten uns an den toten Klang mit der Zeit vollkommen gewöhnt und wurden erst durch Übertragungen aus Theatern und Konzertsälen darauf aufmerksam gemacht, wieviel angenehmer ein Raum klingt, der etwas Nachhall hat.«30 Erwin Meyer dagegen liefert auf der Grundlage seiner Studien zur Stereofonie eine andere Erklärung. Es gebe eine strukturell bedingte Überbetonung des Nachhalls im monofonen Rundfunk: Das stereoakustische Hören spielt wahrscheinlich auch bei der Frage der elektro-akustischen Übertragung der Nachhallwirkung eines Raumes eine gewisse Rolle. Es scheint, daß der Eindruck des Nachhallens, abgesehen von der absoluten Zeitdauer, nicht bloß durch die verschiedenen Stärken, sondern wesentlich auch durch die verschiedenen Richtungen der direkten und der den Nachhall bildenden reflektierten (indirekten) Schallstrahlen bedingt ist.31

Der Raumschall, der durch sein Abklingen den Nachhall bildet, verteilt sich im ganzen Raum und umgibt den Hörer von allen Seiten her – Grundlage für sein Konzept des ›plastischen Hörens‹. In dem Augenblick also, in dem nur noch ein einzelnes Mikrofon den gesamten Schall aufnimmt, dieser gesammelte Schall dann über einen einzigen Kanal übertragen und über einen einzigen Lautsprecher abgestrahlt wird, stellt sich für Hörer auch nur eine Schallrichtung ein, nämlich die des Lautsprechers. Direktschall und Nachhall fallen punktförmig aufeinander, der Nachhall erscheint lauter. Ein Akustiker erläutert in The Wirless World: »This effect can be checked for oneself by stopping up one ear and noting the apparent increase in reverberatioin.«32 Folglich fordert Meyer für den Studiobau: »Da die Schallübertragung einohrig ist, 29  30 

Lubszynski 1930, S. 246. Lubszynski 1930, S. 246. 31  Meyer 1927, S. 543. 32  Foster 1937, S. 629.

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also der direkte Schallstrahler sich von den den Nachhall bildenden reflektierten Strahlen durch Mikrophone geringer Richtwirkung nicht unterscheiden läßt, muß die Nachhallzeit in den Senderäumen geringer als im wirklichen Konzertsaal sein.«33 Dieser Effekt tritt besonders deswegen zutage, weil die Mikrofone aus der Anfangszeit des Rundfunks keinerlei Richtwirkung besaßen, sondern den Schall aus allen Richtungen gleichmäßig aufnahmen; sie hatten die Richt­ charakteristik einer ›Kugel‹. Erste ›gerichtete‹ Mikrofone kommen ab etwa 1930 auf,34 doch für Meyer sind sie »nur ein mäßiger Ersatz für eine zweiohrige Übertragung«.35 Gerade wegen der ungerichteten Mikrofone hat sich eine weitere Strategie der Enträumlichung durchgesetzt: Indem man das Mikrofon näher an den Sprecher oder an die Musiker heranstellte, ließ sich der vorhandene Raumschall zugunsten des direkten Schalls stärker ausblenden. Der BBC-Ingenieur Sir Noel Ashbridge kritisiert diese Praxis, insbesondere dann, wenn sie allein zur Schadenbegrenzung eingesetzt wird: It will usually be found that when studio acoustics are bad, the musician or engineer who is responsible for the balance falls into the habit of placing the microphone too close to the performers in order to exclude, as far as possible, the unpleasant effects of the reflected sounds.36

Vor allem bei Orchesteraufnahmen sei so keine ausgewogene Balance zwischen den einzelnen Instrumenten mehr zu erreichen. Von toten Räumen zu schönen Sälen

Ahsbridge konnte auf einige Erfahrung im Studiobau zurückblicken. Er hatte den Neubau des Broadcasting House in London 1929 bis 1931 als Chefingenieur der BBC begleitet. Insgesamt 22 Sendesäle wurden in dem Gebäude, das bis heute in Betrieb ist, untergebracht.37 Er weist schließlich auf die ele-

33 

Meyer 1934, S. 106. Vgl. Wicke 2008, S. 17. 35  Meyer 1938, S. 184. 36  Ashbridge 1931, S. 539. 37  Neben Ashbridge beschreiben auch Kirke und Howe 1936 detailliert den Londoner Neubau mit seinen Sendesälen und deren raum- und bauakustischen Besonderheiten. Das Rundfunk-Jahrbuch 1933 vergleicht ihn mit dem Berliner Haus des Rundfunks, das etwa zur gleichen Zeit entstand (vgl. N.N.: Rundfunkhäuser in Berlin und London 1933). 34 

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mentare Tatsache hin, dass das Dispositiv des Radios ja zwei Räume akustisch zur Überlagerung bringt, den Aufnahmeraum und den Wiedergaberaum. Der Nachhall beider Räume summiert sich. Aus diesem Grund sei es sinnvoll, bereits bei der Aufnahme stets weniger Raumklang aufzufangen und zu übertragen. It is then fairly obvious that, when broadcasting, the same orchestra should play in a studio having this reverberation period [the reverbera­tion period of the appropriate concert hall], or one slightly less to compensate for the possibility of reverberation being added at the listening end.38

Diese scheinbar so simple wie sinnfällige Logik übersieht allerdings die Tatsache, dass die beiden Räume womöglich völlig unterschiedlich klingen, dass zwei kleine Räume, die sich überlagern, nicht zu einem großen Raum werden. Das bedeutet, dass der Raumklang eines Wohnzimmers nicht den reduzierten Raumklang eines großen Aufnahmeraums kompensieren kann. Wenn diese drei Ingenieure über schönen und besseren Klang nachdenken, haben sie offenbar nur die Übertragung von Musik im Blick. Weder Lubszynski noch Meyer differenzieren an diesen Stellen zwischen Musik- und Sprachübertragungen, doch beide vergleichen den Klang des Studios mit dem des Konzertsaales. Mit ihrer Forderung nach längerer Nachhalldauer geht es ihnen offenbar allein um Musik. Nur Ashbridge geht im weiteren Verlauf seiner Beschreibung des Londoner Funkhauses auch auf die Raumakustik von Sprecherräumen ein. Seiner Ansicht nach folgt die Übertragung von gesprochener Sprache völlig anderen Ansprüchen, anderen Konzepten, einer anderen Ästhetik, und im Sprecherraum hat der Nachhall seines Erachtens schlicht nichts zu suchen. Diese Ansicht basiert nicht nur auf der Annahme, dass Musik als die ›schöne Kunst‹ den Nachhall zu ihrer Ästhetisierung benötige, während es bei der Sprache nur auf Verständlichkeit ankomme. Ashbridge hat einen konzep­ tionellen Unterschied zwischen Musik und Sprache im Blick, der das Raumdispositiv des Radios mit einbezieht. Im Fall von Musik, legt Ashbridge dar, soll der Zuhörer virtuell in den Konzertsaal hineingezogen werden, während der Radiosprecher an den Küchentisch oder ins Wohnzimmer des Hörers ver38 

Ashbridge 1931, S. 538. Auch Meyer, der Ashbridge gelesen hat, greift diese ­ rgumentation auf: »In der Wiedergabe setzen sich der Nachhall des Aufnahme- und A des Wiedergaberaums zusammen, so daß die effektiv hörbare Nachhallzeit vergrößert wird.« (Meyer 1934, S. 106.)

Raumakustik und Architektur

setzt werden soll.39 Im ersten Fall erzeugt das Radio einen eigenen, virtuellen Raum für den Hörer, im anderen Fall fügt es sich unmerklich in die bestehende akustische Umgebung des Hörers ein. Im ersten Fall erscheint den Hörern der Aufnahmesaal als dominant hörbarer Raum, im anderen Fall das Wohnzimmer. Im ersten Fall wird das Raumkonzept der Hörbühne wirksam, im zweiten Fall das der Intimität. Da Radiopraktiker nun kaum Einfluss auf die Rezeptionssituation der Hörer haben, wird die Raumakustik des Aufnahme­ raums zum maßgeblichen Steuerungsinstrument für die Raumkonzepte. Dieses Steuerungsinstrument gelangt in dem Augenblick in die Hände der Radiopraktiker, in dem neue, aufwendige Funkhausneubauten entstehen, die sich von dem absoluten Diktum des schallgedämmten Aufnahmeraums lösen. Damit setzt ein Paradigmenwechsel ein sowohl für den Studiobau als auch für die Klangästhetik des Rundfunks.

3.2 Raumkonzept für Musik: Radio als Hörbühne Moderne Sendesäle ab 1930

Am 8. Januar 1931 geht mit einem europaweit übertragenen Brahms­konzert der große Sendesaal im Neubau der Nordischen Rundfunk AG (Norag) in Hamburg in Betrieb. Das Konzert ist nicht nur über den Deutschland­sender im gesamten Deutschen Reich zu empfangen, sondern über die dortigen Rundfunkgesellschaften auch in Polen, Ungarn und Jugoslawien, in der Tschecho­ slowakei sowie der Schweiz. In der Programmzeitschrift Die ­Norag ist wenige Tage später zu lesen: »Die Übertragung kann, vom rein akustischen Standpunkt aus betrachtet, als außerordentlich gelungen bezeichnet werden.«40 Der große Sendesaal bildet mit seiner großen Welte-Orgel das Herzstück des Funkhauses, er hat die aufwendigste akustische Ausstattung, die bis dato

39 

Vgl. Ashbridge 1931, S. 537. Die Norag 8(1931), Nr. 3, 18. 1. 1931, S. 1, zitiert in Wagner 2011, S. 55. Wagner sieht darin ein Ereignis, das die lokale, regionale und internationale Bedeutung des ­neuen Funkhauses in Hamburg offenbart, das Funkhaus als »Gehirn einer Stadt, eines ­Abschnitts, ja darüber hinaus, eines Teils der Welt« – so zitiert Wagner den Schriftsteller Herbert Eulenbert. 40 

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je für ein Rundfunkstudio entworfen worden ist. Der Saal ist geradezu eine Maschine. Seine Rückwand lässt sich hydraulisch verschieben, wodurch sich das Volumen des gesamten Raums verändert. Die Decke oberhalb des Chorpodiums ist ebenfalls variabel, sie kann nicht nur abgesenkt und angehoben, sie kann sogar schräggestellt werden und den Schall so in den Raum hinein lenken. Das gesamte Chorpodium lässt sich außerdem mit Vorhängen vom eigentlichen Saal abtrennen. Das Orchesterpodium wiederum steht als Ganzes auf einer Hydraulik und lässt sich in einen Graben hinabsenken. Dort befindet sich auch eine Öffnung zu einem eigenen kleinen Orgelwerk hin. Zu beiden Seiten längs des Saales führen Galerien, die durch versenkbare Wände zum Saal hin geöffnet oder geschlossen werden können – wiederum hydraulisch und ferngesteuert –, wodurch sich »besondere Klangwirkungen«41 erzielen lassen und auch wieder das Volumen des ganzen Raums angepasst werden kann. Diese versenkbaren Wände sind zudem doppelt ausgeführt: Je nach Bedürfnis zeigen sie eine schallharte Oberfläche aus Holztafeln oder eine absorbierende Filzoberfläche; dementsprechend werden eher tiefe oder eher hohe Frequenzen gedämpft.42 Gut sieben Jahre zuvor hatte Friedrich Weichart Krepppapier und Pferde­ decken an die Wände eines kleinen Dachgeschosszimmers gehängt. Nun betrieb man für einen Aufnahmesaal all diesen technischen und finanziellen Aufwand. Wofür war all das gut? Die moderne Technik ermöglichte es, in einem einzigen Sendesaal unterschiedlichste akustische Räume herzustellen, je nach Anwendungsfall, nach Genre, Orchestergröße oder Instrumentierung, je nachdem, welchem Raumkonzept die Übertragung folgen soll. Der Saal verdeutlicht in klarster Weise den Paradigmenwechsel, der inzwischen stattgefunden hatte. Aufnahmeräume mussten nicht mehr möglichst trocken sein, Nachhall war nun wieder erlaubt, aber er musste der Kontrolle der Produzenten unterliegen. Kurt Klose, Partner im Architekturbüro Puls & Richter, hat den Norag-Bau entworfen: Sollte man hier das einfache alte Rezept befolgen und jeden Widerhall in dicken Vorhängen, Wandbespannungen und Teppichen einfach begraben? Es ist von Hans Bodenstedt mutig der andere Weg gewählt und ver-

41 

N.N.: Neue Rundfunkhäuser 1932, S. 46. Der große Sendesaal wird in zeitgenössischen Berichten beschrieben, unter ­anderem in Klose 1930 sowie in N.N.: Neue Rundfunkhäuser 1932. Vgl. außerdem Wagner 2011. 42 

Raumakustik und Architektur sucht worden, einen Raum zu schaffen, der die Töne ausschwingen läßt, der in gewissem Maße mitklingt, der abstimmbar ist.43

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Ein »abstimmbarer« Raum: Genau diese Idee drückt sich im großen Sende­ saal aus. Die Raumakustik ist wandelbar. Den Raumklang zuzulassen bedeutet eben nicht, die Kontrolle über den Klang wieder aus den Händen zu geben. Ganz im Gegenteil, die aufwendige Raumtechnik ist letztlich eine Klangtechnik; die vielen Manipulationen des Raums ermöglichen Manipulationen des Klangs. Der Saal vergrößert die Kontrolle über den Raum und damit die Kontrolle über den Klang. Das neue Funkhaus der Norag ist zu diesem Zeitpunkt zwar dasjenige mit der aufwendigsten Raumakustik, aber keineswegs das einzige, das wandelbare Elemente einsetzt. Um 1930 herum entstehen an einigen Orten neue Funkhausbauten. Die Rundfunkgesellschaften, die im ersten Rundfunkjahr entstanden waren, hatten zunächst aus provisorischen, oft angemieteten Räumen gesendet. Mit dem Erfolg des Rundfunks und der Ausweitung der Sendezeit war auch der Platzbedarf gewachsen. Zum Ende des Jahrzehnts sind dann neben dem Hamburger Funkhaus auch Neubauten in München, Frankfurt und Berlin in Planung.44 All diese neuen Funkhäuser gehen unterschiedlich mit Raumakustik um, doch die jeweiligen Ingenieure, die die Aufnahmeräume planen, planen zugleich das Moment der Kontrolle über den Klang ein. Beim Münchener Riemerschmidbau der »Deutschen Stunde in Bayern«, der am 30. Juni 1929 als erstes der neuen großen Funkhäuser in Deutschland eingeweiht wird, wird Kontrolle noch nicht mit veränderbaren Bauelementen erzielt, sondern mit einem separaten »Freiluft-Senderaum«, einem ringsum von Gebäudeteilen umschlossenen Innenhof, dessen Akustik sich angeblich besonders für Blaskonzerte bewährt habe. In Frankfurt wird am 15. Dezember 1930 das neue Haus der Südwestdeutschen Rundfunk AG (Süwrag) eingeweiht. Im Sendesaal dieses Gebäudes findet sich nun eine schallreflektierende Wand, die »sich jedoch jalousieartig öffnen« lässt und dann eine dahinter verborgene Orgel freigibt. Auch im Berliner Haus des Rundfunks, eingeweiht am 22. Januar 1931, finden sich »Vorrichtungen zur Änderung der Dämpfungsverhältnisse«, nämlich »türähnlich umklappbare Felder, von denen eine Seite

43  44 

Klose 1930, S. 29. Hans Bodenstedt war von 1929 bis 1933 Intendant der Norag. Vgl. Führer 1997.

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eine glatte Holzoberfläche zeigt, die andere mit einem schallschluckenden faserigen Stoff bekleidet ist.« Die Erläuterung: »Durch einfaches Umlegen dieser Schallwandtüren von Hand kann die gesamte Oberfläche der Längswände ganz oder teilweise auf das eine oder das andere Material umgestellt und so die Klangwirkung in den für den Rundfunk vielseitigen weiten Grenzen der Art der Darbietung, der Größe der Schallquellen und der Zahl der anwesenden Zuhörer angepaßt werden.«45 Der Bauingenieur Karl Fred Darmer, der 1941 an der Technischen Hochschule Hannover zu »Raumakustischer Wandelbarkeit« forscht, führt noch etliche weitere Beispiele an, von schließbaren Gitterschlitzen in der Decke des Sendesaals von Radio Zürich bis hin zu motorisch drehbaren sechsseitigen Prismen mit unterschiedlich belegten Seitenflächen, die innerhalb weniger Sekunden die Charakteristik des Raums völlig verändern können. Was ­Darmer in den Sendesälen und Aufnahmeräumen der 1930er-Jahren findet, und was er selbst auch weiterentwickelt, sind regelrechte Systeme zur Nachhallregelung, die weit über die Möglichkeit hinausgehen, einen Vorhang vorzuziehen oder einen Teppich auszulegen.46 Diese Systeme machen Senderäume (wie auch andere Konzertsäle) vielseitig einsetzbar. Hörer sollen immer auch die Akustik zu hören bekommen, die zur Musik passt, so dass aus einer Konzertübertragung ein perfektes Hörerlebnis werden kann. Das ist der Grundgedanke der Sendesaal-Maschinen. Aber was ist ein perfektes Hörerlebnis? Das virtuelle Konzert

Zwanzig Uhr fünf, Abendkonzert. Die Ansage ist gleich vorbei. Ein anspruchsvoller Musikliebhaber rückt sich im Radiosessel zurecht, der Tuner ist auf die Kulturwelle eingestellt, der Verstärker hochgedreht. Die Lautsprecher sind genau symmetrisch zu den Seitenwänden ausgerichtet, der Sessel steht exakt in der Mitte des ausgepolsterten Zimmers. Die Ansage ist vorbei. Er schließt die Augen, und noch ehe die ersten Töne des Orchesters erklingen, öffnet sich hörbar der Raum und beginnt zu atmen. Der Musikliebhaber verliert das Gefühl, allein zu sein. Nun beginnt der Klang, ihn von allen Seiten zu umfluten.

45 

Sämtliche Zitate aus diesem Absatz stammen aus N.N.: Neue Rundfunkhäuser 1932, S. 47. 46  Vgl. Darmer 1941. Darmer stellt verschiedene realisierte Nachhallregelsysteme vor; das System des Filmtoningenieurs Joseph Massolle beispielsweise wurde bereits in einer Patentschrift von 1931 beschrieben.

Raumakustik und Architektur

Er sinkt tiefer in den Sessel, begibt sich an einen anderen Ort, taucht in einen anderen Raum ein, in eine andere Welt: virtuelle Realität. Der Raum, in den unser Musikliebhaber hineingezogen wird, existiert tatsächlich irgendwo. Es könnte zum Beispiel der Saal 1 des Berliner Funkhauses in der Nalepastraße sein, der Saal, der den Ruf trägt, einer der besten Aufnahme­räume der Welt zu sein. Das Stück könnte Wagners Lohengrin sein, dirigiert von Daniel Barenboim. Das Raumkonzept der Übertragung hätte dann zum Ziel, dass Radiohörer »sich in die künstlerische und akustische Atmosphäre, die Ambienz, [des] Ereignisses hineinversetzt fühlen«.47 Für den Hörer erscheint dieses Ereignis als Konzert – oder die Simulation eines Konzerts – in einem guten Konzertsaal. Tatsächlich besteht es aber in der Aufführung des Stücks im Sendesaal, das Publikum vor Ort besteht ausschließlich aus Mikrofonen, und die Musiker spielen exklusiv für diese Mikrofone und das Radio.48 Diesen Effekt, diese Raumwirkung fordert der Toningenieur Gerhard Steinke, der den Saal 1 in der Nalepastraße kennt wie kaum ein anderer. Hauptziel bei der Musikübertragung sei es, »eine Hörperspektive mit hoher Ähnlichkeit zu einer natürlichen akustischen Perspektive zu erzeugen; z. B. soll der Hörer, wenn ein Konzert aus einem Saal mit bemerkenswerten akustischen Eigenschaften übertragen wird, intensiv in einen Raum einbezogen werden«49 – in einen fernen Raum, der nicht zu sehen ist, und der doch mit all seinen Eigenschaften und Besonderheiten hörbar wird, wie ein echter Konzertsaal: das Raumkonzept der Hörbühne. Wenn Steinke es als Aufgabe des Rundfunks ansieht, den Ursprungsraum möglichst gut zu simulieren, dann argumentiert er dabei freilich nicht mehr physikalisch wie die Akustiker der 1920er- und 1930er-Jahre, die noch an eine exakte Kopie der Schallwellenverteilung dachten. Steinke geht es vielmehr um das Hörerleben, um eine Imagination des Raums, die die Möglichkeiten und Bedingungen der elektroakustischen Übertragung genauso einbezieht wie die 47 

Steinke 2001, S. 126. Diese imaginierte Szene beruht auf den Informationen von Gerhard Steinke 2001, S. 135, der über die Lohengrin-Produktion mit Daniel Barenboim, der Staatskapelle Berlin und dem Chor der Deutschen Staatsoper Berlin im Januar 1998 berichtet. 49  Steinke 2001, S. 126. Steinke war als Toningenieur von den 1950er-Jahren bis in die 1990er-Jahre maßgeblich an der technischen Weiterentwicklung der ­klangästhetischen Möglichkeiten des Rundfunks beteiligt. Er hat so wesentliche Prozesse wie die Ein­ führung der Stereofonie und die Entwicklung der digitalen Hörfunkausstrahlung mitgestaltet (vgl. Steinke 2014, S. 18). 48 

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psychoakustischen Effekte des Gehörs, die Konstruktion eines perfekten Hör­ ereignisses für die Hörer zuhause. Die raumakustische Voraussetzung für solch eine Rundfunkübertragung ist nicht nur ein Raum mit prägnanter Akustik, sondern die Wandelbarkeit dieser Akustik. Wenn das Konzept der Übertragung darin besteht, das Raum­ erlebnis einer Aufführung bis ins heimische Wohnzimmer zu tragen, dann muss sich der Raum auch an die jeweilige Musik, an das Genre, die Epoche, die Instrumentierung anpassen lassen. Ein barockes Flötenkonzert, ein klassisches Streichquartett, eine romantische Symphonie – wenn der Raum, wie Steinke nicht müde wird zu betonen, das »Kleid der Musik« ist,50 dann muss sich jede dieser musikalischen Formen anders einkleiden lassen, dann muss sich der Raum den Bedürfnissen der Musik anpassen. Der Ursprungsraum in diesem Beispiel, ein Sendesaal, hat dabei einen anderen Status als der Konzertsaal bei einer Konzertübertragung. Es kann hier nicht mehr die Rede davon sein, dass man es mit einem autonomen Ereignis zu tun hätte, an dem Rundfunkhörer mit maximaler Wiedergabetreue oder zumindest hoher Ähnlichkeit auch teilnehmen dürften. Der Saal ist ja bereits auf die Übertragung durch den Rundfunk hin konzipiert, gebaut und eingerichtet worden. Obwohl er nicht mehr so stark gedämmt ist wie Weicharts erstes raumloses Rundfunkstudio, lässt sich der moderne Sendesaal gleichwohl als Heterotopie sehen, als ein Raum, zu dem die meisten Menschen keinen physischen, nur akustischen Zugang erlangen, als ein Raum, der seine Akustik nicht zum Verschwinden bringt, sondern allein wegen seiner Akustik überhaupt existiert. Schon die Architekten und Ingenieure, die den Saal planen und bauen, und noch viel mehr Toningenieure und Tonmeister, die mit konkreten Aufnahmen oder Übertragungen befasst sind, die variable Raum­ akustik einstellen und die Aufstellung des Orchesters und der Mikrofonierung festlegen, nicht zuletzt auch Dirigent und Musiker,51 sie alle haben auch den hörbaren Raum im Blick, der sich Hörern am Radio bieten soll. Unser Musikliebhaber entspricht genau dem Typus Hörer, den sich viele Toningenieure sicherlich wünschen: Er ist ein bewusster Hörer, der all den

50 

Steinke 2001, S. 130; Steinke 2014, S. 18; Steinke/Herzog 2013. Mit dem Satz »Der Raum ist das Kleid der Musik« zitiert Steinke den Musiksoziologen Kurt Blaukopf. 51  Steinke 2014, S. 18f., betont, wie wichtig Raumakustik für Musiker auch deswegen ist, weil der Raum die Interaktion zwischen Musikern, Dirigent und dem gehörten Ton wesentlich beeinflusst. Wenn man den Raum betrachtet als Resonanzkörper des Musikinstruments, wird deutlich, welche Rolle er für das Musizieren einnehmen kann.

Raumakustik und Architektur

Aufwand zu schätzen weiß, den Toningenieur und Tonmeister im Sendesaal betreiben; ein informierter Hörer, der weiß, wo er sitzen muss, wie die Lautsprecher aufgestellt sein müssen, wie das Zimmer eingerichtet sein muss, damit er den Raumklang auch tatsächlich adäquat rezipieren kann; ein disziplinierter Hörer, dem all das auch wichtig ist und der sich dann wie im Konzert auf seinen Platz setzt und zuhört; schließlich auch ein gut betuchter Hörer, der sich die technische Ausstattung leisten kann und der auch genug Zeit für seine Liebhaberei hat. Die Frage, warum ausgerechnet dieser Hörer zuhause bleiben soll, statt ins Konzert zu gehen, muss hier offen bleiben. Grenzen der Hörbühne

Die Geschichte des großen Sendesaals in der Nalepastraße zeigt auch die Grenzen des Raumkonzepts auf. Der Raum stand nicht allein für Rundfunkübertragungen und -aufnahmen zur Verfügung, auch nicht nur für CD-Produk­tionen. Über Jahre hinweg produzierte das Deutsche Filmorchester Babelsberg hier Hunderte von Soundtracks. Doch im Dezember 2007 ist das Orchester dann in einen neu restaurierten Saal auf dem Gelände der Babelsberger Film­studios gezogen. Das UFA-Sinfonieorchester, aus dem das heutige Filmorchester über einige Umwege hervorgegangen ist, war genau dort in Babelsberg im Jahr 1918 gegründet worden. Der Umzug war also auch eine Rückkehr zu den eigenen Wurzeln.52 Steinke hat jedoch eine weitere Erklärung, und zwar eine, die mit der Raum­akustik des Saals zu tun hat.53 Das Filmorchester sei mit dem Sende­ saal in der Nalepastraße aus akustischen Gründen nicht zurecht gekommen. Das habe keineswegs daran gelegen, dass die Akustik zu schlecht gewesen wäre, dass das Filmorchester also einen ›besseren‹ Saal gesucht hätte. Das Film­orchester habe vielmehr eine völlig andere Arbeitsweise gehabt, nämlich die der Mehrspurtechnik und Polymikrofonie. Das bedeutet: Jede Instrumentengruppe wird mit eigenen Mikrofonen aufgenommen, so dass die Produzenten im Nachhinein noch die maximale Kontrolle über die Balance, die Mischung, ja über die gesamte räumliche Struktur der Aufnahme behalten. Doch:

52 

Vgl. dazu die Angaben auf der Website des Orchesters: N.N.: Deutsches Film­ orchester Babelsberg. Biographie. (Ohne Jahresangabe). 53  Vgl. Steinke 2014, S. 28.

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Radio-Topologie Für ca. 40 Mikrophone ist der große Saal mit seinen akustischen Eigenschaften nicht gedacht, sondern nur für wenige. Wenn die Nachhallzeit sehr hoch ist, haben wir zwischen den vielen Mikrophonen klangliches Übersprechen von einer Gruppe zur anderen, etwa wenn die Bläser in die Geigen hineinsprechen. Deswegen ist das Orchester dann doch ausgezogen, weil es für die vielen Mikrophone eine geringere Räumlichkeit brauchte. Beispielsweise für amerikanische Filmmusik, wenn jedes Instrument zu einem bestimmten Zeitpunkt hörbar sein muss: Wenn der Mörder gerade zusticht, dann muss natürlich entsprechend das Signal nochmal hochgezogen werden – ob es einen Sinn hat oder nicht, ist für die Regie wohl egal.54

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Steinke argumentiert technisch. Je länger die Nachhalldauer des Saals, desto schwieriger wird es, die vielen einzelnen Mikrofone akustisch voneinander zu trennen. Der Nachhall verbindet ja gerade die Einzelinstrumente zu einem Gesamtklang, so dass der Klang des einzelnen Instruments kaum mehr zu greifen ist. Hinter dieser Produktionsweise des Filmorchesters steckt eine grundlegend andere Idee und eine andere Ästhetik: Die Balance der einzelnen Instrumente folgt nicht mehr nur einer musikalischen Logik, sondern richtet sich nach der Handlung des Films, für die die Musik geschrieben wurde. Offenbar geht es bei dieser Ästhetik nicht darum, ein in sich schlüssiges, perfektes Hörerlebnis zu schaffen, sondern darum, einen völlig neuen Raum zu kreieren, einen Raum, der durch das Filmbild definiert ist. Das Setting, das in ein Wohnzimmer – oder einen Kinosaal – übertragen werden soll, ist nicht mehr das des auf Musikgenre und Orchestergröße abgestimmten idealen Konzertsaals, sondern das einer filmischen Diegese. Der Hörer soll nicht mehr die Augen schließen und in eine andere akustische Welt eintauchen, nein, er soll die Augen offen halten und eine auch visuell erzählte Welt erleben, bei der die Musik nur ein Element von mehreren ist. Das Verhältnis vom Raumklang der Musik und dem Raum der filmischen Diegese kann dabei durchaus komplex sein, doch nicht beliebig. In der modernen Filmproduktion ist die Raumgestaltung der Filmmusik daher Teil des die gesamte Ton­ ebene umfassenden Sounddesigns und findet weniger bei der Aufnahme als vielmehr in der Postproduktion und unter Zuhilfenahme elektronischer und digitaler Hallgeräte statt.55 Die Grundlage dafür kann nur eine Aufnahme sein, die selbst möglichst wenig Räumlichkeit mitbringt. Das Filmorchester

54  55 

Steinke 2014, S. 28. Vgl. Schneider 2011, S. 126ff.

Raumakustik und Architektur

benötigte also den ›trockeneren‹ Aufnahmeraum, um verwirklichen zu können, was ich mit dem Begriff Heterotopie beschrieben habe: In diesem Aufnahmeraum entstehen räumlich ›neutrale‹ Aufnahmen, die sich dann akustisch in andere Räume versetzen lassen. Die Praxis, durch eine trockene Aufnahme Platz für einen neuen Raum zu lassen, findet sich auch im Radio sehr häufig. Die Vermeidung des Raums bei der Aufnahme zugunsten einer neuen, spezifischen radiofonen Räumlichkeit durchzieht sogar die gesamte Ästhetik des Radios mit seinen ihm eigenen Gestaltungsformen. Im Zentrum steht dabei aber weniger raumlose Musik als vielmehr die raumlose Stimme.

3.3 Raumkonzept für Stimme: Radio und Intimität Intimität des Raums

Der Paradigmenwechsel im Studiobau mit den neuen Funkhausbauten zum Ende der 1920er-Jahre, die Wende weg von stark gedämmten hin zu wohlklingenden, aufwendig gestalteten und akustisch kontrollierbaren Aufnahme­ sälen, betrifft in erster Linie den Bereich der Musikübertragung. Wie Ash­ bridge 1931 erläutert, nahm man die Räume, die für Sprachübertragungen gedacht waren – Gespräche und Vorträge56 –, vom Trend zum längeren Nachhall aus. Musik brauchte den akustischen Raum, doch die Stimme nicht. Im Gegenteil: Sprache wird, wenn der Hallanteil zu groß wird, wenn die einzelnen Silben verschwimmen und ineinanderfließen, schnell unverständlich. Doch für Ashbridge steht dies nicht im Zentrum. Er hat ein ästhetisches Konzept vor Augen, das das Verhältnis zwischen Hörern in ihren realen Raumumgebungen und dem Raum des Radios bestimmt. Es lautet: Die Übertragung von Musik sollte den Hörer in den Konzertsaal, die Übertragung der Stimme dagegen den Sprecher ins Wohnzimmer des Hörers versetzen. Um das zu erreichen, müsse man Aufnahmeräume für Sprachaufnahmen so stark dämmen wie möglich. Dadurch würde dieser Raum selbst aus der

56 

»Talks and lectures« (Ashbridge 1931, S. 537). Zum Raumkonzept für die Produktion von Hörspielen siehe Kapitel 4.1.

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Wahrnehmung zurückgedrängt, so dass nur noch die Raumakustik auf der Seite der Wiedergabe zum Tragen komme. Dann klänge der Radiosprecher, so Ashbriges Hoffnung, wie ein Freund beim Gespräch im eigenen Wohnzimmer.57 Die raumlose Stimme vermittelt durch das so hergestellte Raumkonzept eine Form der Intimität. Ashbridges Konzept klingt plausibel: Die Raumakustik des Aufnahmeraums ist verantwortlich dafür, wie nah oder privat die Sprecherstimme den Hörern entgegentritt. Der gedämmte Aufnahmeraum besitzt im Extremfall keine eigene akustische Räumlichkeit, und die Stimme, die darin aufgenommen wird, trägt nicht den Klang eines Raums in sich, sie klingt räumlich ›neutral‹. So kann sie Teil der Räumlichkeit des Wohnzimmers werden, kann sich ganz in die akustische Umgebung des Hörers einfügen und wird so Teil seiner privaten Sphäre. Dieses Raumkonzept der Intimität ist gerade das Gegenteil von dem, was sich für die Musikübertragung etabliert hat. Ashbridges Konzept zielt damit direkt auf das Raumdispositiv des Radios ab; es geht darum, in welchem Verhältnis der Raum der Aufnahme und der Raum der Wiedergabe zueinander stehen, und damit letztlich um nichts anderes als eine Verortung des Mediums Radio im Spannungsfeld von Öffentlichkeit und Privatheit. Das Konzept geht auf. Die Intimität der Radiostimme gilt als eine der wichtigsten Stärken des Radios. Rudolf Arnheim vergleicht sie 1933 mit der visuellen Großaufnahme im Film.58 Bei dieser Einstellungsgröße ist auf der Leinwand lediglich der Kopf des Darstellers zu sehen, und nicht sein ganzer Körper. Vor allem wird der Darsteller nicht in seiner Umgebung, nicht in Interaktion mit dem ihn umgebenden Raum gezeigt; das Geschehen konzentriert sich ganz auf das Gesicht und ist dazu geeignet, die Persönlichkeit der Figur darzustellen. Je nachdem wie nah die Kamera dem Gesicht kommt, wird der Hintergrund zu weiten Teilen ausgeblendet. Diese Beschreibung der Großaufnahme lässt sich auf die Radiostimme übertragen. Wird die Stimme im schallgedämmten Studio aufgenommen, existiert kein akustischer Hintergrund, keine Interaktion der Stimme mit dem Raum. Es ist allein die nahe und intime Stimme zu hören – das akustische Pendant zum Gesicht. Arnheim betont, dass diese akustische Großaufnahme im Radio »die Normaleinstellung und die historisch erste« sei; im Gegensatz dazu sei »die Normal- und Ureinstellung

57 

»A friend when discussing a matter in his own sitting-room« (Ashbridge 1931, S. 537). 58  Vgl. Arnheim 2001 [1936], S. 48ff.

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des Films derjenige Abstand, in dem die menschliche Gestalt vollständig abgebildet wird, und die Großaufnahme […] wurde auch historisch erst viel später eingeführt und bleibt Spezialeinstellung«.59 Mehr als dem Film, womöglich mehr als jedem anderen Massenmedium ist es dem Radio also eigen, eine intime Beziehung zum Publikum aufzubauen. Diese Vorstellung vom Radio als dem Medium der Intimität ist bis heute durchaus populär, wie der Blick in jedes beliebige Handbuch für Radiomoderatoren belegen kann.60 Ashbridge lässt aber einen ganz entscheidenden Punkt unerwähnt. Denn allein die Raumakustik, das Fehlen von Nachhall, reicht nicht aus, um eine persönliche, intime Beziehung zum Hörer aufzubauen; Nähe speist sich nicht allein aus dem Raumklang. Mindestens ebenso entscheidend, wenn nicht sogar noch viel wichtiger, ist die Sprechhaltung, mit der Sprecher dem unbekannten Hörer begegnen. Die Haltung gerade der deutschen Nachrichtensprecher, die ebenfalls aus schallgedämmten Räumen heraus die offiziellen Meldungen der Drahtloser Dienst AG (Dradag) verlasen, aber dabei keineswegs den intimen Ton anschlugen, an den Ashbridge dachte, machen das deutlich, wie Medienwissenschaftler Jürg Häusermann zeigt: Aus dieser neutralen Akustik wurden (und werden zum Teil heute noch) Verlautbarungen im amtssprachlichen Stil und in einem deklamatorischen Ton gesendet. Dies ergab – zusammen mit der Vorstellung, ein möglichst objektives Bild von der Nachrichtenlage zu vermitteln – eher eine Sprechweise des offiziellen Hinausredens als des Schaffens eines gemeinsamen Raums.61

Intimität wird nicht allein von Ingenieuren hergestellt, die die Raumakustik eines Rundfunkstudios planen, sondern sie ist vor allem ein Produkt des Sprechens. Dennoch – und das möchte ich in diesem Kapitel zeigen – haben raumakustische Planung und Konstruktion des Rundfunkstudios Anteil an der Intimität des Radios, denn der Raum übt entscheidenden Einfluss auf das Sprechen aus. Sprecher können mit ihrer Stimme nur dann Intimität erzeugen, wenn der Raum es ihnen gestattet. Oder, um es etwas zurückhaltender auszudrücken: Die Akustik des Aufnahmeraums unterstützt Sprecher dabei, über die Stimme eine persönliche Beziehung zu Hörern aufzubauen. Sie sorgt dafür, dass Sprecher einen leisen und ungezwungenen Ton anschlagen,

59  60  61 

Beide Zitate aus Arnheim 2001 [1936], S. 49. Zum Beispiel Lynen 2004, insb. S. 19ff. Vgl. außerdem Kapitel 6.2. Häusermann 2005, S. 164f.

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eine private Sprechhaltung einnehmen. Genau das fordert Arnheim auch entschieden ein; der laute, gezwungene und feierliche Stil, der in anderen Kontexten und in anderen Räumen, im Theater, auf der Kanzel, am Rednerpult vorherrschte, würde »gegen die Grundbedürfnisse des Rundfunks sündigen«.62 Am historischen Anfang dieser Symbiose von Stimme und Raum im R ­ adio steht jedoch eine Störung oder gar Bedrohung: Das Rundfunkstudio zeigt sich zunächst als Feind des Sprechers. Akustische Isolation des Sprechers

Die Radiostimmen der ersten Stunde waren Sprechprofis. Theaterschau­spieler wurden als Sprecher und Ansager rekrutiert, Professoren hielten wissenschaftliche Vorträge, Pfarrer Radiopredigten, und teilweise traten auch Politiker auf, zum Beispiel der Reichskanzler Wilhelm Marx, der bereits 1923 mit seiner Weihnachtsansprache übers Radio zu hören war.63 All diese Menschen waren es gewohnt, ihre Stimme einzusetzen und zu anderen Menschen zu sprechen, sie ergriffen auch in anderen Situationen öffentlich das Wort. Man sollte annehmen: Nun auch über das Radio zu sprechen, würde ihnen nicht schwerfallen. Man könnte meinen, das Radio sei nichts anderes als eine Erweiterung der körperlichen Fähigkeiten. Mussten Interessierte früher selbst ins Auditorium, in die Kirche oder zu politischen Veranstaltungen kommen, bot ihnen das Radiogerät nun die Möglichkeit, von zuhause aus zuzuhören. Das Medium Radio als Extension des Körpers – ein einfaches, ein zu einfaches Konzept. Denn Radio war und ist anders. Vor dem Mikrofon wurden erfahrene Redner nervös, gestandene Schauspieler verloren die Fassung; ein Phänomen namens Mikrofonfieber breitete sich aus. Mikrofonfieber, so ist in einer Rundfunkzeitschrift 1925 zu lesen, ist eine Folge des Kontrollverlustes über das eigene Sprechen im Radio: »Ich höre, was ich spreche, ich weiß aber nicht, wie es meine Hörer aufnehmen.«64 Der Schriftsteller und damalige Intendant der 62 

Arnheim 2001 [1936], S. 50. Vgl. Gethmann 2006, S. 101f. Das frühe Radio übernahm mit den Praktikern der Sprechkünste zunächst auch deren Darbietungsformen: »Das damalige Programm­ angebot könnte man als die elektro-akustische Erweiterung des Veranstaltungssaales ­bezeichnen.« (Lersch 1995, S. 57.) 64  Rothe 1925, S. 42. Daniel Gethmann zitiert mehrere Berichte, die das Phänomen belegen. Zum Beispiel berichtet der Schauspieler Paul Bildt: »Weißer Schrecken überfiel mich. Kein gewohntes Premierengeräusch, kein Stuhlknacken, kein Tuscheln, kein ­feindliches Sichräuspern, kein Vollhusten ringsum. Die unheimliche Stille kam über 63 

Raumakustik und Architektur

Westdeutschen Rundfunk AG (Werag), Ernst Hardt, verglich das Mikrofon sogar mit dem Jüngsten Gericht, weil Hörer sich ganz auf die Stimme konzentrierten und Sprecher nur an dieser messen könnten: Nur eine Wesensäußerung gibt es, welche der Selbstkontrolle und dem Täuschungsbedürfnis entzogen ist, weil man sie selber niemals wahrnehmen kann: die eigene Stimme. Und der Hörer, der nur hört, wird durch nichts mehr, was außerhalb der Stimme lebt, beeinflußt, in die Irre geführt, voreingenommen oder bestochen … So hat denn das Mikrophon etwas vom Jüngsten Gericht an sich.65

Für Sprecher war die Situation im Rundfunkstudio nicht zu vergleichen mit der Situation auf der Bühne, am Podium, auf der Kanzel. Die Heterotopie des Sprecherraums verunsicherte, seine Raumlosigkeit, die sich noch als stilbildend für die gesamte Ästhetik des Radios erweisen sollte, bedeutete eine schmerzvolle Erfahrung für Sprecher der ersten Stunde. Der Grund: Die Raumsituation isolierte Sprecher, und zwar in dreierlei Hinsicht. Sie isolierte sie von der Außenwelt mit ihren mannigfaltigen Geräuschen. Sie isolierte sie von der eigenen Stimme, die im schallgedämmten Studio raumlos und fremd erscheinen musste. Und schließlich isolierte sie sie physisch vom Publikum.66 All diese Faktoren beeinflussen das Sprechen. Sprechen im stillen Raum

Das Rundfunkstudio ist ein sehr stiller Ort, stiller als andere Orte in der Alltagsumgebung; es dringen keine Geräusche von außen herein. In den Innenstädten, wo viele der ersten Studios angesiedelt waren, ging es vor allem um Verkehrslärm. Doch mit den neuen großen Funkhäusern, in denen mehrere Aufnahmeräume untergebracht waren, ergab sich ein neues Problem: Die einzelnen Räume mussten akustisch unabhängig bleiben, so dass nicht in einem Raum zu hören war, was aus einem anderen heraus übertragen wurde. mich.« (Zitiert in Gethmann 2006, S. 127.) Und der Sprecher Max Heye erzählt: »Ich habe ­große Sänger schwitzen, ja zittern sehn. Sänger, denen die Bühne ihr liebgewordenes Arbeits­feld ist, wo sie die Ruhe selbst sind, haben vor dem Mikrophon mit den Knien ­geschlottert. […] Es ist der eigenartige Zauber, der in dem Raum liegt.« (Zitiert in Gethmann 2006, S. 123f.) Weitere Zitate, die die Situation des Rundfunkstudios mit Fieber in Zusammenhang bringen, finden sich bei Ottmann 2013, S. 226ff. 65  Ernst Hardt, Wort und Rundfunk, in: Kunst und Technik, hg. von Leo Kestenberg, Berlin 1930, S. 177 – 181, zitiert in Meyer-Kalkus 2001, S. 368. 66  Siehe zu diesem Punkt auch Kapitel 6.3.

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Diese Anforderungen gingen mit Entwicklung neuer Formen der Bauakustik einher.67 Die effektive akustische Isolation des Studios gegen Außengeräusche stellte neben der akustischen Gestaltung des Innenraums von Anfang an die zweite große Herausforderung im Studiobau dar. Auch dies war Teil der Enträumlichung des Rundfunkstudios und machte es zu einem akustisch der Welt enthobenen und aus der natürlichen Klangwelt ausgegrenzten Ort, zu einer akustischen Heterotopie. Dazu kam die starke Dämmung der Raumakustik, wie Ashbridge sie speziell für Sprecherräume forderte. Die eigene Stimme klang für Sprecher ohne die sonst üblichen Reflexionen von Wänden und Decke ungewohnt leise und trocken. Das gedämmte Studio wirkte im Gegensatz zu sonst üblichen Räumen nicht als Resonanzraum für die Stimme, so dass die Stimme so leer klang wie eine Gitarrenseite ohne Korpus. Der Aufnahmeraum als stiller Raum wird zu einer akustischen Bedrohung, er verunsicherte die Sprecher zutiefst – dieser Topos zieht sich durch die Erfahrungsberichte, die etliche Autoren über das neue Medium Rundfunk verfasst haben. Auf Walter Benjamin beispielsweise wirkte diese Stille in dem Augenblick bedrohlich, als er nichts mehr zu sagen hatte, aber seine Sprechzeit noch nicht um war: »Im gleichen Augenblick aber umfing mich die Stille, die noch eben wohltuend gewesen war, wie ein Netz.«68 Spätestens in dem Augenblick jedoch, in dem Sprecher sich an die besondere Situation des Aufnahmeraums gewöhnt haben, wirkt seine Akustik regulierend auf das Sprechen. Dass der stille Aufnahmeraum keine typische Situation öffentlichen Kommunizierens entwirft, sondern eine Atmosphäre des Privaten erzeugt, wirkt sich auf die Sprechhaltung aus. Diesen Zusammenhang beschreibt das Modell akustischer Kommunikation von Barry Truax.69 Truax betont, wie eng Sprechen und Hören miteinander verknüpft sind. Sprechen wird stets begleitet durch das Hören der eigenen Stimme, und Hören wirkt regulierend auf das Sprechen zurück. Dieses Hören der eigenen Stim67 

Ashbridge 1931, S. 506, rät beispielsweise von Stahlträgerkonstruktionen ab, weil der Schall sich über die Stahlträger als Körperschall von einem Studio zum ­nächsten ­fortpflanzen könne. Auch Belüftungsanlagen könnten eine Schallbrücke zwischen den einzelnen Räumen darstellen. 1931, als er seinen Aufsatz über die Konstruktion von Rundfunkstudios verfasst, befindet sich das neue BBC-Funkhaus am Londoner Langham Place mit seinen insgesamt 22 Aufnahmeräumen gerade im Bau. Vgl. zur Praxis der Schalldämmung auch Thompson 2004, S. 169ff. 68  Benjamin 1972, S. 762f. 69  Vgl. Truax 1984, S. 28ff.

Raumakustik und Architektur

me ist abhängig vom Kontext des Sprechens – dem akustischen wie auch dem sozio-kulturellen Kontext. Was entsteht, ist eine Art Feedback-Schleife zwischen Sprechen und Hören – die Stimme als Ausdruck der eigenen Persönlichkeit und des eigenen Selbstbildes reagiert sensibel darauf, wie wir sie beim Sprechen selbst wahrnehmen, sie passt sich permanent der akustischen Umgebung an.70 Dieser Mechanismus ist nicht nur in individuellen Situationen zu beobachten, sondern es haben sich für professionelles und vor allem medial vermitteltes Sprechen sogar ganz spezielle, der Situation angepasste Sprech­weisen etabliert. In den ersten Versuchen mit drahtloser Telefonie, bei der zum ersten Mal nicht nur Morsezeichen über Funk übermittelt wurden, sondern die menschliche Stimme selbst, bestand die große Herausforderung darin, sich verständlich zu machen – und das führte zu einer Sprechnorm, wie sie in einer Richtlinie aus dem Jahr 1911 festgehalten wurde: 1. Nicht zu starkes Schreien. […] 3. Vokale und auch Konsonanten sollen deutlich ausgesprochen und im Satz selbst einzelne Worte nicht all zu sehr betont werden. Man spricht mit erhobener Stimme.71

In dieser frühen Entwicklungsphase testeten Ingenieure die Leistungsfähigkeit der Technik, die gerade eben erst aus der Verknüpfung von Telefon und drahtloser Telegrafie hervorgegangen war. Doch auch schon beim Telefonieren sei zu beobachten gewesen, wie viele Menschen regelrecht in die Sprech­ muschel brüllten, weil sie ja wussten, dass ihre Stimme eine immense Distanz zu überbrücken habe. Erst mit der Zeit habe man gelernt, dass die normale Lautstärke ausreiche, um am anderen Ende gehört und verstanden zu werden.72 Nach dem Germanisten Reinhart Meyer-Kalkus sei ein ähnlicher Effekt mit den ersten Beschallungsanlagen aufgetreten. Er berichtet, dass »bereits der Gebrauch von Mikrophon und Lautsprechern in der politischen Beredsamkeit einen veränderten Redestil erzwungen hatte (der weniger laut und

70 

Darüber hinaus geht der Klangbiologe Bernie Krause 2013, 89ff., in seiner »­ Nischen-Theorie« davon aus, dass sich auch Tiere mit ihren Lauten an ihre akustische Umgebung anpassen. Im Zusammenspiel mit den anderen Tieren eines Biotops findet jede einzelne Spezies eine akustische Nische, also einen Frequenzbereich, auf dem sie ­untereinander kommuniziert, ohne die Kommunikation anderer Arten zu stören. 71  Zitiert nach Gethmann 2006, S. 96. 72  Vgl. Truax 2013, S. 65.

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weniger hoch war, weil die Stimme keine räumlichen Distanzen mehr zu überbrücken hatte)«.73 Das Theater befand sich in einer ähnlichen Situation. Die Bedingungen des Theaterraums erforderten, dass die Stimme ohne technische Hilfsmittel einen großen Raum füllen konnte, um auch in den hintersten Reihen verstanden zu werden. Über Jahrhunderte bestand die Herausforderung an die Stimme der Schauspieler vor allem darin, überhaupt gehört und verstanden zu werden. Unter diesen Bedingungen hat sich ein eigener Aussprache-Standard herausgebildet. 1803 veröffentlicht Goethe seine Regeln für Schau­spieler, worin er detaillierte Ausspracheregeln formuliert, die in erster Linie auf akustische und inhaltliche Verständlichkeit abzielen. So legt Goethe zum Beispiel besonderes Gewicht auf eine deutliche Aussprache sämtlicher Endsilben, um Missverständnisse zu vermeiden und dem Publikum das Verstehen zu erleichtern.74 Einen expliziten Zusammenhang zu den raumakustischen Rahmenbedingungen des Theaters stellt Goethe nicht her. Als der Germanist Theodor Siebs knapp 100 Jahre später, gegen Ende des 19. Jahrhunderts, die Standards, die sich auf den Bühnen ausgebildet hatten, in seinem Aussprache-Wörterbuch als Deutsche Bühnenaussprache fixiert, formuliert er in seiner Einleitung ausdrücklich die Besonderheiten der Bühnensprache gegenüber der Sprache des Alltags: »Die Bühne muß vor allem auf Deutlichkeit und Fernwirkung bedacht sein, und daher sind ihrer Sprache langsameres Tempo und größerer Kraft­ aufwand eigen als unserer Umgangssprache.«75 Das Sprechen auf der Bühne passt sich also der Raumsituation an. Dabei war Siebs Anliegen, wie er selbst erklärt, eigentlich nur die Vereinheitlichung der Aussprache; er wollte einen Aussprachestandard schaffen, an dem sich die gesamte deutsche Theaterlandschaft orientieren sollte.76 Zu Beginn des Rundfunks in den 1920er-Jahren stellte Siebs Bühnenaussprache bereits den Standard öffentlichen Sprechens dar – und zwar nicht nur für das Theater, sondern auch für andere Formen des öffentlichen Sprechens wie die politische Rede und die Predigt. 1931 verfasste Siebs im Auftrag der

73  74 

Meyer-Kalkus 2001, S. 367. Vgl. Goethe 1833. Neben der Verständlichkeit verfolgt Goethe mit seiner F ­ orderung nach der Reinheit der Sprache auch ein kulturideologisches Programm, nach dem allein die deutsche Hochsprache in der Lage sei, Hochkultur zu vermitteln. 75  Siebs 1927, S. 16. 76  Siebs 1927, S. 3.

Raumakustik und Architektur

Reichs-Rundfunk-Gesellschaft RGG77 sogar eine Ergänzung der Bühnenaus­ sprache mit Begriffen, die speziell auf die Bedürfnisse des Rundfunks ausgerichtet waren, und nahm den Rundfunksprecher ausdrücklich in die Pflicht, den Regelungen der Bühnenaussprache zu folgen. Der Impuls war ein ideologischer: So könne der Rundfunk mit seiner »gewaltige[n] Wirkung auf die Hörer […] vorbildlich sein für die Pflege der einheitlichen deutschen Hochsprache, dieses edelsten Sinnbildes gemeinsamer deutscher Kultur«.78 Als Theaterschauspieler brachten die ersten Rundfunksprecher diese standardisierte Bühnenaussprache mit. Dass sie dabei auch die Sprechweise übernahmen, die sich aus den Bedingungen des Theaterraums heraus entwickelt hatte und die Siebs von den Schauspielern explizit einforderte, liegt nahe. Der anfänglich mangelhaften Übertragungstechnik kam diese Sprechweise sogar zugute, denn sie konnte die technischen Defizite der frühen Übertragungstechnik auffangen und mit ihrer extremen Artikulation die Sprachverständlichkeit im Knistern und Rauschen des Radios erhöhen.79 So folgte das Überbetonte und Pathetische der frühesten Radiostimme nicht nur einer ästhetischen Konvention, sondern schloss auch an die etablierten Praktiken des Sprechens am Funkgerät an und schien so den medialen Anforderungen des frühen Rundfunks zu genügen. Doch der Rundfunk konfrontierte seine Sprecher nun mit eigenen medialen Bedingungen – sowohl mit einer eigenen Übertragungstechnologie wie auch mit einem eigenen Raum –, und so wie der Bühnenraum eine besondere Aussprache hervorgebracht hatte, so zwang auch das Rundfunkstudio seinen Sprechern eine Neuausrichtung des eigenen Sprechens auf. Der leise, stille Raum, die eigene Stimme, die man selbst leiser hört als gewohnt – diese Situation führte auch zu einem leiseren Sprechen, als man es von anderen Formen öffentlicher Kommunikation her kannte. Dieses Sprechen bot nun auch Raum für eine intime Sprechhaltung, die verbunden war mit der nahen und raumlosen Stimme. Der Kulturwissenschaftler Gethmann fasst die Entwicklung des Sprechens in der Frühzeit des Rundfunks zusammen: Was als laut tönende, weit reichende Stimme begonnen hatte [als Stimme der Bühnensprache], kehrte sich um in eine Intensität des Leisen,

77 

Die Reichs-Rundfunk-Gesellschaft war ab 1925 der Dachverband der einzelnen Sende­anstalten der Weimarer Republik. 78  Siebs 1931, S. 2f. Tatsächlich bildete Siebs Regelwerk bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein eine einflussreiche Norm (vgl. Meyer-Kalkus 2001, S. 230). 79  Vgl. Gethmann 2006, S. 130f.

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Radio-Topologie mit der sich eine Ansprache im Radio um die Herstellung einer imaginären sozialen Verbindung zwischen Sprecher und Hörer sorgte. Diese Verbindung konnte zwischen der Intimität des Flüsterns oder extrem leisen Sprechens, der persönlichen Verbundenheit einer ruhigen, entspannten Stimme von geringer Lautstärke, über die informelle Distanz des Sprechens in einer gleichbleibenden Tonlage, dem sogenannten Sicherheits­ ton der Nachrichtensprecher, bis zu einer formellen Distanz reichen, die gewöhnlich die öffentlichen und im Rundfunk übertragenen Reden von Politikern prägte.80

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Diese Entwicklung hängt eng mit der akustischen Gestaltung des Aufnahmeraums zusammen. Die Ingenieure, die die Raumakustik der Rundfunkstudios planten, arbeiteten damit nicht nur an physikalisch-akustischen Parametern der Schallverhältnisse im Aufnahmeraum, sondern sie griffen tief in die Ästhetik des Radios ein. Die Gestaltung der Raumakustik geht mit der Gestaltung des Sprechens und mit der Gestaltung des Klangs der Stimme einher. Helmut Kopetzky bestätigt diesen Zusammenhang aus einer ganz anderen Perspektive: Wie er berichtet, konnte er auf einer Recherchereise durch Brasilien erfahren, dass Sprecherstudios in heißen Ländern aus klimatischen Gründen keineswegs die schallgedämmten Räume sein müssen, die er aus Deutschland kannte. Deutlich tritt dabei der Einfluss des Raums auf das Sprechen zutage: In Porto Velho (Bundesstaat Rondônia) bin ich Gast einer Talkshow. Türen und Fenster stehen offen. Wenn ein schwerer Lkw vorbeifährt, wird die Sendung kurz unterbrochen. Hunde und Straßenjungen stecken die Köpfe herein. Niemand stört sich daran. Die Marktschreierei der meisten Fernseh- und Radio-Moderatoren kommt mir plötzlich ganz plausibel vor, und ich begreife, warum unsere fein gewebten Hörtapisserien in wärmeren Ländern so schlecht funktionieren: in den Häusern das fauchende, klappernde, schleifende Geräusche schlecht gewarteter Klimaanlagen, draußen und von-draußen-herein der infernalische Lärm des Straßenverkehrs.81

Die völlig andere akustische Situation im Aufnahmeraum des brasilianischen Rundfunksenders erfordert von den Sprechern und Moderatoren einen völlig anderen Umgang mit der eigenen Stimme: Sie passen die Stimme den Bedingungen des Aufnahmeraums an, indem sie eine Sprechweise entwickeln, die Kopetzky als »Marktschreierei« charakterisiert. Darüber hinaus passen sie

80  81 

Gethmann 2006, S. 131. Kopetzky 2013, S. 95f.

Raumakustik und Architektur

den gesamten Verlauf der Sendung dem akustischen Geschehen um sie herum an. Die lautere Geräuschkulisse, die Kopetzky in Porto Velho identifiziert, führt zu einem ganz anderen Umgang der Radiomacher mit dem akustischen Raum. Die Strategie besteht hier nicht in einer akustischen Isolation, sondern in einer dynamischen Anpassung an die akustische Umgebung. Zusammenfassung: Sprecher im Schaltkreis, Musik in der Luft

Die Situation für Sprecher verändert sich in dem Augenblick, wo sie ihr eigenes Sprechen über Kopfhörer kontrollieren. Der Kopfhörer ersetzt den physikalisch-akustischen Raum des Studios durch einen medialen elektroakustischen Raum; in einem akustischen Kurzschluss fällt das Ohr des Sprechers nun zusammen mit dem Ort des Mikrofons als dem Ort, an dem der Schall zum elektrischen Signal wird und an dem die Stimme vom akustischen in den medialen Raum übertritt. Gerade durch die Kombination aus Kopfhörer und nahem Sprechermikrofon wird der Sprecher geradezu an das elektroakustische System des Radios angeschlossen, und die einzige Aufgabe des schall­ gedämmten Studios, eines Raums also, der vorgibt, keiner zu sein, ist es, den letzten Rest von frei schwingendem Schall zwischen dem Kehlkopf des Sprechers und dem Mikrofon mit einem Maximum an Kontrolle zu belegen, den Einfluss dieser letzten Zentimeter physikalischer Akustik auf ein Minimum zurückzudrängen. Der Sprecher wird durch diese Apparatur so weit wie irgend möglich in den elektrischen Signalfluss integriert. Dieses Bild vom Sprecher als Teil des elektrotechnischen Schaltkreises stellt die Machtverhältnisse anders dar, als man sie kennt: Der Sprecher, der schon selten sagen darf, was er möchte, hat zudem wenig Einfluss darauf, wie es klingt, was er sagt. Der Klang seiner Stimme wird fremdbestimmt durch die Akustik des Raums, und auch sein Verhältnis zu den Hörern, das sich wesentlich aus dieser Akustik ergibt, entzieht sich seiner Kontrolle. Er ist kaum mehr als der Oszillator, der die eigentlichen Protagonisten des Radios, nämlich die elektroakustischen Schaltkreise, zum Schwingen bringt. Macht über den Sound haben die Ingenieure, die die Schaltungen wie auch die Akustik des Aufnahmeraums entwerfen und die damit die technischen Rahmen­ bedingungen fixieren. Diese technodeterministische Sichtweise ist stark zugespitzt, zugegeben; die Rolle des Radiomoderators bringt freilich eine enorme Verantwortung mit und stellt eine ebenso große Leistung dar. Und doch steckt in diesem Bild ein kleines Körnchen Wahrheit, denn Konzeption, Planung und Bau von Rund-

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funkstudios, die Entscheidung über ihren Raumklang, das Maß der Schalldämmung – all das hat deutliche Auswirkungen darauf, wie Radiopraktiker mit dem Medium umgehen, wie Radio klingt und wie Radiohören schließlich erlebt wird. Dieses gesamte Kapitel über die Raumakustik und Architektur von Aufnahmeräumen konnte dementsprechend zeigen, wie sich in der zweiten Generation von Funkhäusern, die um 1930 herum in vielen Städten entstanden, ein differenziertes Bewusstsein für den Umgang mit Raum ausdrückte. Nach den frühen Versuchen, durch übermäßige Schalldämmung den störenden Eigenklang von Aufnahmeräumen zu unterdrücken, folgten Ingenieure nun zwei unterschiedlichen Raumkonzepten: dem Raumkonzept der Hörbühne, das die Übertragung von Musik zu einem sehr realistischen Hörerlebnis für Radiohörer machen sollte, und dem Raumkonzept der Intimität, das sich in erster Linie für die Aufnahme und Übertragung von Sprache anbot. Das Gefühl einerseits, in einen Konzertsaal versetzt zu sein; das Gefühl andererseits, eine private Konversation mit dem Radiosprecher zu führen: Dieser Spielraum ist eine Funktion des Raumdispositivs des Radios und hängt direkt mit der Akustik der Rundfunkstudios zusammen. Und noch mehr: Das jeweilige Raumkonzept nimmt Einfluss auf die Art und Weise, wie Musiker und Sprecher ihrerseits mit dem Raum umgehen. Niemand agiert unabhängig von seiner direkten Umgebung, und niemand vollzieht akustisches Handeln, ohne unwillkürlich auf den umgebenden akustischen Raum zu reagieren. Für Musiker stellt der Klang- und Resonanzraum, in dem sie spielen und singen, eine wesentliche Voraussetzung für eine gute Performance dar.82 Und für Sprecher definiert der Raum das Verhältnis zu ihren Adressaten, den Radiohörern, er bestimmt, welchen Ton sie anschlagen, wie sie ihre Stimme modulieren. Schließlich nimmt das Raumkonzept in der Folge auch Einfluss darauf, wie Komponisten fürs Radio komponieren. Eines der künstlerischen Projekte der 1920er-Jahre war es, eine radiofone Form der Musik zu entwickeln, eine Musik, die dem Medium Radio gerecht wird.83 Und nicht zuletzt nimmt das Raumkonzept auch Einfluss darauf, wie Redakteure und Autoren ihre

82 

Vgl. Steinke 2014, S. 18f. Das wird insbesondere in der engen Zusammenarbeit des Frankfurter Intendanten Hans Flesch mit seinem künstlerischen Leiter deutlich, dem Komponisten Ernst Schoen (vgl. Ottmann 2013). 83 

Raumakustik und Architektur

Texte schreiben, mit denen sie sich dann an die Hörer wenden.84 Die Raum­ konzepte, die Ingenieure wie Noel Ashbridge entwickelt haben und die mit dem Bau von Funkhäusern und Rundfunkstudios umgesetzt wurden, haben weit mehr zum Selbstverständnis des jungen Mediums Radio beigetragen als eine schiere Optimierung der Übertragungsqualität.

84 

Vgl. dazu Karl Würzburgers Methode des Manuskriptschreibens in Gethmann 2014, S. 231f., sowie Kapitel 4.1.

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4 Reportage Eine neue Raumästhetik

4.1 Neues Sprechen: Die Stimme in der Reportage Kommunikative Rollen im Radio

Heute begegnen wir im Radio einem ganzen Kosmos an unterschiedlichen Stimmen. Oft tauchen innerhalb weniger Minuten etliche Stimmen auf. Das Protokoll eines Ausschnitts aus dem Morgenprogramm eines Formatradiosenders soll das verdeutlichen:1 Der Musiktitel ist zu Ende, der Sänger hört auf zu singen. Der Werbe­block beginnt mit einem Chor, daraufhin erzählt jemand auf einer Kleinkunstbühne einen Witz, in dem ein Holzschutzmittel auftaucht. Das ­Publikum lacht. Es handelt sich offenbar um einen inszenierten Werbespot. Eine andere Stimme nennt schließlich den Namen des Mittels. Ein weiterer Werbesprecher bewirbt nun eine Ferienregion, diesmal von Musik begleitet. Danach tauchen wieder die Werbesprecher mit dem Holzschutzmittel kurz auf. Es folgt – immer noch im Werbeblock – eine Umfrage zu Limonaden: Ein Mann stellt eine Frage, zwei Frauen antworten. Die Szene scheint in einer Fußgängerzone stattzufinden. Danach kommt wieder ein Werbesprecher, der eine Limonadenmarke bewirbt, und anschließend singt eine Sängerin den Slogan der Marke. Nach einem kurzen musikali-

1 

SWR3, 10. 4. 2015, 6.58 bis 7.05 Uhr.

Radio-Topologie schen Element kündigt ein neuer Sprecher die Nachrichten an; der Werbeblock ist damit beendet. Ein Moderator stellt die Nachrichtensprecherin vor, die daraufhin anfängt, die erste Meldung vorzulesen. Ein Reporter führt die Meldung übergangslos fort und nennt am Ende seines Berichts seinen Namen. Es folgen weitere Meldungen, vorgelesen von der Nachrichtensprecherin. Die dritte Meldung wird diesmal von einer Reporterin fortgeführt, die sich ebenfalls selbst absagt. Es ist ein Slogan zu hören. Der Moderator taucht wieder auf und weist auf einen besonderen Nachrichtenservice des Senders hin. Dann kündigt eine Stimme das Wetter an, und der Moderator stellt eine Wetterreporterin namentlich vor. Beide – Moderator und Wetterreporterin – plaudern zunächst übers Wetter, bis die Wetterreporterin schließlich monologisch fortfährt. Gegen Ende des Berichts entsteht wieder ein Gespräch mit dem Moderator. Es mischt sich eine dritte Stimme ein, die sich im Folgenden als die des Komoderators entpuppt. Der erste Moderator stellt nun wieder eine neue Stimme vor, nämlich die der Verkehrsredakteurin. Gleichzeitig wechselt und die Hintergrundmusik. Die Verkehrsredakteurin gibt eine Reihe von Verkehrsmeldungen durch. Im Anschluss sind wieder die beiden Moderatoren hintereinander jeweils mit kurzen Statements zum Wetter zu hören. Nun singt eine weibliche Stimme den Sendernamen, und ein Sprecher nennt den Namen der Sendung sowie die Namen der beiden Moderatoren. Beide sprechen dann im Wechsel über das erste Thema der Sendung. Es folgt wieder ein Slogan, nochmals eine Sängerin, die den Sendernamen singt, und danach startet ein Musiktitel, auf dem bald eine Sängerin zu singen beginnt. Es sind gut sieben Minuten vergangen.

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Auch wer dieses Protokoll nur überflogen hat, wird verstanden haben, worauf ich hinaus möchte: Hier passiert in sehr kurzer Zeit sehr viel. In diesen sieben Minuten gibt es beinahe 50 Stimmwechsel, und dabei sind – neben drei Sängerinnen und Sängern – sechzehn unterschiedliche Sprecherinnen und Sprecher zu Wort gekommen. Klar ist, dass dieser Ausschnitt aus einer Tageszeit stammt, in der viele Radiosender besonders energetisch klingen wollen – der Morgen ist typischerweise die Primetime des Radios. Die 16 Stimmen in diesem aktuellen Beispiel erscheinen zur Hälfte in Werbespots und repräsentieren damit die werbenden Unternehmen; da die einzelnen Spots von diesen Unternehmen zugeliefert werden, ist es nicht verwunderlich, wenn hier in jedem Spot unterschiedliche Sprecher auftreten. Aber immerhin sind es noch acht Stimmen, die den Radiosender repräsentieren: als Moderatoren, Reporterinnen, Redakteure und als Station Voice.2

2 

Die Station Voice ist die Stimme, die im Sinne einer Corporate Identity den

Reportage

Die Stimmen des Radios unterscheiden sich in vielerlei Hinsicht: Manche Stimmen werden live gesprochen, andere sind im Voraus aufgezeichnet worden. Manche werden namentlich benannt, andere bleiben anonym. Manche stammen von ausgebildeten Sprechern, andere von im Sprechen geschulten Journalisten. Oft sind im Radio auch Passanten in einer Umfrage oder O-Ton-Geber in Beiträgen zu hören, die keine ausgebildeten Stimmen haben. In diesen vielen unterschiedlichen Stimmen offenbaren sich viele unterschiedliche kommunikative Rollen; die Stimmen üben unterschiedliche Funktionen aus. Dabei sind die Unterschiede zwischen Moderatoren, Reportern und Redakteuren noch relativ gering. Sie alle sind professionelle Kom­ munikatoren; sie stehen für den Radiosender und sprechen in seinem Namen. Eine andere Rolle, die in diesem Beispiel nicht auftaucht, ist die der Akteu­ re: Politiker oder andere Personen, über die berichtet wird und die im O-Ton zu Wort kommen. Auch Rezipienten tauchen in Radioprogrammen mit ihrer Stimme auf, zum Beispiel bei Telefonaktionen, bei denen Hörer per Telefon zugeschaltet werden.3 Diese kommunikativen Rollen treffsicher identifizieren zu können, stellt eine essenzielle Medienkompetenz dar. Wo es Hörern nicht gelingt, zwischen dem Statement eines Politikers und dem Kommentar eines Journalisten, zwischen einer Reportage und einem Werbespot zu unterscheiden, gerät die Idee des unabhängigen Journalismus an ihre Grenzen. Es ist eine Frage guten journalistischen Arbeitens, immer deutlich zu machen, wer in welcher Rolle spricht. In der Regel geschieht das durch sprachliche Kennzeichnung: Reporter werden als solche genannt, O-Ton-Geber mit Namen und Funktion vorgestellt. Außerdem trägt aber noch die Sprechhaltung dazu bei, dass die Rollen unterscheidbar werden. Sprechhaltungen verändern sich, je nach dem, ob die Stimme einen eigenen Text spricht (Reporter) oder einen fremden (Berufssprecher), einen schriftlichen Text (Nachrichtensprecher) oder einen mündlichen (Interviewgast). Ein monologischer Text (Vortrag) geht mit einer anderen Sprechhaltung einher als ein dialogischer (Gesprächsrunde), eine Stimme, die den Hörer anspricht (Moderator), mit einer anderen als die, die sich an eine andere Person wendet (Interview). Bezieht ein Sprecher selbst Position Sender­namen nennt. Sie ist gewissermaßen stimmlicher Ausdruck eines Senderlogos und Bestandteil des On-Air-Marketings. In der Regel bleibt die Stimme anonym. 3  Die Analyse von kommunikativen Rollen im Hinblick auf Kommunikatoren, ­Akteure und Rezipienten geht zurück auf Häusermann 1998.

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zu einem Thema (Kommentator), liegt eine andere Sprechhaltung zugrunde, als wenn er eine fremde Meinung wiedergibt (Zitator).4 Diese unterschiedlichen Rollen hat es nicht von Anfang an im Radio gegeben, sie sind in den ersten Jahren des Rundfunks erst nach und nach entstanden. Gethmann zeichnet diesen Prozess nach und beschreibt, wie »das Radio sein Sprechen lernte«,5 wie das erste Jahr des Rundfunks in Deutschland, das Jahr 1924, im Zeichen einer beginnenden Ausdifferenzierung der Radiostimme stand. Die Ausdifferenzierung der Stimme bedeutet für ­Gethmann eine Ausdifferenzierung des Sprechens. Rundfunksprecher lernten im Verlauf der ersten Jahre, das Potential ihrer Stimme zu nutzen und verschiedene Sprechformen zu entwickeln: die Sprechformen des Ansagers, des Hörspielsprechers und des Reporters, um ein recht grobes Raster zu entwerfen. Ich sehe diese Ausdifferenzierung gleichzeitig als Ausdifferenzierung des Umgangs mit dem Raum, in dem sich Stimmen hörbar befinden. Die unterschiedlichen kommunikativen Rollen unterscheiden sich nämlich nicht nur in ihren Sprechhaltungen, sondern sie sind auch räumlich markiert. Ich möchte sogar zeigen, dass der Ausdifferenzierung des Sprechens im Radio, die Gethmann beschreibt, eine Ausdifferenzierung des Raums vorausgeht und aus dem jeweils unterschiedlichen Umgang mit Raum unterschiedliche Raumkonzepte entstehen. Eine besondere Rolle spielt dabei der Umgang des Reporters mit Raum, aus dem sich schließlich für das Radio zentrale journalistische Darstellungsformen entwickeln werden. Anfängliche Sprachlosigkeit im deutschen Radio

Als der öffentliche Rundfunk in Deutschland zu senden begann, zunächst eine Stunde am Abend, bald zwei, bald drei und mehr Stunden täglich, war die Aufgabe der raumlosen Radiostimmen recht überschaubar: Die Sprecher sagten Musik an – die ersten Sendungen bestanden fast ausschließlich aus Musik. Einige Tage nach Sendestart kamen noch Gedichtrezitationen dazu; das ers-

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Häusermann 1998, insb. S. 59ff., beschreibt das komplexe Beziehungsgeflecht z­ wischen Sprecher, Hörer, Autor und Text im Hinblick auf Radio allgemein. Vgl. im ­Hinblick auf die sprecherische Umsetzung im Hörbuch Häusermann 2010, S. 185ff. Bose und Föllmer 2015 sehen die Sprechhaltung von Radiostimmen als Teil der »An­ mutung« eines Radiosenders, die unbewusst erfasst wird und zu seinem charakteristischen Sound beiträgt. 5  Gethmann 2006, S. 89ff.; Zitat auf S. 104.

Reportage

te Gedicht, das im deutschen Rundfunk zu hören war, war »See­gespenst« von Heinrich Heine, vorgetragen am 3. November 1923 von Peter Ihle.6 Gedicht­ rezitationen durch bekannte Schauspieler fanden schnell ihren regelmäßigen Platz im Rundfunk, womöglich weil sie als künstlerische Elemente, ähnlich wie Musik, ihre ästhetische Gestalt in den Vordergrund rückten und damit weniger anfällig waren für Verständnisprobleme aufgrund unzulänglicher Übertragungsqualität.7 Was aber in diesen ersten Tagen und Wochen des Rundfunks Ausnahme blieb, waren inhaltlich motivierte Wortbeiträge. Obwohl die Berliner Funk-­ Stunde zum Zwecke der »Veranstaltung und drahtlose[n] Verbreitung von Vorträgen, Nachrichten und Darbietungen künstlerischen, belehrenden und unterhaltenden Inhalts« gegründet worden war, konzentrierte sich das Programm anfangs auf den Bereich Unterhaltung. Hierin kommt nicht nur Bredows Vorstellung vom Radio als Unterhaltungsrundfunk zum Ausdruck – ein überparteiliches und damit de facto politikfreies Rundfunkprogramm8 –, sondern auch die Notwendigkeit, zunächst die Leistungsfähigkeit der neuen Medientechnik Radio unter Beweis zu stellen. Es kam noch überhaupt nicht darauf, was Stimmen im Radio sagten, oder wie sie es taten, sondern: »Es erschien noch als Wunder, daß man überhaupt hörte und verstand,« erinnert sich Alfred Braun, einer der zentralen Protagonisten des frühen Rundfunks.9 Der Medienphilosoph Lorenz Engell vergleicht diese Situation mit den ersten Mondbildern im Fernsehen 1969, bei denen es, wie er darstellt, auch nicht auf die Inhalte, sondern auf die schiere Tatsache ankam, dass Bilder vom Mond gesendet wurden: »Mitgeteilt wurde die Mitteilbarkeit selbst in ihrer bloßen Potenzialität.«10

6 

Vgl. Gilfillan 2009, S. 28. In ihrer Funktion als unterhaltendes Programmelement erlebte die Gedicht­rezitation von 2006 bis 2010 mit dem Gedicht des Tages im Deutschlandfunk eine ­kleine Renaissance; in dieser Zeit wurde täglich ein Gedicht ohne Ankündigung und »ohne ­festen Sendeplatz maximal dreimal wiederholt« (Pressemitteilung des Deutschlandfunks vom 08. 12. 2005, URL: http://www.dradio.de/presse/pressemitteilungen/446117/, abgerufen am 8.11.2013). Auch andere Kultursender haben Gedichtrezitationen im Programm. 8  Vgl. Lerg 1965, S. 212. Siehe auch Lerg 1980, S. 89ff. 9  Braun 1959, S. 62. In seinen Erinnerungen äußert Braun 1968, S. 30ff., sogar die Vermutung, dass der Berliner Rundfunk wochenlang deswegen frei von Wortbeiträgen geblieben wäre, weil er selbst sich energisch gegen ein Stellenangebot des befreundeten Leiters der Berliner Funk-Stunde, Georg Knöpfke, gewehrt hätte, dieser die Stelle aber all die Zeit für ihn freigehalten hätte. 10  Engell 2001, S. 57. 7 

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Gerade die damals gängigen Detektorgeräte waren noch so anfällig, dass Hörer ohnehin genug damit zu tun gehabt hatten, den Empfänger immer wieder zu justieren, damit die Übertragung nicht abbrach.11 Bis in die 1920er-Jahre sei Radiohören ohnehin eine Bastelei gewesen, für die technisches Knowhow genauso erforderlich war wie Geduld: Zum Empfangsgerät führt eine Antenne, die überwacht oder umgestellt werden muß, der Spannungszustand der gesondert untergebrachten Batterien ist zu kontrollieren, die Röhren sind sehr empfindlich, sie dürfen nicht überheizt werden – die Glühfarbe der Kathoden ist der Anzeiger –, und ein Kopfhörer oder ein separater Lautsprecher bilden das letzte Glied zwischen elektrischen Signalen und dem menschlichen Ohr.12

Die Überwindung des Raums ging nicht problemlos vonstatten, und dieser Umstand trug sicherlich seinen Teil dazu bei, dass ›echte‹ Inhalte, Sendungen, die auf dem gesprochenen Wort fußten, anfangs nur eine marginale Rolle spielten. Man weiß, dass am Totensonntag 1923 Pfarrer Georg Siebert im ­R adio eine Predigt gehalten hat; bekannt ist auch ein »politischer Weihnachtsgruß« von Reichskanzler Wilhelm Marx und weiteren Mandatsträgern.13 Auf den 4. Mai 1924 lässt sich eine Sendung datieren, die der Rundfunkkritiker Ludwig Kapeller als »Politische Taufe des Rundfunks« bezeichnete, nämlich die erste Wahlberichterstattung, die übers Radio zu hören war.14 Der Ausnahme­ status solcher Sendungen in den ersten Monaten macht deutlich: Diese experimentelle Zeit war von dem Bemühen geprägt, überhaupt Wortsendungen ins Radio zu bringen. Die Herausforderung war zum einen eine technologische, nämlich trotz der Unzulänglichkeit der frühen Sende- und Empfangstechnik überhaupt verstanden zu werden. Doch sie war vor allem auch eine politische und dabei spezifisch deutsche: die Überwindung von Bredows Diktum des unpolitischen Unterhaltungsrundfunks. In anderen Ländern war Politik von Anfang an Bestandteil der Berichterstattung im Radio. Bereits am

11 

Vgl. Lenk 1997, S. 85f. sowie Fickers 2006, S. 90. Friemert 1996, S. 21f. 13  Heitger 2003, S. 143. 14  Mit »Politische Taufe des Rundfunks« ist ein Artikel von Kapeller in der Zeitschrift Funk überschrieben, in dem er über die Sondersendung berichtet (vgl. Heitger 2003, S. 144). Zu den anderen genannten Wortsendungen vgl. Schumacher 1997b, S. 424ff., insb. S. 441. 12 

Reportage

2. November 1920 berichtete eine US-amerikanische Rundfunksendung über die dortige Präsidentenwahl.15 109 Stimmen im Raum

Es war nun gerade nicht die politische Rede, mit der eine systematische Erprobung der Möglichkeiten des Sprechens im Radio ihren Anfang nahm, s­ ondern das Hörspiel. Diese Ausdifferenzierung fing auch nicht mit dem Versuch an, andere Sprechweisen zu entwickeln, sondern mit gezielten Veränderungen der räumlichen Aufnahmesituation. Der damalige Intendant der Süwrag, Hans Flesch, der als einer der innovativsten Köpfe des frühen Rundfunkprogramms gilt,16 unternahm im Laufe des Jahres 1924 entsprechende Experimente. So übertrug er unterschiedliche Instrumente jeweils aus dem schallgedämmten Rundfunkstudio sowie aus einem Konzertsaal.17 Was uns heute banal vorkommen mag, war damals noch eine Erkenntnis, die solchermaßen erst gesichert werden musste: Der akustische Unterschied zwischen beiden Übertragungen ist im Radio tatsächlich zu hören, und er lässt sich narrativ ausnutzen. Die Experimente fanden ihren Niederschlag in Hörspielen, die ihr erzählerisches Potential gerade aus dem raumakustischen Wechsel bezogen, zuallererst beim Hörspiel Zauberei auf dem Sender, das am 24. Oktober 1924 gesendet wurde.18 Zauberei auf dem Sender gilt als das erste genuine Rundfunk-Sende­ spiel im deutschen Radio – in Abgrenzung zu Aufführungen klassischer Dramen vor dem Mikrofon. Es ist auch deswegen bis heute so bekannt, weil der Hessische Rundfunk (HR) das Hörspiel 1962 auf Grundlage des 1924 publizierten Manuskripts nachproduziert hat. Zwölf Jahre später entstand sogar eine Neuinszenierung in Kunstkopftechnik, wieder beim HR. Zauberei auf dem Sender stellt für Flesch den Versuch dar, ein Hörspiel zu schreiben, das ganz auf die akustischen Möglichkeiten des Rundfunks ausgerichtet ist und

15 

Vgl. Häusermann 2009, S. 188. Vgl. Hagen 2003, S. 72: »In Dr. Hans Flesch […] lernen wir den wichtigsten, ­innovativsten, sachkundigsten und mutigsten Radiopionier der Weimarer Zeit kennen.« Weitere biografische Notizen zu Flesch finden sich in Ottmann 2013, S. 25ff. sowie in ­Soppe 1993, S. 164ff. Fleschs Zeit als Intendant der Berliner Funk-Stunde zwischen 1929 und 1932 beleuchtet Weil 1996. 17  Vgl. Flesch 1924a. 18  Vgl. Gethmann 2005, S. 104f. 16 

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den Rundfunk nicht als defizitären Ersatz für eine echte, sichtbare Theaterbühne betrachtet.19 Als Protagonist des Hörspiels lässt sich das Studio als Raum sehen. Das Geschehen findet im Rundfunkstudio statt und thematisiert dieses auch. Die Akteure handeln in dem Raum, sprechen miteinander, bewegen sich in ihm, Personen verlassen und betreten den Raum.20 Natürlich existiert keine Aufzeichnung von der Ausstrahlung 1924, lediglich die Neuinszenierungen lassen einen Eindruck davon zu, wie das Stück damals geklungen haben könnte. Was beim Hören der Version von 1962 sofort klar wird: Das Rundfunkstudio ist nicht mehr die akustische Heterotopie, sondern ein Handlungsraum, der mehr an ein Wohnzimmer erinnert. Grund dafür ist wohl nicht eine fehlende Schalldämmung, sondern ein anderer Umgang mit dem Mikrofon: Die Hörspielsprecher haben offenbar nicht direkt ins Mikrofon gesprochen, sondern sie haben den gesamten Raum für ihr Handeln und ihr Sprechen genutzt. Hier wird deutlich: Das Hörspiel erforderte einen anderen Umgang der Sprecher mit dem Raum, und in der Konsequenz ergab sich ein anderer Klang. Die Stimmen wurden gemeinsam mit dem umgebenden Raum hörbar. Fleschs Experimente markieren die Anfänge einer Auseinandersetzung mit dem Wie des Sprechens, mit der sprecherischen Ausgestaltung der Stimme. Für den Ansager, der in erster Linie um die verständliche Vermittlung von Sprache bemüht war, kam es auf das Wie noch nicht an. Für den Hörspielsprecher aber wurde der Klang der Stimme mitsamt ihren raumakustischen Attributen zu einem wesentlichen bedeutungstragenden Aspekt. Dass diese klangliche Dimension der Stimme auch gehört und in ihrer Bedeutung erfasst werden kann, musste Flesch erst unter Beweis stellen. Der spätere Intendant der Schlesischen Funkstunde, Fritz Walter Bischoff, stellte in seiner 1929 erschienen Hörspieldramaturgie klar, »daß das Wort, neben der Musik […] das einzige Ausdrucksmittel im Hörspiel, in Tonfall und Tonführung vehementer vielfältig wechselnder Tempi und Ausdrucksvarianten bedarf.«21 Damit unterscheidet sich die Sprechweise des Hörspielsprechers entschieden von der des Ansagers. Hörspielsprecher stellen ihre Stimme in den Dienst der Dramaturgie, des Geschehens – und des Raums, in dem sie agieren.

19  20  21 

Vgl. Flesch 1925. Das Manuskript wurde in der Zeitschrift Funk abgedruckt: Flesch 1924b. Bischoff 1929, S. 202.

Reportage

Befreiung des Sprechens

Neben Ansager und Hörspielsprecher tauchte ab 1925 noch eine dritte Stimme auf: der Reporter. Das Markenzeichen des Reporters war, dass er live von vor Ort berichtete. Oft ging es um aktuelle Ereignisse, die im Voraus bekannt waren und geplant werden konnten, allen voran Sportwettkämpfe. Manchmal war die Live-Berichterstattung selbst aber auch Ereignis genug, wie in der Sende­reihe Verirrte Mikrophone, die wiederum von Hans Flesch eingeführt worden war und den Alltag Frankfurts thematisierte. In beiden Fällen war der entscheidende Unterschied zu allen bisherigen Radiostimmen der, dass Reporter sich außen, in der Welt und am Ort des aktuellen Geschehens aufhielten – und eben nicht im Rundfunkstudio. Die Reportage hat sich in ihrer Sprechweise sowohl vom Ansager als auch vom Hörspielsprecher abgesetzt. Doch zunächst war die Differenz eine räumliche, und zwar in zweierlei Hinsicht. Zum einen befand sich der Reporter an einem anderen Ort, der andere Charakteristika an den Tag legte als das schallgedämmte und isolierte Rundfunkstudio. Und zum anderen machte die Reportage diesen anderen, keineswegs immer stillen Ort gezielt hörbar. Die Reporterstimme war eine verräumlichte Stimme. Die Verräumlichung blieb nicht ohne Auswirkung auf den Reporter und die Weise, in der er sprach. Stimme und Raum stehen ja in engem Verhältnis zueinander, und wer spricht, passt sich mit seiner Stimme unweigerlich der akustischen Umgebung an.22 Überdeutlich wird dieser Zusammenhang bei Alfred Brauns Erfindung der Flüsterreportage. Braun sollte für die ­Berliner Funk-Stunde live von der Nobelpreisverleihung an Thomas Mann 1929 aus dem Konserthuset Stockholm berichten. Der schwedische König zeigte sich dem Rundfunk gegenüber aber wenig aufgeschlossen und verwies Brauns Mikro­fon des Saals. Doch Braun und sein Techniker wollten sich nicht geschlagen geben: »Ein entsetzlicher Gedanke, die ganzen Unkosten für die Expedition nach Stockholm sollte der Deutsche Rundfunk umsonst ausgegeben haben; zu Hause saßen die Hörer vorm Rundfunk und warteten vergeblich auf meine Reportage.«23 Sie fanden einen kleinen versteckten Balkon, über den sie sich samt Mikrofon in den Saal schleichen konnten. Da sie sich dort in unmittelbarer Nähe zum König befanden, musste Braun flüstern. Damit ver-

22  23 

Vgl. dazu Kapitel 3.3. Braun 1968, S. 16.

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hinderte er nicht nur, entdeckt zu werden, sondern er traf mit seiner Stimme auch die feierliche Stimmung der Veranstaltung; er fand eine der räumlichen Situation und dem Anlass gemäße Sprechweise: »Er sprach so verhalten, wie es die Feierlichkeit des Anlasses verlangte, und dennoch so kräftig, wie es der jeweilige Ort des Geschehens […] erlaubte.«24 Diese Anekdote bringt die Leistung Brauns für den Rundfunk auf den Punkt. Braun steht für die Entwicklung eines innovativen adaptiven Sprachstils in der Reportage, einer Sprechweise, die sich der Situation anpasste.25 Diese Flexibilität der Reporterstimme ist bis heute ihr zentrales Merkmal; davon kann man sich jedes Wochenende überzeugen: Sportreporter nämlich, die auf der Stadiontribüne, inmitten des ohrenbetäubenden Lärms der jubelnden Menschenmenge stehen und von dort berichten, tun genau das Gleiche wie Braun in Stockholm: Sie passen sich der akustischen Umgebung an. Der Effekt ist der, dass Sportreporter selbst laut sprechen, rufen, manchmal sogar regelrecht brüllen, um sich selbst zu hören und um gehört zu werden. Diese Form zu sprechen ist gleichermaßen der Raumsituation, dem Anlass und der Emotionalität des Ereignisses angemessen. Doch Häusermann geht noch einen Schritt weiter: Die Stimme des Reporters trage genauso dazu bei, die räumliche Disposition des Radios zu verdeutlichen. Mit seiner Stimme macht der Reporter nicht nur hörbar, dass er sich an einem anderen Ort befindet, sondern auch, dass er aller geografischen Verhältnisse zum Trotz mit den Radiohörern spricht und ihnen eben so nah ist wie dem schwedischen König oder dem Geschehen im Stadion.26 Die Sprache der Reportage unterschied sich von den anderen Formen des Sprechens im Radio schließlich auch darin, dass sie sich als einzige vom schriftlichen Text löste. Als die Reportage Einzug in den Rundfunk hielt und sich als eigenes Programmelement zu etablieren begann, war der Reporter der einzige, der frei reden durfte. Gerade zu dieser Zeit, nach Überwindung der ersten Experimentalphase, setzte nämlich ein, was Gethmann als »Verschriftung der Rede« charakterisiert.27 Er zeigt, dass das Sprechen zunehmend an vorgeschriebene Texte gebunden wurde, An- und Absagen im Zuge einer Professionalisierung schriftlich vorbereitet wurden. Für Hörspielsprecher galt die Textbindung ohnehin; einzelnen Versuchen von Schriftstellern, literarische 24  25 

Häusermann 2005, S. 164. Vgl. Häusermann 2005, S. 164f. 26  Vgl. Häusermann 2005, S. 164f. 27  Vgl. Gethmann 2006, S. 112ff.

Reportage

Texte vor dem Mikrofon zu improvisieren, war kein Erfolg beschieden.28 Die Textbindung galt aber in besonderem Maße auch für Nachrichtensprecher. Nachrichten wurden ab 1926 zentral von der Dradag geliefert und mussten teilweise wörtlich übernommen werden.29 Diese Verschriftung hatte ihrerseits wieder Einfluss auf das Sprechen genommen. Denn obwohl der zu sprechende Text schriftlich fixiert war, bemühte man sich zu verschleiern, dass er abgelesen wurde. Was dadurch entstand, war »eine neue orale Literarizität der verschrifteten Rede« und im Ergebnis eine Sprechweise, die geprägt war durch den »Sicherheitston, dessen Sprechmelodie zum Grundton der Objektivität wurde«30 – eine Sprechweise, die im Radio noch heute gepflegt wird. Gleichzeitig wirkte dieses Sprechen zurück auf den Schreibstil und damit auf die phonologische Struktur des Gesagten: Die Dradag entwickelte einen Schreibstil, der sich am Sprechen und Hören orientierte und größtmögliche Verständlichkeit zum Ziel hatte – nicht akustische, sondern inhaltliche Verständlichkeit.31 Die Freiheit des Sprechens kam für Reporter unerwartet und stellte eine neue Erfahrung dar, wie eine Anekdote von einer der ersten Sportreportagen des Rundfunks zeigt. Der Reporter Bernhard Ernst32 hatte für seine Berichterstattung von der Ruderregatta auf dem Dortmund-Ems-Kanal am 21. Juni oder 12. Juli 192533 noch alles vorgeschrieben, was er sagen wollte – und damit alles, was mutmaßlich geschehen würde. Seine größte Hoffnung wäh-

28 

Der Schriftsteller und literarische Mitarbeiter der Berliner Funk-Stunde E ­ dlef ­ öppen brachte am 1. Dezember 1929 ein Experiment auf den Sender, bei dem ­Rudolf K Arnheim, Alfred Döblin, Wolf Zucker und Arnold Zweig gemeinsam im Stile des Märchen­erzählers Geschichten improvisieren sollten (vgl. Gethmann 2006, S. 116f. sowie Weil 1996, S. 229). 29  Das legte die 1926 in Kraft getretene Erste Rundfunkordnung fest (vgl. Dussel/ Lersch 1999b, Krawitz 1980, S. 53ff. und 111f. sowie Dussel 2002, S. 165ff.). 30  Gethmann 2006, S. 114f. 31  Räuscher 1929, S. 318. Vgl. dazu auch Karl Würzburgers Methode des ­Schreibens fürs Radio, Kapitel 6.2. Bis heute zählt es zu den zentralen Herausforderungen für ­Autoren von Radiotexten, fürs Sprechen und Hören zu schreiben (vgl. zum Beispiel die Lehrbücher Häusermann/Käppeli 1994 oder Wachtel 2013). 32  Die Anekdote findet sich in Ernst 1933, S. 119f. Im Rundfunk-Jahrbuch von 1933, in dem dieser Rückblick abgedruckt ist, wird der Autor nicht explizit genannt. Wolfgang Schütte sowie Ansgar Diller (1972, S. 320) vermuten, dass der Text auf Bernhard Ernst zurückgeht. 33  Das Datum ist nicht eindeutig zu ermitteln (vgl. Diller 1972). Diller widerlegt die mehrfach kolportierte Annahme, hierbei handele es sich um die allererste Live-Sport­ reportage der deutschen Rundfunkgeschichte.

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rend der Reportage sei es gewesen, so berichtet Ernst im Rückblick, dass die Wirklichkeit seinem Text gerecht werden möge. Der schriftliche Text nahm einen so hohen Stellenwert ein, dass der Reporter ihn über das tatsächliche Geschehen stellte und bereit war, im Zweifelsfall Unwahres zu reportieren – wohl wissend, dass die Hörer das nur schwer kontrollieren konnten. Die Anekdote endet schließlich mit einem Topos, der in ähnlicher Form mehrfach in unterschiedlichen Berichten über erste Erfahrungen mit der freien Reportage auftaucht: Als die Boote, die der Reporter auf dem größten Teil der Strecke überhaupt nicht sehen konnte, dann endlich auftauchten, packte ihn die Sportbegeisterung, das Manuskript fiel ihm vor Erregung aus den Händen, und der Zwang, aus dem Stegreif reden zu müssen, wurde zu einer Befreiung; schnell fand er eine der Situation gemäße Sprechweise: [Ernst] sprach so in den kleinen Kasten, als ob er über das, was sich im Augenblick vor ihm abspielte, einem guten Freunde berichtete. Ja, er fand sogar den Mut – ganz wider den vorher aufgestellten Feldzugsplan –, jene vier Ruderer ans Mikrophon zu schleppen, die ihn wenige Minuten vorher durch ihre körperliche Leistung in so unvorhergesehener Weise frei von einem ausgearbeiteten Schriftstück gemacht hatten.

Die Sendung wurde ein Publikumserfolg. Eins aber schwor er sich am Abend dieses Tages, niemals mehr vorher die Wirklichkeit auf Papier festlegen zu wollen. Denn das Beispiel hatte ihn gelehrt, daß Mikrophon und Hörer eine solche Sendung nur vertragen, wenn der Berichter so spricht, wie ihm der Schnabel gewachsen ist.34

Die Reportage, bei der sich Sprechen und Raum, Stimme und Atmo miteinander verbinden, gilt heute als Königsdisziplin des Radiojournalismus. Die Herausforderung für Reporter liegt darin, aus dem Stegreif die eigenen Sinneswahrnehmungen sprachlich umzusetzen, den Hörern zu schildern, was man beobachtet, sieht und riecht. Die Reportage speist sich aus dem Raum, der den Reporter umgibt; die unmittelbare Umgebung, das Geschehen rings um den Reporter ist das, worüber er spricht. Und es ist vor allem die akustische Umgebung des Reporters, die klangliche Atmosphäre des umgebenden Raums, die die sprecherische Umsetzung der Reportage strukturiert.

34 

Beide Zitate stammen aus Ernst 1933, S. 120. Ganz ähnliche Geburtsmythen der frei gesprochenen Reportage erzählen auch Alfred Braun 1968, S. 15 und Paul Laven (in Lenk 1997, S. 222).

Reportage

Die Ausdifferenzierung der Radiostimme in die Rollen des Ansagers, des Hörspielsprechers sowie des Reporters hing also eng zusammen mit der Entwicklung von unterschiedlichen Formen des Sprechens, und die drei Rollen legten auch einen je eigenen Bezug zum Raum an den Tag. Der Ansager mit seiner raumlosen Stimme folgte dem Raumkonzept der Intimität, das ihn als Freund ins Wohnzimmer des Hörers setzte, einem Konzept, das eng mit der vereinzelten Situation des Sprechers im schallgedämmten Studio verbunden war. Beim Hörspielsprecher dagegen begann sich bereits 1924 ein kreativer, manipulativer Umgang mit Raumakustik zu formieren, der im Zeichen fik­ tionaler Stoffe unterschiedliche akustische Settings zu komplexen narrativen Welten zu verbinden vermochte. Der akustische Realismus der Reportage schließlich zielte darauf ab, die Hörer an den Ort des Geschehens zu versetzen, sie in eine Klangkulisse zu hüllen, die die eigene akustische Situation – das Wohnzimmer – überlagerte. Die Reportage stellte mit ihrem Erscheinen Mitte der 1920er-Jahre eine sprachliche Innovation dar, weil Reporter mit ihrer Stimme auf den Raum der akustischen Welt reagierten. Es wurde ein Raumkonzept wirksam, das ich auf den kommenden Seiten genauer untersuchen möchte.

4.2 Klang der Welt: Die Ästhetik der Reportage Das Mikrofon auf Reisen

Die Reportage war eine Raum-Innovation in verschiedener Hinsicht. Dass sich die innovative Sprechweise des Reporters aufgrund der räumlichen Situation der Reportage entwickeln konnte, wie ich auf den vorhergehenden Seiten dargestellt habe, war nur eines der Ergebnisse dieser neuen räumlichen Formatierung des Radios. Denn als Außenübertragung, als eine Form, die sich gerade durch die räumliche Differenz von den anderen, im Inneren des Funkhauses entstehenden Formen definierte – Ansage, Vortrag, aber auch Hörspiel –, war die Reportage von ihrem Kern her durch den öffentlichen Raum bestimmt. Dass Reportagen stets an einem bestimmten Ort in der Welt stattfinden, ist ihrem Prinzip immanent. Radiosender feierten die Reportage denn auch als Überwindung des Raums, wie in diesem Kapitel deutlich werden wird. Ich möchte im weiteren Verlauf aber auch zeigen, wie die Reportage gerade wegen dieser neuen Raumbezüge auch eine ästhetische Innovation darstellte:

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Die Reportage brachte einen anderen Sound ins Radio, weil sie eben nicht nur den Reporter zu Wort kommen ließ, sondern auch die Welt mit ihren Geräuschen hörbar machte. Und diese neue Ästhetik griff direkt in das Raumdispositiv des Radios ein: Das Radio konzipierte seine Beziehung zu den Hörern in der Reportage neu, das Verhältnis von Aufnahmeraum – der nun eben nicht mehr der akustisch gestaltete Raum im Funkhaus ist – zu Wieder­gaberaum folgte bei der Reportage nun einem anderen Raumkonzept, das weder ganz dem Raumkonzept der Intimität, wie bei der typischen Radiostimme des Ansagers, noch dem Raumkonzept der Hörbühne zuzuordnen war, das bei Konzertübertragungen zum Einsatz kam. Die Reportage war auch in dieser Hinsicht etwas Neues. Die Ära der Außenreportage begann in der Walpurgisnacht 1925. Ein Team der Norag machte sich abends auf den Weg – mit »Kraftwagen und Esels­ karren, beladen mit Funkreportern und Funkgeräten« –, um eine Live­sendung vom Gipfel des Brocken auszustrahlen. »Es war eine höllische Expedition. […] Um Mitternacht wurde auf der Teufelskanzel der aktuelle Funk im deutschen Rundfunk geboren. Die Taufrede hielt ihm der Satan selbst, seine punschflammenden Worte trug der Draht über Schierke und Halberstadt nach Hannover und Hamburg und von dort aus über die Rundfunksender der Norag ›An Alle‹.«35 Diese Expedition stellte wohl die erste große Außenübertragung im deutschen Rundfunk dar und gleichzeitig den Beweis dafür, dass solche Unternehmungen möglich sind: »Und das funkische Ergebnis? – Die Verwendungsmöglichkeit des Mikrophons für die ›aktuelle‹ Berichterstattung war erwiesen. Die Prüfung rundfunkgeeigneter Leitungen wurde angeregt. Schaltmöglichkeiten und Störungsquellen wurden festgestellt.«36 In den kommenden Monaten und Jahren wurde aus Experimenten Alltag. Die Sender übertrugen vom Gipfel der Zugspitze und vom Meeresgrund vor Helgoland, Übertragungen von Schiffen, Luftschiffen und Flugzeugen, vom Eiffelturm, aus dem Kölner Dom und natürlich aus den Fußballstadien und Sportstätten der gesamten Republik. Endgültig etablieren sich aktuelle Rundfunkreportagen im Tagesprogramm nach Einschätzung von Bernhard Ernst 1929: »Das Jahr 1929 wird in der Geschichte des deutschen Rundfunks als das Jahr verzeichnet werden, das allerorten in bis dahin nicht gekannter Inten-

35 

Einen kurzen Bericht, aus dem beide Zitate stammen, gibt Bodenstedt 1929b, S. 307. 36  Ernst 1933, S. 122.

Reportage

sität die Frage des sogenannten ›aktuellen Mikrophons‹ – um nicht den Ausdruck ›Reportage‹ zu gebrauchen – in den Vordergrund schob.«37 Sie konnten sich auch deswegen etablieren, weil es im Laufe des Jahres 1929 möglich wurde, Außenreportagen über Kurzwellensender, eingebaut in »Verstärker­ wagen«, ans Funkhaus zu senden. Bislang war immer eine Telefonleitung und damit ein Kabel notwendig. Ab der ersten Rundfunkreportage Mitte des Jahres 1925 entbrannte ein regel­rechter Wettstreit um den exotischsten Ort und die größte Entfernung, die von mobilen Sendeanlagen bis zum Funkhaus überbrückt wurden. »Die Sender wetteifern in der Aufspürung neuer Motive, Raum und Zeit sind überwunden.«38 Die Sendeanstalten feierten das entfesselte Mikrofon, indem sie regelrechte Übertragungsreisen durch ihr Sendegebiet unternahmen, von Hof zu Hof, von Fabrik zu Fabrik, eine Show sicherlich nicht nur für die Radio­ hörer, sondern auch für die Menschen, denen die Reporter mit ihrem Tross begegneten. Die Deutsche Stunde in Bayern zum Beispiel unternahm eine solche Übertragungsreise: »Es gibt aber eine Völker- und Menschenverbindung als große Funkaufgabe nicht nur über Erdteile hinweg, sondern ebenso wichtig ganz in die Nähe hin, in Heimatgebiete, die von der Großstadt wohl leicht zu erreichen sind, aber nur selten aufgesucht werden.« Das Fazit lautete: »Diese Wanderung, wohl die erste heimatkundliche Mikrophonreise, machte so die ganze große Zahl der bayerischen Rundfunkhörer mit Leid und Freud, Arbeit und Feierstunden eines Gebietes bekannt, das wohl dieser Werbung bedürftig und würdig war.«39 Mit der Außenreportage konnte sich der Rundfunk – zwei Jahre nach seiner Einführung – abermals als ein Wunder in Szene setzen, und wieder als ein Wunder der Raumüberwindung. Denn auf diesem Wege erschlossen die Sendeanstalten den geografischen Raum um sich herum. Mehr noch: Sie erschlossen ebenfalls den sozialen Raum und kamen mit der Landbevölkerung

37 

Ernst 1930, S. 199. Ernst mochte den Begriff Reportage nicht; er war der ­Meinung, »daß Reportage ein häßliches Wort ist, für das ein gutes deutsches Wort gefunden ­werden müßte.« (Aus dem Protokoll der Besprechung mit den Reportageleitern der ­deutschen Rundfunkgesellschaften am 28. November 1930, abgedruckt in Dussel/Lersch 1999a, S. 82 – 85, hier S. 85.) 38  Bodenstedt 1929b, S. 307. 39  Beide Zitate aus Freundorfer 1930, S. 137 bzw. S. 144. Ein weiteres Beispiel ist die Übertragungsreihe »Irgendwo in Westdeutschland« während des Sommers 1929, die von verschiedenen Industrieanlagen wie dem Hochofen Dortmund, dem Hammerwerk Essen oder dem Duisburger Hafen berichtete (vgl. Ernst 1930 sowie Birdsall 2013, S. 148ff.).

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in Kontakt – Radio, das Kind des intellektuellen Bürgertums, verließ die Großstädte. Allein diese neuen Grenzüberschreitungen waren zunächst Anlass genug, den Reporter auf die Reise zu schicken; auf die tatsächlichen Ereignisse kam es anfangs gar nicht so sehr an. Doch mit der Reportage schlug das Radio zugleich den Weg ein hin zu einem publizistischen, journalistischen Medium. Das Novum der Radioreportage war von Anfang an eng mit der Idee einer ›aktuellen Berichterstattung‹ verbunden.40 Der Begriff aktuell bezieht sich dabei zunächst lediglich auf die zeitliche Dimension: Der Reporter berichtet live von Ereignissen, die somit – gleichzeitig! – auch im Radio stattfinden. Zum Wunder der Raum- gehört das Wunder der Zeitüberwindung: »Aktuell« heißt »gegenwärtig« sein – die Zeitspanne der Übermittlung wichtiger Ereignisse auf ein Mindestmaß herabdrücken. Gibt es da nach der Dienstbarmachung des Rundfunks, dessen elektrische Wellen mit der Geschwindigkeit von 300 000 Kilometer in der Sekunde den Aether [sic] durchstrahlen, noch eine Steigerung der Schnelligkeit in der Bericht­ erstattung? Nach menschlichen Begriffen wohl kaum.41

Der Intendant der Norag, Hans Bodenstedt, konstatiert 1929: Im Jahre der »Pressa« [der Internationalen Presse-Ausstellung in Köln 1928] reiht sich der Rundfunk bewußt in die Reihe der Mittel ein, die es als ihre Hauptaufgabe betrachten, publizistisch zu wirken. […] Die Gliederung des Rundfunkprogramms der meisten deutschen Sender zeigt bewußt oder unbewußt immer mehr das Bild eines Mittlers, der aktuelles Geschehen verbreitet.42

Damit setzte zugleich ein zirkuläres Verhältnis zwischen Rundfunk und seinem Publikum ein. Reporter, die über all das berichteten, was die Allgemeinheit gerade beschäftigte, schufen dadurch ihrerseits wieder ein Gesprächsthema. Im Hinblick auf Fußballreportagen fragte Alfred Braun: »Hat der Rundfunk mehr zur Popularisierung des Fußballs beigetragen oder der Fußball mehr zur Popularisierung des Rundfunks?«43 – eine Frage, die ­Bernhard Ernst

40 

Vgl. den Titel des Artikels von Odendahl 1929: »Der Rundfunk als aktueller Berichterstatter«. 41  Odendahl 1929, S. 75. Dabei kam es zunächst nicht auf Ereignisse im Sinne heutiger Nachrichtenfaktoren an; das Ereignis bestand häufig schlicht in der Radiosendung selbst (vgl. dazu Schumacher 1997b, S. 451f.). 42  Bodenstedt 1929a, S. 138. 43  Braun 1968, S. 66.

Reportage

schon nach seinen ersten Sportreportagen zu beantworten wusste, nämlich beides: »Rundfunk im Dienste des Sportes! […] Sport im Dienste des Rundfunks.«44 Die Befreiung des Mikrofons von den Wänden des Funkhauses ermöglichte eine solch radikale Veränderung der kommunikativen Funktion des Rundfunks. Spätestens mit dem Einzug der Reportage in den Rundfunk also beginnt das noch junge Medium, auch ein ästhetisches Profil zu entwickeln, das sich insbesondere an der Differenz der unterschiedlichen Räume und mithin den unterschiedlichen kommunikativen Rollen schärft. Die Differenz ist insofern eine ästhetische, als das Radio den Raum der Reportage durch seine Geräuschkulisse deutlich hörbar macht – ganz im Gegensatz zur Raumlosigkeit des Ansagers.45 Die Reporterstimme ist eine verräumlichte Stimme, die die akustische Umgebung des Reporters nicht nur in Kauf nimmt, sondern bewusst und oft planvoll in Szene setzt. Wie wichtig diese Geräusche sind, war den Reportern besonders dort bewusst, wo sie ein enormes emotionales Potential entfalten konnten: in der Sportreportage. Der Klang von Sport

Eines hat sich in den vergangenen gut 90 Jahren nicht geändert: Damals wie heute stehen gerade Sportübertragungen hoch im Kurs. F. W. Odendahl von der Schlesischen Funkstunde AG in Breslau erklärt das mit einer aufkommenden Sportbegeisterung der Menschen, glaubt aber auch, dass Sport für die Rundfunkberichterstattung besonders geeignet sei – ohne diesen Zusammenhang zwischen Sportveranstaltung und der Form der Reportage genauer zu erläutern.46 Die Routiniers der Reportage an sich finden sich jedenfalls in den Sportredaktionen, meint Paul Laven, selbst erfahrener Sportreporter: Wenn einer einen Sportwettkampf lebendig machen kann, in all seinen Schattierungen der Stimmung, in der bunten Vielfalt seiner Figuren, wird er auch an anderer Stelle seinen Mann stehen. Er wird kraft seines Auges auch die Zusammenhänge in einem Eisenwerk aufdecken, kraft seiner Schilderungsgabe auch ein Zigeunerlager auffahren lassen,

44  45 

Ernst 1925, S. 2983. Kreutzfeldt 2015, S. 8, definiert die Reportage entsprechend: »Radio reportage is considered a radio program where the reporter in present tense relates self-experienced events from one or several places, which are illustrated by indexical sound.« 46  Vgl. Odendahl 1929, S. 86.

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Radio-Topologie die ­Arbeitslosenkolonne auffangen, die vaterländische Feier in eine fesselnde Bildwirkung bringen.47

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Dabei waren sich Sportreporter durchaus bewusst, dass es gar nicht allein darauf ankommt, Zusammenhänge aufzudecken und Gesehenes wortgewaltig zu schildern. Die Kunst des Reportierens sahen sie auch darin, das Geschehen für sich selbst sprechen zu lassen. Das wird in dem folgenden Beispiel deutlich: Am 31. Oktober 1925 kündigt die Westdeutsche Funkstunde AG (Wefag)48 für den kommenden Tag um 14.15 Uhr eine Live-Übertragung von der Fußballbegegnung Preußen Münster gegen Arminia Bielefeld an. Man wolle den gesamten Verlauf des Spiels »im Original« schildern und dabei ein »ziemlich vollkommenes Hörbild des Kampfes« erzeugen, nämlich durch den Einsatz von gleich zwei Mikrofonen, »eins hinter einem Tor aufgestellt und eins vor der Hauptzuschauerseite«.49 Es gab auf dem Preußen-Platz in Münster dann aber technische Probleme: In den ersten 20 Minuten des Spiels kam die Übertragungsleitung zum Funkhaus überhaupt nicht zustande, den Rest der ersten Halbzeit über musste ein normales Telefon als Provisorium dienen. In der zweiten Halbzeit funktionierte dann alles, nur die Übertragungsqualität der Fernleitung war doch schlechter als gedacht. Der Reporter Bernhard Ernst verbuchte den Versuch ungeachtet dessen als Erfolg: »Trotzdem aber kam das Kampfbild verständlich durch.«50 Offenbar ging es Ernst nämlich mehr um dieses »Kampfbild« als um die sprachliche Schilderung der Vorgänge auf dem Platz. Das klingt zumindest bei seinem eigenen Rückblick auf das Reportage-Experiment durch: Ausgehend von dem Gedanken, daß eine Fußballübertragung nicht nur in der Schilderung der vielgestaltigen Kampfphasen bestehen könne, sondern mit Rücksicht auf die »Nichtfußball-Hörer« so gehalten sein muß, daß auch diese möglichst viel von dem Leben und Treiben des Spiels miterleben können, mußte dafür gesorgt werden, daß ein akustischer Hintergrund geschaffen werde, der ihm die Nichtkenntnis der Spielregeln ersetze. Zu diesem Zwecke wurde das eine Reißmikrophon direkt hinter einem Tor angebracht, damit neben der von hier aus erfolgenden »Berichterstat-

47  Paul Laven in der Zeitschrift Die Sendung vom Juli 1930, Nr. 52, 26.12.1930, zitiert in Vorwerk 2006. 48  Die Wefag mit Sitz in Münster verlagerte 1927 ihren Sitz nach Köln und nannte sich fortan Westdeutsche Rundfunk AG (Werag). 49  N.N.: Das erste deutsche Fußballspiel im Rundfunk 1925, S. 2839. 50  Ernst 1925, S. 2983.

Reportage tung« auch die Kampfgeräusche beim Angriff auf das Tor miterfaßt würden. Ein zweites Aufnahmegerät wurde in der Tribüne untergebracht, um auch durch das Erfassen des bekannten Zuschauertreibens der Kampfschilderung einen lebenden Hintergrund zu geben. Durch eine dreifache Schaltung am Hauptstand war es möglich, gegebenenfalls dieses zweite Tribünenmikrophon auszuschalten, um bei besonders lebhaften Kampfmomenten vor dem Tor diese möglichst getreu durchzubekommen.51

Ernst beschreibt die Fußballreportage als ein akustisches Hin-und-her zwischen den Geräuschen der Sportler auf dem Platz und den Reaktionen des Publikums auf der Tribüne. Ballabschläge, gegenseitige Zurufe und das Gerangel der Spieler, nicht zuletzt die Trillerpfeife des Schiedsrichters – all das wollte Ernst den Radiohörern nicht vorenthalten. Ebenso die emotionalen Reaktionen des Publikums: Es ist heute genauso wie damals auch, man feuert an, fiebert mit, man buht und jubelt lautstark. Das kollektive Jubeln oder Aufstöhnen der Menschenmasse erzählen den Spielverlauf auf ihre eigene Weise und können dabei ebenso deutlich ein Tor für die Heimmannschaft oder ein gegnerisches Foul anzeigen wie wortreiche Erklärungen des Reporters. Ästhetik des Realen

Was da im Hintergrund hörbar wird, heißt im Radiojargon Atmo – ein Kurzwort für akustische Atmosphäre. Damit ist die Klangkulisse gemeint, die den Reporter umgibt, all das, was nicht die Stimme des Reporters ist, sondern Teil des akustischen Raums. Das Handbuch Radio-Journalismus definiert die Atmo als »Bezeichnung für die allgemeinen Umweltgeräusche eines Ortes«, als ein Bündel von Geräuschen, das den »akustischen Steckbrief« eines Ortes bildet; die Atmo »malt uns akustisch ein Bild in den Kopf.«52 Diese Atmo gibt Aufschluss darüber, wo, an welchem Ort, sich der Reporter befindet. Durch die johlende Menschenmasse ist jedem Hörer klar, dass der Reporter aus einem Fußballstadion berichtet. »Für die Übertragung aktueller Ereignisse« – so die anfangs geläufige Bezeichnung für Live-Reportage – »ist ein geschicktes Auffangen der Schallwellen unerläßlich«, erklärt Odendahl.53

51  52  53 

Ernst 1925, S. 2982. Buchholz 2009b, S. 115f. Odendahl 1929, S. 76.

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Und diese Atmo kann wie im Fall der Fußballreportage den Hintergrund verlassen, neben die sprachliche Schilderung treten und gleichberechtigt von den Geschehnissen berichten. Wo tatsächlich etwas passiert, wo die Geräusche Zeugnis davon ablegen, ändert sich die Rolle des Reporters. Er muss nicht mehr alles um sich herum beschreiben, muss nicht mehr Gesehenes in Gesprochenes verwandeln, sondern kann die Welt für sich selbst sprechen lassen. Der Handlungsablauf eines Fußballspiels, der Arbeitsvorgang einer Fabrik bieten in der Tat die Möglichkeit, den Hörer an diesem Ausschnitt bewegten Lebens teilnehmen zu lassen; die akustischen Werte der erregten Zuschauermenge, die Geräusche der Maschinen ergeben ohne weiteres die Möglichkeit einer überzeugenden Übermittlung durch das Mikro­phon, und der Sprecher wird lediglich das Deuten und Verbinden zu übernehmen haben.54

Die Welt mit ihren Geschehnissen für sich selbst sprechen zu lassen, das ist nicht nur eine Möglichkeit – es wird sogar zum Markenzeichen der Reportage und schließlich des Radios mit seinen radiofonen Ausdrucksformen an sich. Das zeigt sich nicht nur bei Sportübertragungen. Der Berliner Alfred Braun, der zwar auch Fußballspiele reportierte, der aber in erster Linie für etliche andere Reportagen bekannt geworden ist, setzt sich noch in seinen Leben­ serinnerungen für dieses Vorgehen ein. Er blickt dabei auf eine seiner berühmtesten Reportagen zurück – die sogar als Tonaufzeichnung erhalten ist: In meiner Reportage von Stresemanns Begräbnis habe ich zu meinem großen Erstaunen beim Abhören festgestellt, wie wenig ich selber sprach und wie obligat ich alle akustischen Akzente sprechen ließ. »Jetzt biegt der Trauerkondukt von der Straße Unter den Linden in die Wilhelmstraße ein – das Musikkorps hinter dem Vortrupp der berittenen Polizei.« Und nun hörte man lange Zeit nichts von der Stimme des Reporters, nur den näherrückenden Hufschlag der Pferde und den Rhythmus der Pauken im Trauermarsch. […] Die Wirkung dieser Sendung war nicht das Wort des Reporters, sondern der Originalton. Es war mehr ein Hörbild als eine Reportage.55

Ihre radiofone Wirkung auf das hörende Publikum erzielt die Reportage erst dadurch, dass sie die akustischen Komponenten des Geschehens, Atmo und Geräusche, direkt hörbar macht; Radio beweist sich in der atmosphärischen Reportage als lebendiges Medium, das sich Hörern spannend und attraktiv

54  55 

N.N.: Westdeutscher Rundfunk 1931, S. 166. Braun 1968, S. 21f. Die Reportage stammt vom 6. Oktober 1929.

Reportage

darstellt. Diese Auffassung zeigt sich in den frühen Reflexionen zur Außen­ reportage – Ernst spricht vom »Gefühl der Verbundenheit für den Hörer, Phantasieanregung!« durch übertragene Geräusche56 – ebenso wie in heutigen Handbüchern für Radiojournalisten: »Eines der stärksten Mittel, mit dem Sie die Fantasie Ihrer Hörer anregen können, sind Aufnahmen von Geräuschen und von ganzen Klanglandschaften – so genannten Atmosphären.«57 Wo Atmos schließlich ganz autonom werden, spricht man heute auch von field recordings, Feldaufnahmen. Peter Cusack betont in seinem Plädoyer für einen »Sonic Journalism« – als erweitertes Konzept gegenüber dem klassischen Radiojournalismus – die Aussagekraft von field recordings gerade im Hinblick auf den Raum: [Field recordings] give basic information about places and events by virtue of the sounds, and their sources, as far as we can identify them. […] they also transmit a powerful sense of spatiality, atmosphere, and timing. These factors enhance our perception of both space and movement. […] we gain a better sense of a place. 58

Field recordings stellen gewissermaßen akustische Repräsentationen des Ortes dar, an dem sie aufgenommen wurden. Der enge Zusammenhang zwischen diesen Aufnahmen und dem jeweiligen Ort wird bei dem küstlerisch-experimentellen Projekt des Medienkünstlers Udo Noll, radio aporee, besonders augenfällig. Die kollaborative Website bietet es seit 2006 an, eigene field recor­ dings oder location recordings hochzuladen. Die Aufnahmen werden dann auf einer digitalen Weltkarte an demjenigen Ort angezeigt, an dem sie entstanden sind. Dafür muss man beim Hochladen eigener Aufnahmen immer auch die Geo-Koordinaten vom Aufnahmeort angeben.59 Es entsteht somit eine Art akustische Kartografie der Welt. Den Begriff Radio verwendet Noll deswegen, weil der Server die einzelnen Aufnahmen nicht nur gezielt über die Karte zugänglich macht, sondern zusätzlich als durch Algorithmen gesteuerten Stream ausspielt.60

56  57 

Ernst 1930, S. 204. Zindel/Rein 2007b, S. 115. Auch andere Handbücher empfehlen den Einsatz von Atmo (vgl. dazu Häusermann 2007, S. 25). 58  Cusack 2014, S. 8. 59  2017 gibt die Website aporee.org/maps eine Zahl von über 39 000 hochgeladenen Aufnahmen an. 60  Vgl. Noll 2014, S. 50ff.

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Die grafische Repräsentation der field recordings auf einer Karte ist Ausdruck dessen, dass diese Aufnahmen ihrerseits akustische Repräsentationen der zugeordneten Orte sind. Es drängt sich die Frage auf, ob die Aufnahmen auch die jeweiligen Orte erkennbar machen, ob sie etwas für den jeweiligen Ort Spezifisches haben und eine akustische Einzigartigkeit des jeweiligen Ortes darstellen. Das darf durchaus in Frage gestellt werden. Um das akustische Profil eines Ortes zu erzeugen, ist es sicherlich notwendig, aktiv nach den wieder­erkennbaren Besonderheiten des Ortes zu suchen. Worauf sich die Aufnahmen allenfalls berufen können, ist eine Authentizität, die darauf beruht, dass sie tatsächlich an dem jeweiligen Ort entstanden sind.61 Für Reporter ist diese Authentizität von enormer Bedeutung. Sie stellt denn auch nicht nur ein Merkmal von field recordings dar; die Original-Atmo fungiert geradezu als Garant für die Authentizität gesamter Reportagen. Das belegt ein Beispiel aus dem SWF-Studio in Tübingen in den 1980er-Jahren. Ein Reporter, der live aus einem fliegenden Hubschrauber berichtete, war mit einem speziellen Lippenkontaktmikrofon ausgestattet, um die lauten Umgebungsgeräusche gering zu halten. Das Mikrofon blendete den Motorenlärm so gut aus, dass letztlich kaum mehr etwas vom Hubschrauber zu hören war. Das führte zu Irritationen, und der Moderator der Sendung sah sich gezwungen, die Authentizität der Reportage ausdrücklich zu beteuern. Das Fehlen des Raumklangs widersprach den Erwartungen und Erfahrungen des Publikums mit Reportagen und wurde so zum Defizit: Gerade im Innern eines fliegenden Hubschraubers hatte man ein lautes Hintergrundgeräusch erwartet, sein Fehlen hinterließ eine Lücke. Mit dem Lärm ging die implizite Glaubwürdigkeit der Reportage verloren.62 All dies gilt nicht nur für die Umgebungsgeräusche – für Vogelgezwitscher und Windrauschen, für Verkehrslärm und die Geräusche von Menschen­ mengen –, auch die unmittelbare Raumakustik vor Ort, der Nachhall, der sich mit der Stimme des Reporters verbindet, trägt dazu bei, dass die Reportage lebendig und authentisch wirkt. Das macht sich natürlich besonders in Räumen bemerkbar, die eine ausgefallene und ungewohnte Akustik haben. Frü-

61 

Da das Projekt kollaborativ arbeitet, gibt es natürlich keine Garantie dafür, dass die Verortung der Wahrheit entspricht. Weitere medienkünstlerische Arbeiten, die mit den Zusammenspiel von geografischem Raum, GPS-Daten und Klängen arbeiten, beschreibt Großmann 2006, S. 317f. 62  Diese Anekdote erzählte mir Herbert Teschner, der die Geschichte als damaliger stellvertretender technischer Leiter des Tübinger SWF-Studios miterlebt hat.

Reportage

he Experimente mit der Form der Reportage in der zweiten Hälfte der 1920er-­ Jahre suchten daher geradezu nach solchen Orten. So gelang es einem Team der Werag, bei einem nächtlichen Besuch des Kölner Doms »ein Hörbild von außerordentlich plastischer Wirkung aus den hohen Säulengängen zu geben«.63 Auch wenn der unbekannte Verfasser zu Beginn des Berichts deutlich macht, dass es Aufgabe der Sprache sei, die eigentlich visuell erfahrbare Erhabenheit des Raums zu beschreiben, so zeigt sich im weiteren Verlauf doch, wie die übers Radio übertragene und hörbare Raumakustik ebenso ihre Wirkung entfalten kann: Indem Knaben langsamen Schrittes, die Meßdienerglöckchen schwingend, in die Tiefe des Raumes zogen, ergab sich der nahe, dann sich entfernende und wieder anschwellende Klang, der, wie das Lot die Tiefe der See, so hier die gewaltige Weite des Langhauses ausmaß. Ein anderes Mittel zur Versinnlichung von Raumtiefe und Raumhöhe bot das sogenannte Sieben-Sekunden-Phänomen. An einer bestimmten Stelle des Doms erhält der Ton ein vielfaches Echo, und so wurde durch Harmonium und gesungenen Dreiklang erneut ein Raumeindruck besonderer Art vermittelt.64

Und auch Ernst berichtet über das »räumliche Gefühl für den Hörer« und die »raumhafte[] Wirkung« einer Übertragung aus einem Stollen der Gelsenkirchener Zeche.65 Das Mikrofon fängt eben nicht nur die Geräusche ringsumher auf; zur akustischen Umgebung des Reporters gehört auch der spezifische Nachhall des Ortes: die Echos eines großen Raums wie dem Kölner Dom etwa oder die akustischen Charakteristika eines Bergwerkstollens. Die Stimme des Reporters wird durch beide Phänomene akustisch verräumlicht. Sie ist nicht mehr raumlos, isoliert, wie die des Ansagers im Rundfunkstudio; sie lässt sich mit einem ganz konkreten Ort in Verbindung bringen. Die Reportage verlässt also die Heterotopie des Rundfunkstudios und erzeugt eine Akustik des Realen, sie bringt einen Ausschnitt der Welt mit einer spezifischen akustischen Signatur ins Radio und macht diesen schließlich in anderen Räumen hörbar, in den Hörräumen, in denen Radiohörer lauschen.

63  64  65 

N.N.: Westdeutscher Rundfunk 1931, S. 167. N.N.: Westdeutscher Rundfunk 1931, S. 169f. Ernst 1930, S. 206.

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Radio-Topologie

Zusammenfassung: Das Raumkonzept der Reportage

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Mit der Reportage fand um 1925 eine radiofone Form Eingang in den Rundfunk, die sich in mehrerer Hinsicht von den bisherigen Formen des Radios absetzte. Ihr grundlegendes Merkmal war die räumliche Situation, in der Reportagen stattfanden: Reporter verließen die isolierten Aufnahmeräume der Funkhäuser und gingen stattdessen direkt an den jeweiligen Ort des Geschehens. Als das Ende des Weimarer Rundfunks bereits in Sicht ist, blickt das Rundfunk-Jahrbuch in seiner letzten Ausgabe noch einmal zurück auf die wichtigsten Entwicklungen seit dem Beginn im Jahre 1923 und rückt dabei gerade die Befreiung des Mikrofons in den Vordergrund: Als wir vor der Aufgabe standen, »Rundfunk zu machen«, war unser Reich ein wattierter Raum, in dem der freie Klang der Stimme erstickte und dumpfe Luft das Atmen erschwerte. Unheimliche Stille bedrohte uns, wenn die Instrumente schwiegen. Draußen aber rauschte das Leben vorüber, vor dem wir ängstlich die Fenster geschlossen hielten. Vielleicht hätten Forschende und Erhaltende, Vertiefende und Verwaltende daraus ein Paradies gemacht. Die Natur des Journalisten aber drängte zum Leben. Er wollte es selbst haben und nicht im übersetzten Zustand, und da es den Weg in den Funksaal nicht fand, mußte er es aufsuchen. So wanderte das Mikrophon zum erstenmal ins Freie hinaus.66

Bernhard Ernst stellt hier die Raumakustik des schallgedämmten Rundfunkstudios, den ungewohnt leisen Klang der Stimme darin, seine bedrohliche Stille und akustische Isolation von der Außenwelt programmatisch dem rauschenden Leben gegenüber, das Paradies der unvermittelten Wirklichkeit. Das Verdienst der Reportage besteht für ihn darin, das Leben hörbar zu machen – nicht auf Sprache reduziert und in wohlfeile Worte gepackt, sondern das Leben selbst. Die Stimme des Reporters war damit aber keineswegs auf einen marginalen Platz verwiesen, ganz im Gegenteil: Die Reportage bezog ihre Kraft gleichermaßen aus den Schilderungen des Reporters, der darüber sprach, was er sah, roch, fühlte und erlebte. Dass Reporter solchermaßen frei reden durften, unterschied sie von Ansagern und Vortragenden im Radio wie auch von Hörspielsprechern. Das Raumkonzept, das sich in der Reportage verwirklichte, speiste sich aus beidem. Die Atmo verwies die Stimme auf einen realen Ort außerhalb des Aufnahmeraums, an dem sich etwas ereignete, an den

66 

Ernst 1933, S. 118.

Reportage

Ort eines Geschehens in der Wirklichkeit; sie erzeugte gemeinsam mit der Raumakustik eine Klangkulisse, die sich um die Stimme des Reporters herumlegte. So wie ein Sendesaal für Musik mit seinem besonders gestalteten Nachhall Radiohörer in sich hineinzieht und ihnen ein akustisches Erlebnis gleich einer virtuellen Realität ermöglicht, so versprach auch die Klangkulisse der Atmo ein akustisches Erlebnis, in das Radiohörer im Extremfall geradezu hineinsinken konnten. Doch die Reportage fand eben nicht ausschließlich auf einer Hörbühne statt, sondern sie beinhaltete auch die nahe Stimme des Reporters. Es entstand eine ganz spezifische räumliche Anordnung, die sich aus dem hörbaren Geschehen der Welt und der Stimme des Reporters zusammensetzte. Die Stimme des Reporters, der direkt ins Mikrofon sprach, erschien so nah, als ob der Reporter direkt neben einem stände und persönlich von den Ereignissen des aktuellen Geschehens berichtete; die anderen Klangebenen zogen sich wie konzentrische Kreise in wachsender Entfernung darum herum. Der Hörer selbst wurde zum akustischen Mittelpunkt der Berichterstattung. »Mittendrin statt nur dabei« ist das Credo für den Reporter,67 und das verweist nicht nur auf eine journalistische Vorgehensweise, sondern eben auch auf das räumliche Setting, das sich für Hörer an Radiogeräten bietet. Das Mikrofon wird zum Ohr des Hörers, und was sich um das Mikrofon herum abspielt, erscheint Hörern wie die eigene akustische Umgebung. Diese räumliche Anordnung stellt das zentrale Konzept dar, mit dem sich der zweite Teil dieser Arbeit auseinandersetzt.

67 

Seip 2009, S. 181.

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II.

Der ästhetische Raum des Radios

»Im Radio entfaltet sich ein neuer Reiz: das Tönen des Sphärischen, das Schwingen des Räumlichen.« August Heinrich Berning, 1926

5 Produktion Gestaltung komplexer Räume

5.1 Mikrofon als Ohr: Akustische Perspektive Radio als ästhetischer Raum

An dieser Stelle der Arbeit verschiebe ich meinen Blickwinkel. In den voraus­ gehenden Kapiteln waren die Räume des Radios, auf die ich mich bezogen habe, materielle Räume, die man begehen konnte, in denen Aufnahmen und Sendungen stattfanden; es waren geschlossene oder auch freie, öffentliche Räume. Diese Räume wurden im Radio übertragen und in Rezeptionsräume versetzt – ein Prinzip, das ich als Raumdispositiv des Radios bezeichnet habe. Die akustischen Eigenschaften dieser Räume, ihre spezifischen Geräusche, ihr je eigener Klang oder auch ihr Stillsein blieben dabei nicht ohne Folgen. Sowohl für Sprecher als auch für Hörer änderten die Klangeigenschaften des Aufnahmeraums ganz wesentlich das Raumempfinden. Ob Radio ein Ohr zur Welt darstellte oder ob Hörer durchs Radio die Welt zu Gast im eigenen Heim hatten – das hing ganz von den Aufnahmeräumen ab. Radio als Hörbühne oder Radio als Medium der Intimität, diese beiden gegensätzlichen Konzepte ließen sich durch das Raumdispositiv des Radios mit seinen beiden architektonischen Räumen greifen. Der Raum, der in den kommenden Kapiteln ins Blickfeld rückt, lässt sich nicht betreten, nicht einmal sehen, er ist nur hörbar. Er wird nicht von Architekten gebaut, sondern entsteht durch die Tätigkeit von Reportern oder

Radio-Topologie

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­ roduzenten. Er wird mit elektroakustischen Mitteln, mit Mikrofonen und P den Geräten des Tonstudios hergestellt und gestaltet; er steckt im Radio. Ich nenne ihn den ästhetischen Raum des Radios. Wenn Stimmen in der Stereobreite einer Radioproduktion weiter links oder rechts zu hören sind, wenn Geräusche sehr nah oder weit weg erscheinen, dann spannen sie einen ästhetischen Raum auf. Als ästhetischen Raum bezeichne ich also die Raum­ dimension dessen, was über das Radio übertragen wird. Dieser Raum ist nicht einfach zu greifen, denn er existiert nicht in einer manifesten Form. Er befindet sich in einem Aggregatzustand, den Techniker als »Signal« bezeichnen: Er steckt in der Kabelverbindung zwischen Rundfunkstudio und Sendeanlage; in den elektromagnetischen Wellen der Radioübertragung durch den Äther; schließlich auch in den Lautsprecherpaaren von Radio­empfängern. Doch sobald er ›ans Licht tritt‹ und in Form von Schall den architektonischen Raum des Hörers erfüllt, ist er bereits wieder abhängig davon, wie Lautsprecher aufgestellt sind, wo sich Hörer befinden, wie der Wiedergaberaum ausgestattet ist. Wer Radio hört, hört den ästhetischen Raum im Wiedergaberaum. Kontroll- und Regieräume von Tonstudios sind deswegen genauso wie Sprecherräume schallgedämmte Räume, akustische Heterotopien, um Produzenten einen Zugang zu diesen ästhetischen Räumen zu ermöglichen. Zwischen Aufnahmeraum und ästhetischem Raum könnte man einen sehr direkten Zusammenhang vermuten: Der Aufnahmeraum wird mit seinen Raumeigenschaften hörbar und ist somit unmittelbare Ursache für den ästhetischen Raum. Doch so einfach ist es in aller Regel nicht, denn Grenzen und Struktur des ästhetischen Raums sind in erheblichem Maße durch die Bedingungen des Mediums, aber auch durch Arbeitsweisen, Produktionstechniken und nicht zuletzt durch Konventionen bestimmt. Gerade darin liegt ein Grund für die Notwendigkeit des Konzepts vom ästhetischen Raum. Der erste Teil dieser Arbeit ging davon aus, dass Radiopraktiker ein Mikro­ fon aufstellen – in einem Rundfunkstudio, in einem Aufnahmesaal oder an einem Ort aktuellen Geschehens –, dass das so erzeugte Signal, so wie es ist, in die Sendeanlage fließt und übertragen wird. Die akustischen Verhältnisse in der Aufnahmesituation bestimmen dann zusammen mit den technischen Eigenschaften des Mikrofons, wie der ästhetische Raum formiert ist. Auf viele Situationen der ersten Radiojahre traf das auch zu. Doch im Radio, wie wir es heute kennen und hören, ist diese Situation ein Ausnahmefall. Was im Radio heute gesendet wird, ist zumeist vielmehr Ergebnis mehr oder weniger aufwendiger Produktionspraktiken. Journalistische Beiträge entstehen

Produktion

durch Montage- und Collagetechniken aus mehreren einzelnen Aufnahmen, die hinter- und übereinandermontiert werden – für große Features und auch für Musikproduktionen gilt das noch viel mehr. Moderatorinnen und Moderatoren ›fahren‹ in zunehmendem Maße Sendungen, in denen ihre Stimme nur eine von mehreren Schichten ist; Hintergrundmusik und Jingles aller Art treten dazu und bilden mit der Stimme einen komplexen Klang.1 Das Wesen des Radios besteht immer weniger in der unmittelbaren Übertragung des Raums oder der Stimme; stattdessen tritt zunehmend die radiofone Produktion in den Vordergrund. Was dabei produziert wird, so möchte ich zeigen, ist stets ein Raum – eben dieser ästhetische Raum. Produzenten und Moderatoren ordnen die Klang­ ereignisse des Radios – Stimmen, Musik, Geräusche, Atmos oder Klangeffekte – nicht nur in der Zeit an, sondern sie positionieren sie auch in räumlichen Anordnungen entlang der Dimensionen links und rechts, fern und nah. Das bedeutet zugleich eine Emanzipation von den realen räumlichen Verhältnissen eines Aufnahmeortes.2 Die unterschiedlich komplexen Produktionsweisen möchte ich im folgenden Kapitel aufzeigen. Mein erster Befund ist dabei, dass bereits die scheinbar einfache radiofone Situation der Reportage – ein Mikrofon geht auf Sender – nicht ganz so unschuldig ist, wie man zunächst annehmen könnte. Bereits ein einzelnes Mikrofon stellt das Werkzeug dar, mit dem sich spezifische ästhetische Räume gestalten lassen, in denen jede Stimme und jedes Geräusch einen eigenen Ort einnimmt. Raumstruktur alles Hörbaren: Akustische Topologie

Seit den ersten Rundfunkreportagen sind über 50 Jahre vergangen, als Matthias von Spallart 1980 den südamerikanischen Kontinent für sein Feature Brasil mit dem Mikrofon bereist.3 Vieles hat sich in diesen 50 Jahren verändert. Spallart sendet nicht live, sondern er macht Aufnahmen auf Tonband 1 

Vgl. zum »Sendung fahren« Braun 2009. Moderatoren als »Pilote[en][…] in einem Cockpit voller HighTech« (S. 361) spielen sämtliche Elemente einer Sendung zur richtigen Zeit mit der richtigen Lautstärke zu und erzeugen so aus vielen Einzelteilen ein lineares Radioprogramm. 2  Das Beispiel des Deutschen Filmorchesters Babelsberg in Kapitel 3.2 hat bereits ­gezeigt, wie sehr bestimmte Produktionsweisen darauf aus sein können, einen gänzlich eigenen Raum herzustellen, statt den Aufnahmeraum abzubilden. 3  Matthias von Spallart, Brasil – Eine Klangreise in die Innenräume Brasiliens (HR / DRS / ORF / NOS 1982).

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Radio-Topologie

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und verwendet dafür eine Nagra-Kudelski – das beste transportable Aufnahmegerät, das es zu dieser Zeit gibt. Aus diesen Aufnahmen wird er nach seiner Reise im Studio ein Feature produzieren. Auch sein Mikrofon ist nicht mehr der »Reisz-Marmorblock« von 1924,4 sondern ein Kopf-Stereomikrofon des Herstellers Sennheiser, das er mit einem Bügel so am Kopf trägt, dass sich zwei Mikrofonkapseln in seinen Ohren befinden. Und Spallart ist auch nicht Reporter, sondern er ist Feature-Autor einer Generation, für die nicht Stift und Papier, sondern Mikrofon und Aufnahmegerät das wichtigste Werkzeug darstellen. Was gleich geblieben ist: Wie vielen Reportern 50 Jahre zuvor geht es ihm um das Unbekannte. Spallart reist durch Brasilien, ein Land, das für viele Hörer Neuland sein wird. Sein Projekt besteht darin, Hörern einen akustischen Eindruck dieses Landes zu vermitteln, ja sie geradezu an diesen fernen Ort mit seinen exotischen Räumen zu versetzen. Das Feature Brasil wird im Januar 1982 im Hessischen Rundfunk und im März desselben Jahres im damaligen Schweizer Radio DRS ausgestrahlt.5 Es beginnt mit einer anschwellenden Atmo: Links in weiter Ferne werden unverständliche Stimmen hörbar, von halb rechts ertönt ein lauter werdendes und penetrantes Zwitschern, nur unterbrochen durch ein ebenso lautes Pfeifen – offenbar ein Vogel. Eine Maschine, vielleicht ein Generator, brummt leise hinten rechts. Und ringsum ist ein Klangteppich aus Zirpen und Rauschen. Dann nähert sich von links ein Bus, der schließlich in der Mitte stehen bleibt, die Türen öffnen sich mit einem Zischen, und Stimmen auf Portugiesisch durcheinander redender Männer treten in den Vordergrund. Eine ruhige, sehr präsente Stimme, so nah, dass sie beinahe in einem selbst ertönt, setzt auf Deutsch ein: »Ich bin mitten im Gebiet des Amazonas. Es ist Nacht und immer noch heiß …« Hier wird deutlich: Radio bildet mit all seinen Stimmen und Geräuschen eine räumliche Struktur im ästhetischen Raum aus. Bei Brasil ist mal links, mal rechts etwas zu hören, teils Nahes und teils Fernes. Für diese Struktur 4 

Zur frühen Mikrofontechnik vgl. Goebel 1950, insb. S. 390. Für die Ankündigung einer Wiederholungssendung am 5. Juli 2013 schrieb der Schweizer Radiosender SRF 2 Kultur auf seiner Homepage: »Für ambitionierte Radio­ macher ist diese mehrfach preisgekrönte Feature-Arbeit noch heute ein unerreichtes ­Vorbild.« Matthias von Spallart hat die Fertigstellung seines Features selbst nicht mehr miterleben können; er starb 1981. Der Feature-Produzent Aldo Gardini hat die Arbeiten daraufhin zum Abschluss gebracht, wie in der Rezension der Neuen Zürcher Zeitung am 20. März 1982, knapp eine Woche nach der Ursendung, zu lesen war. (Siehe N.N.: Phantastische Reise in die Innenräume Brasiliens 1982.) 5 

Produktion

aus räumlich angeordneten Klanggestalten im ästhetischen Raum verwende ich den Begriff akustische Topologie. Beim monofonen Rundfunk fällt die Links-rechts-Dimension weg, und der Höreindruck ist weniger plastisch als bei der Stereofonie6 – dennoch lassen sich auch dort nahe und ferne Klänge übertragen und wahrnehmen, kann man auch hier akustische Topologien ausmachen. Die Stimmen und Geräusche, die wir im Radio hören, erscheinen uns nicht nur als das, was sie sind, sondern sie werden auch an ihren jeweiligen Positionen im ästhetischen Raum hörbar. Für Radiopraktiker ist es nicht immer selbstverständlich, Radio als ästhetischen Raum zu denken. Im Radiojournalismus steht oft das gesprochene Wort mit seinen sprachlichen Inhalten an erster Stelle.7 Auch Geräusche werden oft als indexikalische Zeichen mit einer kognitiv zu erfassenden Bedeutung verstanden, und es kommt darauf an, das Geräusch zu erkennen und in einen Sinnzusammenhang zum Gesagten zu bringen. Wichtig wäre demnach in erster Linie, dass ein Bus als solcher zu erkennen ist, um den Übergang in die nächste Szene, die Busfahrt, zu verstehen. Musik wiederum nimmt im Radio oft die Rolle eines emotionalisierenden Surplus ein.8 Ein räumliches Ordnungsprinzip scheint oft lediglich in der Kategorie Laut–Leise auf, die stellvertretend für Vorder- und Hintergrund steht und damit die Dimension Nah–Fern vertritt.9 Dem steht eine räumlich-ästhetische Auffassung von Radio gegenüber, die wahrscheinlich der Redakteur August Heinrich Berning 1926 als erster formuliert hat: Er [der Raum] gibt ihnen [den Klängen] erst Tiefe und Hintergrund, plastische Formung und farbige Sättigung. In der Kunst, die Akkustik [sic] dieses Raumes künstlerisch zu gestalten, sind wir Deutschen noch nicht weit fortgeschritten. Wir müssen uns erst klar machen, daß Radio-­ Senden nicht ein plattes, kompaktes Hineintönen in den Sender ist. Wir müssen die Gesetze des akkustischen [sic] Sendens noch lernen und uns die Mittel aneignen, die Klänge und Geräusche in räumlicher Formung

6 

Vgl. dazu die gestaltpsychologischen und akustischen Forschungen von ­Hornbostel und Meyer, die ich in Kapitel 2.2 erläutert habe. 7  Crisell 1986, S. 54, sieht in der Sprache das vorrangige Zeichensystem des Radios – es sei immer wieder Sprache notwendig, um Geräusche und Musik zu erklären und einzuordnen. 8  Eine Kritik an der allein an Inhalten orientierten Radioanalyse findet sich bei Schröter 1995 sowie im Anschluss daran bei Åberg 2001. 9  Vgl. zur Verwendung des Konzepts von Vorder- und Hintergrund im Radio Patka 2017.

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Radio-Topologie und Ausdehnung weiterzugeben. Sie stehen nie in einem flachen Nebeneinander, sondern in räumlich-plastischen Beziehungen. Beim Radio erfahren wir, daß Worte keine abstrakten Hauche sind, vielmehr verleibte Geistigkeiten, die sich zu körperhafter Resonanztiefe verdichten. Diese Plastik des verleibten Klanges darf im Radio nicht verloren gehen, weil sonst der Reiz des Räumlichen erlischt und die Erlebnismöglichkeiten in einer langweiligen, flachen Ebene versiechen.10

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Berning vertritt einen in Grunde sehr modernen Ansatz: Er betrachtet Radio von seiner klanglich-ästhetischen Seite her – als Sound. Radio müsse nicht »platt«, keine »flache Ebene« sein, sondern sei ein »Raum«, den es »künstlerisch zu gestalten« gelte; Wörter und Geräusche sieht er als Klanggestalten, die eine »räumliche Formung und Ausdehnung« besitzen und in »räumlich-plastischen Beziehungen« zueinander stehen. Berning sieht die Ästhetik des R ­ adios ihrem Grunde nach als räumlich an: Alles, was im Radio zu hören ist, besitzt Ort und Ausdehnung; jede Stimme tönt nicht einfach irgendwie aus dem Lautsprecher, sondern gaukelt den Hörern einen scheinbaren Ort, eine scheinbare Entfernung und eine scheinbare Größe vor. Berning beschreibt hier nichts anderes als das, was ich als ästhetischen Raum des ­R adios bezeichne. Der Entwurf ist umso bemerkenswerter, als das Radio da noch über 40 Jahre benötigte, bis es endlich stereofon wurde und eine plastische und somit realistischere Raumwirkung überhaupt übertragen konnte. Damit hat Berning einer Entwicklung vorgegriffen, die die kommenden Jahrzehnte der Radio- und Audio­produktion – auch im Film und in der Musik – prägen wird: die technische und ästhetische Erweiterung um die zweite (und schließlich auch die dritte) Dimension. Schon die zweidimensionale Stereofonie, die heute den technischen Standard der Radioübertragung darstellt, ermöglicht dank der Besonderheiten des zweiohrigen Hörens eine plastische Tiefenwahrnehmung, in der Stimmen sich als Gestalten deutlich vom Grund absetzen können.11 Radioproduzenten mit künstlerischem Anspruch – den Protagonisten der Hörspiel-, Feature- oder Musikproduktion – sind solche Überlegungen und Praktiken sehr vertraut.12 Berning bezieht sich jedoch nicht explizit auf Künstlerisches, auf Musik oder Hörkunst, sondern er redet ganz allgemein von Klängen – ein Ansatz, den Rudolf Arnheim später weiterführen wird.13 10  11 

Guardini/Berning 1926, S. 170. Vgl. zum plastischen Hören mit zwei Ohren Kapitel 2.2. 12  Vgl. Kapitel 7.1. 13  Vgl. Arnheim 2001 [1936], S. 16.

Produktion

Berning fragt nach einer Formensprache des Radios, die zwei elementare Grundbausteine des Mediums miteinander kombiniert: Klang und Raum. Radiopraktiker sind nach diesem Verständnis nicht nur damit beschäftigt, was sie ins Radio bringen, sondern auch, wo sie es im ästhetischen Raum ver­ orten, wie es räumlich angeordnet ist, in welchen räumlichen Beziehungen die unterschiedlichen Klangobjekte zueinander stehen. Radiopraktiker erzeugen akustische Topologien. Ich wende mich zunächst der Frage zu, wie Radiopraktiker diese akustischen Topologien herstellen, wie sich deren Verhältnis zu realen akustischen Situationen vor Ort bestimmen lässt. Es geht mir dann darum zu zeigen, in welcher Weise der ästhetische Raum als eine Form sekundärer Wirklichkeit Bezug auf den realen Raum nimmt – und ob er das überhaupt immer tut. Es ist zumindest kein Zufall, dass der Bus im brasilianischen Amazonasgebiet scheinbar direkt vor der eigenen Nase zum Stehen kommt. Spallart hat bei seiner Aufnahme genau dafür gesorgt und damit auch den narrativen Übergang in die nächste Szene geschaffen: Wir steigen in den Bus ein und fahren Tausende von Kilometer durch den Urwald. Akustischer Raum als journalistische Aussage

Am 13. August 1961 ist Erich Nieswandt einer von mehreren Reportern, die von der Baustelle berichten, die über Nacht mitten in Berlin entstanden ist. Die Berliner Mauer wird gebaut, die die Stadt künftig in zwei Hälften teilen wird. Für den Rundfunk im Amerikanischen Sektor (RIAS) schildert Nieswandt, wie Polizisten, Feuerwehrleute und Zollbeamte der DDR mit Pressluftbohrern die Ebertstraße vor dem Brandenburger Tor aufstemmen und einen Graben ausheben. Er wählt für sich selbst eine Position, von der aus er sowohl die Ebertstraße entlangblicken kann als auch sehen, was sich hinter dem Brandenburger Tor abspielt. Er kann die Bauarbeiten beobachten und hat sogar Blickkontakt zu einem der Arbeiter. Näher heran darf er nicht, weil er das Gebiet der DDR nicht betreten darf, das mit dem Bürgersteig der Ebertstraße beginnt. Seine Position lässt sich auch akustisch beschreiben: Er ist dort nicht nur umgeben vom Baulärm der Arbeiten allgemein, sondern insbesondere auch in Hörweite zu den Pressluftbohrern direkt beim Brandenburger Tor, deren Geräusche besonders herausstechen. Durch diese besondere Perspektive tritt neben den Blickkontakt zu einem der Arbeiter auch noch eine Form der akustischen Kommunikation:

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Radio-Topologie Sie lächeln sogar dabei, wie sie die Pressluftbohrer in die Erde bohren, und einer schaute mich an, und es war in seinem Gesicht zu lesen: Ja, höre nur das Geräusch, ich mache es extra für dich, damit du es auch auf dein Tonband bekommst.14

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Mag sein, dass sich Nieswandt bei der Deutung dieses Blickes zu sehr davon hat leiten lassen, was gerade sein eigenes berufliches Bemühen war – die Geräusche für das akustische Medium Radio möglichst optimal einzufangen. Deutlich wird jedoch, dass er sich in eine räumliche Beziehung zum Geschehen, zu den Bauarbeiten und konkret zu einem der Arbeiter begibt. Diese räumliche Beziehung wird für ihn vor allem akustisch bestimmt, und sie wird über das Mikrofon eingefangen und übers Radio hörbar gemacht. Es entsteht eine akustische Perspektive. Der Begriff Perspektive bezieht sich eigentlich auf visuelle Phänomene. Er stammt aus dem lateinischen perspicere, ›mit dem Blick durchdringen, hineinsehen, durchschauen‹. Gemeint ist damit ein Blick, der vom eigenen Standpunkt ausgeht, denn wie man etwas sieht, hängt davon ab, wo man steht. Das gilt für das Hören genauso: Der Standpunkt des Reporters bestimmt, was er hört, und welche Geräusche aus welcher Entfernung zu ihm dringen.15 An-

14 

»RIAS-Reportage vom Brandenburger Tor / Ecke Ebertstraße«. Reporter: Erich Nieswandt. Track 7 der CD: Berlin, 13. August 1961. Reihe: Stimmen des 20. Jahrhunderts, Nr. 25. Hg. vom Deutschen Historischen Museum (DHM), dem Deutschen Rundfunk­ archiv (DRA) und dem Deutschen Rundfunkmuseum, 2001. Wortlaut der Reportage: »Seit etwa 1 Uhr heute Nacht rattern die Pressluftbohrer und bohren einen Graben quer durch die Ebertstraße hier am Brandenburger Tor. Der Graben ist etwa einen halben Meter tief und einen halben Meter breit. Es sind Volks­polizisten in ihrer Arbeitskleidung, es ist eingesetzt die Feuerwehr, es sind eingesetzt die Beamten des Amtes für Zoll- und Warenkontrolle. Und auf der anderen Seite des ­Brandenburger Tors stehen etwa 30 LKWs, die hier die Mannschaften herangebracht ­haben. Es sind etwa schätzungsweise 50 Uniformierte, die hier das Brandenburger Tor bewachen. Wenn ich einen Blick die Ebertstraße hinunterwerfe – ich darf den Bürgersteig nicht betreten, denn er gehört schon zum Osten –, dann sehe ich, wie etwa 200, 250 Meter entfernt vom ­Brandenburger Tor gleichfalls eine Schneise durch die ­Straße ­gebohrt wird. Die Polizisten von drüben in ihrer Arbeitskleidung, die Ost-Polizisten, die Ost-Feuerwehr, sie blicken hier rüber, ja sie lächeln sogar dabei, wie sie die Pressluft­bohrer in die Erde bohren, und einer schaute mich an, und es war in seinem Gesicht zu lesen: Ja, höre nur das Geräusch, ich mache es extra für dich, damit du es auch auf dein Tonband bekommst.« 15  Der kanadische Klangforscher Jonathan Sterne (2012a) bringt das auf ein Motto: »Hearing requires positionality.« (S. 4) Damit ist auch ein Appell an all jene gerichtet, die sich mit Hören beschäftigen: Nur wer sich der eigenen akustischen Perspektive mitsamt ihren Beschränkungen bewusst ist, kann zu validen Ergebnissen gelangen.

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dersherum gewendet: Die Aufnahme entblößt durch ihre spezifische Topologie den Standpunkt des Reporters. Man kann auf der Aufnahme hören, wo der Reporter sich befunden haben muss. Die akustische Topologie von Nieswandts Reportage beinhaltet ein Grundgeräusch der Bauarbeiten im Hintergrund, überdeckt von dem viel präsenteren Geräusch eines Pressluftbohrers, das immer wieder einsetzt und abbricht. Schließlich kommt noch die nahe Stimme des Reporters selbst dazu. Obwohl die Reportage mit einem Monomikrofon aufgenommen wurde, dokumentiert sie sehr klar das spezifische räumliche Setting vor Ort, das den Radio­hörern auf akustische Weise zugänglich wird. Die Atmo erklingt damit nicht nur als Repräsentant eines bestimmten Ortes, nämlich der Ebertstraße vor dem Brandenburger Tor in Berlin, zu einer bestimmten Zeit, nämlich dem 13. August 1961, dem Tag des Mauerbaus. Die Atmo macht eben auch die akustische Perspektive des Reporters und damit seinen Standpunkt deutlich. Gerade der Abstand zum nächsten Bauarbeiter ist dabei bezeichnend, ein Abstand, der immerhin Blickkontakt und eine Form der akustischen Kommunikation via Pressluftbohrer zulässt. Für mündliche Kommunikation sind beide zu weit auseinander. Zeitgleich befindet sich ein Reporter des DDR-Rundfunks fast am selben Ort. Dennoch legt seine Reportage eine andere Perspektive an den Tag. Er befindet sich direkt am Kontrollpunkt am Brandenburger Tor; dort ist am Tag des Mauerbaus eine Durchfahrt für Autos eingerichtet. Als Hintergrund­ kulisse ist auch in dieser Reportage der Baulärm vorhanden, jedoch erheblich leiser – der Reporter ist ein gutes Stück weiter von den Bauarbeiten entfernt. Es gibt auch keinen einzelnen Pressluftbohrer, der besonders herausstechen würde. Stattdessen belauscht der Reporter aus unmittelbarer Nähe den Dialog zwischen Grenzbeamten und Durchreisenden und interviewt den Beamten anschließend.16

16 

»Reportage des DDR-Rundfunks vom Brandenburger Tor«. Reporter: unbekannt. Track 11 der CD: Berlin, 13. August 1961. Reihe: Stimmen des 20. Jahrhunderts, Nr. 25. Hg. vom Deutschen Historischen Museum (DHM), dem Deutschen Rundfunkarchiv (DRA) und dem Deutschen Rundfunkmuseum, 2001. Wortlaut der Reportage: Reporter: »Höflich geben die Volkspolizisten den Weg frei, und die Wagen passieren ­anstandslos die Straße, die vom Brandenburger Tor hinüberführt zum Westberliner ­Bezirk Tiergarten. In diesem Moment rollt wieder ein Westberliner Fahrzeug heran – nein, es ist aus Mannheim, AK–850. Der Pass wird nachgesehen.« Polizist/Reisender (dialogischer O-Ton): »… ham Sie schon mitbekommen, ja? Sie können

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Die Perspektive dieser Reportage rückt den Baulärm in den Hintergrund, und der Akteur, der DDR-Beamte, befindet in unmittelbarer Nähe zum Reporter. Er wird vom Beamten nicht nur geduldet, sondern wird selbst zu einem aktiven Teil der Szene. Insofern spiegelt sich in den akustischen Topologien beider Reportagen nicht nur die jeweilige akustische Perspektive wider, sondern auch die politische und journalistische Perspektive der Reporter, ihre Beziehung zu den Akteuren.17 Das wird auch im Text und in der Haltung der Reporter deutlich: Während der Westberliner Reporter eine vorsichtige Distanz einnimmt und nur schildern kann, was er auch beobachtet – mehr Informationen hat er nicht –, rückt der Ostberliner Reporter nah an den Kontrollbeamten heran. Im Interview stellt der Reporter keine Fragen, sondern nach wie vor passieren, ja?« — »Ja, also.« — »Wünsche Ihnen also weiterhin gute Reise, ja?« — »Jawohl, danke.« — »Wiederschaun.« — »Wiederschaun.« Reporter: »Tja, das war eben eine kurze Zwiesprache mit dem Chauffeur dieses Wagens, aus Mannheim wahrscheinlich. Genosse Hauptmann, im Grunde genommen geht alles so reibungslos wie eh und je hier vonstatten, nicht wahr?« Polizist: »Ja also an dem bisherigen Personen- und Fahrzeugverkehr gerade hier am ­Brandenburger Tor hat sich bisher nichts geändert.« Reporter: »Ja.« Polizist: »Wie gesagt also, die Maßnahmen unserer Regierung, des Ministerrats, richten sich also gegen diejenigen Kräfte, die bisher in der Vergangenheit immer uns Schwierigkeiten gemacht haben, und die also beabsichtigen auch in Zukunft Schwierigkeiten uns zu machen. Wie gesagt, jeder Bürger Westberlins kann nach wie vor unseren Kontrollpunkt passieren und kann also wie eh und je nach wie vor rein- und rausgehen bei uns. Wenn es sich um friedliebende vernünftige Menschen handelt, die also auch die Maßnahmen einsehen.« Reporter: »Ja. Ja. Sie hatten ja nun heute schon, obwohl es erst 6 Uhr morgens ist, äh, ­einigen Verkehr, ich meine auch internationalen Verkehr, Schweizer Fahrzeuge, amerikanische und englische, französische Wagen kamen hier vorüber.« Polizist: »Ja also ein Großteil dieser ausländischen Besucher verstehen ohne weiteres ­unsere Maßnahmen.« Reporter: »Ja.« Polizist: »Wir haben sogar solche Stimmen bereits gehört, äh: Es wurde Zeit, dass Ihr wirklich mal also solche Maßnahmen durchführt.« Reporter: »Und dass wir souverän sind wie jeder Staat in der Welt, nicht wahr?« Polizist: »Ein rechtmäßiger souveräner Staat.« Reporter: »Ja.« 17  Vgl. dazu Häusermann 1998. Häusermann analysiert Radiosendungen als ­publizistische ›Szenen‹, bei denen Kommunikatoren, Akteure und womöglich auch ­Rezipienten zusammenkommen, um ausgehend von ihren jeweiligen Perspektiven und Verhältnissen die Sendung gemeinsam zu gestalten. Wie das Phänomen der ­akustischen Perspektive für das Hörspiel produktiv nutzbar gemacht werden kann, beschreibt ­Arnheim 2001 [1936], S. 59f.

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wird zum Stichwortgeber für die Aussagen des Beamten und legt ihm die eigenen Formulierungen geradezu in den Mund. Beide vollziehen die gegenseitige Vergewisserung, dass die getroffenen »Maßnahmen unserer Regierung, des Ministerrats«, nämlich die Abriegelung Westberlins, ihre volle Berechtigung haben und auch von internationalen Reisenden gutgeheißen werden. Diese Rechtfertigungshaltung fügt sich nahtlos in die politische Kommunikation der DDR-Regierung ein, die im Laufe des Tages auf die kritischen Stimmen aus dem Westen reagieren wird. Wie subjektiv die akustische Perspektive einer Aufnahme gewählt und gestaltet sein kann, zeigt ein weiteres Beispiel, das Stück Starry Night von ­Mazen Kerbaj, einem in Beirut lebenden experimentellen Trompeter. Kerbaj hat während des Libanonkrieges 2006 eine Aufnahme gemacht, die er als »mimimalistic improvisation by: mazen kerbaj / trumpet; the israeli air force / bombs« bezeichnet und über seinen Blog veröffentlicht hat.18 Starry Night ist keine Reportage; Kerbaj schildert nicht aus journalistischer Perspektive das Geschehen im Libanonkrieg. Stattdessen handelt es sich um eine künstlerische Aufnahme, die sich zwischen Musik und Klangkunst bewegt und in der Folge von Radiosendern weltweit aufgegriffen worden ist. Der Soundforscher Peter Cusack beschreibt sie so: The recording starts with small breathy sounds made on the trumpet. They are quiet but seem very close. We listen attentively. Suddenly an explosion shatters the stillness. The sound instantly lights up the city like a lightning flash as it reverberates off buildings and hillsides, briefly revealing the panorama. Simultaneously, the blast triggers car alarms and sets dogs barking, pinpointing their positions both near and far, before they fade to a tense quiet, waiting for the next bomb to fall. […] Through­out the recording, Mazen continues to play minimal trumpet, a quietly creative force against the violence.19

Tonaufnahmen aus Kriegsgebieten begegnen uns ständig; im Radio wie auch im Fernsehen sind Detonationsgeräusche von Bomben und anderer Kriegslärm alltäglich geworden. Doch Kerbajs Aufnahme unterscheidet sich von ihnen dadurch, dass er seine Trompete hinzufügt. Der Klang der Trompete, offenbar aus nächster Nähe aufgenommen, gibt der Aufnahme Tiefe und macht ihre persönliche Perspektive deutlich. Diese Trompete verweist auf den priva-

18  19 

Kerbaj 2006. Cusack 2014, S. 7.

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ten Ort, an dem das Mikrofon aufgestellt war – den eigenen Balkon des Musikers. Auf diese Weise stellt die Aufnahme den Krieg, anders als die aus den Medien gewohnten Klänge, als ein Geschehen dar, das in den privaten Bereich der Menschen eindringt. Allein durch die Positionierung des Mikrofons auf Kerbajs Balkon und der sich daraus ergebenden extremen akustischen Perspektive setzt die Aufnahme den Lärm der Bomben einerseits und die stille Intimität der Trompete andererseits in ein Verhältnis, das unseren Hörgewohnheiten und akustischen Schemata widerspricht. Aus einer anderen Perspektive heraus müsste der Klang der Trompete hinter den Explosionsgeräuschen verloren gehen. Cusack sieht darin eine politische Botschaft, einen »act of imaginative defiance«, eine »response to the violence of war«.20 Zudem erschließt die Aufnahme auch den Zwischenraum zwischen der Trompete und den Explosionen mit ihrem Widerhall. In diesem Raum werden Alarmanlagen von Autos und bellende Hunde hörbar. Die Stadt wird mit ihrer Geografie zum Resonanzkörper der Explosionen. All das wird auf der Aufnahme hörbar und macht deutlich, wie Außenaufnahmen nicht nur Ereignisse dokumentieren können, sondern auch die räumliche Situation. Kerbaj schaffte es, die Topografie des Ortes mit ihren Gebäuden und Hügeln aus einer besonderen und sehr persönlichen Perspektive festzuhalten. Die Beispiele, die ich in diesem Abschnitt verwendet habe – die Reportagen vom Mauerbau in Berlin wie auch die Aufnahme aus Beirut –, zeigen, wie sehr allein schon der Standort des Mikrofons einen eigenen Beitrag zur Botschaft leisten kann. Die akustische Perspektive einer Reportage ist ein hörbarer Parameter, der sich in einer je spezifischen akustischen Topologie ausdrückt. Die Wahl dieser Perspektive steht in weitreichenden Zusammenhängen: Im Fall der Berliner Reportagen bringt sie die jeweilige journalistische Haltung der Reportagen auf der Ebene des Akustischen zum Ausdruck. In Starry Night stellt diese Perspektive gar die eigentliche Aussage der Aufnahme dar: Krieg, so kann man die Aufnahme lesen, ist nicht nur ein Faktum, über das Nachrichtensendungen berichten, sondern Krieg bedroht die Menschen in ihren privaten und persönlichen Sphären und dringt mit seinen Schreckenslauten direkt in ihr Leben ein.

20 

Cusack 2014, S. 7.

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Mythos Objektivität

In Handbüchern für Radiopraktiker wird die Konstruktion akustischer Perspektiven meist über sehr praktische und oft technische Tipps vermittelt. Wenn es um die Wahl eines Standortes für die Reportage und das Mikrofon geht, konzentrieren sich die Praxistipps auf die Frage, wie man beispielsweise ein Geräusch am besten, am deutlichsten und am lautesten auffängt (»Im Zweifel schon mal das Mikrofon in Richtung Geräuschquelle ausrichten«21), und propagieren damit eine Herauslösung einzelner Klänge aus dem akustischen Kontext. Das ist in der Praxis sicherlich effektiv; ein Bewusstsein für die Rolle des eigenen Standpunkts und der sich daraus ergebenden akustischen Perspektive stellt sich dadurch indes nicht ein. Gleichwohl betonen Handbücher durchaus, dass und wie Reporter die akustische Topologie ihrer Aufnahmen beeinflussen können. Ein wichtiger Faktor ist die Wahl der Distanz zwischen Mikrofon und Interviewpartner, wie der Toningenieur Wolfgang Rein in seiner Einführung in die Aufnahmepraxis erläutert: »Über den Abstand des Mikrofons zum Mund bestimmen Sie den Anteil an Raum oder Umgebungsgeräuschen, der auf die Aufnahme kommt. Mit zunehmender Entfernung des Mikrofons verlieren Stimmen an Präsenz und Verständlichkeit, die Aufnahme gewinnt aber an Atmosphäre.«22 Das Verhältnis zwischen Stimme und Umgebungsgeräuschen hängt zudem von der Wahl des Mikrofontyps ab – auch das fällt in die Verantwortung von Reportern. Die so genannte Richtcharakteristik des Reportermikrofons, sein Aufnahmewinkel, beeinflusst, wie stark die akustische Umgebung ausgeblendet und die Stimme fokussiert wird. ›Kugelmikrofone‹ nehmen Schall aus allen Richtungen etwa gleich stark auf, während ›Nierenmikrofone‹ seitlichen Schall abblenden und damit in typischen Interviewsituationen die Stimme gegenüber der akustischen Umgebung hervorheben. Merksätze aus der Journalistenausbildung wie »Mit der Kugel in der Hand kommst du durch das ganze Land«23 machen deutlich, wie sehr Radiojournalisten von Anfang an auch mit der bewussten Gestaltung des ästhetischen Raums konfrontiert werden. Etliche frühe Reportagen versuchen dagegen, den Einfluss der Perspektive zurückzudrängen, indem sie eine scheinbar objektive Vogelperspektive 21 

Seip 2009, S. 189. Rein 2007, S. 255. Als Faustregel nennt Rein einen Abstand von 10 bis 25 Zenti­ meter. Das Handbuch Radio-Journalismus gibt 20 Zentimeter an (Marchl 2009, S. 325). 23  Rein 2007, S. 254. 22 

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wählen. Carolyn Birdsall erwähnt in ihrer Untersuchung von akustischen Repräsentationen des städtischen Raums im Radio um 1930 herum Reportagen von Bergspitzen und Hochhäusern, sogar aus Flugzeugen heraus.24 Bei Fußballreportagen ist es nach wie vor entscheidend, dass der Reporter das gesamte Fußballfeld überblicken kann. Vielleicht war es auch das Verlangen nach Objektivität, das die Norag dazu veranlasst hat, ihr neues Funkhaus 1930 mit ­einem Turm zu versehen, von dem aus »terrestrische und astronomische ­Beobachtungen«25 möglich sind. Die Anfänge der Reportage jedenfalls mit ihrer Möglichkeit, die Welt selbst sprechen zu lassen, rief die Phantasmagorie einer absoluten Objektivität hervor. Gemeint ist damit die Befreiung der übertragenen Aussagen von jeder Einflussnahme durch menschliche Veränderung. Der Chefredakteur der Dradag, Josef Räuscher, träumte jedenfalls davon, sprachlich formulierte Rundfunknachrichten durch Direktübertragungen von allen Geschehnissen auf der Welt ersetzen zu können.26 Er ging davon aus, dass die sprachliche Vermittlung immer schon eine Interpretation durch die Wahrnehmung, die Sinne und das Ausdrucksvermögen des Reporters sei, das Mikrofon dagegen nichts weiter als ein technisches Übertragungsmedium, das der Welt nichts nimmt und nichts hinzufügt. Diese Utopie stammt aus einer Zeit, in der die Begeisterung für die noch junge technische Möglichkeit der Außenübertragung den Blick verstellte für die Rolle des Reporters. »Viele dieser Übertragungen erfolgten so naturgetreu, daß sich der Rundfunkhörer mitten unter die Teilnehmer [einer Veranstaltung] versetzt fühlt.«27 Solche Direktübertragungen, so die Idee, bringen mit der akustischen Welt einen Realismus ins Radio, der auch den Hörern den Eindruck vermittelt, dabei zu sein, mittendrin zu sein, genau dort zu sein, wo sich das Mikrofon befindet. Hörer erfah­ ren vom Reporter etwas über die Welt, doch durch das Mikrofon können sie auch die Welt selbst hören, wie sie sich durch ihre akustische Umgebung unmittelbar zum Ausdruck bringt. Hörer müssen nicht mehr unhinterfragt den Verlautbarungen der Stimme im Radio glauben und blind darauf vertrauen, dass sie die Wahrheit spricht, denn die Welt schreibt sich selbst und unmittelbar ins Radio ein. Nicht nur utopisch, sondern schlicht falsch ist vor allem diese letzte Vorstellung von einer écriture automatique; sie negiert nicht nur 24  25 

Vgl. Birdsall 2013, S. 143ff. Klose 1930, S. 31. 26  Vgl. Räuscher 1929. 27  Odendahl 1929, S. 88.

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den Einfluss des Menschlichen auf die Botschaft, sondern auch den des Technischen und des Medialen. Dass es eine so verstandene Objektivität im Radio nicht geben kann, haben die Beispiele in diesem Kapitel deutlich gemacht. Häusermann nimmt einen ähnlichen Standpunkt ein: »Jedes Radiosignal ist gemacht. Auch ein Geräusch oder eine sprachliche Äußerung, die scheinbar unbeeinflusst vom Mikrofon ›eingefangen‹ wurde, ist ein Produkt des Hörfunks, eines bestimmten Umgangs des Kommunikators mit seiner Quelle.«28 Das ist aber kein Abgesang auf Radio als journalistisches und publizistisches Medium, ganz im Gegenteil: Häusermann betont damit die aktive Rolle des Reporters als Kom­ munikator, einer Instanz, die nicht einfach nur wiedergibt, sondern eine eigene Botschaft herstellt – auch über die sprachliche Vermittlung hinaus. Radio stellt sich hier als eine Form der Kommunikation dar, mit Kommunikatoren auf der einen und Rezipienten auf der anderen Seite, mit Codes und mit einer Botschaft, die bewusst formuliert und gestaltet wird. Folglich kann es auch nicht Aufgabe von Radioreportern sein, die räumliche Situation eines Geschehens als ›Bediener von Übertragungstechnik‹ schlicht abzubilden. Der ästhetische Raum des Radios muss nicht – kann nicht! – eine mimetische Reproduktion der räumlichen Situation vor Ort sein, stattdessen bietet er einen Gestaltungsspielraum an. »Das Radio verschafft also nicht einfach mit einem technischen Mittel akustischen ›Einblick‹ in einen realen Raum. Vielmehr schafft es die Räume des Geschehens neu.«29 Reporter können den ästhetischen Raum schon allein durch Wahl von Mikrofon und Perspektive gestalten. Doch dabei bleibt es nicht. Radio entwickelt weitere Produktionstechniken, mittels derer sich akustische Topologien als Teil radiofoner Aussagen gestalten lassen.

28  29 

Häusermann 1998, S. 57. Häusermann 2005, S. 166.

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5.2 Im Tonstudio: Produktion ästhetischer Räume Grammatikalisierung des Klangs

Die beiden Reportagen, die ich im vorausgehenden Kapitel als Beispiele angeführt habe, stammen aus dem Jahr 1961. Die Reporter dieser Zeit sind bereits mit dem Radio aufgewachsen, und es hatten sich schon Praktiken und Techniken für die journalistische Radioarbeit etabliert. In der Frühzeit des Rundfunks sah das noch anders aus. Eine Reportage war damals nicht nur eine technische Herausforderung, und etliche Berichte zeugen von gescheiterten und misslungenen Versuchen, von gekappten Kabeln und zusammengebrochenen Verbindungen. Reporter standen vielmehr auch vor dramaturgischen und konzeptionellen Herausforderungen. Die Welt mit ihren Geräuschen war nicht immer kooperativ, und manchmal spielten Atmo und Reporter gegeneinander. Die frühen Reporter mussten erst lernen, mit der akustischen Realität umzugehen – Jacob Kreutzfeldt legt das dar.30 Kreutzfeldt zeigt anhand von dänischen Reportagen in und über Kopenhagen eine Entwicklung während der 1930er- und 1940er-Jahre auf, in der sich Reporter erst nach und nach Kontrolle über die Geräusche der Stadt in der eigenen Reportage verschaffen konnten. In den ersten Versuchen waren sie noch dem brutalen urbanen Lärm ausgeliefert. Sie mussten mit ihren Stimmen gegen laute Schiffsnebelhörner ankämpfen, und die Geräusche der Stadt drängten sich immer wieder als Störungen in die Reportage – als Parasiten, wie Kreutzfeldt im Anschluss an das Konzept des französischen Philosophen Michel Serres formuliert.31 Die Aufgabe von Reportern war keine einfache: The practice of the radio reporter is one of negotiating between the accidental background sounds, characterizing the space but at the same time potentially disturbing the communication, and the sounds that become part of the narrative.32

30  31  32 

Vgl. Kreutzfeldt 2015. Vgl. Kreutzfeldt 2015, S. 10f. Kreutzfeldt 2015, S. 11.

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Die Techniken, die sie dafür entwickelten – noch vor Einzug des Tonbandes in die Funkhäuser!33 –, fasst Kreutzfeldt als »grammaticalization of environmental sound«34 zusammen. Reporter gingen dazu über, sich mit den Geräuschen der Stadt auseinanderzusetzen, sie zu thematisieren, bewusst in die Reportagen einzubauen und sie so zu einem Teil der Narration zu machen. Bevor es soweit kam, wussten sich die Rundfunkanstalten noch anders zu helfen. Die Norag beispielsweise produzierte noch 1926 ein sogenanntes Hörbild,35 ein akustisches Porträt der Stadt Hamburg. Die entsprechenden Geräusche stammten aber nicht aus der Stadt selbst, sondern wurden künstlich im Studio erzeugt. Aus Wasserbecken, Ventilator, Sperrholz, Hupe und ähnlichen Bestandteilen entstand die Szene eines auslaufenden Schiffes am Hamburger Hafen.36 Eine Konsequenz der Grammatikalisierung war die Fokussierung auf einzelne bedeutungstragende Geräusche anstelle der akustischen Raumkulisse als Ganzes. In Kreutzfeldts Beispiel einer Reportage von einer National­feier 1936 bezieht der Reporter unter anderem das Glockenspiel des Rathausturms, Kanonenschüsse und die Geräusche flatternder Tauben mit ein; die Menschenmenge dagegen bilde, wie Kreutzfeldt erläutert, einen unklaren und verwaschenen Hintergrund, ein bedeutungsloses Rauschen aus nicht mehr zu identifizierenden Geräuschen. Für die akustische Topologie der Reportagen nimmt dieses Rauschen vielleicht doch eine wichtige ästhetische Funktion ein, indem es einen Hintergrund liefert und dem ästhetischen Raum so eine Klangfülle verleiht. Freilich ist die Dramaturgie der Reportage im Ablauf der Feierlichkeiten verankert, doch das Innovative sieht Kreutzfeldt in der Art, wie der Reporter sich auf diese Geräusche einlässt und sie in die Reportage inkorporiert.37 Die Fokussierung auf einzelne Geräusche scheint sich jedenfalls zu bewähren. Aus den einzelnen Elementen fügt sich ein schlüssiges Gesamtbild des Ereignisses zusammen, auch wenn dieses Bild schon in höherem Maße das ­Ergebnis eines Selektionsprozesses und einer medialen Konstruktion dar-

33 

Mit dem Tonband bekamen Radiopraktiker eine sehr einfache Möglichkeit in die Hand, die Zeitstruktur und die Dramaturgie von Aufnahmen im Nachhinein durch Schneiden und Montieren zu korrigieren oder überhaupt zu entwerfen. 34  Kreutzfeldt 2014, o.S. 35  Zur Form des Hörbildes vgl. Kribus 2001, S. 1464ff. 36  Vgl. Birdsall 2013, S. 137. 37  Vgl. Kreutzfeldt 2015, S. 12f.

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stellt. Von einer reinen Abbildung der Wirklichkeit kann hier keine Rede sein, die Reportage erweist sich als ein gestaltetes Kommunikat des Reporters. Und gerade wenn es um das Verhältnis zwischen der akustischen Klangkulisse der Wirklichkeit und ihrer medialen Repräsentation als Atmo geht, kommen Praktiker zu dem ernüchternden Schluss: Naturalistische Geräuschkulissen sind in der medialen Vermittlung den künstlich hergestellten oder sorgfältig zusammengestellten Einzelgeräuschen unterlegen. »Eine natürliche Geräuschkulisse hat oft den Nachteil, dass sie zu vielschichtig ist. Die unterschiedlichsten Geräusche überlagern einander. Ein einzelnes, das eventuell im Studio produziert werden muss, kann die komplexe Situation oft schneller und eindeutiger erfassen.«38 Dahinter steckt nicht zuletzt auch die Fähigkeit des Gehörs, sich im realen Raum auf einzelne Geräusche zu konzentrieren und die akustische Umgebung auszublenden; das Mikrofon kann das nicht. Wie tief diese Form der Reduktion akustischer Komplexität im menschlichen Wahrnehmungsapparat verwurzelt ist, macht ein Erlebnis des NDR-­ Feature-Redakteurs Heinz-Günter Deiters zusammen mit einem Blinden deutlich: Wir gingen durch die Stadt, die sich für mich überall zu kleinen Lärmknäueln ballte, unentwirrbar, aus vielerlei Fäden zusammengedreht. Und ich bewunderte die Geschicklichkeit meines Begleiters, einen dieser Fäden mit festen Händen zu fassen, ihn herauszuziehen, bis er glatt und von allen anderen getrennt vor uns lag. Er zog einen dieser Fäden heraus und verknüpfte ihn mit einem anderen. Er vereinfachte. Er machte aus einer Fotografie eine Skizze.39

Diesen Auswahlprozess, so erläutert der Autor Werner Klippert im Hinblick auf Hörspiele, müssten Radioproduzenten stellvertretend für die Hörer bereits bei der Produktion vornehmen und eben keine komplexen naturalistischen Klangkulissen ausbreiten, sondern den Raum anhand einzelner signifikanter Geräusche charakterisieren.40 Entsprechend ist es nicht verwunderlich: Seit die technischen Möglichkeiten es zulassen, verlassen sich Produzenten nicht mehr unbedingt auf Original-­Atmos. Sobald genügend Zeit und die notwendigen Ressourcen zur Verfügung stehen, neigen sie dazu, ihre Atmos zu produzieren. Und dieser

38  39  40 

Häusermann 1998, S. 66. Zitiert nach Klippert 1977, S. 59. Klippert 1977, S. 59.

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Vorgang ist in erster Linie eine Neugestaltung des ästhetischen Raums: Man stellt aus fokussierten Einzelgeräuschen akustische Topologien her, deren Anordnung nun nicht den Gegebenheiten vor Ort entsprechen müssen, die aber dennoch ein deutlicheres Bild der Situation vermitteln. Damit ändert sich die Bezugnahme des ästhetischen Raums auf den Raum der Wirklichkeit. Konstruktion von Soundscapes

Vor allem in der aufwendigeren, künstlerischen Radioproduktion konstruieren Produzenten ganze Räume – sie statten den ästhetischen Raum des ­R adios mit Klängen aus. Dabei gehen sie oft nach einem ähnlichen Schema vor. Als Bezugspunkt wird dabei regelmäßig R. Murray Schafer mit seinem Konzept der Soundscape herangezogen.41 Schafer hat seit den späten 1960er-Jahren unsere akustische Umgebung in den Mittelpunkt seiner wissenschaftlichen, pädagogischen und künstlerischen Arbeit gerückt und dafür den Begriff Soundscape geprägt.42 Für die Analyse von Soundscapes greift Schafer auf das Figur-Grund-Konzept der visuellen Gestaltpsychologie zurück. Soundscapes lassen sich demzufolge als Bündel mehrerer Schichten betrachten, die wir jeweils mit unterschiedlichem Maß an Bewusstsein, Aufmerksamkeit und Hinwendung wahrnehmen. Das Analogon zum visuellen Grund ist der Grundlaut (keynote sound), der in aller Regel nicht bewusst wahrgenommen wird. Je nach Lebenswelt und augenblicklicher Situation fungieren zum Beispiel der Straßenverkehr oder das Meeresrauschen als Grundlaut, aber auch das Rauschen eines Brunnens, neben dem man sich längere Zeit aufhält. Vor diesem Hintergrund befinden sich Orientierungslaute (Soundmarks), typische Laute, die den Raum in besonderer Weise charakterisieren. Signallaute (sound signals) schließlich lenken die Aufmerksamkeit der Hörenden auf sich und werden bewusst wahrgenommen.43 Was als Orientierungs- und Signallaut wahrgenommen wird, hängt von vielen kulturellen Faktoren und der spezifischen Wahrnehmung in der jeweiligen Situation ab. Daher dürfe das gesamte Konzept der Soundscape

41 

Das Hauptwerk Schafers, The Tuning of the World, liegt in zwei deutschen Über­ setzungen mit je unterschiedlichen Titeln vor: Schafer 1988 und Schafer 2010. 42  Soundscape ist ein Kunstwort, das die Begriffe sound und landscape miteinander verbindet. Ursprünglich stammt der Begriff vom Architekten Michael Southworth (vgl. Breitsameter 2010, S. 15). Vgl. zum Begriff außerdem Sterne 2015, S. 65f. 43  Vgl. Schafer 2010, S. 252f.

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nicht auf ein physikalisch-akustisches Phänomen reduziert werden, betont die Historikerin Emily Thompson, sondern müsse auch ganz besonders der Per­spektive des Hörenden Beachtung schenken: »A soundscape’s cultural aspects incorporate scientific and aesthetic ways of listening, a listener’s rela­ tionship to their environment, and the social circumstances that dictate who gets to hear what.«44 Sie stellt stärker als Schafer die Wahrnehmung und die Lebens­umstände des Einzelnen in den Mittelpunkt. Was bei Thompson als kultur- und sozialpolitischer Aspekt durchscheint – der Blick auf denjenigen, der Soundscapes ausgesetzt ist –, bekommt in der Radiopraxis ein rhetorisches Moment: Adressaten der Soundscapes, die hier Atmos genannt werden, sind die Radiohörer, und Atmos sind Teil des Medienangebotes, mit dem Radio­praktiker eine Form der akustischen Kommunikation mit den Hörern in Gang setzen. Was bei Schafer als Methode zur Analyse realer Soundscapes zum Einsatz kommt, stellt für Praktiker eine Heuristik zur Konstruktion medial vermittelter Atmos dar. Viele Soundproduzenten greifen auf ein an Schafer angelehntes Modell von Vorder- und Hintergrund zurück. Der Hörspielproduzent Benedikt Bitzenhofer, der nach eigenen Aussagen in seinem Arbeitsalltag ständig mit der Simulation und Gestaltung akustischer Räume befasst ist, konzentriert sich auf zwei Ebenen der Soundscape: Zunächst ist da der Grundton als charakteristischer Raumklang, auch »Atmosphäre« genannt: das Summen der Klimaanlage, der gedämpfte Straßenlärm von draußen, ein Teppich aus zirpenden Insekten im Garten … – jeder Raum hat seinen spezifischen Klang, seine eigene Farbe. Dazu kommt das klingende und tönende Inventar: die Wanduhr, der Kanarienvogel, der tropfende Wasserhahn …45

Eine dritte Ebene entsteht für Bitzenhofer aus dem spezifischen Nachhall, der in der Produktion zusätzlich auf die Dialoge gelegt wird. In der ›Radiobibel‹ des frühen privat-kommerziellen Rundfunks in Deutschland, Radio-Management, verwenden Haas, Frigge und Zimmer im Hinblick auf die Produktion von Radiopromos – Werbespots in eigener Sache – ein dreischichtiges Modell, das sie »AUP-Prinzip« nennen: Aktiv, Untermalung, Passiv. »Beispiel: Zwei Menschen unterhalten sich in einem Zimmer (aktiv). Das Radio läuft leise im Hintergrund (Untermalung). Direkt vor dem

44  45 

Thompson 2004, S. 1f. Bitzenhofer 2001, S. 161.

Produktion

Haus verläuft eine vielbefahrene Straße (passiv).«46 Die Autoren betonen dabei das ihrer Meinung nach von vielen Produzenten unterschätzten Poten­ tial der dritten, »passiven« Sphäre; sie nehme direkten Einfluss auf die Stimmung einer Produktion. Diese und ähnliche Produktionskonzepte haben gemeinsam, dass sie Soundscapes als Räume konzipieren: Produzenten legen Schicht auf Schicht übereinander, definieren Entfernungen und Stereopositionen, versehen Geräusche – und Stimmen – womöglich mit Raumsignaturen, wenn sie beispielsweise für ein Hörspiel einen architektonischen Raum simulieren wollen.47 Produzenten konstruieren auf diese Weise akustische Topologien. Doch der Wirklichkeitsbezug zum realen Raum in der Welt ist ein völlig anderer als im Falle von Reportagen. Der ästhetische Raum repräsentiert hier keine real existierende räumliche Anordnung mehr; die solchermaßen konstruierten Räume existieren nirgends anders als im Radio. Das Mikrofon als Skalpell

Diese Vorgehensweise, neue Raumanordnungen zu kreieren, verweist nicht zwangsläufig und ausschließlich auf fiktionale Sendeformen des Rundfunks. Der Werkstattbericht des Feature-Autors Helmut Kopetzky, der viele seine Features selbst produziert hat, problematisiert explizit solche Kategorien wie »Wirklichkeit«, »Wahrheit« oder »Authentizität«.48 Der Rückbezug auf Wirklichkeit besteht für ihn mehr darin, sein eigenes Erleben und seine eigene Wahrnehmung durch die Formensprache des Auditiven hörbar zu machen, als abmessbare akustische Topologien exakt zu abzubilden. Wir erleben das Paradoxon, dass die Rekonstruktion im Studio der »Wahrheit« näher kommt als die »wahre« Aufnahme vor Ort. Was da entsteht – Puristen bitte zuhören! – ist kein gerichtsverwertbares Dokument, sondern eine Hyper-Wirklichkeit, wie sie Schriftsteller mit Wörtern konstruieren. […] Womöglich müssen wir die »Originalklänge« im Studio neu erschaffen: Was uns typisch für diesen Ort erscheint; was wir über diesen Ort aussagen möchten; was uns an diesem Ort beeindruckt hat; was wir als Summe unserer Eindrücke noch »im Ohr haben«.49

46  47 

Haas u. a. 1991, S. 439. Vgl. Schmedes 2002, S. 99ff. 48  Vgl. Kopetzky 2013, S. 319f. 49  Kopetzky 2013, S. 320f.

151

Radio-Topologie

152

Kopetzky beschreibt seine Arbeitsweise: Um die Soundscape eines Raums zu erfassen, nimmt er all die Klangbausteine einzeln auf, die er mit dem Ort in Verbindung bringt. Im Studio setzt er diese Einzelaufnahmen wieder zu einer Soundscape zusammen, indem er sowohl mehrere ausgewählte Aufnahmen übereinanderschichtet als auch zeitlich aneinanderreiht, um eine sinnvolle Abfolge der Aufnahmen herzustellen. Am Beispiel der Wasserspiele von Schloss Peterhof bei St. Petersburg illustriert er das Vorgehen.50 Sie bestehen aus vielen einzelnen Brunnen, die in ihrer Gesamtheit ein undurchdringliches Rauschen verursachen. Für den Besucher, der sich durch den Bereich bewegt, ergibt sich aber mit jeder neuen Perspektive ein neues akustisches Bild. Mit Hilfe des Mikrophons (ein akustisches Skalpell!) haben wir das einzelne Geräusch aus seiner Umgebung herausoperiert – den Qualler, den Brunnen, das Tropfen, das Rieseln, das Rauschen. Bei der exakt gepegelten Nahaufnahme treten die relativ leiseren Umgebungsgeräusche in den Hintergrund. Wir gewinnen klare, deutlich unterscheidbare SoundSamples. Erst in der Mischung, im »Zusammenfahren«, summieren sich die Einzelaufnahmen wieder zum Gesamtbild – nun allerdings nach unserem dramaturgischen Konzept.51

Ziel des Prozesses ist es, eine möglichst deutlich verständliche akustische Botschaft herzustellen; Einzelaufnahmen sind die »›Silben‹ und ›Wörter‹« dieser radiofonen Sprache, »Montage und Klang-Mischung«52 die Grammatik des Codes. Der journalistisch arbeitende Kopetzky sieht sich bei dieser Praxis stets der Wahrheit verpflichtet, allerdings einer »subjektiven Wahrheit«, wie es schon im Titel seines Berichtes »Objektive Lügen, subjektive Wahrheiten« heißt. Er stellt Räume her, die vermitteln, was er selbst erlebt hat. Dazu dekonstruiert er die Akustik des realen Raums zunächst, indem er das Mikrofon als »akustisches Skalpell« einsetzt und einzelne Klang-Splitter aufnimmt. Im Anschluss daran, im Studio, rekonstruiert er aus diesen Splittern das ursprüngliche Hörerleben – sein Hörerlebnis, wohlgemerkt, nicht den tatsächlichen akustischen Raum. Was dabei entsteht, entspricht dann erheblich stärker seiner subjektiven Wahrnehmung vor Ort, als eine direkt aufgenommene Stereo-Atmo es jemals könnte.

50  51  52 

Vgl. Kopetzky 2013, S. 324f. Kopetzky 2013, S. 325. Kopetzky 2013, S. 321.

Produktion

Das handlungsleitende Prinzip bei Kopetzky wie auch bei den anderen genannten Produzenten ließe sich auch so verstehen: Ziel ist es, plausible Räume zu erzeugen, Räume, die von Hörern erkannt und verstanden werden und dabei einen schlüssigen sinnlichen Raumeindruck hinterlassen. Es geht d ­ arum, Hörern eine »überzeugende Vorstellung« zu bieten und eine »Imagination« zu ermöglichen,53 Realität in einer »produktive[n] Täuschung«54 zu inszenieren, um zu Höreindrücken zu gelangen, die widerspiegeln, was zum Ausdruck kommen soll. Die Arbeit des Produzenten unterscheidet sich prinzipiell nicht von der eines Schriftstellers, der mit sprachlichen Mitteln einen Raum erzeugt – Kopetzky hat das schon angedeutet. Denn ganz ähnlich geht auch die Literatur vor, wenn sie detaillierte Beschreibungen verwendet, um einen Realitäts­effekt hervorzurufen. Indem Schriftsteller ihre Texte mit scheinbar unnötigen Details, mit Beobachtungen und Beschreibungen anreichern, die keine Funk­ tion innerhalb des Plots übernehmen, erzeugen sie eine Illusion, die den Text als lebensnah und sehr real erscheinen lässt. Diese Detailbeschreibungen bilden, wie Roland Barthes es ausdrückt, »eine Art Hintergrund« für die Handlung55 – gerade so, wie auch die akustische Atmo ein Hintergrund für andere akustische Gestalten, allen voran die Stimme ist. Gleichzeitig kann die literarische Beschreibung immer nur einzelne Elemente aus der Kontingenz der Wirklichkeit herauspicken und muss andere Details beiseitelassen – Schriftsteller gewichten ihre Beobachtung und erzeugen mit sprachlichen Mitteln einen neuen Raum, der kein identisches Äquivalent zum Original darstellen kann, sondern auf der subjektiven Wahrnehmung beruht. Entsprechend konstruieren Radio­produzenten Soundscapes, indem sie einzelne Details, einzelne Beobachtungen und Aufnahmen zu einem ästhetischen Raum zusammenstellen. Die Soundscape ist die Ekphrasis des akustischen Raums.56

53  54 

Steinke 2001, S. 126. Bitzenhofer 2001, S. 160. 55  Barthes 2006 [1984], S. 167. Barthes definiert den Realitätseffekt, in diesem Fall mit Wirklichkeitseffekt übersetzt, an anderer Stelle so: »Ich verstehe unter ›Wirklichkeits­ effekt‹ das Verlöschen der Sprache zugunsten einer Realitätsgewißheit: Die Sprache zieht sich zurück, verbirgt sich und verschwindet, so daß nur noch das Gesagte nackt übrigbleibt.« (Barthes 2010, S. 95.) 56  Freilich erzeugen auch Reporter auch mit sprachlichen Mitteln Raum, nicht nur mit aufgenommenen Geräuschen und Atmos.

153

Radio-Topologie

Stereotype Räume

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Unter Radioleuten ist die Aufnahmepraxis sehr gängig, einzelne Klänge aus ihrer akustischen Umgebung zu isolieren: Reporter versuchen, die Stimme möglichst ›sauber‹ aufs Band zu bekommen, vermeiden bei Straßenumfragen laute Umgebungen und fokussieren sich auf einzelne Geräusche, um eine klare Aussage zu erzielen. Womöglich befreien Techniker die Aufnahmen im Studio dann noch von störenden Umgebungsgeräuschen, die der Aussage nichts hinzufügen können und im Gegenteil eher als irritierend empfunden werden. Ton­ingenieure, die Hörspiele produzieren, gehen gezielt auf die Suche nach klar definierbaren Klangbausteinen, das Anlassen des Motors eines bestimmten Autotyps oder das Öffnen einer Holztür mit rostigen Angeln. Viele Geräusche stellen Raumbezüge unabhängig von der akustischen Topologie der Produktion her. Das einzelne Platschen eines Sprungs ins Wasser: Es folgt die Ankündigung, dass die Freibadsaison beginnt. Das kreischende Bremsen einer Lokomotive: Immer mehr Pendler entscheiden sich für die Bahn. So eingesetzt, symbolisieren Geräusche auf einer recht abstrakten Ebene den Raum, der direkt oder indirekt thematisiert wird. Es geht in diesen Fällen gar nicht darum, einen authentischen O-Ton eines real existierenden Raums zu verwenden und mit ihm eine akustische Topologie zu konstruieren, sondern es reicht, wenn Hörer das Symbol verstehen und auf das Thema eingestimmt werden. Die Geräusche, die dabei zum Einsatz kommen, rufen oft sehr stereotype Muster ab und sind sehr prägnant aufgenommen. Rundfunksender halten viele solcher Geräusche in ihren Datenbanken bereit,57 so dass sich kein Reporter auf den Weg machen muss, das wiehernde Pferd, die blubbernde Kaffee­maschine oder den berühmten Londoner Westminsterschlag im O-Ton aufzunehmen. Das macht es möglich, dass die Geräusche auch ad hoc in Moderationen eingesetzt werden können. Diese Form des Umgangs mit akustischen Symbolen in Form kurzer, prägnanter Geräusche funktioniert im Radio sehr gut, wie Häusermann meint.58 Für viele Darstellungsformen des Radios ist ein solcher Einsatz von Geräuschen zu einem radiofonen Stilmittel geworden, und zwar nicht nur in jour57 

Wie Birdsall 2013, S. 155, berichtet, entstand bereits Anfang der 1930er-Jahre in Köln eine erste Geräuschdatenbank mit typischen Klängen aus unterschiedlichen ­Städten auf Schallplatte. 58  Häusermann 1998, S. 56ff.

Produktion

nalistischen Formen wie dem O-Ton-Bericht, sondern auch in Hörspielen. Der Hörspielautor Werner Klippert beschreibt die Tätigkeit des Produzenten entsprechend so: »Man fragt sich, welches Geräusch am besten der Darstellungsabsicht entspricht, und meist nimmt man – pars pro toto – ein einzelnes Geräusch oder wenigstens signifikante Geräusche für eine komplexe Situa­tion.«59 In seinem Beispiel verwendet er die Anschlaggeräusche einer Schreibmaschine, um die Raumsituation eines Büros anzudeuten.60 Auch im Film-Sounddesign ist der Einsatz stereotyper Geräusche gang und gäbe, wie Barbara Flückiger bei ihrer Analyse der Tonspuren von Mainstream-Filmen ermittelt. Sie sieht es dabei auch als Erfordernis der Aufmerksamkeitsökonomie, sich in der Kommunikation über Filmton auf ein Mindestmaß an Informationen zu reduzieren. Eine typische akustische Szenografie verwende daher nur wenige einzelne prägnante Geräusche, mit denen sich die jeweiligen räumlichen Settings hinreichend definieren ließen – auch damit die Tonspur noch anderen Elementen Raum lässt.61 Die hochartifiziellen Abbildungsmechanismen, die natürliche Klangsphären vereinfachen und nach einer Reihe konventionalisierter Regeln auf ein Lexikon expliziter Bedeutungen übertragen, gehören zum Wissensbestand des Sound Designers und nur mittelbar zu jenem der Zuschauer, die nur intuitiv beurteilen können, ob die akustische Raumdarstellung stimmig ist.62

Wenn Radioproduzenten sich etablierter Stereotype bedienen und sie in Hörspielen, Beiträgen und Moderationen verwenden, dann tragen sie gleichzeitig dazu bei, dass sich diese Stereotype verfestigen und womöglich zu abgedroschenen Klischees werden. Die Gefahr besteht beispielsweise beim oft zu beobachtenden Einsatz von ›landestypischer‹ Folklore-Musik. Der Schuhplattler repräsentiert dann Bayern, Salsa den gesamten südamerikanischen Kontinent, und archaische Trommeln stehen für Afrika an sich.63 Die Gefahr be-

59 

Klippert 1977, S. 59. Die Funktion des Schreibmaschinengeräuschs reduziert sich aber nicht auf die ­Andeutung des Raums. Es illustriert zugleich die Monotonie der Arbeit und dient dem gesamten Hörspiel auch als rhythmisierendes Element. Vgl. Klippert 1977, S. 59f. Siehe dazu auch Häusermann 1998, S. 67. 61  Vgl. Flückiger 2002, S. 298ff. 62  Flückiger 2002, S. 310. 63  Speziell für den Rundfunkeinsatz existieren ganze kommerzielle CD-Samm­lungen, die »authentische« Musik zu allen Ländern und Regionen der Erde anbieten, zum Beispiel die vom Musikverlag Sonoton herausgegebene Sonoton Authentic Series. Anbieter 60 

155

Radio-Topologie

156

steht nicht nur darin, allzu grob und pauschal mit Zuordnungen umzugehen, sondern auch darin, ein sehr flaches, historisierendes und unzutreffendes Bild fremder Gegenden, Länder und Regionen zu transportieren – und zwar nicht mit unverhohlenen Worten, sondern mit der Subtilität des Klangs und damit womöglich unterhalb des Radars einer expliziten Kritik. Die Grenze zwischen dem akustischen Symbol als allgemeinverständlichem Zeichen und dem abgedroschenen Klischee ist fließend. Auch die Konstruktion ästhetischer Räume folgt oft gelernten, aber unzutreffenden Schemata, wie der Semiotiker Theo van Leeuwen anhand eines eindrücklichen Beispiels zeigt: Seine Analyse einer Atmo aus Costa Rica, gefunden auf einer kommerziell vertriebenen CD, ermittelt einen dreischichtigen Aufbau: im Hintergrund ein leiser Teppich aus Zikaden, in größerer Nähe das Gezwitscher verschiedener Vögel, und im Vordergrund die Rufe eines einzelnen Brüllaffen. Laut Booklet zur CD sei die Atmo aus einer Mischung einzelner Aufnahmen entstanden. Dabei stellt Leeuwen fest: Insbesondere die Zikaden seien im tropischen Regenwald geradezu ohrenbetäubend, Vögel könnten sie niemals übertönen; die auf der CD präsentierte akustische Perspektive sei schlicht unmöglich. Er vermutet, dass bei der Produktion der Atmo ein westliches räumlich-soziales Schema als Blaupause diente: »the three zones of the social world of the modern city dweller«64 – ein stereotypes Raumschema. Manchmal funktionieren stereotype Sounds und Schemata gerade dadurch, dass sie sich jeder Authentizität verweigern. Ein Beispiel ist die S­ endung Sternzeit im Deutschlandfunk.65 In einem vorproduzierten Beitrag berichtet der Sprecher über aktuelle Themen der Astronomie. Der Text, gesprochen von einer raumlosen Stimme, ist hinterlegt mit einem künstlichen Klang­teppich,

von Produktionsmusik stellen auch der aktuellen Themenlage entsprechende Musik zusammen; so konnte man über den Anbieter Intervox passend zur Olympiade in Rio 2016 etliche Tracks unterschiedlichster brasilianischer und lateinamerikanischer Produktionsmusik beziehen. Vgl. zu Produktionsmusik auch Tagg 2013, S. 222ff. 64  Leeuwen 1999, S. 18. Die drei Zonen sind: »the zone of the significant others ­whose utterances we must react to or act on (the monkey, closest to our own species uttering specific and rather dramatic howls), the wider support group or community, whose members are still individually recognizable but less closely known, and whose actions we perceive as predictable and repetitive (the birds – or the men in the pub across the road), and the mass of strangers, who all blur together in one indistinct whole (the cicadas – or the cars on the high street nearby)« (S. 18f.). 65  Die Rubrik läuft täglich kurz vor 17 Uhr; vgl. die Internetseite der Rubrik, URL: www.deutschlandradio.de/sternzeit-im-deutschlandfunk.336.de.html?dram:article_ id=205657, abgerufen am 2. 1. 2014.

Produktion

der aus leisem Rauschen, unheimlichen tiefen schwebenden Klängen und einzelnen höheren atonalen Musikakzenten besteht. Dieser Klangteppich soll auf den Weltraum hinweisen, gleichzeitig wissen wir aber auch, dass der überhaupt nicht so klingt. Der Klangteppich erzeugt keine sinnliche wahrzunehmende Simulation einer Weltraum-Akustik, sondern ist eine Metapher für den Weltraum mit Sternen, Nebeln und Planeten. Dass wir ihn mit dem Weltraum in Verbindung bringen, mag zum einen von unserer Erfahrung mit typischen Kompositionsstrukturen und Sounds von Science-Fiction-Filmen und -Hörspielen herrühren.66 Zum anderen zeigt Leeuwen, wie unser Verständnis solcher Klangteppiche durchaus plausibel als Bündel von allgemeinverständlichen Zeichen erklärt werden kann: Wir bringen unmenschlich tiefe und ununterbrochene Töne mit der schwarzen Unendlichkeit des Weltraums in Verbindung, und einzelne hellere punktuell eingesetzte Klänge lassen sich leicht als leuchtende Sterne vor schwarzem Hintergrund interpretieren.67 Die Herstellung von Raum ist, so zeigen diese Beispiele, nicht unbedingt auf die Konstruktionsverfahren plausibler und an tatsächlichen akustischen Verhältnissen orientierter Topologien angewiesen, wie Feature- und Hörspielproduzenten sie entwickelt haben. Raum entsteht in der Wahrnehmung, und greift dabei auf Assoziationen, Muster, Schemata zurück, die wir kennen und abgespeichert haben. Das kann sich durchaus als Vorteil erweisen, denn hierbei ist das Raumerleben nicht an das medientechnische Dispositiv der Stereofonie oder an eine ideale Abhörposition gebunden. Solche assoziativen Räume sind sehr unabhängig von Einflüssen der technischen Übertragungsleistung. Kein Radio ohne Raum: Konstruktion von Stille

So einfach es scheint, mit gezielt gesetzten Geräuschen einen Raum hervorzurufen, so schwierig ist es oft, die richtigen Geräusche zu finden. Ganz besonders deutlich wird das dort, wo Reporter das eigene Erlebnis tiefer Stille vermitteln wollen. Stille als objektives akustisches Phänomen existiert überhaupt nicht. Selbst dort, wo man sich der absoluten Stille annähert, im schalltoten Raum, holen unsere eigenen Körpergeräusche uns ein. John Cage hat das erlebt und berichtet davon:

66  67 

Vgl. zum Sounddesign von Science-Fiction-Filmen Whittington 2007. Vgl. Leeuwen 1999, S. 53.

157

Radio-Topologie I entered [an anechoic room] at Harvard University some years ago and heard two sounds, one high and one low. When I described them to the engineer in charge, he informed me that the high one was my nervous system in operation, the low one my blood in circulation. Until I die ­there will be sounds. And they will continue following my death.68

158

Der eigene Körper produziert selbst Geräusche, und wenn sonst nichts, gar nichts mehr zu hören ist, so befindet man sich doch noch im Raum des ­eigenen Körpers.69 Was wir als Stille wahrnehmen, hat also nur teilweise mit dem Fehlen von Geräuschen zu tun. Der Eindruck medial vermittelter Stille entsteht anders. Der Filmtheoretiker Béla Balázs hat 1930 ein Beispiel beschrieben: Wenn der Morgenwind das Krähen eines Hahnes vom Nachbardorf her­ überweht, wenn ich das Beil des Holzhackers vom Berg, von ganz hoch oben höre, wenn ich Laute vernehme über dem See, von Menschen, die ich kaum sehen kann, wenn in der Winterlandschaft irgendwo, auf Stunden Entfernung, eine Peitsche knallt, dann höre ich die Stille. Stille ist, wenn ich weit höre. Und so weit ich höre, gehört der Raum zu mir und wird mein Raum.70

Diese Passage steht bei Balázs programmatisch für seine begeisterte Aufnahme des noch jungen Tonfilms. Es geht ihm um die Möglichkeiten, Stille im Film sinnlich darzustellen. Der Stummfilm, so seine Überzeugung, konnte das noch nicht, und beim Tonfilm ist es nicht mit dem Abschalten des Tons getan. Stille muss stattdessen akustisch konstruiert werden. Für Balázs bedeutet das, einen Raum zu konstruieren, der eine stille Situation evoziert, in dem ferne Geräusche das Fehlen von nahen Lauten erst hörbar machen. Das gilt für das Radio gleichermaßen: Wo Stille hörbar gemacht werden soll, ist es nicht damit getan, nichts zu senden. Moderatoren, die für einen Gag Sprachlosigkeit vorschützen wollen, überbrücken die Stille mit Räuspern oder einem Ähm; Stille in Hörspielen geht nie ohne eine leise Hintergrund­atmo; und das Senden von Schweigeminuten bringt Radiopraktiker immer wieder in Verlegenheit – atmosphärische Klänge oder Glockengeläut sollen da hel-

68 

Cage 1987 [1968], S. 8. Die Geräusche des eigenen Körpers im Modus der Stille hörbar zu machen, das war, wie Michel Serres berichtet, Teil der Therapie für kranke Menschen im antiken ­Griechenland: »Erst wenn alle äußeren Geräusche ausblieben, wurden die inneren Geräusche des gequälten und erkrankten Körpers laut, das Klagegeschrei der Myriaden von Zellen.« (Engell 2001, S. 56.) 70  Balázs 1972 [1930], S. 154f. 69 

Produktion

fen. Das Problem ist nicht nur ein technisches: Echte Stille kann die Havarie­ mechanismen moderner Sendeanlagen in Gang setzen, so dass automatisch ein Ersatzprogramm anläuft, und zu leise Geräusche werden von den Sendeprozessoren womöglich unnatürlich angehoben. Das Problem besteht auch in einer immensen Furcht von Radioleuten vor der unmodulierten Antenne, also davor, nichts zu senden. Vielleicht liegt das daran, dass ein Radio, das Stille sendet, nicht mehr von einem ausgeschalteten Radio zu unterscheiden ist. Solange noch etwas über den Äther geht, existiert auch noch der ästhetische Raum des Radios; sobald nichts mehr gesendet wird, fällt dieser Raum in sich zusammen. Stille, so könnte man im Anschluss an Balázs formulieren, ist ein weiter Raum. Doch Radio, das nichts sendet, kein Rauschen, hat auch keinen ästhetischen Raum mehr und ist damit nicht einmal mehr eine Störung.

5.3 Unmögliche Raumkomplexe: Radiostimme zwischen den Welten Ästhetik radiofoner Wirklichkeit

Räuschers Idee von der objektiven Berichterstattung durch das Reporter­ mikrofon, Kopetzkys Dekonstruktion dieser Idee durch sein Konzept »subjektiver Wahrheiten« – all diese Beispiele verbindet die Auseinandersetzung mit der Frage nach dem Wirklichkeitsbezug medialer Artefakte. Im Kontext dokumentarischer Medienprodukte spricht man oft von Authentizität, und meint damit eine ›Echtheit‹ der Materialien, in diesem Fall der Tonaufnahmen vor Ort. Authentizität wird zudem als normative Qualität gesehen, die medialen Produkten erst von ihren Rezipienten zugeschrieben wird: Wer ­R adio hört, hält das Gehörte für mehr oder weniger glaubwürdig.71 Ich beziehe mich hier aber nicht auf die Authentizität von Geräuschen, Atmos und Stimmen selbst, sondern mir geht es um ihre Räumlichkeit – das räumliche Setting in der Wirklichkeit und sein Verhältnis zum ästhetischen

71  Vgl. Schicha 2013, S. 32ff. Versteht man Authentizität als Zuschreibung von Glaubwürdigkeit durch Rezipienten, so wäre es sicherlich interessant zu ermitteln, welche Raumparameter – Nachhall, Atmos – welchen Einfluss auf die Authentizität nehmen können. Macht es für Hörer einen Unterschied, ob zum Beispiel eine Moderatoren­ stimme mit Atmo unterlegt oder ob sie künstlich verhallt wird?

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Radio-Topologie

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Raum im Radio. In welchen Fällen es aus medienethischer Sicht probat ist, Geräusche vor Ort aufzunehmen oder solche aus der Konserve zu verwenden, soll hier nicht diskutiert werden. Daher ziehe ich auch den Begriff »Wirklichkeitsbezug« vor. Er legt den Blick entsprechend der Anlage dieser ganzen Arbeit stärker auf die Produktionsseite als auf Rezeption oder Wirkung; und mit ihm lässt sich besser greifen, dass bei der Radioproduktion Transferprozesse vorgenommen werden, die die Wirklichkeit in je unterschiedlichem Maße materiell oder konzeptionell in die medialen Artefakte inkorporieren. Die im letzten Kapitel beschriebe Konstruktion von Atmos aus einzelnen prägnanten Sounds erweist sich jedenfalls trotz – oder wegen – seiner Differenz zum wirklichen Raum als durchaus ›radiofon‹: Die konstruierte Atmo kann vom Medium besser übertragen, von Hörern besser verstanden werden. Somit transportiert sie die Botschaft klarer und einfacher als eine natürliche vielschichtige Atmo, die noch so unmittelbar der Welt entsprungen ist und einen engeren, unmittelbareren Bezug zur Wirklichkeit aufweisen kann. Mehr noch: Gerade wenn sich die Welt im Radio sehr echt, natürlich und unverfälscht anhört, steckt dahinter oft ein Produktionsprozess, der diesen Eindruck bewusst herstellt. Insofern konstruieren Produzenten wie K ­ opetzky Raum-Illusionen. Doch im folgenden Beispiel möchte ich zeigen, dass es nicht immer um Illu­sion geht, um eine akustische Topologie, die sich so plausibel anhört, dass sie Abbild einer realen Situation sein könnte. Ganz im Gegenteil: Die radiofonen Formen, die sich in nun beinahe hundert Jahren Radiogeschichte entwickelt haben, spielen zum großen Teil gerade damit, die kohärenten Welten naturalistischer Atmos zu durchbrechen. Kommen wir dazu auf das Feature Brasil von Matthias von Spallart zurück. Bei Brasil entsteht der natürliche Raumeindruck nicht durch eine aufwendige Montage aus Einzelelementen, wie Kopetzky das für seine Arbeitsweise beschrieben hat. Bei Brasil ist es vor allem ein ganz bestimmtes Mikrofon- und Aufnahmeverfahren und der Umgang damit. Spallart verwendet ein KopfStereo­mikrofon, das ähnlich einem Kopfhörer so getragen wird, dass zwei Mikrofonkapseln mit den Membranen an den eigenen Ohren sitzen. Mit dieser Technik, die der Kunstkopfstereofonie verwandt ist, wird eine extrem eindrückliche Raumdarstellungen möglich.72 Wir hören, was Spallart gehört hat,

72 

Über Spallarts Verwendung des Kopf-Stereomikrofons MKE 2002 von ­Sennheiser berichtete die Neue Zürcher Zeitung am 3. 12. 1981: N.N.: Ein eigentümlicher Apparat.

Produktion

seine Ohren werden zu unseren Ohren: ein extrem immersives Raumerlebnis. Mit guten Kopfhörern fällt es schwer, nicht ganz in der Aufnahme zu versinken: »Kaum einer wird es fertigbringen, den Kopf nicht in die Richtung der sich bewegenden Geräuschquellen zu drehen, wenn ein Auto vorbeifährt, eine Fliege surrend ihn umkreist oder eine Sambatänzerin mit ihrem Rhythmusinstrument rund um ihn herumgeht.«73 Man taucht in die fremde Welt ein, und die Geräusche umfließen einen geradezu. Der ästhetische Raum wird zu einer eigenen akustischen Welt, und ab der ersten Minute wird die brasilianische Klanglandschaft zur akustischen Welt des Hörers. Doch dann taucht eine Stimme auf, die nicht Teil dieser Welt sein kann. Die ruhige, tiefe Stimme eines Sprechers – fast möchte man meinen, es handele sich um die eigene innere Stimme – ist ganz nah, direkt vor oder gar in einem selbst. Sie spricht ihn aber nicht an, sondern erzählt von sich selbst, ist ein Erzähler. Und man erlebt, was er, der Erzähler, erlebt, hört, was er hört: der Erzähler als alter ego des Hörers. Eine Szene aus Brasil macht das besonders deutlich. Wir befinden uns zusammen mit einem Fischer auf einem kleinen Boot mitten auf dem Amazonas. Das Ruder im Wasser ist zu hören. Eine Fliege kommt immer wieder angeflogen und schwirrt im Kreis um uns herum; in der Ferne das indifferente Rauschen des Urwalds. Die Szene steht einem geradezu vor Augen. Und dann die Stimme: Der Indianer erhebt sich ganz langsam – er legt das Ruder aus der Hand – nimmt einen Pfeil – spannt ruhig den Bogen – steht – wartet – zielt. Ich mache eine ungeschickte Bewegung – der Fisch ist verschwunden.

Es ist völlig klar: Dort, auf dem Boot, spricht niemand. Die Szene war, als sie sich zugetragen hat, eine stumme. Die Stimme, die wir hören, gehört dort eigentlich nicht hin. Das ergibt sich nicht nur aus der Logik der Szene, die ja gerade von gespannter Stille geprägt ist. Es ist auch hörbar, denn die Erzählerstimme steht in akustischem Kontrast zur Atmo: Während die Atmo die Weite und Tiefe der Landschaft im Amazonasgebiet hörbar macht, ist die Erzählerstimme nah und präsent. Wenn die Geräusche den gesamten Raum ausfüllen und sich lebendig in ihm bewegen, so bleibt die Stimme an dem einen Ort direkt vor uns. Sie reagiert nicht auf die akustische Welt, und die Welt nicht auf sie. Die Erzählerstimme ist kein Teil der Original-Atmo und kein Teil dieser exotischen akustischen Welt.

73 

N.N.: Phantastische Reise in die Innenräume Brasiliens 1982.

161

Radio-Topologie

162

Und dennoch behauptet sie, Teil des Geschehens zu sein: Der Erzähler verwendet das Präsens und benennt ein Ich, das allem Anschein nach direkt am Geschehen beteiligt ist. Er formuliert so, wie es auch ein Live-Reporter täte, er tut mit seinen Worten so, als ob er direkt mit dabei wäre, live vor Ort. Doch der Klang seiner raumlosen und nahen Stimme straft ihn Lügen. Sie stammt nicht aus der Welt des Amazonas, sondern aus einer anderen, raumlosen Welt, nämlich der Welt des Rundfunkstudios. Dort wurde sie Wochen oder Monate später aufgenommen und in die Original-Atmos hineinproduziert.74 Und während die immersive Atmo einen so eindrücklichen Raumeindruck erzeugt, dass sie die Hörer geradezu nach Brasilien auf das Boot zu holen scheint, folgt die Stimme einem ganz anderen Raumkonzept. Als raumlose Stimme ist sie den Hörern nah und wird Teil von deren häuslicher Klangwelt. Die Erzählerstimme aus Brasil sitzt, wie Ashbridge es sagen würde, als Freund bei den Hörern am Tisch. Mit diesem Zusammenprall zweier Welten mit je unterschiedlichen Raumkonzepten entsteht ein komplexer ästhetischer Raum, der sich nicht mehr als Abbild, Rekonstruktion oder Neuschaffung eines realistischen oder plausiblen räumlichen Settings beschreiben lässt. Die raumlose Stimme als Weltvermittler

Natürlich tun wir uns mit diesem komplexen Raum nicht schwer. Wir kennen diese Form, sie hat sich im Radio längst etabliert. Wir kennen sie auch aus anderen Medien: Im Film würde man die Stimme als »Voice-over« oder »Off-Stimme« bezeichnen. Die Kombination von Atmo und raumloser Stimme ist längst nichts Besonderes mehr. Aber sie ist ein Beispiel dafür, in welch produktiver Weise Radiopraktiker den ästhetischen Raum des Radios gestalten. Denn die Stimme nimmt in ihrer ambivalenten Stellung zwischen dem akustischen Raumkonzept der raumlosen Stimme und der verbalen Unmittel­ barkeit des Textes eine vermittelnde Position ein, die den Raum- und Zeit­ unterschied zwischen dem Dort/Damals der brasilianischen Recherchereise und dem Jetzt/Hier der Radiosendung zu überbrücken vermag. Der Erzähler kann so leisten, was anders nicht möglich gewesen wäre. Eine vor Ort aufgenommene Erzählerstimme hätte die Aufnahme zu einem Dokument einer ent-

74 

Die Stimme gehört übrigens nicht einmal dem Autor selbst, der auf dem Boot g­ esessen hat, sondern dem Sprecher Michael Thomas, wie dem Eintrag »Brasil« in der Online-Hörspieldatenbank »Hördat« zu entnehmen ist.

Produktion

fernten und vergangenen Szene gemacht. Erst die raumlose Erzählerstimme, die nahe, intime und vertraute Stimme, rückt Brasilien in die Nähe der Hörer, holt es ins heimische Wohnzimmer und begleitet die Hörer gleichzeitig auf eine Phantasiereise in das fremde Land. Der Text, ein untrennbarer Bestandteil dieser nahen Stimme, der gleichzeitig aber auch der brasilianischen Szene zugehörig scheint, stellt die Verbindung zwischen Hörsituation und Aufnahmesituation her. Die Stimme wird zum Botschafter. Letztlich liegt auch der Aufnahmezeitpunkt des Sprechertextes irgendwo zwischen den beiden Polen. Die Kombination von raumloser Stimme und Atmo ist im Radio allgegenwärtig. Es kommen dabei freilich nicht immer solch immersive Aufnahme­ verfahren zum Einsatz; in der Regel nehmen Reporter vor Ort schlichte Mono- oder Stereo-Atmos auf. Aber wie auch im Beispiel von Brasil soll die Radiostimme, die in der Produktion hinzugefügt wird, durch diese Atmos nicht in einen anderen Raum versetzen werden – es geht nicht darum, die Illusion einer völlig anderen publizistischen Szene zu erzeugen. Stattdessen verbindet die raumlose Stimme durch ihre akustische Nähe ferne und fremde Räume mit den eigenen Räumen der Hörer, mit der unmittelbaren Umgebung in der Hörsituation. Die Raumlosigkeit der Radiostimme ist dabei auch eine zentrale Voraussetzung dafür, dass das Raumkonzept aufgeht. Diese spezifische Form der Räumlichkeit ist die Grundlage für die Form der ›gebauten Reportage‹.75 Diese radiotypische Darstellungsform ist der Live-­ Reportage noch nahe, sie unterscheidet sich aber von ihr darin, dass der Reporter den Text eben nicht vor Ort, sondern erst im Nachhinein schreibt und im Studio aufnimmt. Die Sprachaufnahme wird dann mit den Atmos und O-Tönen von vor Ort zusammengemischt. Von einem Ort und aus einem Raum heraus berichtet die Live-Reportage, die gebaute Reportage berichtet über diesen Ort und über diesen Raum. Der Autor hat dann die Möglichkeit, den Text präziser zu formulieren und die ganze Reportage, die sich dann womöglich aus mehreren unterschiedlichen Atmos und O-Tönen zusammensetzt, sorgfältiger zu produzieren. Das Ergebnis kann aus akustischer wie inhaltlicher Sicht konziser werden als eine Live-Reportage. Was sich aber grundlegend verändert, ist das Raumkonzept. Bei der gebauten Reportage tut der Reporter nicht so, als wäre er vor Ort. Text und Sprachduktus, aber auch die Raumakustik der Stimme machen deutlich, dass der Sprecher in einem Studio aus der räumlichen und zeitlichen Distanz zum Geschehen spricht. Da-

75 

Vgl. hierzu Häusermann/Käppeli 1994, S. 220ff.

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für ist die Stimme den Hörern näher: Sie holt die Hörer nicht in die Welt, sondern sie bringt die Welt zu den Hörern. Was sich Reportern als Erleichterung im Arbeitsprozess oder gar als Notwendigkeit aus der Situation heraus ergibt, nämlich die nachträgliche Vertextung zuvor aufgenommener O-Töne, entwickelt sich zu einer Darstellungsform mit ganz spezifischem Raumkonzept. Das Raumkonzept der Atmo und das der raumlosen Stimme stehen sich gegenüber, und je mehr Gewicht die raumlose Stimme bekommt, desto stärker gerät auch die akustische Sogwirkung der Atmo in den Hintergrund. Field recordings, die für sich alleine stehen, haben das Potential, Hörer durch ihre Raumwirkung in die Welt hineinzuziehen, sie gewissermaßen ganz auf die Hörbühne zu holen. Atmo kann dagegen ihre sinnliche Raumwirkung verlieren und zu bloßer Illustration werden, je wichtiger die Vermittlungsleistung der raumlosen Stimme wird. Im Extremfall ist Atmo im Hintergrund einer dominanten Radiostimme dann kaum mehr als ein Stimmungslieferant, eine Kulisse, ein Klangteppich. Wenn das Wunder des Radios immer wieder in seiner Raumüberwindung gesehen wird, so kann es seine Magie erst dann richtig entfalten, wenn es das Nahe und das Ferne nicht schlicht überwindet, sondern vor allem zwischen beiden vermittelt. Durch die Kombination dieser beiden Raumkonzepte wird das möglich. In der besonderen Raumwirkung komplexer ästhetischer Räume, die atmosphärische Atmos mit raumlosen Stimmen verbinden, liegt eine der zentralen Stärken des Radios: Das Radio leistet die Verbindung des öffentlichen Raums, repräsentiert durch die Atmo, mit der Intimität des Privaten, ihrerseits repräsentiert durch die raumlose Stimme. Zusammenfassung: Der Wirklichkeitsbezug im Radio

Produzenten konstruieren Räume. Das gilt im Prinzip schon für Reporter, die mit nur einem Mikrofon arbeiten – schon sie nehmen Einfluss darauf, wie der ästhetische Raum im Radio aufgebaut ist, auch sie gestalten die akustische Topologie ihrer Reportagen. Doch Reporter tun das zunächst mit ›analogen‹ Mitteln, über die Wahl von Standpunkt und verwendeter Technik und über ihre Handhabung des Mikrofons im Raum. Produzenten gehen heute oft einen Schritt weiter; sie bauen den ästhetischen Raum komplett neu auf. Sie verwenden dafür die Möglichkeiten der Studiotechnik: Das Tonband, das es möglich macht, einzelne Aufnahmen anzufertigen und zu handlichen Sounds zu schneiden; das Mischpult, das es erlaubt, Einzelaufnahmen weiter nach links oder weiter nach rechts zu setzen

Produktion

und über die Mischung auch in der Tiefe des Raums anzuordnen.76 Sie nutzen die gesamte Infrastruktur des Studios, um viele einzelne Aufnahmen so über- und hintereinander zu montieren, dass das Gesamtprodukt ein plausibles Szenario ergibt, eine akustische Topologie, die klingt wie ein echter Raum – auch wenn er erst im Studio entstanden ist. Was sich dabei verändert, ist der Wirklichkeitsbezug des ästhetischen Raums. Im frühen Rundfunk, als Ansager, Sprecher und Reporter noch live agierten, war es das Mikrofon, an dem sich der Bezug von Realität und Aufnahme festmachen ließ. Das Mikrofon stellte die Schnittstelle her zwischen der realen akustischen Umgebung in der Welt, wie sie sich dem Reporter beim unmittelbaren Hören zugänglich machte, und dem ästhetischen Raum, den es in das Kabel und in die elektromagnetischen Radiowellen hineinschrieb.77 Es war dabei freilich kein verschwindender Vermittler, der eine Eins-zu-einsÜbertragung ermöglichte, sondern arbeitete nach eigenen Regeln und Gesetzen. Insbesondere fixierte das Mikrofon durch seinen Standpunkt eine spezifische akustische Perspektive: Der Raum bekam einen Mittelpunkt, von dem aus alles akustische Geschehen sich durch Richtung und Abstand bestimmen ließ. Das Mikrofon formte, zerrte und stauchte die akustische Wirklichkeit zu einer spezifischen akustischen Topologie. Mit den neuen Produktionsweisen ist es nun nicht mehr das Mikrofon allein, sondern das gesamte Tonstudio, das als Schnittstelle zwischen dem akustischen Raum der Realität und dem ästhetischen Raum des Radios fungiert. Das Verfahren der Dekonstruktion und Rekonstruktion, das Kopetzky beschrieben hat, emanzipiert das Produkt erheblich weiter vom akustischen Raum der Wirklichkeit und schiebt sich als eigener Arbeitsschritt zwischen beide Pole – die Welt und ihre Repräsentation im Radio. Im Studio entstehen dabei Idealisierungen oder Stilisierungen realer Raumstrukturen, die sich nun vor allem auch dem Publikum verpflichtet fühlen: Der ästhetische Raum wird ein Kommunikat, und maßgeblicher Anspruch ist die Intelligibilität. Dieser Anspruch wird von Produzenten schließlich auf die Probe gestellt. Mit den komplexen Raumkonstrukten, die beispielsweise in gebauten Repor-

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Tonband und Mischpult sind dabei auch als Metaphern für die entsprechenden ­ igitalen Aufzeichnungs- und Produktionssysteme des heutigen Radioalltags zu sehen, d Metaphern, die auch in den Bedienoberflächen der Programme ihre Wirkmacht noch nicht verloren haben. 77  Stefan Helmreich (2015) beschreibt das Mikrofon als transducer: Eine Instanz, die den Raum aus dem einen Aggregatzustand in einen anderen überführt.

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Radio-Topologie

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tagen, in vielen Features und etlichen aufwendiger produzierten Radiobeiträgen vorherrschen, driften Realität und Produktion noch weiter auseinander. Der ästhetische Raum gibt hier überhaupt nicht mehr vor, einer akustischen Wirklichkeit nachzueifern, sondern macht die Differenz zur Realität geradezu zum ästhetischen Prinzip. Das Raumkonzept, das sich in der Live-­Reportage schon angedeutet hat – die nahe Reporterstimme, umgeben von der Atmo des Geschehens –, wird hier auf die nächste Stufe gehoben. Das Feature Brasil ist ein prägnantes Beispiel dafür. Die raumlose Stimme im Vordergrund, die im Nachhinein im Tonstudio aufgenommen wurde, die auch durch ihre Sprechhaltung die räumliche und zeitliche Distanz zum Geschehen deutlich macht, die aber dennoch mit den Geräuschen der Welt im Hintergrund kombiniert wird und sogar mit diesen Geräuschen interagiert, führt aller Logik zum Trotz nicht zu Befremdung und Irritation. Ganz im Gegenteil: Diese Kombination erweist sich als eine radiofone Konstellation, die auf geradezu ideale Weise einlösen kann, was das Radio schon immer versprochen hat: die Überwindung des Raums. Erst in diesem Zusammenspiel wird Radio tatsächlich zum Ohr zur Welt, und trägt gleichzeitig die Welt in die private Sphäre der Hörer. Der Weg, diese beiden Raumkonzepte miteinander zu kombinieren, führt über die nahe und raumlose Stimme.

6 Moderation Vermittlung multipler Räume

6.1 Topografie im Radio: Die Raumbezüge des Sendens Moderatoren als Weltvermittler

In den letzten Kapiteln habe ich bei der Beschreibung komplexer ästhetischer Räume bewusst die Begriffe ›Welt‹ und ›Welten‹ verwendet. Wo mit Atmo und raumloser Stimme nicht nur verschiedene Codes zusammenkommen, sondern auch verschiedene Räumlichkeiten mit unterschiedlichen Raumkonzepten, setzt sich der ästhetische Raum des Radios aus mehreren Topologien zusammen, die miteinander interagieren und neuen Sinn generieren können. In Brasil beispielsweise überlagern sich die Topologie der Original-Atmos aus Brasilien mit der des Studiosprechers. Vergleichbare Konstellationen sind im Radio auch bei Moderationen allgegenwärtig: Moderatoren kombinieren ihre raumlose Stimme mit anderen Elementen, mit raumhafteren Stimmen, Atmos oder Hintergrundmusik. Auch hier verbinden sich unterschiedliche Topologien, mal gleichzeitig, mal in einem zeitlichen Hintereinander. Moderatoren lassen sich in diesem Sinne ebenfalls als ›Weltvermittler‹ sehen. Begrifflich scheint dabei das Feld der Narratologie auf. ›Welt‹ und ›Welten‹ wird dort verwendet, um zwischen einer Ebene des Erzählten und einer Ebene des Erzählens zu unterscheiden: Das eine ist die reale Welt, in der Kommunikation stattfindet. Die andere ist die Welt, von der diese Kommunikation han-

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delt. Diese narratologische Kategorie zeigt somit strukturelle Ähnlichkeiten zur ästhetischen Kategorie des Raums im Radio: Radio ist an einem Ort und in einem Raum zu hören, aber Radio macht auch andere Orte und Räume hörbar. Radio findet in der Welt statt, aber Radio berichtet auch über die Welt.1 Es stellt sich daher die Frage, inwieweit es möglich ist, ausgehend von dieser Analogiebildung grundlegende Basiskategorien der Erzähltheorie auf die Raumästhetik des Radios anzuwenden. Es ist bereits deutlich geworden: Nahe Sprecherstimmen wie die von Moderatoren setzen – dem Raumkonzept der Intimität folgend – eher reale Kommunikation mit Hörern in Gang, während Musikproduktionen, immersive Atmos oder Reportagen Hörern eher das Geschehen an einem anderen Ort vorführen – entsprechend dem Raumkonzept der Hörbühne. Doch wann kommt welches Raumkonzept zum Einsatz und warum? Ich möchte versuchen, ästhetische Strukturen des hörbaren Radioraums mithilfe narratologischer Kategorien zu veranschaulichen und zu verstehen. Leitender Gedanke ist es, Moderation als kommunikative Vermittlung zu sehen mit den Räumen der realen Welt auf der einen und der Sphäre der Hörer auf der anderen Seite. Diese beide Seiten der Vermittlung werde ich in je eigenen Unterkapiteln untersuchen. Zunächst möchte ich der Frage nachgehen, inwieweit sich diese Räume der realen Welt, die Raumbezüge der Wirklichkeit bereits grundlegend davon unterscheiden, wie Radio sie vermittelt. Genau darin besteht eine Grund­ annahme der Erzähltheorie, dass eine ›erzählte Welt‹ niemals identisch ist mit der ›Welt des Erzählens‹. Analog zu dieser Annahme versuche ich auf den folgenden Seiten, die Topografie der Welt, wie sie die ›Erzählung Radio‹ anbietet, von ihrer Differenz zur Topografie der realen Welt her zu beschreiben, der Welt, in der Radio als mediale Kommunikation stattfindet und auf die Radio sich zum großen Teil bezieht.2

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Die Narratologin Marie-Laure Ryan 2014, S. 34ff., fasst ›Welt‹ in Erzählungen mit dem Begriff storyworld. Elementare Bestandteile sind Existenzen (Personen und ­Objekte), ein räumliches Setting, physikalische Gesetze, soziale Werte und Normen, ­äußere und ­innere Ereignisse. Inwieweit sich Programme des Alltagsradios mit dem Konzept der ­storyworld sinnvoll beschreiben lassen, wäre eine eigene Untersuchung wert. Vgl. außerdem zur Rolle von Raum in der Erzähltheorie Ryan 2009, S. 270. Einen Überblick über Raumkonzepte in der Erzähltheorie bietet Dennerlein 2009, S. 13ff. 2  Der spätere Filmproduzent Helmut Jedele 1952, S. 2f., betont in seiner Arbeit zum Wirklichkeitsbezug im Hörfunk den Unterschied zwischen der Wirklichkeit und dem technisch herausgelösten Ausschnitt dieser Wirklichkeit im Radio: »Diese akustische Welt gibt es so nur in Verbindung mit dem Rundfunk. In der ›natürlichen‹ Welt gibt es

Moderation

Ein zentrales Merkmal der Moderation sehe ich in der Bezugnahme auf das Publikum. Daher beleuchte ich anschließend das Verhältnis zwischen Moderatoren und Hörern – ein Verhältnis, das in vielerlei Hinsicht durch die besondere räumliche Konstellation von Radio bestimmt wird. Mit Bezugnahme auf narratologische Terminologie lässt sich sagen: Während Wirklichkeit im Radio als ›vermittelte Welt‹ hörbar wird, steht die Moderator-Hörer-­Beziehung für die ›Welt des Vermittelns‹. Die solchermaßen angedeuteten Ebenen des Erzählens bzw. Vermittelns bilden dann im letzten Teil des Kapitels die Blaupause für den Versuch, raumästhetische Gestaltungskonventionen des Radios zu systematisieren. Dort greife ich auch die hier angesprochenen Kategorien der Erzähltheorie wieder auf. Die Welt auf der Stationsskala

Beromünster, Hilversum, Daventry – das sind nur drei der Namen, die eine ganze Generation von Radiohörern fasziniert und in ihren Bann geschlagen haben. Sie stehen für Mittelwellen-Sendeanlagen,3 von denen aus teilweise schon seit den 1920er-Jahren gesendet wurde. Es sind Namen, die ab den frühen 1930er-Jahren, seit sich beschriftete Stationsskalen an Radioempfängern durchsetzen konnten,4 zunehmend Eingang ins Gedächtnis vieler Hörer fanden und mit einem Klang in Verbindung gebracht wurden, mit dem Klang eines Radiosenders. Dass sich hinter diesen Namen Städte oder Orte verbargen, die man nicht kannte, die aber dennoch irgendwo existierten, machte sie nur um so geheimnisvoller. Neben Ortsnamen standen auf den Skalen auch topografische Namen wie »Monte Ceneri« oder »Vigra«, eine kleine Insel vor der Küste Norwegens. Paris konnte auch mit »Eiffelturm« bezeichnet sein, von dem seit 1921 Radio ausgestrahlt wird.

sie nirgends.« Sein Fokus liegt dabei freilich, anders als in meiner Arbeit, nicht auf dem ästhetischen Raum von Radio. 3  Der Begriff Mittelwelle bezieht sich – wie auch Kurz- und Langwelle – auf die ­physikalische Wellenlänge der Radiowellen. Die ersten Radiosender waren ›Mittelwellensender‹; der Begriff setzte sich aber erst in Abgrenzung zu den später hinzukommenden Lang- und Kurzwellensendern durch. Unter guten Bedingungen sind Mittelwellensender noch aus einer Entfernung von mehreren Hundert Kilometer zu empfangen. Langwellensender haben eine noch höhere Reichweite, und Kurzwellensender sind gar weltweit zu empfangen. 4  Vgl. Ketterer 2003, S. 79ff. Siehe auch Fickers 2006, S. 94.

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Eine ganze Generation ist mit diesen exotischen Namen auf den Stations­ skalen von Radiogeräten aufgewachsen. Immer wieder taucht die Skala als zentrales Element des elterlichen Radiogerätes in den Kindheitserinnerungen derer auf, die gemeinsam mit dem Radio groß geworden sind. Zeitzeugen berichten von Sendern »mit klingenden Namen wie zum Beispiel ›Königswusterhausen‹ oder ›Motala‹«5 und können sich an manche Namen besonders erinnern, wie an den des niederländischen Senders, »weil er mir als Kind so eigenartig vorkam: Hilversum«.6 »Als ich das erste Mal nach Ascona kam«, erinnert sich der Kulturwissenschaftler Kaspar Maase, »und den Monte ­Ceneri samt Sendestation sah, wurde mir bewusst, dass nun eine Neugier befriedigt war, die mich seit dem Studium der Radioskala als Sieben- oder Achtjähriger begleitet hatte.«7 Die Stationsskalen weckten bei vielen Kindern ein erstes Interesse für Geografie. Und doch wirbelten sie die Welt, wie sie war, durcheinander. Graz, Mühlacker und Hamburg konnten zum Beispiel nebeneinanderliegen, und dann Glasgow, Berlin und Rom.8 Städte, die Hunderte von Kilometer voneinander entfernt waren und die unterschiedlicher kaum sein könnten, lagen im Äther auf benachbarten Frequenzen. Wenn sich in den ersten Jahren des Rundfunks die Welt in ein den Globus umspannendes Netz von Sendemasten verwandelt hatte, die alle ihren Ort in der Welt hatten, so linearisierte die Radioskala diese Topografie und bildete die Städte in einem willkürlichen Nebeneinander ab. »›Wo liegt eigentlich Motala?‹«, zitiert Carsten Lenk einen Witz aus dem Jahr 1930, »›Das wissen Sie nicht? Vier Striche über Königs­ wusterhausen, fünf Strich unter Paris.‹«9 In der Differenz zwischen der globalen Topografie der Welt und ihrer Zugänglichkeit auf der Skala lag ein Faszinosum für Radiohörer: Mit einer kleinen Drehung der Hand von Finnland nach Österreich umzuschalten, konnte Fantasien von Weite und Weltgewandtheit entfachen. Wenn die Schweiz direkt neben England lag, dann waren alle herkömmlichen Raumbezüge überholt. In dieser Linearisierung lag schließlich auch die Aufhebung bisheriger Hierarchien: Neben der ungarischen Kleinstadt Miskolc lag Paris, die Metro-

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Payr 2004, S. 69. Raslag 2004, S. 115. 7  Maase 2004, S. 68. Auf dem Monte Ceneri befand sich der Landessender für die italienisch­sprachige Schweiz. 8  So zu sehen auf der Abbildung einer Telefunken-Skala in Fickers 2006, S. 97. 9  Lenk 1997, S. 236. 6 

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pole London neben Turku. Die Skalen wiesen nicht aus, was Hauptstadt war und was kaum mehr als ein Küstendorf mit guten geografischen Bedingungen für eine Sendestation. Freilich beinhalteten die Skalen oft mehr das Versprechen als das tatsächliche Angebot einer akustischen Weltreise, denn auch mit den Radiogeräten der 1930er-Jahre, die die Bastlerphase überwunden und über ausgefeilte Mechaniken und Schaltknöpfe verfügten, hing es neben der technischen Qualität der verwendeten Geräte immer noch von Tages- und Jahreszeit, vom Wetter, ja sogar von der Sonnenaktivität ab, wie gut weit entfernte Sender zu empfangen waren.10 Auf diese Weise veränderte das Radio die Raumbezüge der Welt. Es machte Distanzen zwischen weit entfernten Städten zunichte und ordnete die Topografie der Welt auf einer linearen Skala neu an, es eroberte unbekannte Räume – und es erzählte davon. Schon als die ersten Rundfunksender in den 1920er-Jahren auftauchten, betonten sie ihre Verortung in der Welt. Die Sendungen begannen mit »Achtung! Hier Sendestelle Berlin Voxhaus, Welle 400« oder »Hallo, Hallo, hier Radio Wien auf Welle 530«.11 Die Sender verwendeten den Namen ihres Ortes als Metonymie für sich selbst – für die Sende­anlage, die Rundfunkanstalt und das Programm. Das setzte sich auch im allgemeinen Sprachgebrauch von Radiohörern durch. Aussagen wie »Jetzt kommt Dänemark«12 oder »Ich habe gestern Moskau gehabt«13 zeugen davon. Skalen, Programmansagen und Alltagsrede erzeugten einen Begriffszirkel aus Toponymen, Ortsnamen, der die innere Topografie des Radios als Anordnung dieser Namen nur noch festigte. Radio auf Fernempfang

Die technische Übertragung, die Verbindung zweier Antennen über die elek­ tromagnetische Welle, das machte zu Beginn den Radioempfang aus. »Hier ist Berlin!« – diese Worte behielten ihren Zauber und kündeten vom Wunder

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Vgl. Schlosser 1994, S. 64. Lachner 2004, S. 106. Vgl. auch Wagner 2013. Fritz Walter Bischoffs Hörspiel ­»Hallo! Hier Welle Erdball« greift das in einer Überhöhung auf. Das Hörspiel, nur in Ausschnitten erhalten, evoziert ein globales Radioprogramm mit Szenen unter anderem aus China, dem Urwald und von einem Schiff (vgl. Vowinckel 1995, S. 52ff.). 12  Maase 2004. 13  Zitiert nach Lenk 1997, S. 237. 11 

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der Raumüberwindung. Gerade in den ersten Jahren, vom Aufkommen der Funktechnologie bis etwa Mitte der 1920er-Jahre, ging es vielen ja überhaupt nicht um die Inhalte des Radios selbst, sondern darum, möglichst weit entfernte Stationen zu erfassen. Es war die erste Phase des Funks, nach M ­ aase »das technisch-bastlerische (oder zumindest technisch-bastlerisch vermittelte) Abenteuer des Fernlauschens und Wellenjagens«,14 in der viele ihre Empfänger selbst zusammenbauten und sich im Empfang vor allem eines ausdrückte: »ein eigenes Vermögen, eine technische Fertigkeit, eine Welt hinter der Welt, dadurch vermittelt, dass eine Apparatur funktioniert«.15 Der Medien­philosoph Lorenz Engell schildert, wie es diesen Pionieren wohl ergangen sein muss: »Aus dem bloßen Äther, einem rauschenden, konturlosen Meer, schien plötzlich die Stimme zu kommen, kaum entzifferbare, fast zischende, hohe und irgendwie metallische Klänge. Und wenn, was jetzt zu hören war, eine fremde, gar unverständliche Sprache gewesen sein sollte – umso besser.«16 DXing oder Fernempfang nannte – und nennt17 – sich diese Art, sich mit dem ­R adio zu beschäftigen. DX ist unter Funkern das Zeichen für weite Entfernung, D steht für distance und X für unbekannt.18 DXing war Sport. Für den Ansager Otto Freundorfer war »die drahtlose Welle wie ein übermütiger, sieghafter Renner«, der »alle Raumgrenzen übersprungen, Ozeane und Erdteile überquert, miteinander verbunden und einen neuen Raumrausch entfesselt« hat, und »wie immer waren die überbrückten Weiten mit ihren riesigen Kilometerzahlen am Anfang dieser neuen Erfolge das vor allem Bestechende.«19 Nicht was die Stimmen im Radio sagen, sondern welche Distanzen man überwunden hatte, war entscheidend.20 Die Faszination des DXing bildet sich auch in den Metaphern ab, mit denen Radiopioniere die Beschäftigung mit den Wellen umschreiben, die aber auch heute noch populär erscheinen, wann immer über das frühe Radio gesprochen wird: Radiohören als Reise, der Äther als ein Meer, das es, wie Axel

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Maase 2004, S. 57. Engell 2001, S. 57. 16  Engell 2001, S. 55. 17  In der heutigen Amateurfunkerszene existiert DXing nach wie vor und wird gelebt, auch wenn vor allem in Mitteleuropa die analogen Kurz-, Mittel- und Langwellensender zunehmend abgeschaltet werden (vgl. Kleinsteuber 2012, S. 295f.). 18  Vgl. Schlosser 1994, S. 65. Siehe auch Volmar 2015, S. 108ff. 19  Freundorfer 1930, S. 137. 20  Vgl. Lenk 1997, S. 231ff. 15 

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Volmar es ausdrückt, zu erforschen und zu kartografieren galt.21 »Die Sender­ skala wurde zum Fahrplan für die Ätherreise, die Sender bzw. Städte auf der Skala zu Stationen, an denen man anhalten oder auch vorbeidrehen konnte.«22 Die deutschen Rundfunkanstalten berichteten vor allem in den ersten 10 ­Jahren ihres Bestehens auch auffällig oft von und über das Reisen: von der Repor­tagereise durch die Heimatregion23 über Sendeversuche von einem den Atlantik überquerenden Ozeandampfer24 bis hin zur Berichterstattung rund um die Weltreise des Zeppelins.25 Der amerikanische Germanist Daniel ­Gilfillan sieht gerade in der Meer-Metapher auch einen Anschluss an die erste Blütezeit des Funks in der Schifffahrt im frühen 20. Jahrhundert und verweist auf das erste im deutschen Rundfunk vorgetragene Gedicht: See­gespenst von Heinrich Heine.26 Die Programmleiter waren sich offenbar dessen bewusst, was DXing, Fern­ empfang, für viele Radiohörer bedeutete. Teilweise münzten sie den abendlichen Sendeschluss in einen Freiraum für DXing um; Programmankündigungen wie »Funkstille für Fernempfang« und »Freizeit für Funkfreunde, die auswärtige Stationen hören wollen« aus den Jahren 1925 und 1926 zeigen dies.27 Durch diese Rhetorik konnten die Rundfunkanstalten auch die nächtliche Stille, die Zeit des ausgeschalteten Senders, in die eigene Programmstruktur integrieren. Doch die Sender gingen bald einen Schritt weiter und wurden selbst zu DXern. Renate Schumacher belegt, dass ab 1925 Frankfurt, ab 1927 auch München gezielt über Fernempfang aufgefangene Sender – zum Beispiel Schenectady in den USA – über die eigenen Sender wieder ausstrahlte, das ausländische Programm also schlicht weiterleitete.28 Sie machten damit das Erlebnis des DXing auch für diejenigen erfahrbar, die selbst keinen teuren und leistungsstarken Empfänger, sondern lediglich ein einfaches Detektorgerät besaßen, das gerade einmal den regionalen Sender empfangen konnte. Hörer

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Vgl. Volmar 2015, S. 109. Fickers 2006, S. 94. 23  Vgl. Ernst 1930; Freundorfer 1930. 24  Vgl. Bodenstedt 1930. 25  Vgl. Friedrich 1930. 26  Vgl. Gilfillan 2009, S. 22ff. 27  Zitiert nach Schumacher 1997a, S. 368. Es ist aber davon auszugehen, dass die Sende­zeiten im Rundfunk sich eher an wirtschaftlichen Erwägungen orientierten, statt an einem Zugeständnis an Hobbyfunker. 28  Vgl. Schumacher 1997a, S. 368f. 22 

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konnten dadurch die Sender ferner Städte und Länder hören, ohne in Bastler­ manier an ihrem Empfänger herumdrehen zu müssen – der Heimatsender übernahm die Bastelarbeit. Und selbstverständlich kündigten sie die Schaltvorgänge an. Gerade in der Anfangszeit waren die Schaltungen noch Ereignisse für sich, die die Faszination der Raumüberwindung zur Schau stellten. Für den Musiker und Kritiker Lothar Band machten die Umschaltungen das ­R adio geradewegs zur spannenden Unterhaltung, wie er 1927 schreibt: Es gibt genug solcher Ereignisse, die »Hörspiele« im weiteren Sinne des Wortes sind, die uns ohne jede erläuternde Beigabe mitten in das Erleben versetzen. Da hieß es – vor längerer Zeit bereits – als Ankündigung in knappen Worten voll unheimlicher Spannung: »In einer Minute kommt Genf!« Das wurde hastig durchgesprochen, und in den fünf Worten zitterte Erregung, die uns selbst packte, gemischt aus der Ungewißheit, ob es wohl gelungen sei, die weit über 1000 km lange Leitung einwandfrei herzustellen, und aus der Hoffnung, bald Ohrenzeuge eines weltgeschichtlich bedeutsamen Augenblicks zu sein. Fünf hastig gerufene Worte genügten, uns plötzlich gefühlsmäßig einzustellen und alles das mit einem Schlage zu geben, was die persönliche Anwesenheit dort vielleicht erst allmählich in uns hätte aufkommen lassen.29

Band narrativiert das und den Moment des Umschaltens; der Vorgang wird zu einer eigenen Erzählung, die ihren Höhepunkt in der gelungen Raumverschiebung erreicht. Und er betont die Entkoppelung von Zeit und Raum: Der Sprung an einen anderen Ort, mitten in eine Situation hinein, ohne die gewohnte zeitliche und räumliche Annäherung, macht den Schaltvorgang zu einer Attraktion für die Sinne. Neben dem Fernempfang entwickelte sich unter den deutschen Rundfunkstationen auch ein ganz regulärer Programmaustausch, bei dem zum Beispiel kleinere Sender wie Breslau regelmäßig Produktionen aus Berlin übernahmen.30 Zwischen Stuttgart und Frankfurt herrschte reger Austausch, und bei ganz besonderen Ereignissen konnten sich schließlich auch alle deutschen Sender auf das Programm einer gebenden Rundfunkanstalt aufschalten, wie das zum Beispiel am 26. August 1929 der Fall war: Nach Überquerung des Pazifiks landete der Friedrichshafener Zeppelin LZ 127 in Los Angeles. Der Süddeutsche Rundfunk Stuttgart (Sürag) übertrug über seine Fernempfangsstelle auf Schloss Solitude live aus den USA für ganz Deutschland und Österreich –

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Band 2002, S. 244. Um welches Ereignis in Genf es sich handelt, verrät Band nicht. Vgl. Schumacher 1997a, S. 369ff.

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und sogar Paris und London übernahmen das Stuttgarter Programm.31 War allein die Weltumrundung des deutschen Zeppelins bereits eine Sensation, die bisherige Raumvorstellungen an ihre Grenzen brachte, so stellte die zeitgleiche Rundfunkübertragung sämtlicher Standortmeldungen die physische Reise geradezu in den Schatten. Wo immer der Zeppelin auf seiner Weltreise Station machte, der Rundfunk wartete dort schon auf ihn. Auf Ebene der einzelnen Programme und Sendungen stehen schließlich die Außenreportagen für die räumlichen Verbindungen zwischen Orten und Städten. Zu Beginn gehörten Sendeanlage und Aufnahmeraum zusammen, und der Ort der Antenne war zugleich der Ort, an dem Radio ›stattfand‹. Die Protagonisten aus dem großstädtischen Bürgertum sendeten für ein großstädtisches Publikum, in erster Linie für ihresgleichen, dann aber auch für Kinder, Frauen, Alte und Arbeiter.32 Die Reporter, die ab 1925 von fernen und unbekannten Orten berichteten – angefangen mit der Provinz und ihrer Land­ bevölkerung –, stellten die Raumüberwindung heraus; Thema erster Reportagen von spektakulären Orten wie Berggipfeln war die technische Leistung des Radios, diese Orte überhaupt zu erreichen.33 Von der Welt in die Region

Die Raumüberwindung in der Berichterstattung aus der eigenen Stadt, dem eigenen Land und der Welt war von Anfang an zentrales Merkmal des Radios, und ist es auch heute noch. Darin unterscheidet es sich allerdings kaum von anderen Live-Medien wie Fernsehen oder Internet, die das ebenfalls leisten. Doch seitdem UKW zumindest in Deutschland die Kurz-, Mittelwelle und Langwelle praktisch vollständig verdrängt hat, zeigt die typische Skala keine topografischen Namen mehr an, sondern nur noch die Frequenz der Trägerwelle als Zahl. Die Reichweiten einzelner UKW-Sender sind so gering, dass die Topografie des Sendegebiets nur durch eine Vielzahl an kleinen Sendeanlagen abgedeckt werden kann; das Sendegebiet wird dadurch zu einem Flickenteppich an Frequenzen, und eine Zuordnung zwischen dem Ort der Sendeantenne und einer Frequenz ist nur noch auf lokaler Ebene gegeben.

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Vgl. Friedrich 1930, S. 164. Vgl. Würzburger 1929, S. 69f. Vgl. Häusermann 2005, S. 163. Siehe auch Kapitel 4.2.

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Radiosender identifizieren sich dementsprechend nicht mehr über den Ort der Sendeanlage, sondern über das Gebiet der terrestrischen Ausstrahlung und Empfangsmöglichkeit. Damit kommt eine Fokussierung auf das Publikum zum Ausdruck, auf eine räumlich definierte ›Zielgruppe‹. Ganz besonders deutlich wird das spätestens ab Mitte der 1970er-Jahre, als in einer Regionalisierungswelle spezielle auf Regionalität ausgerichtete Programme entstehen.34 Wichtig ist nicht mehr, in welcher Stadt die Sendung produziert wird, sondern für welche Stadt und welche Region. Auch wenn die Programme des heutigen Südwestrundfunks35 beispielsweise jahrelang von unterschiedlichen Standorten aus gesendet wurden – von 1998 bis 2017 kam SWR1 nachts aus Baden-Baden, tagsüber getrennt nach zwei Bundesländern aus Stuttgart und Mainz –, wurde diese Umschaltung nicht thematisiert, sondern übergangen oder gar kaschiert. Die Redaktionen waren bemüht, in der Berichterstattung stets das gesamte jeweilige Sendegebiet im Blick zu haben, auch wenn das für die einzelnen Redakteure ein stetiges Ausblenden des eigenen Lebensmittelpunktes und der eigenen Ortskenntnis bedeutete. Und dass die beiden bundesweit zu empfangenden Programme des Deutschlandradios aus je unterschiedlichen Standorten kommen, Köln und Berlin, kann man zwar nachlesen, doch offensiv genannt wird das nicht. Das Programm »Deutschlandradio Berlin« wurde 2005 in den geografisch neutralen Namen »Deutschlandradio Kultur«, später in »Deutschlandfunk Kultur« umbenannt. Auch hierin zeigt sich das Bemühen, nicht den Ort des Sendens, sondern das Gebiet der Ausstrahlung und damit die Lebenswelt der Hörer in den Mittelpunkt zu rücken. Dafür spielt das Sendegebiet heute eine kaum zu überschätzende Rolle. Die Nennung von Städte- und Ortsnamen im Radioprogramm – die Orte der Hörer – wird gezielt platziert; dabei achtet man auf eine gleichmäßige Repräsentation des gesamten Sendegebietes. Eine typische Strategie dafür zeigt sich in den Wetterberichten. Waren die Meldungen früher mit den Orten offi­zieller Messstationen verbunden, so meldet SWR3 beispielsweise inzwischen die Angaben von eigens gecasteten Amateur-›Wettermeldern‹, die über das gesamte Sendegebiet verstreut sind. Genannt wird dann neben dem

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Vgl. Lersch 1995, S. 65f. Im Rundfunk der Weimarer Republik stand die Abkürzung SWR (neben »Süwrag«) für die Südwestdeutsche Rundfunkdienst AG mit Sitz in Frankfurt. Heute bezeichnet SWR den Südwestrundfunk mit Sitz in Baden-Baden, Stuttgart und Mainz. Der SWR ist 1998 aus den beiden Rundfunkanstalten Süddeutscher Rundfunk (SDR) und Südwestfunk (SWF) hervorgegangen. 35 

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Namen des Wetter­melders auch der Wohnort. Überhaupt: Sobald Hörer im Programm auftauchen, sei es bei Telefonaktionen, sei es in Straßenumfragen, nennen Moderatoren stets auch den Wohnort dazu. Schließlich konzipieren Sender gesamte Aktionen um den Aspekt der Regionalität herum: Hörer aus unterschiedlichen Städten treten im Wettbewerb gegeneinander an, das schönste Dorf wird gesucht, Fahrradtouren oder Wanderungen durch das Sendegebiet organisiert. Stets kommt eine Erzähllogik zum Einsatz, die gerade auf die Repräsentation des Sendegebietes ausgelegt ist, stets folgt die medial vermittelte Topografie einer Dramaturgie, die möglichst viele Hörer über das Moment der räumlichen Nähe ansprechen soll. Redaktionen konstruieren auf diese Weise räumlich strukturierte Welten, die sich zwar auf die Topografie des Sendegebietes beziehen, diese aber über das Programm in neue Erzählzusammenhänge bringt. Radiopraktiker gestalten durch eine gezielte Raum-Dramaturgie und durch eine bewusste Narrativierung des Regionalen die Topografie ihres Sendegebietes neu. Sie konstruieren damit für ihr verstreutes Publikum, das aus vielen Einzelnen, aus lauter Hörern in ihren eigenen Wohnzimmern besteht, einen erlebten Raum der Zusammengehörigkeit und Verbundenheit untereinander und zu ihrer Region – sie konstruieren Heimat. Weltgefühl und Vision: Die neue Topografie

Das Radio stellte neue Verbindungen und Bezüge her. Sowohl der Radioempfang als auch die Gestaltung des Radioprogramms spiegelten ein ›leichtfüßiges‹ Wechselspiel unterschiedlichster Orte, Städte und Länder wider. Das Nebeneinander exotischer Namen fand sich nicht nur auf den Skalen der Radio­empfänger, sondern auch als Hintereinander im Radioprogramm selbst. Radio inszenierte sich damit in mehrfacher Weise als eigene Welt mit eigener Topografie: Auf der Ebene des Mediums selbst, das sich in einem welt­ umspannenden Netz von Sendeanlagen zeigte, bot sich diese Topografie mit ihren Radiostationen den Hörern weltweit an. Mit der Technik des DXing, des hobbymäßigen Fernempfangs von Kurzwellensendern aus aller Welt, trug das Radio zu einem neuen Raumgefühl bei, das geografische Entfernungen hinfällig erscheinen ließ. Auf der Ebene der einzelnen Radiosender, die selbst am DXing teilnahmen und zudem über einen gegenseitigen Programmaustausch verbunden waren, wurden Hörer ebenfalls mit dieser neuen Topografie konfrontiert. Und auf der Ebene der einzelnen Programme schließlich zeigte sich die verbindende Kraft des Rundfunks mit der in der Mitte der 20er-Jahre auf-

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kommenden Form der Außenreportage und einer bis heute ungebrochenen Hinwendung zum Regionalen. Was sich für die Menschen mit dem neuen Medium Rundfunk änderte, war nicht die Welt selbst mit ihrer realen Topografie, sondern jenes neuartige »Gefühl, mit der Welt verbunden zu sein«.36 Radiohörer entwickelten ein eigenes Raumgefühl, wie Maase glaubt: »Die Menschen erlebten ihren Platz in der Welt-Gesellschaft anders, sie fühlten neue Zugänge zu Erfahrung und Information eröffnet, wenn sie Jack Hyltons Orchester beim Sender London, Operette [sic] aus Wien oder Zigeunerklänge aus Budapest im Kopf­ hörer hatten.«37 Dieses neue ›Weltgefühl‹ entstand im Modus des Schaltens, Drehens, Bedienens des Empfängers, aber auch im Modus des Hörens. Arnheims Bericht, wie er Anfang der 1930er-Jahre in einem süditalienischen Fischerdorf einen englischen Sender hören konnte, der deutsche Volkslieder sang, drückt das ebenfalls aus.38 Dies Erlebnis ist gerade durch die Differenz von der bisher bekannten Realität so faszinierend. Radio erzeugt Räume, die sich unterscheiden von den Räumen, in denen Radio kommuniziert. Die Parallele zur für die Erzähltheorie so grundlegende Unterscheidung von ›erzählter Welt‹ und ›Erzählwelt‹ tritt deutlich zutage. Radio entwirft dabei auch eine Welt, in der politische Grenzen ihre Macht verlieren und die damit zum Nährboden für politische Visionen wird: »­London verklingt in Berlin, München in Paris, San Sebastian in Dortmund. […] Die Staaten schaffen sich Grenzen, aber die geistigen Räume überfluten sich.«39 Nicht nur der ebenso verbotene wie gefährliche Empfang der BBC im Dritten Reich erzählt davon, sondern beispielsweise auch das deutschsprachige Programm von Radio Luxemburg in den 1960er-Jahren. Beide Sender wandten sich mit ihrem Angebot gezielt an das deutsche Publikum, das aus sehr unterschiedlichen Gründen ein Interesse an dem jeweiligen ausländischen Programm hatte. Schließlich zeugen auch die Piratensender von der neuen Topografie des Radios, die während der 1960er-Jahre von Schiffen in der Nord-

36  37 

Lenk 1997, S. 236. Maase 2004, S. 66. 38  Vgl. Kapitel 1. 39  Guardini/Berning 1926, S. 168. Die Auseinandersetzung mit Radio war gerade in der Frühzeit häufig von politischen Visionen geprägt, zum Beispiel auch in Brechts als »Radiotheorie« bekannt gewordenen Essays: Brecht 1992a; Brecht 1992b; Brecht 1992c.

Moderation

see aus für Großbritannien sendeten, um das Rundfunkmonopol der BBC zu umgehen.40 179

6.2 Radio als soziales Medium: Von Moderatoren und Hörern Zu Gast beim Hörer

Der Raumbegriff, den ich im vorausgehenden Kapitel verwendet habe, ist ein völlig anderer als der des ästhetischen Raums, und auch ein völlig anderer als der des realen physikalisch-akustischen Raums im ersten Teil dieser Arbeit. Es ist der topografische Raum, der sich aus den Sendemasten und Empfangs­ antennen, aus den Handlungs- und Lebenswelten von Radiopraktikern und Radiohörern ergibt, der Raum also, in dem Radio als Medium und Radiosender als Institutionen agieren. Der Raum, der im Radio und durch Radio entsteht, ist dagegen ein sozialer Raum. Diesen sozialen Raum stellen vor allem die Stimmen des Radios durch sprachliche Mittel her, zum Beispiel durch die Nennung von Orts­namen. Er entsteht aber auch durch die konzeptionelle Gestaltung von Sendungen und Programmaktionen entlang der Topografie des Sendegebietes. Radio schafft Beziehungen zwischen Menschen, zwischen Orten, die weit voneinander entfernt sind, und zwischen Räumen, die nicht aneinandergrenzen. Radio entwirft eine Welt entlang neuer Verbindungen und erzeugt so neue Räume. Die Aufgabe, sozialen Raum zu erzeugen, fällt in erster Linie Moderatoren zu. Er lässt sich über den Faktor Distanz beschreiben und drückt sich in einer Nähe zwischen Moderatoren und Hörern aus – in einer von Moderatoren inszenierten, von Hörern gefühlten Nähe; daher könnte man auch von parasozialen Räumen sprechen. Diese Nähe kann dabei über eine reine soziale Begriffsbestimmung hinaus auch hörbar werden. Sie bildet sich in akustischen Parametern ab, kann bewusst über gezielte Verwendung von Stimme und Mikrofon hergestellt und in den ästhetischen Raum des Radios eingeschrieben werden. Deswegen möchte ich in diesem Kapitel darauf schauen,

40 

Vgl. Häusermann 1998, S. 9ff.

Radio-Topologie

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wie Moderatoren diese Nähe herstellen und wie sie diese vielfältigen Räume des Radios zusammenfügen und zusammenhalten. Die Beziehung zwischen Moderatoren und Hörern stellt eine Art Basis­ relation dar. Moderatoren nehmen eine Vermittlungsposition ein zwischen der Welt des Radios und den Hörern, sie sind das Drehkreuz der Raumüberwindung, die Schaltstelle des Ohrs zur Welt und die Nabe für die Welt daheim. Damit erhalten sie eine Sonderrolle in dieser besonderen Form der Kommunikation, die sich Radio nennt: Eine Person tritt auf und setzt sich von den übrigen Kommunikator­ figuren ab. Sie identifiziert sich zwar mit ihnen, spricht aber auch über sie und betont gegenüber dem Rezipienten ihre Vermittlerfunktion. Damit repräsentiert sie, viel stärker als der normale Autor eines Beitrags, die Radiostation. Sie kann auch den Rezipienten direkt ansprechen. Sie hat es damit auch leichter, sich mit einem Appell oder einer kommentierenden Äußerung an ihn zu wenden. Viele Aufgaben, die der Hörerbindung dienen sollen, werden deshalb den ModeratorInnen übergeben.41

›Moderator‹ ist in vielen Radiosendern kein eigener Beruf, sondern vielmehr eine bestimmte Berufsrolle, die Radiojournalisten einnehmen können.42 ›Moderieren‹ lässt sich zudem als eine Form öffentlicher Kommunikation beschreiben, deren Merkmal in der besonderen Beziehung zum Publikum liegt. Es kommt auch vor, dass andere Kommunikatoren punktuell diese moderierende Funktionen übernehmen, indem sie sich direkt an das Publikum wenden. Eine Verkehrsredakteurin schließt zum Beispiel ihre Meldungen mit einer Floskel wie »Kommen Sie gut ans Ziel!«,43 eine Nachrichtensprecherin weist mit den Worten »Mehr Nachrichten finden Sie im Internet« auf den Online-­ Service des Senders hin. Immer, wenn Kommunikatoren ihre Hörer in der zweiten Person ansprechen, übernehmen sie moderierende Funktion. Moderation sehe ich daher als eine kommunikative Funktion, als eine direkte Form

41 

Häusermann 1998, S. 79f. Als Moderatoren treten Redakteure, Reporter oder Sprecher auf, die sich für ­diese Rolle besonders eignen. Das Moderationsteam eines Senders wird in der Regel auch ­besonders beworben und öffentlich vorgestellt. Vgl. dazu Buchholz 2009a, S. 47. 43  Diese Floskel drückt zudem einen sehr fluiden Kontakt zwischen der Verkehrsredakteurin und den Hörern aus: Einerseits ist es eine Verabschiedungsfloskel, die den Kontakt löst, andererseits kann sie den Kontakt jederzeit wieder aufnehmen, um neue Verkehrsentwicklungen weiterzugeben. Der Kontakt zu den Hörern ist die ganze Zeit ­latent vorhanden. 42 

Moderation

der Kontaktaufnahme zu den Hörern, die vor allem, aber nicht nur von den dezidierten ›Moderatoren‹ einer Sendung oder eines Senders vollzogen wird. Auch wenn Moderatoren und Hörer topografisch gesehen weit voneinander entfernt sind, entsteht mit der Moderation eine bestimmte Form der Nähe: Radiohörer fühlen sich ›ihren‹ Moderatoren oft nah. Diese erlebte Nähe ist eine Imagination und ein von Radiomoderatoren bewusst hergestelltes Erlebnis, denn diese sind gerade darauf aus, das Gefühl von Nähe zu evozieren. Diese Beziehungsarbeit von Moderatoren ist zunächst eine verbale; Moderationen sind sprachliche Äußerungen. Im ästhetischen Raum des Radios zeigt sie sich in der Regel stets in der einen akustischen Gestalt, nämlich in der nahen und raumlosen Stimme. Um die Beziehung zu den Hörern aufrecht zu erhalten, wenden Moderatoren das Raumkonzept der Intimität an. Zu diesem Raumkonzept gehört auch die passende Sprechhaltung, der leise und private Ton, die Adressierung des Hörers als Einzelnen und als Freund.44 Dass diese intime Beziehung überhaupt existieren kann, ist keine Selbstverständlichkeit. Die Kommunikation im Rundfunk ist ja dadurch geprägt, dass sie nur in eine Richtung stattfindet: Die Radiostimme ist eine Stimme, der man nicht antworten kann, zu der es keinen unmittelbaren Rückkanal gibt, von der beide Seiten auch genau wissen, dass sie nur in die eine Richtung stattfindet. Dazu kommt die Asymmetrie: ein Sprecher, viele Hörer. Ein Erleben von Nähe oder das Gefühl einer Begegnung scheint in dieser Kon­ stellation kaum denkbar. Und doch spricht vieles dafür, dass genau dieses Erleben im Radio stattfindet, ja dass die Herstellung einer medial vermittelten Nähe sogar zu den spezifischen Stärken des Radios gehört. In seinem Handbuch für Moderatoren beschreibt Patrick Lynen diese Aufgabe: Radio ist ein sehr persönliches Medium. Wir [Moderatoren] erzeugen im Radio eine persönliche Nähe zu unseren Hörern. Unsere Radio­station und ihre Stimmen werden Teil des täglichen Lebens. Wir dringen in die Intimsphäre unserer Hörer vor und begleiten sie selbst in Situationen, in denen sie eigentlich mit sich oder dem Partner alleine sein wollen. Das erfordert emotionale Intelligenz und Feingefühl. Selbst die beste Musik­ planung oder hervorragende Inhalte werden vom Publikum nicht akzeptiert, wenn es dir als Moderator an Gespür dafür fehlt, wie man sich als Gast in einer fremden Umgebung benimmt. Ein solcher Gast bist Du nämlich. Du bist Gast im Wohnzimmer deiner Zielgruppe.45

44 

Vgl. zum intimen Raumkonzept und seinem Zusammenhang zum Sprechen ­Kapitel 2.3. 45  Lynen 2004, S. 19.

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Lynens Charakterisierung des Verhältnisses zwischen Moderatoren und Hörern entspringt praktischer Erfahrung – Lynen ist selbst erfahrener Radiomoderator. Und dieser Charakterisierung zufolge ist das Verhältnis nicht nur durch Nähe, sondern sogar durch Intimität geprägt. Die Metapher, die Lynen verwendet, um das Verhältnis zwischen Moderatoren und Hörern zu bestimmen, ist freilich die des Raums: Moderatoren dringen in die Intimsphäre der Hörer ein und sind Gast in deren Wohnzimmer. Es ist dieselbe Metapher, die schon Noel Ashbridge über 70 Jahre zuvor verwendet hat – ein Hinweis darauf, dass die Moderation, die direkte Kontaktaufnahme zwischen Kommunikatoren und Hörern und die Herstellung eines Gefühls von Nähe, seit jeher als zentrale Funktion des Radios gesehen wird. Moderieren erweist sich als eine Grundkonstante in der Welt des Radios. Das Paradox abwesender Anwesenheit

Die direkte Ansprache der Hörer ist das augenscheinlichste Merkmal des Moderierens. Moderatoren verwenden die Pronomen Sie, Du oder Ihr, um eine Form direkter Kommunikation zu etablieren. Darin steckt eine Paradoxie: Moderatoren müssen ein Publikum direkt ansprechen, das sie überhaupt nicht kennen und das sie schon gar nicht unmittelbar vor Gesicht haben. G ­ ethmann bringt diese Form das Sprechens in der Dialektik von »Anwesend/Abwesend« zum Ausdruck: Moderatoren müssten trotz ihrer physischen Abwesenheit eine Anwesenheit im Raum der Hörer simulieren.46 Dieser Herausforderung hat sich bereits der Pädagoge Karl Würzburger gestellt, wie Gethmann berichtet. Würzburger hat seit 1926 bei der Deutschen Welle gearbeitet und war an der Staatlichen Akademischen Hochschule für Musik in Berlin Dozent für »radiophone Mikrophonie«.47 Er hat 1932 eine Methode vorgestellt, die darauf abzielt, Manuskripte so zu formulieren, dass eine Verbindung zum Publikum entstehen kann. »Denn«, so sagt es W ­ ürzburger, »ich darf ja nicht vergessen, dass ich diesen Menschen bei sich zu Hause aufsuche, dass ich, sozusagen, ohne es selbst zu wissen, zu ihm ins Zimmer trete.«48 Würzburger verwendet dieselbe Raummetapher wie Lynen und Ash­ bridge auch, um die Nähe zwischen Sprecher und Hörer zu kennzeichnen.

46  47  48 

Gethmann 2014, S. 229ff. Gethmann 2014, S. 230. Zitiert nach Gethmann 2014, S. 231.

Moderation

Seine Methode besteht nun darin, sich beim Schreiben in zwei verschiedene Rollen aufzutrennen: in die fühlende, denkende und sprechende Rolle einerseits, die die Situation echter Begegnung mit den Hörern imaginiert, und die hörende und schreibende Rolle andererseits, die nichts weiter tut als festzuhalten, was die erste Rolle formuliert. »Die Radiostimme kalkulierte in diesem Sinne schon in der Vorbereitung des Manuskripts damit, als Anwesender abwesend zu sprechen, indem Würzburger sich darauf trainierte, nur das zu notieren, was sein Gehör adressierte, und keineswegs einfach das aufzuschreiben, was er sagen wollte.«49 Würzburgers Methode lässt sich als eine Weiterentwicklung der Methode des Chefredakteurs der Dradag, Joseph Räuscher, sehen. Dieser hatte an Rundfunknachrichten die Forderung nach einem ›Hörstil‹ gestellt – ein Schreibstil, der sich nicht an einem lesenden, sondern an einem hörenden Publikum orientiert. Seine Redakteure mussten sich die Meldungen im Vorfeld gegenseitig vorlesen und den Hörstil so überprüfen.50 Die grundlegende Idee ist in beiden Fällen die, Nähe zwischen Sprechern und Hörern herzustellen, die eine Form der Privatheit simuliert. Und indem Sprecher eine Bindung zu ihren Hören etablieren, binden sie diese gleichzeitig an sich und den Radiosender; insofern ist die Vermittlungsarbeit von Moderatoren gleichzeitig auch Marketing – heute spricht man von Hörerbindung. Entsprechend ist die Entwicklung einer am Hören und an den Hörern ausgerichteten Sprache bis heute Bestandteil der Rundfunkausbildung; angehende Radiojournalisten müssen sich einen Hörstil aneignen, der sich vom typischen Schreibstil unterscheidet.51 In Handbüchern für Moderatoren liest man allenthalben die Forderung nach einer natürlichen Alltagssprache.52 Von Moderatoren wird erwartet, dass sie ihre Hörer ›dort abholen, wo sie sind‹ – auch das eine Raummetapher, die eine imaginierte räumliche Nähe zwischen Moderatoren und Hörern zum Ausdruck bringt. Die Paradoxie des Sprechens im Rundfunkstudio verunsicherte viele Sprecher zu Beginn des Rundfunks, wie wir in Kapitel 3.3 gesehen haben. Sie verlangt Moderatoren eine gute Portion Phantasie ab. Hörer anzusprechen, die

49 

Gethmann 2014, S. 232. Räuscher 1929, insb. S. 318 und S. 324. Die Dradag lieferte schriftlich verfasste Nachrichtenmeldungen an die Rundfunkanstalten, die diese dann verlesen mussten. 51  Vgl. Kapitel 4.1. 52  Vgl. zum Beispiel Hermann u. a. 2002, S. 38ff. 50 

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nicht da sind, wirft Fragen auf, wie der Theologe Romano Guardini 1926 nach seinem ersten Auftritt im Rundfunk schildert: 184

Als ich dann in das Redezimmer geführt worden war, und zwischen den mit schweren Vorhängen abgestillten Wänden vor dem Tisch saß, dem Mikrophon gegenüber, da ist es mir eigen ergangen. All die vertrauten Formen des Rede-Höre-Verhältnisses waren ausgelöscht. Es war nicht so, wie wenn ich im Hörsaal stand; als Einzelner, beauftragt, einer sichtbaren Zuhörerschaft gegenüber. Nicht wie im Gespräch, zu zweien, oder mehreren. Nicht wie im Kreis mit seinen sich kreuzenden Rede-Höre-­ Beziehungen. Nicht wie vor dem Telefon, aus dem der Hörende, wenn auch unsichtbar, antwortet. Oder beim Schreiben eines Briefes, wo der Empfänger, nicht leibhaftig redend, aber doch vorgestellt anwesend, her­ einspricht. Ja selbst das russische »An Alle«53 – ich gestehe, es hatte mir gut gefallen, und ich war darauf eingerichtet, meine Stellung als Sprechender würde in dieses historisch gewordene und ein bißchen effektvolle Schema hineinpassen – selbst das ging nicht. Alle Formen des Redens und Hörens, die ich bis dahin gekannt oder mir gedacht hatte, versagten. Keins der bekannten soziologischen Typen wollte die Erfahrung dieses Sprechens in sich aufnehmen.54

Guardini wusste nicht, mit welcher Sprechhaltung er sich den Hörern im ­R adio zuwenden sollte – es war ja niemand da. Die anderen Situationen öffentlichen Redens, die Guardini aus Hörsaal und Kirche kannte, trafen nicht zu, weil das Gegenüber fehlte. Guardini hat – wie viele andere Sprecher auch – erlebt, wie schwierig es ist, den richtigen Ton zu finden, ohne das Gegenüber vor sich zu haben. Dieses Problem ist ein genuines Raumproblem, denn die Sprechhaltung ist maßgeblich eine Funktion des Abstandes zwischen Sprechenden und Hörenden. Der Soziologie Edward Hall hat diesen Zusammenhang in den 1960er-Jahren in seinem einflussreichen Ansatz der Proxemik untersucht und beschrieben.55 Hall hatte erkannt, dass Menschen in ihrem alltäglichen Handeln unwillkürlich bestimmte räumliche Abstände zueinander einnehmen, die sich – kulturell spezifisch – aus ihren sozialen Beziehungen ergeben. Soziale Distanz findet ihr Abbild in räumlicher Distanz; je näher wir einer Person ste-

53 

Damit bezieht Guardini sich auf den Funkspruch, mit dem Lenin 1917 nach der Oktober­revolution in Russland die Machtübernahme durch die Bolschewiki öffentlich ­bekannt gab (vgl. Dussel 2010, S. 22; Glaubitz u. a. 2011, S. 84). 54  Guardini/Berning 1926, S. 164f. 55  Den Ansatz der Proxemik stellt Hall in seinem 1966 erschienenen Werk The Hidden Dimension vor, in deutscher Sprache 1976 erschienen als Die Sprache des Raumes.

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hen, desto näher darf sie uns kommen, und in der sozialen Interaktion wird dieser Abstand permanent und nonverbal ausgehandelt. Obwohl Hall das Konzept der Proxemik anhand visueller Parameter erläutert, ist sein ursprünglicher Ausgangspunkt bezeichnenderweise gerade die gesprochene Sprache. Hall hatte gemeinsam mit dem Linguisten George ­Trager Messungen vorgenommen, bei welchen Distanzen sich im Gespräch »vokale Wechsel«, Hinweise auf signifikante Veränderungen der Sprechhaltung ergaben. Diese Messungen bildeten die Grundlage für die Einteilung in eine intime, persönliche, soziale und öffentliche Distanz.56 Da die Stimme den Abstand zwischen Sprechendem und Hörendem überbrücken muss, passen wir unsere Sprechhaltung dieser Entfernung an: Mit dem Nachbarn auf der anderen Straßenseite verständigen wir uns rufend, einer sehr vertrauten Person flüstern wir leise ins Ohr. Damit passen wir aber nicht nur die Lautstärke unseres Sprechens an, sondern wir verändern dadurch auch ganz gravierend den Klang der Stimme. Das lässt sich schon an der Vielzahl von Lexemen ersehen, die Sprachen für das Reden unter den unterschiedlichsten Entfernungsgraden zur Verfügung stellt – vom Flüstern, Wispern und Raunen über das gewöhnliche Sprechen bis hin zum Rufen, Schreien und Brüllen. Der Klang der Stimme ist damit ein Indikator für die Distanz zwischen Sprechendem und Hörendem.57 Im Rundfunkstudio, wo es kein Gegenüber gibt, ergibt sich die Sprechhaltung nicht automatisch aus der Situation. Die Distanz zwischen Sprecher und Hörer ist keine, die sich räumlich messen ließe. Guardini hatte das schmerzlich erfahren; auf die ambivalente Raumsituation war er nicht eingestellt. Eine mögliche Lösung dieses Problems liegt nahe: 1929 weiß sich Alfred D ­ öblin dadurch zu helfen, dass er Hörer ins Studio holt, zu denen er dann sprechen kann.58 Und Herman Schubotz spricht sich im selben Jahr für die dialogische Form des Sprachunterrichts im Radio aus, bei der neben dem Dozent auch

56 

Vgl. Hall 1976, S. 118f. Moore, Schmidt und Dockwray 2009, S. 102f., beziehen ­ diese vier Distanzen auf die Produktion von Popmusik und bringen sie mit konkreten sängerischen Ausdrucksmöglichkeiten in Verbindung. Weitere Anwendungen der Proxemik auf auditive Medien finden sich beispielsweise bei Moore u. a. 2009, S. 84, bei Dibben 2013 sowie bei Leeuwen 1999, S. 12ff., insb. 24ff. 57  Leeuwen 1999, S. 131, erläutert auch anhand des angespannten Vokaltrakts beim Schreien, wie der anthropologisch tief verwurzelte Klang der Stimme auf den Hörenden wirkt: »The sound that results from tensing not only is tense, it also means ›tense‹ – and makes tense.« 58  Vgl. Koch/Glaser 2005, S. 35.

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ein Schüler im Studio ist.59 In diesen Fällen vermeiden es die Sprecher, sich an das unbekannte Publikum zu wenden, und ersetzen es durch echte Gesprächspartner im architektonischen Raum des Studios. Damit umgehen sie allerdings auch die Moderatorenrolle und lassen ihre Hörer außen vor. Diese werden degradiert zu Ohrenzeugen eines Gesprächs, an dem sie keinen Anteil haben. Doch die Sprecher vermeiden nur ein scheinbares Problem. Denn eine der wichtigsten Stärken des Radios ist die intime Beziehung zwischen Radiostimme und Hörern, und diese ist auf die Vereinzelung des Sprechers im schallgedämmten Studio angewiesen. Die Form der Radiomoderation, die sich deswegen schließlich etabliert, lässt sich auf die Paradoxie der Moderation ein und arbeitet dazu oft mit einem Trick, mit der Imagination eines Gegenübers im Raum. Um die eigene Sprechhaltung zu steuern, stellen sich viele Moderatoren ihre Hörer plastisch vor. Dieses Vorgehen hat seinen Weg in die Praxisliteratur zur Radiomoderation gefunden: Die Vorstellung vom (einzelnen) Hörer steuert das Sprechverhalten. Deshalb soll der Moderator sich vorstellen, zu wem er spricht und wie der Angesprochene wohl darauf reagieren wird. Wenn ich versuche, einen Einzelnen anzusprechen, klingt meine Stimme automatisch persönlicher, werde ich ganz von selbst nicht laut, sondern eher eindringlich sprechen, werde ich nichts herunterrasseln, sondern (ohne viel darüber nachzudenken) ein Sprech-Tempo und einen Sprech-Rhythmus finden, der vom Verstanden-werden-wollen bestimmt wird, werde ich also kleine Zäsuren (Pausen) machen, mal langsamer, mal schneller sprechen, werde ich mit der richtigen Betonung meiner Aussage Nachdruck verleihen und sie besser verstehbar machen, werde ich natürlich klingen und nicht gespreizt oder affektiert.60

Der von Buchholz beschriebene Effekt auf das Sprechen lässt sich mit Halls Ansatz der Proxemik erklären als ein Effekt der Distanz zum imaginierten Gegenüber und damit als ein Effekt der Raumverhältnisse. Die Imagina­tion eines Hörers kann Moderatoren also dabei helfen, den Klang ihrer Stimme so zu regulieren, dass diese einen Eindruck persönlicher Nähe und Intimität vermittelt.

59  60 

Vgl. Schubotz 1929, S. 213ff. Buchholz 2009a, S. 52.

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Störfaktor Studio

Anders herum deutet vieles darauf hin, dass Radiohörer sich ihren Moderatoren auch oft sehr nah fühlen. Etliche Berichte und Reflexionen zum Radio sprechen davon, wie Radiohören die eigene Einsamkeit verdrängen kann, wie der Radiomoderator zum Begleiter durch den Tag und durch die Nacht wird, Freund und Vertrauter zugleich, wie viele Menschen das Gefühl haben, ihn gut zu kennen. Karl Würzburger wusste das bereits: »Der Hörer erlebt nicht nur die selbstverständliche Tatsache, dass der Redner zu ihm spricht, sondern er erlebt diese selbstverständliche Tatsache in der sehr verwunderlichen Empfindung, dass er für ihn, ja wirklich, dass er für ihn spricht.«61 In diesem Konzept zeigt sich die Stärke des Radios als Medium des Privaten und der Intimität. Das Radio als Mittel gegen Einsamkeit dringt in den Alltag der Menschen ein. Rundfunk spendet Trost, wie in einer Vignette im von der Reichs-Rundfunk-Gesellschaft herausgegebenen Rundfunk-Jahrbuch dargestellt wird.62 Der Kulturwissenschaftler Ulrich Raulff beschreibt das in seiner Liebeserklärung an das Radio auf sehr lyrische Weise: Es ist Nacht, ich sitze im Auto auf dem Weg nach Dortmund, ich höre Radio. Mag sein, dass es ein bisschen regnet und ich eine Zigarette rauche, das ist auch schon alles. Ich höre Radio, vielleicht das Nachtkonzert der ARD oder Alan Bangs auf BFBS (ach, selige Zeiten!). Ich mag seine Sprechweise, vielleicht weil sie ein wenig monoton ist; das passt zu dieser Nachtfahrt. Das ruhige Motorengeräusch, darüber Musik, die Stimme von Alan Bangs, und zu allem noch die Autobahn. Die Geräusche fließen ineinander über in ihrem grauen Band. In dieser Monotonie werden die Gedanken lang wie die Bahn. Und ich bemerke entzückt, dass dieser kleine Apparat in mir, aus dem die Gedanken kommen, mit einer Art Euphorisierungsmaschinchen gekoppelt läuft. Den Strom für beide liefert das Radio.63

Raulff greift mit der Nachtsendung einen Topos auf, der besonders eng mit der Intimität der Moderator-Hörer-Beziehung verbunden ist. Nächtliches Radio­ hören und nächtliches Radiomoderieren werden in der Popkultur immer wieder als Situationen voller Emotionalität und Intimität inszeniert. Der Plot des Films Schlaflos in Seattle (Originaltitel: Sleepless in Seattle, Regie: Nora Ephron, 1993) beispielsweise nimmt seinen Ausgang von einer Nachtsendung 61 

Zitiert nach Gethmann 2014, S. 230. Dort heißt es: »Rundfunkstören ist Sünde am Mitmenschen, der Trost und Freude im Rundfunk sucht.« (Rundfunk-Jahrbuch 1930, S. 142.) 63  Raulff 2001, S. 10. 62 

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her, in der der Protagonist zum ersten Mal einen Gesprächspartner findet, mit dem er über seine Einsamkeit reden kann. Die Komödie Radio Rock Revolu­ tion (Originaltitel: The Boat That Rocked, Regie: Richard Curtis, 2009), die die Geschichte englischer Piratensender auf der Nordsee klamaukhaft nachzeichnet, inszeniert Nachtsendungen als Momente kaum verhohlener Erotik, die sich zwischen Moderator und Hörerinnen entspinnen. Die Imagination einer intimen Nähe zu den Moderatoren schließt aber die Imagination des Rundfunkstudios als Raum aus. Die Stimme des Moderators hat in dieser idealtypischen Vorstellung ihren Ort eben nicht in einem architektonischen Raum im Funkhaus, sondern – dem Raumkonzept der Intimität folgend – im heimischen Zimmer. Das wird dann deutlich, wenn das Studio ausnahmsweise in Erscheinung tritt. Diese Situation kann dann eintreten, wenn Moderatoren eben nicht allein im Studio sind. Ein Beispiel dafür ist die Doppelmoderation: Zwei Personen übernehmen gemeinsam die Aufgabe, eine Sendung zu moderieren. Viele Radioprogramme beziehen auch weitere Kommunikatoren ein, die moderierende Funktionen übernehmen: Buchholz nennt Moderatoren für das Wetter, die Verkehrsmeldungen und die Nachrichten – und er weist auf die Gefahr solcher Konstellationen hin: »Dadurch verändert sich die Kommunikation mit dem Hörer. Er wird nicht mehr als einzelner angesprochen (Eins-zu-eins-Kommunikation mit dem Moderator), sondern verfolgt das akustische Treiben auf der ›(Hör-)Bühne‹ eher wie der Hörer eines Hörspiels.«64 Wo sich Kommunikatoren des Radios mehr miteinander als mit ihren Hörern beschäftigen, geht die Intimität verloren. Das Rundfunkstudio wird dann zu einem Ort, an dem Menschen handeln, arbeiten und interagieren; es verliert seinen Status als Heterotopie, hört auf, sich selbst zum Verschwinden zu bringen, es gewinnt eine spürbare Eigenpräsenz. Die Intimität des Radios ist auf die Heterotopie des Rundfunkstudios angewiesen. Das Raumproblem beim Live-Interview

Der Statuswechsel des Rundfunkstudios zwischen Heterotopie und realem Ort wirft ein Licht auf die Herausforderung, der sich Moderatoren in solchen Fällen stellen müssen: Sie müssen zwischen den unterschiedlichen Räumlichkeiten vermitteln. Die Nähe zu den Hörern erweist sich hier als eine sehr

64 

Buchholz 2009a, S. 67.

Moderation

fragile Beziehung, die durch andere Figuren im architektonischen – und zugleich ästhetischen – Raum gefährdet ist. Einerseits stehen Moderatoren in Kontakt zu Hörern, indem sie diese direkt ansprechen und zu ihnen sprechen. Andererseits finden auch Gespräche im Studio statt. Carin Åberg hat das aus Perspektive der Hörer auf die Formel gebracht: »Some people talking with each other to me.«65 Diese Situation findet sich im Radio unentwegt. Ein Beispiel stammt aus einer Gesprächssendung: Der Moderator unterhält sich mit einem Studiogast, während er dieses Gespräch gleichzeitig für die Hörer oder als Anwalt der Hörer führt. Er muss in dem Gespräch beide Kommunikationssituationen integrieren, und der Einstieg in das Gespräch illustriert diese Doppelrolle aufs Deutlichste: Sven Böttcher ist Journalist, Schriftsteller, Drehbuchautor, Übersetzer, Fernsehproduzent, mit anderen Worten, er war ein überaus erfolgreicher Medienschaffender, bis er vor sieben Jahren die Hammer-Diagnose MS – Multiple Sklerose – bekommen hat. Heute ist er bei uns, und nach allem, was ich sehe, geht es Ihnen, Herr Böttcher, erstaunlich gut. Stimmt das so? 66

Solange der Moderator in der dritten Person über seinen Gast spricht, wendet er sich offenbar an das Rundfunkpublikum; die Informationen über den Gast sind ja auch an das Publikum gerichtet und nicht an den Interviewgast selbst. Innerhalb des zweiten Satzes bezieht sich der Moderator auf einen den Hörern unbekannten visuellen Raum – »nach allem, was ich sehe« – und wendet sich dann durch direkte Ansprache an seinen Gast, explizit markiert durch die namentliche Anrede. An dieser Stelle wird die medienvermittelte soziale Beziehung zwischen Hörer und Moderator erweitert durch eine neue Beziehung, die im architektonische Raum des Studios entsteht, eine Beziehung zwischen dem Moderator und seinem Interviewgast. Aus einer Zweier­ beziehung wird hier eine Dreierbeziehung – allerdings nur für den Moderator, denn zwischen Hörern und dem Interviewgast besteht diese direkte Beziehung nicht. Der Moderator muss also während des Gesprächs nun permanent zwischen diesen beiden Beziehungen vermitteln. Die Form des Radio­ interviews stellt ja wie alle anderen Darbietungsformen des Radios auch in

65 

Åberg 2001, S. 87. Interview zwischen Wolfgang Heim und Sven Böttcher in der Sendereihe SWR1 Leute am 18. 11. 2013.

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erster Linie eine Form der (Massen-)Kommunikation zwischen den Kommunikatoren der Radio­station und ihrem Publikum dar. Die Linguisten Harald Burger und Martin Luginbühl verwenden zur Beschreibung solch komplexer Kommunikationssituationen die Metapher konzentrischer Kommunikationskreise: Moderator und Interviewter befinden sich im inneren Kommunikationskreis, die Hörer dagegen im äußeren. Die Leistung des Moderators besteht also in der »Doppeladressierung«, indem er sich teilweise an den Interviewgast, immer aber an das Publikum wendet – teil explizit, teils implizit.67 Anders als man angesichts der räumlichen Konstellation annehmen sollte, ist die Beziehung zwischen Moderatoren und Hörern doch eine erstaunlich enge, nahe und intime – und zugleich eine durchaus fragile. Gerade weil Hörer von Moderatoren in aller Regel direkt angesprochen werden: In den Fällen, in denen eine Störung den Sendeablauf durcheinanderbringt und Moderatoren sich on air mit Technikerinnen oder Redakteuren verständigen müssen, kommen sie nicht umhin, diesen Wechsel besonders deutlich hervorzuheben. ­Typische Sätze lauten: »Ich schaue mal in die Regie und frage, wie es jetzt weitergeht.« Nähe zu Hörern mit dem Geschehen im Studio in Einklang zu bringen, kann zur besonderen Herausforderung für Moderatoren werden. Auch im Studio herrschen soziale Beziehungen, in die Moderatoren verstrickt sind, und die mit der Moderator-Hörer-Beziehung kollidieren können.

6.3 Ein Versuch: Erzählebenen des Radios Radio und Erzähltheorie

In den beiden vorausgehenden Unterkapiteln habe ich – mit Fokus auf Raum – die Vermittlungsfunktion von Radio von ihren beiden Seiten her betrachtet. Zum einen habe ich das Verhältnis von Radio zur Topografie der Welt unter die Lupe genommen. Zum anderen habe ich danach gefragt, wie Radio die Beziehung zu seinen Hörern gestaltet. Am Schnittpunkt dieser beiden Seiten befindet sich die Moderation: Die Aufgabe von Moderatoren besteht darin, Hörern die Welt nahezubringen, sie ihnen zu vermitteln. Moderatoren sind

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Burger/Luginbühl 2014, S. 23ff.

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die Schaltstelle zwischen der Sphäre der Hörer und der Welt im Radio. Und diese Welt im Radio ist eine hörbare: Die O-Töne und Reportagen, die über die Welt berichten, die von Orten innerhalb und außerhalb des Sendegebietes stammen, sie alle sind hörbare Topologien im ästhetischen Raum des Radios. Als Vermittler nehmen Moderatoren eine zentrale Rolle ein, auch wenn diese Rolle nicht immer darin besteht, dass sie sich verbal artikulieren. Moderatoren sind auch die Instanz, die die einzelnen Bestandteile eines Radioprogramms zusammenfügt – ganz technisch verstanden. In den meisten Radio­ stationen ›fahren‹ Moderatoren ihre Sendungen, sie spielen also auch Beiträge zu, fahren Jingles ab und bedienen die Sendekonsole mit den Mikrofon­ reglern. Wenn wir Radio als Klangmedium betrachten, sind auch dies Teilhandlungen der Kommunikation. Und mit Blick auf den zentralen Gegenstand dieser Untersuchung, die Raumästhetik des Radios, sind sie mindestens ebenso wichtig wie das gesprochene Wort der Moderation. Damit lässt sich Radio als mehrdimensionale Struktur beschreiben. Eine erste Dimension besteht entlang der Kommunikation: Es gibt eine Instanz, die etwas vermittelt, und eine, die zuhört. Eine weitere Dimension besteht in der Zeit: Radio lässt sich als sequenzielle Anordnung von Programmelementen betrachten. Als dritte Dimension schließlich sehe ich den hörbaren Raum. An dieser Stelle möchte ich nun auf die erzähltheoretischen Kategorien vom Anfang des Kapitels zurückkommen. Die dritte Dimension Raum möchte ich nämlich dadurch erläutern, dass ich sie als Parallelbegriff zum narratologischen ›Welt‹ fasse. Um Funktionsweise und Mechanismen dieser Dimension zu veranschaulichen, greife ich auf das Konzept der Erzählebenen zurück, das als grundlegendes Modell fester Bestandteil erzähltheoretischer Ansätze geworden ist. Die Anwendung erzähltheoretischer Ansätze auf Radio bedarf einer kurzen Erläuterung. Anders als andere narrative Formen wie Romane und Spielfilme, mit denen sich die klassische Erzähltheorie befasst, sind Radioprogramme keine in sich geschlossenen fiktionalen Produkte. Radioprogramme stellen sich vielmehr als zeitlich strukturierte Container dar, offen für die Integration unterschiedlichster Programmelemente. Auch wenn »Radioprogramm« durchaus einen Medientext bezeichnet, und nicht wie »Radio« das Medium selbst, so widersetzt sich dieser Medientext einem Vergleich mit Romanen

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oder Spielfilmen. Es ist denn auch vorrangig, wenn nicht gar ausschließlich die Unterkategorie Hörspiel, die bisher von der Erzählforschung erfasst wird.68 ›Alltagsradio‹, auf das ich mich vor allem beziehen möchte, hat auf dieser Ebene keine eigene Bezeichnung. Das hat sicherlich auch damit zu tun, dass Radio nicht zuletzt in zeitlicher Hinsicht offen ist: Radio hat weder Anfang noch Ende, sondern ist ein endloser flow.69 So verstanden bringt Radio keine in sich abgeschlossenen Werke zu Gehör, sondern lässt es zu, jederzeit einund wieder auszuschalten. Und schließlich entzieht sich Radio auch der Zuschreibung zum Fiktionalen oder Faktualen, nicht nur indem es beidem Raum lässt – Hörspiele einerseits und journalistische Beiträge andererseits finden innerhalb des Radioprogramms statt –, sondern auch, indem viele typische Formen des Radios weder ganz dem einen noch ganz dem anderen zugehören. Werbespots sind ein Beispiel dafür, sie verwenden oft einen fiktionalen Rahmen, um auf ein real existierendes Produkt hinzuweisen. Sogenannte ›postklassische Erzähltheorien‹ haben sich indes längst von der Fokussierung auf traditionelle fiktionale Erzählungen gelöst – Videospiele, Fernsehserien und Graphic Novels sind nur einige Beispiele für neuere Anwendungsgebiete.70 Und unter dem Stichwort Storytelling fragen vor allem Medienpraktiker auch nach dem Narrativen in vielen anderen Formen von Kommunikation: in filmischen Dokumentationen, in der Unternehmenskommunikation, der Öffentlichkeitsarbeit, und nicht zuletzt auch in journalistischen Formaten.71 Auch für Radiopraktiker werden Techniken des Storytel68 

Zum Beispiel in den Ansätzen von Huwiler 2005, Lutostański 2016 sowie Mahne 2007. 69  Vgl. Williams 2003 [1974], S. 89ff. Williams argumentiert dabei, dass heutige ­R adio- und TV-Realitäten sich durch die Metapher flow besser beschreiben lassen als über den Begriff des programming, weil die elektronischen Medien zunehmend darauf aus ­seien, nicht einzelne Programmelemente schlicht aneinander zu hängen, sondern sie beispiels­weise mithilfe von Sounddesign zu einem unterbrechungsfreien Hör­erlebnis zu verbinden. 70  Die Erzähltheorie, wie sie in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts aus dem russischen Formalismus entstanden ist, hat sich vorrangig mit geschriebenen ­Texten befasst, mit Romanen und Erzählungen. Vor allem Gérard Genette hat in den 1960er- und 1970er-Jahren zu einer Erweiterung und Systematisierung beigetragen und steht für die ›strukturalistische Phase‹ der Erzähltheorie. Etwa seit Beginn des neuen Jahrtausends bezieht sie – unter dem Label ›postklassische Narratologie‹ – auch andere Textsorten mit ein, denen sich Narrativität zuschreiben lässt. (Vgl. Nünning/Nünning 2002b, insb. S. 17ff.) 71  Vgl. dazu die zahlreichen Publikationen in den letzten Jahren, zum Beispiel ­Lampert/Wespe 2011, Littek 2011, Sturm 2013 oder Eick 2014..

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ling zunehmend wichtig. Amerikanische Serienformate wie The Moth, Radiolab und This American Life fungieren dabei als Leuchttürme und Vorbilder für eine moderne Gestaltung von Radiosendungen, für eine Aufarbeitung journalistischer Inhalte, die vom Publikum besser aufgenommen, besser verstanden und lieber gehört wird.72 Doch weder spielten Hörmedien in aktuellen erzähltheoretischen Ansätzen eine nennenswerte Rolle, noch griffen Forschungen zu auditiven Medien auf Kategorien der Erzähltheorie zurück – darauf weisen Mildorf und Kinzel hin. Ihrer Beobachtung nach bilde sich in der postklassischen Erzähltheorie, die sich für Film, Fernsehen und Videospiel geöffnet habe, abermals eine Medien­hierarchie ab, die Audiovisuellem den Vorzug gegenüber rein Auditivem gebe.73 Eine Ausdehnung der Reichweite der Erzähltheorie auf akustische Medien sei bislang vernachlässigt oder noch überhaupt nicht in Erwägung gezogen worden. Die Autoren benennen als in Frage kommende Genres Hörspiele, Hörbücher, Klanginstallationen, Popmusik, Audio Guides und das Vorlesen an sich. Sie fordern einen acoustic turn für die Erzähltheorie und wollten mit der im Jahr 2014 in Paderborn veranstalteten Tagung Audionarrato­ logy und dem daraus resultierenden Tagungsband dieser Lücke begegnen.74 Allerdings fällt auf, dass Radio im Tagungsband wie auch schon bei der Tagung selbst nur in Gestalt des radio play, des Hörspiels aufscheint. Obwohl Randbereiche des Narrativen durchaus einbezogen wurden – im Call for ­papers schlagen die Autoren solch ausgefallene Themenbereiche wie »Sound effects in hypertext« vor 75 –, bleibt das auditive Medium par excellence, Radio, unerwähnt. Es steht zu vermuten, dass man dem ›Alltagsradio‹ mit seinen oft journalistischen und nicht-fiktionalen Formen keine Narrativität zuschrieb: Radio erzählt nicht, Radio berichtet.

72 

Diese Serienformate erfreuen sich mittlerweile auch wissenschaftlicher Aufmerksamkeit (vgl. beispielsweise Hilmes 2013; Stockfelt u. a. 2012). 73  Vgl. Mildorf/Kinzel 2016b, S. 2f. 74  Nicole Mahnes Versuch einer Transmedialen Narratologie, die Narratologie als ein medienunabhängiges Phänomen konzipiert, bezieht als einzige auditive Form das ­Hörspiel mit ein – allerdings in einer Kürze, die die mediale Hierarchie betont statt sie zu überwinden (vgl. Mahne 2007, S. 104ff.). »Transmedial« sind nach Irina Rajewsky 2002, S. 12f., »medienunspezifische Phänomene, die in verschiedensten Medien mit den dem ­jeweiligen Medium eigenen Mitteln ausgetragen werden können«; die Narratologie kann als ein solches Phänomen aufgefasst werden. 75  Mildorf/Kinzel 2014. Das Beispiel wird aber im Tagungsband nicht mehr aufgegriffen.

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Wenn ich nun Kategorien der Erzähltheorie aufgreife und auf Radio beziehe, dann geht es mir nicht darum, radiofone Stilmittel wie Blende, Schnitt usw. in strukturalistischer Manier auf narratologische Kriterien wie Raum, Zeit, Stimme oder Fokalisierung anzuwenden, wie es für das Hörspiel getan wurde.76 Stattdessen möchte ich mit ihrer Hilfe ästhetische Strukturen des hörbaren Raums im Radio systematisch beschreiben. Radiostimmen sind, wie wir gesehen haben, in unterschiedlichem Maße raumlos oder raumhaft; sie folgen unterschiedlichen Raumkonzepten und werden dementsprechend unterschiedlich produziert. Nach welcher Strategie das geschieht, das soll der Rückgriff auf Erzählebenen verständlich machen. Kommunikationsmodell radiofoner Narrationen

Wer erzählt, muss sich in derselben Welt befinden wie diejenigen, die der Erzählung folgen. Dasselbe gilt für Figuren, die miteinander interagieren. Diese Grundannahme klassischer Erzählforschung, die freilich in etlichen literarischen und filmischen Beispielen kunstvoll durchbrochen worden ist,77 bildet den Kern von ›Kommunikationsmodellen narrativer Texte‹, die in verschiedenen ähnlichen Varianten entwickelt wurden. Gemeinsames und gleichzeitig zentrales Merkmal ist bei diesen Modellen die Trennung in unterschiedliche Erzählebenen.78 Die Modelle gehen auf der ersten Ebene von einem »realen Autor« und einem »realen Leser« aus,79 die jeweils Personen der realen Welt darstellen und den realen Akt der Kommunikation konstituieren. Auf der zweiten Ebene existiert die Figur des Erzählers sowie diejenige, an die sich der Erzähler wendet, die »Leserrolle«. Erzähler und Gegenüber sind also nicht identisch mit Autor und Leser; stattdessen sind sie Instanzen, die ihre jeweiligen Rollen innerhalb der Kommunikation übernehmen. Auf einer weiteren Ebene schließlich kommunizieren und handeln die einzelnen Figuren der Erzählung. Diese drei Ebenen bilden nach Jannidis den kleinsten ge76  77 

Vgl. dazu Huwiler 2005; Lutostański 2016. In Genettes Terminologie wird die Überwindung solcher Grenzen als Metalepse ­bezeichnet: Eine Figur kann die Instanz, die von ihr erzählt, nicht umbringen – zumindest nicht innerhalb der Erzählung. Tut sie es doch, liegt eine narrative Metalepse vor (Genette 2010, S. 152ff.). 78  Vgl. Jannidis 2004, S. 15ff. 79  Die verschiedenen Varianten des Modells verwenden unterschiedliche Bezeichnungen für die einzelnen Instanzen. Zum Beispiel spricht Pfister 2001 nicht vom realem, sondern vom »empirischen« Autor bzw. Leser. Ich verwende die Begriffe von Jannidis 2004.

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meinsamen Nenner sämtlicher Kommunikationsmodelle narrativer Texte.80 Wenn auf der dritten Ebene auch wieder ›erzählte‹ Erzählakte stattfinden, erweitert sich das Modell um zusätzliche Ebenen. Für diese Erzählebenen hat sich in der Filmwissenschaft bereits Mitte des 20. Jahrhunderts der Begriff der Diegese eingebürgert: Damit ist die Ebene der Erzählung gemeint, im Gegensatz zur nicht-diegetischen Ebene des Erzählens. Genette hat den Begriff dann in die Erzähltheorie eingeführt und weiter ausdifferenziert.81 Die drei oder mehr Erzählebenen, die Jannidis in narrativen Texten annimmt, stellen jeweils unabhängige Kommunikationssysteme dar: die Ebene der Kommunikation in der realen Welt, die Ebene einer kon­ struierten Erzählsituation und die Ebene(n) der interagierenden Figuren. Unabhängig sind diese Systeme insofern, als die Instanzen jeweils nicht in das Geschehen oder die Kommunikation auf anderen Ebenen eingreifen können – die Erzählebenen konstituieren je eigene Welten. Die Annahme der zweiten Ebene drängt sich nicht für alle Erzählungen intuitiv auf. Gleichwohl hat sich in der Erzähltheorie die Differenzierung zwischen Autor als Person der realen Welt und Erzähler als innertextuelle Figur etabliert.82 Die Differenz zwischen Moderatoren als Personae eines Radioprogramms und den Autoren, den Verfassern und Planern von Moderationstexten und -handlungen, ist ebenfalls durchaus greifbar. Ich habe die Topografie, die Radio konstruiert, bereits beschrieben als eine, die sich von der Topografie der Wirklichkeit unterscheidet. Und Moderatoren agieren bei genauerer Betrachtung nicht in der realen Welt, sondern gerade innerhalb dieser Topografie des Radios. Als ›Erzähler‹ innerhalb des Mediums Radio und innerhalb von Radio­ sendern konstruieren sie diese Topografie, die sich dadurch kennzeichnet, dass Orte und Räume einander abwechseln, Schaltungen in ferne Städte problemlos möglich sind, dass das Sendegebiet als maßgeblicher Projektionsraum des Senders verstanden und dargestellt wird, nicht zuletzt dass zwischen Moderatoren und Hörern eine parasoziale Nähe entsteht. Sie folgen dabei den Regeln des Mediums und den Vorgaben der Radiostation, stellen die zentrale

80 

Vgl. Jannidis 2004, S. 16. Vgl. Genette 2010, S. 148. Genette verwendet hier die Begriffe »extradiegetisch«, »intradiegetisch« und »metadiegetisch«. Das System ist relational zu verstehen; mit F ­ okus auf fiktive Erzähler innerhalb einer Geschichte sind mit diesen Begriffen je unterschied­ liche Ebenen angesprochen. 82  Vgl. Margolin 2009, S. 351. 81 

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Vermittlungsinstanz des Medientextes Radio dar – und sind ihrerseits selbst als Teil des Textes zu verstehen. Das wird deutlich, wenn man sich vor Augen hält, dass Moderieren eine professionelle Berufsrolle darstellt, in die Moderatoren während ihrer Sendung schlüpfen. Dass sie dabei die Kontrolle behalten wollen, wie viel sie von sich selbst preisgeben, dass sie sich gleichzeitig selbst in Szene setzen und ihre Außenwirkung steuern, ist nicht nur plausibel, sondern mit zunehmendem Maß an Professionalität auch sehr wahrscheinlich. Moderieren ist kein Akt privater, sondern professioneller öffentlicher Kommunikation, und was Moderatoren ins Mikrofon sagen, ist Teil eines auf vielen Ebenen bewusst gestalteten und von vielen Autoren verfassten Textes; die Konstruktion einer Radio-Persönlichkeit gehört dazu.83 Auch Hörer, die von Moderatoren direkt angesprochen werden, gehören auf die zweite Ebene des Kommunikationsmodells. Sie können augenscheinlich nicht die realen Hörer sein, sondern sind lediglich Vorstellungen und Ideen von möglichen Hörern. Daher auch die Empfehlung in Handbüchern für Moderatoren, sich Hörer möglichst konkret vorzustellen.84 Viele Sender arbeiten sogar mit sogenannten Musterhörern und konstruieren fiktive Steckbriefe prototypischer Vertreter der Zielgruppe, die, wie Jens-Uwe Meyer darstellt, neben Namen, Alter, Beruf und Familiensituation auch noch Hobbys, Musikgeschmack, eine Kurzbiografie und die persönliche Einstellung zum Radio­hören verzeichnen.85 Solche Musterhörer helfen den Verantwortlichen von Radiosendern dabei, das Programm auf eine Zielgruppe hin auszurichten und Inhalte so zu wählen und zu gestalten, dass sich die Menschen, die man erreichen möchte, auch angesprochen fühlen. Moderatoren helfen sie zudem dabei, eine ihrem Publikum angemessene Sprechhaltung zu finden.86 In jedem Fall stellen sie funktionale Rollen dar und keine realen Hörer; sie entsprechen in ihrer Funktion damit der Position des angenommenen Lesers in Kommunikations­ modellen narrativer Texte. Wenn Erzähltheorie also zwischen zwei Ebenen unterscheidet – einer Ebene mit Autoren und Lesern, einer weiteren Ebene mit Erzählern und »Leserrollen« –, so finden sich die entsprechenden Ebenen auch in radiofoner Kom83  84 

Vgl. beispielsweise Meyer 2007, S. 138ff. oder Haas u. a. 1991, S. 571ff. Zum Beispiel Hermann u. a. 2002, S. 22. 85  Vgl. Meyer 2007, S. 127f. 86  Vgl. Kapitel 6.2.

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munikation wieder und legen es nahe, zwischen der Institution Radio und realen Hörern einerseits, zwischen Moderator-Persönlichkeiten und dem von ihnen imaginierten Publikum andererseits zu unterscheiden. Damit sind allerdings erst zwei Ebenen angesprochen; bisher unberücksichtigt geblieben sind die weiteren Ebenen narrativer Kommunikation, die Ebenen, auf denen das Erzählte selbst stattfindet, in denen Figuren handeln und Dialoge stattfinden. Im Radio existieren diese Ebenen auch, sie können durchaus in sich verschachtelte Strukturen ausbilden – und sie sind akustisch markiert durch den hörbaren Raum. Ebenen des Radioraums

Raum gilt als eine der Konstituenten von Erzählungen.87 Radio kann, wie ich dargestellt habe, Raum hörbar machen – und doch hat es sich gezeigt, dass eben nicht alle Stimmen des Radios gleichermaßen verräumlicht sind. Den Zusammenhang zwischen dieser Räumlichkeit von Radiostimmen und dem narratologischen Konzept der Erzählebenen möchte ich anhand eines fingierten, aber dennoch typischen Beispiels verdeutlichen: In einer typischen Magazinsendung begrüßt die Moderatorin die Hörer: »Herzlich willkommen hier bei …« Nachdem sie die Themen der Sendung vorgestellt hat, moderiert sie einen Beitrag an: »Haben Sie dem Bürgermeister Ihrer Stadt oder Ihres Dorfes schon persönlich die Hand geschüttelt?« Sie führt dann auf eine Bürgerversammlung in einem Ort hin, bei der sich die neugewählte Bürgermeisterin den Einwohnern vorstellen möchte. Die Moderatorin schließt mit »Unser Reporter war gestern Abend auch mit dabei.« Daraufhin setzt die Stimme des Reporters ein: »Fast das halbe Dorf ist ins Rathaus gekommen, deswegen zog die komplette Versammlung kurzerhand in den großen Festsaal auf der gegenüberliegenden Straßenseite um.« Im Hintergrund sind bereits Menschen zu hören, Geplapper, Stimmen, Verkehrsgeräusche. Kurz darauf die Stimme der Bürgermeisterin, weit entfernt in dem großen Raum: »Ich bin überwältigt von Ihrem Engagement und Ihrer Hilfsbereitschaft …«, und während sie im Hintergrund weiterspricht, ist wieder der Reporter zu hören. »Gerade einmal drei Tage im Amt, hat die Neue die Herzen ihrer Bürger bereits erobert …« Nach einigen Erläuterungen zu den Beson-

87 

Neben Raum nennt Ryan 2009, S. 270, noch Zeit sowie – als Abstraktionen und Präzisierungen von Figur und Erzähler – »(3) a mental constituent, specifying that the events must involve intelligent agents who have a mental life and react emotionally to the states of the world (or to the mental states of other agents); (4) a formal and pragmatic constituent, advocating closure and a meaningful message«.

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derheiten der Wahl bereitet der Reporter einen O-Ton der Bürgermeisterin vor: »… Eine ganze Menge Arbeit wartet jetzt auf sie.« – »Die Einwohnerinnen und Einwohner haben mich gewählt, weil ich die Herausforderungen anpacken werde …« In diesem O-Ton klingt ihre Stimme anders als in dem vorherigen; sie klingt wesentlich näher, gleichzeitig ist die Atmo um sie herum lauter geworden – offenbar hat sie direkt ins Mikrofon des Reporters gesprochen, während andere bereits beim Feiern waren.

Dieser beispielhafte Ausschnitt genügt, um mehrere Ebenen zu identifizieren. Die Moderatorin mit ihrer raumlosen und nahen Radiostimme baut eine Kommunikation zu den Radiohörern auf, indem sie sie direkt anspricht. Sie führt dann den Bericht des Reporters ein. Die Stimme des Reporters ist zwar auch nah und ohne Nachhall, doch die akustische Topologie des Einstiegs beinhaltet auch Atmo im Hintergrund – die Stimme ist in der Produktion verräumlicht worden. Der Reporter spricht die Hörer nicht direkt an. Die Stimme der Bürgermeisterin im ersten O-Ton stellt sich ganz anders dar: Sie ist weit weg und sehr hallig, man hört sofort, dass sie sich in einem großen Raum befindet. Auch Atmo ist zu hören. Die Stimme ist eingebettet in den Raum und das Geschehen vor Ort. Der O-Ton ist dadurch entstanden, dass der Reporter die echte Welt ›belauscht‹ hat. Anders verhält es sich beim zweiten O-Ton. Da ist die Stimme wieder näher, wenn auch nicht so nah wie die des Reporters. Nach wie vor ist Atmo zu hören. Die Bürgermeisterin spricht die Einwohner nicht mehr an, sondern spricht über sie in der dritten Person; sie antwortet auf eine Frage des Reporters. Es sind also insgesamt drei verschiedene Stimmen zu hören: die Moderatorin, der Reporter und die Bürgermeisterin. Die drei Stimmen lassen sich nun unterschiedlichen Erzählebenen zuordnen. Erste Ebene: Die Moderatorin an der Erzählerposition, die davon erzählt, was der Reporter am Abend zuvor getan hat. Zweite Ebene: Der Reporter berichtet von der Bürgermeisterin. Dritte Ebene: Die Bürgermeisterin kommt mit ihrem Statement zu Wort. Vierte Ebene: Die Bürgermeisterin wird als handelnde Person hörbar. Den belauschten O-Ton der Bürgermeisterin als eine vierte Ebene zu betrachten, ist deswegen sinnvoll, weil er eine andere kommunikative Funktion an den Tag legt als der andere O-Ton, wie gleich deutlich werden wird. Die vier Ebenen unterscheiden sich in Hinsicht auf die Kommunikations­ situation darin, dass die Stimmen darin eine je andere Nähe zu den Hörern zeigen: Während die Moderatorin sich unmittelbar an die Hörer wendet, ist das beim Reporter nicht mehr der Fall; trotzdem orientiert sich der Reporter als Kommunikator des Senders an den Hörern, er stellt ja schließlich einen

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Radio­beitrag her. Die Bürgermeisterin spricht im einen Fall mit dem Reporter – sie kann davon ausgehen, dass ihr am nächsten Tag ein Rundfunk­publikum zuhört, doch sie weiß nicht, welches ihrer Statements nun tatsächlich gesendet wird. Sie spricht mit einem Radiopublikum im Hinterkopf. Im anderen Fall spricht die Bürgermeisterin weder mit dem Reporter noch für ihn oder für die Radiohörer, sondern sie wendet sich direkt an ein anwesendes Publikum im Raum. Sie legt in dieser Situation weder eine Beziehung zum Radiosender noch zu seinen Hörern an den Tag. Indem alle vier Stimmen je verschiedene Vorstellungen von ihren Adressaten haben, treten sie in je unterschiedlichem Maße als Vermittler zwischen dem Geschehen und Hörern des Senders auf; diese sind in je anderem Umfang in den Kommunika­tionszusammenhang einbezogen. In ästhetischer Hinsicht lassen sich nun Zusammenhänge zwischen dieser parasozialen Nähe und dem jeweiligen Raumkonzept ausmachen. Die raumlose Stimme der Moderatorin steht für das Raumkonzept der Intimität; ihre Stimme hat weder Nachhall, noch ist Atmo zu hören, sie ist die Stimme, die zu den Radiohörern ›ins Zimmer tritt‹. Am anderen Ende der Skala steht der belauschte O-Ton der Bürgermeisterin vor ihrem Publikum. Dieser O-Ton steht für das Raumkonzept der Hörbühne, das die Stimme ganz in den Raum des Geschehens einbettet und den akustischen Kontext der Situation vor Ort mit abbildet. Es zeigt sich also, dass tieferliegende Erzählebenen im Radio von einer stärkeren akustischen Kontextualisierung begleitet werden, dass hörbare Räumlichkeit einen Marker für größere Distanz von der übergeordneten Erzählsituation darstellt. Je stärker eine Stimme in den Raum ihres Geschehens eingebettet ist, desto weniger kann sie die Hörer erreichen, desto weniger sind Hörer von ihr angesprochen. Es ist in erster Linie die raumlose Radiostimme, die Kontakt zu Hörern aufnehmen kann. Das kann auch als Erklärung dafür herangezogen werden, warum Radioästhetik in ihrer Entwicklungs­geschichte stets beide gestalterischen Prinzipien beibehalten und gar miteinander kombiniert hat: sowohl immersiven Raumklang als auch Raumlosigkeit. Die lebendige Räumlichkeit bietet Radiohörern zwar einen akustischen Zugang zur Welt, doch ohne die Vermittlung durch raumlose Moderatorenstimmen bleiben Hörer stets außenstehende Zuhörer.

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200

Was ich anhand dieses sehr idealtypischen Beispiels dargestellt habe, bleibt freilich immer nur eine Tendenz. Es scheint keine Praxisregel zu geben, die eine bewusste Staffelung von Räumlichkeiten als Korrelate unterschiedlich tiefer Diegesen zum Prinzip erhebt. Eine implizite Regel zeigt sich aber darin, dass Handbücher für Radiojournalisten bei O-Tönen auf die Wichtigkeit des akustischen Kontextes hinweisen: Erfolg versprechender ist es, den O-Ton-Geber in eine Situation zu versetzen, die seine Art zu reden automatisch in dem gewünschten Sinn beeinflusst. Beispiele: Eine Mutter berichtet über die ersten Lebensjahre ihres Sohnes beim Anschauen alter Fotos. Der Züchter erzählt im Stall über sein preisgekröntes Pferd. Der Arzt nennt nicht einfach die Kriterien für ein gutes Patientengespräch, sondern gibt wieder, wie er sein letztes geführt hat. Der Lehrer wird nicht einfach nach der Disziplin auf dem Schulhof gefragt. Er wird besser gebeten, den letzten Vorfall und seine Reaktion darauf zu schildern.88

Die Absicht hinter der Einbeziehung des Handlungsraums ist es, lebendigere O-Töne zu bekommen, die mehr über die Figur aussagen als reine Worte. Dass mit dem Kontext auch der akustische Raum mit eingefangen, in den die Stimme eingebettet wird, ist gewissermaßen ein Nebeneffekt. Zindel, S­ chwochow und Rein wollen auf dasselbe hinaus, wenn sie fordern, Interviews nicht am Schreibtisch zu führen, sondern in einen sinnvollen architektonischen Raum zu wechseln: In die Werkstatt, um die es gehen soll, in den Bannwald, über den man sich unterhalten möchte, an Bord des Dreimastschoners, von dem die Rede sein wird. Solche Gesprächssituationen bringen obendrein Farbe in die Sendung, weil die akustische Atmosphäre im Hintergrund hörbar wird oder die Umgebung reizt, sie anschaulich zu schildern. Vor allem aber reagieren Ihre Gesprächspartner offener und erzählen lebendiger, wenn sie in vertrauter Umgebung sind und sich wohlfühlen.89

88  89 

Buchholz 2009b, S. 108. Zindel u. a. 2007, S. 101. Vgl. dazu auch den Hinweis von Karl Würzburger 1929, S. 67, auf frühe Experimente der Süwrag in Frankfurt: »Man geht dort wohl von der einleuchtenden psychologischen Tatsache aus, daß der fremde und doch immer auch ­einigermaßen nüchterne Senderaum an sich nicht dazu geeignet ist, den Redner innerlich stark in Bewegung zu setzen. […] Frankfurt wählt darum öfters die Lösung, das Mikro­ phon aus dem Senderaum fortzunehmen, um es an einen Schauplatz zu bringen, der in

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Allerdings ist die Moderatorenstimme keineswegs die einzige raumlose Stimme im Radio. Viele Radiostimmen klingen so wie die Moderatorenstimme, schlicht deswegen, weil Reporter, Redakteure und Nachrichtensprecher im Funkhaus das gleiche Studio und die gleiche Technik verwenden, um ihre ­Beiträge zu produzieren. Unterschiede zwischen der Moderatorenstimme und anderen Kommunikatoren bestehen dann nur noch in unterschiedlichen Sprechhaltungen – der Moderator ist der einzige, der die Hörer unmittelbar ansprechen darf – und dem Gesagten selbst. Darüber hinaus kommen viele Beiträge ohne oder mit wenig Atmo aus; Reporterstimmen stehen keineswegs immer in einer akustischen Topologie, bei der auch ein Raum evoziert wird.90 Gleichzeitig können O-Töne durchaus sehr nah und präsent aufgenommen werden. Bei Korrespondenten, die in vielen Ländern der Welt unter schwierigen Bedingungen arbeiten müssen, zeigt sich manchmal sogar eine umgekehrte Situation: Im Freien und in ruhigen Umgebungen aufgenommene O-Töne von Passanten klingen sehr viel raumloser und direkter als die Aufnahme der Reporterstimme, die mit dem mobilen Equipment im Hotelzimmer entstanden ist. Diese Fälle gibt es, und sie können irritieren. Sie rücken die Situation des Korrespondenten mit seinen Arbeitsbedingungen allein durch die akustischen Raumverhältnisse in den Vordergrund: Es wird hörbar, dass der Korrespondent von unterwegs berichtet. Die Korrelation von Raumkonzept und der Vermittlungsebene zeigt sich besonders deutlich in Fällen, in denen ein und dieselbe Stimme auf zwei unterschiedlichen Ebenen auftaucht. Ein Beispiel ist das Feature Lifestyle von Jens Jarisch.91 Der Autor Jarisch tritt hier in zwei Rollen auf: als Sprecher des Features sowie als Reporter, der vor Ort Interviews führt. Er spricht seinen sorgfältig komponierten Featuretext, präsent und mittig, als raumlose Studioaufnahme. Parallel dazu ist seine Stimme auch als Bestandteil der im O-Ton wiedergegebenen Szenen zu hören, da erscheint sie leiser, halliger und aus unterschiedlichen, sich verändernden Richtungen; es ist dann deutlich zu hören, dass er sich beispielsweise in der großen Empfangshalle eines Unter-

irgend einer, wenn auch nur losen Verbindung zu dem betreffenden Thema steht. Auf diese Weise befindet sich der Redner in einer eigentümlichen Atmosphäre, die wenn er überhaupt geeignet ist, auf ihn von außerordentlich belebender Wirkung sein muß.« 90  Und neben ›echten‹ Reportern gibt es noch etliche weitere Berufsrollen im Radio – zum Beispiel Redakteure, Korrespondenten oder Kommentatoren – die typischerweise als Stimmen auftreten, ohne Atmos oder O-Töne zu verwenden. 91  Jens Jarisch, Lifestyle (RBB / DLF / SWR 2005).

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nehmens befindet oder auf einer belebten Straße; die Stimme ist in den jeweiligen Raum akustisch eingebettet. Jarisch als Akteur in den O-Tönen inter­ agiert mit anderen Personen, bewegt sich im Raum, ist Teils des Geschehens. Er nimmt im ästhetischen Raum unterschiedliche Positionen ein und trägt die Raumakustik des architektonischen Raums vor Ort in seiner Stimme. ­Jarisch als Autor und Sprecher dagegen nimmt im ästhetischen Raum die statische Position der raumlosen Stimme ein, ist nah, präsent und ohne Nachhall zu hören. Er interagiert dabei nicht mit handelnden Figuren, sondern nimmt eine übergeordnete, neutrale Position ein. Die akustische Topologie dieses Features sowie etlicher anderer Beispiele, die man täglich im Radio hören kann, deuten darauf hin, dass Radiopraktiker intuitiv nach dem Prinzip dieser ›Radionarratologie‹ vorgehen. Je eher eine Stimme als Radiostimme konzipiert ist, je eher sie sich explizit oder implizit an ein Radiopublikum wendet, desto eher folgt sie dem Raumkonzept der Intimität. Die Moderatorenstimme ist typischerweise frei von jeder Räumlichkeit. Die Stimmen dagegen, die der Welt abgelauscht sind, in denen Menschen sprechen und handeln, ohne sich an ein Radiopublikum zu wenden, solche Stimmen werden typischerweise mit ihrem akustischen Kontext aufgenommen und folgen dem Raumkonzept der Hörbühne. Eine Stimme schließlich wirft noch Fragen auf: die der Station Voice.92 Die Station Voice nimmt eine besondere Rolle ein, die sich sogar noch von der Rolle der Moderatoren absetzt. Sie tritt nur als Stimme, als voice in Erscheinung: Der Name der Stimme wird nicht genannt, und sie stammt in der Regel von einem Berufssprecher oder einer Berufssprecherin. Die Stimme spricht nicht live, sondern ist immer voraufgezeichnet. Viel stärker als bei den anderen Stimmen im Radio tritt bei ihr die Person des Sprechers hinter der Stimme zurück. Die Station Voice ist nicht nur eine raumlose, sondern eine ganz und gar entpersonalisierte, akusmatische Stimme.93 An der Station Voice zeigt sich am deutlichsten, was Clas Dammann für die Radiostimme an sich dia­ gnostiziert: »An der Stimme zeigt sich eine Art Auflösung ganz unmittelbar: die Ablösung vom Körper, die Reduktion des Sprechers auf seine Stimme, die Zerlegung durch das Mikrophon.«94 Ihre Entpersonalisierung besteht auch

92  93  94 

Vgl. zur Station Voice Kapitel 4.1. Vgl. Arnheim 2001 [1936], S. 92. Dammann 2005, S. 24.

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darin, dass die Station Voice meistens kein Atmen, kein Schmatzen, keine para­verbale Äußerungen vernehmen lässt, nur das reinste gesprochene Wort. In ein erzähltheoretisches System lässt sich auch die Station Voice integrieren. Sie entspricht in ihrer Funktion am ehesten den Kapitelüberschriften und anderen Paratexten: strukturierenden Texten, die sich außerhalb der Geschichte und damit auch jenseits des Erzählens befinden, die von keiner greifbaren Figur verfasst zu sein scheinen, die aber dennoch einen Teil des Gesamttextes darstellen.95 Zusammenfassung: Raumvermittlung im Radio

Radio ist ein publizistisches Medium, das Kommunikation in Gang setzt. Im Zentrum stehen dabei Moderatoren, deren Aufgabe es dem Wortsinne nach ist zu vermitteln. Doch was vermitteln sie, wem vermitteln sie es, und vor allem: wie? Diese Fragen lassen sich alle mit dem dieser Arbeit eigenen Blick auf Raum neu formulieren. Wie ist die Welt räumlich strukturiert, auf die sich Radio mit seiner Kommunikation bezieht? In welcher räumlichen Beziehung stehen Moderatoren ihren Adressaten gegenüber? Welche raumästhetischen Strategien helfen Moderatoren dabei, ihrer Aufgabe nachzukommen? Diesen Fragen bin ich auf den vorausgehenden Seiten nachgegangen. Die Beobachtung, dass im Radio sehr viele Stimmen mit sehr unterschiedlichen kommunikativen Rollen zu hören sind, dass diese Stimmen im Hinblick auf ihre Räumlichkeit auch oft sehr unterschiedlich klingen, hat mich dazu veranlasst, die Arbeit von Moderatoren durch die Brille der Erzähltheorie zu betrachten, einem Forschungsfeld also, das sich mit komplexen Formen von Kommunikation bei erheblichem Figurenpersonal auskennt. Um vom Was über das Wem zum Wie zu kommen, bot sich Genettes Modell der Erzähl­ ebenen an, ein Modell, das zu den grundlegendsten der Erzähltheorie gehört. Radio als Medium der Raumüberwindung zog einen Spalt ein zwischen der Welt, wir man sie kannte, und dem, was einem im Radio angeboten wurde. Sichtbar wurde das in den Stationsskalen der Radiogeräte, die die mannigfaltige Welt auf eigentümliche Weise in eine lineare Abfolge zu empfangender Sendeanlagen ordnete. Hörbar wurde das in den Radioprogrammen selbst, die durch Fernempfang, durch Programmübernahmen, den Austausch ganzer Sendungen, die schließlich auch durch die Außenreportagen von ent-

95 

Vgl. Genette 1992.

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legenen Orten ein unmittelbares Hintereinander ferner und fremder Länder, Städte und Orte herstellte. Spürbar ist das bis heute nicht zuletzt dadurch, dass Radio die Heimat seines Publikums zum Thema, zum Protagonisten gar macht. Das Was der Radiovermittlung erweist sich damit als eine dem Medium eigene spezifische Topografie. Die Adressaten der Moderation, die Hörer, erweisen sich auf den zweiten Blick ebenfalls als Konstrukt. Moderatoren arbeiten mit mentalen Bildern typischer Hörer – reale Hörer sind in aller Regel nicht zugegen. Und dennoch kommt es zu Moderator-Hörer-Beziehungen, die sich mit dem Begriff Intimität durchaus zutreffend beschreiben lassen. Diese Beziehungen sind fragil und stark abhängig davon, dass das Rundfunkstudio akustische Heterotopie bleibt; wird dieser Raum hörbar, kann die Intimität in sich zusammenfallen. Dies alles gibt Aufschluss über das Wie, über die raumästhetische Umsetzung von Radiokommunikation: Sie findet auf unterschiedlichen Ebenen statt, die sich analog zum narratologischen Konzept der Erzählebenen beschreiben lassen. Radio und sein Publikum, Sende- und Empfangsantennen, Macher und Hörer konstituieren den topografischen Raum in unserer Wirklichkeit. Die Arbeit von Moderatoren ist es dagegen, auf Ebene des Medientextes einen sozialen Raum zu etablieren, der die implizit und explizit angesprochenen Adressaten erfasst. Das Raumkonzept der Intimität, dem die typische Moderatorenstimme dabei folgt, macht es möglich, dass die realen Hörer sich davon angesprochen fühlen. Auf weiteren Ebenen entstehen ästhetische Räume, in denen Figuren reden und handeln, zunächst Reporter, dann beispielsweise Akteure oder andere O-Ton-Geber. Idealtypisch nehmen diese ästhetischen Räume an Raumhaftigkeit zu, wenden sich also zunehmend in Richtung Raumkonzept der Hörbühne, je tiefer die Ebene bezogen auf die Moderation angesiedelt ist. Belauschtes Geschehen im Raum findet dann ganz auf der Hörbühne statt. Ebenso idealtypisch nimmt dabei auch die Adressierung des Hörers ab. Wenden sich Moderatoren explizit an ein Publikum, tun Reporter das oft nur implizit, und vielen anderen O-Tönen gegenüber sind Hörer nichts weiter als Ohrenzeugen. Mit dieser groben Skizzierung einer ›Radionarratologie‹ deutet sich das Potential an, das eine konsequente Verknüpfung erzähltheoretischer Ansätze mit Radio, insbesondere mit ›Alltagsradio‹ besitzt. In dieser Annäherung konnte eine ästhetische Struktur ausgemacht werden, die die raumästhetische Gestalt von Radiostimmen mit ihren jeweiligen kommunikativen Funktionen in Verbindung bringt. Das Potential des Ansatzes wie auch seine Grenzen warten noch darauf, ausgelotet zu werden.

7 Design Die Befreiung des ästhetischen Raums

7.1 Klangarchitektur: Zur Eigenständigkeit ästhetischer Räume Ästhetischer Raum als Metapher

Raumbegriffe werden oft metaphorisch verwendet und können für jede Art von Relationen oder Mengen stehen – man kann eine ›hohe‹ Position erreichen oder völlig ›runtergekommen‹ sein; die Zeit zwischen zwei Augenblicken bezeichnen wir als ›Zeitraum‹. Viele Metaphern der Alltagssprache greifen auf Konzepte der Raum- und Körpererfahrung zurück.1 Eine wissenschaftliche Raumdebatte, ganz gleich in welchem disziplinären Kontext sie stattfinde, müsse zwischen der metaphorischen und der konkreten Verwendung von Raumbegriffen differenzieren – das fordert Dennerlein und warnt in ihrer Arbeit aus erzähltheoretischer Perspektive explizit vor einer Vermischung beider Ebenen.2 In der vorliegenden Arbeit habe ich bereits verschiedene Beispiele verwendet, in denen Räumlichkeit nicht konkret dargestellt, sondern uneigentlich, metaphorisch verwendet wird. Die sphärischen Klänge einer Science-­fiction-

1  2 

Vgl. Lakoff/Johnson 1980, S. 14ff. sowie S. 25ff.; Johnson 1987. Vgl. Dennerlein 2009, S. 44f.

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Soundscape beispielsweise repräsentieren nicht die reale Atmo des tatsächlichen Weltraums; einen Raumbezug stellen wir nur deswegen her, weil wir die Art der Klänge aus anderen Kontexten her kennen und mit dem Weltraum in Verbindung bringen. Stereotype Musik wie Samba, metonymische Geräusche wie das Tippen einer Schreibmaschine – diese Beispiele stehen für Raum­ bezüge, ohne den jeweiligen Raum als Raum darzustellen. In diesem Kapitel möchte ich die Metaphorik des Raums dagegen umkehren: Ich möchte zeigen, wie Radio seinen ästhetischen Raum in metaphorischer Weise nutzt. Es geht mir also nicht darum, dass Raumstrukturen über Metaphern ausgedrückt werden, sondern dass der ästhetische Raum im R ­ adio selbst zur Metapher wird. Er repräsentiert dann nicht mehr Raum, sondern erschließt weitere, andere Bedeutungsschichten. Bisher bin ich davon ausgegangen, dass der ästhetische Raum im Radio auf einen konkreten realen oder fiktiven Raum verweist. Die Abbildung oder Herstellung eines hörbaren Raums dient dabei dem Zweck, eine räumliche Situation zu evozieren und sinnlich wahrnehmbar zu machen. In naturalistischen Hörspielszenen ist das besonders deutlich: Raumakustik, Richtungen und Entfernungen, Atmo, einzelne Geräusche, sie alle spielen zusammen, um das realistische Hörbild einer Szene zu erzeugen, in der sich beispielsweise zwei Menschen in einem Café unterhalten. Doch darin erschöpft sich das Ausdrucksvermögen des ästhetischen Raums keineswegs, und auch das Hörspiel hat diesen ›mimetischen‹ Horizont schon hinter sich gelassen. Um zu verstehen, wie räumlich-auditive Parameter solchermaßen eingesetzt werden, blicke ich zunächst auf Praktiken der Musikproduktion. Der Umgang mit Räumlichkeit in der Musikproduktion ist auch besser erschlossen, als es beim Radio, insbesondere beim ›Alltagsradio‹ mit seinen journalistischen Formen der Fall ist. Im Anschluss daran möchte ich das Ausdrucks­potential des ästhetischen Raums im Radio anhand konkreter Beispiele darstellen und rücke dabei zwei seiner Parameter in den Mittelpunkt: Stereo­fonie sowie Nachhall. Es zeigt sich, dass Radioproduzenten diese beiden Raumparameter zu nutzen wissen. Vor allem der künstlerisch geprägte Bereich der Hörspielproduktion verwendet den stereofonen ästhetischen Raum als ein semiotisches System, das sich problemlos mit anderen semiotischen Systemen austauschen lässt. Und Nachhall, der in den schallgedämmten Rundfunk­ studios zum Verschwinden gebracht worden war, erlebt seine Renaissance als Klangeffekt.

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Der Klang des Dokumentarischen

Radiosender strahlen oft Aufnahmen der von ihnen selbst veranstalteten Konzerte aus. Das trifft auf Kultursender und ihre Orchester und Chöre ebenso zu wie auf bekannte Bands oder aktuelle Sängerinnen und Sänger, deren Tour auch im Sendegebiet einer Popwelle Station macht. Und solche Konzerte reichen von großen stadienfüllenden Auftritten bis hin zu kleinen Exklusiv-Veranstaltungen vor einer Handvoll glücklicher Kartengewinner. Vergleicht man beispielsweise den Live-Mitschnitt eines Auftritts mit der Studioproduktion auf dem zugehörigen Album, so kommt man oft zu dem Ergebnis: Der Konzertmitschnitt klingt weniger perfekt, dafür atmosphärischer. Selbst für musikalische Laien ist es meist kein Problem, die beiden Fassungen ein und desselben Songs voneinander zu unterscheiden. Deutlichstes Indiz ist sicher der Applaus am Ende jedes live aufgenommenen Stücks. Darüber hinaus gewinnt man aber oft auch einen spürbaren Eindruck davon, akustischer Zeuge des Auftritts zu sein. Man hört womöglich das Publikum im Hintergrund mitsingen und bekommt etwas von der Interaktion zwischen Künstlern und Zuhörern mit. Oder man nimmt gar die Akustik des Konzertsaals wahr. Der Unterschied lässt sich mit einem Konzept des Musikwissenschaftlers Peter Wicke greifen; ihm zufolge liegt jeder Musikaufnahme ein ›Klangkonzept‹ zugrunde, das das Verhältnis zwischen der Aufnahme als Artefakt und dem Modus ihrer Entstehung beschreibt.3 Das Klangkonzept fragt danach, ob die Aufnahme beispielsweise auf eine tatsächliche Aufführung auf einer Bühne zurückgeht oder durch einen Gestaltungsprozess im Tonstudio hergestellt wurde. Das Klangkonzept stellt für Wicke einen kulturell bedingten Konsens dar, der die Musikproduktion und -rezeption gleichermaßen einschließt. Die Entwicklungslinie, die er nachzeichnet, zeigt eine zunehmende Entfremdung der Aufnahme von der zugrundeliegenden Aufführung – erkennbar an einer Ablösung des ästhetischen Raums der Musik vom Ort des Musizierens. Dass Wicke das Verhältnis zwischen Aufnahme und ihrer Entstehung ausgerechnet über die Räumlichkeit der Musik greift, macht den Stellenwert des Raums für den Wirklichkeitsbezug von Musikaufnahmen deutlich: Die Wirklichkeit schreibt sich akustisch als Raum in den Schall ein. In der ersten Phase der Musikproduktion, die Wicke zeitlich ab dem Beginn der Plattenindustrie im späten 19. Jahrhundert bis zur Einführung des

3 

Wicke 2008.

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Magnetbands Ende der 1940er-Jahre einordnet,4 stellte das Abspielen von Plattenaufnahmen ein Surrogat für den Besuch eines Konzerts dar – und ein Surrogat für das Musizieren. Die Aufgabe von Produzenten bestand diesem Konzept zufolge darin, ein dem Original, also der Aufführung in ihrer Zeitstruktur möglichst treues Abbild zu schaffen. Die Aufnahmen waren Dokumente und akustische Fotografien von Aufführungen, »sound photographs of a performance«.5 Wer eine Platte hörte, hörte einer mechanischen Aufführung als Abbild einer realen Aufführung zu. Die Aufführung hatte im Studio vor dem Mikrofon stattgefunden, und mit dem Abspielen wurde sie wieder heraufbeschworen. Das Mikrofon im Aufnahmeraum war der Ort, an dem sich das Klangkonzept der »simulierten Aufführung«, wie Wicke es nennt,6 manifestierte. Das trifft, mit Blick auf die Anfangszeit des Radios, ebenso auf Rundfunk­ übertragungen zu, selbst dort, wo Musiker sich intensiv mit dem Zusammenhang der Übertragung und den Raumverhältnissen auseinandergesetzt haben, wie im folgenden Fall. Der Dirigent Alfred Szendrei, der von 1924 bis 1931 die Musikalische Abteilung der Mitteldeutschen Rundfunk AG (Mirag) leitete, berichtet über ein Experiment:7 Um die für Rundfunkübertragungen beste Orchesteraufstellung zu ermitteln, übertrug man das Vorspiel zum Lohengrin fünfmal hintereinander. Zwischen den einzelnen Aufführungen änderte das Orchester seine Aufstellung im Raum, wodurch sich zwar nicht für das Orchester insgesamt, aber doch für die einzelnen Instrumentengruppen ein anderes Verhältnis zum Mikrofon ergab. Sowohl Experten als auch Hörer waren dann aufgefordert, ihr Urteil samt Begründung einzusenden. Das Experiment führte zu keinem eindeutigen Ergebnis. Dennoch ist einiges daran interessant. Es ist sicherlich bemerkenswert, dass der Profimusiker Szendrei so viel Wert auf das Urteil der Radiohörer und Musiklaien gab.8 Vor allem aber ist es interessant, dass Szendrei hier bereits

4 

Vgl. Wicke 2008, S. 4ff. Anders als andere historische Überblickstexte über die i­ ndustrielle Musikproduktion setzt Wicke mit seinem spezifischen Blick auf Klang­ konzepte den ersten großen Einschnitt nicht an der Elektrifizierung der Aufnahme­ technik um 1925 an. 5  Wicke 2008, S. 4, zitiert hier Fred Gaisberg, Produzent in Emil Berliners ­Gramophone Company. 6  Wicke 2008, S. 4. 7  Szendrei 1929. 8  Szendrei selbst sah das zentrale Ergebnis des Experiments in den vielen kom­ petenten Zuschriften gerade von »ganz einfachen Leute[n]« (S. 156 ), von solchen »aus

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in eine Berufsrolle schlüpfte, die man heute als Tonmeister bezeichnen würde: Er war darauf aus, die Klangstruktur des Orchesters am Medium Rundfunk auszurichten.9 Dabei kam es dem Rundfunk zugute, dass Szendrei nicht nur Rundfunkpraktiker, sondern auch Dirigent war. In dieser Doppelrolle konnte er nämlich das Klangkonzept der »simulierten Aufführung« erweitern. Einerseits war es seine Aufgabe als Dirigent, das Orchester optimal einzurichten und seinen Klang zu gestalten. Andererseits war es nur konsequent, dass er sich dabei nicht damit begnügen wollte, den Klang des Orchesters vom Dirigenten­pult aus selbst zu beurteilen, sondern dass er das Mikrofon mit ­seinen Bedingungen in die Beurteilung einbezog. Doch um den Klang der ­Musik als Rundfunkproduktion zu gestalten, konnte er nur so vorgehen, wie es Dirigenten seit jeher taten: Er variierte die Modalitäten der Aufführung, indem er die Aufstellung des Orchesters im Raum veränderte. Die Situation erhellt, wie sehr Klanggestaltung an die Aufführungs­praxis gekoppelt war. Das technische Dispositiv des Radios ließ zu dieser Zeit nichts anderes zu, denn die Aufführung wurde übers Mikrofon direkt auf die Sende­ antenne geleitet, ohne dass es gestalterische Eingriffspunkte gegeben hätte. Daran änderte sich im Wesentlichen auch nichts, als man etwa ab dem Ende der 1920er-Jahre die Aufnahmen zunächst auf eine Platte schneiden und dann zeitversetzt abspielen konnte. Wenn auch Wickes Ansatz immer den Industriezweig der Musikproduk­ tion in den Blick nimmt, lässt sich das Klangkonzept der »simulierten Aufführung« genauso gut in Formen des ›Alltagsradios‹ aufspüren. Eben dieses Konzept lässt sich nämlich auch vielen O-Tönen zuordnen, seien es Aufnahme von Geräuschen, von Atmos oder von gesprochener Sprache. Solche O-Ton-­ Aufnahmen werden als Dokumente betrachtet, denn sie zeichnen Ereignisse in ihrem akustischen Kontext auf, halten Statements fest und speichern, was man Aufführungen verbaler Handlungen nennen könnte. Sie beziehen

den unteren Kreisen« (S. 157), »aus den Kreisen der Werktätigen« (S. 158). Daraus ­leitete er ab, »daß der Rundfunk in weiten Kreisen unserer Volksgemeinschaft eine neue ­Hörfähigkeit erschaffen hat, eine Erkennens- und Urteilsmöglichkeit auf musikalischem Gebiet, deren Auswirkungen heute noch ganz unabsehbar sind« (158f.). 9  In welchen Faktoren und Parametern er die Bedingungen des Mediums Rundfunk gesehen hat, sagt Szendrei nicht. Flesch 1929 betont in seinem Aufsatz, der Szendreis ­Bericht im Rundfunk-Jahrbuch 1929 unmittelbar vorausgeht und denselben Titel »Rundfunkmusik« trägt, dass ebendiese sich an Hörern in privaten Hörumgebungen orientieren müsse, was sie in die Nähe von »Hausmusik« rücke.

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sich auf die Situationen ihres Entstehens, indem sie diese dokumentieren.10 Anders als in der Musikproduktion haftet diesem Konzept im Kontext von Radio­journalismus jedoch nichts Abgedroschenes an; der O-Ton als Dokument erfüllt heute mehr denn je seine Funktion. Von Klangarchitektur zum Raum-Design

Den ersten großen Einschnitt im Hinblick auf das Klangkonzept der Musikproduktion sieht Wicke in der Einführung des Magnetbandes Ende der 1940er-Jahre. Mit Tonband wurde es möglich, Aufnahmen so oft zu wiederholen, bis man mit dem Ergebnis zufrieden war. Und mehr noch: Es wurde möglich und auch üblich, die endgültigen Masterbänder aus mehreren Versatzstücken unterschiedlicher Aufnahmen zusammenzustückeln.11 Zudem waren schon gegen Ende der 1930er-Jahre gerichtete Mikrofone aufgekommen, die eine Mehrkanaltechnik in Gang setzten. Gerichtete Mikro­ fone ließen erstmals ein Mindestmaß an Kontrolle über den Raumklang bei der Aufnahme zu, und die Mehrkanaltechnik ermöglichte dann auch noch die kontrollierte Zumischung eines separaten Raumklangsignals, das zum Beispiel in künstlichen Hallräumen hergestellt wurde.12 Diese Möglichkeiten des technisch-ästhetischen Eingriffs erzeugten nicht mehr Abbilder realer Aufführungen, sondern Konstruktionen von Aufführungen, wie sie möglich gewesen wären. Waren Aufnahmen bislang an eine konkrete Aufführung in einem konkreten Raum gebunden, so konstruierten Produzenten nun ›ideale Aufnahmen‹ in ›idealen Räumen‹.13 Dieses neue Klangkonzept bringt schließlich eine »neue Form sonischer Wirklichkeit«14 mit sich. Wicke konstatiert das für die Musikproduktion ab den 1950er Jahren, die es nach Etablierung von Mehrspurbändern auch noch ermöglichte, die einzelnen Spuren sequenziell und getrennt voneinander aufzunehmen. Das daraus resultierenden Aufnahmeverfahren des ›Overdubbing‹ brachte eine Loslösung sowohl von realen als auch von imaginierten Aufführung mit sich. Es wurde beispielsweise möglich, ein und dieselbe Stimme mehrfach aufzunehmen und Sänger so mit sich selbst im Duett singen zu las-

10 

Vgl. dazu Kapitel 5.1. Vgl. Wicke 2008, S. 8. 12  Vgl. dazu Kapitel 7.3. 13  Vgl. Wicke 2008, S. 8ff. 14  Wicke 2008, S. 11. 11 

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sen – eine Konstellation, die in vorhergehenden Raumkonzepten überhaupt nicht zu verstehen gewesen wäre. Toningenieure waren zunehmend ebenso für das klanglich-künstlerische Ergebnis der Aufnahme verantwortlich wie die Musiker, und das Instrument der Toningenieure war das Studio mit seinem audiotechnischen Equipment.15 Es konnten nun nicht nur Aufnahmen entstehen, die nicht mehr dem Paradigma einer Aufführung folgten, sondern es entstanden Songs, die sich so überhaupt nicht mehr aufführen ließen. Indem Songs im Studio konstruiert statt aufgeführt und mitgeschnitten wurden, wurden sie »phonographische Kunstwerke«.16 Die Parallelen zur Arbeitsweise von Feature-Autoren wie Helmut ­Kopetzky – die Konstruktion von Atmos und Räumen mittels Mehrspurtechnik17 – liegen auf der Hand. Auch dort wird das hier beschriebene Klangkonzept wirksam. Die Kombination einzelner Aufnahmeschnipsel mit dem Fokus auf akustisch prägnante Klänge zu einem kontrollierten und dramaturgisch durchdachten Zeit-Raum-Gefüge steht für einen besonderen Umgang mit dem Klangmate­rial. Einerseits verweist es auf die Realität, andererseits formiert es sich nach einem den Produzenten eigenen Schema und passt sich deren Ausdruckswillen an. Es entstehen radiofone Kunstwerke mit sehr viel komplexerem Wirklichkeitsbezug, als es bei O-Tönen der Fall ist. Und genauso wie in der Feature-Produktion erhält auch in der Musikproduktion das Ton­ studio eine immer zentralere Bedeutung, werden Toningenieure mit ihren gestalterischen Eingriffen immer wichtiger, spielen schließlich auch kognitive Schemata, die Produzenten auf das zugrundeliegende Klangmaterial anwenden, eine zunehmende Rolle. Die Leistung der Ingenieure sieht Schmidt Horning schließlich darin, auditive Strukturen zu entwickeln – durch aural thinking: Aural thinking enables the recording engineer to envision the musical ar­ chitecture, how the various instruments and voices in a stereo or multitrack recording should be placed in the mix, not simply in terms of relative volume, but of their positioning in the aural perspective of the listener.18

15 

Vgl. Schmidt Horning 2004. Schmidt Horning beschreibt die Entwicklung der Musik­produktion nicht wie Wicke aus einem techno-ästhetischen Blickwinkel, sondern mit Fokus auf die Tätigkeit der Toningenieure: »Where the engineer was once strictly the operator or technician, the demands and opportunities of multi-tracking rendered the ­recording engineer also a member of the creative team.« (S. 715) Vgl. auch Kealy 1979. 16  Wicke 2008, S. 12. 17  Vgl. Kapitel 5.2. 18  Schmidt Horning 2004, S. 714.

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Schmidt Horning greift wie schon viele andere vor ihr auf die Metapher der ›Architektur‹ zurück. Auch die Medienwissenschaftler Thomsen, Krewani und Winkler konzipieren den Musikproduzenten als Architekten – »In den Tonstudios wird tatsächlich ›Architektur‹ betrieben«19 –, und der Musiksoziologe Alfred Smudits spricht von einer »Binnenarchitektur der Musik«.20 Sie alle beziehen sich darauf, dass Musik gerade in ihrer medialen Form als stereo­fone Musikproduktion wesentlich von ihrer Räumlichkeit lebt. Im Gegensatz zu journalistischen Formen im Radio ist das Verhältnis von Musik zur Aufführung nicht von einem journalistisch-ethischen Anspruch überlagert; Cook vergleicht die Musik- mit der Spielfilmproduktion, um deutlich zu machen: So wie Spielfilme fiktive Ereignisse erzählen, können auch Musikproduktionen auf Situationen des Musizierens verweisen, die so nie stattgefunden hat.21 Dieser fiktionale Charakter von Musikproduktionen gibt Produzenten eine Freiheit, die das journalistische Radio nur in seinen künstlerisch ambitionierten Formen ansatzweise kennt. Diese Freiheit führt von der Konstruktion idealer Räumen schließlich zum Design neuer Räume. Radiojournalismus: Grenzen des freien Raums

Wickes Konzept bezieht sich auf die Produktion von Musik. Wie wir gesehen haben, spiegelt es gleichzeitig eine Entwicklungsgeschichte im Radio wider – das publizistische Radio lässt sich ebenso wie Musik über unterschiedliche Raumkonzepte greifen. Auch journalistische Aufnahmen besitzen einen je unterschiedlichen Bezug zur Wirklichkeit und zum Modus ihres Entstehens. Und schließlich stehen auch Musikaufnahmen manchmal in journalistischen Kontexten. Wickes Konzept kann beispielsweise helfen, eine Situation wie die folgende zu analysieren. Im Herbst 2014 strahlten verschiedene ARD-Sender einen Beitrag über das Musikfestival »Forst-Rock« in Jameln aus.22 Das winzige Dorf Jameln in Mecklenburg-Vorpommern entwickelt sich seit Jahren zunehmend zu e­ inem Zentrum für Neonazis, immer mehr Rechtsextreme ziehen zu, und bisherige Einwohner verlassen das Dorf. Eine Familie wehrt sich gegen die Situation

19 

Thomsen u. a. 1990, S. 60. Christian W. Thomsen ist von Haus aus Anglist und Amerikanist, lehrte aber auch im Bereich Architektur und Medienwissenschaft. 20  Smudits 2003, S. 79. 21  Vgl. Cook 2009, S. 243. 22  Zum Beispiel am 15. November 2014 um 12.20 Uhr in SWR4 BW.

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und veranstaltet das jährliche Festival, um auf die besorgniserregende Situation des Dorfes aufmerksam zu machen und für Demokratie und Toleranz zu werben. In dem Beitrag fällt der Umgang mit Musik auf: Neben einem Musikzuspiel der Band Pottpoeten, die auf dem Festival aufgetreten sind, findet sich auch das Zuspiel einer rechtsradikalen Band – als Beispiel für eine musika­ lische Gegenoffensive von der rechten Seite. Während das Zuspiel der Pott­ poeten wohl ein Mitschnitt vom Festival war und dokumentarischen Charakter aufweist, stammt das zweite Zuspiel offenbar direkt von der CD. Das ist daran zu erkennen, dass kein Bühnenraum und keine Live-Atmosphäre zu hören ist. Stattdessen klingt die Stimme sehr präsent und nah: Der Klang des Zuspiels verweist nicht auf eine Aufführung, sondern auf eine CD-Produktion. Damit fehlt hier eine Vermittlungsstufe, die bei den Pottpoeten noch vorhanden war; das Zuspiel der Pottpoeten als Dokument einer Aufführung macht das Hören der Musik hörbar. Im Falle des Zuspiels der rechtsradikalen Band dagegen inkorporiert der Beitrag direkt die Musik in ihrer von den Produzenten veröffentlichten Form und macht sie so zu einem Teil von sich selbst. Das wird durch den Umgang der Reporterin mit der Musik noch unterstützt: Der Song wird kurz angespielt und dann abgeblendet; er bleibt deutlich im Hintergrund zu hören, während die Reporterin wieder mit ihrer Stimme einsetzt und die Musik einordnet. Dieser ›kooperative‹ Umgang mit Musik entspricht dem, wie Moderatoren mit den Songs umgehen, die sie im Radio spielen, oder wie Musikjournalisten bei einer Plattenrezension. Diese fehlende Distanz wirft Fragen auf, zuallererst die sehr praktische Frage, wie die Reporterin an die Musik herangekommen ist. Die Anwendung von Wickes Klangkonzepten auf Radio zeigt zwei Dinge. Zum einen macht sich das Klangkonzept einer Aufnahme in seiner akustischen Topologie vernehmbar. Man kann einer Aufnahme ihren Wirklichkeitsbezug anhören. Zum anderen wird deutlich, dass die unterschiedlichen Klangkonzepte, die Wicke für die Musikproduktion analysiert und historisch verortet hat, in der Radioproduktion keineswegs einer linearen Entwicklung folgen, in der ein Konzept das andere ablöste. Im Radio finden unterschiedlichste Aufnahmen nebeneinander Platz, Aufnahmen, die unterschiedlichen Klangkonzepten folgen. Sie alle haben eine wichtige Funktion und ihre spezifische Leistungsfähigkeit im Kontext des publizistischen Handelns im Radio. Unter diesem Blickwinkel lässt sich auch das radiofone Reportageprinzip, nach dem die raumlose Stimme mit dem Raumklang von Atmos und Geräuschen des Weltgeschehens im O-Ton kombiniert wird, neu bestimmen. Stimme und O-Ton folgen nicht nur unterschiedlichen Raumkonzepten, die ein

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Ohr zur Welt öffnen oder die Welt nach Hause holen. Sie folgen auch unterschiedlichen Klangkonzepten mit je anderem Wirklichkeitsbezug. Während O-Töne das Geschehen der Welt, die Handlungen oder ›Aufführungen‹ ihrer Akteure simulieren und damit für die Hörer direkt zugänglich machen, stellt die raumlose Radiostimme eine artifizielle Konstruktion dar, die originär dem Radio entspringt, die dem Radio zu eigen ist und eben nicht der Welt abgelauscht wurde. Solche Aufnahmen beziehen sich stattdessen auf das Medium, auf das Radio selbst. Das macht es im Falle des Forst-Rock-­Beitrags so heikel. Das Musikzuspiel verweist durch seine spezifische Räumlichkeit auf seinen Status als Medienprodukt und nicht auf ein Geschehen in der Welt. Es wird damit zu einer Aussage nicht über die Welt, sondern über sich selbst. Erst der hörbare Raum der Aufführung stellt die Aufnahme in die Anführungszeichen eines Zitats.

7.2 Raumsemiotik: Das Ausdruckspotential stereofoner Räumlichkeit Links und Rechts als Ordnungsstruktur

Wir haben gesehen: Das Reportermikrofon überführt akustische Räume der Welt in ästhetische Räume des Radio, während die Produktion im Tonstudio solche ästhetischen Räume aus einzelnen Versatzstücken rekonstruiert. Die Differenz zwischen diesen beiden Produktionsweisen liegt in ihrem unterschiedlichen Bezug zur Wirklichkeit – mit Wicke gesprochen herrschen hier unterschiedliche Klangkonzepte vor.23 Nun kommt noch ein weiterer Schritt hinzu, ein Schritt, der den ästhetischen Raum und den Raum der Aufnahme noch weiter voneinander trennt: die Loslösung des ästhetischen Raumes von der Idee, dass er überhaupt für einen Raum steht, die Befreiung des ästhetischen Raums von seinem Rückbezug auf die Kategorie Raum an sich. Für diese Produktionsweise verwende ich hier den Begriff Design – damit soll die völlig unabhängige Gestaltung des ästhetischen Raums zum Ausdruck kommen, frei von jeglichen Vorgaben einer räumlichen Wirklichkeit. Wenn Radio­ produzenten Räume designen, folgen sie dabei nicht den Vorbildern der Natur

23 

Vgl. dazu Kapitel 5.2 und 7.1.

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und keinen Schemata, die sie der Wirklichkeit abkupfern. Stattdessen übernehmen Parameter des ästhetischen Raums ganz andere Bedeutungen, die mit dem Phänomen Raum nichts zu tun haben. Die redaktionelle Aufgabe des Sounddesign, die seit einigen Jahren in Funkhäusern und Radiostationen zunehmend sichtbar geworden ist, hat damit nur teilweise zu tun. Die Sounddesigner heutiger Radiostationen haben sehr vielfältige Aufgaben, die nur zum Teil auf eine Gestaltung des ästhetischen Raums abzielen.24 Doch sie legen dabei oft Produktionsweisen an den Tag, die nicht mehr ausschließlich Wirklichkeit abbilden oder rekonstruieren, die Klang und Raum nicht mehr nur als indexikalische Zeichen für Vorgänge und Situation der Welt verwenden, sondern sie als akustisches Material frei einsetzen. Beispielsweise verwenden Sounddesigner bei Jingle-Produktionen oft elektronische Geräusche, die auf nichts anderes verweisen als auf ihre spezifische Klanglichkeit. Mit dem Begriff Design ziele ich auf Produktionsweisen ab, die den ästhetischen Raum also nicht um eines Raumeindrucks Willen gestalten, sondern um andere Aussagen herzustellen. Diese Form der Klanggestaltung ist kein Privileg des Zeitalters der digitalen Radioproduktion, die seit den 1990er-­ Jahren die technischen Bedingungen in den Rundfunkstudios grundlegend verändert hat, sondern wesentlich älter. Ein erstes einfaches Beispiel kann das zeigen: Gesprächssendungen im Radio. Gesprächsrunden werden oft so aufgebaut, dass die einzelnen Stimmen aus je unterschiedlichen Richtungen zu hören sind.25 Jeder Gesprächsteilnehmer ist über ein eigenes Mikrofon an das Mischpult angeschlossen, und Produzenten, Ingenieurinnen oder Techniker haben nun die Möglichkeit und Aufgabe, die akustische Topologie der Gesprächsrunde zu gestalten. Vor allem die ›Panoramaregler‹ des Mischpultes kommen dabei zum Einsatz: Jedes Mikrofon wird auf eine Richtung zwischen Links, Mitte und Rechts eingestellt. Der Produzent positioniert dann beispielsweise den Gesprächsleiter in

24  Eine zentrale Aufgabe besteht in der Produktion von Jingles und Trailern, von akustischen Produktionselementen also, die maßgeblich für den Sound eines Senders verantwortlich sind und inhaltlich meist aus Werbebotschaften in eigener Sache bestehen. Vgl. Schätzlein 2005, S. 35. Die Medienwissenschaft hat sich bislang allerdings nur wenig mit der Tätigkeit des Radio-Sounddesigns befasst. Vgl. dazu Bose/Föllmer 2015, Patka 2015 sowie Patka 2017. 25  Das schlägt auch Dickreiters Standardwerk Handbuch für Tonstudiotechnik vor (Dickreiter 1997, S. 333).

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der Mitte und verteilt die anderen Gesprächsteilnehmer nach beliebigen Gesichtspunkten auf die gesamte Breite des ästhetischen Raums. Ein Kriterium kann zum Beispiel die Unterscheidbarkeit der Stimmen sein, denn anders als im Fernsehen sehen wir keine Gesichter und es gibt keine Bauchbinden, wir identifizieren nur anhand der Stimme, wer gerade spricht – die Position innerhalb des ästhetischen Raums kann da eine zusätzliche Hilfestellung sein. Unter dieser Maßgabe ist es eine typische Strategie, ähnlich klingende Stimmen auf deutlich unterscheidbare Positionen zu setzen. Andere Kriterien für die Verteilung können inhaltliche Positionen der Gesprächsteilnehmer sein – Befürworter auf der einen Seite, Gegner auf der anderen. Schließlich scheint es eine unausgesprochene Regel zu sein, dass Gesprächsleiter stets die Mitten­ position einnehmen, die einerseits durch ihre Neutralität bestimmt ist, andererseits seine vermittelnde, moderierende Funktion symbolisiert. Die so erzeugte Topologie muss sich überhaupt nicht mit der Situation im realen Raum decken – die Personen können in völlig anderer Anordnung am Tisch sitzen, ja sie müssen nicht einmal alle persönlich anwesend, sie können auch per Leitung zugeschaltet sein. Wer durch verschiedene Gesprächssendungen in unterschiedlichen Radiostationen querhört, wird immer wieder ähnliche Topologien hören.26 Dieses erste Beispiel belegt einen kreativen und freien Umgang mit dem ästhetischen Raum. Das Design dieses Raums folgt nicht dem Kriterium, die Raumsituation im Studio abzubilden, sondern sie nutzt den Raum als strukturgebendes Ordnungsprinzip, um eigene Aussagen unterzubringen – Aussagen, die überhaupt nicht mehr auf Raumphänomene verweisen. Der ästhetische Raum wird hier in uneigentlicher Weise als Ausdrucksmittel eingesetzt. Mit den folgenden Beispielen möchte ich diese Verwendung des ästhetischen Raums mit seinen akustischen Topologien in den Bereichen Musik, Hörspiel und Radiokunst weiter ausloten.

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Viele Sender oder Produzenten verzichten allerdings auch darauf, die Stimmen in Gesprächssendungen auf unterschiedliche Richtungen zu verteilen, und setzen sie alle in die Mitte, so dass ein monofones Sendesignal entsteht. Grund dafür wird die Befürchtung sein, dass Hörer, die sich nicht in der idealen Abhörposition befinden, die Stimmen vor allem unterschiedlich laut hören.

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Raumgestaltung als akustische Gesellschaftskritik

Die Klangarchitekten von Popmusik, die Produzenten von Radio, aber auch Fotografen, Maler, Schriftsteller – wer im westlichen Kulturkreis aufgewachsen ist, hat oft ein kognitives Schema gelernt, nämlich das von Figur und Grund.27 Was bei Fotografen und Malern der visuelle Vorder- bzw. Hintergrund ist, ist für Schriftsteller der Held und die Gesellschaft, für Radiopraktiker die Moderatorin und die Musik, für Musikproduzenten schließlich der Sänger und die Band.28 Und eine ganze Reihe musikwissenschaftlicher Analysen von Popmusik haben gerade das Verhältnis von Sänger und Band in den Blick genommen. Moore beispielsweise konzipiert dieses Verhältnis als »­persona-environment relation«.29 Das Selbstverständnis von Musikern im Hinblick auf diese Dichotomie kann sehr unterschiedlich sein – vom Konzept einer gleichberechtigten Gruppe, in der jedes Mitglied seinen Teil zur gemeinsam gespielten Musik beiträgt, bis hin zum Konzept eines Solokünstlers mit austauschbarer Begleitband. Das spiegelt sich auch in Produktionsweisen wieder. So sieht Nicola Dibben eine typische Topologie der Popmusik im »›mono­ centric mix‹ – the singer is central, foregrounded and often close to the listener«.30 Dibben stellt in ihrer Arbeit über die Räumlichkeit in der Pop­musik anhand des Songs Someone Like You von Adele nicht nur die emotionalen Implikationen dieser Ästhetik dar – die nahe Stimme konstruiere bei Hörern das Gefühl einer intime Beziehung zur Sängerin –, sondern hebt insbesondere darauf ab, dass die topologische Konstruktion den Status der Sängerin als Urheberin des Stückes festige: »Recording practices which construct a ­clear author-image, here through prioritisation of the vocals, are particularly important in contexts where the collaborative creation of the work could be seen to undermine the projection of a single author-image.«31 Schon dieses erste Beispiel deutet an, wie weit im Kontext aktueller Musikproduktion die Analyse akustischer Topologien dazu dient, weitreichende Schlüsse zu ziehen, In-

27 

Vgl. Kapitel 5.2. Lacasse 2000, S. 30ff., betont, dass solche Schemata nicht universal in allen Kulturkreisen gleichermaßen vorherrschen. 28  Vgl. Leeuwen 1999, S. 12ff., insb. S. 21. 29  So schon im Titel von Moore 2005. Vgl. außerdem Moore/Dockwray 2008; Moore u. a. 2009; Dockwray/Moore 2010; Lacasse 2010; Dibben 2013. 30  Dibben 2013, S. 113. 31  Dibben 2013, S. 110.

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terpretationen, die in der räumlichen Gestaltung weit mehr sehen als eine Abbildung realer oder gedachter Aufführungssituationen. Ein weiteres Beispiel stammt von Moore, Schmidt und Dockwray. Sie zeigen, das sich in der Topologie von The Gossips Standing in the Way of Control die Stimme der Sängerin Beth Ditto nicht nur weiter vorne befindet als die Band, sondern zugleich einen großen Raum einnimmt, um den sie gegenüber der Band andauernd kämpfen muss – dieses Ankämpfen drücke sich besonders in Dittos sängerischem Umgang mit ihrer Stimme aus.32 Zusammen mit Analysen von Melodieführung, Gesangsstil und dem musikalischen Stil der Band kommen sie zu einer Interpretation, nach der sich in der Gestaltung des ästhetischen Raums der Widerstand der Sängerin gegen eine konformistische Gesellschaft zeigt, eine Interpretation, die durch das Image der Band und der Sängerin auch außerhalb der Musik gestützt wird. Deutlich wird hier allerdings, dass eine so weitreichende Interpretation der akustischen Topologien künstlerischer Musikproduktionen nicht ohne die Berücksichtigung anderer akustischer, musikalischer und schließlich auch außermusikalischer Parameter auskommt. Die räumliche Struktur einer Produktion kann, wie jeder andere hörbare Faktor auch, Träger mannigfaltiger Bedeutungen werden. Die Freiheitsgrade künstlerischer Musikproduktion – im Zusammenspiel mit der Tradition ihrer hermeneutischen Interpretation – sind auf keinen Rückbezug auf Raumsituationen der Wirklichkeit angewiesen. Die Wirklichkeit, auf die die Raumstruktur von Standing in the Way of Control gemäß der Interpretation von Moore, Schmidt und Dockwray Bezug nimmt, ist denn auch keine räumliche, sondern eine soziale. Die Positionen im ästhetischen Raum, die akustische Topologie des Songs, bilden ideologische Standpunkte ab; die persona-environment-­ relation, bestehend aus Sängerin und Band, steht für das Machtverhältnis des Einzelnen gegenüber der Gesellschaft. Der ästhetische Raum selbst entpuppt sich als Metapher für eine ›größere Wahrheit‹. Jenseits solcher Detailanalysen und ihren Interpretationen lässt sich auf einer allgemeineren Ebene feststellen, dass Musikproduzenten oft eine Vielräumigkeit erzeugen, die die Loslösung von realen Raumsituationen deutlich macht:33 Das Schlagzeug wird in einen akustisch kleinen Raum versetzt und bildet eine eigene Topologie, die zugleich die gesamte Stereobreite ein-

32  33 

Moore u. a. 2009, S. 97f. Vgl. Thomsen u. a. 1990, S. 61.

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nimmt; Gitarren und Keyboards erhalten einen völlig anderen Hall, und die nahe Singstimme ist mit Echos gekoppelt, die eine unermessliche Tiefe des Raums nahelegen. Was Produzenten von Popmusik im Tonstudio konstruieren, sind physikalisch unmögliche Räume, sind ästhetische Räume, die sich eben nicht an realistischen Ordnungsprinzipien wie der Bühnenaufstellung orientieren, sondern die entfesselte Freiheit des Raums feiern. Der Blick auf die Analyse des ästhetischen Raums von Popmusik soll zeigen, wie weit auditive Medienprodukte mit ihren ästhetischen Räumen und die Idee einer zugrundeliegenden räumlichen Wirklichkeit auseinanderdriften können. In dem Augenblick, in dem der ästhetische Raum keine Abbildfunktion mehr übernehmen muss, wird er frei und kann sein Ausdruckspoten­ tial ausloten. Das künstlerische Feld der Musikproduktion lässt diese Freiheit in besonderer Weise zu. Genuin radiofone Formen – insbesondere das Hörspiel und das weite Feld der Radiokunst – leben diese Freiheit ebenfalls aus. Zeit als Raum und Raum als Zeit

Als die Stereofonie Einzug in den Rundfunk hielt und eine neue Dimension der Raumgestaltung erschloss – später als es in der Musikproduktion der Fall war –, begannen gerade Hörspielautoren und -produzenten des sogenannten Neuen Hörspiels, das Potential des Raums auszuloten. Der Dichter und Hörspielautor Franz Mon ist einer von ihnen. Ihm geht es dabei aber nicht darum, Stereofonie in den Dienst eines noch größeren Realismus und noch besserer mimetischer Techniken zu stellen, sondern im Gegenteil: Stereofonie ermöglicht es dem Hörspiel, sich von dem traditionellen Versuch zu befreien, die Realität nachbilden zu müssen. erst wenn die – sowieso beschränkte – stereophonie nicht als wahrnehmungsillusion sondern als syntaktisches mittel zur ordnung von hör­ ereignissen verstanden wird, kann sie mit der syntax der zeitverläufe in beziehung treten. räumliche positionen und zeitliche verläufe dienen dann der ordnung und beziehung desselben materials.34

34 

Mon 1970, S. 126 (Kleinschreibung im Original). Mon verbindet dieses Konzept der »syntaktischen« Verwendung von Raum mit der Hoffnung, dass die Stereofonie, die bislang lediglich den Raum vorne zwischen den Lautsprechern erschlossen hatte, ­eines Tages alle Raumdimensionen würde abbilden können (vgl. S. 127). Damit nimmt er weitere Entwicklungen vorweg – allen voran die der Kunstkopfstereofonie, die drei ­Jahre

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Raum und Zeit werden nach Mons Vorstellung zu gleichberechtigten semiotischen Systemen, deren Funktion sich keineswegs darin reduziert, Raum- und Zeitphänomene wiederzugeben. Der Germanist Martin Maurach bestätigt in seiner Analyse des Neuen Hörspiels Mons Einschätzung: »Hörspielgeschichtlich scheint die Einführung der Stereotechnik es ermöglicht zu haben, den Raum im Hörspiel mit einer Vielfalt neuer Funktionen auszustatten, ihm auf mehr Ebenen als vorher Bedeutungen zuzuordnen.«35 Die Hörspiel­arbeit der Autorin Friederike Mayröcker liefert etliche Beispiel dafür, wie sich die Links-rechts-Dimension der Stereofonie ausnutzen lässt. Für sie hängen Zeit und Raum dabei eng zusammen, denn mit der Stereofonie kann aus einem Nacheinander ein Nebeneinander werden. Das räumliche Nebeneinander von Stimmen wird denn auch ein Markenzeichen von Mayröcker, das unter den Stichworten »Multiperspektive, Gleichzeitigkeit«36 von Klaus Schöning, unter »Gleichzeitigkeit des Heterogenen«37 von Daniela Riess-Berger, als »simultane Bewußtseinsprozesse«38 schließlich von Monika Pauler interpretiert worden ist. Wahrnehmungspsychologischer Hintergrund ist, dass das Gehör zwei separate Stimmen an unterschiedlichen Positionen im Raum sehr viel besser voneinander unterscheiden kann, als wenn beide aus derselben Richtung kommen. Unter günstigen Bedingungen kann es so sogar zwei Stimmen gleichzeitig zuhören. Featureproduzenten nutzen das oft aus und schichten fremdsprachige O-Töne und ihre Übersetzungen zeitlich übereinander, verteilen beide Stimmen aber auf unterschiedliche Positionen zwischen Links und Rechts. Der Raum hat hier eine ganz pragmatische Funktion: Er trennt zwei Ereignisse voneinander und macht sie so als eigenständige Entitäten zugänglich.39 Zeit und Raum erscheinen somit als austauschbare Dimensionen: Um zwei

nach Erscheinen seines Textes, ab 1973, einigen Wirbel in der Hörspielszene verursachen sollte. 35  Maurach 1995, S. 103. Es fällt auf, dass die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Hörspiel weniger in der Medienwissenschaft als vielmehr in den Philologien stattfindet. 36  Schöning 1984, S. 210. 37  Riess-Beger 1995, S. 56. 38  Pauler 2010, S. 165. 39  Mit dem Problem, wie und unter welchen Umständen wir mehreren sogenannten streams gleichzeitig folgen können, befasst sich aus wahrnehmungspsychologischer Per­ spektive die Auditory Scene Analysis (vgl. Bregman 1994, S. 293f.).

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Stimmen hörbar zu machen, können sie im stereofonen Hörspiel entweder sequenziell oder simultan angeordnet werden.40 Von der Möglichkeit der simultanen Anordnung im Raum macht May­ röcker unter anderem in ihrem Hörspiel Arie auf tönernen Füszen Gebrauch.41 Es setzt sich aus drei simultanen Erzählsträngen zusammen, die durch das gesamte Stück hindurch von derselben Stimme gesprochen werden. Die Protagonistin artikuliert sich auf drei unterschiedlichen Ebenen: Sie erinnert sich in einem ›Erinnerungsmonolog‹ an Erlebnisse aus ihrer Kindheit während des Krieges und aus der Nachkriegszeit; sie denkt in einem ›autonomen Monolog‹, gleich einem Bewusstseinsstrom, an Alltägliches und andere Dinge, die sich kaum kategorisieren lassen; sie unterhält sich schließlich – ebenfalls monologisch – mit einem unhörbaren Gesprächspartner. Die Stimmen der drei Erzählstränge bilden eine akustische Topologie: Die Erinnerungsstimme ist links zu hören, die Denkstimme in der Mitte, und die Dialogstimme rechts. Außerdem ist die linke Stimme sehr nah, sowohl hinsichtlich der Aufnahmetechnik als auch in Bezug auf die sprecherische Umsetzung; die mittlere Stimme erscheint deutlich distanzierter. Anders als diese beiden Stimmen ist die rechte Stimme akustisch durch Nachhall in einen kleinen Raum versetzt, in ein Zugabteil, und es sind Zuggeräusche zu hören. Auch sprecherisch entsteht hier eher eine realistische Szene, die allerdings dadurch gebrochen wird, dass die Stimme des Gesprächspartners und damit die zweite Hälfte des Dialogs völlig fehlt.42 Der ästhetische Raum von Arie auf tönernen Füszen besitzt abgesehen vom Erzählstrang der Dialogstimme keinen Bezug zum Realen als Raum. Stattdessen bildet der ästhetische Raum ein alternatives Ordnungsprinzip zur Zeit. Die drei Bewusstseinsebenen der Figur werden nicht nacheinander präsentiert, sondern als räumliches Nebeneinander mit je eigenen Orten im ästhetischen Raum: »Zeitstrukturen – wie etwa zeitliche Linearität – werden […] durch Raumstrukturen ersetzt.«43 Das gilt nicht nur für die Erzählzeit, also die zeitliche Anordnung im Hörspiel, sondern auch für die erzählte Zeit: Die Erinnerungsstimme bezieht sich auf die Vergangenheit, die Dialogstimme

40  41 

Vgl. dazu auch die semiotischen Ansätze von Schmedes 2002, insb. S. 89ff. WDR 1970; Regie: Heinz von Cramer; 1982 durch den ORF neu produziert auf Grundlage einer zweiten Textfassung von 1975. Es handelt sich dabei um Mayröckers ­erstes eigenes Originalhörspiel (vgl. Pauler 2010, S. 169). 42  Eine dichte Beschreibung der Umsetzung der Stimmen gibt Pauler 2010, S. 183ff. 43  Riess-Beger 1995, S. 59.

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auf die Gegenwart und die Denkstimme schließlich zumindest in weiten Teilen auf die Zukunft. Die so gestaltete Raumkonstellation bleibt das gesamte Stück hindurch gleich, und diese Statik veranlasst Pauler dazu, das Hörspiel auch in seiner akustischen Form mit ›zeitblinden‹ Raumbegriffen zu beschreiben: Sie spricht von einer »Textfläche«44 – damit ist nicht das Manuskript gemeint! –, auf der die Stimmen ihren Ort einnehmen. Mayröcker dekonstruiert mit ihrer Technik der Simultaneität des Heterogenen schließlich Lessings Gegensatzpaar von Simultan- und Prozess-Ästhetik. Auch wenn Radio seiner aisthetischen Struktur nach der Poesie verwandt und damit der Domäne der Zeitkunst zugehörig scheint, kann es dennoch auch flächige, oder besser: räumliche Bilder erzeugen; Simultaneität und Prozessualität treten nebeneinander.45 Ästhetischer Raum und erzählte Zeit sind bei Mayröcker strukturgebende Klangfaktoren, die befreit worden sind von ihrer traditionellen Aufgabe, jeweils die lebensweltlichen Kategorien Raum und Zeit zu repräsentieren. Der ästhetische Raum steht hier nicht mehr für etwas, was wir aus unserer Alltagserfahrung mit Raum in Verbindung bringen – mit einem Hier und Dort, mit einem Verhältnis der eigenen Position zu der anderer Menschen oder Dinge, mit einer Dimension der Bewegung und des Handelns. Stattdessen steht er für unterschiedliche Bewusstseinsströme, die der Protagonistin durch den Kopf gehen, für unterschiedliche Erzählstränge und für unterschiedliche Zeitbezüge. In anderen Fällen kann der ästhetische Raum ganz andere Bedeutungen übernehmen. In Dieter Kühns Hörspiel Das lullische Spiel (NDR/SDR 1975) beispielsweise steht er für unterschiedliche Zeitebenen einer Erzählung.46 Gleichwohl erzeugt der ästhetische Raum im Hörspiel etwas, das wir mit unserem Gehör und seinen Fähigkeiten räumlichen Hörens wahrnehmen: ein sinnlich-akustisches Raumempfinden.

44 

Pauler 2010, S. 172. Vgl. Braungart 2005, S. 214. 46 In Das lullische Spiel tritt ein Mönch mit seiner Stimme in drei Phasen seines ­Lebens auf. Der junge Mönch ist immer links, der erwachsene in der Mitte, der alte ­immer rechts zu hören – eine Anordnung, die übrigens auch der Schreibrichtung unseres lateinischen Schriftsystems folgt (vgl. Huwiler 2005; Huwiler 2016). 45 

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Über die Grenzen des ästhetischen Raums hinaus

Abschließend möchte ich ein Beispiel vorstellen, das noch einen Schritt weitergeht und die Grenzen des ästhetischen Raums sprengt. The Unknown bewegt sich im Spannungsfeld von Musik, O-Ton-Collage, Hörspiel und elektronischer Klangmanipulation. Die Komposition für zwei Chöre des Klangkünstlers Herbert Matthew ist als Auftragsarbeit für das Deutschlandradio anlässlich des 25. Jahrestags der Wiedervereinigung von Ost- und Westdeutschland entstanden.47 Das Thema der Vereinigung von Ost und West ist nicht nur Bestandteil des semantischen Inhalts des Stückes, sondern zieht sich durch organisatorische, produktionstechnische und rezeptionsästhetische Aspekte des gesamten Werks: Die beauftragende Rundfunkanstalt, das Deutschlandradio, ist nach der Wiedervereinigung aus den westdeutschen Sendern Deutschlandfunk und RIAS sowie aus dem Deutschlandsender Kultur, dem kurzzeitigen Nachfolger des DDR-Rundfunks, entstanden.48 Die beiden Chöre sind der RIAS Kammerchor sowie der Rundfunkchor Berlin – beide jeweils Gründungen der Westberliner bzw. ostdeutschen Rundfunkanstalt. Der Aufnahme­ ort war die Berliner Versöhnungskapelle, ein symbolträchtiges Bauwerk, das auf den Fundamenten der wenige Jahre vor der Wende gesprengten Versöhnungskirche gebaut wurde. Die Versöhnungskirche hatte sich mitten im Todesstreifen befunden und war daher seit dem Mauerbau ein Symbol für die Teilung Deutschlands mitsamt ihren absurden Konsequenzen für die Berliner Bevölkerung gewesen. The Unknown kombiniert Choraufnahmen durch Montage- und Col­lage­ techniken mit O-Tönen, die am Tag vor der Wiedervereinigung, dem 2. Oktober 1990, auf beiden Seiten Deutschlands im Radio liefen. Und: Herbert hat die Produktion in zwei Teilen erstellt, die zeitgleich auf zwei Sendern ausgestrahlt werden sollten und ineinandergreifend erst gemeinsam ein Ganzes ergeben würden. Die beiden Teile wurden am 2. Oktober 2015 um 0.05 Uhr in den beiden Radioprogrammen des Deutschlandradios, nämlich Deutschland­ funk und Deutschlandradio Kultur gesendet. Wer zwei Radios zuhause anschaltete und auf die jeweiligen Sender einstellte, konnte, wie es in der Ankün-

47  48 

Vgl. die Pressemeldung zur Sendung: N.N.: Ursendung – The Unknown 2015. Vgl. Diller 1999, S. 978.

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digung heißt, »die Wiedervereinigung radiophon im eigenen Wohnzimmer nachvollziehen«.49 Mit diesem Radiostück, das die Grenzen des ästhetischen Raums sprengt, schließt Herbert an die musikalische Praxis der Mehrchörigkeit in der Renaissance an. Die Gliederung in zwei ineinandergreifende Räume reiht sich in die Semantik der gesamten Produktion ein, die auf allen Ebenen »Vereinigung« zum Thema hat. Herbert schließt aber auch an früheste Versuchssendungen zur Stereofonie an, die ebenfalls über zwei verschiedene Sender ausgestrahlt und entsprechend über zwei einzelne Radioapparate zu empfangen waren. Doch mit diesem Raum-Trick geht es bei The Unknown nicht um eine besondere Qualität räumlichen Hörens im Radio, nicht um Surround-Sound-Effekte. Die ›Mehrchörigkeit‹ stellt sich uns dagegen als sehr sinnfälliges Symbol dar. Die materielle Trennung beider Radiogeräte, die raumhafte Vermischung beider Programme, das perfekte Ineinandergreifen – die Disposition des Stücks macht die Geste der Wiedervereinigung ›ohrenfällig‹ und leicht nachzuvollziehen. Das akustische Ergebnis, das bei Hörern entstehen kann, besitzt eine Räumlichkeit, die wie in den vorhergehenden Beispielen mit einer völlig anderen Bedeutung aufgeladen ist als die Abbildung eines realen räumlichen Settings: Zusammen mit den O-Tönen und gesungenen Texten steht die Raumdisposition für zwei politische Systeme, zwei Länder und zwei Völker, und vor allem für eine Geste, in der die getrennten Länder wie die beiden ästhetischen Räume des Radios zusammengeführt werden. Doch Matthew Herberts Arbeit setzt sich von anderen Beispielen dadurch ab, dass ihr ästhetischer Raum über den stereofonen Standard des Radios hinausgeht. The Unknown findet nicht mehr allein im Radio statt, sondern in der Interaktion mehrerer Radiosignale im Raum. Die Wiedergabesituation gewinnt dadurch an Bedeutung. Nicht nur, dass sie sich dem stereofonen Standard entzieht, einem Standard, der es Radiopraktikern allzu leicht macht, reale Wiedergabesituationen der Hörer außer Acht zu lassen; viel mehr als in herkömmlichen Konstellationen wird das Klangergebnis durch den Raum beeinflusst, in dem sich die Radioapparate befinden, und durch die räumlichen Verhältnisse, in denen sie zueinander aufgestellt sind. Doch vielleicht ist die tatsächliche räumlich-akustische Präsentation überhaupt nicht das Entschei-

49 

N.N.: Ursendung – The Unknown 2015. Neben der ursprünglichen zweiteiligen ­ assung existiert auch eine kombinierte Stereofassung, die am 23. Oktober desselben F Jahres im Bayerischen Rundfunk ausgestrahlt wurde.

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dende. Vielleicht tritt die Symbolik des Stücks so weit in den Vordergrund, dass es auf die klanglich-materielle Manifestation im Wiedergaberaum gar nicht mehr so sehr ankommt. Die Ankündigung zur Sendung gibt jedenfalls keine Anweisungen dazu, wie Hörer die beiden Radiogeräte zuhause aufstellen und positionieren sollen; es scheint mehr auf die Idee als auf die Wahrnehmung von Raum anzukommen.

7.3 Rhetorik des Nachhalls: Vom Raumeffekt zum Soundeffekt Nachhall als autonomes Klangobjekt

Der Raum als Metapher: Der hier recht weit verwendete Begriff Metapher bezeichnet die Verwendung von Raumparametern, die etwas anderes zum Ausdruck bringen sollen als Raum. In den vorhergehenden Beispielen waren das Zeitebenen, Bewusstseinsströme, Länder oder politische Systeme. Als weiter Begriff kann Metapher auch unterschiedliche rhetorische Figuren umfassen, die alle für verschiedene Formen der Bedeutungsverschiebung stehen. Anhand des Raumparameters Nachhall stelle ich nun solche Bedeutungsverschiebungen vor, die im Radio allgegenwärtig sind. Denn auch für Nachhall gilt: Verweist er ursprünglich auf das Vorhandensein eines Raums, übernimmt er im Kontext von Design andere Funktionen und Bedeutungen. Nachhall, den die Ingenieure der ersten Rundfunkstudios nach Möglichkeit verbannen wollten, der später zum Wesensmerkmal von ›guten‹ Aufnahmesälen für hochwertige Musikübertragungen avancierte,50 der schließlich auch zum Garant für Authentizität von Reportagen und O-Tönen wurde, dieser Nachhall erlebt schließlich auch eine Karriere ganz anderer Art: Er wird von Produzenten gezielt eingesetzt und entwickelt dadurch ein rhetorisches Potential. Menschen lieben Nachhall; Menschen lieben es, wie Nachhall die akustische Welt weicher macht, wie eine warme Badewanne oder ein Federbett. Das hat die Musikwissenschaftlerin Rebecca Leydon beschrieben.51 Begin-

50  51 

Vgl. Kapitel 3. Vgl. Leydon 2001.

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nend mit der Einführung des Haltepedals am Klavier 1783, das der ­Broadwood ­Piano Company of London einen wirtschaftlichen Höhenflug bescherte, sieht sie ein die gesamte Musikgeschichte durchziehendes Bedürfnis nach weichem Klang, »soft-focus sound«, den sie nicht nur, aber auch über seine schwammige Räumlichkeit und großen Hallanteil bestimmt.52 Leydon erklärt dieses Bedürfnis zum einen mit seiner immersiven Qualität, die die Sehnsucht nach frühkindlicher oder gar fötaler Geborgenheit wecke. Zum anderen verweise Nachhall auf die eigene Erfahrung mit besonders widerhallenden Raumsitua­ tionen, in denen schon leise Töne den ganzen Raum zu schwingen zu bringen könnten: »The vicarious omnipotence that reverberant sound induces in listening subjects is easily mapped onto fantasies of plenitude, abundance, and fecundity.«53 Als Ausdruck dieses Bedürfnisses analysiert Leydon die »pop string orchestras« der 1950er-Jahre, allen voran das populäre Orchester von Annunzio Mantovani. Zugleich weist sie nach, dass die Verwendung von künstlich zugesetztem Nachhall gerade in diesem Genre in zeitgenössischen Debatten als »amateurish and effeminate« diskreditiert und mit Romantizismus und Weiblichkeit in Verbindung gebracht wurde. Audiophiler Realismus im Sinne von high fidelity dagegen entsprang in diesem Verständnis einer mit männlicher Expertise konnotierten Präzision. So stößt Nachhall in der Musik auch auf Kritik. Das Bedürfnis nach Nachhall ebenso wie seine Ablehnung offenbaren eine Auffassung von Nachhall als Klangeffekt oder »special effect«54. Das ist insofern bemerkenswert, als Nachhall in natürlichen Umgebungen ein völlig anderer Status zukommt – da ist er nämlich in doppelter Hinsicht gebunden. Zum einen ist Nachhall an einen vorgängigen Klang gefesselt, der ihn erst auslösen muss. Wo kein Geräusch ist, kann auch kein Nachhall sein. Zum anderen benötigt er auch den Raum, in dem er sich entfalten kann. Zwischen diesem Verständnis von Nachhall als einem gebundenen, natürlichen, physikalisch-akustischen Phänomen einerseits und seiner gezielten Verwendung als Klangeffekt zur Emotionalisierung von Musik andererseits liegt eine Re-

52 

Leydon 2001, S. 96ff. Weitere Faktoren für »soft-focus sound« sieht sie in einem sanften Lautstärkeverlauf, in unscharfen Zeitverläufen sowie in typischen Klangfarben (vgl. S. 98). Die ersten beiden Faktoren können dabei durchaus mit einem hohen Hall­ anteil zusammenhängen. 53  Leydon 2001, S. 104. 54  Théberge 2004, S. 766.

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konzeptualisierung. Die Befreiung vom Raum ermöglicht erst die steile Karriere des Nachhalls als autonomes Klangobjekt, als special effect. Ein Blick in Entwicklungsgeschichte dieses Klangeffekts zeigt, dass Nachhall gezielt eingesetzt wird, um die Botschaften des Radios zu gestalten. Nachhall übernimmt in der Radiokommunikation nun rhetorische Aufgaben, und der Blick der Produzenten ist weniger auf eine vorausgehende Aufführungssituation als viel mehr auf die Rezeptionsbedürfnisse des Publikums gerichtet. Die Emotionalisierung durch Nachhall im Fall von Mantovanis Orchester ist ein Beispiel dafür: Der Nachhall verweist nicht auf einen realen oder imaginären Handlungsraum des Musizierens, sondern auf einen psychologisch verankerten Erlebensort beim Hören. Die Debatten rings um die Bewertung der Praxis des überzogenen Verhallens von Musik zeigen zudem, dass Nachhall auch auf echte oder projizierte Identitäten im sozialen Raum hinweist: Sein Einsatz lässt sich somit auch als zielgruppenorientierte Produktionsweise verstehen – oder, wie eine neo-aristotelische Rhetorik es ausdrücken würde: als Adressatenkalkül.55 Voraussetzung für diese Karriere war nicht nur die Loslösung des Nachhalls von der Stimme auf der materiellen Ebene des Akustischen durch schallgedämmte Aufnahmeräume, sondern auch die Trennung von Nachhall und Raum auf einer klangkonzeptuellen Ebene, wie Wicke sagen würde: Bislang gleichermaßen Funktion des Raums und indexikalisches Zeichen für Raum, musste der Nachhall diese enge Kopplung ablegen, um zu einem Klangobjekt zu werden, das in den Händen von Toningenieuren und Produzentinnen sein gestalterisches Potential entfalten konnte. Diese Abkopplung ist ein Prozess, der nicht mit den ersten schallgedämmten Aufnahmeräumen beginnt, sondern zum Zeitpunkt des Entstehens des Rundfunks bereits längst im Gange ist. Ästhetik der Effizienz

Die Historikerin Emily Thompson diagnostiziert diesen Prozess in verschiedenen Bereichen akustischen Handelns während des gesamten ersten D ­ rittels des 20. Jahrhunderts: im Hörfunk, in der Musikproduktion, der Filmproduktion, im Konzertbetrieb, aber auch in der Bauakustik, der Architektur, der Raumakustik und nicht zuletzt auch in der philosophischen und der natur-

55 

Vgl. Knape 2000, S. 55f.

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wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Raum.56 Sie sieht einen breiten gesellschaftlichen Wandel, eine grundlegende Veränderung im Klangempfinden während dieser Zeit, die Entstehung eines neuen klangästhetischen Ideals, das sie Soundscape of Modernity nennt – so auch der Titel ihrer Monografie. Die Schalldämmung von Rundfunkstudios mit der trockenen Akustik und ihren Auswirkungen auf Stimme und Sprechen ist nur eines von vielen Symptomen, die auf die Veränderungen hinweisen. Auch Kino- und Konzertsäle legen neue raumakustische Paradigmen an den Tag, und eine regelrechte Explo­sion des Marktes für akustisch wirksame Baustoffe – Dämmelemente aus Gips, Mineralwolle, Vulkangestein, Flachs, Zellstoff, Zuckerrohrfasern, Tierhaaren oder Asbest – führen gar zu zunehmend schallgedämmten Bürogebäuden und Wohnräumen.57 Eine Soundscape of Modernity entsteht, die von einem trockenen, raumlosen Sound geprägt ist.58 Schon die frühe Klangerfahrung mit dem Telefon habe zu dieser Entwicklung beigetragen: das Mikrofon in unmittelbarer Nähe zum Mund des Sprechenden, auf der anderen Seite der Leitung der Hörer direkt am Ohr des Hörenden. »It was as if the telephonic conversants were speaking directly and intimately into each others’ ears, oblivious to not only the distance between them, but also the space around them.«59 Das ›Moderne‹ an der neuen Soundscape identifiziert Thompson in drei Aspek­ten: Neben der Tatsache, dass der neue Sound sich als Ware vermarkten lässt und einem ganzen Industriezweig Auftrieb gab, drückt sich in ihm die Überlegenheit des Menschen über die physikalischen Gesetze der Welt aus – der Mensch hat es geschafft, den Zusammenhang zwischen Raum, Zeit und Schall aufzubrechen und zu überwinden. Schließlich materialisiert sich im neuen Sound das Moment der Effizienz, ein für die Moderne ganz zentrales Konzept. Zugespitzt formuliert: Alles, was den reibungslosen Ablauf von Maschinen und Systemen behindert, ist ein Störfaktor. Nachhall wird betrach-

56 

Vgl. Thompson 2004. Thompson bezieht sich auf die USA. Zur Auseinander­setzung mit dem Problem der Ver- und Enträumlichung im parallel zum Radio entstehenden ­Tonfilm vgl. auch Altman 1992a. 57  Vgl. Thompson 2004, S. 169ff. 58  Thompson 2004, S. 1, verwendet den Begriff Soundscape anders, als R. ­Murray Schafer ihn geprägt hat. Soundscape ist für Thompson nicht nur die akustische ­Manifestation auditiver Phänomene, sondern schließt im Anschluss an Alain Corbin die Gesamtheit akustischen Handelns mit ein. 59  Thompson 2004, S. 235. Auch heute erscheint ein deutlicher Raumton im Telefonhörer, wie er beispielsweise bei der Verwendung von Freisprecheinrichtungen entsteht, schnell als Störfaktor in der telefonischen Kommunikation.

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tet als »just another kind of noise, unneccessary and best eliminated«,60 und die klangliche Differenz zwischen Rauschen, noise, und dem Nachhall gerade von gesprochener Sprache ist oft überhaupt nicht groß. Das nützliche Segment des Schalls ist allein der Direktschall, die Raumsignatur ist überflüssig und unerwünscht. Der Raum als Medium zwischen Sprechen und Hören schreibt sich als Störung, als bruit parasite, in das Signal ein – so könnte man im Sinne einer mathematischen Medientheorie formulieren,61 und die Minimierung dieses Störfaktors ist aus ökonomischer Sicht eine Steigerung der Effizienz. Zugleich zieht die Eliminierung des Nachhalls eine eigene Ästhetik nach sich, die Thompson »aesthetic of efficiency« nennt.62 In dieser Ästhetik, die sich unter dem Label Neue Sachlichkeit auch in anderen Künsten wie der Literatur und der Architektur Ausdruck verschafft,63 hat Nachhall keinen Platz. Der moderne, klare und direkte Klang der Stimme – auch der Radio­ stimme – gibt keinerlei Rückschlüsse mehr auf die räumliche Umgebung, in der er entsteht; ja die modernen Räume haben überhaupt keinen eigenen Klang­charakter mehr, sie klingen alle gleich. Ironischerweise begründet gerade diese akustische Vereinheitlichung wiederum eine Motivation für modernes Radio-­Sounddesign, dessen wesentliche Aufgabe oft darin gesehen wird, das einzelne Radioprogramm akustisch identifizierbar und unverwechselbar gegenüber den konkurrierenden Angeboten zu machen.64 Vom Hallraum zum Reverb-Plugin

Auch wenn es zunächst so aussieht: Nachhall verliert trotz des neuen und trockenen Sounds keineswegs an Bedeutung – im Gegenteil. Die Befreiung des Raums vom Nachhall wird nämlich begleitet von der Befreiung des Nachhalls vom Raum. In der Soundscape of Modernity lassen sich Stimme und Nachhall als zwei unabhängige Klangobjekte verstehen. An dieser Stelle beginnt die steile Karriere des Nachhalls als Klangeffekt: Nachhall kann nun ein Eigen­

60 

Thompson 2004, S. 3; vgl. auch S. 233f. Thompson weist zudem auf den um die Jahrhundertwende gängigen Vergleich von noise mit Rauch hin, ebenfalls ein Zeichen mangelnder Effizienz (S. 122f.). 61  Vgl. Shannon/Weaver 1999 [1964]; Serres 1981. 62  Thompson 2004, S. 3. 63  Vgl. Koch/Glaser 2005, S. 45ff. 64  Vgl. Patka 2017.

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leben entwickeln, und zwar als Gestaltungselement der ästhetischen Medien­ produktion. Der Medienwissenschaftler Axel Volmar konstatiert: 230

Der Einsatz von akustischem Nachhall folgt damit einer Entwicklung, die generell für die Audiomedienkultur des 20. Jahrhunderts charakteristisch ist: Im Windschatten der medientechnischen Anstrengungen, eine möglichst störungsfreie akustische Kommunikation zu gewährleisten, bildeten sich Experimentalkulturen heraus, deren Hauptziel in der Schaffung neuer ästhetischer Phänomene bestand.65

Bereits gegen Ende der 1920er-Jahre entstehen mit sogenannten Hall- oder Echoräumen die ersten Techniken des ›Verhallens‹.66 Eine detaillierte Beschreibung der Technologie findet sich in Deutschland bereits im Rundfunk-­ Jahrbuch der RGG von 1930.67 Hallräume sind akustisch gesehen das Gegenteil von schallgedämmten Aufnahmeräumen; völlig unmöbliert, mit kahlen Wänden, klingen Stimmen darin extrem räumlich. Hallräume werden nicht direkt als Aufnahmeräume verwendet, sondern es werden Stimmen über eine elektrische Leitung und einen Lautsprecher – oder, wie eine Darstellung der NBC von 1934 nahelegt, über einen akustischen »Sound Tunnel«68 – in den Raum eingespielt, und ein Mikrofon nimmt den Raumklang dort dann auf. Über das Lautstärkeverhältnis zwischen Stimme und ›Nachhallsignal‹ aus dem Hallraum lässt sich dann regeln, wie räumlich die Stimme klingen soll. Die konzeptuelle Trennung von raumloser Stimme und ihrem Nachhall drückt sich auch in der Architektur des Studiokomplexes aus, in der Separierung vom schallgedämmten Aufnahmeraum und seinem Komplement, dem Hallraum. Der dritte Raum schließlich, der Regieraum oder auch Kontrollraum, ist der Ort, an dem beide Signale kontrolliert und unter ästhetischen Gesichtspunkten wieder zusammengeführt werden. Auf die Anwendung im Rundfunk bezogen, sieht Noel Ashbridge den Nutzen des künstlichen Verhallens vor allem im Hörspiel: »It is possible even to imitate the acoustics of a church or a large empty hall by using a large amount

65 

Volmar 2010, S. 174. Zeitgenössische Berichte verwenden auch den Begriff Echokammer oder echo chamber – ein Begriff, der in den letzten Jahren in den Sozial- und Kommunikations­ wissenschaften zunehmend als Metapher für in sich geschlossene Informations- und Ideen­räume eingesetzt wird und den ich deswegen zugunsten des gleichermaßen ­etablierten Begriffs Hallraum vermeide. 67  Vgl. Lubszynski 1930, S. 252f. Vgl. auch Ashbridge 1931, S. 506. 68  Vgl. Thompson 2004, S. 282. 66 

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of artificial reverberation, a possibility which is often made use of in connection with dramatic productions.«69 Nachhall ist hier ein Effekt mit dramatischer und narrativer Wirkung; wo es auf ein natürliches Raumempfinden ankommt, wie bei der Übertragung von Musik, zieht Ashbridge den natürlichen Charakter eines guten Aufnahmeraums vor. Gerade in der Musikproduktion wurden Hallräume ab Mitte der 1930er-­ Jahre sehr gebräuchlich und gewannen von da an über die kommenden Jahrzehnte hinweg zunehmend an Bedeutung – so sehr, dass Hallräume nicht nur zu zentralen Einrichtungen von Produktionsstudios, sondern ihr Sound gar zu den akustischen Markenzeichen der Studios und Labels wurden.70 Théberge berichtet, dass das New Yorker Label RCA Victor einen seiner Aufnahmeräume ab 1940 exklusiv in einen Hallraum umwandelte – ein Hinweis darauf, welchen Stellenwert Hallräume für die Musikproduktion da bereits erreicht hatten.71 Ab Ende der 1950er-Jahre tauchten dann mechanische Hallgeräte auf, die die Funktionalität des Hallraums in eine handliche Kiste packten: zunächst sogenannte Hallfedern, dann Hallfolien und Hallplatten. In allen drei Typen befand sich ein schwingendes Bauteil, das durch einen elektroakustischen Wandler angeregt wurde – statt Luft schwangen nun Federn, Metallfolien und Blechplatten. Die Schwingungen wurden dann über einen Empfänger am anderen Ende wieder abgegriffen und in elektrische Tonsignale gewandelt.72 In diesen Kisten fand die Loslösung des Nachhalls vom Raum seinen deutlichsten Ausdruck, konnte akustischer Raum hier doch zum ersten Mal völlig ohne einen architektonischen Raum erzeugt werden. Diese Hallgeräte waren zwar verhältnismäßig günstig und bildeten gerade für diejenigen Studios eine Alternative, die über keinen eigenen Hallraum verfügten. Im Hinblick auf einen ›natürlichen‹ Raumklang waren sie allerdings ein Rückschritt. Doch der Erfolg der teils legendären Geräte in der Musik­

69 

Ashbridge 1931, S. 506. Ashbridge geht allerdings nicht darauf ein, dass das Mischungs­verhältnis zwischen dem direkten Signal und dem Hallanteil selbst noch nicht den Klangcharakter des Nachhalls beeinflussen kann. Der Nachhall einer großen Kathedrale klingt auch noch nach Kathedrale, wenn er nur leise zu hören ist. 70  Vgl. Théberge 2004, S. 765. Vgl. auch Wicke 2008, S. 10. 71  Vgl. Théberge 2004, S. 765. Andere Studios verwendeten Treppenhäuser, Toiletten oder Kellerräume. Wicke 2008, S. 10, berichtet, dass Phil Ramone bis in die 1990er-Jahre das Treppenhaus eines ehemaligen Studiokomplexes des Columbia Broadcasting Systems CBS als Hallraum nutzte. 72  Vgl. Dickreiter 1997, S. 386ff.

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produktion lässt vermuten, dass es hier eben nicht um eine möglichst naturnahe Reproduktion von räumlichen Verhältnissen geht, sondern um eine Ästhetisierung der Musik durch Raumeffekte. Wie stilbildend die mechanischen Hallgeräte waren, zeigt sich mit der Entwicklung von digitalen Hallprozessoren in den 1970er-Jahren. Hier wird selbst die Zwei- und Eindimensionalität mechanischer Nachhallerzeugung73 abgelöst von einer ›nulldimensionalen‹74 Berechnung digitaler Zahlenwerte, mit der Nachhall als Addition unzähliger einzelner Echos des ursprünglichen ­Signals mathematisch modelliert wird. In diesen Prozessoren stecken eine Vielzahl von ›Presets‹,75 die ebenso viele unterschiedliche Raumeindrücke schaffen können. Und diese Presets synthetisieren nicht nur natürliche und architektonische Räume – Chamber, Hall, Cave –, sondern sie emulieren in ihren Prozessoren auch die mechanischen Effektgeräte vergangener J­ ahrzehnte, denen ein Retro-Charme zugesprochen wird: Plate, Spring, ’63 Spring.76 »Digital reverb thus introduced a kind of ›second-order simulation‹ – an artificial device simulating the effect of a previous artificial device – into recording aesthetic.«77 Der Retro-Nachhall, den ein digitales Hallgerät erzeugt, verweist womöglich eher auf eine bestimmte verflossene Zeit als auf den Raum an sich. Heute stecken diese digitalen Algorithmen auch als Plugins in den computerbasierten Produktionssystemen und sind aus dem Produktionsalltag auditiver und audiovisueller Medien nicht mehr wegzudenken. An dieser second-order simulation lässt sich die Loslösung des Nachhalls von natürlichen Räumen gut ablesen: Künstlich erzeugter Nachhall muss überhaupt nicht auf architektonische Räume, sondern kann auch auf Geräte und deren typischen Sound verweisen, auf Zeiträume, Stilrichtungen und Moden. Zudem bieten digitale Hallgeräte Raumcharakteristiken an, die in realen Räu73  In Hallplatten und -folien entfaltet sich die mechanische Schwingungen in einer Fläche, in der Hallfeder nur noch entlang eines gewundenen Drahtes. 74  Vgl. Flusser 1993. 75  Presets, die herstellerseitig voreingestellten Konfigurationen von immer komplexer werdenden Effektgeräten, haben einen kaum zu überschätzenden Einfluss auf den Sound auditiver Medienprodukte. Es sind zunehmend die Gerätehersteller oder -programmierer, die den Sound eines Genres, einer Zeit oder eines Stiles d ­ efinieren. Eine kulturwissenschaftliche Analyse dieser Konstellation steht noch aus. Eine erste ­Beschreibung des Phänomens stammt von Goldmann 2015. 76  Vgl. Volmar 2010, S. 154f. Die genannten Bezeichnungen der Presets stammen von dem Gerät Reverb Machine RV600 des Herstellers Behringer, das bei Volmar auf S. 154 ­abgebildet ist. 77  Théberge 2004, S. 767.

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men überhaupt nicht denkbar wären, artifizielle Raumklänge, die in der Natur überhaupt nicht existieren könnten und den physikalischen Gesetzen der Akustik widersprechen. Ansatz zu einer Rhetorik des Nachhalls

In der neuen Freiheit des Nachhalls liegt ein immenses kommunikatives Potential, das ich im Folgenden als Ansatz zu einer Rhetorik des Nachhalls umreißen möchte. Ein produktionsästhetischer Blickwinkel auf Radio als Kommunikationsform wirft die Frage auf, wie die Botschaften des Radios von seinen Praktikern gestaltet werden – eine klassische Frage der Rhetorik. Bereits die aristotelische Rhetorik des antiken Griechenlands, auf die sich auch heute noch viele Rhetorikexperten beziehen, ist multimodal aufgestellt. Sie fragt also nicht nur nach Worten und Formulierungen, sondern auch nach den verschiedenen Mitteln des Ausdrucks: von der Stimme über Gestik und Mimik bis hin zur Bewegung im Raum.78 Eine auditive Rhetorik des Radios müsste entsprechend danach fragen, wie Radiopraktiker – nicht nur Radio­sprecher – auditive Zeichen einsetzen, um ihre Kommunikationsabsichten zu erreichen. Sie müsste über die Verwendung der Sprache hinausreichen und vor allem darauf blicken, wie die dem Radio eigenen Techniken, die Götz ­Schmedes mit Blick auf das Hörspiel offengelegt hat,79 zum Einsatz kommen. ­R adio als Kommunikat ist nicht allein ein Produkt des Sprechens und von Sprechern, sondern von Architekten über Ingenieure bis hin zu Journalisten und Designern sind alle an der Gestaltung der Botschaften beteiligt.80 An dieser Stelle kann eine radiofone Rhetorik nur anhand einzelner Beispiel und nur im Hinblick auf die Funktion von Nachhall angedeutet werden.81 Wolfgang Hagen berichtet, wie in den 1950er-Jahren in US-amerikanischen Radiosendern ein »Shadder-Sound« in Mode kam, ein Raumeffekt, der die Stimme des Moderators größer klingen lassen sollte.82 Überhaupt habe man in dieser Zeit Echo- und Hallgeräte auf das gesamte Radioprogramm

78 

Vgl. Fuhrmann 1995, S. 79f. Vgl. Schmedes 2002. Vgl. auch Huwiler 2005. 80  Vgl. dazu auch Knape 2000, S. 92. 81  Zu einem ersten ausführlichen Ansatz radiofoner Rhetorik siehe Bose/Föllmer 2015. 82  Hagen 2005, S. 328. 79 

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angewendet, »um der Station einen ›großen‹ Sound zu geben«.83 Dieses Unterfangen sollte nicht dazu dienen, den Hörern eine bestimmte Kommunikationssituation vorzugaukeln, sondern die Räumlichkeit stand für eine Botschaft, die auf akustischem Wege mit dem eigentlichen Text des Sprechers mitgeliefert werden sollte: Die Größe des Raums sollte den Stellenwert, die Relevanz, vielleicht auch die Marktposition des Senders unterstreichen. Wer mit seiner Stimme einen so großen Raum zum Schwingen bringt, muss mit einer Fülle von Macht ausgestattet sein und sich in einer machtvollen Posi­tion befinden – das Verhältnis der akustischen Gestalt zur Wirklichkeit ist ein metonymisches, das verbindende Element der Faktor Macht oder Größe.84 Doch so wie die nahe, raumlose Stimme eine intime Kommunikationssituation erzeugt, so vergrößerte der hallige »Shadder-Sound« die Distanz zwischen Moderator und Publikum – ein Effekt, der wohl nicht beabsichtigt war. Er mag dafür verantwortlich sein, dass sich diese Ästhetik des frühen amerikanischen Formatradios langfristig nicht durchsetzen konnte. So ähnlich wie der Shadder-Sound werden Nachhall, Echo oder andere Raumeffekte auch heute in aufwendigeren Formen wie dem Trailer oder Werbespot gezielt eingesetzt, um einzelne Worte oder Phrasen zu betonen. Der Effekt besteht auch hier nicht in der Konstruktion einer ganz bestimmten Räumlichkeit, sondern darin, schlicht anders zu klingen und einzelne Informationen hervorstechen zu lassen. Der Trailer zu einem Spiel der Basketball-Bundesliga, der am 2. Januar 2014 im Berliner Sender Radio Eins lief, zeigt dieses Vorgehen. Der Anfang des Textes ist sehr rhythmisch gesprochen und mit einem deutlichen Raumeffekt, mit Nachhall und mehreren Echos versehen: »Freitag – dritter Januar – zwanzig Uhr – O2-World«.85 Zwar erinnert der Raumeffekt in mimetischer Weise an den Klang in einer großen Sport­ arena und stellt so eine semantische Verbindung zur Botschaft her. Vor allem aber stellt er die wichtigsten Daten akustisch heraus. In abgeschwächter Form

83 

Hagen 2005, S. 328. Großer Nachhall, verwendet als Metonymie für Größe und Macht, wird auch von Arnheim 2001 [1936], S. 66f., als eine der Einsatzmöglichkeiten des Hallraums beschrieben. 85  Der gesamte Text lautet: »Freitag – dritter Januar – zwanzig Uhr – O2-World. Die Basketball-Bundesliga. Alba Berlin gegen die EWE Baskets Oldenburg. Gibt es im ­ersten Spiel des neuen Jahres den nächsten Heimsieg für die Albatrosse? Alba Berlin ­gegen die EWE Baskets Oldenburg. Am Freitag, den dritten Januar, um zwanzig Uhr in der O2 World. Mehr Infos unter radio1.de. Radio 1. Für alle, die mit Leib und Seele Basketball-­Fans sind. Und natürlich nur für Erwachsene.« 84 

Design

taucht der Effekt später noch einmal auf, und zwar nur auf dem Namen »Alba Berlin«. Der Sprecher fährt ohne Unterbrechung fort mit »gegen die EWE Baskets Oldenburg«, doch das ohne den Raumeffekt. Die Betonung hebt nur den Namen der Heimmannschaft hervor, nicht den der Gegner. Durch den gezielten Wechsel zwischen der verräumlichten und der raumlosen Stimme ist klar, dass hier keine Illusion natürlicher Räumlichkeit erzeugt werden soll, der Raum­effekt wird ausschließlich als klangliche Finesse eingesetzt. Nachhall wird zum Träger der Emphase. Diese beiden Beispiele legen einen Umgang mit Nachhall dar, der darauf abzielt, Botschaften zu gestalten, Botschaften, die nichts mit dem Evozieren von Raumsituationen zu tun haben. Er wird stattdessen als rhetorisches Stilmittel eingesetzt. Auch wenn Nachhall effektiv ein Raumphänomen darstellt und als solches wahrgenommen wird, findet er hier in völlig anderem Sinne Anwendung. Der künstliche Einsatz von Nachhall unterscheidet sich denn auch in einem wichtigen Punkt von natürlichen Situationen, in denen Nachhall als Funktion der Entfernung erscheint: Die kontrollierte Beimischung von Nachhall kann den Höreindruck von zunehmender Distanz vermeiden. Das Entfernungshören in natürlichen Situationen verlässt sich nicht allein auf den Nachhall, wie ich in Kapitel 2.2 dargestellt habe. Es kommen weitere Faktoren dazu, zum Beispiel werden Klänge mit größerem Abstand dumpfer und leiser. So wie Produzenten künstlichen Nachhall einsetzen, als Klangeffekt, und dabei diese Faktoren übergehen, erscheinen die Stimmen gar nicht unbedingt weiter entfernt. Ich fasse die rhetorischen Funktionen, die ich hier im Zusammenhang mit der Verwendung künstlichen Nachhalls angesprochen habe, noch einmal zusammen: Ein mimetischer Einsatz von Nachhall ruft tatsächlich räumlich-akustische Situation auf, gerade dann, wenn diese Situationen klar als künstlich erzeugte zu erkennen sind – im Fall des Stadion-ähnlichen Nachhalls im Basketball-Trailer ist das der Fall. Zusätzlich übernimmt der Hall die Funktion der Emphase: Er legt eine Betonung auf einzelne Wörter, allein durch den Unterschied zum Kontext, in dem der Nachhall nicht zu hören ist. Im Beispiel des ›Shadder‹-Sounds schließlich finden wir die rhetorische Figur der Metonymie: Der Nachhall steht für eine sinnverwandte Bedeutung; die Größe des Raumes, der mit dem Nachhall angedeutet wird, überträgt sich auf die Bedeutung der Stimme sowie des gesamten Radiosenders. In diesen Beispielen zeigt sich Nachhall mit seinem rhetorischen Poten­ tial. Radiosender nutzen mit ihm einen akustischen Raumparameter, um dem ­Gesagten ganz andere Bedeutungen beizugeben – in ganz ähnlicher Weise,

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236

wie sich die Dimensionen des stereofonen Raums als semiotisches System ­verwenden lassen, das nicht mehr von der Bedeutungsdimension des Raums blockiert ist. Der ästhetische Raum des Radios kommt in diesen Fällen als Metapher zum Einsatz. Die Produktionsweise, die ich hier mit Design bezeichnet habe, hat sich frei gemacht von der Bindung des ästhetischen Raums an einen wie auch immer gearteten realen akustischen Raum.

8 Fazit Ästhetik des Radios als Ästhetik des Raums

Radio zu machen ist eine Gemeinschaftsaufgabe. An der Herstellung von ­R adio sind viele Menschen beteiligt, und sie alle nehmen Einfluss darauf, wie Radio klingt; sie alle sind Produzenten von Ästhetik. Doch mehr als das: Alle, die am Radio beteiligt sind, gestalten zugleich Raum. Die gemeinschaftliche Radioproduktion ist Raumgestaltung. Diese Annahme konnte ich dadurch belegen, dass ich sechs Aspekte beleuchtet habe, die im weitesten Sinne Bausteine im Prozess der Radioproduktion darstellen. In all diesen sechs Bereichen arbeiten Radiopraktiker, die ihren Teil dazu beitragen, Radio als Raum zu gestalten – einen Raum den man auch als Raum hören kann. Ich habe dabei zwei Ebenen ausmachen können, auf denen Produzenten in dieser Hinsicht agieren. Auf der einen Ebene verorten sie all die Stimmen und Geräusche, die im Radio zu hören sein sollen, und geben ihnen Positionen zwischen links und rechts, zwischen nah und fern. Um diese Ebene zu beleuchten, habe ich das Konzept des ästhetischen Raums entwickelt: das Konzept eines Raumes, der nicht materiell greifbar ist, aber konkret hörbar, und zwar über die Techniken des räumlichen Hörens, die unser Gehör besitzt. Der ästhetische Raum stellt die Raumdimension all dessen dar, was über das ­R adio übertragen werden kann. Und in diesem ästhetischen Raum wiederum bauen Produzenten räumliche Strukturen auf, die ich als akustische Topolo­gien bezeichnet habe. Als eine typische akustische Topologie hat sich die Kombination aus einer Atmo im Hintergrund – einer Geräuschkulisse – und der nahen, raumlosen Stimme als Vordergrund erwiesen. Diese Topologie taucht

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in unterschiedlichen Varianten und Ausprägungen auf – so zum Beispiel in der journalistischen Darstellungsform der gebauten Reportage oder in der Standardsituation des ›Alltagsradios‹, in der Moderatoren ihre Stimmen mit Hinter­grundmusik aufpeppen. Diese akustische Topologie greift zudem auf das in vielen Kulturkreisen etablierte Schema von Figur und Grund zurück. Auf dieser Ebene der Raumgestaltung findet die konkrete Produktion von Radiobeiträgen unterschiedlichster Gattung statt. Die Produzenten in den Produktionsstudios sind die eigentlichen Gestalter des ästhetischen Raums. Sie wenden dabei unterschiedliche Techniken an, von der einfachen Reportagesituation mit einem einzigen Mikrofon, das live auf Sender geht, bis hin zu komplexen Dekonstruktions- und Rekonstruktionspraktiken, mit denen beispielsweise Featureautoren ihre Klangkunstwerke an digitalen Schnittsystemen komponieren. Die Produktionstechniken unterscheiden sich vor allem im Wirklichkeitsbezug, den sie realisieren: Inwieweit sind die Reportagen, Beiträge, Features, die Radioproduzenten herstellen und senden, Abbilder real existierender Raumstrukturen, inwieweit rekonstruieren sie diese mit technischen Mitteln oder erzeugen gar stilisierte oder idealisierte Räume? Wirklichkeit zeigt sich im Radio oft in seiner Gestalt als Raum. Hörbarer Raum ­erdet die Stimme, rückt sie in den Kontext der realen Welt und steht schließlich als Garant für ihre Authentizität. Praktiken des Designs können sich von jedem Bezug auf Räume frei machen. Design löst den Nachhall von seiner Bindung an Raum: Hallgeräte machen es möglich, Nachhall als Soundeffekt einzusetzen, nicht um Räume herzustellen, sondern um rhetorische Effekte zu erzielen. Und Design löst den ästhetischen Raum mit seinen Richtungen und Positionen, mit seinen räumlichen Strukturen und akustischen Topologien von der Idee, dass er überhaupt einen Raum wiedergibt. Akustische Topologien können stattdessen auch Zeitphänomene zum Ausdruck bringen: Vergangenes erscheint links, Zukünftiges rechts. Raum erscheint als ein semiotisches System, das mit keiner festen Bedeutungsdimension vorkonfiguriert ist. Die Aufgabe der Moderation schließlich nimmt eine raumordnende und raumvermittelnde Position ein. Raum und hörbare Räumlichkeit, haben wir festgestellt, können Strukturen erzeugen, die sich mit den Modellen der Erzähltheorie begreifbar machen lassen. ›Erzählebenen‹ lassen sich im Radio als Raumebenen identifizieren, und die Figuration von Stimmen zeigt sich in ihrer akustischen Verräumlichung. Eine Narratologie des Radios – die noch geschrieben werden müsste – sollte vor allem den ästhetischen Raum in den Blick nehmen.

Fazit

Die zweite Ebene, auf der das Radio und seine Protagonisten sich mit dem Raum auseinandersetzen, ist die des Raumdispositivs des Radios, wie ich es genannt habe. Als Raumdispositiv des Radios bezeichne ich die raumakustische Basisanordnung des Radios: Radio bringt zwei Räume akustisch zur Überlagerung, nämlich den Raum der Aufnahme und den der Wiedergabe. Dieses Raumdispositiv birgt in sich das ›Wunder der Raumüberwindung‹, das in der Frühzeit des Rundfunks für Aufsehen gesorgt hatte. Doch die Überlagerung zweier Räume ist auch ein raumakustisches Phänomen, das der physikalisch-akustischen Welt der Schallausbreitung angehört. In der Anfangszeit des Rundfunks haben Ingenieure in dieses Raumdispositiv eingegriffen, indem sie Aufnahmeräume stark gedämmt haben, um den Nachhall zu unterdrücken. Auf diese Weise haben sie den Klang der Radiostimme verändert – mit weitreichenden Folgen. Denn der Klang der Stimme im Aufnahmeraum hat sich als ein Faktor dafür erwiesen, wie Sprecher mit ihrer Stimme umgehen. Die Schalldämmung des Aufnahmeraums hat Sprecher zu einem leiseren und privateren Tonfall angehalten. Und die raumlose Stimme, die dabei entstanden ist, kam Hörern besonders nahe, weil sie eben nicht mehr klang wie aus einem anderen Raum. Die raumlose Stimme drang in die privaten Bereiche der Menschen ein und setzte sich, wie Berichte es immer wieder ausdrücken, gewissermaßen zu den Hörern mit an den Tisch. Dieses Raumkonzept der Intimität, wie ich es nenne, wird geradezu paradigmatisch für die Radiostimme an sich, die Stimme eines Begleiters und Freundes, eines intimen Bekannten. Das gegensätzliche Raumkonzept, das Raumkonzept der Hörbühne, ist stark mit der Reportage verbunden. Reporter sind es, die in die Welt hinausgehen, um ihre Geräusche, ihre Töne, ihre Atmos aufzufangen, um andere Menschen zu Wort kommen zu lassen – und um über all das zu berichten, was sie erleben. Sie erfassen mit den Geräuschen und Stimmen, die sie mit dem Mikrofon auffangen, zugleich auch deren akustischen Kontext. Stimmen sind durch ihren Nachhall und durch die Geräuschkulissen mit dem jeweiligen Raum verbunden, man hört eben nicht nur Stimmen, sondern Menschen bei der Arbeit und Arbeiter in ihren Werkstätten. Die Reportage macht die Welt hörbar. Sie bildet damit die Schnittstelle zwischen den beiden zentralen Konzepten, mit denen ich gearbeitet habe – dem ästhetischen Raum einerseits und dem Raumdispositiv des Radios andererseits. Denn während sie das Raumkonzept der Hörbühne verwirklicht und Stimmen und Geräusche nicht isoliert, sondern sie akustisch kontextualisiert, steht die Reportage gleichzeitig für eine spezifische akustische Topologie, die Welt und Reporterstimme zu-

239

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240

sammenbringt. Die Stimme von Reportern, die direkt in das Mikrofon hineinsprechen, erscheint dabei wiederum als nahe, intime und private Stimme. Sie ist die Stimme, die den Hörern die Welt vermittelt und sie ihnen nahebringt. Hierin zeigt sich ein zentrales Prinzip radiofoner Raumgestaltung: die Verbindung beider gegensätzlicher Raumkonzepte zu einer akustischen Topologie, die das Persönliche der Beziehung zwischen Sprecher und Hörer mit dem Ungewöhnlichen, Fernen und Fremden der Welt zusammenbringt. Die Radioreportage gilt heute als die radiofone Form schlechthin, und mithilfe der Konzepte des Raumdispositivs des Radios und des ästhetischen Raumes lässt sich auch erklären, warum. Schließlich habe ich auch einen Blick auf die Vorzeit des Rundfunks geworfen und den Einfluss der Psychologie und Physik auf das Radio angeschaut, zwei Disziplinen, die gemeinsam wichtige Vorarbeit für den Rundfunk geleistet haben. Indem Wissenschaftler das räumliche Hören erforschten, konnten sie die Grundlagen für die Raumgestaltung des Radios liefern. Ihren Forschungen ist es zu verdanken, dass Radio stereofon ist und der ästhetische Raum im Radio dadurch um eine Dimension erweitert werden konnte. Die Vorzeit des Rundfunks mit ihren Experimentalsituationen in den Laboren und den Schreckenssituationen auf den Kriegsfeldern hat zudem den Rundfunk in zweierlei Hinsicht vorbereitet: Menschen haben begonnen, die auditive Medien­technik der Elektroakustik kennenzulernen und den Umgang mit ihr einzuüben – technische Geräte der Raumüberwindung und der Raum­ erforschung –, und sie haben einen neuen Umgang mit ihren eigenen Ohren eingeübt, die im Ausnahmezustand ununterbrochener Lebensgefahr zu Alarm­organen wurden und den akustischen Raum permanent nach der nächsten Bedrohung absuchen mussten. Es waren diese Menschen, die zu den ersten Radiohörern und Radiopraktikern des allgemeinen Rundfunks wurden.

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Internet der Dinge Über smarte Objekte, intelligente Umgebungen und die technische Durchdringung der Welt 2015, 400 S., kart., zahlr. Abb. 29,99 E (DE), 978-3-8376-3046-6 E-Book PDF: 26,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-3046-0 EPUB: 26,99 E (DE), ISBN 978-3-7328-3046-6

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Games | Game Design | Game Studies An Introduction (With Contributions by André Czauderna, Nathalie Pozzi and Eric Zimmerman) 2015, 296 p., pb. 19,99 E (DE), 978-3-8376-2983-5 E-Book PDF: 17,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-2983-9

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Medienwissenschaft Thilo Hagendorff

Das Ende der Informationskontrolle Zur Nutzung digitaler Medien jenseits von Privatheit und Datenschutz Januar 2017, 264 S., kart. 29,99 E (DE), 978-3-8376-3777-9 E-Book PDF: 26,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-3777-3

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Ramón Reichert, Annika Richterich, Pablo Abend, Mathias Fuchs, Karin Wenz (eds.)

Digital Culture & Society (DCS) Vol. 2, Issue 2/2016 — Politics of Big Data 2016, 154 p., pb. 29,99 E (DE), 978-3-8376-3211-8 E-Book PDF: 29,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-3211-2

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