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German Pages [284] Year 2016
»when exhibitions become politics«
kunst · geschichte · gegenwart band 4
»when exhibitions become politics« geschichte und strategien der politischen kunstausstellung seit den 1960er jahren herausgegeben von verena krieger und elisabeth fritz
2017 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Ernst-Abbe-Stiftung
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar.
Umschlagabbildung: Ansicht der Ausstellung Achtung, Religion! im Sacharow-Zentrum in Moskau, 14.—18. Januar 2003, nach der Zerstörung am 18. Januar 2003. Fotograf unbekannt, © VG Bild-Kunst, Bonn 2016.
© 2017 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts gesetzes ist unzulässig. Korrektorat: Ulrike Weingärtner, Gründau Satz: Peter Kniesche Mediendesign, Weeze Druck und Bindung: Finidr, Cesky Tesin Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in the EU ISBN 978-3-412-50377-2
einführung Verena Krieger/Elisabeth Fritz Politische Dimensionen der Kunstausstellung
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positionen/interventionen – ausstellungen im rückblick von beteiligten Hans Dickel Die Endlichkeit der Freiheit 1990 in Berlin
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Hans D. Christ Die Kunst, nicht dermaßen regiert zu werden Die Ausstellung als Werkzeug und Referenzfeld politischen Widerstands
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Verena Krieger Mentalitäten der Intoleranz als Herausforderung zeitgenössischer Kunst BrandSchutz in Jena 2013
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konfigurationen des politischen und des ästhetischen Rachel Mader Art for Society, Whitechapel Art Gallery, London, 1978
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Anna Schober Ironie als Präsentationstaktik Politisch motivierte Bezüge zu Theorie und Kunstpraktiken ‚vor‘ dem Faschismus in Ausstellungen seit den 1980er-Jahren
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Beatrice von Bismarck Die Politizität des Gastspiels Zur politischen Struktur der Ausstellung
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im spannungsfeld des politischen zeitgeschehens Andrea Bátorová Ausstellungen als (un)politische Medien II. Permanente Manifestationen und Danuvius 68 (zur alternativen Kunst der Slowakei in den 1960er-Jahren)
163
Elena Korowin Traum, Trauma und Tabu Verbotene Kunst 2006 in Moskau
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inhalt
Gürsoy Dogˇtaș Über die Konflikte der 13. Istanbul Biennale mit der Gegenöffentlichkeit
203
überschreitungen des ausstellungsformats Barbara Lange Joseph Beuys und die FIU Die Honigpumpe am Arbeitsplatz auf der documenta 6 in Kassel 1977
223
Fiona Geuß Vom Handeln und Sprechen Gesprächsformate in Ausstellungen von Group Material und WochenKlausur 243 Wiebke Gronemeyer Das Ausstellende, das Diskursive und das Performative Medien der Politisierung kuratorischer Praxis (am Beispiel Former West) 261 autorinnen und autoren 279 abbildungsnachweis 289
politische dimensionen der kunstausstellung verena krieger . elisabeth fritz In den letzten Jahren ist das Verhältnis von Kunst und Politik, die Frage nach dem politischen Charakter und den politischen Funktionen und Potenzialen der Kunst wieder verstärkt ins Gespräch gekommen. Dabei hat die Themenstellung gegenüber älteren Debatten wie etwa der 1970er-Jahre einige grundlegende Verschiebungen erfahren, die sich an drei Punkten festmachen lassen: Erstens hat die Differenzierung zwischen ‚Politik‘ und ‚Politischem‘, die Ernesto Laclau und Chantal Mouffe in ihrer Theorie des Hegemonialen vorgenommen haben, dem Ästhetischen einen politischen Ort jenseits institutioneller Politikpraktiken theoretisch eröffnet.1 Zweitens, und darüber hinausgehend, hat der Ansatz von Jacques Rancière, Kunst und Politik nicht als zwei getrennte, potenziell interagierende Sphären oder Felder zu begreifen, sondern als zwei verschiedene Formen einer ‚Aufteilung‘ des sinnlich Erfahrbaren und damit als Akteure in demselben Feld, den Blick für die ‚dissensuellen‘ Qualitäten des Sinnlichen geschärft.2 Und drittens ist eine neue Zuwendung zu den Eigenqualitäten des Ästhetischen und deren gesellschaftspolitischer Relevanz zu beobachten, wie sie etwa in den kunstphilosophischen Überlegungen von Juliane Rebentisch und Christoph Menke zum Ausdruck kommt.3 Bei allen Differenzen treffen sich diese jüngeren Ansätze politischer und ästhetischer Theorie darin, dass sie das Ästhetische als Möglichkeitsfeld der Erfahrung und Artikulation sozialer Differenz und gesellschaftlichen Dissenses charakterisieren und ihm dabei ausdrücklich ein emanzipatorisches Potenzial zuschreiben.
politizität der ausstellung Während in der theoretischen Debatte über Kunst und Politik meist vom einzelnen Kunstwerk, von spezifischen künstlerischen Praktiken oder der Kunst als solcher die Rede ist, wird der politische Charakter der Kunstausstellung bzw. der Charakter politischer Kunstausstellungen vergleichsweise wenig reflektiert.4 Das ist insofern bemerkenswert, 1 Ernesto Laclau/Chantal Mouffe, Hegemonie und radikale Demokratie, Wien 52015; Chantal Mouffe, Über das Politische. Wider die kosmopolitische Illusion, Frankfurt am Main 2007. Zur Rezeption und Anwendung dieser Theorien in Bezug auf zeitgenössische Kunst- und Ausstellungspraktiken vgl. Oliver Marchart, Kunst, Raum und Öffentlichkeit(en). Einige grundsätzliche Anmerkungen zum schwierigen Verhältnis von Public Art, Urbanismus und politischer Theorie, 2002, http://eipcp.net/transversal/0102/marchart/de (Letzter Zugriff: 22. September 2015); ders., Hegemonie im Kunstfeld. Die documenta-Ausstellungen dX, D11, d12 und die Politik der Biennalisierung, Köln 2008. 2 Jacques Rancière, Die Aufteilung des Sinnlichen. Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien, Berlin 2008; ders., Ist Kunst widerständig?, Berlin 2008, S. 20–22. 3 Juliane Rebentisch, Die Kunst der Freiheit. Zur Dialektik demokratischer Existenz, Berlin 2012; Christoph Menke, Die Kraft der Kunst, Frankfurt am Main 2013. 4 Ausnahmen sind: Uwe M. Schneede, Autonomie und Eingriff. Ausstellungen als Politikum. Sieben Fälle, in: Eberhard Roters (Hg.), Stationen der Moderne. Die bedeutenden Kunstausstellungen
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als die Ausstellung einen bedeutenden sozialen, raumzeitlichen und institutionellen Rahmen bildet, innerhalb dessen sich die Rezeption des künstlerischen Einzelwerks vollzieht. Sie stellt damit eine zentrale Schnittstelle zwischen künstlerischem und politisch-sozialem Feld dar. Als Artefakt, das selbst wesentlich – aber nicht ausschließlich – ästhetischen Charakters ist, teilt die Ausstellung grundlegende Eigenschaften mit Kunstwerken, unterscheidet sich von diesen aber auch in mancher Hinsicht und nimmt ihnen gegenüber eine Meta- und Vermittlungsposition ein. So macht sie ihren eigenen Charakter als ästhetisches Artefakt tendenziell unsichtbar, indem sie hinter die von ihr gezeigten Objekte zurücktritt. In ihrer Funktion als Gesamtanordnung von Kunstwerken nimmt sie nicht nur die dienende Rolle ein, diese zu präsentieren, sondern sie unterwirft sie auch einer Ordnung, die als (scheinbar) vorgängige die Wahrnehmung des Einzelwerks wesentlich mitbestimmt. Vor diesem Hintergrund ist nach der spezifischen Politizität zu fragen, die der Kunstausstellung eigen ist. Dabei bedarf es einer Betrachtungsweise, die sich gerade nicht primär auf die gezeigten Kunstwerke richtet, sondern auf die Modi, in denen diese in der Ausstellung ausgewählt, zusammengestellt, präsentiert und vermittelt werden sowie auf die diesen zugrunde liegenden Rahmenbedingungen, Kriterien und Paradigmen. Diese Ausstellungsmodi können ihrerseits als ästhetische Verfahren beschrieben und hinsichtlich der ihnen inhärenten politischen Momente analysiert werden. Im Sinne des aus dem Lateinischen stammenden „exponieren“ als ein „darstellen, zur Schau stellen“ charakterisiert der Begriff der Ausstellung eine nach außen, auf ein Publikum gerichtete Tätigkeit.5 Die historischen Wurzeln der Kunstaustellung liegen im 18. und 19. Jahrhundert, als mit den Pariser Salons sowie den Kunstgewerbe- und Industrie-Ausstellungen neue Formen der öffentlichen (Verkaufs-)Präsentation von Waren und von Werken der bildenden Kunst entstanden. Im Unterschied zu Museen waren diese Ausstellungen grundsätzlich temporär und auch an keinen bestimmten Ort gebunden.6 Somit hat die Kunstaustellung schon von ihren historischen Anfängen her einige grundlegende Strukturmerkmale, die ihrerseits bereits genuin politischen Charakters sind: Die Ausstellung ist eine relationale, temporäre, raum-zeitlich bedingte Konstellation, die folglich immer in konkreten Kontexten agiert und auf diese reagiert.
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des 20. Jahrhunderts in Deutschland, Ausst.-Kat. Berlinische Galerie, Berlin 1988, S. 34–42; Mary Anne Staniszewski, The Power of Display. A History of Exhibition Installations at the Museum of Modern Art, Cambridge, Mass. 1998; Julie Ault, Exhibition as political space, in: Stella Rollig/Eva Sturm (Hg.), Dürfen die das? Kunst als sozialer Raum, Wien 2002, S. 52–62; Beatrice Jaschke u. a. (Hg.), Wer spricht? Autorität und Autorschaft in Ausstellungen, Wien 2005; Dorothea Hantelmann/Carolin Meister (Hg.), Die Ausstellung. Politik eines Rituals, Zürich 2010; Ludger Schwarte, Politik des Ausstellens, in: Karen van den Berg/Hans Ulrich Gumbrecht (Hg.), Politik des Zeigens, München 2010, S. 129–141; Gerd Elise Mørland/ Heidi Bale Amundsen, On-Curating.org 4/2010: The Political Potential of Curatorial Practice, www.on-curating.org/files/oc/dateiverwaltung/old%20Issues/ONCURATING_Issue4.pdf (Letzter Zugriff: 22. September 2015); Dorothee Richter/Nkule Mabaso (Hg.): On-Curating. org 22/2014: Politics of Display, http://www.on-curating.org/files/oc/dateiverwaltung/issue22/ PDF_to_Download/ONCURATING_Issue22_A4.pdf (Letzter Zugriff: 22. September 2015). 5 Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, Leipzig 1854, Bd. 1, S. 987–990, zit. n.: Anke te Heesen, Theorien des Museums zur Einführung, Hamburg 2012, S. 22. 6 te Heesen 2012 (wie Anm. 5), S. 22–23.
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■ Ihre wesentliche Bestimmung ist es, sich selbst und das von ihr Gezeigte zu ‚exponieren‘ und damit der Diskussion und Bewertung preiszugeben. ■ Sie ist stets auf die Öffentlichkeit gerichtet und will bei einem Publikum bestimmte Wirkungen erzielen, ist also prinzipiell intentional. ■ Indem sie die ausgestellten Objekte aus ihren Zusammenhängen löst und neu
anordnet, sie „selektiert“, „diszipliniert“ und „reguliert“, produziert sie kulturelle Bedeutung.7 Sie präsentiert sich und das von ihr Gezeigte visuell (und vielfach auch haptisch, olfaktorisch, akustisch) und ist insofern selbst ein ästhetisches Artefakt.
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Legt man einen Begriff des Politischen im Sinne von le politique als agonales Handlungsfeld im Gegensatz zu la politique als institutionelle Politik zugrunde, so sind Kontextbezogenheit, auf eine Öffentlichkeit gerichtetes intentionales Agieren und die Ermöglichung kritischen Urteilens in Ausstellungen zweifellos unmittelbar politischen Charakters. Doch auch als ästhetische Anordnung ist der Kunstausstellung eine spezifische Politizität eigen, die auf verschiedenen Ebenen in Erscheinung tritt. Auf sozialer Ebene zeigt sich das Politische der Ausstellung in „jedem Detail“ (Julie Ault) der Prozesse ihrer eigenen Herstellung: in administrativen Vorgängen, Finanzierungsweisen, Inklusions- und Exklusionsentscheidungen und auch in ihrer zunehmend arbeitsteiligen Produktionsstruktur.8 Auf institutions- und kulturpolitischer Ebene zeigt es sich daran, dass sich die Anforderungen an Ausstellungen, wie Kurt Dröge und Detlef Hoffmann im Blick auf das Museum feststellen, in den letzten Jahrzehnten „vollständig verändert“ haben, insofern die älteren Konzepte von „Musentempel“ und „Lernort“ sukzessive und mit entsprechenden Auswirkungen durch das radikale Marktparadigma abgelöst wurden.9 Und auf der Ebene kultureller Praxis äußert sich die Politizität der Ausstellung in der spezifischen, einer „beschleunigten Spezialisierung“ unterliegenden Professionalität, mit der Displays und kuratorische Strategien, verbunden mit Marketing, bewusst eingesetzt werden, um Ausstellungen zielgerichtet in bestimmten Kontexten zu platzieren.10 Politisch ist eine Kunstausstellung also keineswegs erst dann, wenn sie explizit „politische Kunst“ repräsentiert, vielmehr gibt es eine eigene „Politik des Ausstellens“ (Ludger Schwarte).11
7 Schwarte 2010 (wie Anm. 4), insbes. S. 137, 139. 8 Ault 2002 (wie Anm. 4), S. 53. 9 Kurt Dröge/Detlef Hoffmann, Einführung, in: dies. (Hg.), Museum Revisited. Transdisziplinäre Perspektiven auf eine Institution im Wandel, Bielefeld 2010, S. 9–14, hier S. 13. 10 Ebd., S. 12. Vgl. auch den Beitrag von Beatrice von Bismarck in diesem Band. 11 Schwarte 2010 (wie Anm. 4). Der von Karen van den Berg und Hans Ulrich Gumbrecht herausgegebene Band Politik des Zeigens, in dem sich Schwartes Aufsatz befindet, ist den Erfahrungs- und Erkenntnischancen von kulturellen Praktiken des Zeigens, insbesondere im musealen und Ausstellungskontext, gewidmet und betrachtet diese u. a. aus anthropologischer, pädagogischer und performativitätstheoretischer Perspektive. Schwartes Beitrag, der zu letztgenanntem Ansatz zu zählen ist, beschreibt das Ausstellen im öffentlichen Kontext und das damit verbundene Preisgeben eines Objekts bzw. Sachverhalts, um ein ästhetisches Urteil darüber zu fällen, dabei als konstitutiven Akt des prozessual und ereignishaft verstandenen Kunstwerks.
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Dementsprechend lässt sich auch auf all diesen Ebenen ein emanzipatorisches Potenzial der Kunstausstellung bzw. des Ausstellens von Kunst ausfindig machen. Alternative Ausstellungsstrategien können jenseits der Mainstream-Institutionen ortsspezifische Interventionen realisieren und auf experimentelle Weise kritische Forschung betreiben.12 Sie können durch veränderte Selektions- und Inszenierungsweisen „die Hierarchien der Sujets und der Techniken unterlaufen“, „Vermarktungstechniken (untergraben)“ und durch das Erfinden neuer „Modi der Sichtbarkeit“ sowie das Konstitutieren „neue(r) Affekte“ eine „Emanzipation der Sinne“ ermöglichen.13 In dem Maße, wie sie dies leisten, nähern sich Ausstellungen vielfach ihrerseits dem Künstlerischen.14 So konstatiert Michael Fehr auf Grundlage seiner ausstellungspraktischen Erfahrungen, dass die Kunstausstellung gerade dann eine „Chance“ hat, als ein „Ort spezifischer Erfahrung“ zu funktionieren, wenn sie sich „gewissermaßen von Kunst infizieren lässt“.15 Hier kommt die dem Ästhetischen selbst eigene Politizität zum Tragen.
die ausstellung als politikum Eine Politizität der Kunstausstellung gibt es aber auch in einem engeren, spezifischeren Sinne. Sie generiert sich aus der Involvierung in aktuelle gesellschaftspolitische Themen und Konflikte – sei dies nun explizit oder implizit, intentional oder unfreiwillig der Fall. Tatsächlich hat es, seit die öffentliche Kunstausstellung als das wichtigste Medium des modernen bürgerlichen Kunstbetriebs existiert,16 immer wieder politische Aufladungen von oder politische Konflikte um einzelne Ausstellungen gegeben. Dabei sind die Motive, Kontexte, Hintergründe dafür, dass eine Ausstellung zum ‚Politikum‘ wird, vielfältig. Wie Uwe Schneede feststellte, mussten in den letzten 150 Jahren Kunstausstellungen keineswegs explizit politisch auftreten, um politischen Charakter zu erhalten, sondern es gab auch immer wieder „solche, bei denen die politische Intention eher verdeckt auftrat, und solche, bei denen politische Brisanz sich mehr oder minder überraschend in der Rezeption herausstellte“.17 Es gibt also eine Vielzahl von Varianten dessen, wie Ausstellungen politisch wurden – how exhibitions became politics – in dem Sinne, dass sie in Konflikte des politischen Feldes involviert worden sind. Im Folgenden sollen anhand von Beispielen solche Varianten des politischen Ausstellens beschrieben werden – wobei
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Ault 2002 (wie Anm. 4), S. 59–62. Schwarte 2010 (wie Anm. 4), S. 140f. Ebd. Michael Fehr, Text und Kontext. Die Entwicklung eines Museums aus der Reflexion seiner Geschichte, in: ders. (Hg.), Open box. Künstlerische und wissenschaftliche Reflexionen des Museumsbegriffs, Köln 1998, S. 12–43, hier S. 27. Das Zitat bezieht sich zwar im Satz auf das Museum, ist aber vom Kontext her auf die Ausstellungspraxis bezogen. 16 Spätestens mit der Kritik des Ausstellungsmonopols der Pariser Kunstakademie im Kontext der Französischen Revolution und der Forderung nach ‚freien‘ bzw. öffentlichen Ausstellungen – für die Künstlerinnen und Künstler ebenso wie das Publikum – wird das Medium ‚Ausstellung‘ selbst als demokratisches Instrument verstanden bzw. dessen Beanspruchung zu einem politischen Akt. Vgl. Oskar Bätschmann, Ausstellungskünstler. Kult und Karriere im modernen Kunstsystem, Köln 1997, S. 13, 58. 17 Schneede 1988 (wie Anm. 4), S. 34.
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entscheidend ist, dass die Politisierung nicht primär das einzelne Kunstwerk, sondern dezidiert die Ausstellung als Ganze betrifft. Zu nennen sind zunächst solche Ausstellungen, die von den Künstlerinnen und Künstlern selbst mit offenkundig politischen Intentionen gestaltet wurden. Das vermutlich früheste Beispiel hierfür stellt Gustave Courbets Realismus-Pavillon vor der Pariser Weltausstellung 1855 dar, in dem er seine Werke in einer selbstständigen, keiner Jury unterlegenen Ausstellung der Öffentlichkeit präsentierte und der damit den Charakter einer Gegen-Ausstellung erhielt.18 Ein Paradebeispiel ist weiterhin die 1. Internationale Dada-Messe 1920 in Berlin, bei der nicht nur die ausgestellten Werke, sondern auch die Art und Weise ihrer Präsentation auf die Verhöhnung und Attackierung der politischen Verhältnisse der Weimarer Republik ebenso wie der ‚hohen Kunst‘ abzielten. Dass sie Anklagen wegen Beleidigung der Reichswehr und Gotteslästerung zur Folge hatte, war eine indirekte, wohl nicht unwillkommene Bestätigung dieser Intention, wenngleich die betroffenen Künstler und ihre Verteidiger sich mit kunstimmanenten Begründungen aus der Affäre zu ziehen suchten.19 Ein drittes prominentes Beispiel ist Hans Haackes berühmte, vom Guggenheim Museum New York aufgrund ihrer politischen Brisanz abgesagten Ausstellung Shapolsky et al., die sich journalistischer und soziologischer Recherche- und Dokumentationsverfahren bediente, um die Machenschaften von Immobilienspekulanten zu thematisieren.20 Dieser Typus der von Künstlerinnen oder Künstlern selbst demonstrativ politisch angelegten Ausstellung lässt sich gewissermaßen als eine Verlängerung des Konzepts ‚engagierter Kunst‘ verstehen: Entweder stellt die Ausstellung selbst – wie bei Haacke – ein erweitertes Kunstwerk dar, oder das Prinzip der engagierten Kunst wird – wie bei den Dadaisten – vom einzelnen Werk auf ein Ensemble mehrerer Werke unterschiedlicher Urheber bzw. Urheberinnen übertragen. Vielfach werden aber auch politische Deutungen von außen an Kunstausstellungen herangetragen, was die Form der Skandalisierung oder diejenige offener Repression bis hin zur Zensur annehmen kann. Gerade in Deutschland wurden in der letzten Dekade des 19. Jahrhunderts die Ausstellungen moderner Kunst in solchem Maße durch die aktuellen gesellschaftspolitischen Konflikte überdeterminiert, dass etwa impressionistisch oder realistisch orientierte Malerei seitens der Repräsentanten des Kaiserreichs als Manifestation staatspolitischer Gegnerschaft verdammt werden konnte.21 Ein prominentes Opfer der Schärfe der damaligen Konflikte war bekanntlich Edvard Munch, dessen Einzelausstellung 1892 in Berlin so massive Ablehnung von offizieller Seite erfuhr, dass sie durch die konservative Mehrheit des Künstlervereins vorzeitig geschlossen wurde.22 Solche Projektionen politischer Differenzen auf Kunstausstellungen finden insbesondere in autoritären oder repressiven Staaten oder auch in krisenhaften Umbruchsituationen 18 Vgl. Bätschmann 1997 (wie Anm. 16), S. 126–128. 19 Helen Adkins, Erste internationale Dada-Messe, Berlin 1920, in: Roters 1988 (wie Anm. 4), S. 156–182, hier S. 167. 20 Gabriele Hoffmann, Hans Haacke: Art into society – society into art, Weimar 2011, S. 42–48. 21 Peter Paret, Die Berliner Secession. Moderne Kunst und ihre Feinde im Kaiserlichen Deutschland, Berlin 1981, S. 41–46, 58–61, 127–136. 22 Ebd., S. 79–81; vgl. dazu auch: Munch und Deutschland, Ausst.-Kat. Hamburger Kunsthalle, Hamburg 1994.
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statt. Dass sich nicht nur staatliche, sondern auch gesellschaftliche Gewalt gegen eine Kunstausstellung richten kann, zeigt der Überfall der radikalen orthodoxen Gruppierung Wille Gottes auf die Moskauer Retrospektive des russischen Bildhauers Vadim Sidur (1924–1986).23 Unter dem Titel Skulpturen, die wir nicht sehen (2015) wurden Werke gezeigt, die in der Sowjetunion nicht ausgestellt werden durften. Die ultrarechten Aktivisten beschädigten und zerstörten mehrere Werke religiöser Thematik und forderten, die Ausstellung müsse wegen ,Gotteslästerung‘ geschlossen werden. Hier findet die Politisierung von außen, die Vadim Sidurs abstrahierte Skulpturen seit jeher erfahren haben, ihre Kontinuität. Freilich gibt es auch, darauf weist Uwe Schneede hin, solche Kunstausstellungen, die den ihnen eigenen politischen Charakter überhaupt nicht zu erkennen geben, deren Politizität sich vielmehr gerade in ihrer vermeintlich apolitischen Haltung manifestiert. So verhält es sich beispielsweise bei Gustav Hartlaubs berühmter Mannheimer Ausstellung Neue Sachlichkeit von 1925, die durch den weitgehenden Ausschluss der veristischen Tendenz zu einer Verharmlosung der von ihm mit dieser Ausstellung kreierten neuen Kunstrichtung beitrug.24 Es gilt mehr noch für die ersten beiden documenta-Ausstellungen 1955 und 1959, deren Funktion es war, die politische und ökonomische Westbindung der Bundesrepublik auch auf kultureller Ebene nachzuvollziehen, und bei der die Abstraktion in ihrem scheinbar apolitischen Charakter als politisches Zeichen diente.25 Es trifft schließlich auch, um ein jüngeres Beispiel zu nennen, auf die große Ausstellung Die Kunst der Aufklärung in Peking 2012 zu, mit der die deutsche Bundesregierung dem chinesischen Publikum aufdringlich unaufdringlich die Prinzipien der Aufklärung nahezubringen suchte.26 Seit etwa zwei Jahrzehnten wird die Verbindung von Kunstausstellung und Politik immer evidenter, und dies auf mehreren Ebenen. In Umkehrung der durch Harald Szeemann – dem sich der abgewandelte Titel der Tagung und dieses Bandes verdankt27 – eingeleiteten Tendenz, die kuratorische Handlung zum künstlerischen Akt 23 Kerstin Holm, Das ist Kunstvandalismus, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25. August 2015. 24 Schneede 1988 (wie Anm. 4), S. 36f. 25 Vgl. zuletzt Steffen Dengler, Die Kunst der Freiheit? Die westdeutsche Malerei im Kalten Krieg und im wiedervereinigten Deutschland, München 2010. 26 Vgl. Verena Krieger, Mit Risiken und Nebenwirkungen, Beitrag zur Debatte „Kunst und Dissidenz“, in: The European, 28. Mai 2012, http://theeuropean.de/verena-krieger/11031-kunstund-ihr-politisches-potenzial (Letzter Zugriff: 22. September 2015). 27 Der Titel des Symposiums und Tagungsbandes When Exhibitions become Politics nimmt Bezug auf Harald Szeemanns berühmte Ausstellung Live in your head: When Attitudes become Form, die 1969 in der Kunsthalle Bern sowie im Anschluss im Museum Haus Lange in Krefeld und dem Institute of Contemporary Arts in London stattgefunden hat. Szeemanns Entscheidung, die gezeigten Werke nicht chronologisch, sondern thematisch zu ordnen, sowie die ortsbezogene Entstehung vieler der Arbeiten stehen für den Beginn eines neuen Typus von Ausstellungskonzeption und -inszenierung ebenso wie eine Neudefinierung der Rolle des Kurators. Vgl. Christian Rattemeyer u. a. (Hg.), Exhibiting the New Art: ‚Op Losse Schroeven‘ and ‚When Attitudes Become Form‘ 1969, London 2010. Als wichtiger Referenzpunkt der kunstwissenschaftlichen Forschung in Bezug auf die Geschichte und Theorie der Ausstellung, zu welcher der vorliegende Band beitragen möchte, sowie als Anspielung auf die Bedeutung des prozessualen Verhältnisses von Idee bzw. Konzept und ästhetischer Form – nicht nur bei Kunstwerken, sondern eben auch bei Ausstellungen – wurde der Titel auf das Thema der politischen Ausstellung abgewandelt.
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zu erweitern, haben seit den 1990er-Jahren Künstlerinnen und Künstler ihrerseits die Kuratorenrolle in ihr Handlungsrepertoire übernommen. Sie haben sich das Medium der Ausstellung gezielt angeeignet, um es einer gründlichen Dekonstruktion zu unterziehen, sei es im Kontext institutionskritischer Eingriffe wie Fred Wilsons Mining the Museum (1992)28, sei es bei der Wiener Gruppe WochenKlausur, die seit 1993 den Kunstbetrieb und dabei speziell auch die Kunstausstellung als Rahmen für konkrete sozialpolitische Aktivitäten nutzte, oder bei Alice Creischer und Andreas Siekmann, die das Prinzip ‚Ausstellung‘ durch neue Themenstellungen und Präsentationsweisen redefinierten, denen ausführliche Auseinandersetzungen mit postkolonialen Repräsentationsformen zugrunde liegen.29 Verwandte Intentionen verfolgte auch Lisl Ponger mit der komplett von ihr selbst gestalteten Ausstellung The Vanishing Middle Class 2014 in der Wiener Secession, in der sie zeitgenössische demografische und soziale Prozesse einer quasi-ethnografischen Untersuchung unterzog.30 Während Künstlerinnen und Künstler das Medium Ausstellung dekonstruktiv politisieren, interessieren sich Kuratoren und Kuratorinnen wiederum zunehmend für solche Kunst, die politische Themen reflektiert. Waren in den 1990er-Jahren bis zur Jahrtausendwende mehrere Ausstellungen dem Feld des kulturellen Gedächtnisses, insbesondere in Bezug auf den Holocaust gewidmet31, so beschäftigen sich in den letzten Jahren auffällig viele Ausstellungen mit aktuellen gesellschaftspolitischen Fragen wie Migration, Rassismus, Umweltfragen oder sozialer Ungleichheit. Um nur einige wenige 28 Für Mining the Museum im Museum of Contemporary Art in Baltimore (1992) ordnete Fred Wilson die Ausstellungsobjekte im Hinblick auf eine postkolonialistische Kritik institutioneller Sammlungspraktiken neu an und präsentierte z. B. die Fesseln eines Sklaven, die er im Depot des Museums gefunden hatte, in einem vorhandenen Schaukasten mit der Aufschrift Metalwork 1793–1880, in dem sich kostbare Trinkgefäße befanden. Wilsons Projekt gilt als eines der ersten, in welchem ein zeitgenössischer Künstler als Kurator fungiert und kritisch in Museums- und Ausstellungspraktiken eingreift. Vgl. Hal Foster u. a. (Hg.), Art since 1900. Modernism – Antimodernism – Postmodernism, London 2004, S. 624–629. Einen Überblick zu verschiedenen künstlerischen Ansätzen der Museums- und Institutionskritik gibt: Johannes Meinhardt, Eine andere Moderne. Die künstlerische Kritik des Museum und der gesellschaftlichen Institution Kunst, in: Kunstforum International 123/1993, S. 160–191. 29 www.wochenklausur.at; https://potosiprincipleprocess.wordpress.com/about/ (Letzter Zugriff: 22. September 2015). Zu WochenKlausur vgl. auch den Beitrag von Fiona Geuß in diesem Band. 30 Lisl Ponger, The Vanishing Middle Class, Berlin 2014. 31 Vgl. etwa Monica Bohm-Duchen (Hg.), After Auschwitz. Responses to the Holocaust in contemporary art, Ausst.-Kat. Northern Centre for Contemporary Art, Sunderland 1995; Klaus Honnef (Hg.), Ende und Anfang. Photographen in Deutschland um 1945, Ausst.-Kat. Deutsches Historisches Museum, Berlin 1995; Kurt Wettengl (Hg.), Das Gedächtnis der Kunst. Geschichte und Erinnerung in der Kunst der Gegenwart, Ausst.-Kat. Frankfurt am Main 2000; Clément Chéroux u. a. (Hg.), Mémoire des camps. Photographies des camps de concentration et d’extermination nazis, 1933–1999, Ausst.-Kat. Hôtel de Sully, Paris 2001; Glenn Sujo, Legacies of silence: The visual arts and Holocaust memory, Ausst.-Kat. Imperial War Museum London, London 2001; Burkhard Asmuss (Hg.), Holocaust. Der nationalsozialistische Völkermord und die Motive seiner Erinnerung, Ausst.-Kat. Deutsches Historisches Museum, Berlin 2002; Norman L. Kleeblatt (Hg.), Mirroring evil. Nazi imagery/recent art, Ausst.-Kat. The Jewish Museum, New York, New Brunswick 2002; Barbara Barsch (Hg.), Bilder des Erinnerns und Verschwindens: Leila Danziger, Esther Shalev-Gerz, Simcha Shirman, Wojciech Prazmowski. Ausst.-Kat. IfA Berlin, Berlin 2003; Peter Friese, (Hg.): After Images: Kunst als soziales Gedächtnis, Ausst.-Kat. Neues Museum Weserburg, Bremen 2004.
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Beispiele aus dem deutschsprachigen Raum zu nennen: Reconsidering Roma im Kunsthaus Bethanien (2011) setzte sich mit stereotypen Sichtweisen auf Sinti und Roma und mit deren Lebensbedingungen in Europa auseinander.32 Im Jahr 2012 waren die beiden spektakulären Großausstellungen in Deutschland – die dOCUMENTA (13) und die 7. Berlin Biennale in hohem Maße politisiert, wenngleich auf ganz unterschiedliche Weise: Während Artur Żmijewski unter dem Motto Forget Fear die Berlin Biennale zu einem Ort des politischen Aktivismus umwandelte, indem er u. a. die Bewegung Occupy direkt in den Ausstellungsraum holte, um einen „Zugang zu performativer und wirksamer Politik“ zu eröffnen,33 stellte Carolyn Christov-Bakargiev die documenta in den Horizont eines ganzheitlichen Feminismus und machte sie zu einem Laboratorium künstlerischer Reflexionsformen über elementare Fragen wie Subjektivität, Zeiterleben, Umgang mit Technik und Natur, während sie aber politische Explizitheit nachdrücklich vermied.34 Ein medienwirksames Beispiel einer politisch motivierten Ausstellung war schließlich die 2014 im Berliner Gropius-Bau gezeigte Ausstellung Evidence von Ai Weiwei, die erklärtermaßen der Unterstützung des in seinem Herkunftsland politisch verfolgten Künstlers dienen sollte.35 Zu erwähnen sind schließlich auch Ausstellungen über politisch engagierte Kunst, die einen dokumentarisch-kommentierenden Charakter haben, ohne deshalb apolitisch zu sein. Klassiker in dieser Hinsicht sind die Ausstellungen der Berliner Neuen Gesellschaft für Bildende Kunst in den 1970er-Jahren, z. B. John Heartfield oder Picasso und der spanische Bürgerkrieg.36 Hier war bereits die Tatsache, dass die seit dem Nationalsozialismus und der westdeutschen Nachkriegszeit aus der Öffentlichkeit verbannte Kunst wieder präsentiert wurde, selbst ein politischer Akt. Mit den Ausstellungen waren auch implizite oder explizite Erwartungen an eine Reaktivierung der kritisch-subversiven Energien dieser Kunst in der Gegenwart verbunden. Einen anderen Charakter hatte die Schau 70/90 – Engagierte Kunst, die im Winter 2004/2005 im Neuen Museum Nürnberg gezeigt wurde. Indem sie ‚engagierte Kunstformen‘ der 1970er- und 1990er-Jahre vergleichend einander gegenüberstellte, leistete sie eine bewusste Historisierung der 32 Lith Bahlmann/Matthias Reichelt (Hg.) Reconsidering Roma. Aspects of Roma and Sinti-Life in Contemporary Art, Ausst.-Kat. Kunsthaus Bethanien, Berlin/ Göttingen 2011. 33 Catrin Lorch, Occupy geht immer, in: Süddeutsche Zeitung, 26. April 2012, www.sueddeutsche.de/kultur/berlin-biennale-occupy-geht-immer-1.1342990 (Letzter Zugriff: 22. September 2015). 34 Bitte „keine explizit politische Kunst“. Interview mit Carolyn Christov-Bakargiev, in: taz. die tageszeitung, 1. Juni 2012. 35 Gereon Sievernich (Hg.), Ai Weiwei – Evidence, Ausst.-Kat. Martin-Gropius-Bau Berlin, München 2014. 36 Laut dem Archiv auf der Webseite der Neuen Gesellschaft für Bildende Kunst war die Ausstellung John Heartfield (nGbK, Berlin, November 1969) die „erste historisch-soziologisch kommentierte Heartfield-Ausstellung“ und Guernica – Kunst und Politik am Beispiel Guernica/ Picasso und der spanische Bürgerkrieg (nGbK, Juni–Juli 1975) eine „didaktische Ausstellung zu Picassos Wandbild mit Reproduktionen historischer Dokumente, Zeitungen, Fotos, Dias, Schautafeln. Übernahme in 16 Städte der BRD“. http://ngbk.de (Letzter Zugriff: 22. September 2015); vgl. auch die Kataloge zu diesen Ausstellungen: Arbeitsgruppe Heartfield (Hg.), John Heartfield. Dokumentation, Ausst.-Kat. nGbK, Berlin 1969–1970; Manfred Bardutzky u. a. (Hg.), Guernica. Picasso und der Spanische Bürgerkrieg, Ausst.-Kat. nGbK, Berlin 1980.
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noch recht jungen künstlerischen Ansätze der 1990er-Jahre.37 Rund zehn Jahre später erklärte das Zentrum für Kunst und Medientechnologie in Karlsruhe den „Globalen Aktivismus“ zur „ersten neuen Kunstform“ im 21. Jahrhundert und widmete dieser eine Ausstellung Global aCTiVISm (2013/14).38 Anders als Żmijewski, der bei der Berlin Biennale die Ausstellung direkt als Feld des Aktivismus nutzte, wurde hier der Effekt der Musealisierung in Kauf genommen, jedoch durch ein auf aktuelle Debatten bezogenes Begleitprogramm zu überschreiten versucht. Wie hochaktuell die Frage nach der politischen Dimension von Ausstellungen ist, zeigt sich nicht zuletzt auch an politischen Konflikten, die um Ausstellungen geführt werden. Ein Beispiel ist die 19. Biennale of Sydney 2014, bei der die Boykottdrohung einer größeren Anzahl von Künstlerinnen und Künstlern bewirkt hat, dass die Zusammenarbeit mit einem Sponsor beendet wurde, der sein Geld mit Flüchtlingslagern verdient, die aufgrund ihrer menschenunwürdigen Bedingungen bekannt geworden waren.39 Ein anderes Beispiel ist die 2014 in Sankt Petersburg ausgerichtete Manifesta 10, die aufgrund des kurz zuvor ausgebrochenen Ukraine-Konflikts mit Boykottaufrufen und -ankündigungen überzogen wurde.40 In beiden Fällen wurde die Ausstellung nicht aufgrund kuratorischer Entscheidungen oder der ausgestellten künstlerischen Arbeiten politisiert, sondern in außerkünstlerische Konflikte hineingezogen. Vermutlich ließen sich weitere Spielarten einer Politisierung und ganz sicher – zumal im internationalen Zusammenhang – noch viele weitere Exempla historischer wie aktueller Kunstausstellungen aufführen. Doch die genannten Beispiele haben in ihrer Heterogenität wohl hinreichend deutlich werden lassen, dass es ‚die‘ politische Kunstausstellung nicht gibt, sondern vielmehr eine Vielzahl unterschiedlicher Varianten, auf welche Arten und Weisen Ausstellungen einen politischen Charakter erlangen können. Insbesondere zeigt sich, dass innerhalb des meist komplexen Prozesses einer Politisierung, der zudem historischen Veränderungen unterliegen kann, ganz verschiedene Faktoren mitwirken und dass die Politizität dabei sehr unterschiedliche Dimensionen aufweisen kann. Diese sollen im Folgenden differenziert und beschrieben werden.
37 Melitta Kliege, Zwischen Bewusstseinsarbeit und ästhetischem Zitat. Engagierte Kunstformen der siebziger und neunziger Jahre im Vergleich, in: 70/90. Engagierte Kunst. Ausst.-Kat. Neues Museum Nürnberg, Nürnberg 2004, S. 8–23. 38 http://on1.zkm.de/zkm/stories/storyReader$8501 (Letzter Zugriff: 22. September 2015). 39 28 der teilnehmenden Künstlerinnen und Künstler veröffentlichten am 19. Februar 2014 einen offenen Brief an den Vorstand der Biennale of Sydney, in welchem sie ihre Bedenken bezüglich des Sponsorings durch Transfield Holdings äußerten und zur Aufgabe dieser Finanzierungsquelle aufriefen. In Folge unterzeichneten insgesamt 41 Künstlerinnen und Künstler die Forderung und mehrere sagten zudem ihre Teilnahme an der Biennale aus Protest ab, bis die Biennale-Leitung im März unter dem Druck der Kritik schließlich die Verbindungen zu Transfield abbrach und ein Großteil der Künstlerinnen und Künstler ihre Beteiligung wieder zusagten. Der offene Brief sowie die Absage der künstlerischen Beteiligung sind abrufbar unter: http://19boswg.blogspot.com.au/2014/02/open-letter-to-board-of-sydney-biennale. html und http://19boswg.blogspot.com.au/2014/02/statement-of-withdrawal-from-19th.html (Letzter Zugriff: 22. September 2015). 40 Vgl. Michael Hübl, Kühlschränke für St. Petersburg, in: KUNSTFORUM International, 228/2014, S. 114–135.
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faktoren und dimensionen des politischen Ausgehend von den beschriebenen Beispielen können einige verallgemeinernde Überlegungen zur politischen Ausstellung angestellt werden. Dies geschieht auf zwei verschiedenen Ebenen: Zum einen sollen die konkreten Faktoren beschrieben werden, welche eine Politizität bzw. Politisierung von Kunstaustellungen ermöglichen und konkret bestimmen. Daran anschließend gilt es dann, die verschiedenen Dimensionen des Politischen von Kunstausstellungen theoretisch zu differenzieren. Zu den die Politizität von Kunstausstellungen bestimmenden Faktoren gehören erstens die äußeren, strukturellen Rahmenbedingungen. Historisch und kontextuell jeweils spezifisch, legen sie die Parameter fest, innerhalb derer sich politische Ausstellungen und der kuratorische Handlungsspielraum konfigurieren. Dazu zählen institutionelle Voraussetzungen wie Finanzierungs- und Machtstrukturen in Ausstellungsbetrieben ebenso wie diskursive Rahmenbedingungen. Letztere bestimmen wiederum Bedeutung und Bezugsrahmen der unterschiedlichen Auffassungen von ‚Öffentlichkeit‘, ‚Publikum‘ und des ‚Politischen‘ in Abhängigkeit vom jeweils gültigen Staatssystem sowie die unterschiedlichen Begriffe von ‚Kunst‘ bzw. ‚Ausstellung‘ und ihre Bewertung als ‚offiziell‘ oder ‚inoffiziell‘, ‚institutionell‘ oder ‚alternativ‘, ‚engagiert‘ oder ‚autonom‘. Je nachdem stehen der Kunstausstellung geschützte oder ungeschützte, staatlich geförderte oder private, erwünschte oder verbotene Räume offen, um überhaupt politisch aufzutreten bzw. wahrgenommen zu werden. Innerhalb dieses Möglichkeitsraumes agieren zweitens verschiedene Akteure, die aufgrund unterschiedlicher Intentionen, Erwartungen und Funktionen eine Politizität der Kunstausstellung beanspruchen (oder auch negieren oder zu vermeiden suchen). Hierzu gehören nicht nur die Produzentinnen und Produzenten der Ausstellungen im engeren Sinn – also die Kuratorinnen und Kuratoren bzw. Künstlerinnen und Künstler –, sondern auch Vertreterinnen und Vertreter anderer Positionen im Ausstellungsbetrieb wie etwa die in der Museumsleitung, in der Kunstvermittlung oder in der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit Tätigen. Diese können verschiedene oder auch durchaus widersprüchliche Interessen vertreten, die z. B. institutionspolitisch, hierarchisch oder karrierestrategisch begründet sind, und grenzen daher den Spielraum von Ausstellungen als politisches Referenzfeld weiter ein, geben eine politische Lesart explizit vor oder halten umgekehrt den Deutungsrahmen möglichst offen, um die Auslegung dem Publikum zu überlassen. Dieses wiederum bildet zusammen mit der Rezeption in Kunstkritik, Medien und Wissenschaft eine weitere Instanz, um die Bestimmung als politische Ausstellung – gegebenenfalls auch unabhängig von den Ausstellungsproduzierenden und ihren Strategien der Publikumsadressierung bzw. erst nachträglich – zu treffen. Faktoren innerhalb der dynamischen Konstellationen der Beanspruchung bzw. Zuschreibung des Politischen einer Kunstausstellung sind schließlich auch drittens die gezeigten Objekte selbst in ihrer jeweiligen materiellen, medialen und ästhetischen Spezifik sowie die Mittel und Strategien ihrer Präsentation. Dies betrifft einerseits bewusst aufgrund von kuratorischen, institutionellen oder künstlerischen Intentionen vorgenommene Entscheidungen über Inklusion und Exklusion sowie Verfahren und Setzungen in Raumanordnung, Displayform und Vermittlungsweise, andererseits aber
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auch unabhängig von diesen in der räumlichen Konstellation und visuellen Präsenz sich entfaltende Bezüge, die politisch lesbar oder wirksam werden. Erst im Zusammenspiel dieser Faktoren wird eine Bewertung, Behauptung oder Wahrnehmung einer Ausstellung als ‚politisch‘ möglich. Eine kunsthistorische Analyse politischer Kunstausstellungen – im Sinne einer Kunstgeschichte als Ausstellungsgeschichte41 – muss daher die historische Spezifik ihres jeweiligen Zusammentreffens berücksichtigen, um davon ausgehend übergreifende systematische Schlüsse treffen zu können, wie es sich auch der vorliegende Band zum Ziel gesetzt hat. Bevor jedoch die darin enthaltenden Beiträge näher vorgestellt werden, sollen zunächst als vorläufiges Ergebnis die unterschiedlichen Dimensionen des Politischen in Kunstausstellungen zusammengefasst werden: Es gibt eine Politizität der Ausstellung an sich, die sich u. a. in verschiedenen Varianten von Displays ausdrücken kann, aber auch eine spezifischere Politizität, die sich in konkreten Intentionen, Kontexten, Reaktionen manifestiert. In diesem Sinn wird das Politische einer Kunstausstellung entweder in ihrem Selbstverständnis als politische Handlung – mit einer konkreten politischen, affirmativen oder kritischen Zielsetzung im Zusammenhang einer spezifischen Situation – verortet oder im allgemeinen Verständnis der gesellschaftlichen Verantwortlichkeit von Kunst bzw. der sie ausstellenden Institutionen und deren Vorbildfunktion für die Ausbildung von Protestkultur, Zivilgesellschaft, Demokratie, Dialog, Kritikfähigkeit, Reflexivität etc. Dabei ist zu unterscheiden zwischen Intentionalität und Implizität des Politischen. Diese können sich in verschiedenen Strategien des Ausstellens und Formulierens politischer Intentionen, z. B. durch die Raumgestaltung, begleitende Texte, Aussagen der beteiligten Akteure usw. artikulieren. Damit hängt auch die Frage nach der Notwendigkeit von expliziter Selbstreflexivität bzw. -kritik für eine (zeitgenössische) politische Ausstellungspraxis zusammen. So kann das Politische der Ausstellung auch im Problematisieren einer Politisierung von Kunst und ihren Ausstellungsweisen im Sinne einer ideologischen oder didaktischen
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41 Beispiele für eine solche Kunstgeschichtsschreibung als eine Geschichte der Kunstausstellung sind: Bruce Altshuler, The Avant-Garde in Exhibition: New Art in the 20th Century, New York 1994; Staniszewski 1998 (wie Anm. 4); Bruce Altshuler, Exhibitions that made Art History, Vol. 1: Salon to Biennial 1863–1959, London 2008; Hans Ulrich Obrist, A Brief History of Curating, Zürich 2008; Charlotte Klonk, Spaces of experience: art gallery interiors from 1800 to 2000, New Haven, Conn. 2009; Bruce Altshuler, Exhibitions that made Art History, Vol. 2: Biennials and beyond 1962–2002, London 2013; Esse. arts+opinions 84/2015: Exhibitions; sowie die seit Herbst 2010 von Afterall, London in Kooperation mit der Akademie der bildenden Künste Wien und dem Van Abbemuseum, Einhoven herausgegebene Reihe Exhibition Histories, in der bisher sechs Bände erschienen sind, die sich jeweils einzelnen maßgebenden Ausstellungen seit 1969 widmen. Zu einer mit dieser Ausstellungsgeschichtsschreibung zusammenhängenden, teilweise problematischen Kanonbildung der Ausstellungsgeschichte vgl. Manifesta Journal 11/2011: The Canon of Curating, darin insbes. den Beitrag von Bruce Altshuler. Einen wesentlichen Beitrag zur Erforschung der Geschichte der Kunstausstellung stellte auch die Ausstellung Stationen der Moderne in der Berlinischen Galerie dar (vgl. Roters 1988, wie Anm. 4), die nicht nur wichtige Ausstellungen in Deutschland rekonstruierte und kommentierte, sondern in deren Folge auch eine Reihe von Ausstellungskatalogen als Reprint zugänglich gemacht wurden.
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Instrumentalisierung liegen, um deren Autonomie, den ästhetischen Eigenwert und eine damit verbundene Offenheit zu verteidigen. Mit Rancière gesprochen, muss die politische Aussage und Wirkung somit auch nicht im politischen Feld selbst stattfinden, sondern die Kunstausstellung trägt gleichsam indirekt zur politischen Veränderung bei, indem sie in dem ihr eigenen Feld agiert. Wie das Verhältnis von Funktionalisierung und Kunstautonomie oder der Begriff der Öffentlichkeit muss auch das Politische der Ausstellung immer neu hergestellt werden. Es bleibt dabei kontextabhängig, relational und historischen Verschiebungen unterworfen. Ausstellungen bieten einen geschützten Freiraum mit spezifischen Handlungspotenzialen im Kontext politischer Konflikte. Um in diesem Sinn agieren zu können, brauchen Kunstinstitutionen jedoch selbst einen gesicherten Schutzraum innerhalb der Gesellschaft, damit sie nicht zum Spielball der Politik werden. Das Feld der Kunst ist somit ebenso schutzbietend wie schutzbedürftig und schützenswert. Die Ausstellung ist eine besondere Erscheinungsform, um diesen ‚Handlungsraum‘ der Kunst tatsächlich räumlich und örtlich zu konkretisieren.
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die beiträge und ihr diskursiver kontext Der vorliegende Band geht auf das Symposium When Exhibitions become Politics. Geschichte und Strategien des politischen Ausstellens zurück, das vom 15. bis 17. Mai 2014 an der Friedrich-Schiller-Universität Jena stattgefunden hat. Diese Tagung hatte sich zur Aufgabe gestellt, theoretisch nach dem der Ausstellung inhärenten Politischen zu fragen, kunsthistorisch-empirisch das Feld der politisch intendierten oder in politische Konflikte hineingeratenen Kunstaustellungen zu durchmessen, dabei Ansätze einer Systematisierung zu erproben und in Einzelstudien das komplexe Gefüge von Akteuren, Praktiken und institutionellen wie diskursiven Rahmenbedingungen exemplarisch zu untersuchen, in dem sich die Politizität der Ausstellung im je konkreten Einzelfall realisiert. Das Thema liegt in der Schnittmenge von drei größeren Diskurs- und Handlungsfeldern, welche die Reflexion und Praxis des Ausstellens von Kunst in den letzten Jahrzehnten mit unterschiedlichen zeitlichen Schwerpunkten geprägt haben. Da sie für die Tagungsdiskussionen von Bedeutung waren, sollen sie hier knapp skizziert werden: Da ist erstens die kritische Aktualisierung und Hinterfragung des Museums und der Ausstellung seit den 1970er-Jahren: Aus dem Umfeld des 1968 gegründeten Ulmer Vereins für Kunstwissenschaft entwickelten Vertreterinnen und Vertreter einer kritischen Kunstgeschichte unter dem Schlagwort ‚Lernort contra Musentempel‘ aufklärerisch-emanzipatorische Ansätze der Präsentation und Vermittlung von Kunstwerken.42 42 Ellen Spickernagel/Brigitte Walbe (Hg.), Das Museum. Lernort contra Musentempel, Gießen 1976; rückblickend: Fehr 1998 (wie Anm. 15); Dröge/Hoffmann 2010 (wie Anm. 9); Gisela Staupe (Hg.), Das Museum als Lern- und Erfahrungsraum. Grundlagen und Praxisbeispiele, Wien 2012. Zur Kritik, Theoretisierung und Analyse des Museums bzw. der dort stattfindenden bedeutungserzeugenden Ausstellungspraktiken und deren Neukonzipierung seit den 1980ern vgl. darüber hinaus auch: Stephen Bann, Das ironische Museum, in: Jörn Rüsen/Wolfgang Ernst/Heinrich Theodor Grütter (Hg.), Geschichte sehen. Beiträge zur Ästhetik historischer Museen, Pfaffenweiler 1988, S. 63–68; Eilean Hooper-Greenhill: Museums and the Shaping
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Die Vermittlungsarbeit erhielt dabei eine starke Aufwertung. In der Ausstellungspraxis wurde vielfach auf Inhalte und Ästhetiken der historischen Avantgarden zurückgegriffen.43 Die vor diesem Hintergrund realisierten Ausstellungen waren daher häufig implizit politischen Charakters. In der zeitgleich einsetzenden institutionskritischen Kunst, welche die hinter Sammlungs- und Ausstellungspraktiken stehenden Mechanismen offenlegte,44 über dialogische und partizipative Kunstpraktiken, welche die unmittelbare Integration des Publikums in den Produktionsprozess in den Mittelpunkt stellen,45 bis hin zu Ansätzen des New Institutionalism und dessen Kritik als letztendliche neo-kapitalistische Vereinnahmung genau solcher Strategien46 wurde die didaktisch-emanzipative Vorstellung von der Politizität der Kunstausstellung weiter bzw. an ihre Grenzen geführt. Als zweites ist die (Neu-)Konzeptualisierung und Theoretisierung des Kuratorischen seit den 1980er-Jahren zu nennen, die dazu geführt hat, das Verhältnis zwischen Künstler bzw. Künstlerin und Kurator bzw. Kuratorin neu zu denken und den kuratorischen Akt – auch in Anlehnung an den künstlerischen – anders zu werten.47 Dabei entstanden Ausstellungen, die das Dispositiv ‚Ausstellung‘ selbstkritisch reflektieren und mitunter subversiv zu unterlaufen suchen. In der Unterscheidung des ‚Kuratierens‘ als technisch-handwerkliche Praxis des Organisierens und Verwaltens vom ‚Kuratorischen‘
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of Knowledge, London 1992; Daniel J. Sherman/Irit Rogoff (Hg.), Museum Culture: histories, discourses, spectacles, London 21995 (Reprint 2011); Emma Barker (Hg.), Contemporary cultures of display, New Haven 1999; Hans D. Huber/Hubert Locher/Karin Schulte (Hg.), Die Kunst des Ausstellens. Beiträge, Statements, Diskussionen, Ostfildern 2002; Petra Lutz (Hg.): Dingwelten. Das Museum als Erkenntnisort, Köln/Weimar 2005; Kunstforum International 186/2007: Das Neue Ausstellen. Ausstellungen als Kulturpraktiken des Zeigens; Werner Hanak-Lettner, Die Ausstellung als Drama: Wie das Museum aus dem Theater entstand, Bielefeld 2010; Michael Fehr/Tobias G. Natter/Bettina Habsburg-Lothringen (Hg.), Die Praxis der Ausstellung. Über museale Konzepte auf Zeit und Dauer, Bielefeld 2012; Katja Hoffmann, Ausstellungen als Wissensordnungen. Zur Transformation des Kunstbegriffs auf der Documenta 11, Bielefeld 2013. Vgl. den Beitrag von Anna Schober in diesem Band. Vgl. Johannes Meinhardt, Institutionskritik, in: Hubertus Butin (Hg.), DuMonts Begriffslexikon zur zeitgenössischen Kunst, Köln 2006, S. 126–130; Martha Buskirk, The Contingent Object of Contemporary Art, Cambridge, Mass./London 2003, Kapitel 4: Context as Subject, S. 161–208; Peter Weibel (Hg.), Kontext Kunst. Kunst der 90er Jahre, Köln 1994. Zu Entwicklung, Geschichte und insbesondere dem Wandel der kunsthistorischen Theoretisierung von partizipativen Praktiken vgl. Elisabeth Fritz, Authentizität – Partizipation – Spektakel. Mediale Experimente mit ‚echten Menschen‘ in der zeitgenössischen Kunst, Köln/Weimar/ Wien 2014, S. 28–39. Vgl. Jonas Ekeberg (Hg.), New Institutionalism, Oslo 2003; Claire Doherty, New Institutionalism und die Ausstellung als Situation, in: Peter Pakesch u. a. (Hg.), Protections. Das ist keine Ausstellung, Ausst.-Kat. Gutshaus Kranz & Steirischer Herbst, Graz 2006, S. 63–77; Nina Möntmann, Art and its institutions. Current conflicts, critique and collaborations, London 2006. Siehe dazu auch den Beitrag von Gürsoy Doğtaş sowie die Diskussion zum Beitrag von Fiona Geuß in diesem Band. Vgl. u. a.: Judith Rugg/Michèle Sedgwick (Hg.), Issues in Curating Contemporary Art and Performance, Bristol 2007; Magda Tyzlik-Carver, Interfacing the Commons: curatorial system as a form of production on the edge, in: APRJA. A peer-reviewed journal about 1/2011: Public interfaces, www.aprja.net/?p=1037 (Letzter Zugriff: 22. September 2015); Texte zur Kunst 86/2012: The Curators; Beatrice von Bismarck/Jörn Schafaff/Thomas Weski (Hg.), Cultures of the curatorial, Berlin 2012; ARGE schnittpunkt (Hg.), Handbuch Ausstellungstheorie und -praxis, Köln 2013.
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als übergeordnetes Prinzip der Bedeutungszuschreibung und des In-Beziehung-Setzens von Artefakten wird auch der Versuch deutlich, das Politische nicht in den Kunstwerken oder deren konkreten Zusammenstellung in einer Ausstellung, sondern im Kuratorischen selbst bzw. der Rolle des Kurators bzw. der Kuratorin zu verorten.48 Eine damit verbundene tendenzielle Affirmation kuratorischen Handelns wird dann problematisch, wenn sie die Möglichkeit einer kritischen Analyse von Ausstellungen als an sich hegemoniale Form unterbindet.49 Das dritte Diskursfeld ist schließlich die Redefinition von Öffentlichkeit seit den 1990er-Jahren: In kritischer Auseinandersetzung mit Habermas’ Öffentlichkeitstheorie entstanden unter Bezug auf Henri Lefebvres Raumtheorie neue Konzepte des Öffentlichen, die teils die Bedeutung des Raums, teils die Bedeutung von Dissens und Konflikt, teils dialogische Konzepte des Aushandelns und des Zwischenraums in den Vordergrund stellen.50 Diese Theorien wurden grundlegend für Konzepte von Kunst im öffentlichen Raum sowie die Theoretisierung partizipativer Kunstpraktiken.51 Die Integration von sozialer Kommunikation, Kollaboration und Interaktion in Kunst- und Ausstellungsbegriffe bzw. deren politisches Selbstverständnis, wie sie etwa in Nicolas Bourriauds Relational Aesthetics zutage tritt52, trifft dabei seit Ende der 1990er-Jahre auch auf kritische Stimmen. Insbesondere in den Publikationen von Claire Bishop werden solche Gemeinschaftskonzepte als harmonistisch kritisiert und zugunsten eines agonistischen und konflikthaften Modells abgelehnt.53 48 Vgl. Maria Lind, The Curatorial, in: Artforum 2009, S. 103; dies. (Hg.), Performing the Curatorial. Within and Beyond Art, Berlin 2012; Jean-Paul Martinon, The Curatorial: A Philosophy of Curating, London 2013. Zur Problematik eines sich in diesem Zusammenhang vor allem von Kuratorinnen und Kuratoren selbst entwickelnden ‚kuratorischen Diskurses‘ im Gegensatz zu einer kunsthistorisch-wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Geschichte von Ausstellungen vgl. Felix Vogel, Notes on exhibition history in curatorial discourse, in: On-Curating. org 21/2013, 46–54, www.on-curating.org/index.php/issue-21-reader/notes-on-exhibitionhistory-in-curatorial-discourse.html#.VgFQKZfUK7Q (Letzter Zugriff: 22. September 2015). 49 Vogel 2013 (wie Anm. 48), S. 51. Felix Vogel weist in Bezug auf eine bereits existierende Divergenz der Kunstgeschichtsschreibung im musealen oder universitären Kontext darauf hin, dass sich mit dem kuratorischen Feld ein weiterer Bereich etabliert hat, welcher als Instanz der Theorie und Geschichte von Ausstellungen jedoch zu problematisieren ist, da hier letztlich immer auch die Legitimierung der eigenen kuratorischen Praxis mit auf dem Spiel stehe. Zur Unterscheidung der verschiedenen Formen von Kunstgeschichtsschreibung in den Kontexten Museum und Universität vgl. Charles W. Haxthausen (Hg.), The two art histories: The museum and the university, Yale 2002. 50 Henri Lefebvre, La production de lʼespace, Paris 1974 (engl.: The Production of Space, Malden 1991); Hannah Arendt, Vita activa oder vom täglichen Leben, München 2010; Laclau/Mouffe 2015 (wie Anm. 1). Für einen allgemeinen Überblick zur Begriffsgeschichte von ‚Öffentlichkeit‘ siehe: Peter-Uwe Hohendahl, Öffentlichkeit. Geschichte eines kritischen Begriffs, Stuttgart 2000. 51 Vgl. z. B. Marius Babias/Achim Könnecke (Hg.), Die Kunst des Öffentlichen, Amsterdam/Dresden 1998; Rosalyn Deutsche, Evictions – Art Spatial Politics, Boston 1998; Nina Möntmann, Kunst als sozialer Raum, Köln 2002; Johanna Billing/Maria Lind/Lars Nilsson (Hg.), Taking the Matter into Common Hands. On Contemporary Art and Collaborative Pracitices, London 2007. 52 Nicolas Bourriaud, Relational Aesthetics, Paris 2002. 53 Claire Bishop, Antagonism and Relational Aesthetics, in: October 110/2004, S. 51–79; dies., The Social Turn: Collaboration and its Discontents, in: Artforum 6/2006, S. 178–183; dies.: Artificial hells. Participatory art and the politics of spectatorship, London 2012.
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In den Beiträgen und Diskussionen des Symposiums wurde auf diese drei Diskurs- und Handlungsfelder vielfach Bezug genommen, doch richtete sich das Interesse dabei nicht auf das Kuratieren, das Museum oder die Öffentlichkeit im Allgemeinen, sondern – spezifischer – auf die Kunstausstellung selbst. Es ging um Fragen wie: Aufgrund welcher Strategien und Kontexte erlangt eine Ausstellung politischen Charakter? Welche Konsequenzen hat diese Politisierung für die ausgestellten Kunstwerke und wie interagieren die Werke in diesem spezifischen Kontext? Inwiefern reflektiert die Ausstellungsstrategie die Strategien politischer Kunst? Welche Konflikte ergeben sich aus dem Spannungsverhältnis von künstlerischem Autonomieanspruch und intervenierendem Engagement? Werden traditionelle Erwartungshaltungen an Kunstausstellungen unterlaufen oder auch bedient? Welche Publika werden erreicht, welche Rezeptionsformen hervorgerufen? Welcher Kunstbegriff liegt dem einzelnen Ausstellungsprojekt implizit oder explizit zugrunde, welche Auffassung des Politischen und des Verhältnisses zwischen beiden? Welche Ziele und Ansprüche sind mit der Ausstellung intendiert und welche (möglicherweise unbeabsichtigten) politischen Auswirkungen ziehen sie nach sich? Bei der Auswahl der untersuchten Beispiele erwies sich eine Einschränkung auf die Zeitspanne von den 1960er-Jahren bis in die unmittelbare Gegenwart als erforderlich – zum einen, weil in dieser Zeit wesentliche diskursive Umbrüche und Neubestimmungen des Ausstellens stattgefunden haben, und zum anderen aufgrund der bemerkenswert hohen Anzahl und Variantenbreite relevanter Beispiele. Entstanden ist somit eine exemplarisch angelegte, mit systematisierendem Anspruch verbundene Übersicht über ein halbes Jahrhundert der Geschichte, Strategien und Erfahrungen gesellschaftspolitisch interessierter oder involvierter Kunstausstellungen. Der Band ist in vier Schwerpunkte gegliedert. Unter dem Titel Positionen/Interventionen. Ausstellungen im Rückblick von Beteiligten steht am Beginn eine Gruppe von Beiträgen, deren Autorinnen und Autoren ihre Erfahrungen mit Ausstellungsprojekten, an denen sie selbst aktiv beteiligt waren, reflektieren. Dabei werden Einblicke in die konzeptionellen wie praktischen Entstehungsbedingungen der Projekte ebenso wie in strukturelle Probleme bei deren Realisierung und auch in die dabei entstandenen (Eigen-)Dynamiken gegeben, die mitunter zu Differenzen zwischen den ursprünglichen Intentionen, den Rezeptionsweisen und den längerfristigen Wirkungen geführt haben oder auch auf unerwartete Weise produktiv geworden sind. Die Präsentation von Kunst im öffentlichen Raum gilt spätestens seit den 1990er-Jahren als paradigmatische Form des politischen Ausstellens, in ihr vereint sich die Frage der Öffentlichkeit mit einem politischen Kunstbegriff, der das Publikum durch direkte Ansprache involvieren möchte. Berühmt geworden ist die auf Initiative von Rebecca Horn und Heiner Müller 1990 in Berlin organisierte Ausstellung Die Endlichkeit der Freiheit, die auf die damals noch relativ offene Situation nach dem Mauerfall reagierte. Hans Dickel, der an der Realisation des Projekts mitgewirkt hat, berichtet über die kulturpolitische Vorgeschichte öffentlicher Ausstellungen zeitgenössischer Kunst in West- wie Ostberlin sowie die nötigen Kompromisse bei der Realisierung des Konzepts einer grenzüberschreitenden Ausstellung, deren Idee noch vor dem Mauerfall entstanden war. Anhand ausgewählter Arbeiten erörtert er die unterschiedlichen Herangehensweisen des künstlerischen Ortsbezugs sowie ihr Verhältnis zu den Erwartungen der
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Initiatoren und die Wirkungen beim Publikum. Dabei wird deutlich, wie die Ausstellung zum Vorboten der sich im Verlauf der 1990er-Jahre entwickelnden touristischen Attraktion Berlins als Begegnungsort deutscher Geschichte wurde. Ein Beispiel aus der jüngeren Vergangenheit thematisiert im Anschluss der Beitrag von Hans D. Christ, der aus der Perspektive der Direktion des Württembergischen Kunstvereins schildert, wie die Ausstellung Die Kunst, nicht dermaßen regiert zu werden (2010/2011) zum Austragungsort der Konflikte um das Bauvorhaben Stuttgart 21 wurde. Setzte sich das Ausstellungsprogramm des Kunstvereins bereits zuvor mit der Problematik der Auswirkungen neoliberaler Entwicklungen auf Kunst- und Kulturpolitik sowie die Arbeitsbedingungen der darin Tätigen auseinander, so wurde dieses Anliegen durch den Bezug auf einen aktuellen politischen Konflikt konkret und praktisch zugespitzt. In der expliziten öffentlichen Positionierung und Öffnung der Räumlichkeiten des Kunstvereins als Treffpunkt für Diskussionen, Arbeitsgruppen und Workshops der Protestbewegung spiegelt sich dabei ein grundsätzliches Verständnis der politischen Verantwortlichkeit von Kunstinstitutionen. Im Beitrag von Verena Krieger wird schließlich das Ausstellungsprojekt BrandSchutz // Mentalitäten der Intoleranz (2013) in Jena vorgestellt, welches auch den größeren Rahmen der Tagung When Exhibitions become Politics bildete. Diese Ausstellung und ihr umfangreiches Begleitprogramm waren durch den NSU-Skandal ausgelöst worden. Ihr Konzept war, mit den künstlerischen Mitteln auf die sich verbreitenden, den Rechtsextremismus begünstigenden intoleranten Mentalitäten in der Gesellschaft zu reagieren und so die spezifischen Potenziale und Wirkungsweisen der bildenden Künste in einem aktuellen gesellschaftlichen Konfliktfeld zu erproben. Arbeiten von 21 internationalen zeitgenössischen Künstlerinnen und Künstlern waren für die Dauer der Ausstellung an zehn verschiedenen Orten in der Stadt zu sehen, wo sie auf eine mit Gegenwartskunst kaum vertraute Bevölkerung stießen. In ihrem Beitrag erläutert Krieger die dem Projekt zugrunde liegenden konzeptionellen Überlegungen in politikwissenschaftlich-soziologischer wie auch in kunsttheoretischer und -historischer Hinsicht und schildert im Rückblick die damit verbundenen Ziele, Probleme und Wirkungen. Nach diesen drei aus der Praxis kommenden und retrospektiv in größere Zusammenhänge gestellten Erfahrungsberichten ist die nächste Sektion des Bandes Konfigurationen des Politischen und Ästhetischen gewidmet. Hier werden ausgewählte Ausstellungen exemplarisch in den Blick genommen, um davon ausgehend allgemeine theoretische Überlegungen zur Politizität der Kunstausstellung zu formulieren. Rachel Mader zeigt mit Art for Society von 1978 in London ein frühes Beispiel einer sozial-politisch ausgerichteten Ausstellung auf. Anhand von Sitzungsunterlagen und Protokollen aus dem Archiv der Whitechapel Gallery rekonstruiert Mader die im Vorfeld geführten Diskussionen bei der Konzipierung des Projekts und die damit zusammenhängende Frage nach einer umfassenden Neuausrichtung der Galerie im lokalen wie internationalen Kontext. Das Fallbeispiel erweist sich dabei als repräsentativ für zentrale Debatten des kulturpolitischen wie kuratorischen Diskurses seiner Zeit, insbesondere in Bezug auf die gesellschaftliche Rolle von Kunstschaffenden, die unterschiedlichen in Kunstinstitutionen vertretenen Interessen wie die daraus sich ergebenden Konflikte und Einschränkungen für die Organisation von Ausstellungen. Die Zuspitzung dieser
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Fragen im Hinblick auf Ausstellungs- und Museumspraktiken in Deutschland seit den 1980er-Jahren, welche durch den Bezug zu avantgardistischen Strategien der Ironie, Montage, Entfremdung und des Bruchs einen politischen Anspruch einfordern, thematisiert Anna Schober in ihrem Beitrag. Sie zeichnet anhand von Beispielen nach, wie sich die Berufung auf diese Inszenierungsstrategien und ihre theoretischen Grundlagen bei Bertold Brecht und Walter Benjamin herausgebildet und weiterentwickelt hat. Dabei wird die von diesen museologischen bzw. kuratorischen Taktiken vorausgesetzte Annahme hinterfragt, dass die ironische oder ambige Gegenüberstellung von Objekten in Ausstellungen und die dadurch ermöglichte Offenheit bzw. Relativität der Lesart an sich als politisch-kritisch zu werten sei. Mit dem Begriff des ‚Gastspiels‘ fasst daraufhin Beatrice von Bismarck eine grundsätzliche politische und ethische Dimension des Ausstellens im Hinblick auf eine gegenseitige Verantwortung der Beteiligten. Auf Bourdieus Felder-Theorie aufbauend, wird das Format ‚Ausstellung‘ als Ergebnis der Verknüpfungs- und Übersetzungshandlungen unterschiedlicher Akteure in Prozessen der Bedeutungszuweisung beschrieben, welches sich in verschiedenen Formen eines ‚Zusammenstellens im Öffentlichen‘ realisieren kann. Anhand zweier Beispiele erläutert von Bismarck die kuratorische Auseinandersetzung mit diesem komplexen Gefüge der Ausstellung im selbstkritisch-reflexiven Collagieren und Rahmen der getroffenen Setzungen sowie in der Umverteilung sozialer Rollen und Aufgaben der Teilhabe im Kunstfeld. Während die in den bisherigen Beiträgen diskutierten Ausstellungen aus dem deutsch- und englischsprachigen Raum und damit dem Kontext parlamentarischer Demokratien stammen, in welchen Kunstinstitutionen über relative Freiräume verfügen, innerhalb derer eine gesellschaftskritische Positionierung von Kunstausstellungen wenn auch nicht immer erwünscht, so doch grundsätzlich möglich ist, werden in der dritten Sektion Im Spannungsfeld des politischen Zeitgeschehens Ausstellungen besprochen, welche unter deutlich schwierigeren gesellschaftspolitischen Bedingungen realisiert wurden. Mit II. Permanente Manifestationen (1966) und Danuvius 68 (1968), den beiden frühesten besprochenen Fallbeispielen in diesem Band, untersucht Andrea Bátorová die Konflikte zwischen ‚offizieller‘ und ‚inoffizieller‘ Kunst in der Slowakei der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre. Sie schildert Auswirkungen der politischen Ereignisse um 1968 und die damit verbundenen Möglichkeiten und Hindernisse der Ausstellung von ‚alternativen‘ zeitgenössischen slowakischen Künstlerinnen und Künstlern. Dabei zeigt sich, wie stark der politische Kontext die Rezeption kritischer Kunstpositionen als Provokation sowie deren Anerkennung bzw. Ablehnung prägt. So stehen die zwei Beispiele gleichsam exemplarisch für die unterschiedlichen politischen Voraussetzungen in der Slowakei vor und nach dem Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes bzw. artikulieren sie ihr Potenzial zur Kritik der herrschenden Strukturen dementsprechend in spezifischer, direkter oder indirekter Weise. Der Beitrag von Elena Korowin behandelt das Thema der ‚non-konformen‘ Kunst in Bezug auf einen aktuelleren Kontext, nämlich im Russland der 2000er-Jahre. Die Ausstellung Verbotene Kunst machte sich 2007 jene Werke von Künstlerinnen und Künstlern zum Gegenstand, die im Jahr zuvor in institutionellen Zusammenhängen abgelehnt wurden. Erst die Sichtbarmachung einer zwar nicht offiziell existierenden, aber in der Praxis umgesetzten Zensur
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zeitgenössischer russischer Kunst macht die tabuisierten Themen explizit, was, wie Korowin darlegt, zudem weitreichende, bis heute andauernde Folgen hatte. Über ein Gerichtsverfahren und die Entlassung der beiden Organisatoren hinaus wurde die Ausstellung so zum Auslöser zahlreicher weiterer künstlerischer Protestaktionen und entsprechender Repressionen. Einen Einblick in die politischen und ökonomischen Strukturen des türkischen Ausstellungsbetriebes bietet im Anschluss Gürsoy Dogˇ taș in seiner Auseinandersetzung mit der 13. Istanbul Biennale (2013) und den dortigen Widersprüchen zwischen der kuratorischen Beanspruchung einer politisch-kritischen Position und den gleichzeitig aufrechterhaltenen institutionellen Machthierarchien. Dieser Konflikt fand in verschiedenen Protestformen gegen die Biennale Ausdruck und wurde zudem durch die Bezüge zur zeitgleichen Gezi-Park-Bewegung weiter verschärft. Dabei führt Doğtaş die Globalisierung des Ausstellungsbetriebes ebenso als Ursache an wie die spezifische Finanzierungsstruktur der türkischen Kunstszene durch große Sponsoren. Auch wenn Protestformen und Biennale somit zwar von den gleichen ideologischen Grundannahmen zeitgenössischer theoretischer Diskurse eines agonistischen Öffentlichkeitsbegriffes ausgehen, führt die Praxis letztlich zur Distanzierung voneinander sowie zum Rückzug der Biennale aus dem öffentlichen Raum. In der vierten und letzten Sektion werden schließlich Überschreitungen des Ausstellungsformats als politischer Akt im Kunstbetrieb näher betrachtet, die auf der Annahme beruhen, dass erst ein den Werk- und Ausstellungsbegriff hinterfragender, erweiternder bzw. ganz auflösender Ansatz die Kunstausstellung zum politischen Forum macht. Barbara Lange widmet sich mit Joseph Beuys einem der einflussreichsten Vertreter dieser Auffassung. Sie behandelt die Hintergründe und Zusammenhänge seines Beitrags zur documenta 6 von 1977, wo im Rahmen der Free International University 100 Tage lang Seminare und Workshops zu zentralen gesellschaftspolitischen Fragen stattfanden und die Großausstellung so explizit zum Ort der politischen Diskussion, sozialen Kommunikation und Meinungsbildung wurde. Lange erläutert, wie dabei das Zusammenspiel von Kunstwerk und Diskussionskultur durch die in Kassel ebenso präsentierte Honigpumpe am Arbeitsplatz eine zentrale Rolle im Transformationsprozess zwischen Kunsterfahrung und real gelebten demokratischen Handlungen einnahm. Dass Beuys’ Strategie jedoch nur eine Form der politischen Artikulation unter anderen bei der documenta 6 darstellte, wird durch den Vergleich mit der Videoinstallation von Ulrike Rosenbach und deren medien- bzw. identitätskritischen Ansatz deutlich. Gespräch und Dialog als erweiterndes Format des traditionellen Ausstellungsbegriffs stehen auch im Fokus der Untersuchung von Fiona Geuß. Sie gibt zunächst einen historischen Überblick über die Entwicklung dialogischer Ausstellungspraktiken in den 1960er- und 1970er-Jahren – im Kontext künstlerischer Widerstandsbewegungen ebenso wie als eine von den Kunstinstitutionen selbst angestrebte Erweiterung des regulären Ausstellungsbetriebes. Anschließend werden konkrete Varianten des dialogischen Ausstellungsformates der 1980er und 1990er-Jahre diskutiert. In Anlehnung an das Öffentlichkeitsverständnis von Hannah Arendt zieht Geuß dabei den Begriff des ‚Zwischenraums‘ als entscheidendes Wertekriterium für ein gelungenes Gesprächsformat im Kunstkontext heran. Den Abschluss der Sektion und dieses Bandes bildet Wiebke Gronemeyers Analyse des umfassenden Projektes Former West, das 2008 als
politische dimensionen der kunstausstellung
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kuratorische, künstlerische, wissenschaftliche und theoretische Plattform im Hinblick auf die Frage nach der Konzeption der westlichen Welt nach 1989 begründet wurde, und damit auch einen Bogen zum Beitrag von Hans Dickel am Beginn dieses Buches schlägt. Former West ist dabei nicht allein als Ausstellung, sondern als Konglomerat einer Vielfalt an Formaten wie Kongressen, Vorträgen, Publikationen und Online-Archiven konzipiert und beinhaltet so eine Vielzahl an kooperierenden, aber auch konkurrierenden Positionierungen. Unter Bezug auf Oliver Marcharts Verständnis von politischer kuratorischer Praxis als gegenhegemonialer Handlungsraum, nimmt Gronemeyer das Gesamtprojekt als ‚Diskursproduktionsmaschine‘ und insbesondere die dadurch erfolgte Rahmung der 2013 stattgefundenen ‚Projektausstellung‘ in den Blick. Dabei zeigt sie, dass die Erweiterung und die darin liegende Politisierung des Ausstellungsformates letztlich auch zu einer Eingrenzung von dessen performativen Qualitäten und ästhetischen Eigenheiten führen können. Zur Produktivität des Symposiums trugen nicht nur die Beiträge, sondern wesentlich auch die lebhaft geführten Diskussionen bei, die weitere Aspekte des Themas ins Gespräch brachten und die Beiträge vielfach in spannungsreiche Bezüge zueinander stellten. Diese Diskussionen konnten auf Grundlage von Mitschnitten in eine redigierte Fassung gebracht und den hier abgedruckten Vortragstexten zur Seite gestellt werden. Dem vielschichtigen und offenen Charakter der geführten Debatten so Ausdruck verleihend, versteht sich die vorliegende Publikation als Beitrag zu einer nicht abgeschlossenen und weiter zu behandelnden Fragestellung und lädt ihre Leserinnen und Leser nun gerne zu dieser Auseinandersetzung ein. Die Beiträge von Werner Fenz und Christian Saehrendt standen für diese Publikation leider nicht zur Verfügung, ihnen sei für ihre Teilnahme am Symposium herzlich gedankt. Einen großen Dank möchten wir zudem Constantin Becker für die Mitarbeit an der Organisation der Tagung, Rebekka Marpert für die Editierung und Kathrin M. Haag für die Transkription der Diskussionsmitschnitte sowie Linn Burchert für ihre Mitarbeit an der Redaktion der Beiträge aussprechen. Abschließend möchten wir unseren ganz besonderen Dank an Christina Reusch ausdrücken. Sie hat nicht nur mit profundem Sachverstand, Engagement und Begeisterung wesentlich zur Realisation des Kunstprojektes BrandSchutz // Mentalitäten der Intoleranz beigetragen, sondern auch an der Konzeption des Symposiums mitgewirkt. Nicht zuletzt verdanken wir ihr die Idee für den beziehungsreichen Titel von Symposium und Publikation. Christina Reusch ist dieses Buch posthum in dankbarer Erinnerung und Zuneigung gewidmet.
die endlichkeit der freiheit 1990 in berlin hans dickel Die Berliner Ausstellung Die Endlichkeit der Freiheit (1990)1 kann aus ihrer Vorgeschichte im Stadtjubiläum des Jahres 1987 heraus verstanden werden: Die 750-Jahrfeier Berlins wurde im Westen wie im Osten mit einer Präsentation von Kunst im Stadtraum begangen. Damals in Konkurrenz zueinander konzipiert, sollte in beiden Hälften Berlins das Gefühl gefestigt werden, auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen. Die Ausstellungen führten aber keineswegs zur Konsolidierung der beiden Konsensgesellschaften. Im Westen hatte der hochambitionierte Skulpturenboulevard (1987) mit künstlerisch anspruchsvoller, aber in der Demokratie höchst umstrittener Kunst zu Verwerfungen geführt.2 Das Publikum tobte, vor allem angesichts von Wolf Vostells Zwei Beton-Cadillacs in Form der nackten Maja, einer Skulptur, die das Auto als Goldenes Kalb ironisiert, und auch angesichts von Olaf Metzels 13.4.1981, dem sogenannten Randale-Denkmal, das den Kampf um die Berliner Hausbesetzungen der 1970er-Jahre thematisierte.3 Die beiden Künstler sahen sich konfrontiert mit dem Hass gutsituierter Bürgerinnen und Bürger, die gefordert hatten, sie ‚gehörten in die Gaskammer‘.4 Der regierende Bürgermeister Eberhard Diepgen distanzierte sich feige von der Ausstellung, obwohl sie ursprünglich vom Senat in Auftrag gegeben worden war. Dies brachte die Verantwortlichen in eine schwierige Situation.5 In Ost-Berlin entstand zur gleichen Zeit das sogenannte Marx-Engels-Forum vor dem ehemaligen Palast der Republik, aufgebaut von einer Gruppe kooperierender Künstler unter Leitung von Ludwig Engelhardt.6 Hier kam ein Ensemble heterogener Werke aus Marmor und Bronze zusammen, dessen Funktion ideologischer Belehrung in einer eher kleinbürgerlichen Idylle verloren ging: Marx und Engels als nette Rentner, fast schon wie Gartenzwerge – ein Sozialismus zum Anfassen. Daneben standen Aluminiumtafeln mit Fotografien zur Weltgeschichte im Stil westlicher Assemblage-Kunst und ein etwas wolkiges Relief vom ewigen Frieden und Lebensglück im Arbeiterstaat. Diese Werke wirkten offen und einladend, sie waren vielstimmig und vielansichtig in Szene gesetzt, so dass von sozialistischer Propaganda keine Rede mehr sein konnte: Die Künstler hatten die Vorgaben der DDR-Kulturpolitik verfehlt. Beide Jubiläumsprojekte im Westen 1 Wulf Herzogenrath/Joachim Sartorius/Christoph Tannert (Hg.), Die Endlichkeit der Freiheit – Berlin 1990. Ein Ausstellungsprojekt in Ost und West, Ausst.-Kat., Berlin 1990. 2 Barbara Straka, Skulpturenboulevard Kurfürstendamm Tauentzien: Kunst im öffentlichen Raum, 2 Bde., Ausst.-Kat. Neuer Berliner Kunstverein, Berlin (West) 1987. 3 Der parlamentarische Geschäftsführer der SPD-Fraktion im Abgeordnetenhaus, Schneider, sprach von einer „Orgie blinder Zerstörungswut“, siehe: o. V., Polizei-Präsenz in der Innenstadt wird nach neuem Krawall verstärkt, in: Der Tagesspiegel, Berlin 14.4.1987, S. 1. 4 So die Leserbriefe und telefonischen Beschimpfungen, wiedergegeben in: Olaf Metzel: 13.4.1981, München 2005, S. 75, 144 und 145. 5 Barbara Straka, Die Berliner Mobilmachung, in: ebd., S. 120–154, hier S. 134, 141. 6 Svenja Moor, Marx-Engels-Forum 1977–1986, in: Hans Dickel/Uwe Fleckner (Hg.): Kunst in der Stadt. Skulpturen in Berlin 1980–2000, Berlin 2003, S. 67–69.
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und Osten der Stadt waren also im Sinne ihrer Auftraggeber politisch gescheitert. Sie hatten aber gezeigt, welches Potenzial die Kunst im Stadtraum im Hinblick auf die Generierung von ‚Öffentlichkeit‘ besitzt, wenngleich diese im Sinne einer Definition Henri Lefebvres auf den demokratisch organisierten Westen beschränkt bleiben musste, entsteht eine „Öffentlichkeit (doch erst) im Aufeinanderprallen antagonistischer Kräfte“, in dessen Folge, „die eingeschliffenen sozialen und kulturellen Verhaltensweisen durcheinandergewirbelt werden“.7 In diesen Jahren kurz vor dem Mauerfall konzipierten zwei Künstler aus Berlin (Ost und West) ein weiterführendes, grenzüberschreitendes Ausstellungsprojekt, visionär und unpragmatisch, der eine deutsch-deutscher Grenzgänger, der Schriftsteller Heiner Müller, die andere Rebecca Horn, eine international gut vernetzte Künstlerin. Am Rande war auch Jannis Kounellis beteiligt, allerdings nicht organisatorisch, da er aus politischen Gründen kein Amerikanisch spricht, schon gar kein Deutsch. Sie wollten Künstlerfreunde einladen, im Stadtraum beider Hälften Berlins jeweils ein Zeichen zu setzen, um einen Dialog mit der anderen Seite anzubahnen. Es sollten korrespondierende Werke sein, Installationen, Interventionen, ohne inhaltliche oder formale Vorgaben. Als die Mauer dann tatsächlich fiel und „die eingeschliffenen sozialen und kulturellen Verhaltensweisen“ (nun tatsächlich) „durcheinandergewirbelt“ wurden, waren die politischen Voraussetzungen für ein solches Ausstellungsprojekt plötzlich gegeben. Mehr noch, der Senat von Berlin, mit der Kultursenatorin Dr. Anke Martiny in verantwortlicher Position, unterstützt vom Deutschen Akademischen Austauschdienst mit Joachim Sartorius, sah nun die Möglichkeit, das Spezifische der Situation Berlins von 1990 einer internationalen Öffentlichkeit mit Kunstwerken zu präsentieren. Anders als geplant, ging also nicht das Ästhetische dem Politischen voraus, sondern umgekehrt. Die Finanzierung des Projekts war deshalb 1990 schnell gesichert, binnen kürzester Zeit kam ein Team zusammen, es waren optimale Voraussetzungen in einer offenen Stadt, die plötzlich im Rampenlicht der Weltöffentlichkeit stand. Für alle Beteiligten galt es, nach dem Fall der Mauer auch die Mauern in den Köpfen, sei es im Osten, sei es im Westen, abzubauen. Die Initiatoren und ihre Gäste suchten Schauplätze für die Kunst, die Realisation der Werke war zwar allenthalben mit Hindernissen konfrontiert, doch getragen von der Euphorie, an einer historisch einmaligen Situation in der Weltgeschichte partizipieren zu dürfen. Die Vorbereitung der Ausstellung im Stadtraum Berlins, mit elf jeweils zweiteilig geplanten Künstlerbeiträgen in Ost und West, erfolgte dann in dem heiteren Sommer des Jahres 1990. Jeder Tag bot damals Überraschungen und Entdeckungen diesseits und jenseits der gefallenen Grenze. Freilich stellte sich der politische Umbruch nur aus westlicher Sicht primär als mentaler Aufbruch dar, für die meisten Bürgerinnen und Bürger im Ostteil der Stadt waren zunächst ökonomische Umwälzungen zu bewältigen, so dass für sie vielleicht eher die folgende Schlagzeile aus einer Berliner 7 Oliver Marchart, Hegemonie und künstlerische Praxis. Vorbemerkungen zu einer Ästhetik des Öffentlichen, in: Ralph Lindner/Christiane Mennicke/Silke Wagler (Hg.), Kunst im Stadtraum. Hegemonie und Öffentlichkeit, Dresden/Berlin 2004, S. 23–42, hier S. 34. Marchart bezieht sich in seiner Argumentation auf: Henri Lefebvre, The Production of Space, Malden 1991. In diesem Sinne konnte es innerhalb der DDR keine Öffentlichkeit geben.
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Zeitung die Stimmung des turbulenten Jahres 1990 bezeichnet: „Angeber-Wessi mit Bierflasche erschlagen. Ganz Bernau ist glücklich.“8
die ausstellung In der Allianz mit der Kulturpolitik mussten die Künstler zunächst Kompromisse eingehen. Es wurde quotiert: Rebecca Horn hatte mit Künstlern ihrer Generation, Freunden aus dem Feld der Arte Povera, die Kerngruppe gebildet: Jannis Kounellis, Mario Merz und Giovanni Anselmo. Es musste ein Westberliner hinzukommen, der Spurensicherer Raphael Rheinsberg wurde gewählt, und ein Künstler aus dem Osten Berlins, der kürzlich emigrierte Via Lewandowsky. Aus Osteuropa sollten Künstler dabei sein, ebenso aus den Siegermächten der westlichen Alliierten. So stießen der kürzlich emigrierte Krzysztof Wodiczko hinzu und der gerade als DAAD-Stipendiat in Berlin arbeitende Russe Ilya Kabakov, für Frankreich Christian Boltanski und für die USA Hans Haacke. Schließlich musste noch die Frauenquote verbessert werden, am besten mit einer Amerikanerin, der ebenfalls als DAAD-Stipendiatin in Berlin arbeitenden Barbara Bloom. Mit ihr kam eine Künstlerin ins Team, die das Prinzip von Dualität und Symmetrien ohnehin thematisierte. Einen ihrer Beiträge realisierte sie in der Gipsabguss-Sammlung der Staatlichen Museen, Regallager (schon im Titel ein Palindrom), indem sie die Abgüsse stets doppelt wie siamesische Zwillinge anordnete.9 Organisatorisch hauptverantwortlich waren die beiden Ausstellungskuratoren Wulf Herzogenrath und Christoph Tannert aus West- bzw. Ost-Berlin. Um jeden Eindruck von Revanchismus zu vermeiden und nicht in das Fahrwasser eines nationalistischen Triumphierens zu geraten, wurde die Ausstellung in der Öffentlichkeitsarbeit mit einem eindeutigen Motiv kommuniziert, einem Foto sowjetrussischer Soldaten in Berlin nach dem Sieg über Hitler-Deutschland am 8.5.1945. (Abb. 1) Rebecca Horn und Heiner Müller hatten ursprünglich vorgesehen, dass die eingeladenen Künstlerinnen und Künstler jeweils zwei korrespondierende Arbeiten im östlichen und im westlichen Stadtteil realisieren sollten, doch dieses gut gemeinte Konzept ließ sich nicht umsetzen. Stattdessen rückten die Beteiligten mit ihren Werken mehrheitlich in das ehemalige Grenzgebiet auf den Mauerstreifen. Es musste viel improvisiert werden. Bei der Planung wusste man nie, in welcher Baustelle man im Stau stecken bleiben würde bzw. welche Telefonzelle schon einen Anschluss in den Westen bzw. in den Osten bot. Meine Rolle war es damals, eine Gruppe von 20 Berliner Studierenden der Freien Kunst zu koordinieren, die den Künstlern assistierend zur Seite standen. Für Christian Boltanski sollte es die erste Arbeit im öffentlichen Raum werden. Zunächst wollte er, unter dem Eindruck der wilhelminischen Pracht- und Protzbauten in der neuen Mitte Berlins, sofort zurück nach Paris und die Einladung absagen. Er 8 O. V., Angeber-Wessi mit Bierflasche erschlagen. Ganz Bernau ist glücklich, in: Der Tagesspiegel, 23. August 1990, S. 10. Siehe auch: Hermann Rudolph, Berlin. Wiedergeburt einer Stadt, Berlin 2014. 9 Herzogenrath/Sartorius/Tannert 1990 (wie Anm. 1), S. 57–70.
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abb. 1 materialien der öffentlichkeitsarbeit zu die endlichkeit der freiheit, ausstellung im öffentlichen raum von berlin (ost und west), 1. september–7. oktober 1990
äußerte zudem große Bedenken, als die Entscheidung für einen Regierungsumzug von Bonn nach Berlin fiel, eine Angst vor der Rückkehr Deutschlands zur alten Größe, die viele Franzosen teilten. Sein Team musste sich etwas Neues überlegen und führte ihn in das Scheunenviertel, damals ein etwas verwahrlostes Viertel, eine Nische für die DDR-Bohème, heute nach 25 Jahren Gentrifizierung voller ,Schickimicki‘ für Berlin-Touristen. In der Großen Hamburger Straße fiel sein Auge auf eine Baulücke, die am Ende des Krieges von einer Brandbombe gerissen wurde: The Missing House.10 Zwei Studierende der HdK Berlin, Christiane Büchner und Andreas Fischer, haben daraufhin für den Künstler recherchiert und in Archiven die Namen der früheren Bewohnerinnen und Bewohner des Hauses gefunden. Manche mussten ihre Wohnungen 1943 verlassen, weil sie deportiert wurden, andere verloren sie 1945, als die Bombe fiel. Boltanski ließ die Namensschilder an den Brandmauern anbringen, genau dort, wo die Menschen gelebt hatten. (Abb. 2) Die Schilder bezeichnen also sowohl die verlorenen Lebenswelten der Menschen als auch den Akt des Verlusts, also die Gewalt des Holocaust für die einen, die des Bombenangriffs für die anderen. Allein die Namenszüge bringen auf den beiden Brandmauern deutsche Geschichte ins Bewusstsein, deutsche 10 Ebd. S. 71–86. Siehe außerdem: Petra Henninger/Christian Boltanski, The Missing House, in: Hans Dickel/Uwe Fleckner (Hg.), Kunst in der Stadt. Skulpturen in Berlin 1980–2000, Berlin 2003, S. 112–114.
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abb. 2 christian boltanski, the missing house, berlin, 1990, zweiteilige installation im öffentlichen raum. ansicht: namensschilder an den brandmauern zweier häuser in der großen hamburger straße
Geschichte mit zwei Seiten. Die Arbeit ist bis heute erhalten geblieben, sie wurde angekauft und wird gepflegt. Der gewünschte zweite Teil im Westen der Stadt, Vitrinen, in denen die Archivfunde, darunter viele private Erinnerungen der Bewohnerinnen und Bewohner in Reproduktionen, präsentiert werden sollten, wurde schon in der ersten Nacht der Ausstellung zerstört. Sie befanden sich auf dem Gelände der Berliner Kunstaustellung, in der 1924 El Lissitzky seinen Prounenraum gezeigt hatte, gleich neben dem heutigen Hauptbahnhof. Mit solchem Vandalismus hatte niemand gerechnet. Krzysztof Wodiczko hatte seine Form für Interventionen im öffentlichen Raum bereits gefunden, als er nach Berlin eingeladen wurde. Er projiziert Großdias auf Denkmäler oder Gebäude. In Ost-Berlin ließ er die Gestalt Lenins im Denkmal von Nicolai Tomski (1970) für ein paar Stunden in neuem Licht erscheinen, indem er Diapositive auf den roten Granit projizierte: Leninplatz-Projektion.11 (Abb. 3) Seine szenische Fik-
11 Herzogenrath/Sartorius/Tannert 1990 (wie Anm. 1), S. 205–226. Siehe außerdem: Krysztof Wodiczko. Public Address, Ausst.-Kat. Walker Art Center, Minneapolis 1992.
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abb. 3 krzysztof wodiczko, leninplatzprojektion, berlin, 1990, diaprojektion auf das lenindenkmal von nicolai tomski (1970)
tion eines Lenin mit Aldi-Tüten markierte in bester Berliner Agitprop-Tradition JohnHeartfields die politische Situation der Zeit. Wodiczko bezog sich mit dieser Montage auf die vielen Kleinhändler aus Osteuropa, vor allem aus Polen, die damals in Berlin Konsumgüter aller Art einkauften und sie mit dem Handwagen in ihre Heimatländer zogen. Es lag nahe, das Bild auch umgekehrt zu lesen, also die Frage zu stellen, ob der Warenkonsum nicht bald auch Lenin fortziehen würde, was dann wenig später tatsächlich geschah, als das Denkmal gegen manchen Widerstand abgebrochen wurde. Wodiczkos Intervention ist ein Beispiel für die vor allem mediale Präsenz der Ausstellung, denn seine Projektion richtete sich keineswegs vorwiegend an die Betrachter vor Ort, sondern an die Leser des Kataloges oder der Artikel in Kunstzeitschriften. Die leuchtstarken Geräte für die Projektion waren viel zu teuer und konnten nur für zwei Abende bezahlt werden. Die Erwartungen der Initiatoren der Ausstellung hat wohl am ehesten der Beitrag von Ilya Kabakov eingelöst, konnte er doch dazu beitragen, nach dem Fall der Mauer auch die Mauern in den Köpfen der Bürgerinnen und Bürger abzubauen: in seinem Werk
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abb. 4 ilya kabakov, zwei erinnerungen an die angst, berlin, 1990, installation auf dem ehemaligen mauerstreifen am potsdamerplatz. gesamtansicht der beiden korridore
Zwei Erinnerungen an die Angst.12 hatte Kabakov zwei Korridore zwischen hölzernen Bauzäunen anlegen lassen, auf dem ehemaligen Mauerstreifen am Potsdamer Platz, damals mitten im märkischen Sand, am heutigen Standort der Landesvertretungen von Niedersachsen und Rheinland-Pfalz, unweit des Leipziger Platzes. (Abb. 4) Aufgespannt wie an Wäscheleinen hingen in beiden Korridoren disparate Fundstücke von der Straße wie Zigarettenschachteln, Knöpfe, Haarspangen, Drahtschlaufen, Bierdosen, Abfall aller Art. (Abb. 5) An jedes Teil hatte der Künstler einen Zettel geheftet, auf dem Meinungen und Mutmaßungen von Menschen aus dem Westen bzw. Osten über die jeweils andere Seite nachzulesen waren – in einem der Gänge auf Englisch und Deutsch, im anderen auf Russisch und Deutsch. (Abb. 6) Die Zettel raschelten im Wind, während die Besucherinnen und Besucher die Sätze auf ihnen lasen. So sollten die beiden Korridore gleichsam als Gänge der Läuterung erfahren werden, in denen die überholten Weltbilder überprüft und befragt wurden angesichts des realen Mülls, den Kabakov auf dem Gelände beiderseits der ehemaligen Grenze aufgelesen hatte. In diesem Kontext erschienen auch die Ideologien als Müll der Geschichte. Kabakov hat in seinem Lehrbuch zur Installationskunst beschrieben, wie die Aufmerksamkeit der 12 Herzogenrath/Sartorius/Tannert 1990 (wie Anm. 1), S. 119–134. Siehe außerdem: Ilya Kabakov. Installations 1983–1995, Ausst.-Kat. Musée National d’Art Moderne, Centre Georges Pompidou, Paris 1995, S. 106–109.
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abb. 5 ilya kabakov, zwei erinnerungen an die angst, berlin, 1990, installation auf dem ehemaligen mauerstreifen am potsdamerplatz. ansicht: fundstücke an wäscheleinen in einem korridor
Besucher zu gewinnen ist: Sie müssen mit allen Sinnen gepackt werden, und da sie die Kunst in der Regel berühren möchten, seien die Werke möglichst robust zu gestalten.13 So war Kabakovs Beitrag gegen Vandalismus geschützt, denn er konnte mühelos jeden Morgen restauriert werden. An diesem Beispiel lässt sich das Erfolgsgeheimnis solcher Installationen gut beschreiben: sie binden die Aufmerksamkeit der Besucher an einen Ort und die ,große‘ Geschichte lässt sich an den vielen kleinen Dingen der privaten Existenz erkunden. Das ist sicher eines der faszinierendsten Merkmale vieler Schauplätze dieser Stadt, ist Berlin doch auch ein großer Themenpark, zunächst für Künstlerinnen und Künstler, mittlerweile aber auch für eine immer noch wachsende Schar von Touristinnen und Touristen. Obwohl die Ausstellung Die Endlichkeit der Freiheit in Berlin wegen der weiten Wege nicht als Gruppenausstellung erfahrbar war, anders als etwa die Skulpturprojekte 13 Ilya Kabakov, Über die „totale“ Installation, Ostfildern 1995.
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abb. 6 ilya kabakov, zwei erinnerungen an die angst, berlin, 1990, installation auf dem ehemaligen mauerstreifen am potsdamerplatz. ansicht: zettel mit meinungsäußerung eines befragten
in Münster, wird es langfristig doch eine ihrer wichtigsten Folgen gewesen sein, die Aufmerksamkeit zunächst der internationalen Fachöffentlichkeit auf Berlin gezogen zu haben. Für diese Zielgruppe war die mediale Präsenz der Werke wichtig – Kataloge, Postkarten, Presse, Film und Fernsehen kommunizierten das Projekt weltweit. Die Ausstellung profitierte dabei von der Dialektik von Aura und Reproduktion.
der kontext Aus Sicht der Initiatoren war die Ausstellung nicht als Auftakt des Berlin-Hypes der 1990er-Jahre geplant, zu dem sie später unerwartet werden sollte. Vor dem Fall der Mauer war zunächst beabsichtigt, einen innerdeutschen, interkulturellen Dialog anzuregen. Mittlerweile aber ist die Begegnung mit deutscher Geschichte einer der Haupt-Anziehungspunkte eines Berlin-Besuches geworden, und dabei sind touristische Attraktion und Bildungserlebnis kaum scharf zu trennen. Die Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert ist mit all ihren Utopien und Verbrechen in Berlin besonders gut
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wahrnehmbar, und die Installationen zahlreicher Künstlerinnen und Künstler in der Stadt haben nachfolgenden Generationen von Berlin-Besuchern gleichsam in ersten Kontaktstellen einen Zugang vermittelt.14 Der morbide Charme, das Bröselnde der Stadt mit all ihrer Diversität in deutschlandweit höchster Dichte, das Unfertige faszinierte in den 1990er-Jahren vor allem die saturierten Westdeutschen, die Bürger aus Stuttgart und Düsseldorf. Währenddessen war dieser Umbruch für manche DDR-Bürger mit durchaus existenziellen Sorgen und Zumutungen verbunden, was sich insbesondere im innerstädtischen Scheunenviertel und am Prenzlauer Berg abspielte, nämlich die Verdrängung auf dem Wohnungsmarkt.15 Was als innerstädtischer Dialog für Berliner Bürgerinnen und Bürger in Ost und West gedacht war, wirkte unter veränderten Rahmenbedingungen als Einstieg für eine internationale Kunstszene in die Stadt und darüber hinaus als Vorhut des Berlin-Tourismus. Diese Funktion stand 1990 nicht im Vordergrund, dürfte aber den Verantwortlichen seitens der Stadt bewusst gewesen sein. Nachdem die politische Repräsentation durch zeitgenössische Kunst in den beiden Ausstellungen in Berlin-Ost und Berlin-West 1987 noch gescheitert war, erwies sich das Ausstellungsprojekt Die Endlichkeit der Freiheit von Rebecca Horn und Heiner Müller als passendes Format für die Berliner Kulturpolitik der Wendezeit. Statt mit einer Ausstellung Politik zu machen, wurde nun also Politik ausgestellt, und zwar die Politik der kleinen Schritte, des Tentativen, der Diplomatie, die nach 1989 in Berlin versucht wurde. Die Kunst partizipierte an einer Ausnahmesituation in der Stadt, bevor sich die Verhältnisse in der neuen Hauptstadt Berlin wieder verfestigten – signifikant sichtbar am viel zu schnell und schlecht wieder aufgebauten Komplex von Bürobauten am zentralen Potsdamer Platz. Die Ausstellung war mit 1,5 Millionen DM vom Berliner Senat gefördert worden, verglichen mit dem documenta-Etat für die elf beteiligten Künstlerinnen und Künstler also recht großzügig. Der Besuch war kostenlos, weil die Werke ohnehin mehrheitlich im Freien standen bzw. frei zugänglich waren, tags bewacht und nachts verschlossen. Von Besucherzahlen und der Reaktion vor Ort weiß man daher wenig, da sie in vielen Fällen eher zufällig erfolgte. Der überwiegend positiven Rezeption in der Fachwelt, die gerade das Tentative der Installationen, ihre offenen Formen lobte, standen freilich die Vorbehalte einer breiteren Öffentlichkeit gegenüber, die die hohen Kosten für nur temporäre Werke beklagte. War Berlin in den 1990er-Jahren noch kein Wirtschaftsstandort mit begleitendem Kulturprogramm für die interessierten Gattinnen wie etwa Frankfurt, sondern eher umgekehrt gerade wegen seiner Geschichte und Kultur das Reiseziel, so ist mittlerweile gerade der Tourismus-Sektor zu einem Wirtschaftsfaktor geworden. Die Verantwortlichen beim Senat können es bis heute kaum fassen, was ihnen in den 25 Jahren seit dem Mauerfall gelungen ist, eine Vervierfachung der Übernachtungszahlen wie auch der 14 Vgl. Dickel/Fleckner 2003 (wie Anm. 6). 15 Jesko Fezer/Axel John Wieder, Raum begrenzter Möglichkeiten – Stadtentwicklung in Berlin nach 1989, in: Ute Meta Bauer (Hg.), Ausst.-Kat. 3. Berlin Biennale für zeitgenössische Kunst, Köln 2004, S. 73–82.
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Hotelbetten in Berlin, knapp 300.000 Arbeitsplätze, die direkt oder indirekt mit dem Tourismus zusammenhängen. Berlin ist immer noch die billigste Metropole Europas. Zu diesem Erfolg hat die Ausstellung Die Endlichkeit der Freiheit 1990 in Berlin unfreiwillig beigetragen. Aus heutiger Sicht ist sie deshalb auch als ein Auftakt des Kunst-Hypes der Stadt sowie des daran anschließenden Booms im Städte-Tourismus zu bewerten.
diskussion andrea bátorová: Sie hatten erzählt, dass das Projekt bereits 1987 angedacht wurde. Wie haben die Planungen vor 1989 ausgesehen? Inwiefern unterscheiden sich die ursprünglichen Planungen der Künstler von der realisierten Ausstellung?
hans dickel: Die Planung müssen Sie sich wie ein Gespräch unter Freunden vorstellen. Rebecca Horn und Heiner Müller waren eng miteinander befreundet und kannten viele Kolleginnen und Kollegen, auch international. Sie haben dieses Konzept entwickelt, um im Osten und Westen im städtischen Raum ein Zeichen zu setzen. Das war unter den Bedingungen der Teilung Berlins in der Form nicht realisierbar und eher utopisch. Sie haben daher den politisch Verantwortlichen ohne präzise inhaltlich-formale Vorgaben die Idee einer Spiegelausstellung in West- und Ost-Berlin vorgeschlagen. Das Konzept bestand eigentlich nur darin, im öffentlichen Raum korrespondierende Werke – einen Teil der Arbeit im Osten und einen Teil im Westen – für eine beschränkte Zeit auszustellen.
hans d. christ: Gehe ich richtig in der Annahme, dass der Mercedes-Stern von Hans Haacke damals auf einem Überwachungsturm an der Mauer platziert war? Die Arbeit16 hatte eine der größten Wellen ausgelöst, weil Mercedes unmittelbar darauf reagiert hat. Hans Haacke stand schon seit der documenta 8 von 1987 auf einer bestimmten ‚Liste‘ bei Mercedes, und hat an diesem symbolischen Ort einen Mercedes-Stern platziert. Mit dem Spruch Saatchi Saatchi first over the wall17 fand gleichzeitig eine Art Branding im öffentlichen Raum statt. Ich wundere mich ein bisschen, warum diese Arbeit nicht in Ihrem Vortrag auftauchte. Die Warnung vor der durchdringenden Ökonomisierung und Kapitalisierung des Ostens ist schon in diesem Werk Haackes angelegt. Sie war damit eine der Arbeiten, die am weitesten vorausschauend auf das, was kommen würde, reagiert hat. Wie wurde das damals aufgenommen, und würden Sie das heute auch als Qualität dieser Ausstellung ansehen?
hans dickel: Sie haben mit Ihrer Beschreibung der singulären Bedeutung von Haackes Intervention vollkommen Recht. Ich kann zum Hintergrund noch ergänzen, dass das Ausstellungsteam 16 Hans Haacke, Die Freiheit wird jetzt einfach gesponsort – aus der Portokasse, 1990, temporäre Installation an einem Berliner Wachturm im ehemaligen Todesstreifen für die Ausstellung Die Endlichkeit der Freiheit. Vgl. dazu z. B. Gabriele Hoffmann, Hans Haacke: Art into society – society into art, Weimar 2011, S. 120–127. 17 Den Siegeszug des Westens mit seinen Strategien der ‚feindlichen Übernahme‘ reflektiert Rudolf Bonvie in seiner Fotoarbeit Pariser Platz Januar 1990: Sie zeigt ein Stück der Berliner Mauer, an dem kurz nach der ‚Wende‘ ein Transparent mit dem Slogan Saatchi & Saatchi first over the Wall hing. http://www.bonvie.info/1985_1992/hartware_projekte.html (Letzter Zugriff: 1. Oktober 2015)
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diesen Turm damals für einen ganz geringen Betrag von der DDR, die vor ihrer Auflösung Teile der Mauer veräußerte, erworben hatte. Der Mercedes-Stern wurde erst am Eröffnungsabend enthüllt. Es war bis zur letzten Minute geheim gehalten worden und dann sofort in allen Medien präsent. Alles dies ist aber gut dokumentiert, so dass ich es hier nicht nochmals ausbreiten wollte.
gürsoy dog˘ taș: Mich interessiert der Öffentlichkeitsbegriff und in welchem theoretischen Rahmen dieser für Die Endlichkeit der Freiheit gefasst wurde. Als Sie über die Ausstellung von 1990 erzählten, ist mir Tilted Arc von Richard Serra18 am Federal Plaza in New York eingefallen. Die Arbeit funktioniert extremer als das Randale-Denkmal in Berlin von Olaf Metzel. D. h. die Arbeit selbst wurde zu einem Politikum, führte zu einem Dissens und einer öffentlichen Debatte. Dies wirft die Frage auf: Was bedeutet eigentlich Öffentlichkeit, und wie können Kunstwerke innerhalb eines Ausstellungskontextes diesbezüglich operieren?
hans dickel: Öffentlichkeit ist schwer absolut zu definieren, sie kann nur relational bestimmt werden. Sie können etwa Orte beschreiben, in denen Öffentlichkeit gewährleistet ist. Das können auch private Orte sein, die eine breitere Palette von Nutzungsmöglichkeiten und Funktionen bieten. Je mehr Funktionen ein Ort hat, desto öffentlicher kann er sein. Auf einem Friedhof beispielsweise gibt es nur geringen Raum für Öffentlichkeit. Ein großer Platz, auf dem Passanten zusammentreffen und auf dem unterschiedliche private und politische Funktionen wahrgenommen werden können, bietet einen höheren Grad von Öffentlichkeit. Ich würde auch so weit gehen, wenn man Ost- und West-Berlin vergleicht, dass es in Ost-Berlin keine Öffentlichkeit gegeben haben kann. Es waren zwei politisch unterschiedliche Räume vorhanden, die sich in dieser Zeit durchdrangen. Dazu gehört auch der private, kommerziell genutzte Raum, der ein hohes Maß an Öffentlichkeit bieten kann, z. B. haben die Arkaden am Potsdamer Platz verschiedene Funktionen. Zu der Arbeit in New York: Serra hatte diese als site specific bezeichnet. Es wurde ihm vorgeschlagen, das Werk an anderer Stelle aufzubauen, weil sich Passanten gestört und bedroht fühlten. Es gab viele Argumente, die von den Mitarbeitern der Bank geäußert wurden, und daraufhin kam es zu dem Vorschlag, das Werk zu versetzen. Der Künstler widersprach und sagte, es sei nur für diesen Ort geschaffen worden.
gürsoy dog˘ taș: Die amerikanische Autorin Rosalyn Deutsche greift die Auseinandersetzung um Tilted Arc auf, um mit Theorien wie der von Chantal Mouffe den agonalen Charakter von Öffentlichkeit hervorzuheben.19 So wird mit dem Handlungsradius der Skulptur das Öffentlichkeitverständnis verhandelt und damit auch, was Demokratie bedeuten kann. hans dickel: Ich beziehe mich auf Henri Lefebvres Begriff von ,Öffentlichkeit‘, die nach seiner Auffassung nicht etwa gegeben ist, sondern erst in der politischen Auseinandersetzung erarbeitet 18 Tilted Arc ist eine etwa 37 m lange und 3 m hohe. ortsspezfische Stahlskulptur von Richard Serra, die 1981 im Finanzdistrikt von New York als Kritik an der ökonomisch motivierten Stadtplanung aufgestellt wurde. Aufgrund der vielen Beschwerden der Bürgerinnen und Bürger wurde sie 1989 gegen den Willen des Künstlers entfernt. Zur Geschichte und Debatte rund um Tilted Arc vgl. Harriet F. Senie, The Tilted Arc Controversy: Dangerous Precedent? Minneapolis 2002. 19 Rosalyn Deutsche, Evictions – Art Spatial Politics, Boston 1998.
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werden muss.20 Ihm ist der Begriff des Dissens wichtig. Er besagt, dass Öffentlichkeit sich nicht aus Konsens, sondern aus Dissens ergibt, also aus Differenzen, die verhandelt werden müssen. Öffentlichkeit ist demnach immer Ergebnis eines Verhandlungsprozesses.
anna schober: Ich habe eine Frage zu den Künstlern, die in der Ausstellung gezeigt worden sind. Das ist ja eine Handvoll ausgewählter, international sehr bekannter ‚Tournee‘-Künstler wie Boltanski, Haacke usw., die damals schon einen unglaublichen internationalen Bekanntheitsgrad hatten. Deswegen ist das von Ihnen vorgestellte Ergebnis, dieser Magnet für die internationale Kunst, auch nicht verwunderlich. Meine Frage ist, ob das nicht in einer gewissen Spannung zum ursprünglichen Konzept steht, die Stadt zu bespielen und die Mauer in den Köpfen lokal abzubauen? War das damals ein Diskussionspunkt? Wer hat die Auswahl der Künstler getroffen?
hans dickel: Wie ich beschrieben habe, gab es die politische Vorgabe seitens des Senats, dass die Alliierten vertreten sein mussten: D. h. ein Brite, ein Franzose, ein Amerikaner, ein Russe sowie ein Pole, ein West-Berliner und ein Ost-Berliner mussten dabei sein. Die Künstler, die ich Ihnen vorgestellt habe, waren vor 25 Jahren noch keine internationalen ‚Tournee-Künstler‘. Es wurde quotiert, d. h. es musste mit Barbara Bloom noch eine Vertreterin der Vereinigten Staaten und eine Künstlerin dazukommen. Die Künstlerauswahl ist durch das persönliche Engagement von Rebecca Horn und Heiner Müller getroffen worden. Es war im Grunde ein von den Künstlern selbst hervorgebrachtes Konzept und das legitimierte sie, die Künstler vorzuschlagen, die sie für dieses Konzept geeignet hielten.
verena krieger: Sie haben die These formuliert, hier sei Politik ausgestellt worden. Hier möchte ich genauer nachfragen. Wenn ich es richtig verstanden habe, meinen Sie, dass die Ausstellung u. a. eine ganz bestimmte Haltung ausdrückte, nämlich die der kleinen Schritte und des Tastens, des Schauens, d. h. der Offenheit und eines sehr bewussten Verzichts auf ‚große‘ Gesten. Ich fand Ihre Beschreibung aus dem Abstand von fast 25 Jahren und die Überlegung, dass sich auch die Rückblicke im Laufe der Zeit immer wieder verändern werden, sehr interessant. Vor allem ist aufschlussreich zu sehen, welche Rolle die Ausstellung für den heutigen City-Boom mit entsprechender Touristenzahl und wirtschaftlicher Bedeutung des Kultursektors spielte. Wie würden Sie dieses Verhältnis der damaligen politischen Haltung und der faktischen Wirkungen beschreiben?
hans dickel: Ich glaube, man kann von einer Verkehrung der Absichten sprechen. Die Künstler haben mit ihren Kolleginnen und Kollegen eine Ausstellung konzipiert, die ein gesellschaftliches Engagement impliziert: nämlich die Bereitschaft, sich auf andere Perspektiven einzulassen, im Osten bzw. im Westen zu agieren und politisch durch die Anbahnung oder Einfädelung von Kontakten beider Bevölkerungsgruppen zu wirken. Das war das ursprüngliche Konzept, das von den Künstlern mit dieser politischen Absicht ausging. Dann verkehrten sich die Verhältnisse und die Verbindung bestand tatsächlich. Die Mauer war gefallen, und die politische Verbindung zwischen Ost und West fand auf allen institutionellen und inoffiziellen Ebenen in Berlin statt. Dies prägte die Jahre 1989/90 in Berlin. Unter diesen Voraussetzungen wurde die Ausstellung realisiert, und ich will nicht sagen, dass sie die Politik ästhetisiert hat. Sie hat aber auf einer 20 Henri Lefebvre, The Production of Space, Malden 1991.
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Metaebene das formuliert, was tatsächlich das alltägliche Leben in dieser Zeit in Berlin prägte, nämlich den ständigen Wechsel der Perspektiven von Ost und West, institutionelle Vernetzungen und die ganzen sozialen Umwälzungen, die es im Osten und Westen gegeben hat. Die Künstlerinnen und Künstler reagierten auf dieses Spannungsfeld, das auf einer Metaebene als Ausstellung konzentriert war. So kam es durch den Mauerfall wirklich zu einer Umkehrung der ursprünglichen Konstellation.
publikum: Ich hatte etwas geschluckt, als Sie gesagt haben, dass es in Ost-Berlin keine Öffentlichkeit gab, was noch zu klären wäre. Ich habe zudem zwei Fragen. Die Endlichkeit der Freiheit besteht aus temporären Projekten. Können Sie nochmal auf diesen zeitlichen Aspekt eingehen? Als Folgeausstellung sehe ich die Ausstellung 37 Räume von Klaus Biesenbach von 1992,21 die auch auf diese Differenzierung bzw. Verbindung einer Ost-West-Perspektive abzielte. Wie ist diese Unterscheidung bei Die Endlichkeit der Freiheit für die Betrachter organisiert und vermittelt worden? Gab es Foren oder eine Karte? Wie hat man die Orte überhaupt gefunden?
hans dickel: Vielleicht kann ich die Frage nach dem temporären Charakter dieser Werke beantworten, indem ich die Reaktion der Presse beschreibe. Die Fachwelt war begeistert von den tentativen, temporären Werken. In der Bevölkerung war genau dies ein Argument gegen die Ausstellung: Es sei Geldverschwendung, nur temporäre Werke auszustellen. Zum Charakter des Temporären und der Rolle der Vermittlung ist zu sagen, dass die Ausstellung auf sechs Wochen beschränkt und somit nur relativ kurzzeitig in Berlin zu sehen war. Sie wurde über die Massenmedien Radio und Fernsehen kommuniziert. In vielen Kunstzeitschriften gab es Berichte zur Ausstellung. Kataloge und Postkarten wurden erst kurz vor der Eröffnung fertig. Aber als ,Ausstellung‘ funktionierte sie vor Ort nicht, anders als andere Kulturprojekte und vor allem anders als das von Ihnen erwähnte Projekt 37 Räume. Tatsächlich ist diese Ausstellung von der Konzeption her sehr gut vergleichbar, aber sie beschränkte sich nur auf das Scheunen-Viertel. 1990 bestand die Überlegung, West und Ost zu verbinden oder korrespondieren zu lassen. Das scheiterte in vielen Fällen, denn die Künstler wollten ins Zentrum, dorthin, wo die Mauer gestanden hatte. Und zu Ihrer ersten Bemerkung zum Nichtvorhandensein einer Öffentlichkeit im Osten: Damit ist eine gewisse Provokation verbunden, die ich wage, nachdem ich mich mit dem Begriff der Öffentlichkeit theoretisch befasst habe. Ein staatlich kontrollierter Raum schließt Öffentlichkeit nach der Definition von Lefebvre aus, sie setzt vielmehr voraus, dass Dissens und Meinungsbildung aus konträren Positionen heraus möglich sind.22 Unter staatlicher Kontrolle eines Regimes ist somit Freiheit zum Dissens nicht gewährleistet. Deswegen würde ich so weit gehen und davon sprechen, dass es in der DDR keinen öffentlichen Raum gegeben haben kann. 21 Die Ausstellung 37 Räume (14.–21. Juni 1992) gilt als wichtiges Begründungsereignis der Etablierung der Auguststraße in Berlin-Mitte als Kunstviertel Berlins in den 1990er-Jahren, wo sich u. a. die Kunst-Werke als zentrale Institution etablieren sollten. Das Projekt wurde von Klaus Biesenbach in Zusammenarbeit mit 31 verschiedenen Kuratoren parallel zur documenta 9 organisiert und fand in Form von Einzelausstellungen in jeweils einem Zimmer in 37 verschiedenen leerstehenden Wohnungen entlang der Auguststraße statt. Vgl. http://www. formerwest.org/ResearchLibrary/Berlin37Raume (Letzter Zugriff: 3. Juli 2015). 22 Vgl. Lefebvre 1991 (wie Anm. 20).
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anna schober: Von Kollegen aus Russland gibt es z. B. den Vorschlag, den Begriff des ‚informellen Raumes‘23 für bestimmte Formen der öffentlichen Situation in sozialistischen Gesellschaften zu verwenden, ein Begriff, der einem binären Gegenüberstellen von Öffentlichkeit und Nichtöffentlichkeit entgegentritt und ein Auffächern von Öffentlichkeit ermöglicht. Es gibt dann also auch eine Art informellen, öffentlichen Raum – ich glaube, dass das ein ganz guter Begriff ist.
hans d. christ: Bereits zwei Jahre später gibt es den Reclaim for Street.24 Da ist der öffentliche Raum nicht etwas, das durch ein totalitäres Regime zur Verfügung gestellt wird, sondern dieser Raum wird erstritten. Hier gibt es Dissens als eine Handlungsoption, die durch Menschen hergestellt wird, die öffentliche Räume besetzen. Ich kann zwar sagen, dass ein totalitäres Regime nicht vorsieht, dass ein Raum für Öffentlichkeit zur Verfügung steht, aber letztendlich ist die Option jederzeit vorhanden, dass dieser öffentliche Raum besetzt wird. Deshalb habe ich vorhin auf die Hans-Haacke-Arbeit verwiesen, weil sie die einzige war, die eine Prognose wagte. Ich würde sagen, die hat auf den Wechsel von ‚wir sind das Volk‘ zu ‚wir sind ein Volk‘, reagiert und darauf, dass der runde Tisch schon anfing, sich selbst zu historisieren, also dass es in der Situation ein öffentliches Sprechen gab, das gleichzeitig auch eine Tendenz des Verschwindens aufwies. Das bedeutet, dass dieser Dissens nicht im wiedervereinigten Deutschland ankommen würde. All das hat dieses Projekt bestimmt. Wenn man Wulf Herzogenrath als Kurator anfragt, dann fragt man auch eine bestimmte Historizität im Umgang mit Öffentlichkeit und dem öffentlichen Raum an. Das ist keine Kritik, aber das sind die Dinge, die in dem Projekt wirksam sind, die vielleicht auch gleichzeitig dazu beigetragen haben, dass es in seiner Zeit anerkannt werden konnte. Wir reden heute 25 Jahre später und in einer ganz anderen Situation. Ich würde eher sagen: Der Gegenbeweis, dass es eine Öffentlichkeit in Ost-Berlin gab, ist im Nachhinein erbracht worden.
hans dickel: Ja, aber Öffentlichkeit ist in der DDR nicht staatlich gewährleistet worden. Als sie in Leipzig und auf dem Berliner Alexanderplatz erstritten wurde, war das Ende der DDR besiegelt. Für die Ausstellung wurde übrigens als Kurator Christoph Tannert gewonnen, der aus der alternativen Szene in Dresden stammte und zu denen gehörte, die inoffiziell Öffentlichkeit erstritten haben. Zu Haacke noch der Hinweis: Das Thema des einen Volkes hat er mit seiner Arbeit Der Bevölkerung25 am Reichstag fortgesetzt. 23 Oleg Yanitskii verwendet z. B. diesen Begriff in: Oleg Yanitskii, Russian Environmentalism: Figures, Facts, Opinions, Moskau 1993. Zu einer ausführlichen Auseinandersetzung mit öffentlichen und informellen öffentlichen Räumen in demokratischen und realsozialistischen politischen Systemen vgl. Anna Schober, The Cinema Makers: Public Life and the Exhibition of Difference in South-Eastern and Central Europe Since the 1960, Exeter 2013, insbes. S. 26–28. 24 Reclaim for Street oder auch Reclaim the Streets sind Sammelbegriffe für Aktionsformen, die sich den öffentlichen Raum aneignen. 25 Hans Haacke entwickelte 1998 das Konzept zu Der Bevölkerung auf Einladung des Deutschen Bundestages für den nördlichen Lichthof des Reichstagsgebäudes. Es führte zu einer kontroversen und langen Diskussion bis hin zu einer Bundestagsdebatte, wo mehrheitlich für die Realisierung des Werks gestimmt wurde. Es besteht aus einem 21 x 7 m großen Kasten mit dem Schriftzug Der Bevölkerung in weißen Leuchtbuchstaben, welcher auf die Inschrift Dem deutschen Volke am Westportal des Reichstagsgebäudes kritisch Bezug nimmt. Alle Abgeordneten wurden eingeladen, Erde aus ihren Wahlkreisen um die Buchstaben zu streuen, was sie seither nach Belieben erneut tun können. Zum Projekt und der Debatte vgl. Michael
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claudia tittel26: Mich interessiert auch besonders die Frage nach dem Ost-West-Verhältnis. Auch wenn es ein ausgewogenes Verhältnis von polnischen und sowjetischen sowie britischen und französischen Künstlern gab, sehe ich da trotzdem eine sehr pro-westliche Tendenz, selbst wenn Hans Haacke natürlich eine sehr kritische Sicht auf die Situation warf. Künstler wie z. B. Ilya Kabakov hatten einfach im Westen bereits einen gewissen Stellenwert. Es hätten sich sicherlich auch andere Künstler angeboten. Somit besteht ein Spannungsverhältnis von genereller Offenheit und einem andererseits sehr westlich geprägten Projekt. Es ist quasi ein Ausstellungprojekt von Ost und West mit sehr pro-westlichen Kräften.
hans dickel: Ja und nein. Ich hatte die Quotierung beschrieben, und es ist ein Ost-Berliner und ein West-Berliner Künstler hinzugezogen worden Die Auswahl der Künstler hatte oft auch pragmatische Gründe. Sowohl Barbara Bloom als auch Ilya Kabakov waren damals neu in Berlin, als Stipendiaten des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD), der die Ausstellung mitgetragen hat. Und Krzysztof Wodiczko, der damals noch nicht Professor am MIT war, sondern zwischen Polen und Amerika agierte, war als Künstler aus Osteuropa genommen worden. Die Ausstellung war westlich geprägt, aber sie ging eben aus dem persönlichen Engagement von Heiner Müller und Rebecca Horn hervor, die Kollegen aus ihrem Umkreis vorgeschlagen haben, was man ihnen nicht vorwerfen kann.
Diers (Hg.), ‚Der Bevölkerung‘: Aufsätze und Dokumente zur Debatte um das Reichtagsprojekt von Hans Haacke, Frankfurt am Main 2000. 26 Claudia Tittel ist wissenschaftliche Assistentin an der Professur Geschichte und Theorie der Kulturtechniken der Fakultät Medien an der Bauhaus-Universität Weimar. Von 2011–2015 war sie wissenschaftliche Assistentin am Lehrstuhl für Geschichte und Ästhetik der Medien an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. An der Tagung When Exhibitions become Politics. Geschichte und Strategien des politischen Ausstellens war sie als Moderatorin beteiligt.
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hans d. christ museum Politik, in meinem Verständnis, beruht auf Dissens, auf dem strittigen Anteil an einer Sache, an gesellschaftlichen Kontexten oder Machtverhältnissen, der einen Konflikt auslöst. Dem gegenüber gibt es einen Politikbegriff, der sich aus der Annahme eines politisch fassbaren, beschreibbaren, sich in Differenz zu anderen gesellschaftlichen Sphären etablierenden Raumes des Politischen speist, der sich in bestimmte Systeme wie z. B. den repräsentativen Parlamentarismus eingekapselt hat. Diese Seite des Politischen ist mit einem bürokratischen und technokratischen Verwaltungsapparat verbunden, der der Idee des Politischen als Ort des Aushandelns und des Dissens zuwiderläuft. Dieser Verwaltungsstruktur sind weite Teile der Institutionslandschaft des Kulturbetriebs zuzuordnen, die zwar nach wie vor das Potenzial zur Herstellung politischer Konflikte haben, aber zunächst als wesentlicher Bestandteil räumlicher, symbolischer und ökonomischer Machtpolitiken wahrgenommen werden – ob sie nun staatliche, regionale oder kommunale Einrichtungen sind. Zugleich wird dieser Diskurs von der These geprägt, dass Kunst an sich politisch sei, da sie die gegebenen Ordnungen aus den Angeln hebt und Machtverhältnisse sichtbar macht, während die Institution Museum eine verwahrende Funktion habe, die auf strikten apolitischen Kriterien von Wissenschaftlichkeit hinsichtlich der gesammelten Gegenstände basiere. Letzteres verschüttet die zutiefst politischen Hintergründe, vor denen Dinge ins Museum kommen: vom Kolonialismus bis zu den spezifischen Ökonomien des Kunstmarkts. Die Frage nach den politischen Implikationen einer der machtvollsten Institutionen des Kunstbetriebs wird so lange falsch gestellt, wie man diese Institution nicht als genuin politische Struktur versteht. Es geht weniger darum, ob die eine oder andere Ausstellung in einem Museum sich thematisch mit politischen Fragestellungen beschäftigt, sondern um die Anerkennung, dass das Zu-sehen-Geben an sich immer schon Politik ist. Unter der Rubrik Politik erscheinen Museen in den Medien allerdings in der Regel nur dann, wenn es entweder um ein Einschwören auf die aktuelle Evaluationshysterie in der öffentlichen Verwaltung – sprich: um Besucherzahlen – geht1 oder um spekta-
1 o. A., Besucherrekord bei Frankfurter Kunstmuseen, in: Frankfurter Rundschau, Politik, 9. Januar 2013. http://www.fr-online.de/panorama/besucherrekord-bei-frankfurter-kunstmuseen,27392196,21419406.html (Letzter Zugriff: 27. Mai 2015).
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kuläre Versprechungen wie die Konzeption eines Universalmuseums in Dubai durch deutsche Museums-,Generäle‘.2 Warum beginne ich einen Text über die im Württembergischen Kunstverein gezeigte Ausstellung Die Kunst, nicht dermaßen regiert zu werden3, die sich mit dem lokalen Konflikt um das Bauvorhaben Stuttgart 21 auseinandersetzte, mit einer zunächst nur sehr pauschalen Kritik an dem politischen Selbstverständnis von Kunst und Museen? „Stuttgart 21 reif fürs Museum“4 lautete die Headline, unter der diese Ausstellung von der Medienholding Südwest-Presse angekündigt und verbreitet wurde. Der Bericht selbst verhielt sich neutral und informierte über den Ort, den Titel und das Eröffnungsdatum. Die Formulierung „reif fürs Museum“ war allerdings nicht als ironischer Kommentar auf das megalomane Bauvorhaben zu lesen, sondern eher als hämische Prophezeiung der Einsargung des Widerstands im Museum. In der Überschrift drückt sich aus, was von jeher die Formel des modernen Museums gewesen zu sein scheint: Je schneller Unliebsames in Form von musealen Objekten dingfest gemacht wird, desto eher kann man sich dessen im Museum entledigen.5 Sammeln, Bewahren und Exponieren sind Akte der Verdinglichung, und jede Verdinglichung hebt die Offenheit möglicher, nicht fixer Konstellationen zwischen den Gegenständen im Museum, ihren Produzentinnen und Produzenten, Herkünften, Narrativen und anderen Gegenständen, die sich außerhalb des Museums befinden, auf. Diese Akte der Verdinglichung und Festlegung lassen sich im Museum kaum auflösen, liefern jedoch zugleich den Rahmen, sie immer wieder erneut infrage zu stellen. Dies bedeutet auch, die potenziell vielfältigen und widerstreitenden historischen Referenzen zu schärfen und als Bestandteil des eigenen Denk- und Handlungsradius zu begreifen.
2 Mit ihrem Projekt Dubai – Erweiterte Horizonte (2009) haben Alice Creischer, Christian von Borries und Andreas Siekmann eine Pressekonferenz re-enacted, die tatsächlich am 28. Mai 2008 in der Neuen Nationalgalerie in Berlin stattgefunden hatte. Auf dieser Pressekonferenz verkündeten drei selbsternannte ,Generäle‘ – die damaligen Generaldirektoren der Museen des preußischen Kulturbesitzes in Berlin (Peter-Klaus Schuster), der Gemäldesammlungen in München (Reinhold Baumstark) und der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden (Martin Roth) – die Vereinbarung eines gemeinsamen Unterfangens: die Konzeption eines Universalmuseums für Dubai. 3 Die Kunst, nicht dermaßen regiert zu werden, Württembergischer Kunstverein Stuttgart, 28. November 2010 – 9. Januar 2011, Idee und Konzept: Hans D. Christ, Yvonne P. Doderer, Iris Dressler, Stephan Köperl, Sylvia Winkler; mit Beiträgen von NOH Suntag, Daniel García Andújar, Dan Perjovschi und anderen. 4 o. A., Stuttgart 21 reif fürs Museum, in: Westline, 26. November 2010. www.westline.de/ freizeit-und-co/kunst/Stuttgart-21-reif-fuers-Museum;art331,333457 (Letzter Zugriff: 27. Mai 2015). 5 Über die Dinge im Museum schreibt Liselotte Hermes da Fonseca: „(…) von Experten und Politikern bewahrt, in ihrer Betrachtung bewacht und kontrolliert. Was verbotene Zeichen trug, kam zur Bewachung ins Museum, den Ort der Demokratisierung, der allgemeinen Bildung unter Aufsicht der Experten. Was Sorgen bereitete, wurde im Museum zu Grabe getragen (…).“ Liselotte Hermes da Fonseca, Disziplinierung der Gespenster. Grenzen einer Anthropologie des Museums-Menschen, in: Rosmarie Beier (Hg.), Geschichtskultur in der Zweiten Moderne, Frankfurt, New York 2000, S. 239–262, hier S. 246.
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abb. 1 oh, my complex. vom unbehagen beim anblick der stadt, württembergischer kunstverein, stuttgart, 17. mai–29. juli 2012. ansicht: rekonstruktion von über die moderne art zu leben: oder, rationalisierung des lebens in der modernen stadt im rahmen der ausstellung
2012 zeigte der Kunstverein die Ausstellung Oh, My Complex. Vom Unbehagen beim Anblick der Stadt,6 die zwar unabhängig von Die Kunst, nicht dermaßen regiert zu werden entstanden ist, aber durchaus Bezüge zu dieser zulässt. (Abb. 1) Sie kreiste um Fragen zur neoliberalen Stadtentwicklung. Eine Besonderheit war dabei die Rekonstruktion einer anderen Ausstellung, die 1977 von Michael Fehr und Diethelm Koch unter dem Titel Über die moderne Art zu leben oder: Rationalisierung des Lebens in der modernen Stadt für das Museum Bochum realisiert worden war und auf die ich im Folgenden kurz eingehen möchte.7 Zwei Tage nach ihrer Eröffnung wurde Hanns Martin Schleyer entführt – und im Zuge dessen die Ausstellung als verfassungswidrig eingestuft und geschlossen sowie Michael Fehr als Beschäftigter des öffentlichen Dienstes entlassen. Letzteres musste schließlich zurückgezogen werden.
6 Oh, My Complex. Vom Unbehagen beim Anblick der Stadt, Württembergischer Kunstverein Stuttgart, 17. Mai–29. Juli 2012. www.wkv-stuttgart.de/programm/2012/ausstellungen/ohmy-complex (Letzter Zugriff: 27. Mai 2015). 7 Michael Fehr/Diethelm Koch, Über die moderne Art zu leben oder: Rationalisierung des Lebens in der modernen Stadt, 1977/2012 (Rekonstruktion des Ausstellungsdisplays). www.wkvstuttgart.de/programm/2012/ausstellungen/oh-my-complex/werke (Letzter Zugriff: 27. Mai 2015).
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abb. 2 über die moderne art zu leben: oder, rationalisierung des lebens in der modernen stadt, museum bochum, kunstsammlung, bochum, 3. september–9. oktober 1977
Über die moderne Art zu leben verstand sich als Referenz- und Resonanzraum verschiedener urbaner Konflikte, die damals mit der endgültigen Durchsetzung der funktionellen Stadt sowie mit dem parallel verlaufenden Kollaps der Schwerindustrie im Ruhrgebiet einhergingen. (Abb. 2) Fehr und Koch befragten die Mechanismen und Effekte der modernen Produktionsweisen, das Gebot der Mobilität, die Aufhebung des Spezifischen im Standardisierten und vieles mehr. Der Eingang des Bochumer Museums wurde durch einen Bretterzaun verstellt, der zugleich als Plakatfläche verschiedener Bürgerinitiativen diente, die sich das Museum sukzessive als Handlungsraum aneigneten. Die Nutzerinnen und Nutzer der Ausstellung erweiterten das Display und nutzten das Museum als eine Art Zwischenraum, den Michael Fehr im Jargon der 1970er-Jahre wie folgt beschrieb: „Der Platz, den das Museum füllen helfen könnte, ist der Bereich zwischen dem Privaten, Einzelnen und Besonderen auf der einen und der Öffentlichkeit und den Massenmedien auf der anderen Seite. Also der Bereich, der durch die zunehmende Polarisierung zwischen ‚privat‘ und ‚öffentlich‘ zu verkümmern droht, der aber der eigentlich wichtigste Bereich unseres Lebens ist (…). Wir meinen, dass eine Museumsarbeit, die sich den Interessen und der Bewusstseinslage eines größeren Teils der Bevölkerung stellen will, sich nicht an Fragen der Kunst, sondern an Problemen der Gesellschaft orientieren muss.“8 8 Michael Fehr, „ÜBER DIE MODERNE ART ZU LEBEN – eine Konstruktion über Realität“, in: ders./Diethelm Koch (Hg.), Über die moderne Art zu leben oder: Rationalisierung des Lebens in der modernen Stadt, Ausst.-Kat. Museum Bochum, Giessen 1977, S. 3–222, hier S. 222.
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der kunstverein Der Titel des Projekts, um das es im Folgenden gehen soll, Die Kunst, nicht dermaßen regiert zu werden, ist dem Essay „Was ist Kritik?“ von Michel Foucault entliehen.9 Zunächst möchte ich allerdings einige grundlegende programmatische wie räumliche Parameter beschreiben, auf deren Basis der Kunstverein arbeitet. Iris Dressler und ich verstehen den Kunstverein als Ort einer offenen, auch kontroversen Auseinandersetzung mit den vielfältigen Methoden und Praktiken der zeitgenössischen Kunst – und mit ihren weitreichenden gesellschaftspolitischen Bezugsfeldern. Ausstellung und Debatte, Kunst und Theorie, Forschung und Produktion sind dabei gleichermaßen von Belang. Es geht um einen Handlungsraum, in dem Kunst nicht nur zu besichtigen ist, sondern in dem Kunst und die Beziehungen zwischen Kunst, Künstlerinnen sowie Künstlern, Institution und Öffentlichkeit beständig neu ausgehandelt werden: in Gesprächen, Diskussionen, Workshops oder Arbeitsgruppen, aber auch durch den Zugriff auf Bücher, Zeitschriften und andere Materialien und Infrastrukturen. Zu diesen Infrastrukturen zählen nicht zuletzt die Räume des Kunstvereins selbst, die lokalen Akteuren und Gruppen auch für eigene Treffen, Veranstaltungen und Artikulationen zur Verfügung stehen. Als gemeinsamer Raum dient dabei vor allem der sogenannte Glastrakt, ein transparenter Baukörper, der zugleich als Eingang, Foyer, Archiv, Treffpunkt, Arbeits- und Veranstaltungsraum fungiert. Seine heutige Nutzung – nicht nur durch uns, sondern auch durch verschiedene politische und aktivistische Initiativen, Künstlerinnen bzw. Künstler, Gruppen, Institutionen aus dem Kunstbereich und vielen mehr, die ihre Aktivitäten mal in Kooperation mit uns und mal in Eigenregie, mal in Form von internen Treffen und mal in Form von öffentlichen Veranstaltungen durchführen – ist gänzlich unkuratiert. Sie folgt keiner programmatischen Konzeption, wenngleich wir auch nicht jeden ins Haus lassen. Es hat vielmehr mit einem gewachsenen Prozess zu tun, der in gewisser Weise mit der Öffnung des Kunstvereins im Kontext des Konfliktes um Stuttgart 21 seinen Anfang nahm und sich seither beständig – sowohl in als auch ohne Überschneidung mit unserem Programm – entlang der Interessen und Bedürfnisse diverser lokaler Akteure und Öffentlichkeiten erweitert. Die schlichte Tatsache, dass es mittlerweile in Stadtzentren kaum noch Möglichkeiten gibt, sich ohne Konsum- oder Mietzwang zu treffen, spielt dabei keine unwesentliche Rolle. Mit dieser Öffnung haben wir nicht nur begonnen, Raum zu teilen, sondern auch die inhaltliche Besetzung des Ortes ein Stück weit in andere Hände zu geben.
9 Michel Foucault, Was ist Kritik?, Berlin 1992, S. 12: „Als erste Definition der Kritik schlage ich also die allgemeine Charakterisierung vor: die Kunst nicht dermaßen regiert zu werden. (…) Nicht regiert werden wollen heißt schlicht auch: nicht als wahr annehmen, was eine Autorität als wahr ansagt, oder jedenfalls nicht etwas als wahr annehmen, was eine Autorität als wahr vorschreibt. Es heißt: etwas nur annehmen, wenn man die Gründe es anzunehmen selber für gut befindet. Dieses Mal geht die Kritik vom Problem der Gewissheit gegenüber der Autorität aus.“
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politisierungen Der Kunstverein befindet sich an einem der zentralsten Orte der Stadt, dem Stuttgarter Schlossplatz, unweit des Hauptbahnhofs und in direkter Nachbarschaft zu Konsum (Einkaufsmeile), Freizeit (Park), Hochkultur (Staatstheater, Staatsoper, Staatsgalerie, Kunstmuseum) und Politik (Finanzministerium, Landtag). Diese besondere Lage trug nicht unerheblich dazu bei, dass der Kunstverein im Konflikt um das Verkehrs- und Infrastrukturprojekt Stuttgart 21 öffentlich Stellung bezog, da dieser Streit vor allem innerhalb des beschriebenen urbanen Konglomerats ausgetragen wurde. Die Einmischung hatte zudem mit diversen Wechselwirkungen zwischen der gesellschaftspolitischen Ausrichtung unseres Programms und der wachsenden Politisierung, wie sie spätestens 2010 weite Teile der Bevölkerung in Stuttgart erfasste, zu tun. Die Ausmaße dieser Politisierung hatten sich bereits ein Jahr zuvor, im Rahmen eines anderen Konfliktes, von dem der Kunstverein unmittelbar betroffen war, angekündigt. Im Jahr 2009 erhielt der Kunstverein ohne jede Vorwarnung ein allgemeines Schreiben der städtischen Kulturverwaltung, das eine zehnprozentige Kürzung des Zuschusses ankündigte. Zum einen überraschte uns die vollkommene Aussetzung jeglicher politischer Debatte, zum anderen war unklar, wer diese Ankündigung noch erhalten hatte. Wir veröffentlichten den besagten Brief auf unserer Website, schickten ihn an die Presse und sämtliche Kolleginnen und Kollegen. Der nächste Schritt bestand in einem öffentlichen Treffen mit anderen Kulturinstitutionen, auf dem beschlossen wurde, sich nicht in Betroffene und Nicht-Betroffene aufspalten zu lassen. Gleichzeitig wurden die Gespräche mit den kulturpolitischen Fraktionen immer mit Vertreterinnen sowie Vertretern mehrerer Institutionen durchgeführt, um Solidarität statt Eigeninteresse zu signalisieren. Weitere Organisationsformen und ‑formate entstanden, um den Konflikt nicht nur mit der öffentlichen Verwaltung auszutragen, sondern auch öffentlich zu machen. Das Patchwork aus Institutionen unterschiedlichster Art – vom Feuerwehrmuseum bis zur Staatsoper, vom Off-Space bis zur Staatlichen Akademie der Künste – sowie aus zahlreichen privaten Mitstreiterinnen und Mitstreitern erzeugte eine kritische Masse, die schließlich in einer Demonstration mit 3.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern mündete. Die angekündigten Kürzungen wurden immerhin halbiert und in Einzelfällen sogar vollständig zurückgenommen. Der Kunstverein hat in dieser Phase, um seine Kräfte auf die politische Auseinandersetzung zu konzentrieren, eine Ausstellung verschoben und somit in gewisser Weise seinem eigentlichen Auftrag zuwider gehandelt. Die Ausstellung der Künstlermitglieder wurde einige Monate später als geplant unter dem Titel und Motto Kunst und Gesellschaft eröffnet: zu einem Zeitpunkt, als sich bereits jener andere Konflikt, der bald große Teile der regionalen Bevölkerung in Aufruhr versetzen sollte, anbahnte. Fester Bestandteil der Mitgliederausstellung ist es, dass die Beteiligten auch Veranstaltungen vorschlagen können. Nahezu alle Vorschläge hatten mit dem Protest gegen Stuttgart 21 zu tun. (Abb. 3)
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abb. 3 kunst und gesellschaft. ausstellung der künstlermitglieder des württembergischen kunstvereins, württembergischer kunstverein, stuttgart, 20. februar–7. märz 2010. ansicht: ‚agora‘ zum zeitpunkt eines gesprächs mit gangolf stocker, einer der zentralen figuren des widerstands gegen stuttgart 21
stuttgart 21 Das Verkehrs- und Infrastrukturprojekt Stuttgart 21 basiert wie andere Megaprojekte dieser Art auf einer Kombination aus ökonomischen und Prestige-Versprechungen, Lobbyismus und Korruption. Es gehört zu den sogenannten 21er-Projekten, die Mitte der 1990er-Jahre mit der Privatisierung der Bahn ausgerufen wurden, um mit der Veräußerung innerstädtischer Großflächen die Eigenkapitaldecke des Unternehmens künstlich aufzuwerten. Einzig die Stadt Stuttgart und das Land Baden-Württemberg hielten an der Umsetzung des 21er-Projektes fest. Stuttgart 21 sieht die Drehung des bestehenden Bahnhofs um 90 Grad und seine unterirdische Verlegung vor, um einen höheren Verkehrsfluss und den Anschluss an die sogenannte ‚europäische Magistrale‘ zu gewährleisten. Tatsächlich geht es allerdings vor allem um die innerstädtischen Flächen, die durch die Verlegung des Bahnhofs unter die Erde gewonnen werden. Auf dem Areal der ehemaligen Gleiskörper soll ein neuer ‚Stadtteil‘ entstehen. Die Baumaßnahme geht mit einem Teilabriss des denkmalgeschützten Bahnhofgebäudes, der Beschneidung einer Parkfläche, auf der bis zu 250 Jahre alte Bäume standen, und der Gentrifizierung großer Areale im Stadtzentrum einher. Viele Aspekte, vom Brandschutz bis zu den Tunnelbauten, sind in ihrer Machbarkeit noch völlig ungeklärt, so dass sich ein ähnliches Fiasko wie bei der Hamburger
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Elbphilharmonie oder dem Berliner Flughafen ankündigt. Die Kosten, die bislang mit Beträgen zwischen 6,5 bis 10 Milliarden Euro veranschlagt sind, werden ausschließlich von der öffentlichen Hand getragen. Sie finanziert damit ein Projekt, von dem in erster Linie private Investoren im Immobiliensektor profitieren sowie jene gesellschaftliche Klasse, die sich ein gehobenes Wohnen im Innenstadtbereich leisten kann.
solidarisierung Seit den ersten offiziellen Ankündigungen im Jahr 1994 gibt es auch öffentliche Kritik an Stuttgart 21. Nachdem verschiedene Verfahren – wie z. B. die Überreichung von 70.000 Unterschriften gegen das Projekt – seitens Politik und Verwaltung schlicht übergangen wurden, wuchs der Widerstand auf der Straße, der im Jahr 2010 seinen Höhepunkt in wöchentlichen Demonstrationen mit bis zu 50.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern aus allen gesellschaftlichen Bereichen fand. Teile des Parks wurden besetzt, der Bauzaun um die Abrissstellen am Bahnhof wuchs tagtäglich zu einem kollektiven Gesamtkunstwerk aus Kommentaren, Mitteilungen, Collagen, Polemiken, Objekten, Slogans und vielem mehr an. Die Politik reagierte zunächst mit Ignoranz, dann mit der Diffamierung der Protestierenden und Repressionen wie offener Zensur, und, als auch dies nichts half, schließlich am 30. September 2010 mit einer völlig unverhältnismäßigen Polizeigewalt (Pfefferspray-, Schlagstock- und Wasserwerfereinsatz) gegen friedliche Demonstrantinnen und Demonstranten. In dieser Phase positionierte sich der Kunstverein öffentlich gegen Stuttgart 21 und solidarisierte sich mit dem Widerstand. Dies hatte zum einen mit der bereits erwähnten räumlichen Nähe des Kunstvereins zu den Orten des Geschehens zu tun. Darüber hinaus machte das damalige, von Einschüchterung, Zensur und schließlich Gewalt geprägte Klima, das die baden-württembergische Landesregierung unter dem Ministerpräsidenten Stefan Mappus verbreitete, eine politische Positionierung des Kunstvereins zwingend notwendig – und zwar nicht nur im Hinblick auf das Thema Stuttgart 21, sondern auch, um für Demokratie, das Recht auf Meinungsfreiheit und die Freiheit der Kunst einzutreten. Es galt, den Umstand auszuspielen, dass ein Kunstverein als privater Verein zwar von städtischen und Landeszuschüssen abhängig, aber weder der kommunalen noch der Landesregierung direkt unterstellt ist. Denn während unsere Kolleginnen und Kollegen aus den Kultureinrichtungen des Landes einen Brief erhielten, der sie zu ‚Neutralität‘ in Bezug auf Stuttgart 21 zwang, hätte man uns zumindest auf offiziellem Wege nicht auf diese angebliche Neutralität – mit der ja nichts anderes als die Unterdrückung von Kritik gemeint war – verpflichten können. Das Risiko, früher oder später durch anderweitig begründete Etatkürzungen abgestraft zu werden, gingen wir in Absprache sowohl mit den Vereinsgremien als auch dem Team ein.
die sektion Während sich der Protest gegen Stuttgart 21 mit seiner öffentlichen Präsenz beinahe täglich ausweitete, planten wir die von der japanischen Kuratorin Keiko Sei initiierte Ausstellung Re-Designing the East. Politisches Design in Asien und Europa. Die Ausstellung
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abb. 4 noh suntag, stuttgart 21, 2010, fineart print auf fotopapier, entstanden während des besuchs von noh suntag bei einer der montagsdemonstrationen gegen stuttgart 21
beschäftigte sich in sechs Sektionen mit dem politischen Widerstand, Aktivismus und Design in Südkorea, Thailand, Indien, Ungarn, Polen und Tschechien. Die einzelnen Sektionen wurden von unterschiedlichen Kuratorinnen und Kuratoren aus den jeweiligen lokalen Kontexten entwickelt.10 Im Verlauf der Vorbereitungen zu diesem global ausgerichteten Projekt schien es uns untragbar, den Konflikt vor Ort aus der Ausstellung herauszuhalten. Wir entschlossen uns, eine siebte Sektion einzurichten, die wir mit einer kleinen zeitlichen Verzögerung als Ausstellung in der Ausstellung eröffneten und dem Widerstand gegen Stuttgart 21 widmeten. Diese Sektion bzw. Ausstellung mit dem Titel Die Kunst, nicht dermaßen regiert zu werden11 wurde von der Architektin und Stadtforscherin Yvonne P. Doderer, dem Künstler Stephan Köperl und der Künstlerin Sylvia Winkler sowie uns in einem gemeinsamen Prozess entwickelt. Neben den lokalen Akteurinnen und Akteuren beteiligten sich auch internationale Künstler wie Daniel García Andújar, NOH Suntag (Abb. 4) und Dan Perjovschi mit bereits existierenden oder neuen Arbeiten. Perjovschi stellte seine für die Ausstellung produzierten Zeichnungen auch der Protestbewegung zur freien Nutzung zur Verfügung. So tauchten sie z. B. in verschiedenen Variationen im besetzten Teil des Parks wieder auf. 10 Hans D. Christ/Iris Dressler (Hg.), Re-Designing the East. Political Design in Asia and Europe, Ausst.-Kat. Württembergischer Kunstverein Stuttgart, Ostfildern 2011. 11 The Art of Not Being Governed Like That, in: Christ/Dressler 2011 (wie Anm. 10), S. 165–187.
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abb. 5 re-designing the east. politisches design in asien und europa, württembergischer kunstverein, stuttgart, 25. september 2010–9. januar 2011. ansicht: blick in die sektion die kunst, nicht dermaßen regiert zu werden
Die Ausstellung verstand sich als Archiv, Dokumentation und künstlerische Gesamtinstallation, die die zentralen Aspekte der Proteste gegen Stuttgart 21 aufgriff. Dabei wurden die lokalen Ereignisse und Entwicklungen auch im Hinblick auf allgemeine gesellschaftspolitische Fragen reflektiert – konkret unter den Stichworten Gouvernementalität, Ökonomisierung, Stadtentwicklung, Zivilgesellschaft und Informationspolitik. Diese Stichworte wurden in Form von Text-Bild-Montagen verhandelt, die Zitate aus Theorie, Medien, Marketing und Administration miteinander verbanden, sowie in Fotografien, Zeichnungen, Diagrammen oder Videos, die im Rahmen des Protestes bzw. für die Ausstellung produziert worden waren. Überdies entstand eine Zeittafel, die die Entwicklungen von Stuttgart 21 und den Widerstand dagegen bis in die 1990er-Jahre zurückverfolgte, also eine gewisse Historisierung des Konfliktes vornahm – entgegen allen Behauptungen, diese Geschichte hätte es nie gegeben. (Abb. 5) Mit diesem Ausstellungs-Insert ging es in erster Linie darum, uns mit dem Protest zu solidarisieren, uns gegen die zunehmend anti-demokratische Politik von Mappus zu wehren, uns nicht, wie gefordert, neutral zu verhalten, sondern auch unsere Überlegungen zu diesem Konflikt als eine Stimme innerhalb des vielstimmigen Widerstands verlautbar zu machen. Die umfangreichen Recherchen zur Ausstellung wurden den Besucherinnen und Besuchern in Form eines Archivs aus Ordnern zugänglich gemacht. Sämtliche Materialien konnten vor Ort kopiert oder in Form einer digitalen Datensammlung auf CD
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abb. 6 re-designing the east. politisches design in asien und europa, württembergischer kunstverein, stuttgart, sektion die kunst, nicht dermaßen regiert zu werden, 25. september 2010–9. januar 2011. ansicht: arbeitsgruppe der aktionskonferenz des widerstands gegen stuttgart 21
mitgenommen werden. Dieses Archiv umfasste eine Auswahl von theoretischen Texten sowie Informationen, Dokumente und Materialien, die in direktem Zusammenhang mit Stuttgart 21 standen und teils der Protestbewegung selbst entstammten. Es ging um ein Teilen, nicht Verteilen von Wissen, um eine Ausstellung, an der die Kuratorinnen und Kuratoren, Künstlerinnen und Künstler sowie ein Gros der Besucherinnen und Besucher gleichermaßen Anteil hatten, wo sich die Rollen zwischen Betrachterinnen bzw. Betrachtern und Beteiligten überlagerten.
offene türen Innerhalb der Widerstandsbewegung bildeten sich weitverzweigte Netze einer kritischen, zugleich dezentralen und kollektiven Wissensaneignung, die verschiedenste Themen – Umwelt, Wirtschaft, Verkehrslogistik, Stadtentwicklung, Architektur, Recht, ziviler Ungehorsam und vieles mehr – betrafen. Dies führte zunehmend zu dem Bedürfnis, sich in regelmäßigen Abständen zwischen den diversen Arbeitsgruppen auszutauschen. Voraussetzung hierfür war ein Raum, in dem man sich treffen und arbeiten konnte. Nach einer entsprechenden Anfrage öffneten wir den Kunstverein für die sogenannten Aktionskonferenzen, ohne jegliche inhaltliche Vorgabe oder Einmischung. (Abb. 6) In der Hochphase des Widerstands kamen bis zu 700 Personen zu diesen Treffen, die
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nicht nur im Glastrakt stattfanden, sondern sich zum Teil auch auf die Ausstellungsfläche ausdehnten. Auf die Öffnung des Kunstvereins für die Aktionskonferenzen folgten weitere Raumanfragen seitens unterschiedlichster Gruppen und Gruppierungen der Protestbewegung für kleinere Arbeitstreffen, Buchpräsentationen, Pressetermine und dergleichen mehr, die – nach einer rein terminlichen Abstimmung mit unserem eigenen Programm – ebenfalls bei uns stattfanden. Diese Form der weitgehend formlosen, unkuratierten und nicht programmatischen Zugänglichkeit des Glastrakts hat sich bis heute erhalten und wird mittlerweile fast täglich genutzt.
epilog Die Schleife, die dieser Text zieht, verläuft von den ‚Sphären‘ des Politischen, der Eingebundenheit der klassischen Kunstinstitution in das administrative, technokratische Feld, zu denen auch der Württembergische Kunstverein gehört, hin zu einer Praxis, die die diskursiven, aber auch schlicht die räumlichen Kapazitäten des institutionellen Feldes zumindest temporär umwidmet. Die Potenzialität, die sich hierin andeutet, basiert auf den künstlerischen Strategien, die sich von Dada über das Readymade zur Institutionskritik der 1970er- bis 1990er-Jahre entwickelten. Sie waren u. a. auf die Perforierung der Institution, ihres Wertekanons und auf ihre permanente Überforderung angelegt. Ihre methodischen Anlagen zeigen die Möglichkeiten an, tief in den administrativen Apparat einzugreifen und „die Verhältnisse zum Tanz“12 zu bringen. Dies meint nicht, dass sich die Institution im kritischen Vermögen und der Komplexität der Kunst spiegelt, sondern im Faktischen des Administrativen den ihr eigenen Realitätssinn fiktionalisiert.
diskussion elisabeth fritz: Der Vortrag hat gezeigt, dass für die politische Positionierung von Kunstinstitutionen auch ganz grundsätzliche Parameter wie z. B. die Lage im Stadtraum von Bedeutung sind. Die Aktivitäten des Württembergischen Kunstvereins scheinen eine Art Schneeballeffekt in der Stadtkultur ausgelöst zu haben, der bisher noch nicht zum Erliegen gekommen ist?
hans d. christ: Ja, im Moment ist das alles noch in Bewegung und kann noch nicht als historisch betrachtet werden. Wir haben seit 2010 pro Jahr ungefähr zwischen 120 und 180 Veranstaltungen, die teilweise aus der linken Szene Stuttgarts durchgeführt werden. Das entspricht aber nicht zwingend dem Profil unserer Praxis im Bereich der Kunstausstellung, sondern die Institution hat sich etabliert bzw. sie hat einen Nutzraum etabliert, der auf einen Bedarf getroffen ist.
12 Karl Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung [1844], in: Karl Marx/Friedrich Engels – Werke, Bd. 1, Berlin/DDR 1976, S. 378–391, hier S. 381: „(…) man muss diese versteinerten Verhältnisse dadurch zum Tanzen zwingen, dass man ihnen ihre eigne Melodie vorsingt!“
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andrea bátorová: Ich habe die Aktivitäten des Württembergischen Kunstvereins in Stuttgart selbst lange verfolgt und finde, dessen Art der Kommunikation hat Modellcharakter für das politische Handeln einer Kunstinstitution. Bezüglich des Projekts Die Kunst, nicht dermaßen regiert zu werden in Prag13 wollte ich nachfragen, wie diese Ausstellung in dem anderen städtischen Kontext funktioniert hat? Wie setzt man die Übertragung von Themen, welche eine konkrete Stadt betreffen, in einer ganz anders strukturierten Kommune um? Wurden für die Ausstellung in Prag das vorhandene Konzept und bereits existierende Materialien übernommen oder wurde hierfür aktiv in Prag nach Möglichkeiten gesucht, in denen eine derartige Kommunikation stattfinden kann?
hans d. christ: Es schien zunächst so, dass der Kontext gegeben ist und vor Ort aktiviert werden kann. Dann stellte sich aber heraus, dass sich die Ausstellung bereits verändert hatte, da die allgemeingültigeren Aussagen zu neoliberaler Stadtentwicklung und Ökonomie gestärkt wurden und die Spezifika von Stuttgart 21 ein Stück weit in den Hintergrund traten. In Prag war jedoch, im Nachhinein betrachtet, der institutionelle Zusammenhang nicht gut gewählt, denn die Institution DOX14 kann sich praktisch nicht selbst problematisieren. Sie befindet sich in einem Areal, in dem zurzeit noch 40.000 Menschen leben und für das ein Rückgang der Bevölkerung um 50 % für die nächsten zehn bis fünfzehn Jahre prognostiziert wurde. Das kann jedoch nicht explizit thematisiert werden, da der Immobilieninvestor gleichzeitig der Besitzer des Museums ist. In Taipeh wiederum war der Prozess der Übersetzung extrem intensiv, was durch die Art und Weise des Umgangs mit einem Phänomen aus einer anderen Kultur bedingt war. Bereits die Problematisierung der Übersetzung in die chinesische Sprache erzeugte eine besondere Involvierung. Ein weiterer Schritt war die Übertragung in eine ästhetische Form, die auf dem Agitprop-Stil basierte und und auf eine ganz andere Kulturtechnik, die der Kalligrafie, traf. Und damit waren verschiedene Momente der Begegnung hergestellt, die dazu führten, dass tatsächlich ein Handlungsraum vor Ort aktiviert wurde. In Rijeka hatten wir es schließlich mit einer schrumpfenden Stadt mit vielen sozialen Verwerfungen zu tun. Hier arbeiteten wir für Oh, my Complex. Das Unbehagen beim Anblick der Stadt mit einer Institution zusammen, die dort auch wie ein politisch orientiertes Festival verstanden wird. Dieses Projekt hat hervorragend funktioniert, was vor allem den vor Ort agierenden Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern geschuldet war, die diese Art der Ausstellung und ihre Referenzfelder unmittelbar für sich in einen produktiven Nutzungszusammenhang übertragen konnten. Wir hatten hierfür beispielsweise die Rekonstruktion der Ausstellung von Michael Fehr und Diethelm Koch mitgenommen und komplett auf Kroatisch übersetzt. Dort hatten sich der internationale Stil und moderne Konzepte der funktionellen Stadt unter anderen Prämissen niedergeschlagen, und die Referenzen darauf konnten somit auch in diesem Kontext rezipiert werden.
beatrice von bismarck: Mich würde interessieren, ob sich Ihrer Meinung nach die Position des Kunstvereins in den letzten Jahren durch Ihre Arbeit verändert hat und ob sich diese im 13 Die Sektion Die Kunst, nicht dermaßen regiert zu werden (The Art of Not Being Governed Like That) wurde von 14. Oktober 2011 bis 2. Januar 2012 im Rahmen der Ausstellung The Lucifer Effect im DOX Center for Contemporary Art in Prag gezeigt. http://luciferuvefekt.dox. cz/leen/ (Letzter Zugriff: 1. Oktober 2015). 14 DOX Center for Contemporary Art, Prag.
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Gefüge der anderen genannten Institutionen in Stuttgart verschoben hat. Sie hatten ja erwähnt, dass auch zahlreiche Bürger-Gruppen in den Kunstverein kommen, um dort politische Arbeit zu machen, die mitunter nicht notwendig an den Kunstverein gebunden ist, sondern eher grundsätzlich an eine öffentliche Institution, die ihre Räumlichkeiten dafür zur Verfügung stellt. Welche Rolle spielten andere Kunstinstitutionen oder soziale Einrichtungen für die Entwicklung des Kunstvereins?
hans d. christ: Als Iris Dressler und ich 2005 die Leitung des Kunstvereins übernommen haben, wurde noch zwischen einem ‚disziplinierten‘ und einem ‚undisziplinierten‘ Publikum unterschieden. Wir haben nun das ‚wild-gestikulierende‘ Publikum. Eine der anfänglichen Zielsetzungen bestand darin, das Feld der zeitgenössischen Kunst zu verstehen – und damit ist nicht nur die politische Kunst gemeint als ein Prozess der gemeinsamen ‚Vorurteilsausbildung‘, der kontrovers verlaufen und Kritik adressieren soll. Ein wesentlicher Bestandteil des derzeit stattfindenden Prozesses hängt damit zusammen, dass sich das Bewusstsein gegenüber den anderen Institutionen geändert hat und man insofern auch von ‚Näheverhältnissen‘ zwischen diesen sprechen kann. Insgesamt haben sich aber auch das Stadtklima und die Stadtkultur verändert, etwa auch durch das Theater Rampe oder das Künstlerhaus unter Adnan Yildiz und durch dessen Positionierung in Fragen der künstlerischen Produktion. Wie stabil diese Prozesse sind, ist schwer zu sagen. Wir sind als Institution ein fester Bestandteil von Strukturen der repräsentativen Demokratie und damit offensichtlich gewollt. Vielleicht sind es die Idee des Teilens und die Räume des freien Sprechens, die man heute stärker verteidigen muss. Die Institution des Kunstvereins ist relativ groß, mit ihrer Gründung im Jahr 1827 verhältnismäßig alt und so blieb sie in Bezug auf die Kritik von Stuttgart 21 von äußeren Repressalien unbehelligt. Als sich aber der kleine Wartesaal in Bietigheim kritisch zu Stuttgart 21 positioniert hatte, wurden ihnen eine Woche später explizit aus diesem Grund von FDP, Freien Wählern und CDU zu 100 % die Subventionen gestrichen. Das war offene Zensur. Das Potenzial der Institutionen ist dabei noch nicht ausgeschöpft. Es ist auch bemerkenswert, dass so ein Projekt wie BrandSchutz15 von einer Hochschule initiiert wurde. Denn das zeigt die Möglichkeit, dass man aus den eigenen Freiräumen, die einem als Institution garantiert werden und die man trotzdem ständig verteidigen muss, etwas zurückgeben kann. Ich verstehe das tatsächlich als eine Art Austauschprinzip. Durch die aktive Nutzung des Kunstvereins als Gebäude und Institution erhalten wir auch unglaublich viel aus der Öffentlichkeit zurück.
hans dickel: Ihre Präsentation berührt die viel diskutierte Frage nach dem Verhältnis von Künstler und Kurator. Erleben Sie persönlich das Verhältnis als Allianz oder als Konflikt dieser beiden Rollen bzw. wie würden Sie es beschreiben? Eignen Sie sich Strategien von Künstlern an? Ermöglichen Sie es als Kurator umgekehrt auch Künstlerinnen und Künstlern, in diesem Feld zu arbeiten, und funktioniert diese Zusammenarbeit immer reibungslos?
hans d. christ: Ich würde sagen, das, was ich als Kurator mache, habe ich von Künstlern gelernt. Das ist schon einmal ein ganz klares Verhältnis. Alles, was ich über Präsentationsformen weiß, z. B. die ideale Videoinstallation, habe ich von Stan Douglas gelernt. Aber auch in der Anerkennung dieses Sachverhaltes gibt es ein Aushandeln. Zum Beispiel stellen wir immer die Frage 15 Vgl. den Beitrag von Verena Krieger in diesem Band.
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nach der Werkgerechtigkeit bei allen von uns realisierten Präsentationen als Ausgangspunkt für die Planung der Ausstellungsarchitekturen. Diese wird in der zeitgenössischen Kunst zusammen mit den Künstlern erörtert. Es gibt im Württembergischen Kunstverein keine kuratorischen Eingriffe, die die Werkintegrität infrage stellen. Der Ausgangspunkt bei den Architekturen der Ausstellungen ist stets die Anforderung der idealen Präsentation des Kunstwerks. Dabei treten Überlegungen zur Homogenisierung der Gesamtschau einer Ausstellung in den Hintergrund. Diese Auseinandersetzung über die ideale Präsentation ist natürlich auch konfliktbehaftet, aber stets partnerschaftlich. Es ist für uns Kuratoren wichtig, von Anfang an den gegebenen Rahmen für die Künstlerinnen und Künstler transparent und verlässlich zu gestalten. Dieses Prinzip wurde z. B. auch bei der Zusammenarbeit mit NOH Suntag, Dan Perjovschi und Daniel García Andújar für das Projekt Die Kunst, nicht dermaßen regiert zu werden verfolgt, bei dem noch Yvonne P. Doderer als Stadtentwicklerin, Iris Dressler, Stephan Köperl und Sylvia Winkler beteiligt waren. Der Rahmen ist demnach die jeweilige Aktion. Es gelangte z. B. keine Zeichnung von Dan Perjovschi in den Stuttgarter Stadtpark, ohne dass der Künstler dies zuvor genehmigt hat. Das sind die Regeln, die wir uns selbst auferlegt haben. Nichtsdestotrotz kommt es immer wieder zu Situationen, in denen die Künstlerinnen und Künstler kommunizieren, dass sie in der Art und Weise eines bestimmten Kontexts ihre Arbeit nicht zeigen wollen. Mitunter arbeiten wir bei sehr großen kollaborativen Projekten mit einer großen Zahl an Kuratoren zusammen, bei denen in den Ausstellungen Dinge zur Sprache gebracht und gezeigt werden, die ich so nie zeigen würde. Das war beispielsweise bei On Differences und Subversive Praktiken16 der Fall. In diesen Fällen muss diese Position durch die Gastkuratoren moderierend vermittelt werden. Es ist auch immer zu unterscheiden, ob ich ein Haus leite und kuratiere oder ob ich nur kuratiere. Das sind meines Erachtens zwei verschiedene Tätigkeitsfelder.
gürsoy dog˘ taș: Ich denke, viele Ausstellungen wünschen sich eine derartige Verzahnung mit einer Bürger- oder Zivilgesellschaft. Der sogenannte Global Square verstand sich als Plattform der 7. Berlin Biennale (2012), um verschiedene Protestströmungen der heterogenen Platzbesetzungsbewegungen zusammenzuführen, damit diese untereinander Informationen austauschen und gemeinsame Strategien entwickeln. Jedoch wich dieser Austausch den ideologischen Streitigkeiten mit der Berlin Biennale. Wieso haben sich die Protestlerinnen und Protestler nicht mit Euch überworfen? Begründet sich Euer Erfolg in der langjährigen Beziehung zu den Bürgerinnen und Bürgern der Stadt? Eine weitere Frage wäre, wie man bei derartigen Projekten eine Grenze zwischen Aktivismus und Ausstellung ansetzen könnte?
hans d. christ: Ich glaube, das Problem der Biennale war, dass sie den Schritt nicht konsequent durchgezogen hat. Meiner Ansicht nach hätten die Veranstalter die gesamten finanziellen Mittel für Aktivismus verwenden sollen, auch wenn das vielleicht unrealistisch ist. Sonst entsteht eine Art komische Mischfigur, die für beide Seiten unbefriedigend ist. Daher betrachte ich z. B. das Publikum, das im Glastrakt des Kunstvereins Veranstaltungen macht, nicht als potenzielles 16 On Difference #1; Lokale Kontexte – Hybride Räume, Württembergischer Kunstverein Stuttgart, 21. Mai–21. Juli 2005; On Difference #2: Grenzwertig, Württembergischer Kunstverein Stuttgart, 18. Februar–30. April 2006; Subversive Praktiken. Kunst unter Bedingungen politischer Repression, 60er–80er/Südamerika/Europa, Württembergischer Kunstverein Stuttgart, 30. Mai–2. August 2009.
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Kunstpublikum. Mitunter ist ihnen nicht einmal bewusst, dass sie im Württembergischen Kunstverein sind. Die Sphären sind hier getrennt, aber es gibt Verbindungspunkte, die über eine Ausstellung wie Die Kunst, nicht dermaßen regiert zu werden hergestellt werden können. Auch bei Oh, My Complex. Vom Unbehagen beim Anblick der Stadt wurde Stuttgart 21 in der Ausstellung überhaupt nicht angesprochen, aber die Besucher haben das Thema rückübersetzt in ihren lokalen Zusammenhang. Bei der Biennale in Istanbul war das, glaube ich, ebenfalls ein Thema, das verstellt in der Berichterstattung wiedergegeben wurde. Natürlich gab es den Protest im Gezi-Park, aber der Protest gegen die Biennale war schon zuvor da gewesen. Und wenn bei der von Jens Hoffmann organisierten Biennale die Innenarchitektur der Ausstellung aus den Aluminiumpaneelen hergestellt wird, die überall in Istanbul als Verblendung von Abrissarealen verwendet wird, die gerade massiv gentrifiziert werden, dann weiß ich nicht, ob das noch ironisch oder aufklärerisch zu verstehen ist. Wofür ich keinerlei Sympathien habe, ist, wenn versucht wird, sich an der Kritik der Kritikmöglichkeit hochzuziehen. Dieses Vorgehen nutzt uns in der Regel nichts, und wir kommen immer bei demselben Lamento an. Als Geste der Selbstermächtigung ist das tatsächliche Herstellen von Räumen, in denen eine solche stattfinden kann, ein wichtiges Prinzip. Wenn wir z. B. als Direktoren in den Kunstverein hineingehen, ermächtigen wir uns, den Raum so zu nutzen, wie wir das im Verbund mit bestimmten gesellschaftlichen Vereinbarungen, die Kontinuitäten sind, für richtig halten. Und die Frage ist, wo sich bei den Biennalen diese Kontinuitäten ausbilden. Wenn wir beispielsweise die Gwangju-Biennale nehmen, dann hat die eine große innere Kontinuität zum 18. Mai 1980, an dem das Gwangju-Massaker stattfand und der den Beginn des Democratic Uprising markierte. Und das ist bisher noch in jeder Gwangju-Biennale verhandelt und ausgehandelt worden. Derartige Überlegungen müsste man für die anderen Kontexte weiterentwickeln. Es ist jedenfalls wichtig, das Feld anzuerkennen, in dem man sich befindet und agiert. Biennalen beruhen auf dem Phänomen, dass sie alle zwei Jahre mit einer wahnsinnigen Aufmerksamkeitsökonomie stattfinden und klare Instrumente der Repräsentationskultur sind. Darin liegt daher vielleicht auch gerade ihr Potenzial.
verena krieger: Mir scheint das Stuttgarter Projekt einer dieser magischen Momente gewesen zu sein, in dem plötzlich etwas aufgeht oder passiert, der aber wahrscheinlich nicht von Dauer sein kann. Sie haben sehr stark betont, dass es gerade nicht um die Ausstellung als Ausstellung, sondern um den institutionellen Rahmen und die sozialen Akteure ging, die diesen gestalten und auch unterschiedlich für sich nutzen und öffnen. Mich interessiert noch einmal genauer die weitere Entwicklung nach dieser Ausstellung. Das Publikum, das diesen Raum für sich entdeckt und in Besitz genommen hat, hatte ein sehr gezieltes Interesse. Hat sich daraus ein Publikum für weitere Ausstellungen requiriert, die eine andere Richtung verfolgten? hans d. christ: Ja, das ist deutlich spürbar und hat wesentlich mit der Struktur der Bewegung Recht auf Stadt zu tun. Es gehen immer noch jeden Montag 500 bis 1.500 Bürgerinnen und Bürger gegen Stuttgart 21 auf die Straße und zum dritten Jahrestag der unverhältnismäßigen Polizeiaktion am 30. September 2010, dem schwarzen Donnerstag, waren es wieder 7.000. Das ist die eine Seite und vielleicht inzwischen auch schon Nostalgie, denn dass Stuttgart 21 gebaut wird, ist eine Realität. Aber darin hat sich eine Bewusstseinsstruktur etabliert, die sich auch mit unserem Programm verbindet. Dies stellt keinen Sonderfall dar. Als wir in der abso-
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luten Kulturperipherie in Dortmund anfingen, haben wir unser avanciertes Programm mit nur 50 Leuten gemacht. Nach Ablauf von acht Jahren waren wir dann 3.000, basierend darauf, dass eine permanente Auseinandersetzung mit ähnlich komplexen Inhalten stattfand. Es existiert in der Bevölkerung ein wahnsinnig großes Interesse an zeitgenössischen Themen, wenn diese angreifbar gemacht werden und wenn Räume geschaffen werden, in denen sie ausgehandelt werden können. Was wir aus der singulären Situation in Stuttgart mitnehmen, ist tatsächlich, immer wieder Räume herzustellen, in denen Angreifbarkeit produziert wird. Ein ganz wesentliches Element zur langfristigen Entwicklung ist die Mitgliederausstellung, die wir von 2005 an veranstaltet haben. An diesen Ausstellungen nehmen 200 bis 300 Mitglieder teil und ich rede mit fast jedem. Die erste Ausstellung war kuratorisch extrem überformt und erzeugte ganz viele Konflikte, die aber ausgetragen wurden. Aus der Perspektive der Institution würde ich das nicht als einen urbanen Konflikt beschreiben, der auch in einer andern Stadt hätte stattfinden können, wenn dieser Bahnhof irgendwo anders gebaut werden würde. Sondern ich würde es tatsächlich immer wieder dahingehend beschreiben, durch welche Strukturen der Raum hergestellt wird, der dieses Aushandlungspotenzial aufbaut. Bei den Kunstvereinen ist das nochmals anders, als wenn ich auf musealer Ebene rede. Was wir im Moment im Kunstbetrieb oft falsch machen, ist, dass wir uns ein Stück weit nur in einer Nischenposition definieren. Wir sind in der Argumentation mit der Öffentlichkeit oft sehr defensiv. Diese Debatte muss jedoch offensiv geführt werden, wenn wir am Ende nicht wie die Institutionen in den Niederlanden als bürgerlicher linker Rest der Gesellschaft definiert und schlichtweg abgeschafft werden wollen. Um unseren Handlungsraum permanent zu erweitern, müssen wir also in Aktion treten. Und deswegen möchte ich betonen, dass die Institutionen eigentlich nach wie vor ziemlich stark sind in ihrer Position, Kommentare in die öffentliche Sphäre abzugeben. Das Stuttgarter Projekt ist somit auch ein ganz leidenschaftlicher Appell genau für diese Handlungsoptionen, die uns im Kunstbetrieb tatsächlich gegeben sind. Wir müssen nicht lamentieren, denn im Moment sind wir in Deutschland noch bestens ausgestattet. Wenn die Spanier unter ihren momentanen Bedingungen etwas Derartiges machen können, dann können wir das hier erst recht. Und das vermitteln wir auch an unser Publikum, bei dem diese Kontroverse tatsächlich auftaucht, und wir mobilisieren es genau über diese Auseinandersetzung.
mentalitäten der intoleranz als herausforderung zeitgenössischer kunst brandschutz in jena 2013
verena krieger Wenn im Herbst 2013 Passanten den Jenaer Ernst-Abbe-Platz überquerten, zog ein Banner am Uni-Hauptgebäude ihre Aufmerksamkeit auf sich, das eine auffällig geschwungene goldene Schrift zeigte, die unlesbar war und irgendwie arabisch wirkte. (Abb. 1) Erst auf den zweiten Blick gelang es, den in lateinischer Schrift und orientalisierender Form verfassten Satz „Auf den ersten Blick scheint vieles unverständlich“ zu entziffern. Look Twice – Preisträger eines von der israelischen Künstlerin Dana Yahalomi 2012 im Rahmen des Steirischen Herbstes in Graz veranstalteten Wettbewerbs für die Kampagne Rebranding European Muslims – wurde von Jenaer Studierenden entdeckt und als Exponat für die Ausstellung BrandSchutz ausgewählt. Die meisten Passantinnen und Passanten reagierten auf das Motiv zunächst irritiert, dann überrascht und schließlich begeistert. „Auf den ersten Blick erscheint vieles unverständlich“ kann auch als informelles Motto des Projektes BrandSchutz gelten, das der Lehrstuhl für Kunstgeschichte an der Universität Jena mit einer Gruppe von Studierenden und in Zusammenarbeit mit dem Jenaer Kunstverein im Jahr 2013 realisierte: Es handelte sich um eine Ausstellung zeitgenössischer Kunst, die sich mit intoleranten Mentalitäten in der Mitte der Gesellschaft auseinandersetzt, adressiert an eben diese bürgerliche Mitte. Ihr lag die Idee zugrunde, mit den Mitteln der Kunst ‚zweite Blicke‘ zu wecken, also dazu anzustiften, eingefahrene Wahrnehmungen und vorschnelle Urteile zu hinterfragen und probehalber neue Perspektiven einzunehmen. Werke von insgesamt 21 zeitgenössischen Künstlerinnen, Künstlern und Künstlergruppen, darunter junge unbekannte ebenso wie international renommierte, wurden im Jenaer Stadtraum gezeigt, begleitet durch ein umfangreiches Vermittlungsprogramm. Es war der Versuch einer politischen Intervention der zeitgenössischen Kunst in einer ostdeutschen Universitäts- und Industriestadt, deren Bevölkerung aufgrund der DDR-Vergangenheit mit den künstlerischen Artikulationsformen moderner und zeitgenössischer Kunst kaum vertraut ist. Ausgehend von einer kurzen Schilderung der Entstehungshintergründe des Projekts werden im Folgenden die ihm zugrunde liegenden konzeptionellen Überlegungen genauer dargelegt. In diesem Zusammenhang gilt es auch, einen kritischen Blick auf die ideengeschichtlichen Grundlagen und historischen Vorläufer eines solchen Vorhabens zu werfen. Daran anschließend wird dann das Gesamtprojekt BrandSchutz – insbesondere die Ausstellung und die darin präsentierten Arbeiten – vorgestellt, um zuletzt die damit gemachten Erfahrungen und Probleme zu reflektieren.
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abb. 1 demner, merlicek & bergmann, look twice, 2012, siegerentwurf im wettbewerb rebranding european muslims, initiiert von dana yahalomi, medium und maße variabel, hier: banner, 100 x 400 cm. ansicht: haupteingang uni-campus der friedrich-schiller-universität jena, ernst-abbe-platz, 2013
wie kam es zu dem projekt? der schockierende auslöser Zu den Folgen der Globalisierung und der globalen Umbrüche gehören auch das Aufbrechen sozialer Ressentiments und das (Wieder-)Erstarken nationalistischer Tendenzen in Deutschland wie in anderen europäischen Ländern. Es handelt sich dabei überwiegend um latente Stimmungen und Mentalitäten, die aber auch in Gewalttaten gegen Flüchtlinge und Migrantinnen und Migranten ausschlagen, im Extremfall zu rechtsterroristischen Anschlägen und deren mangelhafter Verfolgung geführt haben, und die sich in jüngster Zeit auch in erdrutschartigen Wahlsiegen einer rechtspopulistischen Partei, im Zulauf für rassistische Hetzveranstaltungen (PEGIDA) und in der massiven Zunahme von Anschlägen gegen Flüchtlingsheime artikulieren. Die ostdeutschen Bundesländer sind, auch wenn es oft so scheint, keineswegs allein davon betroffen. Vielmehr zeigen jüngere Vergleichsstudien, dass die Kombination verschiedener Faktoren in der gesamten Bundesrepublik ein Erstarken rechtsextremer Haltungen bewirkt.1 So führt die Verbindung einer autoritären Denktradition mit wirtschaftlicher und sozialer Depriva1 Matthias Quent, Mehrebenenanalyse rechtsextremer Einstellungen. Ursachen und Verbreitung in unterschiedlichen sozioökonomischen Regionen Hessens und Thüringens, Magdeburg 2012, S. 66–75.
mentalitäten der intoleranz als herausforderung zeitgenössischer kunst
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tion dazu, dass fremdenfeindliche und rassistische Ressentiments besonders gedeihen. Diese Konstellation gibt es in strukturschwachen Regionen in Bayern ebenso wie in größeren Teilen Ostdeutschlands. Die Stadt Jena, die wirtschaftlich prosperiert und sich durch eine überdurchschnittlich qualifizierte Bevölkerung auszeichnet, ist davon gerade nicht betroffen. Vielmehr gibt es seit Jahren ein aktives zivilgesellschaftliches Engagement, das die Nazis praktisch aus der Stadt gedrängt hat. Gleichwohl stammen die drei mutmaßlichen Haupttäter bzw. die Haupttäterin des rechtsterroristischen NSU aus Jena und wurden hier in den 1990er-Jahren zu Neonazis sozialisiert. Als diese schockierende Tatsache mit der Aufdeckung der NSU-Mordtaten im Winter 2011/2012 im Raum stand, kam ich mit den Aktiven des Jenaer Kunstvereins – Jürgen Conradi, Cornelia Schöft und Wolfram Stock – ins Gespräch darüber, welche Umstände zu dieser Entwicklung geführt haben mochten und welcher gesellschaftlichen Aktivitäten es bedürfte, um ihnen entgegenzuwirken. Wir fragten uns, welchen Beitrag die Kunst dazu leisten könnte. So entstand die Idee, die gesellschaftspolitischen Interventionspotenziale der Kunst mit einer Ausstellung zu erproben. Die grundsätzlichen Überlegungen, auf denen diese basiert, lassen sich in drei Hauptlinien gliedern: Sie betreffen 1. das Verhältnis des Bürgertums zum Rechtsextremismus, 2. das Verhältnis von Kunst und Politik bzw. die Potenziale des Ästhetischen im Feld des Politischen und 3. das Verhältnis des BrandSchutz-Projekts zu bisherigen Ausstellungen, in denen Kunst eine wertbildende Vermittlungsrolle einnehmen sollte.
bürgertum und rechtsextremismus – intolerante mentalitäten in der politischen mitte Natürlich kann es nicht Sache der Kunst sein, gewaltbereiten Neonazis entgegenzutreten. Ihr Feld ist nicht der sogenannte ‚rechte Rand‘, sondern die bürgerliche Mitte. Das scheint zunächst ein Widerspruch, doch tatsächlich bewegt sich die Kunst – wie die sozial- und politikwissenschaftliche Forschung der letzten Jahrzehnte aufgezeigt hat – hinsichtlich der Problematik des Rechtsextremismus keineswegs in einem irrelevanten Feld. Wegweisende Erkenntnisse brachten hierzu die Untersuchungen, die der Bielefelder Konfliktforscher Wilhelm Heitmeyer seit den 1990er-Jahren und insbesondere in einem von ihm geleiteten Langzeitprojekt Deutsche Zustände (2001–2010) durchgeführt hat.2 Diese Studie zielte darauf ab, feindselige Einstellungen zu Menschen anderer sozialer, religiöser und ethnischer Herkunft oder mit anderen Lebensstilen zu erfassen. Zu diesen feindseligen Einstellungen zählen Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus, Homophobie, Sexismus, Islamophobie sowie die Abwertung von Obdachlosen, von Menschen mit Behinderung und von Langzeitarbeitslosen – ihr gemeinsamer Kern ist eine „Ideologie der Ungleichwertigkeit“. Die Untersuchungen brachten hervor, dass solche Formen einer „gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit“ massiv um sich greifen.3 Bemerkenswert ist dabei, dass dies inzwischen keineswegs mehr 2 Wilhelm Heitmeyer (Hg.), Deutsche Zustände, 10 Bde., Frankfurt am Main/Berlin 2003–2012. 3 Eine zusammenfassende Darstellung gibt Wilhelm Heitmeyer, Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit (GMF) in einem entsicherten Jahrzehnt, in: ders. (Hg.), Deutsche Zustände, Folge 10, Berlin 2012, S. 15–41.
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nur die unteren Schichten und auch nicht nur einen kleinen extremen Rand betrifft, sondern gerade auch in gutsituierten Kreisen eine deutlich wachsende Tendenz zur Intoleranz gegenüber Fremden und zur Entsolidarisierung gegenüber sozial Schwachen zu beobachten ist: „Zivilisierte, tolerante, differenzierte Einstellungen, die in höheren Einkommensgruppen einmal anzutreffen waren, scheinen sich in unzivilisierte, intolerante – ja: verrohte – zu verwandeln.“4 Heitmeyer, der sein Augenmerk wesentlich auch auf die diesen Einstellungen zugrunde liegenden „psychischen Verankerungen“, also auf Gefühle wie Angst, Stolz, Egoismus etc. richtet, erklärt diese Entwicklung hin zu Entsolidarisierung und Intoleranz mit den durch die ökonomische und technologische Modernisierung ausgelösten „gesellschaftlichen Desintegrationsprozessen“. Damit ist gemeint, dass die zunehmende Auflösung traditioneller Lebenszusammenhänge, einer gesicherten Teilhabe an gesellschaftlichen Institutionen sowie des gemeinschaftlichen Einverständnisses über Werte und Normen bei den Individuen Ohnmachtsgefühle, Verunsicherung und Vereinzelungserfahrungen erzeugen, welche wiederum leicht in Akzeptanz von Gewalt und Ungleichheitsideologien münden können – ein Prozess, der die gesamte Gesellschaft und keineswegs nur ihre sozialen Ränder betrifft.5 Heitmeyers Forschungsergebnisse hatten wichtige Auswirkungen auf die politikwissenschaftliche Rechtsextremismusforschung. Hier hatte lange Zeit die Extremismustheorie vorgeherrscht, die davon ausgeht, dass rechte und linke Extremisten gemeinsam die Demokratie bedrohen, während die politische Mitte stabil demokratisch sei.6 Diese Theorie hat sich spätestens durch die Erkenntnis als nicht haltbar erwiesen, dass die Ideologie der Ungleichwertigkeit auch in der bürgerlichen Mitte massiv vertreten ist. Heute arbeitet die Politikwissenschaft mit einer differenzierten Definition von Rechtsextremismus. Demnach handelt es sich um ein „Einstellungsmuster, dessen verbindendes Kennzeichen Ungleichwertigkeitsvorstellungen darstellen. Diese äußern sich im politischen Bereich in der Affinität zu diktatorischen Regierungsformen, chauvinistischen Einstellungen und einer Verharmlosung bzw. Rechtfertigung des Nationalsozialismus. Im sozialen Bereich sind sie gekennzeichnet durch antisemitische, fremdenfeindliche und sozialdarwinistische Einstellungen.“7
Auf der Basis dieser Definition hat die Forschergruppe Decker, Kiess & Brähler von der Abteilung für Medizinische Psychologie und Medizinische Soziologie an der Universität Leipzig ein Untersuchungsraster entwickelt, mit dem sie seit 2002 regelmäßig und systematisch die politische Haltung der bundesdeutschen Bevölkerung erforscht. Sie untersuchen repräsentative Stichproben nach sechs Dimensionen des „rechtsextremen Einstellungsmusters“: Befürwortung einer Diktatur, Nationalchauvinismus Ausländer4 Ebd., S. 35. 5 Wilhelm Heitmeyer, Das Desintegrations-Theorem. Ein Erklärungsansatz zu fremdenfeindlich motivierter, rechtsextremistischer Gewalt und zur Lähmung gesellschaftlicher Institutionen, in: ders. (Hg.), Das Gewalt-Dilemma. Gesellschaftliche Reaktionen auf fremdenfeindliche Gewalt und Rechtsextremismus, Frankfurt am Main 1994, S. 29–69, insbes. S. 30–32, 45–49. 6 Vgl. Uwe Backes/Eckhard Jesse, Politischer Extremismus in der Bundesrepublik Deutschland, Bonn 21990, insbes. S. 37–43. 7 Konsensusgruppe, 2001, zitiert nach Quent 2012 (wie Anm. 1), S. 9.
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feindlichkeit, Antisemitismus, Sozialdarwinismus sowie Verharmlosung des Nationalsozialismus.8 Diese Untergliederung in Dimensionen ermöglicht eine differenzierte Betrachtung. So ist etwa die Zahl derer, die sich ausländerfeindlich oder sozialdarwinistisch äußern, weit höher als die Zahl derer, die den Nationalsozialismus verharmlosen. Erst wenn mehrere der sechs Dimensionen des rechtsextremen Denkens zusammen auftreten, sprechen die Leipziger Forscher von einem „geschlossenen rechtsextremen Weltbild“. Ergebnis der alle zwei Jahre groß angelegt durchgeführten Untersuchung ist, dass Ungleichwertigkeitsvorstellungen bei Wählerinnen und Wählern aller Parteien des demokratischen Spektrums vertreten sind. Um nur ein besonders drastisches Beispiel zu nennen: Laut der 2012 veröffentlichten Studie von Decker, Kiess & Brähler sind 25,1 % der Bundesdeutschen manifest ausländerfeindlich; bei den Ostdeutschen sind es sogar 38,7 %.9 Zugleich hat auch das geschlossene rechtsextreme Weltbild gegenüber den vorherigen Studien deutlich zugenommen: 9 % der Bundesdeutschen und sogar knapp 16 % der Ostdeutschen haben nach der Untersuchung von 2012 eine durchgehend rechtsextreme Einstellung.10 Demgegenüber zeigen die Ergebnisse für 2014 erfreulicherweise einen „starke(n) Rückgang bei allen rechtsextremen Dimensionen“11; allerdings ist zugleich die Zahl derer, die sich unentschieden äußern bzw. abgeschwächte Zustimmung zu den entsprechenden Aussagen gaben, deutlich gestiegen. Das weist auf ein „höheres rechtsextremes Potenzial“ hin.12 Zudem zeigt sich, dass die nun erstmals auch erfassten Ressentiments gegenüber Musliminnen und Muslimen sowie gegenüber Flüchtlingen extrem hoch sind. Die Ungleichwertigkeitsvorstellungen sind also weiterhin vorhanden, sie wenden sich umso massiver gegen bestimmte soziale Gruppen.13 Dies wird besonders sichtbar, seitdem ab 2015 eine große Zahl syrischer Bürgerkriegsopfer nach Europa zu fliehen versucht, was in Deutschland eine Welle der Hilfsbereitschaft ausgelöst hat, aber gleichzeitig auch massiven Zulauf für rassistische und nationalistische Protestveranstaltungen und erdrutschartige Wahlerfolge für die rechtspopulistische Partei „Alternative für Deutschland“ (AFD) bewirkte. Weshalb bin ich so ausführlich auf dieses Thema eingegangen? Ausgangspunkt war die Frage, inwiefern das bürgerliche Milieu, das durch Kunst und zumal durch zeitgenössische Kunst erreicht wird, überhaupt vom Problem des Rechtsextremismus betroffen ist. Die vorliegenden Ergebnisse zeigen, dass Ungleichwertigkeitsvorstellungen, die den Kern rechtsextremer Haltungen bilden, in allen Bevölkerungsschichten und bei Wählerinnen und Wählern aller Parteien vorhanden sind. Solche ‚Mentalitäten der Intoleranz‘ sind also keineswegs nur am Rand, sondern auch in der Mitte der Gesellschaft zu verorten. Vergegenwärtigt man sich, dass der Nationalsozialismus an die Macht gelangen konnte, weil er starke Zustimmung aus den Mittelschichten 8 Oliver Decker/Johannes Kiess/Elmar Brähler, Die Mitte im Umbruch. Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2012, hg. für die Friedrich-Ebert-Stiftung von Ralf Melzer, Bonn 2012, S. 31. 9 Ebd., S. 39. 10 Ebd., S. 54. 11 Oliver Decker/Johannes Kiess/Elmar Brähler, Die stabilisierte Mitte. Rechtsextreme Einstellung in Deutschland 2014, Leipzig 2014, S. 59. 12 Ebd., S. 60. 13 Ebd., S. 60–69.
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erlangte – ein Phänomen, das bereits in den 1950er-Jahren als „Extremismus der Mitte“ bezeichnet wurde14 –, so wird klar, dass die sich verbreitenden Ressentiments in der heutigen bürgerlichen Mitte ein brandgefährliches Potenzial bilden. Auch heute ist es vor allem das Bürgertum, das den gesellschaftlichen Einfluss und die Verantwortung hat, zu verhindern, dass sich menschenfeindliche Tendenzen durchsetzen. Kunst, gerade auch zeitgenössische Kunst ist primär bürgerlichen Kreisen zugänglich, und daraus folgt umgekehrt, dass bürgerliche Kreise potenziell für die Kunst zugänglich sind. Unsere Idee war also, über den engeren Kreis der Kunstinteressierten hinaus die breitere bürgerliche Mitte durch eine Kunstausstellung anzusprechen und zur Selbstreflexion anzuregen.
kunst und politik – die potenziale des ästhetischen im politischen feld Wie lässt sich die Rolle der Kunst in diesem politischen Zusammenhang konkret bestimmen? Bislang konzentrieren sich die Aktivitäten in der Rechtsextremismusprävention auf politische, pädagogische und juristische Maßnahmen. Die ästhetische Dimension spielt dagegen keine Rolle. Die Autonomisierung der Kunst in der Moderne hat als Kehrseite auch eine Geringschätzung ihrer Möglichkeiten im gesellschaftspolitischen Feld hervorgebracht. Zugleich basiert die Einschätzung von Kunst als politikfern auf einem konventionellen Verständnis, das die Politik auf staatlich-institutionelles Handeln zur Schaffung von Ordnung reduziert. Stellt man aber dem Begriff der Politik den erweiterten Begriff des Politischen zur Seite, wie er seit den 1980er-Jahren von verschiedenen Autorinnen und Autoren formuliert wird, ermöglicht dies auch, die Handlungsoptionen der Kunst neu zu denken. Chantal Mouffe beschreibt das Politische als ein agonales Feld neben und vor den machtstrukturierenden Institutionen, als eine Vielfalt von Handlungen und Handlungsformen, in denen sich Interessen, Widersprüche, Konflikte, Kompromisse und Kompromissverschiebungen manifestieren.15 Dies zugrunde gelegt, relativiert sich die Fixierung auf die ‚große Politik‘ und erlangen politische Minimalhandlungen, die nach Oliver Marchart „den Radar traditioneller Perspektiven auf Politik (gewissermaßen unterfliegen)“16, gesellschaftspolitische Relevanz. Ressentimentgeleitete Alltagshandlungen von Entscheidungsträgern sind dann ebenso Elemente des Politischen wie künstlerische Projekte und deren Wirkung. Der Politikwissenschaftler Werner Friedrichs schlägt unter Rückgriff auf verschiedene Theorieansätze vor, die Interaktion zwischen diesen beiden Dimensionen ‚Politik‘ und ‚Politisches‘ mittels der Begriffe ‚Artikulation‘ und ‚Unterbrechung‘ zu beschreiben. Unterbrechung bedeutet, die Politik durch Irritationen hin zum Politischen zu öffnen. 14 Seymour Martin Lipset, Der „Faschismus“, die Linke, die Rechte und die Mitte, in: Ernst Nolte (Hg.), Theorien über den Faschismus, Köln 41976, S. 449–491. 15 Vgl. Chantal Mouffe, Über das Politische. Wider die kosmopolitische Illusion, Frankfurt am Main 2007, insbes. S. 15–28, 42–47; Hegemonie, Macht und Rechtspopulismus. Ein Gespräch mit Ernesto Laclau und Chantal Mouffe, www.episteme.de/htmls/MouLac.html (Letzter Zugriff: 1. September 2015). 16 Oliver Marchart, Die politische Differenz. Zum Denken des Politischen bei Nancy, Lefort, Badiou, Laclau und Agamben, Berlin 2010, S. 294. Als Beispiele für solche ,Minimalhandlungen‘ nennt Marchart neuere Formate sozialer Bewegungen wie z. B. Flashmobs oder Queer Picknicks.
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Artikulation bedeutet das Formulieren von Positionen „aus dem Raum des Politischen in den Raum der Politik hinein“.17 Es handelt sich also um zwei gegenläufige Bewegungen, die komplementär aufeinander bezogen sind. Sind aber Handlungen im Feld des Politischen prinzipiell imstande, in die Politik hineinzuwirken, so muss dies auch für die Kunst gelten, da sie an diesem der Politik vorgelagerten agonalen Feld partizipiert. Tatsächlich verfügt der Begriff der ,Unterbrechung‘ in der Kunsttheorie über eine eigene Geschichte. Schon Walter Benjamin verwendete ihn im Rahmen seiner Auseinandersetzung mit dem Epischen Theater. Er konstatiert, dass das von Bertolt Brecht eingesetzte ästhetische Verfahren der Montage eine „Unterbrechung der Handlung“ erzeuge, welches der Illusion entgegenwirke und dadurch das Publikum zur Reflexion des Wahrgenommenen zwinge.18 In der jüngeren ästhetischen Diskussion hat der Terminus der Unterbrechung wesentliche Erweiterungen und Aktualisierungen erfahren. So charakterisiert die Theaterwissenschaftlerin Erika Fischer-Lichte in Bezug auf zeitgenössische Formen des Theaters, die mit verschiedenen Mitteln dessen Theatralität demonstrativ hervorkehren, eine „Ästhetik der Unterbrechung“. Diese habe allerdings kaum mehr etwas mit den (von Benjamin reflektierten) Montageverfahren Brechts und Erwin Piscators gemeinsam, da es dem zeitgenössischen Theater anders als diesen nicht mehr um die Vermittlung spezifischer (revolutionärer) Inhalte gehe.19 In der Kunstphilosophie Jacques Rancières hingegen wird der Begriff der Unterbrechung eng an das Politische gebunden, was in seiner spezifischen Definition des Verhältnisses von Kunst und Politik gründet. Nach Rancière geht es in Politik wie Kunst gleichermaßen um eine „Aufteilung“ des sinnlich Erfahrbaren.20 Politik wird von ihm als „Unterbrechung“ der Logik gegebener „Dispositionen“ bestimmt, diese vollziehe sich im „Dissens“.21 Hierin besteht eine wesentliche Gemeinsamkeit mit der Kunst, denn das widerständige Potenzial des Ästhetischen liegt in seiner „Dissensualität“, d. h. in seinem Vermögen, das Versprechen von Freiheit und Gleichheit sinnlich erfahrbar zu machen.22 Mit dieser Argumentation erhält die ästhetische Unterbrechung eine explizit gesellschaftskritische Dimension, jedoch in einem gegenüber Benjamin und Brecht erweiterten Sinne. Vor diesem Hintergrund erweist sich Werner Friedrichs polares Begriffspaar von ‚Artikulation‘ und ‚Unterbrechung‘– wenngleich es in Bezug auf politische Bildung und nicht in Bezug auf Kunst formuliert wurde – als geeignet für die Beschreibung der Art und Weise, wie Kunst politisch wirksam werden kann. Nicht nur ist Kunst per se ein Medium der Unterbrechung, weil sie ermöglicht, über die expertokratischen Vorgaben politischer Institutionen hinauszudenken, wahrzunehmen und zu fühlen, und folglich über das Potenzial verfügt, herrschende Diskurse zu unterbrechen. Auch der Terminus der Artikulation lässt sich auf Kunst anwenden, wenn man darunter das 17 Werner Friedrichs, Partizipation als Artikulation und Unterbrechung. Politische Einsätze unter den Bedingungen der Postdemokratie, in: polis 3/2012, S. 19–21, hier S. 21. 18 Walter Benjamin, Der Autor als Produzent, Gesammelte Schriften II/2, Frankfurt am Main 1977, S. 683–701, hier S. 698. 19 Erika Fischer-Lichte, Kurze Geschichte des deutschen Theaters, Tübingen/Basel 1993, S. 433f. 20 Jacques Rancière, Die Aufteilung des Sinnlichen. Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien, Berlin 2008. 21 Ders., Zehn Thesen zur Politik, in: ebd., S. 15–21, 33–38. 22 Ders., Ist Kunst widerständig?, in: ebd., S. 20–22.
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Einklinken in bzw. Verknüpfen von bestehenden Diskursen sowie das Artikulieren von Positionen und Perspektiven versteht, die im konventionellen Feld der Politik keinen Platz haben.23 Dazu gehört ganz wesentlich die Perspektive der ‚Anderen‘, die uns heute vielfach eher im Raum der Kunst begegnet als in konventionellen politisch-institutionellen Formen. Die künstlerische Form von ‚Artikulation‘ unterscheidet sich freilich grundlegend von den im politischen Feld üblichen Formen, insofern sie ästhetisch ist. Darin liegt vordergründig ein Widerspruch, da nach gängiger Auffassung dem Ästhetischen etwas Scheinhaftes, gar Unwahres eigen ist. Einem traditionellen Politikverständnis dient das Schöne bestenfalls der Verpackung von Informationen oder Desinformationen. Umgekehrt gilt im Kunstverständnis der klassischen Moderne das Schöne als das Unwahre, das Hässliche dagegen als authentisch und wahrhaft kunstwürdig. Vor diesem Hintergrund haftet dem Ästhetischen etwas potenziell Verdächtiges an. Kunst scheint nur dann im Politischen wirksam sein zu können, wenn sie explizit als ‚engagierte‘ Kunst in Erscheinung tritt. 24 Doch wie Rancière aufgezeigt hat, müssen die Modi ihrer Artikulation keineswegs repräsentativ, dokumentarisch oder interventionistisch sein, um politisch widerständig zu wirken.25 Ähnlich hinterfragt auch die Philosophin Juliane Rebentisch die gängigen Vorbehalte gegen das Ästhetische mit dem Argument, dass das Ästhetische die Erfahrung von Differenz ermögliche und dass Kunst gerade vermittels Ästhetisierung zur „Kunst der Freiheit“ werde.26 Diese grundsätzlichen Überlegungen lassen sich konkret auf die Thematik des BrandSchutz-Projektes beziehen. Wie Kommunikationswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler in zahlreichen Einzeluntersuchungen nachgewiesen haben, spielen die öffentlichen Medien eine fatale Rolle für die Verstärkung rechtsextremer Tendenzen, die umso wirkungsvoller ist, als Menschen aus ihnen ihr Wissen von der Welt beziehen. Dies geschieht vor allem durch drei Hauptmechanismen: 1. ist die mediale Berichterstattung über Migrantinnen und Migranten, andere Kulturen oder kulturelle Konflikte überwiegend stark simplifizierend, 2. werden wechselseitige Vorurteile auf beiden Seiten produziert (so sind z. B. die wechselseitigen Vorurteile von Muslimen gegenüber Nicht-Muslimen ganz ähnlich) und 3. werden Konflikte und Probleme unangemessen dramatisiert.27 Von diesen Funktionsweisen der Medienberichterstat23 Jens Kastner, Der Streit um den ästhetischen Blick. Kunst und Politik zwischen Pierre Bourdieu und Jacques Rancière, Wien/Berlin 2012, S. 120–128. 24 Vgl. Verena Krieger, Ambiguität und Engagement. Zur Problematik politischer Kunst in der Moderne, in: Cornelia Klinger (Hg.), Blindheit und Hellsichtigkeit. Künstlerkritik an Politik und Gesellschaft der Gegenwart, Berlin 2014, S. 159–188, hier S. 161f. 25 Maria Muhle, Einleitung, in: Rancière 2008 (wie Anm. 20), S. 7–19, hier S. 7. 26 Juliane Rebentisch, Die Kunst der Freiheit. Zur Dialektik demokratischer Existenz, Berlin 2012. 27 Vgl. etwa Siegfried Jäger, Die Anstifter der Brandstifter? Zum Anteil der Medien an der Eskalation rassistisch motivierter Gewalt in der Bundesrepublik Deutschland, in: Bernd Scheffer (Hg.), Medien und Fremdenfeindlichkeit. Alltägliche Paradoxien, Dilemmata, Absurditäten und Zynismen, Opladen 1997, S. 73–98; Markus Appel, Medienvermittelte Stereotype und Vorurteile, in: Bernad Batinic/Markus Appel (Hg.), Medienpsychologie, Berlin/Heidelberg 2008, S. 313–335; Wolfgang Frindte, Der Islam und der Westen – Sozialpsychologische Aspekte einer Inszenierung, Wiesbaden 2013 (hier auf S. 111 eine tabellarische Gegenüberstellung der wechselseitigen Zuschreibungen von Muslimen und Nicht-Muslimen, wonach sich beide
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tung unterscheidet sich Kunst prinzipiell und vermag, darauf in mehrfacher Hinsicht fruchtbar zu reagieren: 1. bietet sie subtilere Erfahrungsformen, die Sensibilität und Empathie zu steigern vermögen. 2. kann sie eine Gegen-Spektakularität produzieren, indem sie die aufmerksamkeitsheischenden Verfahren der Populärkultur transformierend aufgreift. 3. regt sie durch Ambiguität, Uneindeutigkeit und Ambivalenzen die Phantasie und Denktätigkeit an. Diese Überlegungen werden durch die Entwicklung der Kunst seit den 1990er-Jahren zusätzlich gestützt. Eine Vielzahl zeitgenössischer künstlerischer Positionen, die sich mit rassistischen Ressentiments und autoritären Mentalitäten, mit frauenfeindlichen Stereotypen und verächtlichen Haltungen gegenüber sozial Schwachen auseinandersetzen, kommen gerade nicht plakativ oder belehrend daher, vielmehr setzen sie anders als etwa die politisch engagierte Kunst in den 1970er-Jahren das Moment ästhetischer Erfahrung ein, um die Rezipientinnen und Rezipienten zu berühren und reflexive Prozesse auszulösen.28 Die besonderen Potenziale der Kunst – zu berühren, zu irritieren, zu provozieren – kommen immer dann zur Wirkung, wenn Menschen bereit sind, sich dafür zu öffnen. In diesem Sinne ist Kunst urdemokratisch, weil sie nur ohne Zwang und auf der Basis von Freiwilligkeit funktioniert. Die angestrebte Wirkung ist demnach nicht eine Folge der Rezeption, sondern vollzieht sich im ästhetischen Erleben selbst. Dieser Gedanke war grundlegend für unser Projekt.
kunstausstellungen mit wertbildendem anspruch – drei ansätze und ihre probleme Die Idee, man könne Menschen mittels Kunst positiv beeinflussen, hat ihre ideengeschichtliche Wurzel spätestens im ästhetischen und bildungstheoretischen Denken des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Friedrich Schillers (übrigens in Jena verfasste) Briefe über die ästhetische Erziehung bilden bekanntlich einen der Höhepunkte dieser Überlegungen. Die darin formulierte Idee, dass das ästhetische Erleben im Menschen kreative Potenziale freisetzen kann, durch die er erst im eigentlichen Sinne zum freien Individuum wird, ist in der Moderne stets latent weitergetragen und immer wieder wirkmächtig geworden. So gab es in der Geschichte der Bundesrepublik mehrere ‚Wellen‘ von Kunstausstellungen, die mit jeweils unterschiedlichen Ansätzen darauf abzielten, die Demokratiefähigkeit, das Reflexionsvermögen und die individuelle Autonomie der Besucherinnen und Besucher zu stärken. Die drei wichtigsten dieser Wellen sollen im Folgenden kurz skizziert werden, wobei auch auf ihre jeweils problematischen Seiten Seiten gegenseitig als ,fanatisch‘ und ,gewalttätig‘ beschreiben. Quelle: Pew Research Center, 2011). 28 Vgl. Melitta Kliege, Zwischen Bewusstseinsarbeit und ästhetischem Zitat. Engagierte Kunstformen der siebziger und neunziger Jahre im Vergleich, in: 70/90. Engagierte Kunst, Ausst.-Kat. Neues Museum Nürnberg, Nürnberg 2004, S. 8–23; Ursula Frohne/Cristian Katti, Einführung: Bruchlinien und Bündnisse zwischen Kunst und Politik; Ursula Frohne, Kunst ohne Werk. Künstlerische Praxis als kritisch-diskursives Projekt, bd. in: Kunst und Politik. Jahrbuch der Guernica-Gesellschaft 9/2007: Politische Kunst heute, hg. von Ursula Frohne und Jutta Held, S. 15–26; S. 103–126; Krieger 2014 (wie Anm. 24).
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hingewiesen wird, um daran anschließend das BrandSchutz-Projekt im Verhältnis dazu zu positionieren. Die erste große Welle bildete die Serie von Ausstellungen, die nach Gründung der Bundesrepublik Deutschland 1949 teils im Rahmen des amerikanischen Re-Education-Programms, wesentlich aber auch durch engagierte Einzelpersonen mit Unterstützung der westlichen Alliierten veranstaltet wurden und in der zweiten documenta 1959 ihren Gipfelpunkt hatten. Dabei wurde das Anliegen, die von den Nationalsozialisten als ‚entartet‘ verfolgte Kunst der klassischen Moderne wieder in das kulturelle Gedächtnis aufzunehmen und die daran anknüpfende zeitgenössische Kunst dem Publikum vertraut zu machen, mit einer klaren Wertsetzung zugunsten der abstrakten Kunst verbunden. Etliche Autoren, mit Werner Haftmann an der Spitze, vertraten und popularisierten die Auffassung, dass die – nun pauschal mit der modernen Kunst gleichgesetzte – Abstraktion aufgrund ihrer semantischen Offenheit wesenhaft mit ‚Freiheit‘ verbunden sei. Man schrieb ihr daher das Potenzial zu, als universelle „Sprachform“ und als „geistiges und seelisches Leitbild“ ein tolerantes, aufgeklärtes Publikum heranziehen zu können.29 Gegenständliche und vor allem realistische Kunst wurde dagegen aus der künstlerischen Moderne ausgegrenzt, pauschal mit NS-Kunst und Sozialistischem Realismus in Verbindung gebracht und als ,totalitär‘ diskreditiert. Durch diese Polarisierung, verbunden mit der (historisch ebenso wenig gerechtfertigten) Vereinnahmung der modernen Kunst für den Westen, wurde die Idee von der emanzipatorischen Wirkung ästhetischer Bildung unmittelbar mit der Logik des Kalten Krieges und der Blockkonfrontation verknüpft. Spätestens als in den 1980er-Jahren breiter bekannt wurde, dass die CIA diese Tendenz in der Nachkriegszeit finanziell und administrativ gefördert hat, zeigte sich der latent manipulative Charakter eines solchen Einsatzes von Kunst.30 Die Ausstellungspolitik der 1950er-Jahre erweist sich rückblickend aus mehreren Gründen als fragwürdig: Zum einen war die Zuschreibung von ‚Ideologiefreiheit‘ an die abstrakte Kunst ihrerseits ideologiegeleitet und bildete ein Moment politischer Instrumentalisierung.31 Zum anderen führte die pauschale Diskreditierung realistischer Kunst dazu, dass Künstlerinnen und Künstler, die im Nationalsozialismus als ‚entartet‘ gegolten hatten, in Westdeutschland unter dem Vorzeichen der Blockkonfrontation erneut Abwertung und Diskreditierung erfuhren (ein berühmtes Beispiel ist Karl Hofer).32 Und schließlich ließ die umstandslose Gleichsetzung künstlerischer Stile mit 29 Vgl. Werner Haftmann, Einleitung, in: II. documenta ‘59 – Kunst nach 1945, Ausst.-Kat. Kassel, Bd. 1: Malerei, Köln 1959, S. 11–19, Zitate S. 14. Aus der Fülle der Literatur zur Geschichte der Durchsetzung und politisch-ideologischen Funktionalisierung abstrakter Kunst in der Bundesrepublik nach 1945 vgl. die jüngste quellengestützte Darstellung von Steffen Dengler, Die Kunst der Freiheit? Die westdeutsche Malerei im Kalten Krieg und im wiedervereinigten Deutschland, München 2010, insbes. S. 27–29, 164–188. Vgl. auch Patrice Neau, Abstraktion: Weltsprache oder Ausdruck der „dekadenten westlichen Moderne“?, in: ILCEA 16/2012 http://ilcea.revues.org/1489 (Letzter Zugriff: 31. August 2015). 30 Vgl. Serge Guilbaut, Wie New York die Idee der modernen Kunst gestohlen hat. Abstrakter Expressionismus, Freiheit und Kalter Krieg [1983], Dresden 1997. 31 Dengler 2010 (wie Anm. 29), S. 241. 32 Der lebenslang figurativ malende Hofer war 1933 von den Nationalsozialisten seines Lehramts an der Berliner Kunsthochschule enthoben und seine Werke aus den deutschen Museen entfernt und als ,entartete Kunst‘ ausgestellt worden. Ende der 1940er-Jahre wurde er in der SBZ zum
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politischen Werthaltungen außer Acht, dass die Assoziation von Stil und politischer Haltung meist kontextabhängig und somit historisch wandelbar ist. Eine zweite Welle von Kunstausstellungen, die von gesellschaftspolitischen bzw. pädagogischen Intentionen getragen waren, fand in den 1980er-Jahren als Folgeerscheinung der 68er-Bewegung statt. Dabei wurden bei Kunstausstellungen, aber auch bei Ausstellungen historischer Museen bewusst Präsentationsformen eingesetzt, die den ästhetischen Verfahren der historischen Avantgarden, insbesondere der Dada-Bewegung und des Surrealismus entlehnt waren. Das bedeutete einen radikalen Bruch mit traditionellen Formen musealer Inszenierung. Eine beliebte Methode war beispielsweise die montageartige Kombination von Kunstwerken, aber auch nichtkünstlerischen Objekten.33 Dahinter stand die Idee, durch solche ironischen Brechungen bei den Besucherinnen und Besuchern produktive Irritationen zu erzeugen. Das geht zurück auf Walter Benjamin, der die Wirkung der avantgardistischen Kunstverfahren sowie des Films als einen Effekt des ‚Schock‘ reflektiert und diesem ein kritisch-emanzipatorisches Potenzial zugeschrieben hatte. Ebenso lässt sich ein Bezug zu Bertolt Brechts Theorie der Verfremdung erkennen. Die Übertragung dieser aus den bildenden Künsten und dem Theater stammenden Konzepte in die Ausstellungsgestaltung sollte vor allem distanzschaffend wirken und dadurch im Publikum eine reflexive Haltung erzeugen. Wie bei den Ausstellungen der Nachkriegszeit handelt es sich gleichsam um einen Rückgriff auf künstlerische Tendenzen vor dem Nationalsozialismus, die rekonstruiert und denen zu einer Breitenwirksamkeit verholfen werden sollte, die sie in dieser Weise ursprünglich nicht hatten. Auch hier ist die Idee, die Rezipientin und den Rezipienten mittels Kunst positiv zu verändern, letztlich an einen bestimmten Typ von Kunst gebunden, nun allerdings weniger an bestimmte Stile als vielmehr an spezifische ästhetische Verfahren. Ein wichtiger Unterschied ist auch, dass nun nicht den präsentierten Kunstwerken und Objekten selbst die wertbildende Vermittlungsrolle zugewiesen wurde, sondern der Art und Weise ihrer Präsentation. Die kuratorische Praxis erfuhr dadurch eine generelle Aufwertung und erhielt über die didaktische Funktion hinaus – also die Vermittlung von Wissen über Kunst – auch eine pädagogische Funktion, nämlich die Erziehung der Besucherinnen und Besucher zu emanzipierten demokratiefähigen Individuen. Da die angestrebte ‚positive Beeinflussung‘ der Rezipienten nicht auf eine Parteinahme für bestimmte Positionen abzielte, sondern darauf, ihr Vermögen zu kritischer Reflexion zu stärken, gibt es auch keinen untergründigen manipulativen Aspekt. Allerdings liegt dieser Ausstellungspolitik auch ein dichotomisches Konzept zugrunde, das bestimmten Präsentationsweisen pauschal und kausalitätsfixiert emanzipatorische,
Opfer polemischer Angriffe im Rahmen der sowjetischen Formalismuskampagne und Anfang der 1950er-Jahre geriet er in der Bundesrepublik innerhalb der Kontroverse um Abstraktion vs. Figuration unter massiven Beschuss, durch den er sich an die NS-Angriffe erinnert fühlte. Vgl. Jutta Held, Kunst und Kunstpolitik 1945–1949. Kulturaufbau in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg, Berlin 1981, S. 388–393; Sabine Schlenker, Karl Hofer in der Debatte um Figuration und Abstraktion zu Beginn der Fünfzigerjahre, in: Katharina Henkel (Hg.), Karl Hofer. Von Lebensspuk und stiller Schönheit, Emden 2012, S. S. 68–73. 33 Vgl. den Beitrag von Anna Schober in diesem Band.
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allen anderen dagegen pauschal autoritäre Effekte zuweist und damit, wie Anna Schober feststellte, dazu tendiert, Brechts und Benjamins Argumentationen „einzufrieren“.34 Eine dritte Welle von Ausstellungen mit wertbildendem Anspruch stellen die seit den 1990er-Jahren unter Bezeichnungen wie ‚Interventionskunst‘ oder New Genre Public Art auch in Deutschland verbreiteten Ansätze von Ausstellungen dar, die den musealen Ausstellungsraum verlassen und sich in den öffentlichen Raum verlagert haben. Dieser interventive Typus der Kunstausstellung zielt meist darauf ab, Rezipientengruppen zu erreichen, die gerade nicht zum klassischen Kunstpublikum gehören, vorzugsweise bildungsferne und marginalisierte soziale Gruppen, und diese zu Handlungen zu stimulieren, die nichts mit der klassischen Kunstbetrachtung zu tun haben, sondern vielmehr aktive Interaktion bedeuten. Um dies zu erreichen, werden auf unterschiedliche Weise partizipatorische Elemente eingesetzt, etwa indem den Rezipienten – meist zufällig vorbeikommende Passantinnen und Passanten – Materialien und Informationen zur Verfügung gestellt werden, mittels derer sie z. B. eigene stadtplanerische Konzepte entwickeln und untereinander in Kontakt treten können. Bei diesen Ausstellungen geht es also nicht um die Rezeption abgeschlossener Werke, sondern um das Anstoßen kreativer und kommunikativer Prozesse, in deren Verlauf sich idealtypisch neue Formen der Vergemeinschaftung und der kulturellen und politischen Teilhabe entwickeln, die Rezipienten zu eigenständigem interaktivem Handeln ermündigt werden. Damit ist die Grenze zwischen dem einzelnen Kunstwerk und der Ausstellung als Summe von Kunstwerken ebenso obsolet geworden wie die Grenze zwischen künstlerischem und kuratorischem Handeln.35 Vor allem aber stellt die Verlagerung von ästhetischen auf soziale Formen einen Bruch mit der bis dahin dominanten Vorstellung dar, dass der politisch-pädagogische Impuls durch die ästhetischen Formen und Verfahren selbst ausgelöst werde. Nachdem die Initiative zu solchen Projekten zunächst von Künstlerinnen und Künstlern ausgegangen ist (z. B. die Projekte der Gruppe WochenKlausur, Andreas Siekmanns Platz der permanenten Neugestaltung, Thomas Hirschhorns Straßenaltäre), wurden sie bald auch von Kuratorinnen und Kuratoren aufgegriffen (z. B. bei der Ausstellung Die Kunst, nicht dermaßen regiert zu werden im Württembergischen Kunstverein).36 Darüber hinaus sind sie inzwischen zum regulären Bestandteil kommunaler Kulturförderung geworden (z. B. in Hamburg, München und Köln). Damit ist die interventionistische Kunstpraxis im Mainstream angelangt. Neben der damit verbundenen tendenziellen Vereinnahmung und Instrumentalisierung durch das städtische Kulturmarketing – wovor
34 Ebd., S. 126. 35 Vgl. u. a. Hubertus Butin (Hg.), Andreas Siekmann. Platz der permanenten Neugestaltung = Square of permanent reorganization, Köln 1998; Ausst.-Kat. 70/90. Engagierte Kunst (wie Anm. 28); Claire Bishop et al. (Hg.), Thomas Hirschhorn: Establishing a critical corpus. Published on the occasion of “Crystal of Resistance”, the work by Thomas Hirschhorn at the Swiss Pavilion on the occasion of the 54th International Art Exhibition of the Venice Biennale 2011, Zürich 2011; Eva Fotiadi, Doing Language: Narratives from an Activists’ World in the Austrian Art World of the 1990s. The Art Activism of WochenKlausur, Martin Krenn, Oliver Ressler and maiz, in: RIHA Journal 62, 10. Dezember 2012. 36 Vgl. die Beiträge von Hans D. Christ und Fiona Geuß in diesem Band.
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Miwon Kwon schon in den 1990er-Jahren gewarnt hatte37 – ist vor allem ein zweiter Aspekt kritisch zu sehen: die Vernachlässigung des ästhetischen Moments, das durch die soziale Dimension vielfach völlig aufgesaugt wird. Indem die Interventionskunst sich vorzugsweise der Praktiken außerkünstlerischer Felder (z. B. des Journalismus, der Stadtplanung oder der Sozialarbeit) bedient, lässt sie die Potenziale des Ästhetischen weitgehend außer Acht.
brandschutz in jena – ausgestellte werke und begleitprogramm Das Jenaer BrandSchutz-Projekt nimmt von allen drei skizzierten Ansätzen von Ausstellungen mit wertbildendem Anspruch wesentliche Anregungen auf, setzt in seinem eigenen Ansatz jedoch einige spezielle Akzente. Mit ihrem Titel BrandSchutz // Mentalitäten der Intoleranz machte die Ausstellung deutlich, worum es thematisch ging. Wenngleich sich die Metapher ‚Brandschutz‘ keineswegs allen so problemlos erschloss, wie man meinen könnte, hatte der Titel einen deutlich programmatischen Charakter. Jedoch sollte keinesfalls eine propagandistische ‚Kunst-gegen-Rechts‘-Ausstellung veranstaltet werden, und ebenso wenig ging es um ein interventionistisches Kunstprojekt, bei dem die sozialen Prozesse das Kunstwerk darstellen. Vielmehr wollten wir die Kunst selbst mit ihren spezifischen Qualitäten zum Sprechen bringen. Wir wollten ein Experiment im Feld des Politischen durchführen, in dem wir die Potenziale des Ästhetischen erproben. Dabei galt es, sich von verschiedenen Varianten konservativer Kunstauffassungen abzugrenzen. Denn weder wollten wir die Erwartungen eines in seinem Kunstverständnis stark von der DDR-Kunst geprägten Publikums bedienen, das gesellschaftskritische Inhalte in einer modernistisch angehauchten realistischen Malerei und Plastik erwartet. Noch machten wir uns die bei vielen ursprünglich aus Westdeutschland stammenden Jenaern fortlebende Kunstauffassung zu eigen, der zufolge nach wie vor die reine Abstraktion als Symbol westlicher Freiheit als höchste Kunstform gilt. Stattdessen vertraten wir einen entschiedenen Pluralismus sowohl hinsichtlich der eingesetzten Medien als auch der Stile. Die mediale Breite reichte von Malerei und Objektkunst über Fotografie, Video und Film bis hin zu Installation, Performance und Klanginstallation. Die Vielfalt der künstlerischen Ansätze schloss dezidiert auch Kunst aus der DDR mit ein. Zwar sind die meisten Exponate in den letzten Jahren entstanden, doch zeigten wir auch zwei Werke aus der Zeit vor dem Mauerfall, die von dem Bundesdeutschen Jochen Gerz und von dem DDR-Künstler Christoph Wetzel stammen.38 Die Exponate wurden danach ausgewählt, dass sie sich thematisch mit den ‚Mentalitäten der Intoleranz‘ – insbesondere Ausländerfeindlichkeit und Rassismus, Sexismus
37 Miwon Kwon, Für Hamburg: Öffentliche Kunst und städtische Identitäten, in: Christian Philipp Müller (Hg.), Kunst auf Schritt und Tritt, Hamburg 1997, S. 94–109, insbes. S. 104–106. 38 Von Jochen Gerz wurde eine rekonstruierte Installation und ein Video zur Dokumentation seiner Performance Purple Cross for Absent Now (1979–1989) und von Christoph Wetzel das Gemälde Das Jüngste Gericht von 1987 ausgestellt.
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und Hass gegen sozial Schwächere39 – auseinandersetzen und dies auf möglichst unterschiedliche und anregende Weise, sei es emotional berührend, sei es irritierend-verfremdend, mehrdeutig oder ambivalent, sei es ironisch-verschmitzt. Auch partizipatorische Elemente kamen zum Einsatz. Bei der Inszenierung der Werke ging es uns vor allem darum, Raum zu schaffen für die Wahrnehmung von deren poetischen Qualitäten. Daher stand die Arbeit mit ironischen Brüchen und Montage nicht im Vordergrund, wohl aber versuchten wir, erhellende Konstellationen zu erzeugen. Ziel war es, mit der Ausstellung ein breiteres Publikum über den engeren Kreis des kunstinteressierten Bildungsbürgertums hinaus zu erreichen. Um dies zu bewirken, wurden die insgesamt 21 künstlerischen Arbeiten nicht nur in einem musealen Raum, sondern an zehn verschiedenen Orten im Zentrum der Stadt präsentiert, die leicht und kostenlos zugänglich sind und an denen man womöglich unbeabsichtigt den Werken begegnete. Bewusst wurden als Ausstellungsorte kunstferne Räume wie die Sparkasse einbezogen und mehrere Arbeiten auch im öffentlichen Raum präsentiert. Wir knüpften damit an eine Ausstellungspraxis an, die seit Skulptur. Projekte in Münster (1977) und documenta 8 (1987) den gesamten Stadtraum bespielt. Von vornherein war klar, dass die Ausstellung durch ein intensives Vermittlungsprogramm begleitet werden müsste. Dabei verfolgten wir einen doppelten Anspruch: Einerseits ging es um Kunstvermittlung im engeren Sinne, die umso nötiger war, als das Publikum, das wir erreichen wollten, ja über wenig Erfahrung mit solchen Kunstformen verfügt. Andererseits sollte in der Vermittlung, ausgehend von den künstlerischen Arbeiten, die Auseinandersetzung mit Themen wie Fremdheit und Anderssein, Flucht und Asyl etc. gesucht werden. Dementsprechend wurden verschiedene Formate von Führungen und Workshops für Kinder, Jugendliche und Erwachsene entwickelt. Zur Unterstützung der einzelnen Ausstellungsbesucherinnen und -besucher wurde ein Begleitbuch im Taschenbuchformat publiziert, das erläuternde Kommentare zu allen Exponaten enthält.40 Außerdem gab es einen Audioguide. Wer die zehn Ausstellungsorte in einem Parcours abschreiten wollte, konnte sich mit einem Faltblatt orientieren. Und schließlich gab es ein umfangreiches Begleitprogramm – Themenabende mit profilierten Gästen, eine Filmreihe und weitere Veranstaltungen – das zeitlich weit über die eigentliche Ausstellungsdauer hinausreichte. Insgesamt lief das Gesamtprojekt BrandSchutz rund zehn Monate lang von Mai 2013 bis Februar 2014. Abgeschlossen wurde das Gesamtprojekt durch die Tagung When Exhibitions become Politics. Geschichte und Strategien des politischen Ausstellens vom 15. bis 17. Mai 2014, die das Thema der politischen 39 Im Unterschied zu den von Decker, Kiess & Brähler untersuchten sechs ‚Dimensionen des rechtsextremen Einstellungsmusters‘ (vgl. Anm. 8) haben wir Sexismus und Rassismus in unsere Auflistung der ‚Mentalitäten der Intoleranz‘ mit aufgenommen und auch bei der Auswahl der Exponate ins Zentrum gestellt. Hingegen waren Antisemitismus, Diktaturbefürwortung und die Verharmlosung des Nationalsozialismus in der Ausstellung thematisch nicht vertreten – teils aus Mangel an geeigneten Exponaten, teils weil wir uns bewusst nicht um manifest rechtsextreme Einstellungen, sondern auf die in der bürgerlichen Mitte vertretenen Intoleranzen konzentrieren wollten. 40 Verena Krieger (Hg.), BrandSchutz. Mentalitäten der Intoleranz. Begleitbuch zur Kunstausstellung, Jena 2013. Es sind noch einige Restexemplare beim Lehrstuhl für Kunstgeschichte der Friedrich-Schiller-Universität Jena erhältlich.
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Kunstausstellung wissenschaftlich beleuchtete und auf deren Beiträgen der vorliegende Band basiert. Die große zeitliche Dauer des Gesamtprojekts war unserem Anliegen geschuldet, der BrandSchutz-Idee eine möglichst große Nachhaltigkeit zu verleihen. Aus demselben Grund haben wir uns auch um eine intensive Dokumentation bemüht.41 Wir wollen unsere Erfahrungen gerne allen, die in diesem Feld arbeiten und an unser Projekt anknüpfen möchten, zur Verfügung stellen. Zum Konzept der Ausstellung gehört nicht zuletzt auch, dass sie gemeinsam mit Studierenden erarbeitet wurde. In einem zweisemestrigen Projektseminar, das von mir geleitet und von Dr. Elisabeth Fritz und Stephan Rößler begleitet wurde, haben die Studentinnen und Studenten künstlerische Positionen recherchiert, die Auswahl der Exponate diskutiert und abgestimmt sowie Texte für das Begleitbuch und für die Ausstellungsbeschilderung verfasst. Nicht zuletzt haben sie auch beim von Elisabeth Fritz geleiteten Ausstellungsaufbau intensiv mitgeholfen. Eine weitere Seminargruppe unter Leitung der Museumspädagogin Maren Heun hat das Vermittlungsprogramm erarbeitet und durchgeführt sowie den Audioguide erstellt. Im Folgenden sollen einige Arbeiten vorgestellt werden, die im Rahmen der Ausstellung eine wichtige Rolle gespielt haben und besonders intensiv rezipiert wurden. Sie sind zugleich repräsentativ für die Art und Weise, wie wir die Werke präsentiert und in unsere Vermittlungsarbeit eingebaut haben. Den Auftakt bildete eine Klanginstallation der britischen Künstlerin Susan Philipsz, die 2010 mit dem bedeutenden Turner Prize ausgezeichnet und spätestens durch ihre Arbeit Study for Strings auf der dOCUMENTA (13) 2012 international bekannt geworden war. Die im Rahmen des jährlich vom Jenaer Lehrstuhl für Kunstgeschichte veranstalteten FrommannschenSkulpturenGarten präsentierte Arbeit The Two Sisters (2009/2013) basiert auf einer schottischen Ballade, die von Eifersucht und Mord handelt. Die Künstlerin hat sie in zwei Versionen eingesungen, ergänzt durch weitere Aufnahmespuren mit klagenden Geigentönen. Sich durch den Garten bewegend erlebte man diese Klänge in ständig wechselndem Zusammenspiel. Die Arbeit thematisierte zwischenmenschliche Gewalt und Konflikte auf einer grundsätzlichen Ebene, zugleich wurde mit dem Medium der Klanginstallation dem Jenaer Publikum eine erweiterte Form von Skulptur nahegebracht. Das Jenaer Romantikerhaus – ein Museum, das die Ideen und experimentellen Lebensformen der Jenaer Frühromantiker in einem historischen Wohnhaus anschaulich werden lässt – eröffnete uns die Möglichkeit, Werke in diesem besonderen Kontext zu präsentieren. So hängten wir in den bürgerlichen Wohnsalon an eben jene Wände, an denen sich üblicherweise Porträts befinden, drei Gemälde von Slawomir Elsner, die Obdachlose zeigen. (Abb. 2) Elsners Werke der Serie Old Street (2005–2009) sind malerisch hochästhetisch, zugleich konfrontieren sie die Beschauer mit ihrem eigenen Blick auf Obdachlose, indem sie diese gerade nicht als Individuen präsentieren, sondern 41 Detaillierte Informationen, dokumentierende Fotos und Videos sowie alle Begleitmaterialien und der Audioguide zum Download sind unter www.brandschutz.uni-jena.de verfügbar. Zudem ist ein umfassender Essayband zur Ausstellung in Vorbereitung: Verena Krieger (Hg.), Aktuelle künstlerische Strategien zu Mentalitäten der Intoleranz. Das Kunstprojekt „BrandSchutz“ in Jena. Essays und Katalog, Erscheinen geplant für 2017.
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abb. 2 slawomir elsner, serie old street, 2005–2009: #2, öl auf leinwand, 2005, 70 x 53 cm (mitte); #5, öl auf leinwand, 2007, 120 x 80 cm (rechts); #13, öl auf leinwand, 2008, 85 x 75 cm (links). ansicht: romantikerhaus jena, 2013
als mediale Chiffren einer bornierten öffentlichen Nicht-Wahrnehmung. Durch die Einfügung dieser Anti-Porträts in einen Raum, der genuin mit der Idee von Individualität und Subjektivität verbunden ist, entstand eine erhellende Konstellation von intensiver ästhetischer wie emotionaler Wirkung. Erfreulicherweise hat das Romantikerhaus, welches regelmäßig von einer großen Zahl von Touristen und Schulklassen besucht wird, diese Intervention in seine laufende Vermittlungsarbeit mit einbezogen. Vielfach reagierten die Betrachterinnen und Betrachter sehr emotional auf die Werke, so z. B. eine Gruppe von Polizisten und Staatsanwälten. Auf ganz andere Weise bringt Martina Geiger-Gerlachs Videoarbeit Gastspiel (2009) die Rezipienten in Konfrontation mit sozial deklassierten Menschen. (Abb. 3) Das Video zeigt acht wohnsitzlose Frauen aus einem Stuttgarter Obdachlosenheim, die auf Stuhlreihen sitzend in die Kamera und somit auf die Ausstellungsbesucher blicken. Die Künstlerin hatte ihnen ein Honorar dafür gezahlt, dass sie eine Stunde lang als Darstellerinnen ihrer selbst fungieren. Das Video wurde im Ausstellungraum so projiziert, dass die Frauen den Betrachterinnen bzw. Betrachtern in Lebensgröße und auf Augenhöhe gegenüber saßen. Wer sich auf die Situation einließ, hatte nicht nur Gelegenheit, die
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abb. 3 martina geiger-gerlach, gastspiel, video, 60 min., loop, ton, 2009. ansicht: jenaer stadtspeicher, 2013
Frauen, an denen das Leben seine Spuren hinterlassen hatte, ausführlich zu mustern, sondern musste sich zugleich deren direkten Blicken aussetzen – eine intensive Erfahrung, die oft heftige Reaktionen und mitunter sehr persönliche Äußerungen auslöste. Aus dem Theaterkontext stammt die große, in einem ehemaligen Umspannwerk präsentierte Installation Beheld (2006) des britischen Künstlers Graeme Miller. (Abb. 4) Sie setzt sich mit dem Umstand auseinander, dass im Umkreis westlicher Flughäfen immer wieder die Leichen von Menschen gefunden werden, die versucht haben, im Radkasten eines Flugzeugs aus ihrem Herkunftsland zu fliehen, und beim Landeanflug hinabgestürzt sind. In einem dunklen Raum sind auf zwölf Stelen Glasschalen aufgebracht, in denen jeweils mittels Diaprojektion ein Blick in den Himmel zu sehen ist. Es handelt sich um mit einem Fischlinsenobjektiv erstellte Fotografien des Himmels über eben solchen Absturzstellen. Begleitet werden die Bilder durch Tonbandaufnahmen der alltäglichen Geräusche an den jeweiligen Fundorten: Vogelgezwitscher, Verkehrslärm etc. Die Präsentation bringt die Rezipientinnen und Rezipienten in eine paradoxe Situation: Mit dem Blick in den Himmel über der Absturzstelle nehmen sie die Perspektive des tot geborgenen Flüchtlings ein. Dabei schauen sie aber nach unten anstatt nach oben, also gewissermaßen in sein Grab. Trotz des tragischen Anlasses für die Fotos erscheint der Himmel in ihnen als Bild der Hoffnung. Bemerkenswert an der Arbeit ist der konsequente Verzicht auf schreckliche Bilder. Durch die friedlichen Bilder und Geräusche, verbunden mit der sakralisierenden Inszenierung, wird die Vergegenwärtigung der grauenhaften Ereignisse in die Vorstellungskraft der Betrachterinnen und
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abb. 4 graeme miller, beheld, installation mit glas/mixed media, analogprojektion, ton, 2006. ansicht: imaginata jena, 2013
Betrachter verlagert. Der Umstand, dass die Rezipienten die Perspektive der gestorbenen Flüchtlinge einnehmen, lässt sich als eine subtile Form von ‚Artikulation‘ auffassen. Lebhafte Debatten und Reaktionen bewirkte die Arbeit VOTE/EMOTE (1990) von Adrian Piper. Vier Holzkabinen in Gestalt von Wahlkabinen waren für die Rezipientinnen und Rezipienten zugänglich, die sich darin mit großformatigen, von Leuchtkästen erhellten Fotografien von Afroamerikanern konfrontiert sahen. Anstelle von Wahlzetteln lagen in den Kabinen Papierbögen aus, auf denen sie im Schutz der Anonymität verschiedene Fragen nach ihren Empfindungen und Vermutungen in Bezug auf die Abgebildeten beantworten sollten. Es ging bei diesen Fragen darum, vorhandene Ängste und Vorurteile zu thematisieren und einen ‚zivilen‘ Raum zu schaffen, in dem ihnen Ausdruck verliehen werden kann. Tatsächlich waren die so zustande gekommenen Kommentare mehrheitlich von Ressentiments geprägt. Bewusst waren Pipers Wahlkabinen im Alten Rathaus aufgestellt, einem Ort, der auch tatsächlich der öffentlichen Meinungsbildung und demokratischen Entscheidungsfindung dient. Dagegen bedurften die Fotoarbeiten aus der Serie La Grande Galerie (2004) von Danića Dakić eines klassischen Galerieraums zu ihrer angemessenen Präsentation. In beiden gezeigten Fotografien treten Roma aus einem Flüchtlingslager im Kosovo in Tableaux vivants als Darsteller ihrer selbst auf, wobei sie von der Künstlerin mit verschiedenen Werken der europäischen Kunstgeschichte in Beziehung gebracht werden. Charakteristisch für die Bilder ist das Spannungsverhältnis, das zwischen den posierenden Akteuren und den visuellen Stereotypen in den zitierten barocken Gemälden auftritt.
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abb. 5 markus döhne, green screens. refugee series., installation, stahl, polyester und fotoemulsion, 1999–2008. ansicht: jenaer stadtkirche sankt michael, 2013
So entstehen etwa in der Nachstellung von Georges de la Tours Gemälde Falschspieler (um 1620), das klassische visuelle Stereotypen von ‚Zigeunern‘ enthält, durch minimale Abweichungen und individuelle Eigenheiten der Darstellerinnen und Darsteller feine Brüche und ironische Momente, ohne jedoch in einen offenen Gegensatz zum visuellen Vorbild zu treten oder dieses direkt zu desavouieren. Statt direkter Kritik erzeugt die Fotografie ‚dissensuelle‘ Wahrnehmungsmöglichkeiten. Das weitaus größte Publikum erreichte die Installation Green Screens, Refugee Series. (1999–2008) von Markus Döhne (Abb. 5), die in der Jenaer Stadtkirche Sankt Michael präsentiert war – einer gotischen Hallenkirche, die von zahlreichen Touristen besucht wird und in der im Ausstellungszeitraum auch der Landeskirchentag stattfand. Es handelt sich um eine Serie großformatiger Bilder, die auf Foto- und Videoaufnahmen von Flüchtlingen basieren, welche an verschiedenen Grenzen mit Infrarot- und anderen Kameras aufgenommen wurden. Diese Überwachungsbilder repräsentieren die Sicht von Grenzkontrolleuren. Sie lassen die Flüchtlinge nicht als Individuen in schwieriger Lage erscheinen, sondern als illegale Existenzen. Markus Döhne verarbeitete das dokumentarische Material, indem er Ausschnitte wählte, Videos
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abfotografierte, Fotos aufrasterte und alle Bilder neutralisierend gelb-grün fasste. Er belichtete Gazesiebe damit und hängte diese unter das Gewölbe der Stadtkirche, wo sich – da sie transluzent sind – in der Wahrnehmung Bildinhalte und architektonischer Hintergrund vermischten. Anmutig schwebend entfalteten die Bilder eine ambivalente Schönheit, da sich ihre ästhetische Wirkung mit dem problematischen Bildmaterial, auf dem sie basieren, bricht. So widersprüchlich wie das Kunstwerk selbst waren auch die Reaktionen der Kirchengemeinde: Während die einen das Werk schätzten, lehnten andere es prinzipiell ab, solch spannungsreiche Kunst im kirchlichen Raum überhaupt zu zeigen. Gleichwohl wurde in mehreren Gottesdiensten ausdrücklich auf die Installation Bezug genommen und in der Kirche eine Afrikanische Messe als Requiem für Flüchtlinge veranstaltet. Auch Leichtigkeit und Ironie gab es in der BrandSchutz-Ausstellung: Der preisgekrönte Kurzfilm Schwarz Weiß Deutsch (2011) von Nico Sommer verhandelt die Frage, wer und was unter welchen Bedingungen deutsch ist, in Form eines Mockumentary, einer als Dokumentation inszenierten Videoarbeit. Ein sympathisches Liebespaar mit weißer und schwarzer Hautfarbe unterhält sich über die speziellen Eigenschaften von Deutschen, Afrikanern und Türken sowie über die Fragen, welche Kinder als deutsch gelten können und was eigentlich deutsche Kultur ist. Dabei gerät es allmählich immer tiefer in den Strudel stereotyper Vorstellungen. Die Grenzen und Übergänge zwischen gegenseitiger Akzeptanz, auf der eine Liebesbeziehung nur basieren kann, und einem unhinterfragten Schwarz-Weiß-Denken werden auf humorvolle Weise erfahrbar gemacht. Darum, dass die Grenzen zwischen Toleranz und Intoleranz keineswegs immer so eindeutig sind, wie es vordergründig scheint, ging es auch im Raum für grenzwertige Mitteilungen (Abb. 6), den das Künstlerinnenduo Akademie einer anderen Stadt, bestehend aus Andrea Knobloch und Ute Vorkoeper, für BrandSchutz entwickelt und realisiert hat. Hierbei handelte es sich um eine performative Arbeit, die im öffentlichen Raum insgesamt sieben Mal in verschiedenen Varianten durchgeführt worden ist. Die Künstlerinnen entwickelten aus Textfragmenten, die ihnen von Jenaer Bürgerinnen und Bürgern zur Verfügung gestellt wurden, poetische Texte, die sich mit Problemen des Umgangs mit ‚Anderssein‘ auseinandersetzten. Diese wurden von mehreren Performerinnen und Performern an der Glasfassade des Jenaer ‚Stadtspeichers‘ – eines historischen Fachwerkhauses am Jenaer Marktplatz, das von dem Architekten Ruairí O’Brien 2008 eine spektakuläre Glasfassade erhielt – mit großen Buchstaben zur Ansicht gebracht. Das Besondere dabei war, dass der Text durch einen ständigen Wechsel der Buchstaben und folglich Umbau der Wörter erzeugt wurde. Damit verbunden war eine Inversion des Verhältnisses von Akteuren und Publikum: Die Textperformance wurde an der von innen beleuchteten Fassade durchgeführt und von außen betrachtet. Das Projekt von Andrea Knobloch und Ute Vorkoeper war der Sieger eines Wettbewerbs, an dem sich über hundert deutsche und internationale Künstlerinnen und Künstler beteiligt hatten. Der Wettbewerb wurde von Christina Reusch durchgeführt und die Realisierung des Projektes von Constantin Becker kuratorisch betreut. Zuletzt möchte ich noch einmal auf die eingangs erwähnte Arbeit Look Twice (2012) zurückkommen. (Abb. 1) Das Banner mit dem Schriftzug „Auf den ersten Blick scheint vieles unverständlich“ war während der Laufzeit der BrandSchutz-Ausstellung
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abb. 6 akademie einer anderen stadt. andrea knobloch & ute vorkoeper, raum für grenzwertige mitteilungen, lichtinstallation und textperformance an der glasfassade des jenaer stadtspeichers, 3. oktober–17. november 2013. ansicht: performance am 14. november 2013
auf dem Unicampus aufgehängt. Heute befindet es sich als Dauerleihgabe in einer ländlichen Bildungseinrichtung in Sachsen-Anhalt, die u. a. Kurse für jugendliche Arbeitslose anbietet. Das Banner hat dort eine starke Wirkung, weil es viel intensiver als im städtischen Raum wahrgenommen wird. So wird es häufig fotografiert und regt immer wieder Diskussionen an. Eine Araberin ist bei dem Versuch, es zu entziffern, schier verzweifelt, und eine andere Besucherin hat das Motiv vor Begeisterung gleich auf ihre Tasche aufgestickt.42 Zusammenfassend ist festzuhalten, dass eine Gemeinsamkeit vieler der gezeigten Arbeiten darin besteht, dass sie sich besonders mit Perspektiven und Blickbeziehungen auseinandersetzen. Das Hinterfragen von Wahrnehmungen, die Konfrontation mit dem eigenen Blick auf ‚Andere‘, der Positionswechsel und die dadurch ermöglichten neuen Blickbeziehungen, schließlich auch die Suche nach neuen Repräsentationsformen für 42 Bericht von Jürgen Ulrich Hoffmann, freier Mitarbeiter an der Erwachsenenbildungsstätte Akademie Haus Sonneck, Großjena, Sachsen-Anhalt.
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diejenigen, von denen es bislang keine oder nur negative Bilder gibt, waren die zentralen künstlerischen Strategien in der BrandSchutz-Ausstellung.
erfahrungen und strukturelle probleme Jena ist nicht gerade ein Ort der zeitgenössischen Kunst; erst in jüngerer Zeit beginnt sich dies allmählich zu verändern. Bislang gibt es nur ein eher kleines Publikum, was teils mit der DDR-Geschichte zusammenhängt, also einer geringen Erfahrung mit der westlichen Kunstentwicklung nach 1945. Dementsprechend gab es auch bei denen, die dem Vorhaben von seiner Intention her prinzipiell positiv gegenüberstehen, gewisse Vorbehalte. Viele sind wenig vertraut mit zeitgenössischen Kunstformen und setzen nach wie vor die Figuration bzw. traditionelle Bildmedien zum Maßstab. Zudem möchte man die Auseinandersetzung mit rechtsextremen Tendenzen lieber im konventionellen Rahmen politischer Bildungsarbeit und politischer Gegenwehr belassen. Es gibt aber auch ein gegenläufiges Phänomen: Seit Beginn der 1990er-Jahre wird in Jena, angestoßen durch den damaligen Jenoptik-Vorstandsvorsitzenden Lothar Späth, daran gearbeitet, zeitgenössische Kunst westlicher Provenienz in Jena zu etablieren. Immer wieder fließen hierfür Sponsorengelder, die z. B. den Erwerb großer Plastiken von Frank Stella, aber auch einzelne größere Ausstellungen ermöglicht haben. In der Folge haben sich in den letzten Jahren Teile des Jenaer Bürgertums der Gegenwartskunst vorsichtig geöffnet. Dabei scheint allerdings teils noch die aus der Zeit der Blockkonfrontation stammende Kunstauffassung fortzuleben, der die Abstraktion als Symbol westlicher Freiheit und höchste Kunstform gilt. Vor diesem Hintergrund, verstärkt durch die DDR-Erfahrung, erscheinen konzeptuelle Kunstformen, die gesellschaftliche Wirklichkeiten befragen, ebenso wie figurative Malerei als tendenziell fragwürdig. Zudem fügen sie sich weniger in die zunehmend dominierende Vorstellung von zeitgenössischer Kunst als Wirtschaftsfaktor und Medium der Imageförderung ein. Das BrandSchutz-Projekt verstieß also gegen Konservatismen unterschiedlicher Couleur, die sich gewissermaßen komplementär zueinander verhalten. Vor diesem Hintergrund sind die Erfahrungen mit dem Publikum von besonderem Interesse. Zwar wurden keine systematischen Zählungen durchgeführt, aber man kann festhalten, dass es uns gelungen ist, auch solche Bürgerinnen und Bürger mit der Ausstellung anzusprechen, die ein eher distanziertes Verhältnis zur Gegenwartskunst hatten. Es gab überraschend viele positiv verlaufene Begegnungen mit den ausgestellten Werken. Nicht selten gaben Besucherinnen oder Besucher, die sich zunächst skeptisch bis ablehnend zur zeitgenössischen Kunst äußerten, hinterher äußerst positive Reaktionen. Eine Frau, die zuerst die Meinung geäußert hatte, Gegenwartskunst sei prinzipiell „dekadent und unverständlich“, fand später, dass das für die ausgestellten Werke nicht gelte: „Darüber kann man ja richtig gute Diskussionen führen.“ Erfahrungen wie diese basierten wesentlich auf dem umfangreichen Vermittlungsangebot. Neben den erwähnten Workshops für Schulklassen und Sonntagsführungen für Interessierte gab es auch Führungen und Vorträge für spezielle Gruppen wie z. B. für Vertreterinnen und Vertreter der Thüringer Staatsanwaltschaft und Polizei, für die Pfarrerinnen und Pfarrer aus Jena und Umgebung sowie für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der
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Touristeninformation und der Stadtverwaltung, die auch wahrgenommen wurden. Es war auch keineswegs so, dass bei den Teilnehmenden nur die ohnehin schon Überzeugten unter sich waren, vielmehr lösten z. B. die Arbeiten von Adrian Piper und Martina Geiger-Gerlach recht kontroverse Reaktionen aus. Grundsätzlich trug offenkundig das Thema wesentlich dazu bei, dass Menschen in die Ausstellung kamen, die sich sonst für Gegenwartskunst überhaupt nicht interessieren. Allerdings geschah dies nur auf intensive Ansprache hin. Der geringere Teil der Besucherinnen und Besucher kam von selbst, die Mehrzahl folgte direkten Einladungen. Daraus lässt sich schließen, dass der Besuch quantitativ noch erheblich umfangreicher hätte ausfallen können, wenn wir über größere personelle und finanzielle Kapazitäten für eine intensive und langfristige Öffentlichkeits- und Vermittlungsarbeit verfügt hätten. Immerhin haben das Thüringer Institut für Lehrerfortbildung Thillm und die Arbeiterwohlfahrt, unterstützt durch das Thüringer Landesprogramm DenkBunt, Teile unseres Kunstvermittlungsprogramms aufgenommen und werden es im Rahmen ihrer Bildungsarbeit fortführen. Das ist schon ein großer Erfolg im Hinblick auf die angestrebte Nachhaltigkeit des Projekts. Abschließend möchte ich einige der im Verlauf des Projektes aufgetretenen Probleme und Widersprüche thematisieren, die meiner Auffassung nach struktureller Natur, also im Charakter des Projektes selbst angelegt sind. Sich mit ihnen zu befassen, scheint mir daher auf einer grundsätzlicheren Ebene erhellend zu sein. Es handelt sich im Wesentlichen um drei Punkte: Der erste Punkt ist die prekäre Stellung zwischen Kunst und Politik. Diese wurde bereits bei der Finanzierung zum Problem. Da Förderanträge sich in vorgängige Kategorien einfügen müssen, verhielt es sich bei BrandSchutz so, dass die Zuständigen der klassischen Kunst- und Kulturförderung uns an die Bildungsförderung verwiesen, während uns die Verantwortlichen für die Förderung der Rechtsextremismusprävention wiederum zur Kulturförderung schicken wollten. Um überhaupt an entsprechende Fördermittel zu gelangen, bedurfte es also intensivster Argumentationsarbeit, die gängige Schubladen zu überwinden vermochte. Ähnlich stellte sich die Problematik bei der Vermittlungsarbeit für die Schulen: Nur den Kunstlehrern war es erlaubt, mit ihren Klassen die Ausstellung zu besuchen, für Fächer wie Geschichte, Sozialkunde oder Ethik dagegen scheint Kunst einfach nicht seriös genug zu sein, obwohl die Ausstellung hervorragende Anknüpfungspunkte für Diskussionen bot. Bei der Pressearbeit schließlich hatten wir stets mit der strukturellen Schwierigkeit zu kämpfen, dass das BrandSchutz-Projekt für die politischen Seiten in den Tageszeitungen zu künstlerisch und für die Feuilletons zu politisch schien. Mitunter schlug sich diese Problematik sogar inhaltlich auf die Berichterstattung aus: Da viele Autorinnen und Autoren vor allem die politische Thematik der Ausstellung sahen, geriet ihnen die ästhetische Dimension leicht aus dem Blick. Gelegentlich wurden die Werke daher in einer Weise besprochen, die sie primär als Träger von Botschaften interpretierte, was falsche Vereindeutigungen zur Folge hatte, während wir gerade die künstlerische Qualität der Arbeiten ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken wollten. Der zweite Punkt sind die unterschiedlichen Publika, an die sich die Ausstellung richtete, denn wir haben ja bewusst über das klassische Bildungsbürgertum hinaus breitere Bevölkerungskreise anzusprechen versucht. Charakteristisch für dieses Problem
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sind die recht gegensätzlichen Reaktionen bezüglich des Titels BrandSchutz: Die einen fanden ihn zu offensichtlich, zu ‚didaktisch‘, zu wenig poetisch – andere wiederum verstanden seine Metaphorik überhaupt erst nach längerer Erläuterung und empfanden ihn als zu schwierig und regelrecht ‚akademisch‘. Tatsächlich ist es vorgekommen, dass sich Leute in die Ausstellung verirrten, die eine Feuerwehrschau erwartet hatten! Zwischen den verschiedenen Publikumsgruppen, die wir gleichzeitig erreichen wollten und auch durchaus erreicht haben, tat sich also ein gewisser Graben auf. Diese Problematik war uns im Vorfeld nicht hinreichend bewusst und durch gezielteres Austarieren hätten wir mit dieser Kluft möglicherweise eleganter und produktiver umzugehen vermocht. Der dritte Punkt ist schließlich die Ambivalenz der Zustimmung. Zwar erfuhren wir wirklich viel Unterstützung von unterschiedlichsten Seiten. Zahlreiche Personen des öffentlichen Lebens haben sich in Zeitungsinterviews über Exponate geäußert und damit Werbung für die Ausstellung gemacht. Viele Funktionsträgerinnen und Funktionsträger sowie Multiplikatorinnen und Multiplikatoren haben uns praktisch, organisatorisch, ideell und finanziell gefördert oder sogar spontan eigene Projektideen entwickelt und mit BrandSchutz verbunden. Sehr erfreulich ist auch, dass wir finanzielle Unterstützung von sehr unterschiedlichen Seiten erhielten.43 Allerdings hatten einige der Förderer und Sponsoren offenbar ein ambivalentes Verhältnis zu dem Projekt. So gaben manche sogar relativ viel Geld, legten aber keinen großen Wert darauf, in der Öffentlichkeit damit identifiziert zu werden. Bei anderen hatte man den Eindruck, dass innerhalb der Organisation die Unterstützung keineswegs einhellig war. Wieder andere artikulierten zwar öffentlich ihre Zustimmung, blieben aber in der tatsächlichen Unterstützung eher verhalten. Zwar griff vordergründig der Effekt der political correctness, insofern sich fast niemand offen gegen das Projekt aussprechen mochte, aber zähe untergründige Vorbehalte waren schon spürbar. Der großen – auch parteiübergreifenden – Breite der Unterstützung korrespondierte ein gewisses unartikuliertes Unbehagen, wobei sich dieses vermutlich teils auf die gegenwärtigen Kunstformen, teils auf die politische Intention der Ausstellung und teils auf die spezifische Verbindung beider bezog. Diese Ambivalenzen spürbar gemacht und in Bewegung versetzt zu haben, ist meines Erachtens ein positiver – und keineswegs der unwichtigste – Effekt des Projektes. In der Rückschau zeigen die Probleme und Widersprüche, mit denen BrandSchutz zu kämpfen hatte, dass wir das gesamte Projekt zielsicher zwischen alle Stühle gängiger Kategorien und etablierter Schemata platziert haben, und damit bestätigen sie letztlich auch seinen innovativen Charakter. Die Qualitäten von BrandSchutz erwiesen sich folglich auch als seine schwache Seite, und umgekehrt machten seine Schwächen zu einem Gutteil auch seine Stärken aus. Die größte Bestätigung für unser Projekt wäre, wenn eine Vielzahl ähnlicher Initiativen seine Idee aufgreifen würde und es ihnen gelänge, im Umgang mit diesen strukturellen Konflikten kreative neue Wege zu gehen.
43 Neben der Stadt Jena und dem Land Thüringen wurde BrandSchutz auch von der Ernst-AbbeStiftung, der Sparkassen-Kulturstiftung Hessen-Thüringen, der Sparkasse Jena-Saale-Holzland, den Stadtwerken Jena-Pößneck, der Landeszentrale für politische Bildung, der Firma Alere Technologies GmbH sowie den beiden Jenaer Rotary Clubs finanziell unterstützt.
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diskussion christian saehrendt44: Aus dem Titel BrandSchutz ergeben sich viele Assoziationen: Ist es als ein Schutz gegen den rechtsextremen Flächenbrand zu interpretieren? Ist es eine defensive Maßnahme? Wer schützt gegen wen und wer soll angesprochen werden? Waren die Zielgruppe dann letztlich all diejenigen, die diese Kunst im öffentlichen Raum sehen? Ist das kunstferne Publikum auch dasjenige, bei dem autoritäre Tendenzen stärker vertreten sind, und inwiefern ist dieses auch tatsächlich erreicht worden? Waren Sie mit der Resonanz zufrieden, oder blieb es doch eher eine kunstbetriebsimmanente Veranstaltung? Und wurde Kunst hier letztlich als eine Art politische Waffe oder ein Instrument des Bürgertums gegen totalitäre Tendenzen in der Gesellschaft eingesetzt?
verena krieger: Es ging darum, auf vielen Ebenen – und insbesondere auch auf der Ebene der Kunst – das Bürgertum anzusprechen und in Auseinandersetzung mit diesen Problematiken sowie mit seiner eigenen Verantwortung zu bringen. Somit war es auch keine kunstbetriebsimmanente Veranstaltung für den kleinen Kreis des kunstinteressierten Publikums, das regelmäßig auf Vernissagen anzutreffen ist. Wir erreichten auch einen breiteren Kreis von Bürgern, die wenig Erfahrung mit zeitgenössischer Kunst hatten. Insofern bin ich der Meinung, dass unsere Ausgangsüberlegung, neue und breitere Publikumskreise anzusprechen, durchaus erfolgreich war. Ich habe in meinem Vortrag den Bogen zur politik- und sozialwissenschaftlichen Forschung geschlagen, um deutlich zu machen, dass die Problematik des Rechtsextremismus – anders als die Extremismustheorie nahelegt und anders als bereits der Begriff ‚Extremismus‘ aussagt – ein Phänomen ist, das nicht nur am Rande der Gesellschaft existiert. Die Annahme, wonach es bedrohliche Extreme ganz rechts oder links gibt, während sich dazwischen eine solide demokratische Mitte befindet45, ist spätestens seit den Studien von Wilhelm Heitmeyer überholt. Aus diesen geht hervor, dass Ressentiments gegen Minderheiten und ‚Andere‘ keineswegs nur bei den Wählern von extrem rechten Parteien vorkommen, sondern auch bei solchen, die die gängigen demokratischen Parteien wählen.46 Und deswegen war es ein entscheidender Ausgangspunkt des ganzen Projekts, sich von der Haltung zu verabschieden, wonach das bürgerliche Publikum über solche Tendenzen vollkommen erhoben ist. Vielmehr wollten wir eben diese sogenannte demokratische Mitte erreichen, was uns auch durchaus gelungen ist. Im Nachhinein bedauere ich, dass wir nicht sehr viel mehr Mittel zur Verfügung hatten, um in einem ganz anderen Maße Vermittlungsarbeit und Öffentlichkeitsarbeit zu leisten, als es uns bei diesem Projekt möglich war, denn wir hätten noch sehr viel mehr Leute ansprechen können. Auch das war eine wichtige Lehre der Ausstellung: Das Publikum ist gekommen, wenn man es an die Hand genommen hat. Wir haben ganz gezielt und sehr gruppenspezifische Einladungen zum Besuch der Ausstellung ausgesprochen, was dann auch auf großes Interesse und Faszination gestoßen ist. Und das ist 44 Christian Saehrendt ist Kunsthistoriker und Publizist. An der Tagung When Exhibitions become Politics. Geschichte und Strategien des politischen Ausstellens war er mit dem Vortrag „‚Nation branding‘ und ‚Nation Building‘ mithilfe der zeitgenössischen Kunst. Die ‚dOCUMENTA (13)‘ im Kontext politischer ‚Soft Power‘-Konzeptionen“ beteiligt. 45 Vgl. etwa Uwe Backes/Eckhard Jesse, Politischer Extremismus in der Bundesrepublik Deutschland, Bonn 61996. 46 Vgl. Heitmeyer 2002–2011 (wie Anm. 3).
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ein Unterschied zum normalen Kunstausstellungbetrieb, bei dem man ein Stammpublikum hat, das von alleine kommt.
hans dickel: Ich möchte das Stichwort ‚zweiter Blick‘ aus dem Vortragstitel in einer ganz anderen Hinsicht aufgreifen. Es war davon die Rede, dass die Kunst das ‚Andere der Politik‘ sei und dass die ästhetische Erfahrung der Werke, die zur Reflexion anregt, vielleicht einen Mentalitätswandel oder Toleranzwandel bewirken kann. Nun ist die Flüchtlings- und Obdachlosenproblematik, die wir in den gezeigten Kunstwerken reflektieren können, auch in medialen Bildern wie Fotografie, Fernsehen und Massenmedien präsent. Lag es an den Werken selbst oder am Dispositiv der Ausstellung, also dass man verschiedene Orte aufsuchen musste und dafür eine gewisse Zeit brauchte, dass diese spezifische Form der Reflexion ermöglicht wurde? Welche Rolle hatte das Ausstellungsformat für den angestrebten Mentalitätswandel?
verena krieger: Das ist nicht pauschal zu beantworten, weil die Werke und die Formen ihrer Präsentation sehr unterschiedlich waren. Einige Arbeiten sind sehr unmittelbar wirksam wie z. B. das erwähnte Banner Look Twice, das sich im öffentlichen Raum befand und keiner erklärenden Vermittlung bedurfte. Der Videoinstallation Gastspiel von Martina Geiger-Gerlach musste man sich dagegen bewusst aussetzen, jedoch setzte die Werkerfahrung keine zusätzliche Vermittlungsarbeit voraus. Wenn sich hier eine Besuchergruppe hingesetzt und das Video angeschaut hat, löste allein dieses Moment der visuellen Gegenüberstellung mit den gefilmten obdachlosen Frauen intensive Reaktionen und Gespräche aus. Bei Graeme Millers Installation Beheld bedurfte es hingegen vorab einiger Elementarinformationen, wie diese Bilder zustande gekommen sind, ansonsten wurden die Rezipientinnen und Rezipienten einem intensiven subjektiven Erleben im verdunkelten Raum überlassen. Bei Markus Döhnes Arbeit Green Screens, Refugee Series in der Stadtkirche war es wiederum so, dass sehr viel bezüglich der werkimmanenten medialen Dimensionen erklärt werden musste. Vorab entstanden hier auch Diskussionen innerhalb der Kirchengemeinde darüber, ob die Kirche der geeignete Ort zur Ausstellung eines derartigen Werkes sei und ob man sich als Gottesdienstbesucher mit dem Elend der Welt so konfrontieren möchte. Zugleich gab es Touristen, die die Kirche besichtigten und die Bilder spontan und naiv einfach schön fanden. Die BrandSchutz Ausstellung beinhaltete also eine Vielfalt an Formen der künstlerischen Ansprache und Rezeption – von Werken mit unmittelbarer Suggestionskraft bis hin zu solchen Arbeiten, die sehr viel Auseinandersetzung voraussetzen.
rachel mader: Mir ist aufgefallen, dass in der Ausstellung eher weniger partizipative oder interventionistische Werke vertreten waren. Ich nehme an, das war eine bewusste Entscheidung. Liegt ein Grund dafür im Adressatenkreis der bürgerlichen Mitte und der Bevorzugung von bekannteren und somit leichter vermittelbaren Medien?
verena krieger: Wir haben durchaus versucht, eine Breite an künstlerischen Strategien der Betrachteransprache in die Ausstellung einzubeziehen. Einen partizipativen Charakter hatte etwa die Arbeit Vote/Emote von Adrian Piper. Das waren Wahlkabinen, in deren Schutz sich die Besucher schriftlich über ihre Gefühle äußern konnten, die Fotos von auf den Betrachter zukommende Gruppen von Afroamerikanern bei ihnen auslösten. Dieses Angebot wurde vom Publikum sehr rege angenommen und Adrian Piper sammelt die Selbstaussagen, da sie einen
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Teil ihres Werkes darstellen. Dabei entstanden natürlich auch sehr ungeschminkte Äußerungen, die nicht immer als ‚politisch korrekt‘ zu betrachten sind. Eine weitere partizipative Arbeit stellten die Text-Performances von Andrea Knobloch und Ute Vorkoeper an der Fassade des Stadtspeichers dar, der Raum für grenzwertige Mitteilungen. Bei dieser Arbeit stellte sich allerdings heraus, dass die angestrebte Partizipation viel schwieriger zu realisieren war, als intendiert. Ursprünglich geplant war, dass sich ständig wechselnde Gruppen von Bürgern finden, die die wöchentlich stattfindende Aktion durchführen würden. Die Choreografie zur Umsetzung und Durchführung dieser Text-Performance war jedoch ziemlich anspruchsvoll, und so bildete sich stattdessen eine feste Gruppe dafür heraus. Eine weitere Schwierigkeit bestand darin, dass die Textarbeit ursprünglich auch von Seiten der Bürger geleistet werden sollte. Es hatte sich dann aber bereits im Vorfeld gezeigt, dass zahlreiche Konflikte bestehen und darunter teilweise die Qualität der Texte leiden würde. Letztendlich haben die beiden Künstlerinnen entschieden, die Texte selber zu schreiben. Insofern ist bei dieser Arbeit das partizipatorische Element gegenüber der ursprünglichen Planung eher in den Hintergrund getreten.
claudia tittel47: In den Vorträgen der heutigen Sektion wurden verschiedene Positionen von Ausstellungen vorgestellt. Da wäre beispielsweise die Ausstellung Die Endlichkeit der Freiheit in Berlin,48 die einen größeren finanziellen Rahmen hatte und auf eine veränderte Situation in der Stadt reagierte, oder Die Kunst, nicht dermaßen regiert zu werden des Würtembergischen Kunstvereins in Stuttgart,49 der den Ausstellungsraum für eine Art ‚Kunst des Aktionismus‘ geöffnet hat. Die Ausstellung BrandSchutz in Jena wurde als Experiment im Feld des Politischen bezeichnet. Was war das Experiment? In Deinem ‚zweiten Blick‘ auf das Projekt wurde vor allem die sehr große Rolle der pädagogischen Dimension deutlich. Wo genau ist sie im Rückblick zu verorten, und welche Position nimmt sie dabei ein?
verena krieger: Die Vermittlungsarbeit und das aktive Ansprechen des Publikums waren ein sehr wichtiger Teil unserer Arbeit und das in viel höherem Maße, als wir vorher erwartet hatten. Denn auf diese Weise konnten wir ein Publikum erreichen, das ansonsten nicht gekommen wäre. In diesem Sinne war Pädagogik sehr wichtig. Ansonsten bestand das experimentelle Moment darin, sich in diesem Dreieck zwischen Pädagogik, Politik und Kunst zu situieren, ohne sich auf einen dieser Bereiche festlegen zu lassen. Und das war auch der Ursprung mancher Konflikte oder Probleme, denn es gab immer wieder Versuche, BrandSchutz auf etwas Pädagogisches oder Politisches festzulegen, was gerade nicht unsere Intention war. Die Bemühung, sich dieser Vereindeutigung und Verortung zu entziehen, sich zwischen diesen drei Feldern möglichst fluid zu verhalten, stellte sich als ein wichtiger Teil des gesamten Projekts heraus.
47 Claudia Tittel ist wissenschaftliche Assistentin an der Professur Geschichte und Theorie der Kulturtechniken der Fakultät Medien an der Bauhaus-Universität Weimar. Von 2011–2015 war sie wissenschaftliche Assistentin am Lehrstuhl für Geschichte und Ästhetik der Medien an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. An der Tagung When Exhibitions become Politics. Geschichte und Strategien des politischen Ausstellens war sie als Moderatorin beteiligt. 48 Vgl. den Beitrag von Hans Dickel in diesem Band. 49 Vgl. den Beitrag von Hans D. Christ in diesem Band.
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jürgen conradi50: Es wurden die verschiedenen Ausstellungsorte des Projekts angesprochen. Ich habe in Gesprächen mit den Besuchern den Eindruck gewonnen, dass diese Art der Präsentation durchaus gut geheißen wurde. Die meisten Ausstellungsorte waren in unmittelbarer Nähe rund um den Marktplatz platziert, so dass man sich eine oder zwei Arbeiten ansehen und an einem andern Tag weitere besuchen konnte. Dabei wurde es meiner Ansicht nach sehr positiv aufgefasst, dass man nicht wie beim Besuch eines Museums eine ganze Ausstellung ablaufen musste, sondern die Möglichkeit hatte, sich länger mit einzelnen Arbeiten zu befassen. Besonders möchte ich noch einmal die Arbeit von Markus Döhne in der Stadtkirche erwähnen. Auch wenn von Seiten der Kirchengemeinde ein gewisser Vorbehalt bestand, wurde das Projekt letztlich gefördert und mitgetragen. So wurde z. B. in den Gottesdiensten darauf Bezug genommen oder die Ausstellung im Rahmen des Mitteldeutschen Kirchentags in Jena breit rezipiert. Was hingegen sehr schade war, ist, dass die Arbeit von Graeme Miller, die etwas abgelegener in der Imaginata ausgestellt wurde, auf viel weniger Besucher gestoßen ist.
elisabeth fritz: Zu all diesen Fragen und Erfahrungen kann ich aus den Gesprächen, die ich mit den Ausstellungsbesuchern geführt habe, ergänzen, dass der Kunst und den Werken stets eine ganz große Bedeutung zukam. So waren die Besucherinnen und Besucher etwa überrascht, was für unterschiedliche Ansätze und Medien es in der Gegenwartskunst gibt, um gesellschaftspolitische Themen anzusprechen. Dabei habe ich es als sehr positiv erlebt, dass die Diskussion über die Kunst angesichts der thematisierten Inhalte dennoch nie verloren gegangen ist. Es gab stets Fragen wie: Was ist überhaupt zeitgenössische Kunst? Wie funktioniert sie, und welche Medien stehen ihr zur Verfügung? Was kann sie dabei leisten? All diese Fragen im Zusammenhang mit dem brisanten Thema der Mentalitäten der Intoleranz haben die Diskussion entscheidend bereichert. Aus meiner Erfahrung hat sich die Ausstellung jedenfalls nie ganz in einem pädagogischen oder politischen Handeln erschöpft, sondern die Werke selbst waren stets sehr präsent.
50 Jürgen Conradi ist Vorstandsmitglied des Jenaer Kunstvereins e. V.
art for society, whitechapel art gallery, london, 1978 rachel mader Am 27. September 1977 diskutierte der Stiftungsrat der Whitechapel Art Gallery erstmals das von Nicolas Serota für das Frühjahr 1978 vorgesehene Ausstellungsprojekt Artists in Society.1 Die Absicht der Initiantin Margaret Richards, die mit einem entsprechenden Vorstoß im Juni 1976 bei Serota sofort auf großes Interesse stieß, las sich sehr umfassend: „I’m not fixed in my ideas, but I feel we need an exhibition covering 200 years or so, which would bring to attention and put into perspective the work of current artists who communicate ideas and feelings about political ideas or social realities“.2 In der Folge traf sich eine Kerngruppe von elf Personen, zusammengesetzt aus zwei Vertretern der Whitechapel sowie mehreren externen Experten aus unterschiedlichen Bereichen (u. a. Kunstschaffende, Kuratierende, Journalistinnen und Journalisten) in der Galerie kontinuierlich zu Konzeptions- und später Planungssitzungen der Socio-Political Art Show, dies der Arbeitstitel der Ausstellung. Das Projekt hatte einen beachtlichen Umfang: Vorgesehen war eine auf Übersicht angelegte Ausstellung mit verschiedenen thematischen Sektionen zu zeitgenössischen und historischen Themen, dazu eine eigene Sektion für künstlerische Positionen von Personen aus der unmittelbaren Nachbarschaft der Whitechapel, unterschiedliche Begleitveranstaltungen, eine Publikation und zudem sollte die Ausstellung auf Tour durch England geschickt werden. Nach einigen Diskussionen entschloss sich das Organisationskomitee dafür, die Kunstschaffenden nicht in einem kuratierten Verfahren auszuwählen, sondern die Teilnehmenden über die Ausschreibung eines Wettbewerbes auszusuchen. Aus den 300 Eingaben wählten die Verantwortlichen schließlich rund 100 Positionen aus, historische Beispiele mussten aufgrund der großen Anzahl aktueller Kunstschaffender ganz weggelassen werden. Die begleitende Publikation Art for Society listet sämtliche Teilnehmenden mit ihren Werken auf. Der Schwerpunkt der eher dünnen Broschüre liegt aber klar auf den kürzeren Texten der Mitglieder des Organisationskomitees, in denen aus unterschiedlichen Perspektiven das Verhältnis von Kunst und Gesellschaft thesenhaft beleuchtet wird.
1 Dies ist auch deswegen eine besondere Erwähnung wert, weil das Ausstellungsprogramm an den Stiftungsratssitzungen in aller Regel nicht sehr ausführlich diskutiert wird. Der Name der Ausstellung änderte sich im Verlauf der Konzeptions- und Produktionsphase, der finale Titel lautete Art for Society, die Entwicklung der Namensgebung wird später im Text ausführlicher diskutiert. 2 Margaret Richards in einem Brief vom 4. Juni 1976 an Nicolas Serota, einsehbar im Archiv der Whitechapel Art Gallery (WAG Minutes Board of Trustees).
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vorbehalte und vorurteile Dass das Vorhaben beim heterogen zusammengesetzten Stiftungsrat der Whitechapel nicht nur auf Begeisterung stieß, erstaunt angesichts der damals aktuellen gesellschaftlichen Konstellationen ebenso wenig wie die dabei vorgebrachten Argumente. Die von einigen Mitgliedern des Gremiums geäußerten Befürchtungen betreffen allesamt die politische Ausrichtung des geplanten Vorhabens, so werden etwa die pointierten Voten von Mr. Fielding, einem der zwei Delegierten des Greater London Councils (GLC) im Protokoll vermerkt: „(...) and Mr. Fielding in particular was concerned that a conservative GLC might not look too kindly at the Gallery when considering grants, if the exhibition had a strong Marxist content.“3 Gegen diese Einschätzung der inhaltlichen Stoßrichtung, die auf Basis zweier kürzerer Texte zur Ausstellung, die den Stiftungsräten vorlagen, gefällt wurde, schätzten die Befürworter des Ausstellungsprojektes gerade deren parteipolitische Unabhängigkeit sowie die auf eine grundlegende Reflexion abzielende Perspektive.4 Serota reagiert auf die unterschiedlichen Mutmaßungen angesichts des vorgelegten Kurzkonzeptes mit einer nüchtern informativen und taktisch geschickten Replik: Nicht nur negierte er jegliche Einschränkung bezüglich parteipolitischer Haltungen, auch verwies er auf die historische Dimension, die eingeplant war, sowie die spezifisch lokalen Künstlerinnen und Künstlern vorbehaltene Sektion, beides Maßnahmen, die einen thematisch breiten und unparteiischen Zugang garantieren sollten. Trotz anhaltender Skepsis seitens einzelner Vertreter verfolgte Serota das Projekt unbeirrt weiter und konfrontierte damit das Steuerungsgremium immer wieder aufs Neue mit politischen Ideen und Initiativen, die von diesem nicht nur genauestens beobachtet wurden, sondern durchweg auch zu kleineren oder größeren Kontroversen führten. Seit Anbeginn seiner Amtszeit im März 1976 hat der junge Direktor mit diversen Vorstößen das politische Selbstverständnis dieser obzwar altehrwürdigen, so doch in konstanter Gefährdung und Transformation sich befindenden Institution herausgefordert. Die zuverlässig eintretenden kritischen Nachfragen seitens des Stiftungsrates sind Zeichen für dessen Unsicherheit gegenüber Serotas Vorstößen. Diese Versuche einer Politisierung der Institution, ein Engagement des Direktors, das die frühen Jahre seiner Amtszeit auszeichnete, bezogen sich in gleicher Weise auf das kuratorische Programm wie auf das strukturelle Setting. So sind etwa die von ihm sehr bald nach seiner Einsetzung aufgegriffenen Themen zu Personalfragen geprägt vom Anliegen, die Situation für die Angestellten zu verbessern, etwa indem der Direktor die Aufstockung des Personaletats
3 Zitiert nach dem Protokoll vom 27. September 1977, einsehbar im Archiv der Whitechapel Art Gallery (WAG Minutes Board of Trustees). 4 Zu den expliziten Befürwortern der Ausstellung gehörten Tower Hamlet Beer (Gemeinderat), Mr. Moonmann (Delegierter der Toynbee Hall und Parlamentsmitglied), Mrs. Bonham (Vertreterin der Inner London Education Authority) und Mr. Simpson (Vertreter des Greater London Council). Mr. Fielding, Mr. Wray (Delegierter der Gemeinde Hackney) und Mr. Rowley (Delegierter der Sir John Cass's Foundation) dagegen drückten auch nach den durch Serota vorgebrachten Beschwichtigungen bezüglich ihrer Vorbehalte erneut ihre Bedenken aus. Vgl. Protokoll vom 27. September 1977, einsehbar im Archiv der Whitechapel Art Gallery (WAG Minutes Board of Trustees).
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oder die Erhöhung der Löhne, inklusive seines eigenen, zügig vorantrieb.5 Führten diese Initiativen trotz anhaltender finanzieller Enge nicht zu grundlegendem Widerstand seitens der Stiftungsräte, mündeten die von Serota ebenfalls laufend eingebrachten Vorschläge zur Verbesserung der Arbeitssituation der Kunstschaffenden in wiederkehrende Diskussionen. Auf die beachtliche Erhöhung der Transport- und Versicherungskosten für das Jahr 1977 reagierte der Delegierte der John Cass’s Foundation Rowley mit der Bemerkung, dass die Übernahme dieser Kosten durch die Kunstschaffenden selbst – wie es bis dahin der Fall war – diese dazu anhalte, die Preise bzw. Versicherungswerte für ihre Arbeiten nicht zu hoch anzusetzen. Dagegen konterte Serota mit dem Verweis auf den Status der Whitechapel als einer der wichtigsten Institutionen in London nebst der Tate, der Serpentine Gallery und dem Arts Council, die ihrerseits allesamt diese Kosten nicht den Kunstschaffenden anlasten würden.6 Im Stiftungsrat vorerst gar nicht aufgenommen wurde dagegen die von Serota im regelmäßig verfassten Director‘s Report zu Händen der Stiftungsratssitzung vom 7. Dezember 1977 vorgeschlagene Diskussion über die mögliche Einführung von Gehältern für die ausstellenden Künstler und Künstlerinnen.7 Bei der Sitzung vom 17. April 1978 wurde diese Frage auf erneute Nachfrage von Serota just im Zusammenhang mit der Ausstellung Art for Society vom Stiftungsrat dann doch aufgegriffen und diskutiert. Mitglieder des Organisationskomitees hatten sich nämlich dafür ausgesprochen, die teilnehmenden Kunstschaffenden für ihre Arbeit zu entschädigen, und drohten für den Fall, dass dies nicht geschehen sollte, damit, ihr Entgelt ebenfalls auszuschlagen. Gerade die inhaltliche Ausrichtung der Ausstellung, die sich kritisch mit der Rolle der Kunst und der Kunstschaffenden in der Gesellschaft auseinanderzusetzen beabsichtige, rechtfertige dieses Anliegen in besonderer Weise. Dass das Arts Council bereits seit einiger Zeit die Möglichkeit evaluiere, wie Gehälter für Kunstschaffende im Rahmen ihrer Ausstellungstätigkeit erbracht werden könnten, stütze diese Initiative, so Serota in seinem Bericht.8 Der Stiftungsrat rang sich zur Unterstützung dieses Begehrens des Organisationskomitees durch, gestützt auf eine eher unkonventionelle Begründung, geliefert von Prof. John White, dem Delegierten der Drapers’ Company London, und mitgetragen durch Gemeinderat Beasly: So seien es viel mehr die Organisatorinnen und Organisatoren, welche den teilnehmenden Kunstschaffenden ihre Honorare anbieten würden, die Whitechapel fungiere lediglich als „channel through which the payment would be made“.9 5 Bereits bei der Sitzung vom 13. Dezember 1977, also neun Monate nach Serotas Amtsantritt, beschließt der Stiftungsrat teils beachtliche Lohnerhöhungen für das gesamte Personal. Protokoll vom 13. Dezember 1977, einsehbar im Archiv der Whitechapel Art Gallery (WAG Minutes Board of Trustees). 6 Protokoll der Sitzung vom 27. September 1977 sowie vom 7. Dezember 1977 und 31. Januar 1978, einsehbar im Archiv der Whitechapel Art Gallery (WAG Minutes Board of Trustees). Der Hinweis auf die Preise von Rowley hat den Hintergrund, dass die Whitechapel in jenen Jahren Arbeiten aus ihren Ausstellungen verkaufte und dies auch eine der Einnahmequellen des Hauses war. 7 Director’s Report zur Sitzung vom 7. Dezember 1977, einsehbar im Archiv der Whitechapel Art Gallery (WAG Minutes Board of Trustees). 8 Director’s Report zur Sitzung vom 17. April 1978, einsehbar im Archiv der Whitechapel Art Gallery (WAG Minutes Board of Trustees). 9 Protokoll zur Sitzung vom 17. April 1978, einsehbar im Archiv der Whitechapel Art Gallery (WAG Minutes Board of Trustees). An der darauffolgenden Sitzung des Stiftungsrates vom
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Die beabsichtigte Öffnung der Institution gegenüber der lokalen Anwohnerschaft und der breiten Bevölkerung, wie sie auch für Art for Society vorgesehen war, war ein anhaltendes Politikum, das sämtlichen Beteiligten konstante Positionierungen abrang. So war zwar weder die unter Serota erneut ermöglichte Einstellung eines Community Officers noch die dadurch intensivierte Interaktion mit den Anwohnerinnen und Anwohnern umstritten, schließlich gehörte dies seit Anbeginn zum verbrieften Auftrag der Whitechapel und wurde anlässlich der Ausschreibung der Direktorenstelle 1976 als Teil des Pflichtenheftes erneut als inhaltlicher Schwerpunkt festgelegt. Der Ausbau des Eingangsbereiches der Whitechapel im Zuge des geplanten Erweiterungsbaus mit einem Café, einem Buchladen und weiteren Räumen, die als Treffpunkte genutzt werden konnten, erwies sich dagegen als heikles Unterfangen. Mrs. Strauss befürchtete, dass so aus der Art Gallery ein Social Center würde, das zu viel der knappen Gelder absorbieren und damit die Qualität der Ausstellungen gefährden würde. Eine Erweiterung sähe sie nur dann gerechtfertigt „if it directly brought an improvement of artistic standard“.10 Obwohl die Skepsis von Mrs. Strauss bei den anderen Stiftungsratsmitgliedern auf wenig Unterstützung stieß, griff Serota ihre Befürchtungen mit dem Hinweis auf die veränderte gesellschaftliche Situation auf. Die Whitechapel Gallery ließe sich in den 1970er-Jahren nicht mehr als Art Center im internationalen Kontext positionieren,11 vielmehr gehe es darum, einen „place devoted to the visual arts“ zu etablieren.12 Obwohl sich der Direktor im Weiteren nicht genau äußert, worin die Differenz dieser beiden Konzepte besteht, lässt sich dies teilweise aus dem kuratorischen Programm ableiten. Sein Kunstverständnis schien auf eine weitgehend egalitäre Behandlung von High Art, angewandter oder im erzieherischen Kontext verwendeter Kreativität abzuzielen. Das Jahresprogramm umfasste daher sowohl junge avantgardistische Positionen etwa der Minimalisten wie Ausstellungen mit Kunsthandwerk aus unterschiedlichen Jahrhunderten, Themenshows, das unkuratierte Whitechapel Open oder die Präsentation zahlreicher Projekte, die in Zusammenarbeit mit der lokalen Bevölkerung (z. B. Schulen) entstanden waren.13 Der seit den 1950er-Jahren bestehende dichotome Auftrag der Whitechapel, nebst dem aktuellen Kunstschaffen auch ein offenes Haus für eine
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12. Juni 1978 war die Auszahlung von Honoraren erneut in ganz grundsätzlicher Manier Thema und Mrs. Patricia Strauss (London Parochial Charities) erkundigte sich erneut nach der Herkunft dieser Gelder und ob es rechtens sei, diese ohne Vorabklärung mit dem Stiftungsrat auszuzahlen. Protokoll zur Sitzung vom 12. Juni 1978, einsehbar im Archiv der Whitechapel Art Gallery (WAG Minutes Board of Trustees). Mrs. Strauss zitiert nach dem Protokoll vom 7. Dezember 1977, einsehbar im Archiv der Whitechapel Art Gallery (WAG Minutes Board of Trustees). Es war Bryan Robertsons Verdienst, als deren Kurator von 1952–1968 die Whitechapel zum Zentrum für zeitgenössische Kunst in London umzugestalten. So richtete er u. a. Kunstschaffenden wie Jackson Pollock, Mark Rothko oder Robert Rauschenberg, damals Vertreter der internationalen Avantgarde, erste Einzelausstellungen in Großbritannien aus und organisierte u. a. die mittlerweile legendäre Show This is Tomorrow (1956), in der Architekten und Maler in kollaborativen Teams Vorstellungen zur Welt von Morgen in installativen Settings vorstellten. Nicolas Serota zitiert im Protokoll vom 7. Dezember 1977, einsehbar im Archiv der Whitechapel Art Gallery (WAG Minutes Board of Trustees). Vgl. dazu die umfassende Auflistung sämtlicher Ausstellungen in den Umschlagseiten der Jubiläumspublikation der Galerie. Whitechapel Art Gallery (Hg.), The Whitechapel Art Gallery Centenary Review, London 2001.
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kreative Praxis der umliegenden Nachbarn fernab vom internationalen Diskurs zu bieten, wurde von Serota konsequent und erfolgreich umgesetzt.14 Und genauso wie er mit den zahlreichen Soloshows von Künstlern wie Carl Andre, Gerhard Richter oder Robert Ryman das Haus als Teil der internationalen Kunstszene positionierte, fanden sich zahlreiche innovative Initiativen, die sich nicht in den anerkannten Kategorisierungen situieren ließen, sondern vielmehr versuchten, dem Auftrag nach einer lokalen Einbindung und Relevanz nachzukommen.15 Art for Society war also Teil einer umfassenderen Neuausrichtung der Whitechapel, die zwar dem Pflichtenheft des noch jungen Direktors entsprach, die dieser aber zugleich in eigenständiger Weise interpretierte und die auf eine Politisierung sowohl der strukturellen Bedingungen als auch des inhaltlichen Programmes zielte.16 Dass die angestrebten Neuerungen angesichts der komplexen Zusammensetzung der Trägerschaft des Ausstellungshauses nicht ohne Widerstand über die Bühne gehen würden, war absehbar und Serotas Umgang mit den diversen involvierten Parteien zeigt, dass er mit Skepsis gerechnet hatte. Art for Society stand dabei vor allem deswegen im Kreuzfeuer der Kritik, weil die Ausstellung als Fenster zur Öffentlichkeit diesen anvisierten Wandel in offensiver Weise nach außen trug. Die im Vorfeld geführten Diskussionen zu möglichen inhaltlichen Schwerpunkten und Modellen der Organisation innerhalb des Komitees sowie die Vermittlung des Konzeptes gegenüber dem Stiftungsrat zeigen auf, wie Serota und sein Mitarbeiter Community Officer Martin Rewcastle nahezu alle Aspekte von Art in Society im Spannungsfeld von institutioneller Repräsentation und politischem Engagement auszuhandeln hatten.
14 Zum dichotomen Auftrag der Whitechapel vgl. Carmen Moersch, Art of Encounter, in: engage, 15/2004, o. S. sowie für eine historische Sichtung dieser Konstellation Janeen Haythornthwaite, Roller-Coasters and Helter Skelters, Missionaries and Philanthropists. A History of Patronage and Funding at the Whitechapel Art Gallery, in: Whitechapel Art Gallery 2001 (wie Anm. 13), S. 18–22. 15 Dazu gehörten zahlreiche Projekte, die in Zusammenarbeit mit Schulen unterschiedlichster Stufen erarbeitet wurden und deren Resultate schließlich in der Whitechapel zu sehen waren, sowie solche, die in engem Austausch mit Nachbarschaftsorganisationen entwickelt wurden, so etwa das 1976 durchgeführte Tower Hamlet Art Project, das in den lokalen Zeitungen als großer Erfolg gefeiert wurde. Unterlagen dazu im Archiv der Whitechapel Art Gallery (u. a. File Tower Hamlet Art Project). 16 In ihrem Text Exhibition as Political Space beschreibt die amerikanische Künstlerin Julie Ault, die auch kuratorisch tätig ist, die Tätigkeit des Ausstellens als einen vielschichten Prozess, der an unterschiedlichsten Schnittstellen politische Implikationen habe und zu entsprechendem Handeln auffordere: „Exhibition making as a practice involves numerous activities including conceptualizing a subject, research, distilling of information and ideas, working with other artists, collaboration with various people in the administration and making of an exhibition, designing the installation and display, and representing the project publicly through texts, formal presentations and conversations. Because of the social nature of all aspects of making an exhibition (...) I view exhibition making as a political process which takes place in the cultural field.“ Julie Ault, Exhibtion as political space, in: Stella Rollig/Eva Sturm (Hg.), Dürfen die das? Kunst als sozialer Raum. Art/Education/Cultural Work/Communities (= Museum zum Quadrat 13), Wien 2002, S. 52–63, hier S. 52f. Serotas politisches Selbstverständnis scheint ähnlich umfassend wie dasjenige von Julie Ault.
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titel und andere ordnungsversuche Bereits die wechselnde Betitelung des Unterfangens gibt anschaulich Auskunft über die unterschiedlichen Konnotationen zum Verhältnis von Kunst und Politik, welche die diskursive Ausgangslage für die Ausstellung bildeten. Nutzte die Ideengeberin Margaret Richards in ihrem ersten Schreiben zur Bezeichnung ihres Interesses die Wendung Socio-Political Art, kündigte Serota die Ausstellung dem Stiftungsrat mit der doch deutlich unverfänglicheren Formulierung Artists in Society an.17 Die Ausschreibung in diversen englischen Zeitschriften, mithilfe derer die Kunstschaffenden zur Teilnahme am Wettbewerb eingeladen wurden, nannte noch nicht einmal einen provisorischen Titel, sondern behalf sich mit der Umschreibung „work that has a social or political purpose“.18 Erst in den letzten Monaten wurde die finale Setzung Art for Society vorgenommen. Die Organisatorinnen und Organisatoren insistierten mit dieser Benennung auf dem direkten Zusammenhang von Kunstproduktion und ihrem Niederschlag in der Gesellschaft, verzichteten aber auf die Behauptung eines eigenständigen Gattungsbegriffes (Socio-Political Art) und entschieden sich für eine verbindlichere Beschreibung des Verhältnisses zwischen Kunst und Gesellschaft, als es in Artists in Society angelegt war. In der Suche nach einer passenden Betitelung des Vorhabens zeigt sich zudem das noch sehr grundlegend ausgerichtete Interesse an der Thematik, ein Umstand, der nicht nur zu diversen konzeptuellen Entwürfen mit unterschiedlichen inhaltlichen Schwerpunkten geführt hatte, sondern sich auch im Textteil des begleitenden Kataloges abbildet. Eine frühe Auflistung thematischer Aspekte, zu denen die einzelnen Mitglieder des Organisationskomitees recherchieren sollten, hatte nahezu enzyklopädischen Charakter: Nebst einem Fokus auf zeitgenössische britische Künstlerinnen und Künstler, die sich in diversen künstlerischen Medien mit politischen Themen auseinandergesetzt haben, sollten auch Kunstschaffende berücksichtigt werden, deren Arbeit konkret auf Veränderung abzielte. Dazu waren ein historischer Rückblick, Vergleiche mit ähnlichen Projekten und unterschiedlichen geografischen Kontexten, ein spezifisch der lokalen Anwohnerschaft vorbehaltenes Fenster sowie begleitende Veranstaltungen (Filme, Diskussionen usw.) geplant.19 In einem die Absichten der Ausstellung zusammenfassenden Dokument strukturierten die Organisatorinnen und Organisatoren ihren Zugang zur Thematik schließlich über die Herangehensweise der Kunstschaffenden selbst, teilten sie auf in explizite Positionierungen, beobachtende Vorgehen und konkrete Interventionen.20 Diese sehr grundlegend angelegten Versuche, die Thematik selbst und den Zugriff darauf in der Ausstellung zu ordnen, erklären sich aus der Marginalität, mit der politische Inhalte bis anhin im Kunstbetrieb von Großbritannien verhandelt wurden. Genau 17 Margaret Richards in ihrem Brief an Nicolas Serota vom 4. Juni 1976, in dem sie ihm das Projekt erstmalig und in groben Zügen vorschlug, einsehbar im Archiv der Whitechapel Art Gallery (File Art for Society). 18 Einsehbar im Archiv der Whitechapel Art Gallery (File Art for Society). 19 Protokoll der Sitzung vom 24. August 1977, einsehbar im Archiv der Whitechapel Art Gallery (File Art for Society). 20 Dokument The Artist in Society – An Exhibition of Socio-Political Art (o. D.), einsehbar im Archiv der Whitechapel Art Gallery (File Art for Society).
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dieses Argument führte Serota denn auch in der Einleitung zum begleitenden Katalog als Begründung für Art for Society auf: „This exhibition is only the second survey in London since the war of contemporary socially committed art. It is certainly incomplete but it is our hope that it encourage [sic!] further research, discussion and exhibition of art which is both socially and aesthetically relevant.“21 Die darin versammelten Texte, die den Hauptteil der Publikation ausmachen und allesamt von den Organisatorinnen und Organisatoren der Ausstellung verfasst wurden, sind ebenso grundsätzlich ausgerichtet. Aus unterschiedlichen Perspektiven versuchen sie, das Verhältnis von Kunst und ihrem gesellschaftlichen Kontext zu bestimmen oder überhaupt erst zu fassen. Dabei geht es genauso um eine Diagnose der aktuellen Situation, die sich gemäß Serota und Rewcastle in Großbritannien durch eine bis dahin dogmatische Trennung der beiden Sphären auszeichnet, wie um eine historische Herleitung dieses Umstandes (Toni del Renzio: „Art is modern, bourgeois, conceptual and marginal“), eine Zusammenstellung der üblicherweise gegen politisch engagierte Kunst vorgebrachten Argumente (Margaret Richards: „Gallery Goer“) oder auch um ein Nachzeichnen des schwierigen Zusammengehens von Kunstschaffenden und Gewerkschaften (John Gorman: „Art and Labour“). Die Ausstellungsbeiträge schließlich sind – im Anhang des Kataloges entlang der alphabetisch aufgelisteten Künstlerinnen und Künstler einzeln aufgezählt – trotz Fokussierung auf Zeitgenossinnen und Zeitgenossen äußerst divers und thematisch nicht geordnet. Vielmehr wurde gerade die Vielfältigkeit der gezeigten Positionen als Argument dafür eingeführt, diesem Thema auch in Zukunft mehr Gewicht beimessen zu wollen: „Further research is required in an area that has been neglected by exhibition organisers and researchers, but from our enquiries it is clear that there are several exhibitions which urgently need to be made on socially radical art in Britain, from Blake to the present day.“22 Serota sah in der Aufgabe, dieser Thematik auch gegen anhaltende Skepsis und nachhaltigen Rechtfertigungsdruck innerhalb der Whitechapel mehr Aufmerksamkeit und Öffentlichkeit zu bieten, eine Dringlichkeit, die er mehrfach betonte und die sich auch in seiner Durchsetzungsfähigkeit gegenüber den Kritikern belegte. Und Kritiker fanden sich nicht nur innerhalb der eigenen Institution, sondern auch in den Reihen der Kunstkritik in der Tages- sowie Fachpresse.
argumente zwischen politik und qualität In nahezu exemplarischer Manier versammeln die Kritiken zu Art for Society die Argumente für und wider politisch engagierte Kunst und wie fast immer fallen diese sehr polarisiert aus. Die Befürworter lobten die mutige thematische Setzung, erachteten sie deswegen und auch bezüglich der Zusammenstellung der Arbeiten als inspirierend („thought-provoking“) und sahen in den einzelnen Exponaten die gesellschaftliche Bedeutung visueller Strategien vorgeführt. Die Opponenten wiederum warfen der Ausstellung eine einseitige und enge Perspektive vor, das zeige sich in der Auswahl der künstlerischen Positionen, die entsprechend nicht aufgrund von überragender Quali21 Nicolas Serota, Preface, in: Art for Society, Ausst.-Kat. Whitechapel Art Gallery, London 1978, S. 5. 22 Ebd., S. 3.
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tät, sondern wegen ihrer politischen Gesinnung Eingang in die Ausstellung gefunden hätten. Die einseitige Perspektive sei etwa sichtbar an der Dominanz von Werken, die dem sozialen Realismus zuzuordnen seien. Ansonsten wurden einzelne Arbeiten oder künstlerische Positionen kaum besprochen, was an der Fülle und Diversität der gezeigten Exponate liegen mochte. Und gerade diese Unterschiedlichkeit wiederum wird von den einen als inkohärentes Durcheinander empfunden, während andere sie als Demonstration der vielfältigen Arbeitsweisen und Haltungen im Spannungsfeld von Kunst und Politik sahen.23 Uneinigkeit bestand in der Einschätzung, ob mit dieser Ausstellung eine lang anhaltende Ignoranz seitens institutioneller Trägerschaften unterbrochen wurde, so die Behauptung Serotas, die von einzelnen Kritikerinnen und Kritikern auch so bestätigt wurde. Oder ob es nicht vielmehr, wie vom durchaus mit linken Ideen sympathisierende Kritiker Paul Overy in The Times entgegengehalten wurde, in den zwei vorangehenden Jahrzehnten gerade eine ganze Menge von Ausstellungen mit „political or social elements“ gegeben hätte. Seine darauffolgende Auflistung ist in der Tat beachtlich: Nebst Einzelpräsentationen von Fernand Léger, Max Beckmann, George Grosz oder Käthe Kollwitz hätte es auch Übersichtsausstellungen zum sowjetischen sozialen Realismus, zu Futurismus, Bauhaus oder De Stijl, und zwar in allen größeren Häusern in London gegeben.24 Anlässlich dieser Auflistung wiederum fühlte sich Serota genötigt, in einer kurzen und prägnanten Replik in Form eines Leserbriefes in derselben Zeitung öffentlich zu widersprechen: „His list of artists who have been shown in such galleries merely supports our view that socially committed artists must usually be either dead or foreign to merit exhibition in the main London public galleries.“25 Die Einschätzungen zur Rolle von Kunst in der Gesellschaft und dem aktuellen Status dieser Diskussion könnten unterschiedlicher also nicht sein. Eine ähnliche Bilanz zieht auch die Kritikerin Caroline Tisdall, selbst Mitorganisatorin von Art for Society, in einem längeren Artikel im Guardian vom 12. Mai 1978. Gerade aktuell sei es wenig klar, was die Gesellschaft sich von der Kunst erwarte, dass es diese Ausstellung gebe, so ihr paradox anmutender Rückschluss, sei dafür Beleg. Diese Unsicherheit, so Tisdall weiter, sei keine neue Erscheinung, vielmehr seien sich die Kunstschaffenden der Diskrepanz zwischen ihnen und dem Publikum mehr gewahr als früher und dies, obwohl nicht nur die Anzahl der Kunstschaffenden sowie Kunstexpertinnen und Kunstexperten generell zugenommen habe, sondern ebenso die finanziellen Mittel, die für Kunst insgesamt zur Verfügung stünden.26 Und genau das ungeklärte Verhältnis von künstlerischer Produktion und deren erhöhter gesellschaftlicher Präsenz 23 Das Dossier zur Ausstellung umfasst die erschienenen Rezensionen. Lobend äußern sich der Morning Star (12. Mai 1978), Marina Vaizey in der Sunday Times (14. Mai 1978), Michael Shepard in der Zeitschrift What’s on (26. Mai 1978), kritisch und/oder polemisch dagegen sind die Kritiken von William Packer in der Financial Times (22. Mai 1978) sowie Paul Overy in The Times (23. Mai 1978) und Guy Burns in der Arts Review (9. Juni 1978), einsehbar im Archiv der Whitechapel Art Gallery (File Art for Society). 24 Paul Overy, Under the Dead Hand of Social Realism, in: The Times, 23. Mai 1978, o. S., einsehbar im Archiv der Whitechapel Art Gallery (File Art for Society). 25 Nicolas Serota, Art for Society, Leserbrief in: The Times, 31. Mai 1978, o. S., einsehbar im Archiv der Whitechapel Art Gallery (File Art for Society). 26 Caroline Tisdall, The Art that Aims to Change the Way We Live, in: The Guardian, 12. Mai 1978, o. S.
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liegt dem Disput zwischen dem Kritiker Overy und Serota zugrunde: Ohne präziser zu argumentieren, wirft Serota Overy vor, dass seine Liste nachgerade der Beleg für den anhaltenden Widerwillen („reluctance“) zur Aufnahme von „art with clear social or political purpose“ seitens bedeutender britischer Institutionen sei.27 Wenn auch in Serotas kurzem Schreiben nicht explizit benannt, so wird doch mit Rekurs auf die weitere, die Ausstellung begleitende Textproduktion offenkundig, dass Overys Vorstellung von politisch relevanter Kunst für den Kurator von Art for Society in keinster Weise einer zeitgemäßen Auffassung entsprach. Die drei vom Ausstellungsteam in den Fokus gerückten Bezugnahmen von Kunst und Gesellschaft, die nebst reflexiv-beobachtenden künstlerischen Haltungen – darunter wären die meisten von Overy aufgezählten Beispiele zu subsumieren – auch explizite Positionierungen und sogar konkrete Interventionen umfasste, deckte sich in der Tat kaum mit einem generellen Kunstverständnis, waren doch gerade eher interventionistische Praxen noch wenig bekannt und schon gar nicht etabliert. Art for Society war es gerade darum zu tun, ein Verständnis vom Verhältnis von Kunst und Gesellschaft zu postulieren, das nicht nur zeitgenössische Ansätze ins Zentrum rückte, sondern sich damit auch an einem aktuellen internationalen Diskurs über die Thematik anzuschließen gedachte. Die 1974 vom ICA organisierte Ausstellung Art into Society: Society into Art ist in ihrem Selbstverständnis und Anspruch mit Art for Society durchaus vergleichbar, Herkunft und Kontext der Ausstellung haben aber wohl dazu geführt, dass diese für Serota trotzdem nicht als Vorläufer oder Referenz galten.28 Präsentiert wurde Art into Society: Society into Art im Rahmen des sogenannten German Month des ICA und war eine leicht modifizierte Adaption der Ausstellung Kunst im politischen Kampf, die im Jahr zuvor im Hannoverschen Kunstverein zu sehen gewesen war. Ergänzt wurde die Auswahl von sechs Künstlern um Gustav Metzger, der bereits seit einigen Jahren in England lebte und dort mit seiner Auto-Destructive Art bereits mehrfach für Furore gesorgt hatte, während Siegfried Neuenhausen, obwohl er in Hannover dabei gewesen war, im ICA nicht vertreten war. Und auch inhaltlich hat die Ausstellung, so die Auffassung von Barbara Lange, durch die leichten Adaptionen eine Zuspitzung erfahren: War die Version in Hannover noch geprägt von den unterschiedlichen Vorstellungen zum Verhältnis zwischen Kunst und Politik,29 so war es den Ausstellungsmachern in London um einer Klärung zu tun: „What was generally agreed was that political art does not imply or mean social realism, bombastic statuary or political posters, however elevated the motives. What was at stake 27 Serota 1978 (wie Anm. 25). 28 In seiner Einleitung zu Art for Society weist Serota einzig auf zwei vorangehende Ausstellungen an der Whitechapel hin, mit deren Ausrichtung er Verwandtschaften sah. Während das Vorhaben von 1939, das vom Maler Julian Trevelyan initiiert wurde und sich auf „work, by working class artists“ zu konzentrieren vorhatte, abgelehnt wurde, fokussierte die 1952 von John Berger zusammengestellte Ausstellung Looking Forward auf realistische Malerei. Die Verwandtschaften dieser beiden Ausstellungen mit Art for Society liege, so Serota, im Bestreben der Kunstschaffenden mit ihrem Schaffen „to communicate about life and social conditions with a wide public“. Serota 1978 (wie Anm. 25), S. 7f. 29 Barbara Lange, Art into Society: Society into Art, in: dies., Joseph Beuys. Richtkräfte einer neuen Gesellschaft: Der Mythos vom Künstler als Gesellschaftsreformer, Berlin 1999, S. 197–205.
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rachel mader was the force of the idea as expressed by the artist, and the visual form he was able to think out for expressing it.“30
Die immer noch sehr allgemein gehaltene Formulierung stand mit ihrem Interesse an den Möglichkeiten des spezifisch künstlerischen Ausdruckes zumindest nicht im Gegensatz zu denjenigen Anliegen, welche die Initiatoren von Art for Society formuliert hatten. So war es wohl allem voran deren Fokus auf britische Künstlerinnen und Künstler, der dazu geführt hatte, dass die vier Jahre früher im ICA durchgeführte Ausstellung nicht als Referenz herbeigezogen wurde. Denn Art for Society sollte gerade die Verdienste der britischen Kunstszene zu dieser Thematik hervorheben. Nebst den Arbeiten selbst sollte also mit Art for Society ein zeitgemäßer Beitrag zu einem für die jüngere internationale Kunstszene virulenten Anliegen geleistet werden und die britische Kunst über die Landesgrenzen hinaus als wichtiger Gesprächspartner dazu anerkannt werden. Serotas Behauptung Art for Society sei erst die zweite Ausstellung in London, die sich mit politisch engagierter Kunst beschäftige, ist denn auch vor diesem Hintergrund zu deuten: Ihm und dem gesamten Ausstellungsteam war es darum zu tun, mit ihrem Verständnis von sozial und politisch engagierter Kunst an einen Diskurs anzuschließen, der sich bis zu der Zeit in Großbritannien in dieser Ausprägung noch kaum bemerkbar gemacht hatte. Doch entgegen Serotas Einschätzung war Großbritannien in seiner Zurückhaltung gegenüber politisch radikaler Kunst keineswegs alleine: „In the London art world, as in New York, ‚social‘ is a disease, not a priority“, beginnt die anerkannte amerikanische Kunstkritikerin Lucy Lippard ihre Rezension von Art for Society und der etwas früher im Jahr in der Serpentine Gallery von Richard Cork initiierten Ausstellung Art for Whom? mit verwandter inhaltlicher Ausrichtung. Dennoch insistierte sie auf einigen Spezifika der englischen Situation: „(P)erhaps because England is, after all, a fiercely self-critical semisocialist country with economic troubles“, sei im Osten (und damit meinte sie die Whitechapel) der Hauptstadt künstlerisch mehr los als in der Bond Street, dem Zentrum zahlreicher Galerien in Londons Innenstadt. Ihre vergleichsweise differenzierte Analyse der Ausstellungen umfasst denn auch die Besprechung einzelner Arbeiten, die zur Illustration der erwähnten englischen Spezifik dienen. So stellt Lippard eine intensive Beschäftigung mit „work – its history and process“ fest, würdigt Potenz und geschickte Adaption von Werbesprache und -mechanismen für subversive Zwecke oder beurteilt partizipative Projekte im Austausch mit der lokalen Gemeinschaft als besonders vielversprechend. Dass die meisten künstlerischen Beiträge – da geht sie durchaus mit kritischen Stimmen einig – aus dem politisch linken Lager stammen, ist für sie aber weniger Ergebnis einer verengten Perspektive als ein schlichter Fakt, den es festzuhalten gilt.31 Lippards differenzierte Argumentationsweise baut auf eine beachtliche Anzahl unterschiedlichster sozial-engagierter bzw. aktivistischer Kunstinitiativen, die sie seit den 30 Norman Rosenthal, The Colloquium in Berlin April 26–27, 1974, in: Art into Society: Society into Art, Ausst.-Kat. ICA, London 1974, S. 5–10, hier S. 7. 31 Lucy Lippard, Raising Questions, Trying to Raise Hell: British Sociopolitical Art, in: dies. (Hg.), Get the Message? A Decade of Art for Social Change, New York 1984, S. 79–86, hier S. 79, 82 (Nachdruck des Artikels in: Seven Days, August 1978).
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späten 1960er-Jahren mit ihrer eigenen kritisch-essayistischen Tätigkeit begleitet hat. Dazu gehörten etwa die ersten Aktivitäten der Art Workers’ Coalition, die aktivistischen Interventionen der Guerilla Art Action Group oder auch der Art Strike Against Racism, War, Oppression im Jahr 1970.32 In Großbritannien zeigte sich das soziale und politische Engagement weniger in konkreten Interventionen in den Alltag der Realpolitik33 als in einer Vielfalt unterschiedlichster Kommentare auf den politischen Alltag und dem partizipativ angelegten Austausch gerade auch mit einem kunstfremden Publikum.34 Trotz Kritik an Art for Society von unterschiedlichster Seite wurde die Legitimation der Ausstellung nicht grundsätzlich infrage gestellt. Ihre Reinszenierung im Ulster Museum in Belfast, die am 8. November 1978 hätte eröffnet werden sollen, wurde dagegen vorerst abgesagt. Nach dem Auspacken der Exponate und deren Durchsicht durch den Stiftungsrat des Museums entschied sich dieser für die Annullierung: „When the exhibits have been unpacked and had been inspected by the Trustees, it was unanimously decided that a number of items were unsuitable for display in the Ulster Museum.“ Der Vorschlag des Museums, die heiklen Arbeiten aus der Ausstellung zu entfernen und lediglich eine reduzierte Version einzurichten, wurde jedoch sowohl von den Verantwortlichen des Arts Councils Ireland, die für die Weiterreise von Art for Society verantwortlich waren, als auch den Organisatorinnen und Organisatoren seitens der Whitechapel strikt abgelehnt.35
achsen der debatten Art for Society zeigt zum einen die Koordinaten, entlang derer innovative zeitgenössische Initiativen – hier politisch engagierte Kunst – sich zu positionieren und legitimieren hatten. Ausgehend von der Genese dieser Ausstellung lässt sich aber auch darlegen, welche Handlungsspielräume vorhanden waren bzw. die einzelnen darin involvierten Akteurinnen und Akteure sich angeeignet haben und wie sie auf vorhandene Widerstände und Hindernisse innerhalb des spezifischen gesellschaftlichen und institutionellen Kontextes reagierten. Die Installation einer auf politische Themen fokussierten Ausstellung war weder für die Whitechapel noch für den Raum London eine komplette Neuheit. Doch die 32 Vgl. dazu die Texte von Lippard, zusammengestellt in der Publikation Get the Message? von 1984 (wie Anm. 31). 33 Eine Ausnahme dazu in der Ausstellung Art for Society ist das East London Health Project. Initiiert wurde dies von Lorraine Leeson und Peter Dunn, die in ihrer Arbeit Health Cuts Can Kill mit einer Serie von im öffentlichen Raum installierten Postern gegen die Schließung zahlreicher Spitäler und die Kürzung von Gesundheitsprogrammen protestierten. Conrad Atkinsons Beitrag mit dem Titel Asbestos (The Lungs of Capitalism) etwa, der von Lippard ebenfalls erwähnt wird und in dem der Künstler in einem installativen Setting in zugespitzter Weise auf die Verbindung von wirtschaftlichem Profit und dem dahinterliegenden menschlichen Einsatz hinwies, ist eher eine pointierte Interpretation als ein Eingriff in die Tagesaktualität. 34 Stephen Willats ist einer derjenigen britischen Künstler, deren Arbeitsweise darauf abzielte, eine jeweils spezifische lokale Bevölkerungsgruppe hinsichtlich ihrer sozialen Bedingungen aufzuklären und im Sinne des Consciousness-raising sie dadurch anzuregen, sich für ihre Interessen einzusetzen. Willats war mit der Arbeit Coded World bei Art for Society vertreten. 35 Brief von Nicolas Serota und Martin Rewcastle an die Teilnehmerinnen und Teilnehmer von Art for Society, einsehbar im Archiv der Whitechapel Art Gallery (File Art for Society).
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inhaltliche Ausrichtung und die strukturelle Konstellation, innerhalb derer das Unterfangen situiert war, macht sie zu einem bemerkenswerten und für den zeitlichen und geografischen Kontext innovativem Ereignis. Im Rahmen der Whitechapel ist Art for Society nicht als isolierte Aktivität zu betrachten, was die Skepsis einzelner Mitglieder des Stiftungsrates verstärkt hatte. Die unterschiedlichen durch Serota angeregten strukturellen Anpassungen (von der Einstellung eines Community Officers über Lohnfragen bis hin zur Umgestaltung des Eingangsbereiches) wurden dabei berechtigterweise genauso hinsichtlich ihrer politischen Implikationen gelesen wie die Ausstellung selbst. Und genau durch dieses Konglomerat von unterschiedlichen Initiativen mit politischen oder zumindest sozialpolitischen Stoßrichtungen unterschied sich Serotas Agieren von dem seiner Vorgängerinnen und Vorgänger. Während Bryan Robertson (1952–1969), allem voran mit der inhaltlichen Fokussierung auf zeitgenössische künstlerische Positionen, das Renommee der Whitechapel im internationalen Kontext verbesserte, war es den beiden direkten Vorgängerinnen Jennie Stein (1971–1974) und Jasia Reichardt (1974–1976) bereits aufgrund ihrer kurzen Amtszeit kaum möglich, umfassendere Änderungen durchzusetzen. Von anderen in London durchgeführten Ausstellungen mit politischer Intention unterschied sich Art for Society, allem voran mit ihrer ausschließlichen Konzentration auf zeitgenössische britische Kunstschaffende, durch das etwa in Abgrenzung zur im gleichen Jahr von Richard Cork in der Serpentine Gallery durchgeführten Ausstellung Art for Whom? auf Übersicht angelegte kuratorische Konzept36 sowie die Modalitäten der Organisation, die nicht nur ein Organisationskomitee (anstelle eines Einzelkurators), sondern auch die Bezahlung der Kunstschaffenden vorsah. Den Ausstellungsmacherinnen und -machern war es angesichts der als gesellschaftliche Krise wahrgenommenen Situation allem voran um die Klärung der Rolle von Kunst und der Kunstschaffenden in der Gesellschaft gegangen, und dies in möglichst engem Abgleich mit den Protagonistinnen und Protagonisten – den Künstlerinnen und Künstlern selbst. Die schiere Menge der ausgestellten künstlerischen Positionen wiederum war implizit Argument für die Aktualität und in gewisser Weise auch Dringlichkeit der Thematik, wie sie bis anhin in Großbritannien kaum behauptet wurde. Dies mag mit ein Grund sein, warum sich das institutionelle Establishment nur zögerlich auf die Ausstellung einlassen konnte: Sorgte sich die Trägerschaft der Whitechapel um den politischen Rückhalt, auf den die Institution in ihrer komplexen Organisationsform angewiesen war, so befürchteten die Verantwortlichen in Belfast handfesten politischen Widerstand angesichts einzelner, ihrer Ansicht nach zu provokativen Arbeiten, und die Presse konnte ihre Vorbehalte gegenüber den Qualitäten politischer Kunst nicht verbergen. Die zunehmende Präsenz von sympathisierenden Stimmen in diversen Gremien und Positionen verhalf dem Ansinnen schließlich nicht nur zu einer erfolgreichen Durchführung, sondern auch einer öffentlichen Resonanz, die keineswegs nur negativ, sondern vielstimmig war. Das gesellschaftliche Gefüge, innerhalb dessen Art for Society um Durchsetzung und 36 An der durch den Kritiker Richard Cork für die Serpentine Gallery ausgerichteten Art for Whom? nahmen teil: Conrad Atkinson, Peter Dunn und Lorraine Leeson, Islington Schools Environmental Project, Public Art Workshop und Stephen Willats.
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Anerkennung zu ringen hatte, war eine dynamische Konstellation von ,rivalisierenden Kräften‘, in der sich die Machtverhältnisse partiell verschieben konnten, etwa dann, wenn einzelne Protagonistinnen und Protagonisten in professionelle Positionen gelangten, innerhalb derer ihr Handlungsspielraum vergrößert und deutungsmächtiger wurde.37 Serota, hauptverantwortlicher Kurator seitens der Whitechapel, agierte geschickt als Vermittler an der Schnittstelle zwischen dem inhaltlich getriebenen Organisationskomitee und dem institutionell befangenen Stiftungsrat. Serota und Rewcastle aber zielten in ihrer funktionellen Anbindung an eines der wichtigsten Ausstellungshäuser für zeitgenössische Kunst in London mit der Ausstellung über lokale Relevanz hinaus. Nicht offensichtlich war dabei allerdings der Abgleich mit einer internationalen Kunstszene, die gerade auch in Bezug auf die Thematik von Kunst und Politik kaum in direkter Weise mit Großbritannien vergleichbar war. Waren zwar in den meisten westlichen Ländern die involvierten Akteurinnen und Akteure immer noch sehr grundlegend mit der Aushandlung des Verhältnisses zwischen den beiden Bereichen beschäftigt, so zeigten sich in der Art und Weise, wie dies unternommen wurde, durchaus kulturell spezifische Eigenheiten. Fand sich etwa im US-amerikanischen Kontext eine starke Hinwendung zu aktivistischen Bestrebungen und Interventionen, die auf die Realpolitik abzielten,38 so stachen in Deutschland unter den unterschiedlichen Ansätzen insbesondere diejenigen hervor, die Kunst als Mittel der politischen Kommunikation im durchaus konstruktiven Sinne verwendet sehen wollten.39 In Großbritannien wiederum galt – im Gegensatz zu den USA und Deutschland – das Interesse weniger den auf Konfrontation ausgerichteten Projekten als solchen, die kooperatives Vorgehen in unterschiedlichster Ausprägung auszutesten versuchten.40 Art for Society schloss partizipative Arbeiten mit ein, verzichtete aber trotz der strikten Präsentation britischer Kunstschaffender konsequent auf die Behauptung einer kulturellen Spezifik. Dadurch war die Ausstellung nicht nur für die zeitgenössischen Kunstschaffenden ein wichtiges, da öffentlich manifestiertes Bekenntnis der 37 Mit Referenz auf Gramsci beschreibt Oliver Marchart die Institutionen als dynamische Konstellationen, innerhalb derer es „zwischen den rivalisierenden Kräften“ ein stetes Ringen um die Vorherrschaft (Hegemonie) gibt. Seine Fallstudie zum Phänomen der Politisierung in der Kunst dekliniert er am Beispiel der documenta-Ausstellungen dX, D11 und d12 durch. Oliver Marchart, Hegemonie im Kunstfeld. Die documenta-Ausstellungen dX, D11, d12 und die Politik der Biennalisierung, Köln 2008, hier S.10. 38 Vgl. dazu die diversen Kritiken von Lucy Lippard in ihrem Sammelband Get the Message? von 1984 (wie Anm. 31). 39 Das ist auch aus der Titelgebung der Ausstellung Kunst im politischen Kampf von 1973 in Hannover ablesbar, auf die sich Art into Society: Society into Art bezog. Zur Spezifik der deutschen Situation vgl. Texte und künstlerische Positionen im gleichnamigen Ausstellungskatalog von 1994 (wie Anm. 30). 40 Das zeigt sich etwa im Vorgehen der Artist Placement Group, die versuchte, Künstlerinnen und Künstler innerhalb bestehender Strukturen (seien dies Betriebe oder die Verwaltung) zu platzieren und dort über vertragliche Vereinbarungen die Zusammenarbeit zu regeln. Aber auch Stephen Willats’ Projekte sind exemplarisch für eine künstlerische Methode, die in engem Austausch mit einer spezifischen lokalen Gemeinschaft das gemeinsame Wissen über ihre Lebensbedingungen zum aktivierenden Impuls aufzubereiten beabsichtigt. Daneben existieren eine Vielzahl unterschiedlichster Community Arts Projekte, die bereits damals staatliche Förderung genossen.
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Whitechapel ihnen und der Thematik gegenüber, sondern gerade auch die Behauptung der Gleichwertigkeit gegenüber einer internationalen Szene.
diskussion claudia tittel41: Können Sie noch einmal thesenhaft verdichten, wie und wo sich Ihrer Meinung nach politische Kunst im White Cube grundsätzlich entfaltet?
rachel mader: Bei einem Gespräch mit Oliver Marchart – dessen Theorie42 ich als eine der brauchbarsten zu diesem ganzen Diskurs erachte, weil er genau diese Verschiebungen, die in diesem Feld und in diesen Institutionen möglich sind, aufgreift – unterhielten wir uns ganz konkret über die Frage, wo sich das, was das Politische ist, formuliert. Ist eine Besucherführung auch eine politische Geste im Rahmen einer Ausstellung, wie es etwa in der Ausstellung Art is not enough von 1996 in der Shedhalle durch Handreichungen versucht wurde?43 Oliver Marchart meinte, dass das Problem vieler politischer Arbeiten im Ausstellungskontext darin liegt, dass sich ihre politische Nachhaltigkeit nicht im politischen Diskurs zeige. Und dagegen habe ich mich gesträubt, da das Politische meiner Meinung nach nicht nur im politischen Diskurs definiert wird. Das Politische kann eben auch sein, dass man die Besucher und Besucherinnen dazu ‚verdammt‘, einen Film von Anfang bis zum Ende anzuschauen, und sie nicht nur zwei Minuten kurz reinschauen lässt.
gürsoy dog˘ taș: Im politischen Diskurs über Kunst konzeptualisiert Oliver Marchart nicht Ästhetik. Mithilfe der Ästhetik, so ließe sich argumentieren, lässt sich das politische Potenzial der Kunst weiter diversifizieren. Sehen Sie das anders?
rachel mader: Nein, ich würde Sie eher bestätigen. Marchart arbeitet immer wieder exemplarisch an Bildern, Aktionen oder politischen Arbeiten, und mir fehlt dabei zum Teil auch die Spezifität im Hinblick auf das, was ich als das genuin Künstlerische bezeichnen würde. Wahrscheinlich muss man das, genauso wie das Politische, jeweils spezifisch am einzelnen Beispiel herausarbeiten, um es zu verdeutlichen. Ich finde, in Marcharts Abhandlung über die Veränderung der politischen Selbstverständnisse der 9., 10. und 11. documenta funktioniert seine Argumentation hervorragend.44 Er stellt hierin dar, wie sich seiner Meinung nach das hegemoniale 41 Claudia Tittel ist wissenschaftliche Assistentin an der Professur Geschichte und Theorie der Kulturtechniken der Fakultät Medien an der Bauhaus-Universität Weimar. Von 2011–2015 war sie wissenschaftliche Assistentin am Lehrstuhl für Geschichte und Ästhetik der Medien an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. An der Tagung When Exhibitions become Politics. Geschichte und Strategien des politischen Ausstellens war sie als Moderatorin beteiligt. 42 Vgl. dazu insbesondere Oliver Marchart, Hegemonie im Kunstfeld. Die documenta-Ausstellungen dX, D11, d12 und die Politik der Biennalisierung, Köln 2008. 43 Anm.: Der Vortrag von Rachel Mader im Rahmen der Tagung When Exhibitions become Politics. Geschichte und Strategien des politischen Ausstellens war der Ausstellung Art is not enough in der Shedhalle in Zürich (12. Juli 1996–9. Februar 1997) gewidmet, daher wurden hier nur jene Teile der Diskussion berücksichtigt, die allgemeine Fragen des Tagungsthemas behandeln. Zur Ausstellung Art is not enough vgl. http://archiv.shedhalle.ch/dt/archiv/1996/ ausstellung/art/artdt.shtml (Letzter Zugriff: 9. September 2015) 44 Marchart 2008 (wie Anm. 42).
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Gefüge verschoben hat; also dass die documenta politischer, und zwar in einem aufgeklärten Sinn politischer, geworden ist; dass sie sich etwa gegenüber Minoritäten-Diskursen geöffnet hat. Bei seinen Analysen von beispielsweise dem öffentlichen Raum oder von aktionistischen Plakaten fehlt mir hingegen eine konzise Besprechung ästhetischer Qualitäten, so wie Sie es beschrieben haben. Aber man muss betonen, dass das auch nicht unbedingt sein Anspruch ist und dass seine Texte im Hinblick auf andere Aspekte wie etwa die Frage nach der institutionellen Hegemonie theoretisch sehr fruchtbar sind.
anna schober: Nach Ernesto Laclau ist das Politische ein Begriff, der nicht substanziell einer Arbeit zugehörig ist, sondern er ist relational. Politisch ist eine Beziehung, eine Relation – etwas, das die Welt, so wie sie ist, und deren Parameter herausfordert.45 Alles kann politisiert werden, auch die ästhetische Ebene einer Arbeit. Oliver Marchart ist durch eine Erklärung oder Übersetzung dieser Zugänge von Laclau/Mouffe bekannt geworden, diese Zugänge stammen jedoch wiederum aus einem sprachwissenschaftlichen Kontext. Deswegen ist es grundsätzlich schwierig, sie mit visueller Kultur in Zusammenhang zu bringen, weil sie diese Ebenen, diesen Reichtum visueller Welten nicht so einfach fassen können. Ich glaube, dass man unter Umständen mehr gewinnt, wenn man auf einen offeneren, relationalen Begriff, wie ihn Ernesto Laclau verwendet, zurückgeht. Man muss diesen Bezug zur visuellen Kultur selbst oder anders herstellen, denn das wird man in dieser Theorie nicht finden.
rachel mader: Dem stimme ich zu.
45 Ernesto Laclau, New Reflections on the Revolution of Our Time, London/New York 1990, S. 68f.
ironie als präsentationstaktik politisch motivierte bezüge zu theorie und kunstpraktiken ‚vor‘ dem faschismus in ausstellungen seit den 1980er-jahren
anna schober das ‚ironische‘ neupositionieren von ausstellungen und museen In einem Mitte der 1990er-Jahre verfassten Text erzählt der deutsche Museumspraktiker und -theoretiker Michael Fehr eine Geschichte von kollektivem Verlust, ja, wie er sagt ‚Trauma‘ –, und präsentiert gleichzeitig eine Art ironische Auflösung dieses Verlustes bzw. Traumas. Der Titel dieser Geschichte lautet Der junge Mann und die kleine, schmutzige Stadt. Sie fasst, wie ihr Autor gegen Ende explizit deutlich macht, „das, was als Folge der von 1900 bis 1921 von Karl Ernst Osthaus entwickelten Initiative in Hagen geschehen ist“1, zusammen, nämlich: die Verkennung einer innovativen Unternehmung in Bezug auf Kunst und moderne Lebenspraxis, Misstrauen, Streit, Krieg, den Verkauf einer der Stadt als Erbe hinterlassenen Sammlung von Werken der Moderne, Neid, den versuchten Neuanfang, Scheitern und weiteren Verlust in Verbindung mit einem zweiten Krieg; den nochmaligen Versuch der Rekonstruktion des Verlorenen, überschattet davon, dass das Verlorene umso glanzvoller erschien, je weiter die Zeit fortgeschritten war, wobei es zugleich immer unmöglicher erschien, die aus dem Verlorenen abgeleiteten Ansprüche zu erfüllen. Zugleich stellt Fehr das Ausstellungsprogramm des von ihm seit Ende der 1980er-Jahre geleiteten Museums in Hagen als Form des Umgangs mit dem in dieser Geschichte angesprochenen Verlust vor.2 Eine der Taktiken, die er an diesem Ort in Bezug auf die Vergangenheit entwickelte, bestand darin, eine Sammlung aus 26 Ölgemälden auf Holz, die Innenansichten und Hauptwerke der verlorenen Sammlung des Museums Folkwang in Hagen repräsentierten, unter dem Titel Moderne Kunst aus dem Museum Folkwang als Dauerleihgabe zu zeigen. Die Ausstellung dieser Bilder war von einer ‚Erklärung‘ begleitet, die Fehr vom Salon de Fleurus, einer New Yorker Non-Profit-Galerie, erhalten haben will und die lautete: „Die Gemälde wurden Ende der achtziger Jahre vom Salon Fleurus im New Yorker Antiquitätengeschäft Debris (…) entdeckt und 1992 gekauft. Nach Auskunft des Besitzers von Debris erhielt er die Gemälde von seinem Vater, der sie seinerseits Mitte der fünfziger Jahre aus Resten des Nachlasses von Ernst Fuhrmann (dem letzten Direktor des Museums Folkwang in Hagen und Nachlassverwalter von Karl Ernst Osthaus, A. S.) 1 Michael Fehr, Text und Kontext. Die Entwicklung eines Museums aus der Reflexion seiner Geschichte, in: ders. (Hg.), Open Box. Künstlerische und wissenschaftliche Reflexionen des Museumsbegriffs, Köln 1998 (= Museum der Museen, Bd. 5), S. 12–43, hier S. 13–18. 2 Ebd., S. 19f.
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anna schober übernommen haben will. Wiewohl gesicherte Daten nicht vorliegen – die Gemälde sind weder signiert noch datiert – spricht vieles dafür, dass die Bilder in der Tat aus dem Besitz von Ernst Fuhrmann stammen, der, von den Nationalsozialisten verfolgt, 1938 nach New York emigrierte und 1956 dort starb. Vermutlich hat er sich (…) die Gemälde in Erinnerung an seine Tätigkeit in Hagen nach Fotovorlagen, die er besaß, von einem anonymen Maler herstellen lassen.“3
Mit dieser Erklärung ist scheinbar zum Abschluss gebracht, was Fehr in der eingangs kurz skizzierten Geschichte ausgeführt hatte: Der einschneidende Verlust erscheint symbolisch aufgehoben, wobei, wenn schon nicht Originale, so doch originalgetreue Kopien zum Einsatz gekommen waren. Letztere boten jedoch den zusätzlichen Effekt, dass ihr gelblicher Farbton – da sie von Schwarz-Weiß-Reproduktionen ihren Ausgang nahmen – wie eine Art Stachel den Verlust weiterhin präsent hielt. Wie sich aber vielleicht schon erahnen lässt, ist diese Geschichte damit noch nicht wirklich zu Ende. Denn die ab 1994 in Hagen gezeigten 26 Werke aus dem Museum Folkwang wurden nicht, wie in der den Bildern beigegebenen Erklärung angeführt, von Ernst Fuhrmann selbst, sondern vom Museumsdirektor Michael Fehr in Auftrag gegeben. Sie waren Teil eines künstlerischen Konzepts, das darin bestand, kulturhistorisch als wichtig erachtete Ereignisse und Ausstellungsorte wie etwa die Armory Show in New York (1913) oder den Salon in der Rue de Fleurus in Paris von Gertrude und Leo Stein (1903–1914) durch Malerei zu reflektieren. Zugleich war die symbolische, von Augenzwinkern begleitete ‚Rückführung‘ der Gemälde nach Hagen Teil eines breiteren Ausstellungsprogramms, das Fehr auch als „ironisches Museum“4 bezeichnete. Diesen Begriff entlehnte Michael Fehr von Stephen Bann, der ihn in Zusammenhang mit seiner Auseinandersetzung mit Formen der Repräsentation von Geschichte vom 18. bis ins 20. Jahrhundert entwickelte. Über eine von der meta-historischen Diskursforschung Hayden Whites inspirierte Analyse der Rhetorik einer ganzen Reihe von Repräsentationsmedien von Geschichte (historische Romane, Historiengemälde, Sammlungen und Museumspräsentationen, Lithografien, Fotografien, Dioramen und Filme) konnte Letzterer zeigen, dass der Poetik des modernen Museums – wofür er z. B. das Victoria & Albert Museum in London als paradigmatisch ansah – ein stetiger Wechsel zwischen metonymischen Sequenzen, etwa ‚Jahrhunderträumen‘, und synekdochischen Präsentationsabschnitten, etwa ,Themenräumen‘, innewohnt. 5 Hier treten Präsentationsformen zusammen auf, die sich in den vorangehenden Jahrhunderten tendenziell eher abgelöst hatten, wobei Bann für das klassische Zeitalter Ende des 18. Jahrhunderts die metonymische Präsentationsweise und für die Romantik Mitte des 19. Jahrhunderts die synekdochische Inszenierung als charakteristisch ansah.6 Zugleich 3 Ebd., S. 37f. 4 Ebd., S. 12. 5 Stephen Bann, The Clothing of Clio. A study of the representation of history in nineteenth-century Britain and France, New York 1984, S. 91. 6 Das klassische Museum Ende des 18. Jahrhunderts – etwa Alexandre Lenoirs Musée des Petits-Augustins – wies, so Bann, eine metonymische Präsentationsform auf, d. h. monumentale Fragmente werden in einer Weise versammelt, dass sie je metonymisch auf ein Jahrhundert verweisen, ohne dass weitere Beziehungen und Assoziationen zwischen ihnen deutlich gemacht
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sieht er auch eine Sensibilität des Publikums, das ganz selbstverständlich gewohnt ist, zwischen diesen Präsentationsformen hin- und herzuwechseln und zwischen den Varianten erfindungsreicher Präsentation zu oszillieren, als Hinweis auf eine solche Ausbildung einer modernen, ironischen Museumskultur. ‚Ironie‘ steht dabei für Bann ganz generell für den Umgang mit einer existenziellen Ambiguität, der versucht, diese offen zu halten und zu nutzen, wobei er auf der Relativität von Positionen beharrt. Diese Bedeutung von Ironie grenzt er von einer anderen Verwendung des Begriffs ab, wie sie etwa im 18. Jahrhundert dominierte, in der es eher darum ging, Werte des Urbanen, einer kühlen und unerschütterlichen Distanziertheit und Reflexion sowie einer zeitlosen Eleganz der Form gegenüber der Formlosigkeit unkontrollierter Leidenschaft und ungeordneter Inhalte zu verteidigen. Diese mit Ironie verbundenen explizit urbanen Werte zirkulierten allein in kleinen Kreisen einer gesellschaftlichen Elite, während Ironie in der Hochmoderne des ausgehenden 19. und 20. Jahrhunderts zu einer weiter verbreiteten Taktik der Verteidigung einer kulturellen Haltung und der Beantwortung von Fragen zu Sinn und Richtung avanciert war, die sich nun in neuer Weise und ohne die Geländer gesicherter Tradition stellten.7 Obwohl Stephen Bann auf diese Weise unterschiedliche Formen des Verständnisses von Ironie präsent hält und einer ganzen Breite an oft suchenden und oszillierenden Umgangsweisen mit ihr nachgeht, präsentiert er sie an manchen Stellen durchaus auch als Taktik und Konzept, etwa wenn er von einer „anti-realist tactic“ spricht, „which successfully subverts the conventions of historical discourse“.8 Hier wird Ironie zu einem gelungenen Effekt von Distanzierung, ja gar der Subversion – zugleich setzt er den Begriff aber auch ganz generell für Verfahren der Unterbrechung von Erzählung bzw. des Abgleitens ein, die unsere Aufmerksamkeit auf die Erscheinungsform und den Rhythmus des Repräsentierten legen und wo die poetische Funktion gegenüber der referenziellen in den Vordergrund rückt.9 Diese letztere Bestimmung von Ironie als Mittel und Taktik der Distanzierung und Herausforderung des Gegebenen ist es auch, an der Michael Fehrs Konzeption des ironischen Museums anknüpft – wobei beide, Bann und Fehr, Teil eines größeren Diskurszusammenhangs in Bezug auf historisches Ausstellen sind, der mit dem Umbruch hin zur Postmoderne seit den ausgehenden 1960er-Jahren an Bedeutung gewinnt und dem ich in diesem Text genauer nachgehen werde. werden. Die Objekte werden in dieser Präsentationsweise tendenziell voneinander isoliert, zu vereinzelten Monumenten, die in einer eher zerstreuten Weise einen Zeitabschnitt präsent halten. Solche Präsentationen werden, wie Stephen Bann herausarbeitete, im 19. Jahrhundert von eher synekdochisch argumentierenden Präsentationen abgelöst, für das etwa das Musée du Cluny von Alexandre du Sommerard als Beispiel gelten kann. Hier werden historische Objekte in Form von thematischen Präsentationen (‚religiöses Leben‘ oder ‚Leben und Arbeiten in der Küche‘) eher integrativ und erfindungsreich aufeinander bezogen – ein Teil repräsentiert ein größeres Ganzes – und in ein mythisches System von Geschichte integriert. Zugleich veränderte sich auch die Art der versammelten Objekte: Während das klassische Zeitalter in erster Linie monumentale Fragmente präsentiert, zeigt du Sommerards Musée du Cluny z. B. eine viel größere Breite an kostbaren wie alltäglichen Dingen. Ebd., S. 85–88. 7 Ebd., S. 114f. 8 Ebd., S. 120. 9 Ebd.
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abb. 1 silence, osthaus museum hagen, 15.–18. januar 1988. ansicht: bildersaal während der ausstellung
Der Begriff des ‚ironischen Museums‘ wurde von Michael Fehr im Osthaus Museum jedoch zugleich auch in einem recht breiten Verständnis eingesetzt, das verschiedenste, an künstlerischen, ja avantgardistischen Verfahren geschulte Präsentationsweisen einbezog.10 Beispiel dafür war neben der bereits erwähnten Präsentation Moderne Kunst aus dem Museum Folkwang auch Silence (1988), eine Ausstellung, die in Anlehnung an John Cages Stück 4‘33‘‘ (1952) gestaltet war und dementsprechend ein weitgehend leergeräumtes Museum zeigte. (Abb. 1) Alles, was in irgendeiner Weise bildlichen Charakter besaß, inklusive eines Minne-Brunnens und Lampen, die Architekturdetails in den Vordergrund rückten, wurde aus dem Haus entfernt.11 Eine wieder etwas andere 10 In dem Beitrag „Das Ironische Museum“, der Teil des für die bundesdeutsche Museumsdebatte der 1980er-Jahre sehr repräsentativen und einflussreichen Sammelbandes Geschichte sehen war, definierte Bann dieses als Form des rhetorischen Argumentierens im Museum, „die sich sowohl der integrativen, verbindenden Mechanismen der Synekdoche als auch der dispersiven, isolierenden Mechanismen der Metonymie (bedient, A. S.). Es trachtet nicht danach, sie zu hierarchisieren oder zwischen ihnen zu wählen; vielmehr scheint es sich zwischen beiden zu bewegen, indem es die wechselnden Bewusstseins- und Wahrnehmungsmöglichkeiten des Publikums nutzt“. Stephen Bann, Das Ironische Museum, in: Jörn Rüsen/Wolfgang Ernst/ Heinrich Theodor Grütter (Hg.), Geschichte sehen. Beiträge zur Ästhetik historischer Museen, Pfaffenweiler 1988, S. 63–68, hier S. 63. 11 Fehr 1998 (wie Anm. 1), S. 19f.
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abb. 2 vom trümmerfeld ins wirtschaftswunderland. 1945–1955, osthaus museum hagen, 22. april–12. juni 1988, kuratiert von enno neumann
Materialisierung dieses Museumskonzepts war die Ausstellung Vom Trümmerfeld ins Wirtschaftswunderland (1988, in Bochum 1986–1987) von Enno Neumann, damals Kunsthistoriker des Stadtarchivs Bochums. (Abb. 2) Sie präsentierte thematische Objektcollagen aus „ungefähr vier Lastwagenladungen historischen Mülls“,12 wobei es in Bezug auf verarbeitete Medien und zeitliche Festschreibungen keine Grenzen gab – alles, was sich auf den Zeitraum 1945 bis 1955 beziehen ließ, wurde mitverarbeitet. Wie auch spätere Gestaltungen Neumanns für das Hagener Museum, so inkludierte auch diese „einerseits Inszenierungen von Fragmenten mit langer Tradition, deren Vorbestimmung es allerdings gewesen ist, nicht zusammen aufzutreten, andererseits aber Objekte des täglichen Lebens, die unter historisch-sozialem und menschlich-anekdotischem Aspekt die erfüllte Vergangenheit in der ‚Jetztzeit‘ (Walter Benjamin) konstruktiv einsetzen.“13
Mit solchen an der bildenden, ja oft avantgardistischen Kunst orientierten Präsentationsformen trat Fehr anderen Konzeptionen des Museums entgegen, die er für seinen 12 Ebd., S. 26f. 13 Neumann bezieht sich hier auf die Installation Kultspuren (1990). Enno Neumann, Kultspuren. Revolution, Krieg, Hunger, Barschel und Aids – eine Installation im Ernst Osthaus Museum, in: Michael Fehr (Hg.), Imitationen. Das Museum als Ort des Als-Ob, Köln 1991, S. 62–65, hier S. 62.
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Umgebungsraum als kulturell dominant ansah: etwa dem „Anstaltscharakter vieler Museen“, ihrer Konzeption als eine Art „Weiße Kunst-Klinik“, die darin besteht, dass sie das dargestellte Material „aller Zufälligkeiten und persönlichen Bezüge entkleide(n), als Beleg für wie immer legitimierte, mehr oder minder abstrakte Kanons“ einsetzen „und im besten Fall als Anker für bestimmte Abschnitte der ‚großen Erzählung‘ vorweisen“.14 Zugleich repräsentierte diese Ausstellungsästhetik für ihn auch eine generelle kulturelle Haltung gegenüber einer „in der letzten Dekade rapide voranschreitenden Kommerzialisierung der Kultur und ihrer damit verbundenen Neuformatierung nach Maßgabe der in den Massenmedien entwickelten Standards“.15 Solche die Form der Inszenierung in den Vordergrund spielende Präsentationen stellen aber auch einen Bruch in der Ausstellungsbiografie Fehrs da: Mit ihnen bewegte er sich weg von frühen Gestaltungen, die daraufhin ausgerichtet waren, „das Kunstmuseum für sozialpolitische Fragestellungen – z. B. für Fragen der Stadtplanung und die Sache der sogenannten Gastarbeiter“16 zu öffnen und hin zu einer „Repositionierung des Museums (…) als Thematisierung seiner eigenen Episteme und der damit verbundenen inhaltlichen Vorstellungen“17. Dieses Interesse führt wieder zurück zu Stephen Bann, dem Namensgeber des ‚ironischen Museums‘, der ausgehend von Studien Michel Foucaults ebenfalls die verschiedenen von ihm identifizierten Stile der Repräsentation von Geschichte mit breiteren epistemologischen Konfigurationen und diesbezüglichen Umbrüchen in Beziehung setzte.18 Fehr verbindet das von Bann für die Moderne identifizierte, auf Ironie setzende Museumsmodell jedoch noch stärker als dieser mit Möglichkeiten der Selbstthematisierung und Distanzierung. Das Konzept des ‚ironischen Museums‘ wurde in der BRD der späten 1980er- und 1990er-Jahre auch von anderen im Ausstellungsbetrieb Tätigen aufgegriffen, insbesondere um den Umgang mit Geschichte im Museum neu zu definieren. Jürgen Franzke etwa, späterer Direktor des Deutsche-Bahn-Museums in Nürnberg, plädierte in einer Auseinandersetzung mit der Praxis des Ausstellens von Industrie- und Alltagskultur ebenfalls dafür, die von Bann angesprochene ‚ironische‘ Verbindung von (metonymischer) Jahrhundertraum-Präsentation und (synekdochischer) Themenraum-Präsentation mit nachdrücklich Distanz schaffenden Ausstellungspraktiken zu ergänzen.19 Darunter verstand er Inszenierungen, „die von dramatischer Steigerung, Verfremdung, Ironie bis zur Karikatur reichen“20 und insbesondere einen spielerischen Umgang mit historischen Objekten, „Brechungen, Verfremdungen, Illusionen und Irritationen einschlossen“. „Alle diese Mittel“, so argumentiert Franzke weiter, sollten genutzt werden, „um die 14 Fehr 1998 (wie Anm. 1), S. 41. 15 Ebd., S. 13. 16 Ebd., S. 12. Beispiel dafür ist der Band: Michael Fehr (Hg.), Kultur im Migrationsprozess. Tendenzen einer neuen europäischen Kultur, Berlin 1982. 17 Fehr 1998 (wie Anm. 1), S. 12. 18 Bann 1984 (wie Anm. 5), S. 82. 19 Jürgen Franzke, Sakral und schockierend – Die Darstellung historischer Wirklichkeit im Museum, in: Rüsen/Ernst/Grütter 1988 (wie Anm. 10), S. 69–81, hier S. 75. 20 Ebd., S. 74.
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Neugier des Besuchers anzuregen, um Bildassoziationen und Narrativität in Gang zu bringen.“21 Eine solche ,produktive‘ Irritation des Publikums wurde von Jürgen Franzke unter Rückbezug auf die Ästhetik und Geschichtstheorie Walter Benjamins als das Erzeugen eines „Wahrnehmungsschocks“ interpretiert, der „gesteigerte Geistesgegenwart“ hervorrufen könne.22 Franzke setzte sich demnach für Präsentationen ein, die den ästhetischen Geheimnischarakter der Dinge – „Geheimnis, Ferne, das Bild der Vorwelt, verschleiert durch die Tränen des Heimwehs“23 – sowohl in den Vordergrund der Inszenierung rücken als auch aufbrechen, und zwar über eine „Etablierung der Vernunft im Diskurs“24 – wobei er sowohl Ersteres als auch Letzteres mithilfe von Benjamin-Zitaten untermauerte. Seine in Bezug auf den Umgang mit historischen Objekten der Alltagswelt unter Rückbezug auf Walter Benjamin aufgestellte These lautete, kurz zusammengefasst, folgendermaßen: Die auratische Dimension des Erinnerns gelte es anzuerkennen; zugleich sei mit dem Kapitalismus eine Art mythischer Traumschlaf über Europa gekommen, der von den Historikern und Historikerinnen durchbrochen werden könne und müsse, wofür er bestimmte spielerische bzw. ‚ironische‘ Formen der inszenatorischen Gestaltung in Museen und Ausstellungen als wirkmächtig erachtete.25 Auch Jürgen Franzke trat mit einer solchen Konzeption den von ihm als kulturell dominant angesehenen Inszenierungspraktiken im Museum entgegen, insbesondere solchen, denen ein „scheinbar neutralisierender Impetus innewohnt“ und die auf „im Grunde bereits in der Aufklärung entwickelten Vorstellungen vom wissenschaftlichen Charakter der Museumsarbeit“ beruhen würden, die „in der Krise nach Staat und Nation, nach der Zerstörung Deutschlands 1945, noch einmal betont“ worden sei.26 Ähnlich wie Michael Fehr und Jürgen Franzke argumentierte auch der Ethnologe und Ausstellungsmacher Gottfried Korff, der u. a. für wichtige Großausstellungen dieser Jahre wie Preußen. Versuch einer Bilanz (Berlin 1981) und Berlin. Berlin. Die Ausstellung zur Geschichte der Stadt (Berlin 1987) mit verantwortlich zeichnete. (Abb. 3) Auch dieser stellte in den Vordergrund, dass in Ausstellungen mittels historischer Objekte und Kunstwerke „argumentiert“27 werden könne, d. h. eine Interpretation sollte auch seiner Ansicht nach in erster Linie durch die Art und Weise der Komposition der historischen Überreste in Zusammenspiel mit der Ausstellungsarchitektur erfolgen und die Inszenierung von ausschweifenden anderweitigen Gestaltungen (etwa mittels Vitrinen, Sockeln oder nachgebauten Szenarien) frei gehalten werden. Zugleich sah auch Korff die ästhetische Taktik der „ironisch gebrochenen Montage“28 historischer 21 22 23 24 25 26 27
Ebd., S. 79. Ebd., S. 76. Ebd., S. 72. Ebd., S. 73. Ebd., insbes. S. 72f. Ebd., S. 70. Gottfried Korff/Reinhard Rürup, Zur Ausstellung, in: Berlin, Berlin. Eine Ausstellung zur Geschichte der Stadt, Ausst.-Kat. Martin-Gropius-Bau, Berlin 1987, S. 18–20, hier S. 19. 28 Gottfried Korff, Objekt und Information im Wiederstreit, in: Museumskunde 49/1984, S. 83–93, hier S. 90f.; vgl. Gottfried Korff, Die Popularisierung des Musealen, in: Gottfried Fliedl (Hg.), Museum als soziales Gedächtnis? Kritische Beiträge zu Museumswissenschaft und Museumspädagogik, Klagenfurt 1988, S. 9–23, hier S. 18f.
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abb. 3 berlin. berlin. die ausstellung zur geschichte der stadt, martin gropius bau, berlin, 15. august–22. november 1987. ansicht: abteilung die befreiung des körpers
Objekte als besonders effektiv dafür an, kritisches Geschichtsbewusstsein vermitteln zu können. Durch eine solche von ironischen Objekt-Konfrontationen und betontem Assemblage-Charakter geprägte Erzählung mittels historischer Objekte und Kunstwerke könne, so Korff, Folgendes erzielt werden: Der konstruierte Charakter einer Geschichtspräsentation könne offen gehalten, der „fatale Schein kompletter Anschaulichkeit“ durchbrochen und auf Seiten des Publikums „gesteigerte Geistesgegenwart“ hervorgebracht sowie blitzhaft, weil bildhaft und unterhaltsam, Wissen produziert werden.29 Auf diese Weise veranlasse diese Form der Inszenierung zu Neugierde und bringe „Sensibilität und Spürsinn im Dechiffrieren historischer Monumente und Dokumente der Vergänglichkeit“30 hervor. Diese Sicht untermauerte Korff ebenfalls mit Zitaten von Walter Benjamin, insbesondere zu „dialektischen Bildern“, zur Aufklärung durch überraschende, bildhafte Information und zu einer der Moderne eigenen, schockförmigen und ereignishaften Wahrnehmungsstruktur. Zugleich diente die Kunstpraxis der Dadaisten und Surrealisten, auf die sich Benjamin in manchen Formulierungen
29 Korff 1984 (wie Anm. 28), S. 91; zu dieser Argumentation siehe auch: Anna Schober, Montierte Geschichten. Programmatisch inszenierte historische Ausstellungen, Wien 1994, S. 86f. 30 Ebd., S. 89f.
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bezog, ebenfalls als wichtiger Bezugspunkt für den von ihm vorgebrachten Entwurf einer Praxis des Ausstellens von Geschichte.31 Gottfried Korff, Jürgen Franzke und in stärker auf Kunstmuseen ausgerichteter Form auch Michael Fehr wurden hier von mir stellvertretend für eine Tendenz im bundesdeutschen Kulturbetrieb der 1980er- und 1990er-Jahre erwähnt, in der Ausstellungen als Orte neu definiert wurden, an denen über spezifische ästhetische Veranstaltungen veränderte Wahrnehmungsformen hervorgerufen werden können und die sowohl den dominanten Formen der Geschichts- und Kunstpräsentation der unmittelbaren Nachkriegszeit als auch dem kommerziellen, von den Massenmedien geprägten Geschichts- und Kulturbetrieb der Gegenwart entgegentreten sollten. Diesem Zugang erscheinen künstlerische, der Avantgarde-Tradition entlehnte Verfahrensweisen als Bezugspunkte, die auf eine andere, bessere im Sinne von ,emanzipiertere‘ bzw. ,aufgeklärtere‘ Welt verwiesen. Zugleich ist diese Tendenz trotz der aufgezeigten Bezüge keineswegs in sich homogen, sondern von Auseinandersetzung und Abgrenzungen geprägt. So schreibt beispielsweise die Kuratorin Marie Louise von Plessen das von ihr gemeinsam mit dem Künstler Daniel Spoerri entwickelte und verschiedenen Orts durchgeführte Konzept des Musée Sentimental (etwa als Musée Sentimental de Cologne, Köln 1979 oder als Musée Sentimental de Prusse, Berlin 1981, realisiert) in diesen Diskurszusammenhang ein, wenn sie festhält, dass die Sammlung von historischen Objekten und Dokumenten zum Stichwort Köln und ihre alphabetische Anordnung nach anekdotischen, gefühlsgeleiteten Gesichtspunkten mit dem Ziel verbunden war, „Dinge, die zunächst nichts miteinander zu tun haben, scheinbar gleichwertig nebeneinander (zu, A. S.) ordnen (…). Damit haben wir natürlich geltende Ordnungskriterien empfindlich verletzt. Daraus entstanden wieder Bezüge, die geradezu phantastisch waren, weil die einzelnen Dinge anfingen, miteinander zu kommunizieren und zum Leben erweckt wurden aus dem Dornröschenschlaf der Unverbundenheit. Da hatten wir unter A die Aktentasche von Adenauer mit seiner Rosenschere, die in der Vitrine direkt konfrontiert war – eben durch den Verlauf der Anordnung des Alphabets – mit verschiedenen Dessous von der ersten Mieterin im neugegründeten Eros-Centre, so daß (sic!) Spannungswelten der Irritation zwischen den Gegenständen entstanden. Dem konnte sich eigentlich auch kein Besucher entziehen, denn er war zu Assoziation oder Abwehr gezwungen.“32
Auch von Plessen intendierte mit dem Konzept des Musée Sentimental also, die Neugierde des Publikums, seinen Spürsinn in Bezug auf Geschichte, anzuregen. Zugleich nimmt sie viel expliziter als andere Vertreter dieser Tendenz eine Rolle als ‚Autorin‘ ein – ja sie bezeichnet ihren Zugang analog zum Autorenfilm auch als „Autorenmuseum“.33 31 Dazu ausführlich: Schober 1994 (wie Anm. 29), S. 72–77. 32 Marie-Louise von Plessen, Autoren-Museum, in: Olaf Schwencke (Hg.), Museum – Verklärung oder Aufklärung. Kulturpolitisches Kolloquium zum Selbstverständnis der Museen, Loccum 1986 (= Loccumer Protokolle 52), S. 164–170, hier S. 166f. 33 Ebd., S. 164.
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Gerade dies wird jedoch zum Anstoß der Kritik. So wird das Konzept des Musée Sentimental z. B. von Michael Fehr dahingehend beanstandet, dass mit dem Fokus auf Objektarrangements, die in erster Linie auf Assoziationen beruhen, die Instanz des Kurators bzw. der Kuratorin in Bezug auf die Interpretation von Geschichte zu sehr in den Vordergrund gespielt sowie synthetische Leistungen in erster Linie dem Betrachter bzw. der Betrachterin abverlangt würden, denen auf diese Weise eine (scheinbare) Produzentenrolle zugesprochen werde.34 Obwohl alle dieser Tendenz zurechenbaren, hier kurz skizzierten Ausstellungskonzepte künstlerische und spielerische Umgangsweisen mit historischen Objekten stark machen und so die Position des Kurators bzw. der Kuratorin stärken und zugleich von einer idealen Betrachterfigur ausgehen, die Neugierde und Spürsinn entwickelt, sich irritieren bzw. herausfordern lässt und interpretative Eigenaktivität entfaltet, wird hier eine Abgrenzung gegenüber einem Zugang vorgenommen, der explizit in Zusammenarbeit mit einem Künstler entwickelt wurde und die Autorenposition offensiv vertritt, dabei allerdings weniger auf Ironie denn auf gefühlsorientierte Bezüge setzt.
ein transnationaler bezugsrahmen, regional je anders zugespitzt Wie die hier skizzierten Zugänge von Michael Fehr, Jürgen Franzke und Gottfried Korff deutlich machen, wurde das von Stephan Bann geprägte Konzept eines ‚ironischen Museums‘ in der BRD der 1980er-Jahre wiederholt in ähnlicher Weise adaptiert. Die Spezifizität dieser Adaptionen tritt noch etwas deutlicher in Erscheinung, wenn man sie mit einer in etwa zeitgleichen kritischen Verhandlung von Ausstellungspraxis in einem anderen regionalen Kontext vergleicht. Im Folgenden nehme ich die kritische Lektüre, die von der britischen Kunsthistorikerin Griselda Pollock in Bezug auf Kunstausstellungen der 1980er-Jahre vorgelegt wurde, als Beispiel für einen solchen Vergleich – weil an ihr eine methodische Nähe zur Argumentation von Fehr, Franzke und Korff erkennbar wird und so zugleich auch signifikante Differenzen diesen Positionen gegenüber greifbar werden. Auf die Ausstellung Difference. On Representation and Sexuality, die 1985 im ICA (Institute of Contemporary Arts) in London stattfand, antwortete Pollock mit einer Analyse, der sie, wie der Titel ihrer Auseinandersetzung „Screening the seventies: sexuality and representation in feminist practice – a Brechtian perspective“35 deutlich macht, eine ,Brecht’sche‘ Prägung gab, wobei sie sich zugleich auch auf methodische Zugänge der Filmtheorie-Zeitschrift Screen bezog. In letzterer waren in den 1970er- und 1980er-Jahren ebenfalls häufig Brückenschläge zur ästhetischen Theorie Brechts, aber auch Walter Benjamins zu finden.36 Zugleich positionierte sie sich in 34 Michael Fehr, Aufklärung oder Verklärung, in: Rüsen/Ernst/Grütter 1988 (wie Anm. 10), S. 110–123, hier S. 117f. 35 Griselda Pollock, Screening the seventies: sexuality and representation in feminist practice – a Brechtian perspective, in: dies., Vision & Difference. Femininity, Feminism and the Histories of Art, London/New York 1988, S. 155–199. 36 Zur Rezeption der ästhetischen Theorien Bertold Brechts und Walter Benjamins in der Zeitschrift Screen seit den frühen 1970er-Jahren siehe: Anna Schober, Ironie, Montage, Verfremdung. Ästhetische Taktiken und die politische Gestalt der Demokratie, München 2009, S. 166f.
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diesem Beitrag auch politisch, indem sie ein kritisches Konzept künstlerischer Praxis verteidigte, das sie in ihrem Umgebungsraum zugleich als marginalisiert ansah. Zum einen trat sie auf diese Weise einem „post-modernism of reaction“ entgegen, für den sie Ausstellungen neoexpressionistischer Kunst wie The New Spirit of Painting (1981) in der Royal Academy of Art als symptomatisch ansah.37 Zum anderen konfrontierte sie so auch andere alternativ auftretende feministische Praktiken, die positive Gegenbilder voll von Ganzheit und Idealisierung vermitteln. In letzteren meinte sie auch eine „dominant pacification of populations“ wiederzuerkennen, „(which, A. S.) takes place through passive consumption of meanings naturalized through realist modes of representation“.38 Ähnlich wie Franzke oder Korff Taktiken der Distanzierung und Bewusstmachung in ästhetischen Verfahrensweisen der Montage oder der verfremdenden Irritation verorten, bringt auch Griselda Pollock den von ihr konstatierten reaktionären oder befriedenden Tendenzen gegenüber des-identifizierende Strategien („dis-identificatory strategies“) ins Spiel, die sie ebenfalls mit ästhetischen Taktiken der Montage und Unterbrechung in eins setzt. Diesbezüglich nennt sie z. B.: „(…) the use of montage, disruption of narrative, refusal of identification (...), the intermingling of modes from high and popular culture, the use of different registers such as the comic, tragic as well as a confection of songs, images, sounds, film and so forth.“39 Diese Taktiken bezeichnet Pollock auch als ,Brechtian‘, d. h. von Brecht hergeleitet, wobei sie ihnen zugleich eine vehement ideologiekritische Wirkung zuschreibt –, und zwar: „(…) displacing the spectator from identifying with the illusory fictional worlds offered in art, literature and film disrupting the ‚dance of ideology‘ which engages us on behalf of oppressive regimes of class, sexist, heterosexist and racist classifications and placements.“40
Dabei werde, so Pollock weiter, über den Einsatz solcher ästhetischer Taktiken der Betrachter bzw. die Betrachterin auch neu erfunden, „as someone who will engage, remember, reflect and reconstitute.“41 Die auf diese Weise stark gemachten ästhetischen Taktiken der Montage, Unterbrechung und Vermischung zielen also auch in ihrer Argumentation auf das Hervorbringen eines reflektierten, emanzipierten Publikums ab. Im Unterschied zur eingangs skizzierten Ausstellungs- und Museumstheorie in der BRD der 1980er- und 1990er-Jahre sind im Zugang Griselda Pollocks demnach die ideologiekritischen Töne stärker akzentuiert. Taktiken der Montage, der Verfremdung und Irritation werden zum Zwecke einer Distanzierung von herrschenden, von ihr auch als ,patriarchal‘ identifizierten Wahrnehmungsgewohnheiten ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt. Zugleich ist ihr Zugang von einem Rückbezug auf die Ästhetik Bertolt Brechts geprägt – wenngleich dieser auch im britischen Kontext, vor allem 37 38 39 40 41
Pollock 1988 (wie Anm. 35), S. 156. Ebd., S. 179, 181. Ebd., S. 164f. Ebd., S.158, 162f. Ebd., S. 169.
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im Diskurs der Zeitschrift Screen, auf den Pollock sich nachdrücklich bezieht, meist in Verein mit Walter Benjamin rezipiert wird.42 Zudem schlägt auch Stephen Bann in seinem Entwurf einer Theorie ironischer Repräsentationsweisen von Geschichte einen Bogen zur ästhetischen Theorie Brecht’scher Ausprägung, wie sie in Screen ausformuliert wurde43 – womit der in diesem Beitrag abgesteckte Diskussionszusammenhang als ein transnationaler, wenn auch zugleich je anders regional ausgeprägter greifbar wird. Gegenüber der britischen Rezeption ist die Verhandlung von visuellen Geschichtsrepräsentationen im bundesdeutschen Kontext und hier insbesondere in Verbindung mit historischen Ausstellungen und Museen viel nachdrücklicher von einem Rückbezug auf die Ästhetik und Geschichtsphilosophie Walter Benjamins geprägt. Dies geht meist mit einer Betonung des Authentizitätscharakters von historischen Objekten, ihrem Zeugnischarakter, einher – etwas, das in Großbritannien in Verbindung mit einer Rezeption Benjamins vor allem von John Berger44 eingebracht wird. Neben solchen Unterschieden weisen die in Großbritannien und der BRD vorgebrachten Argumente jedoch überraschend starke Parallelen auf. Ästhetische Taktiken wie die Montage, die Collage, die Verfremdung, die Ironie oder das Zusammenbringen unterschiedlicher Repräsentationsstile bzw. von hoch- und populärkulturellen Erzeugnissen visueller Kultur an einem Ort werden stets als über Irritation und Unterbrechung die Neugierde und Aufmerksamkeit des Publikums anregend und als mit ‚Kritik‘ und ‚Reflexion‘ einhergehend bewertet und sogenannten ‚konventionellen‘ oder ‚dominanten‘ ästhetisch-politischen Stilen gegenübergestellt. Auf diese Weise werden den angewandten ästhetischen Taktiken gleichsam essenzielle ideologiekritische oder gar politische Bedeutungen – im Sinne von ‚progressiv‘ versus ‚reaktionär‘ oder ‚aufklärend‘ versus ‚verklärend‘ – zugeschrieben, ganz abgesehen von der Pluralität, in der sie eventuell von den Betrachtern und Betrachterinnen genutzt werden und von den diversen Reaktionen und Weiterverhandlungen, die sie effektiv hervorrufen. Wie eindimensional dieses Bewertungsmuster ist, wird retrospektiv besonders dann deutlich, wenn man die recht karg in dieser Literatur Erwähnung findenden Reaktionen auf diese Präsentationen einbezieht, die nicht den intendierten Effekten der Kuratierenden entsprechen. Diesbezüglich erwähnt Michael Fehr etwa den Typus des sogenannten „Ressentiment-Besuchers“, der nicht wie der ideale, mitgedachte Besucher der von ihm kuratierten Ausstellungen Neugierde entwickelt und seine Wahrnehmungsgewohnheiten kritisch hinterfragt, sondern der stets dieselben Vorbehalte vorbringt und dessen Gedächtnis „wie jedes lebende Gedächtnis beeinflussbar ist und generell dazu tendiert, vor allem das zu behalten, was anderweitig bestätigt und abgesichert ist“.45 Aber auch im kunsthistorischen Diskurs kommen in Zusammenhang mit die42 Beispiel dafür ist der Beitrag von Stephen Heath, Lessons from Brecht, Screen 15.2/1974, S. 103–111. 43 Bann bezieht sich dabei auf den Historienfilm als Autorenfilm. Siehe: Bann 1984 (wie Anm. 5), S. 167. 44 Etwa in „Ways of Seeing“, einem Essay, der auf einer 1972 ausgestrahlten, gleichnamigen BBC-Sendung von John Berger beruht. Vgl. John Berger/Sven Blomberg/Chris Fox/Michael Dibb/Richard Hollis, Ways of Seeing, London 1972. 45 Fehr 1998 (wie Anm.1), S. 24.
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sen Ausstellungen an manchen Stellen andere Erfahrungen zur Sprache. So rezipierte etwa Irit Rogoff manche dieser Präsentationen wie Berlin. Berlin. Die Ausstellung zur Geschichte der Stadt (1987) im Martin-Gropius-Bau in gänzlich gegenläufiger Weise zu den Intentionen der Kuratorenschaft als „Fragmentierung“ und „Feminisierung“.46 Denn hier werden, so Rogoff, „armselige, geschändete und bruchstückhafte Relikte der Zeit in den Vordergrund gestellt: extensive Auslagen mit verbrannten und zerknitterten Ausweisen, Bündel von den gelben Judensternen, von Motten zerfressene KZ-Uniformen, klägliche geheim gehaltene Spielzeuge usw. In dieser Form der Ausstellung wird nicht nur die Haupterzählung der Zeit (des Faschismus, A. S.) auseinandergebrochen, sondern sie wird darüber hinaus durch das Zurückgreifen auf sehr bescheidene Objekte des täglichen Lebens in die häusliche Sphäre integriert.“47
Für diese Präsentationsform verwendet Rogoff auch den Begriff „Sammelsurium“, wobei die „mittels einer angeblich ausgefallenen und subjektiven Auswahl“ versammelten Objekte in ihrer Lektüre jedoch vor allem eine „Aura des Häuslichen und des Willkürlichen“ ausstrahlen.48 Konträr zu den Intentionen der Ausstellungsmacher, Bezüge und ironische Kollisionen zwischen den Objekten herzustellen, nahm Rogoff demnach eine Fragmentierung, ja sogar eine fetischartige Behandlung der Objekte wahr. Zugleich stellt sie in Bezug auf solche Ausstellungen eine ähnliche Willkürlichkeit in der Auswahl der materiellen Überreste und subjektbezogenen Autorenschaft der Inszenierung der historischen Objekte zueinander fest, wie sie Michael Fehr allein in Bezug auf das Musée Sentimental kritisch konstatiert hatte.
rückbezüge auf theorie und kunst ‚vor‘ dem faschismus In allen hier angesprochenen Konzeptionalisierungen ist die Argumentation für eine Re-Positionierung des Mediums Ausstellung eng von einem Rückbezug auf Schriften Walter Benjamins und Bertolt Brechts sowie auf die Kunstpraktiken von Dadaismus und Surrealismus geprägt. Augenfällig dabei ist, dass Benjamin in Westdeutschland stärker in den Vordergrund gerückt wird, Brecht dagegen eher im britischen Kontext – auch wenn beide seit dem mit der Studentenbewegung von 1968 einsetzenden historischen Umbruch oft gemeinsam als eine Art ‚Paket‘ rezipiert wurden.49 Enno Neumann beispielsweise konfrontiert in Inszenierungen wie Kultspuren (Karl Ernst Osthaus Museum 1990, Abb. 4), wie bereits zitiert, „Fragmente mit langer Tradition“, die gängiger Weise nicht zusammen auftreten, mit Dingen des Alltags, um „die erfüllte Vergangenheit in 46 Irit Rogoff, Von Ruinen zu Trümmern. Die Feminisierung von Faschismus in deutschen historischen Museen, in: Silvia Baumgart/Gotlind Birkle/Mechthild Fend/Bettina Götz/Andrea Klier/ Bettina Uppenkamp (Hg.), Denkräume zwischen Kunst und Wissenschaft. 5. Kunsthistorikerinnentagung in Hamburg, Berlin 1993, S. 259–285, hier S. 272. 47 Ebd. 48 Ebd., S. 274. 49 Vgl. Schober 2009 (wie Anm. 36), S. 148–188.
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abb. 4 enno neumann, kultspuren iv, installation in der ausstellung imitationen. das museum als ort des als-ob, 2. märz–14. april 1990. ansicht: osthaus museum hagen
der ‚Jetztzeit‘ (Walter Benjamin) konstruktiv ein(zu)setzen.“50 Gottfried Korff kommt über eine Lektüre von Walter Benjamins Beiträgen zu Surrealismus, Dadaismus und modernem Warenverkehr zu der Empfehlung, dass über die Montage von Objekten in Ausstellungen versucht werden solle, „Chock“-Momente aus den Dingen herauszulocken, die blitzartig aufklärend und handlungsanregend wirken würden.51 Denn, so lautet eine der Benjamin-Passagen, auf die er sich bezieht: 50 Neumann 1991 (wie Anm.13), S. 62. 51 Korff 1984 (wie Anm. 28), S. 90f. und Korff 1988 (wie Anm. 28), S. 18. Als ich Anfang der 1990er-Jahre erstmals selbst zu Fragen des Schaustellens von Geschichte arbeitete, schrieb ich meine eigene Sicht, wenn auch in kritischer Weise, in die hier rekonstruierte Tradition ein. Siehe: Schober 1994 (wie Anm. 29), insbes. S. 71ff. In einem späteren Forschungsprojekt (vgl. Schober 2009, wie Anm. 36) machte ich jedoch den Einsatz ästhetischer Taktiken wie Ironie, Montage oder Verfremdung als Mittel politischer Emanzipation selbst zum Gegenstand einer genealogischen Untersuchung, verbunden mit einer transnationalen Rezeptionsgeschichte von Walter Benjamin und Bertold Brecht. Dies führte zu einer differenzierteren und ambivalenteren
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abb. 5 die stadt und die wildnis. wien 1000–1500, galerie faber, wien, 25. april–27. juni 1992. ansicht: installation canis lupur (wolf), exponat aus dem naturhistorischen museum wien (säugetiersammlung), entwurf und ausführung: daedalus „Die Masse will nicht ‚belehrt‘ werden. Sie kann Wissen nur mit dem kleinen Chock in sich aufnehmen, der das Erlebte im Inneren festnagelt. Ihre Bildung ist eine Folge von Katastrophen, die sie auf Rummelplätzen und Jahrmärkten in verdunkelten Zelten ereilen (…). Es braucht Genie, die traumatische Energie, den kleinen spezifischen Schrecken derart aus den Dingen herauszuholen.“52
Beurteilung des Einsatzes dieser Kunstgriffe und zur Historisierung der verschiedenen Schübe der Adaptierung dieser Tradition selbst – worauf auch der vorliegende Beitrag aufbaut. 52 Walter Benjamin, Jahrmarkt des Essens. Epilog zur Berliner Ernährungsausstellung, in: ders., Gesammelte Schriften in 7 Bänden unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem, hg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Bd. IV.1, Frankfurt am Main 1972, S. 527–532, hier S. 527.
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In ganz ähnlicher Weise empfiehlt Griselda Pollock, Brecht’sche „Distanzierungsstrategien“ anzuwenden, die sie ebenfalls mit der ästhetischen Taktik der Montage und Collage sowie mit einem gleichzeitigen Bedienen unterschiedlicher Register, etwa von Hoch- und Populärkultur oder des Komischen und Tragischen, gleichsetzt, um eine Aktivierung und Politisierung des Publikums zu erreichen.53 Aber auch an anderen Orten waren ähnliche Argumentationsmuster präsent. So waren z. B. die ebenfalls nachdrücklich von den Untersuchungen Michel Foucaults inspirierten, kulturhistorischen Ausstellungen der Transmedialen Gesellschaft Daedalus, die in den 1990er-Jahren in Wien stattgefunden haben, nach ähnlichen Gesichtspunkten gestaltet. Im Katalog der Ausstellung Die Stadt und die Wildnis. Wien 1000–1500, eine Präsentation, die 1992 in einer Galerie und nicht im Kontext eines historischen Museums stattgefunden hat (Abb. 5), hieß es z. B.: „Wie der Ausstellungstitel, so verspricht jedes Objekt den gelingenden Ausbruch aus dem System.“54 Dieses Argumentationsmuster steht in einem breiteren kulturtheoretischen und ‑wissenschaftlichen Diskurszusammenhang, d. h. es trat nicht nur in ausstellungstheoretischen und museologischen Diskussionen auf, sondern war in ähnlicher Weise auch in anderen Subgebieten der Ästhetik, etwa der Filmtheorie oder Subkulturforschung, zu finden, ging aber auch in künstlerische Praxisfelder ein.55 Es tauchte zunächst im ‚Untergrund‘ kleiner Lesezirkel, explizit linksorientierter Zeitschriften (etwa der New Left Review), aktivistischer Gruppen und künstlerischer Kollektive im Umfeld der 1968er-Bewegung auf und begann erst gegen Ende der 1970er- und in den 1980er-Jahren sich auch in weitere Bereiche der Populär- und Mainstreamkultur hinein auszubreiten. Damit wurde es auch in institutionalisierten Kontexten – etwa bezogen auf Museen und Ausstellungen – stärker rezipiert. Über transnationale Austauschbeziehungen und Verweisgemeinschaften, die jedoch häufig von den USA und Westeuropa ihren Ausgang nahmen und in sich oft widersprüchlich und von Auseinandersetzungen geprägt waren, wurde auf diese Weise eine Argumentation weitergegeben, in der die Thesen Benjamins und Brechts zu einem Schema fixiert bzw. ‚eingefroren‘ auftraten. Von einem ‚Fixieren‘ und ‚Einfrieren‘ kann deshalb gesprochen werden, da in dem hier abgesteckten Diskursstrang ästhetische Kunstgriffe stets mit immer denselben ideologiekritischen und politischen Effekten in kausale Beziehung gesetzt werden, ohne dass tatsächliche Rezeptionsleistungen, Verhandlungen, Konflikte und weiterführende Initiativen, aber auch Beispiele von Ignoranz oder Abschweifung in den öffentlichen Räumen, die sich um diese Ausstellungen und Museen ausbildeten, berücksichtigt worden wären. Entgegen diesem immer wiederkehrenden Argumentationsschema finden sich in den Arbeiten von Walter Benjamin selbst in erster Linie suchende, unabgeschlossene Thesen – etwa in Hinblick auf die für diese Ausstellungstheorien so wichtige politische Beurteilung von ,Chock‘-Momenten. Denn diese wurden von ihm zwar an manchen 53 Pollock 1988 (wie Anm. 35), S. 158 und 164f. 54 Die Stadt und die Wildnis. Wien 1000–1500, Ausst.-Kat., hg. v. Gerhard Fischer, Galerie Faber, Basel/Frankfurt am Main 1992, S. 135. 55 Vgl. Schober 2009 (wie Anm. 36), insbes. S. 148–51.
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Stellen als plötzlich eintretende, politisierende und handlungsanregende Momente thematisiert, an anderer Stelle jedoch als ganz generelles Charakteristikum unserer Alltagserfahrung in der Moderne beschrieben oder auch als eher graduelles prozessartiges Aufwachen eingeschätzt.56 Aus diesem unabgeschlossenen und von Suchbewegungen gekennzeichneten Theorieangebot wurde in dem hier zur Sprache gebrachten Rezeptionsstrang tendenziell ein binäres Argumentationsschema extrahiert, in dem solche Ambivalenzen und unabgeschlossenen Fragen weitgehend zurückgedrängt worden sind. Zugleich wurden dabei die Unterschiede zwischen den Zugängen Benjamins und Brechts sowie die Differenzen, die zwischen diesen kulturtheoretischen Positionen und den Praktiken der Dadaisten oder der Surrealisten bestehen, häufig minimiert oder gar ganz ausradiert. Auch in Bezug auf die Verwendung von ‚Ironie‘ dominieren in den hier referierten Positionen binäre Zuschreibungen. ‚Ironie‘ wird stets mit einer Herausforderung des Gegebenen, Irritation, Aufbrechen, Hinterfragen und Reflexionsanregung oder selbst ‚Subversion‘ gleichgesetzt. Dabei wird jedoch außer Acht gelassen, dass sie als ästhetische Taktik ein sehr „zweischneidiges Schwert“ ist, wie z. B. Linda Hutcheon gezeigt hat.57 Diese legte dar, dass Ironie zum einen stets in besonderem Maße auf ein Gegenüber angewiesen ist, das ein ironisches Statement als solches erkennen, aber eben auch nicht erkennen kann. Zugleich ist Ironie nicht nur eine Taktik der Herausforderung, sondern auch ein Mittel, insgeheimes Einverständnis zu erzeugen und Diskurse zu kontrollieren, etwa indem manche Positionen lächerlich gemacht werden, worüber blitzartig Verbindungen und Ausschlüsse neu definiert werden können. Zugleich wird Ironie, die, will sie funktionieren, auf Überraschung angewiesen ist und deshalb stets unkalkulierbar bleibt – auch wenn alle Intention daraufhin ausgerichtet ist, ihre Effekte abzuschätzen – in all diesen Zugängen zu einem Konzept erklärt, wodurch ihr ganz grundsätzlich die Spitze genommen wird.58 Dieses hier für Ausstellungstheorien der 1980er-Jahre konstatierte, in einen breiteren kulturwissenschaftlichen und -theoretischen Diskurszusammenhang eingebundene, Argumentationsschema, das von einem Rückbezug auf Theorie und Kunst der Zwischenkriegszeit geprägt ist, kann selbst historisch situiert werden – wobei trotz eines transnationalen Bezugsrahmens starke regionale Differenzen auszumachen sind.59 In Westdeutschland wurde Benjamin im Gefolge von 1968 als eine Art „marxistischer Rabbi“60 wahrgenommen, mit dessen Hilfe an eine „nicht-stalinistische Tradition des deutschen Marxismus“61 angeknüpft werden konnte. Zugleich kam es, genährt vor 56 Vgl. Howard Eiland, Reception in Distraction, in: Andrew Benjamin (Hg.), Walter Benjamin and Art, London 2005, S. 3–13. 57 Linda Hutcheon, Irony’s edge. The theory and politics of irony, London/New York 1995, insbes. S. 28f. 58 Zu dieser Problematik, Ironie zu einem Konzept zu erklären, vgl. Schober 2009 (wie Anm. 36), S. 188f. 59 Ebd., S. 148–210. 60 Hans Heinz Holz, Philosophie als Interpretation. Thesen zum theologischen Horizont der Metaphysik Benjamins, in: alternative 56/ 57 (Oktober–Dezember) 1967, S. 235–242, hier S. 242. 61 Wolfgang Kraushaar (Hg.), Frankfurter Schule und Studentenbewegung. Von der Flaschenpost zum Molotowcocktail 1946 bis 1995, Hamburg 2003, S. 216.
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allem auch durch den herrschenden Brechtboykott, zu einer engen Zusammenschau von Benjamin und Brecht – mit der die Zweiteilung der Welt, wie sie im Kalten Krieg so massiv präsent war, zurückgewiesen werden konnte. Parallel fand auch eine enge Bezugnahme auf die neuen Massenkommunikationsapparate wie Fernsehen, Kino und Werbung statt – wodurch Fragen der Ästhetik, von Wahrnehmung und Ideologie in Zusammenhang mit diesen Zugängen noch stärker in den Vordergrund traten. Zugleich waren die Aktivitäten von Kulturschaffenden, die sich in diese Tradition einreihten, nachdrücklich von einer Ästhetik der Destruktion gekennzeichnet, d. h. mit verschiedenen Taktiken des Aufbrechens, Irritierens oder Dekonstruierens sollten nicht nur die herrschenden dominanten Ideologien, sondern auch der Faschismus zurückgewiesen werden – wobei die eigene Gegenwart oft als in direkter und ungebrochener Kontinuität zum Faschismus stehend präsentiert wurde. Positionen wie diejenige Walter Benjamins oder der Dadaisten boten zudem die Möglichkeit, an eine Welt voll emanzipatorischer ‚Fülle‘ anzuknüpfen, von der man sich durch den Faschismus abgeschnitten sah. In Großbritannien waren die Zugänge von Walter Benjamin und Bertolt Brecht, hier häufig im Verein mit Antonio Gramsci rezipiert, ebenfalls für die Studentenbewegung der ausgehenden 1960er-Jahre konstitutiv. Nichtdestotrotz wurden diese Autoren hier weniger für eine Ästhetik der Zurückweisung und Destruktion eingesetzt, sondern dienten eher der Abgrenzung von ästhetischen und politischen Theorien, die mit realsozialistischen Ländern verbunden wurden (z. B. Georg Lukács). Auch hier wurde jedoch, insbesondere im Umfeld der Zeitschrift Screen – auf die Griselda Pollock mit dem Titel ihres Aufsatzes „Screening the Seventies“ so nachdrücklich anspielte – ein enger Bezug zwischen diesen theoretischen Zugängen und Massenmedien wie Film und Fernsehen hergestellt, wodurch ebenfalls in erster Linie die ideologiekritischen Aspekte der historischen Bezugstexte in den Vordergrund gespielt wurden. Brecht und Benjamin wurden auch hier wiederholt herangezogen, um ästhetische als politische Strategien der Subversion theoretisch zu begründen. In verschiedenen Kontexten wurde auf diese Weise ein je etwas anders akzentuiertes Argumentationsschema in Umlauf gesetzt, das bestimmten ästhetischen Taktiken eine herausfordernde, irritierende oder gar subvertierende Wirkung zuschrieb, verbunden mit einem Traditionserfindungsprozess, in dem die eigenen Aktivitäten in direkte Abstammungslinie zu Theoretikern und avantgardistischen Kunstschaffenden der Zwischenkriegszeit gesetzt erschienen. Über diese Neubewertung, die auch eine Aufwertung dieser ästhetischen Taktiken implizierte, wurde zugleich das Potenzial ‚eigenen‘, also individuellen Handelns und Eingreifens in den öffentlichen Raum zelebriert, wobei gleichzeitig die mit jedem Handeln in der Öffentlichkeit verbundene Unabgeschlossenheit und Offenheit überspielt wurde – indem man mögliche Akte der Rezeption und das Potenzial der einzelnen ästhetischen Taktiken vorweg als ‚Ergebnis‘ titulierte, gegenläufige Reaktionsweisen zum Großteil ausblendete und generell die Reaktionen des Publikums in das bereits erwähnte binäre Argumentationsschema presste. Auf diese Weise entlastete man sich auch von einer differenzierten Beobachtung und Diskussion der vielfältigen, von Ambivalenzen und Konflikten geprägten, prinzipiell unabgeschlossenen Prozesse, die im öffentlichen Raum stattfinden.
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erzählungen von verlust und schuld und ein sich-identifizieren mit immer neuen anderen im kontext der postmodernen kreativgesellschaft Stephen Bann hat in Zusammenhang mit seiner Theorie des ironischen Museums davor gewarnt, die Institution Museum mit einer ererbten historischen Schuld zu beladen, und demgegenüber dafür plädiert, sie eher als eine Art Garten und Versammlungsort aller Künste zu sehen, der stets weiterentwickelt und in neue Richtungen hin ausgebildet werden könne.62 Nichtdestotrotz ist in den hier präsentierten Positionen der 1980erJahre genau ersteres in gewisser Weise geschehen – wenn auch häufig in Verbindung mit dem von ihm favorisierten Garten-Modell. Das Museum wurde – je nach Kontext etwas anders akzentuiert – als Ort einer herrschaftlich-faschistischen, kolonialen oder patriarchalen Schuld neu gelesen und zum Ausgangspunkt von betont differenten (alltagshistorisch, post-kolonial oder feministisch ausgerichteten) Interpretationen von Kunst und Geschichte, mit denen zugleich bisherige Repräsentationspraktiken und -konventionen zurückgewiesen wurden. Dabei wurden Museum und Ausstellung auch als Orte neu entworfen, an denen eine veränderte Wahrnehmung und Erfahrungsweise sowie ein neues Verhalten des Publikums ihren Ausgang nehmen konnten. Seit den 1980er-Jahren gibt es neben den in diesem Beitrag präsentierten, oft sehr prononciert vorgetragenen Ausstellungs- und Museumskonzeptionen auch leiser auftretende und institutionell stärker eingebundene Adaptionen dieser Modelle. Denn die Verfahrensweise, in Ausstellungen mittels Objekten zu argumentieren und diese zueinander in thematische und manchmal auch ironische Montage zu setzen, hat mittlerweile Eingang in eine große Zahl musealer Präsentationen gefunden – nicht nur von Ausstellungen, sondern auch von Schausammlungen, und zwar von im Zentrum wie an der Peripherie gelegenen Institutionen. Dabei wurde die Bedeutungsspirale manchmal noch etwas weitergedreht. So wurde z. B. der emphatische, identifikationsgesättigte Rückbezug auf Walter Benjamin, der für die hier vorgestellten Ausstellungskonzeptionen so charakteristisch war, vom deutschen Künstler Volker März in der Installation Auratransfer (2004–2005) im Rahmen der Ausstellung Walter Benjamin und die Kunst der Gegenwart in Berlin oder in der Arbeit Walter Benjamin wartet auf den Chock (2004) selbst ironisiert. (Abb. 6) In der hier vorgestellten Tendenz, Ausstellungen zu konzeptualisieren, wird Kunst oft zu einer Art Fixpunkt, die andere, bessere, im Sinne von ‚emanzipiertere‘ Welten aufblitzen lässt. Wie Pierre-Michel Menger aufgezeigt hat, können Praktiken, wie die hier favorisierten, in der Postmoderne verstärkt nicht mehr als Gegenwelten gelesen werden, sondern stellen vielmehr eher Modelle dar, die neuen hegemonialen Auftrittsweisen von Subjektivität, von Produktivität und Tätig-Sein den Weg bahnen.63 Die in diesem Beitrag diskutierten Ausstellungspraktiken können dementsprechend auch dahingehend interpretiert werden, dass mit ihnen einer prononciert 62 Bann 1988 (wie Anm. 10), S. 67f. 63 Pierre-Michel Menger, Kunst und Brot. Die Metamorphosen des Arbeitnehmers, Konstanz 2006, S. 9f.
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abb. 6 volker märz, walter benjamin wartet auf den chock, figur aus gebranntem ton, glas, 2004
ästhetischen Stilisierung des Subjekts qua Politisierung Vorschub geleitet wird.64 Denn das diesen Zugängen zum Ausstellen implizite Subjekt ist von einer Bereitschaft, sich auszuprobieren, sowie von einer Moment- und Situationsorientiertheit gekennzeichnet, die ebenfalls wiederholt mit ‚spontaner‘ Kreativität in Verbindung gebracht wird. ‚Kreativ sein‘ heißt in diesem Zusammenhang, sich nicht in vorgegebene Routinen zu fügen und alles Vorhandene semiotisch immer neu wahrnehmen und arrangieren zu können. Auf diese Weise erscheint der gesamte Alltag, das gut Bekannte wie das Fremde und Exotische, also auch alles, was sich in Form von Inszenierung kultivieren lässt und ein begehrtes, intensives Erleben sowie Wahrnehmung als unkonventionelles ästhetisches Erlebnis ermöglicht, als potenzielle Sphäre ästhetischer, kreativer Selbst64 Zu dieser Redefinition von Subjektivität vgl. Andreas Reckwitz, Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne, Weilerswist 2010, S. 441–449.
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erfahrung. Zugleich ist diese Kreativität aber auch mit einer emphatischen Bejahung von Kollektivität verbunden, wobei jedoch auch daran vor allem das auf diesem Weg ermöglichte Eintauchen in eine Art Augenblicksgemeinschaft zählt, das selbst in erster Linie dazu dient, das Erleben authentischer Selbstexpression zu steigern.65 Das diesen Konzeptionen implizite Subjektmodell wird auch gut greifbar, wenn man nochmals die Ironie, die in diesen Zugängen zum Ausstellen so oft herbeizitiert wird, in ihrem Bezug zu Gemeinschaftlichkeit thematisiert. Denn Ironie ist – wie ja mit Bezugnahme auf Linda Hutcheon66 bereits aufgezeigt wurde – vor allem davon gekennzeichnet, dass sie zweischneidig ist und Evaluation herausfordert. Sie liegt im Auge des Betrachters bzw. der Betrachterin und provoziert einen emotionalen Widerhall zwischen all jenen, die ein ironisches Statement verstehen, und oft auch zwischen denjenigen, die sich von diesem ausgeschlossen oder gar bedrängt fühlen. Eine wichtige Funktion von Ironie liegt somit darin, zu differenzieren. Sie schließt momenthaft ein, indem sie Komplizenschaft kreiert, schließt aber auch aus und kann sogar Beleidigung hervorrufen – sie kann auf diese Weise sehr effektiv und momenthaft das Gefühl, einer Augenblicksgemeinschaft, einer In-Group, anzugehören, hervorrufen. Zugleich kann der Ironie intendierende Akt jedoch auch vom Fluss alltäglichen Handelns ‚verschluckt‘, d. h. überhaupt nicht als signifikanter Kommunikationsakt wahrgenommen werden – was die Differenz zwischen denjenigen, die einer In-Group angehören, und denjenigen, die von dieser ausgeschlossen bleiben, noch betont. In den oben thematisierten Ausstellungskonzeptionen wurde also eine Art Modellvorstellung derjenigen Betrachter und Betrachterinnen, die das Publikum einer Ausstellung formen, formuliert, die in einem Kontext, der mit ‚Kreativgesellschaft‘ der Spät- oder Postmoderne beschrieben werden kann, sukzessive zu einem kulturell hegemonialen Modell öffentlicher Selbstkultur geworden ist.67 Ähnlich den Praktiken, die sich in anderen Kulturfeldern ausbreiteten, wurden auch im Ausstellungs- und Museumsbereich ‚Gegenstrategien‘ entwickelt, mit denen eine bislang dominante öffentliche Kultur zurückgewiesen werden konnte und die von einer Sehnsucht nach Gegenläufigkeit oder gar Subversion, nach möglichst individuell handhabbaren ästhetischen Taktiken, diese hervorzubringen, und einer damit verbundenen neuen Kultur des ‚kreativen Selbst‘ geprägt waren. Nichtsdestotrotz ist auch das so hervorgebrachte postmoderne hegemoniale Gefüge wie die ihr vorangehenden Formationen nicht in 65 Ebd. 468–473. 66 Hutcheon 1995 (wie Anm. 57), S. 28f. 67 Auch die von Irit Rogoff angesichts mancher dieser Geschichtsschauen konstatierte ,Feminisierung‘ der Präsentationen lässt sich in diesen Befund integrieren. Denn wie Andreas Reckwitz gezeigt hat, war für dieses sich mit 1968 verbreitende Subjektmodell, das in den 1980er-Jahren stärkere Dominanz erlangte, zunächst das authentische weibliche Subjekt mit seinen Begehrens- und Erlebnispotenzialen die Leitfigur. Erst später, seit den 1980er- und 1990er-Jahren, wurde es in dieser Funktion verstärkt von immer neuen anderen (ethnischen, Queer- und Transgender, historisch weit entfernten etc.) Kulturen abgelöst – verbunden mit einer stärkeren Präsenz-Gewinnung, ja fast schon Fetischisierung von Wahlfreiheit – insbesondere auch in Verbindung mit Identität und gestützt von einem neuartigen Training in Prozeduren des Wählens, wie es das Medium Internet bereitstellte. Dazu: Rogoff 1993 (wie Anm. 46), S. 272f. und Reckwitz 2010 (wie Anm. 64), S. 487.
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sich homogen, sondern von Friktionen, Differenzsetzungen und wechselseitigen Herausforderungen gekennzeichnet.
diskussion verena krieger: Ich versuche genauer zu verstehen, was Ihre zentrale These ist. Sie haben hervorgehoben, dass es auch in der Benjamin-Brecht-Rezeption und in ihrer Anwendung auf Ausstellungspolitik eine Binarität gab, die im Grunde aber im Zuge einer Postmodernisierung aufgelöst worden ist. Ich kann diese strenge Binarität nicht ganz nachvollziehen. Ich sehe sie auch bei Chantal Mouffe nicht, die gerade den Begriff des Antagonismus überwindet und zum Agonismus weiterentwickelt und damit von dieser unversöhnlichen Feindschaft zu einer eher interagierenden Gegnerschaft umkehrt. Das ist meiner Meinung nach eine Auflösung des Binaritätsprinzips. Ich sehe diese Binarität zudem auch nicht in den von Ihnen gezeigten früheren Beispielen Anfang der 1980er-Jahre, wie z. B. der Ausstellung von Enno Neumann über das Wirtschaftswunder, in der das Prinzip des Sammelsuriums auch schon auftaucht. Insofern habe ich Ihre Argumentationslogik nicht richtig nachvollziehen können. Da würde ich nochmal um Aufklärung bitten.
anna schober: Es geht um das, was ich als ,Sehnsucht der Subversion‘ bezeichnet habe. Das heißt, man wollte in bestimmten ästhetischen Taktiken – wie eben der Montage, der Verfremdung, der Ironie – politisches Wirken verorten. Und diese hat man dann abgegrenzt von Geschichtspräsentationen, die man als kulturell-dominant angesehen hat. Man hat in ganz unterschiedlichen Kontexten darauf hingewiesen und gesagt, die Montage, die Verfremdung, die Ironie sind an sich subversiv; sie sind unterlaufend. Das hat nichts mit den Schriften von Benjamin und Brecht selbst zu tun, sondern das ist eine Rezeptionsleistung, die man in den 1960er-Jahren verorten kann. Und ich habe mich gefragt, warum es dazu kommt und tatsächlich in gewisser Weise bis heute anhält und in der Postmoderne nicht aufgelöst wurde, sondern immer wieder in anderen Formen, in immer wieder neuen Texten formuliert wird. Nicolas Bourriaud vertritt eine ähnliche Argumentationsweise und verschiedene Vertreter und Vertreterinnen der Cultural Studies, etwa Dick Hebdige, oder in der Filmtheorie Kritiker und Kritikerinnen aus dem Umfeld der Zeitschrift Screen haben ähnliche, binäre Konzepte entwickelt.68 Also es gibt ganz unterschiedliche Zugänge, die immer wieder versuchen, einzelne ästhetische Taktiken zu isolieren und mit bestimmten politischen Effekten in eine kausale Beziehung zu setzen. Und damit werden natürlich Subversion und das Politische handhabbar. Diese Sehnsucht nach Subversion ist auch eine Sehnsucht danach, konkrete ästhetische Taktiken in die Hand zu bekommen, die in gewisser Weise individuell angewandt werden können, aber eben auch zu Augenblicksgemeinschaften verbinden. Eine ganz berühmte Formulierung dieser These ist die Parodiethese von Judith Butler, die sie auf die Genderfrage anwendet, wobei die subversive Parodie, die subversive Wiederholung brauchbar gemacht wird. Warum gibt es ab einem bestimmten Zeitpunkt diese ‚eingefrorene‘ Rezeptionsweise? Wie kann sie aufgelöst werden? Wie wird sie herausgefordert? Sie wurde schon sehr früh immer wieder herausgefordert, sie hat sich 68 Zu dieser Tradition des Argumentierens vgl. Schober 2009 (wie Anm. 36), insbes. S. 163–172, 188–210.
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aber als dominante durchgesetzt. Jacques Derrida hat eine solche Herausforderung präsentiert, indem er beispielweise einen Text geschrieben hat69, in welchem er sich mit der Operation und Wirkungsweise von sprachlichem Handeln auseinandersetzt. Butler hat selbst später in Hass spricht 70 eingefrorene Sichtweisen auf Sprachakte dekonstruiert, aber das Interessante ist, dass die Butler-Rezeption immer noch sehr stark auf die politische Effektivität von Parodie abzielt, was eben mit einer Art identitätspolitischer Subjekt-Kultur zusammenhängt, die sich seit den 1960er-Jahren neu herausgebildet hat, wie Andreas Reckwitz71 gezeigt hat.
verena krieger: Was ist Ihre Erklärung dafür, weshalb es diese Sehnsucht gibt? anna schober: Es gibt eine Sehnsucht nach Veränderung und auch eine diesbezügliche Notwendigkeit. Dabei geben diese ästhetischen Taktiken der oder dem Einzelnen ein Gefühl von Handlungsmacht, in dem Sinn, dass ich, wenn ich diese Taktiken anwende, scheinbar niemand anderen im öffentlichen Raum benötige. Ich muss mir dann den öffentlichen Raum nicht in seinen unkontrollierbaren Verstrickungen und auf kontingent sich ergebende Bündnisse hin anschauen, sondern ich kann sogleich selbst aktiv werden, ich kann eingreifen. Dies ist also eine Art, das eigene Handlungspotenzial zu zelebrieren.
gürsoy dog˘ taș: Ich würde gerne probieren, die Grenzen ihrer Theorie anhand eines Beispiels auszuloten: 1937 kuratierte der Künstler Adolf Ziegler die Ausstellung Entartete Kunst in München.72 Auch diese Ausstellung scheint mit den Mitteln zu arbeiten, die Sie beschreiben, wie z. B. Parodie und Ironie. Wie verorten Sie so eine Ausstellung innerhalb Ihrer Theorie? anna schober: Ich beziehe mich in meiner Publikation zum Thema Ironie, Montage, Verfremdung. Ästhetische Taktiken und die politische Gestalt der Demokratie (München 2009) auch auf die Ausstellung Entartete Kunst in München. Ich stelle nicht in Abrede, dass diese ästhetischen Taktiken auch hier wirken. Natürlich wirken sie und fordern das Publikum heraus, sie überzeugen, bringen Aufmerksamkeit usw. Sie haben Effekte, aber die Intention, mit der diese Interventionen in Umlauf gesetzt werden, kann ihre Wirkung nicht kontrollieren. Parodie und Ironie stehen also nicht nur im Dienst aufklärerischer, linker, studentisch bewegter Projekte. Es gibt keinen kausalen Wirkungszusammenhang zwischen der Anwendung der Taktik und der politischen Positionierung im öffentlichen Raum, sondern Ironie kann eben auch von rechter Seite wie eben der Nazi-Ausstellung eingesetzt werden, um Neuerungen zu diffamieren. Für mich ist es auch ein diskurshistorisch interessantes Ergebnis gewesen, dass im britischen Kontext Ironie viel stärker als Kontrolle thematisiert wird als beispielsweise im deutschen Kontext. Ironie wird in ihrer Ambivalenz oder als Mittel, Neuerungen lächerlich zu machen, beispielsweise in der englischen Kunsttheorie des 18. Jahrhunderts thematisiert. Das ist in den oft emphatisch geführten Ironie-Debatten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Vergessenheit geraten. All diese 69 Jacques Derrida, Signatur, Ereignis, Kontext, in: ders., Randgänge der Philosophie, Wien 1999, S. 291–314. 70 Judith Butler, Hass spricht. Zur Politik des Performativen, Frankfurt am Main 2006. 71 Reckwitz 2010 (wie Anm. 64). 72 Vgl. Uwe Fleckner (Hg.), Angriff auf die Avantgarde – Kunst und Kunstpolitik im Nationalsozialismus, Berlin 2007.
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Verfahren wurden immer als eine Art Taktik benutzt, die eigenen politischen Überzeugungen durchsetzen zu können. Tatsächlich kann es jedoch zu ganz unterschiedlichen, prinzipiell nie ganz kontrollierbaren Rezeptionswirkungen und Verkettungen kommen, auch wenn das mit diesen Verfahren verbundene Tun stets mit einer Art Berechnen oder Erwägen von Wirkung einhergeht.
barbara lange: Könnten Sie Ihre Verwendung des Ironie-Begriffs in Bezug auf die 1937er-Ausstellung noch etwas ausführen? Für mich hängt Ironie auch damit zusammen, ein Verfahren gewissermaßen an eine Kante, an einen Abbruch zu führen, um dadurch bestehende Denkstrukturen in Bewegung zu versetzen. Die Ausstellung Entartete Kunst hat doch eher eine populistische Auffassung zur Kunst aufgegriffen und in diesem Sinne auch kommentiert. Hier wurde keine Möglichkeit zum Nachdenken eröffnet.
anna schober: Ich glaube, der Punkt ist, dass Ironie ein Verfahren ist, das zunächst einmal differenziert und eben In- und Out-groups schafft. Es gibt einerseits diejenigen, die die Ironie verstehen und zustimmen, und andererseits die, die draußen bleiben. Das ist nicht etwas, das per se zum Nachdenken anregen muss, sondern es ist etwas Momenthaftes, eine Komplizenschaft, die sich herstellt. In der Ausstellung Entartete Kunst wird ironisch argumentiert, indem z. B. die Neuerungen der Dadaisten lächerlich gemacht werden. Das wird natürlich propagandistisch untermauert mit bestimmten Kommentaren. Aber das tun andere Argumentationen auch. Das heißt nicht, dass es nicht ironisch bzw. parodistisch wäre. Ironie muss nicht zwingend zum Nachdenken verführen, oder sagen wir so: Das Nachdenken, zu dem sie verführt oder diese Komplizenschaft, die sich mit ihrer Hilfe erzeugt, kann von unterschiedlichen Gruppen beansprucht werden. Ironie ist ein zweischneidiges Instrument, das für ganz unterschiedliche politische Anliegen verwendet werden kann. Für mich war es in meinem Vortrag interessanter, im Nachhinein zu fragen, warum Ironie eigentlich ein so wichtiger Begriff für die Ausstellungtheorie der 1980er-Jahre ist. Denn wenn man sich diese Ausstellungen anschaut, kann man natürlich manche Objektzusammenstellungen als ironisch bezeichnen. Aber der Begriff ist zugleich auch ein bisschen aufgesetzt. Ich glaube, dass die damaligen Zugänge auch das Publikum aufwerten, weil sie dessen Evaluationsleistung in der Rezeption stark in den Vordergrund spielen.
beatrice von bismarck: Ich versuche jetzt zwei Erzählstränge zusammenzubringen, die ich aus Ihrem Vortrag herausgehört habe. Der eine greift die Kreativitätsdebatte von Andreas Reckwitz und Pierre-Michel Menger73 und die Frage nach der Vorbildfunktion von Kunst, von Künstlerin und Künstler, aber auch von Kuratorin und Kurator auf, insofern es sich um Verfahren handelt, die kuratorisch definiert und mitverantwortlich dafür sind, dass wir Kuratorinnen und Kuratoren diesen Stellenwert zugestehen. Zusammenstellen, Verknüpfen oder Collagieren sind sowohl Alltags-Praktiken als auch solche, die in den Arbeitsformen der postfordistischen Ökonomie eine spezifische Aufwertung erfahren haben. Den zweiten Strang sehe ich in den ‚Traditionserfindungsprozessen‘, die sie im Zusammenhang mit Benjamin und Brecht ansprachen. 73 Pierre-Michel Menger, Kunst und Brot. Die Metamorphose des Arbeitnehmers, Konstanz 2006; Andreas Reckwitz 2010 (wie Anm. 64); ders., Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung, Berlin 2012.
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Habe ich Sie richtig verstanden, dass Ihre Irritation über diese Traditionserfindungsprozesse aus der Bewertung des jeweiligen aufklärerischen Gehalts resultiert, sich also ableitet aus dem politischen Effekt dieser Taktiken? Mir scheint aber, dass die Debatte um Collage, Ironie, Parodie und deren Distanzierungsmöglichkeiten eher die Offenheit und Unkontrollierbarkeit der möglichen Ergebnisse solcher ästhetischer Strategien unterstreicht. Mich interessieren in dem Zusammenhang die situativen, potenziell auch veränderlichen Effekte etwa von Collage und Ironie. Wie schätzen Sie die Notwendigkeit und das Potenzial einer zielgerichteten Politisierung im Kreativitätsdiskurs im Verhältnis zu den Traditionserfindungsprozessen ein?
anna schober: Grundsätzlich ist es so, dass jede Politisierung im öffentlichen Raum in gewisser Weise mit einem Traditionserfindungsprozess einhergeht. In seinem Beitrag hat Hans Christ mit seinem Anknüpfen an die frühen Arbeiten von Michael Fehr auch eine Art Tradition erfunden, in der er sich selbst verortet.74 Das ist nichts Ungewöhnliches und etwas, das politische Bewegungen, aktivistische Strömungen oder Kunstbewegungen immer tun. In diesem Fall kritisiere ich nicht, dass es überhaupt einen Traditionserfindungsprozess gibt – weil es den immer oder sehr oft gibt –, sondern dass man sich zwar rückbezieht, aber dabei aus den Theorien von Benjamin und Brecht etwas anderes macht, nämlich: eine effizient einsetzbare Taktik, die scheinbar für die Durchsetzung von politischen Anschauungen im öffentlichen Raum benutzbar ist, und zwar relativ individualistisch. Damit muss man nicht mehr seine Handlungsmacht an eine politische Partei z. B. abtreten, man muss sich nicht mehr in bestehende Repräsentationsformate einfügen, sondern man kann sich mittels ästhetischer Taktiken wie Montage direkt selbst öffentlich ästhetisch äußern. Diese Argumentation verweist auf eine Veränderung, die mit breiteren Entwicklungen im Zuge der Studentenbewegung zusammenhing. Zugleich gingen diese Entwicklungen mit einem Verlust traditioneller Arten und Weisen der Politisierung in Institutionen wie Vereinen und Parteien sowie einem Bedeutsamer-Werden von kulturellen Foren und Äußerungsformen wie Bildende Kunst, Musik usw. für den Prozess der Politisierung einher. Das fügte sich in den historischen Rahmen ein. Wichtig ist, dass die Tradition in der Weise interpretiert wurde, dass sie von Einzelnen möglichst effizient genutzt werden kann. Damit hatte man sich entlastet, weil man sich mehr oder minder narzisstisch äußern und seine eigene Handlungsmacht zelebrieren konnte, ohne zu beobachten, was eigentlich in diesem vielstimmigen und unabgeschlossenen öffentlichen Raum passiert, wenn man mit diesen Taktiken auftritt. An diesem Punkt kann man sich dann weiter auf Andreas Reckwitz beziehen, der ein neues, mit der Studentenbewegung aufkommendes Subjektverständnis beschreibt, das z. B. auf Mode setzt und stark von Praktiken der Selbsterweiterung bzw. Selbststilisierung, aber auch der Politisierung qua Ästhetisierung lebt. Beispiel dafür ist der Punk, der Sicherheitsnadeln mit Pudelhunden zusammenbringt und davon Subversion ableitet, wobei in Theorien der Subkultur diesbezüglich dann wieder Bezüge zu Dada und Walter Benjamin hergestellt werden, etwa in Theorien der Subkultur, die in den 1970er-Jahren in England75 entstanden sind. Das sind alles in gewisser Weise Lifestyle-Phänomene, die natürlich zu einem großen Teil mit Kunst in Beziehung stehen, die dafür auch eine Art Versuchslabor bereitstellte. Wobei ich die Diskussion jetzt nicht zu sehr in die soziologischen Theorien von Subjektkultur 74 Vgl. den Beitrag von Hans D. Christ in diesem Band. 75 Vgl. z. B. Dick Hebdige, Subculture. The Meaning of Style, London/New York 1979.
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schieben möchte. Für mich ist es einfach interessant, diesen Zusammenhang herzustellen, dann aber auch zu sehen, wo es Differenzen gibt. Denn man kann sich nicht von dem historischen Kontext entfernen und plötzlich so tun, als gäbe es diese Traditionen und Einbettungen nicht. Ausgangspunkt für mein Projekt war, dass mich die Festgefahrenheit des ästhetischen Diskurses in Bezug auf solche Taktiken irritiert hat. Ich wollte einfach nicht noch einen weiteren Text lesen, in dem subversive Taktiken definiert und legitimiert werden, sondern ich wünschte mir einen kreativeren, erfindungsreicheren Umgang mit diesen Phänomenen. In unzähligen Texten wird die wie ich sie auch nenne ,Politik-der-Form-These‘ ständig wieder aufgewärmt, immer wieder neu erfunden. Das ist meiner Meinung nach der Fall, weil ein Manko an Gegenkonzepten oder -theorien besteht und weil es eine Sehnsucht des Einzelnen gibt, sich einzubringen und etwas zu bewirken. Das möchte man möglichst ohne komplizierte, unüberschaubare Prozeduren mit anderen, sondern selbst in die Hand nehmen können, nach dem Do-it-yourself-Prinzip. Das ist auch ein Grund für die Hartnäckigkeit, mit der sich diese Ideen im öffentlichen Raum festsetzen. Das war mein Ausgangspunkt. Aber wie gesagt, mir ist wichtig, festzuhalten, dass es auch da unterschiedliche Herangehensweisen gab und gibt und keine Homogenität.
verena krieger: Diese Subversions-Erlösungs-Hoffnung und die Vorstellung, es gebe einen subversiven Automatismus, die sich wirklich über Jahrzehnte tradiert, sich immer wieder neu erfindet und fortgeschrieben wird, nur teilweise mit wechselndem Vokabular, beobachte ich auch. Ambivalenz und Ambiguität sind auch ganz zentrale Begriffe in diesem Zusammenhang. Sie sollen subversiv sein, aber tatsächlich ist es so, dass dieses subversive Potenzial eigentlich immer nur behauptet wird. Wie Subversion eigentlich zustande kommt, wie sie sich realisiert, wie sie sich manifestiert, wird kaum hinterfragt. Insofern kann ich hinsichtlich Ihrer De-Mystifikation des Subversionsprogramms vollkommen mit Ihnen mitgehen. Ich frage mich nur, ob Sie nicht ins Umgekehrte, in eine falsche Negation, verfallen. Denn wenn Sie nun sagen, Ironie oder ihre Wirkungen und ihre Prozesse sind nicht vorhersehbar und nicht kontrollierbar, dann handelt es sich im Grunde genommen um den entgegengesetzten Effekt. Dann ist vollkommen offen, wohin Ironie führt, und sie ist auch völlig beliebig einsetzbar, funktionalisierbar für rechts, für links, für jeden Zweck. Ironie ist dann ein reines Instrument und als dieses offensichtlich auch bedeutungsneutral. Das halte ich für fraglich, da Ironie z. B. immer auch ein Moment des Destruktiven und damit auch des Autoritätshinterfragenden hat. Das ist ja einer der Gründe, warum man in den 1960er- und 1970er-Jahren so viel Hoffnung darauf setzte, weil man in der Ironie diesen antiautoritären Automatismus, dieses Anti-Auratische, dieses Aura-Zerschlagende usw. gesehen hat. Das ist die eine Frage, ob man wirklich sagen kann, Ironie und Parodie seien völlig bedeutungsneutral. Meine zweite Frage: Muss man nicht eher umgekehrt sagen, dass es der exakteren Analyse der Kontexte bedarf, in denen Ironie spezifische Wirkungen entfaltet? Ich denke, man muss eher in diese Richtung gehen. Das betrifft auch die Diskussionen, die ich mit meinen Kolleginnen und Kollegen in den letzten Jahren im Zusammenhang mit der Debatte über Ambivalenz und Ambiguität geführt habe. Es gibt keine für sich stehende absolute Ambiguität. Ambiguität oder Ambivalenz – und das gilt ebenso für Ironie, die ja eine ambivalente Grundfigur ist, definiert sich nie kontextlos, sondern immer aus Kontexten, weil sie erst dann als solche funktionieren kann. Und im jeweiligen Kontext klärt sich dann auch, in welche Richtung sie z. B. aufgelöst wird oder was sie zerstört. Wenn man wirklich die Entartete Kunst-Ausstellung als mit den Mitteln der
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Ironie arbeitend beschreiben möchte, dann könnte man sagen, dass sie z. B. mit dem Mittel der Aura-Zertrümmerung arbeitet, indem sie originale Gemälde mit Plakaten, Handschriften usw. auf eine Stufe stellte und damit deren Aura als Originale zertrümmerte. Mit diesem Element der Aura-Zertrümmerung wurde aber auch in vielen anderen Ausstellungen der letzten Jahrzehnte gearbeitet, wenn man z. B. verschiedene Bildmedien miteinander kombiniert und damit etwas ganz Ähnliches gemacht hat, aber mit ganz anderen Zielen und Effekten. Das würde bedeuten, dass man diese Wirkung im Grunde erst mitreflektieren kann, wenn man sie wirklich als vom Kontext bestimmt ansieht und diese Kontexte exakt beschreibt, d. h. das Publikum, den Anlass, die Umstände usw. Ironie existiert nie nur für sich allein, sondern immer in diesem Rahmen. Damit würde ich Ihnen widersprechen, denn dann kann man nicht mehr sagen, sie sei eine beliebig einsetzbare Funktion, sondern dann ist sie ein Teil eines Funktionskomplexes. Und das scheint mir in der Tat fruchtbar zu sein, in dieser Richtung weiter zu diskutieren. Ich sehe das auch in Ihrer Argumentation angelegt.
anna schober: Ich gebe Ihnen vollkommen Recht. Was Sie sagen, entspricht meiner These, denn ich behaupte nicht, dass Ironie neutral ist, sondern ganz im Gegenteil. Ironie ist ein hoch emotionales Mittel, sie polarisiert und sie fordert heraus. Und sie ist zweischneidig, auf der einen Seite steht die emotionale Komplizenschaft, auf der anderen die Beleidigung. Ironie ist auf keinen Fall ein neutrales Instrument. Sie sehen das richtig, man muss diese Kontexte, in denen eine ästhetische Taktik wie Ironie, aber auch Montage, angewandt wird, untersuchen und die Wirkungen, die sie tatsächlich anstiften. Man muss genau hinschauen und sie in diesem Gefüge, in diesen spezifischen öffentlichen Situationen verorten. verena krieger: Noch eine Ergänzung, weil Sie sich so stark auf Reckwitz bezogen haben: Die Situation, bei der wir in immer kleineren kulturellen Räumen eine immer stärkere Individualisierung haben, macht es in der Tat unüberschaubarer, welche Effekte was wo und bei wem hat. Aber ich glaube, dass das nicht dazu führen darf, zu sagen: Es ist sowieso beliebig und unabsehbar. Sondern es wird immer notwendiger und spezifischer, für immer konkretere, kleinere, soziale Organismen, Einheiten, Gruppen, Milieus usw. und kürzere Zeiträume, diese Effekte und diese Wirkungsweisen zu beschreiben. Man muss es eher als eine quantitative Verschiebung ansehen, aber nicht als einen absoluten Umschlag.
die politizität des gastspiels zur politischen struktur der ausstellung
beatrice von bismarck Das Präsentationsformat der Ausstellung kann heute nicht mehr als eine eindeutig definierte Veröffentlichungsweise von Kunst angesehen werden. Zu divers in Zielsetzung und Methode sind die seit dem ausgehenden 20. Jahrhundert geführten Diskurse um ihre Geschichte, Funktion, ihre zeitlichen und räumlichen Vorgaben und Bedingungen, die an ihr Beteiligten und die für sie notwendigen Handlungen, als dass von einem klar umrissenen Medium ausgegangen werden könnte. Weder erschöpft sich eine Ausstellung in ihrer dienenden Aufgabe, Kunstwerke und Artefakte für ein Publikum erfahrbar zu machen, noch fällt sie in eins mit den inhaltlichen Ansprüchen und Setzungen, die sie von Künstlerinnen- und Künstler- oder Kuratorinnen- und Kuratoren-Seite erhält. Museum und Ausstellungshaus haben zudem ihr Vorrecht als mögliche Veranstaltungsorte eingebüßt, teilen ihre Legitimation nun mit Streichholzschachteln, Zeitschriften, Kühlschränken, Theaterbühnen oder dörflichen Märkten; Eröffnung und Finissage erscheinen als mögliche, aber keineswegs inhärent notwendige Rahmungen des Ausstellungszeitraums; anstelle fest installierter Exponate und Displayformationen strukturieren vermehrt Dauer, Bewegung und Taktung der verschiedenen Elemente die Ausstellungssituation.1 Schließlich hat sich längst die Auffassung durchzusetzen begonnen, die Ausstellung selbst als ein Werk zu begreifen, eine Herangehensweise, die mit der Aufwertung des mit Ausstellungen verbundenen kreativen Handlungspotenzials einhergeht. Kuratorinnen und Kuratoren mit Autor-Status zu versehen, vollzieht sich im Rahmen dieser diskursiven Entwicklung. Vor allem aber bedeutet ein solches Verständnis, dass zwischen den ausgestellten Werken und der Ausstellung als Werk eine Bedeutungsdifferenz mitgedacht werden muss, zeigt doch die Ausstellung immer etwas, nämlich die Exponate, aber eben auch sich selbst. Sie geht damit hinaus über das in ihr und durch sie Präsentierte und eröffnet eigene zusätzliche Kontexte, innerhalb derer sie sich verortet. Als Ergebnis, Medium, aber eben auch Werkzeug ausstellender Praxis wohnt ihr ein Handlungspotenzial inne, mit dem sie an der Gestaltung der Relationen, welche sie selbst konstituiert haben, auch mitwirkt. Um der Frage nach dem Verhältnis von Ausstellungen und Politik nachzugehen, soll daher der Blick im Folgenden weniger auf die politische Themenstellung einer Ausstel1 Zu der Diversifizierung der aktuellen Debatten um das Format ‚Ausstellung‘ vgl.: Okwui Enwezor, Großausstellungen und die Antinomien einer transnationalen globalen Form, München 2002; Beatrice Jaschke/Charlotte Martinez-Turek/Nora Sternfeld (Hg.), Wer spricht? Autorität und Autorschaft in Ausstellungen, Wien 2005; Gwen Allen, Artists’ Magazines. An Alternative Space for Art, Cambridge, MA/London 2011; Beatrice von Bismarck/Rike Frank/Benjamin Meyer-Krahmer/Jörn Schafaff/Thomas Weski (Hg.), Timing – On the Temporal Dimensions of Exhibiting, Berlin 2014.
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lung oder in ihr vertretener künstlerischer Positionen gerichtet sein als vielmehr auf die Politizität der Verfahren, die in Ausstellungen zum Einsatz kommen. Die Ausstellung wird dabei als Teil einer auf das Zusammenstellen ausgerichteten kulturellen Praxis bestimmt, die die Verbindung zum Öffentlichen konstitutiv mit einschließt. Damit soll der Fokus auf öffentlichkeitsbezogenen Akten der Verknüpfung, Übersetzung und Transposition liegen, auf ihrer Beteiligung an Prozessen der Bedeutungsstiftung oder, anders ausgedrückt, an der Gestaltung der in und durch Ausstellungen generierten Verhältnisse aller Beteiligten untereinander. Vorausgesetzt ist ein Verständnis dieser Beteiligten, das über die verschiedenen involvierten Personen hinaus – also die Künstlerinnen und Künstler, Kuratorinnen und Kuratoren, Galeristinnen und Galeristen sowie Leihgeberinnen und Leihgeber bis zu verschiedenen rezipierenden Besucherinnen und Besuchern bzw. Publikumskreisen – auch die Exponate selbst mit einschließt, aber ebenso sehr sämtliche an der Ausstellungskonstellation mitwirkenden Komponenten wie etwa Displaymittel, Räume, Institutionen und Diskurse. In ihrer grundsätzlich temporären Anlage lässt sich die Ausstellung zudem als raumzeitliche Konstellation fassen, die unter allen an ihr beteiligten Komponenten Verhältnisse herstellt, die sich ihrerseits in ihren räumlichen und zeitlichen Koordinaten dynamisch gestalten. Die Ausstellung besitzt damit weniger den Charakter eines stabilen Präsentationsbildes als vielmehr den eines Austragungsorts der Generierung, Veränderung und Neuartikulation der Beziehungen aller an ihr Partizipierenden untereinander – Beziehungen, die wiederum über den jeweiligen Anteil der Partizipierenden an der Bedeutungsstiftung in Ausstellungen bestimmen. Auf diese Weise ist die Ausstellung durchzogen von Dynamiken, deren Struktur mit Blick auf die menschlichen Akteure derjenigen nicht unähnlich ist, die Pierre Bourdieu für ‚Felder‘ bestimmte. Die Struktur der Felder – und gemeint sind sowohl das gesellschaftliche Feld als auch dessen Subfelder etwa der Ökonomie und Kunst – definieren sich nach Bourdieu dadurch, dass in ihnen „Akteure und Institutionen mit unterschiedlichen Machtgraden und damit Erfolgsaussichten nach den (und in bestimmten Konstellationen auch um die) für diesen Spiel-Raum konstitutiven Regularitäten und Regeln um die Aneignung der spezifischen Profite, die bei diesem Spiel im Spiel sind“, kämpfen.2 Diese Dynamik auf den Bereich der Ausstellung zu übertragen, bedeutet letztlich, den Kreis der Beteiligten auf sämtliche Komponenten im Sinne von Agenten auszuweiten, weniger im Sinne ihrer konfliktfreien Partizipation, wie Bruno Latour sie für den Umgang mit nicht-menschlichen Wesen vorschlägt,3 sondern als wirkungsmächtige Mitspielerinnen und Mitspieler an den konkurrenten Kämpfen innerhalb der Ausstellungskonstellation.
2 Pierre Bourdieu/Loïc D. J. Wacquant, Die Ziele der reflexiven Soziologie. Chicago-Seminar, Winter 1987, in: dies.: Reflexive Anthropologie, Frankfurt am Main 1996, S. 95–249, hier S. 133. 3 Zur Aussparung des Konfliktären in der Theorie Bruno Latours vgl. Thomas Lemke‚ ‚Waffen sind an der Garderobe abzugeben‘. Bruno Latours Entwurf einer politischen Ökologie, in: Ulrich Bröckling/Robert Feustel (Hg.), Das Politische denken. Zeitgenössische Positionen, Bielefeld 2010, S. 273–293, hier S. 287–289.
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Ausschlaggebend sind die in diesem Zusammenwirken geschaffenen und sich verändernden Relationen zwischen allen Beteiligten sowie deren Effekte. Zwei dieser Relationen kommt dabei besondere Bedeutung zu: der Wahrnehmung und der Gastfreundschaft. So schaffen Ausstellungen eine Situation, in der Gegenstände und Personen einem rezipierenden Gegenüber begegnen. Sie stellen, in Entsprechung des zusammengesetzten lateinischen Ursprungsbegriffs ex-ponere (aus-setzen, -legen, -stellen), etwas oder jemanden aus sich oder aus einer vorherigen Situation heraus in einen Bereich des Öffentlichen. Unabhängig davon, ob das Ausgestellte zuvor nicht öffentlich oder anders öffentlich war, übernimmt die Ausstellung die Artikulation dieser Begegnung. Sie stellt Wahrnehmungsverhältnisse her. In diesem Transfer hin zu einem (anderen) Öffentlich-Sein verändert die Ausstellung die Verhältnisse, in denen sich das Ausgestellte zuvor befunden hat. Sie impliziert entsprechend immer schon ein raumzeitliches, Wandel beinhaltendes Moment. Die Modi der Herstellung und Ausgestaltung dieser Differenz besitzen politische Bedeutung insofern, als sie über Sichtbarkeit, Hierarchie, Macht und Status der Beteiligten entscheiden. Etwas oder jemanden überhaupt oder in einer bestimmten Weise auszustellen, geht einher mit deren bzw. dessen Neuverortung innerhalb bestehender Ordnungen, im Potentialis aber auch – und das gilt es unter dem Gesichtspunkt ausstellender Politizität besonders hervorzuheben – mit der Mitwirkung an der Veränderung solcher Ordnungen. An der bedeutungsstiftenden De- und Rekontextualisierung des Ausstellens als Montage-Verfahren im Benjaminʼschen Sinne nehmen über die Exponate hinaus auch alle anderen Mitwirkenden teil, setzen sie alle sich doch erst zu der Konstellation zusammen, die die Ausstellung zuallererst ausmacht.4 In der jeweiligen Ausgestaltung der unter ihnen eingegangenen Wahrnehmungsverhältnisse – die sich darüber definieren, ob überhaupt und wenn, dann wer oder was etwas oder jemanden wem oder was auf welche Weise und unter welchen Bedingungen zur Rezeption anbietet – realisieren sich die Verschiebungen von Bedeutung, Wert und Position von Menschen und Dingen. Während die Wahrnehmungsverhältnisse die Transposition in den oder im Bereich des Öffentlichen in, mit und durch Ausstellungen ansprechen, sollen mit den Gastfreundschaftsverhältnissen die konnektiven und darin stets kollektiven Eigenschaften, Bedingungen und Implikationen von Ausstellungen gefasst werden. Jede Ausstellung stellt Menschen und Dinge zusammen, lässt Menschen und Dinge zusammenkommen. Nicht allein, dass hierfür konventionsgemäß Einladungen ausgesprochen werden, an Künstlerinnen und Künstler bzw. deren künstlerische Arbeiten, freie Kuratorinnen und Kuratoren oder unterschiedliche Rezeptionskreise, sondern auch, dass darin Rollen der Gastgeberinnen und Gastgeber oder des Gastes zugewiesen werden und seitens ersterer eine Offerte ausgesprochen wird, lässt die Ausstellung als eine Situation der
4 Zu Benjamins nicht zuletzt auch Aspekte archivarischer Praxis mit einbeziehendem Verständnis von Montage unter der Perspektive von Neuordnung und Unterbrechung vgl. Walter Benjamin, Ich packe meine Bibliothek aus. Eine Rede über das Sammeln; Der Autor als Produzent, beide in: ders., Medienästhetische Schriften, Frankfurt am Main 2002, S. 175–182, hier S. 175f. sowie S. 231–247, hier S. 244.
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Gastlichkeit erscheinen.5 Damit ist keineswegs eine nur generös ausgerichtete Beziehung gemeint, wie es eine Selbstvermarktung von Museen möglicherweise anklingen lassen möchte. Zwar werden für Ausstellungen Ressourcen wie Raum, Finanzen, Zeit oder Hilfsmittel zur Verfügung gestellt; zwar können hier Akte des Einladens, Anbietens und Willkommen-Heißens, des Zeigens von Präsenz, Aufmerksamkeit oder Anerkennung, des Auf-, Annehmens und Erwiderns zum Tragen kommen. Aber in demselben Maße sind in Ausstellungen auch Verfahren der Restriktion, Kontrolle und Überwachung, der Verweigerung und Zurückweisung eingeschrieben. Gastfreundschaft beschreibt den notwendigen Gegenpol zu der Fremdheit, die durch die ausstellende Versetzung erzeugt wird. Menschen und Dinge aus einem vertrauten, angestammten Umfeld in dasjenige der Ausstellung zu transferieren, kann mit Erfahrungen von Unsicherheit und Schutzlosigkeit einhergehen. Ausstellen bedeutet unter dieser Perspektive das Moment des gefährdenden Ausgesetzt-Seins, das in einem aus sich oder aus anderem Herausgestellt-Werden oder -Sein angelegt ist. Die beiden lateinischen Ursprungsbegriffe, die mit der Herstellung von Ausstellungssituationen assoziiert sind, ex-ponere und curare, verschränken sich in den Gastfreundschaftsverhältnissen ineinander und verknüpfen die im Ausstellen hergestellte Fremdheit mit der im Kuratieren nachklingenden Bedeutung von ‚Sorgen‘ und ‚Sorge tragen‘. Die Gastfreundschaftsverhältnisse in Ausstellungen bringen damit die Fragen nach Verantwortung, Abhängigkeiten, nach Regeln und Codices, Ein- und Ausschlussbedingungen ins Spiel. Die Ausstellung besteht daher gerade nicht in der Verbindung von Kunstwerken und Bedeutungen;6 für sie trifft vielmehr zu, dass sich die für sie jeweils spezifischen Bedeutungen erst in den Prozessen der Formulierung von Verbindungen der Beteiligten untereinander, die Kunstwerke einbegriffen, sowie den sich im ausstellenden Transfer notwendigerweise ereignenden Bedeutungswandel der jeweils einzelnen Beteiligten generieren. Das Verfahren, das hier zum Einsatz kommt, ist die raumzeitliche Transposition im oder in den Bereich des Öffentlichen. Die räumliche Dimension ist dabei nachdrücklich weiter gefasst als ihre architektonische Definition und schließt die ästhetischen, sozialen, ökonomischen, funktionalen oder diskursiven Eigenschaften und Funktionen mit ein. Die zeitliche Dimension wiederum ergibt sich nicht allein aus historischen Etappen der Entwicklung und Aufführung, sondern bezieht sich auf das Spektrum unterschiedlicher Formen von Temporalität, wie sie etwa durch Rhythmus, Beschleunigung oder Dauer artikuliert werden. Das politische Potenzial der Unterbrechung, durch die vorherige Eigenschaften und Bedingungen außer Kraft gesetzt und neu formuliert werden können, ist in solchen Verfahren ausstellender Transposition zu suchen. Diese Neu-Artikulation ist dabei wesentlich bezogen auf die Art und Weise, in der die Beziehung der unterschiedlichen Beteiligten in der Ausstellung Form 5 Für eine Anbindung des Diskurses um Gastfreundschaft, der in den vergangenen zehn Jahren größere Resonanz im Kunstfeld gefunden hat, speziell an den Bereich des Kuratorischen vgl. Beatrice von Bismarck/Benjamin Meyer-Krahmer (Hg.), Hospitality. Hosting Relations in Exhibitions, Berlin/New York 2016 (im Erscheinen). 6 Für Nicolas Bourriaud besteht die Aufgabe von Kuratorinnen und Kuratoren in der „organization of the coexistence between the artworks and meanings“. Vgl. Nicolas Bourriaud/Enrico Lunghi/ Paul OʼNeill/Beatrix Ruf, Is the Curator per Definitionem a Political Animal?, in: Walead Beshty (Hg.), Ethics. Documents of Contemporary Art, London 2015, S. 187–189, hier S. 188.
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abb. 1 tensta museum: reports from new sweden. at tensta konsthall and other venues, spring department, tensta konsthall, stockholm, 18. januar–18. mai 2014. ansicht: sabine bittner und helmut weber, from our house to bauhaus–occupy modernity, wandtapete, 2012 (hinten); the järva project, the local heritage aquarium, aquarium mit schmerle, 2013 sowie stone loach (barbatula) in igelbäcken, video, 15 min., 2013 (mitte); videoportrait of mila ivanow, video, 25 min., 2013 (vorne)
annimmt und darin eine Differenz herstellt zu den Ausgestaltungen der vormals etablierten Beziehungen. Diese Differenzproduktion stellt eine Bedingung der Möglichkeit politischer Effekte in Ausstellungen dar. Das Spektrum, in dem diese Effekte angesiedelt sind, beinhaltet aber auch die Festigung bestehender Verhältnisse und nicht nur ihre Veränderung. Das der bildenden Kunst entstammende Verfahren der Collage bietet sich an, dieses Spektrum nachzuvollziehen. Denn die Collage bringt das Ausstellen als eine Zusammenstellung im Öffentlichen in der Dimension raumzeitlicher De- und Re-Kontextualisierung sowohl zum Ausdruck als auch in der Ausstellung zur Aufführung. Eine Wandtapete gestaltete 2014 die Eingangssituation des mehrteiligen Projekts Tensta Museum: Reports from New Sweden. Verantwortet von Maria Lind und ausgehend von der Stockholmer Tensta Konsthall war dessen Autumn Department vom 26. Oktober 2013 bis 13. Januar 2014 und daran anschließend das Spring Department zwischen dem 18. Januar und 18. Mai 2014 zu sehen.7 Die in den Ausstellungsraum hineinführende Wandtapete stellte Fotografien der Architektur des spätmodernistischen New York University Silver Towers Housing Complex zusammen. (Abb. 1) In Weiß ausgelassen, 7 Eine weitere Fortsetzung des Projekts schloss sich unter dem Titel Tensta Museum Continues vom 17. Juni bis 4. Oktober 2015 an.
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fanden sich Referenzen auf Tom Wolfes 1981 erschienenes Buch From Bauhaus to Our House, eine populistische Kritik an der Wirkungsgeschichte des Bauhauses. Das in Vancouver bzw. Wien lebende Künstlerduo Sabine Bittner und Helmut Weber lenkte mit seinem Kommentar auf Wolfe den Blick auf die in dessen Argumentation vernachlässigten, ursprünglich mit der Moderne verbundenen Perspektiven einer Verbesserung des Alltags. In Kombination mit ihrem Video Living Megastructures (2003/2004), das der Mitwirkung der Bewohnerinnen und Bewohner an der Ausgestaltung von Wohnungsbau in Caracas gewidmet ist, zielte Bittners und Webers Ausstellungsbeitrag auf eine Neubewertung modernistischer Architekturmaximen unter partizipativen und prozessorientierten Voraussetzungen. Die Fototapete übernahm in der Ausstellung zudem eine einführende inhaltliche Rahmung. Tensta Museum: Reports from New Sweden war darauf angelegt, die Geschichte des Stockholmer Stadtteils Tensta, in dem das Ausstellungshaus situiert ist, sichtbar werden zu lassen und dadurch zu aktualisieren. An die 40 Mitwirkende, darunter vor allem Künstlerinnen und Künstler sowie Performerinnen und Performer, aber auch Architektinnen und Architekten, Vertreterinnen und Vertreter lokaler Vereine und Interessenverbände, Soziologinnen und Soziologen, Kulturgeografinnen und Kulturgeografen sowie Philosophinnen und Philosophen, waren eingeladen, den Raum der Tensta Konsthall in die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, den aktuellen Bedingungen und den Zukunftsperspektiven eines urbanen Standorts zu verweben, der in den 1960er-Jahren von einem vormals vorstädtisch-ländlichen Bezirk in ein Vorzeige-Viertel sozialen Wohnungsbaus entlang modernistischer Maximen umgestaltet worden war. Unter Einbindung verschiedener Medien – von Fotografie über Video, Skulptur, dokumentarischem, in Vitrinen oder auf Tischen ausgelegtem Material bis zu Stoffarbeiten und Malerei – spannte die Ausstellung ein Netz zwischen Aspekten von Urbanismus, Ökologie, Migration, Bildung und Geschlechterverhältnissen. Sie verband dabei Aspekte des Lokalen mit Globalem, Geschichte mit Gegenwart und integrierte unterschiedliche Gemeinschaften von Adressatinnen und Adressaten in die Projektentwicklung vor und das Veranstaltungsprogramm während der Ausstellungslaufzeit. Der Übertitel des Projekts, Tensta Museum, sollte mit performativem Nachdruck auf die Verstetigung der bislang nur mit jeweils jährlicher Verlängerung finanzierten Einrichtung als Museum hinwirken, als identitätsstiftendes kulturelles Zentrum des Viertels und ergänzender Gegenpol zum in der Stadtmitte Stockholms gelegenen Moderna Museet. Der unterschiedliche historische Kontexte, Medien und Partizipierende verwebende Effekt der installativen Anordnung von Bittner und Weber exemplifizierte über die inhaltliche Zielsetzung hinaus auch die argumentative Methodik des Ausstellungsprojekts. Sie steht stellvertretend für die collagierende Arbeitsweise, die charakteristisch für die Gesamtveranstaltung war und das Dokumentarische aufgrund seiner wirklichkeitsformenden Effekte zum integrierten Bestandteil der künstlerischen Arbeiten erklärte. Marion von Ostens langjährige Recherche zu den ästhetischen, sozialen und ökonomischen Implikationen des Exportmodells modernistischer Architektur in ehemalige Kolonialstaaten am Beispiel Marokkos, In the Desert of Modernity – Colonial Planning and After (2010), war ebenso Teil der Ausstellung in Tensta wie auch Dominique
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abb. 2 tensta museum: reports from new sweden. at tensta konsthall and other venues, spring department, tensta konsthall, stockholm, 18. januar–18. mai 2014. ansicht: thomas elovsson und peter geschwind, time–space shuttle (apollo pavillion), modell aus zellophan und videoprojektion, 2013
Gonzalez-Foersters elegisch-musikuntermalte Videoarbeit Park Central (2006) zu Formen und Konditionen sozialen Zusammenkommens am Beispiel von elf weltweit verstreuten Parkanlagen, Stränden oder urbanen Landschaften zwischen Rio, Kyoto und Paris. Mit dem Nachbau von Victor Pasmores brutalistischem Apollo Pavillion wiederum, einem Hybrid zwischen Gebäude, Brücke und freistehender Skulptur, der das Zentrum bilden sollte einer gut 15 Jahre vor dem Stockholmer Stadtteil Tensta konzipierten modernistischen Siedlung in Peterlee nahe dem englischen Newcastle, und den wechselnden Videoprojektionen auf diesen skulpturalen Körper verfolgten auch die schwedischen Künstler Thomas Elovsson und Peter Geschwind eine aus dem historischen Rückblick entwickelte urbanistische Zukunftsperspektive. (Abb. 2) Dokumentarisches Material in Schichten miteinander wie auch mit anderen Materialeinheiten zu kombinieren, um Verfahren der Kombination, Verknüpfung, des Ineinander-Aufgehens, aber auch der Konfrontation für die Generierung neuer Bedeutung nutzbar zu machen, öffnete in der Ausstellung Tensta Museum: Reports from New Sweden Perspektiven auf die veränderten aktuellen Lebens- und Arbeitsbedingungen an diesem Ort. In der Verschränkung von Geschichte und Geschichten, Mikro- und Makro-Ebene, lokalen und globalen Blickachsen, unterschiedlichen Medien, Materialien, Statusformen der Exponate und Beteiligungsweisen erzeugt die Ausstellung eine Vielzahl gleichberechtigter Erzählungen, die sie im Veranstaltungsraum zueinander in
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abb. 3 documenta 5, kassel, sektion realismus, neue galerie, 30. juni–8.oktober 1972. ansicht: daniel buren, exposition d‘une exposition, une pièce en 7 tableaux, in situ-arbeit mit jasper johns, flag (enkaustik, öl und collage auf leinwand), 1972
Beziehung setzt, die aber auch die vormaligen Bezüge ihrer Entstehung außerhalb des Ausstellungszusammenhangs sichtbar bleiben lässt. Die unterschiedlichen Unterbrechungen, die das raumzeitliche Collageverfahren von Tensta Museum schafft, sind als Effekte präsentationaler Zusammenstellung im historischen Kontext institutionsreflektierender Ansätze der 1960er- und 1970er-Jahre zu verorten. Daniel Burens Mitwirkung an der documenta 5 in Kassel 1972 stellt eine wesentliche kunsthistorische Referenz dar für die Übertragung der künstlerischen Auseinandersetzung mit Collage-Prinzipien in den kuratorischen Bereich. (Abb. 3) Mit seinem mehrteiligen, für die Ausstellungsräume sowie darüber hinaus für den Katalog konzipierten Ausstellungsbeitrag formulierte er nicht nur eine ästhetische Auseinandersetzung zur Figur-Grund-Problematik, sondern auch einen machtpolitisch gemünzten
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Angriff von Künstlerseite auf die Position des Kurators. Seine weiß-auf-weißen Streifen setzen sich zu einer um Funktion und Status von Malerei geführten Auseinandersetzung zusammen. Sie sind in sieben Räumen der Schau montiert, mal als tapetenähnlicher Untergrund von Kunstwerken anderer Ausstellungsteilnehmerinnen und -teilnehmer, dann wieder als eigenständige, aber auf Farbton oder dominante Linienführung anderer Beiträge abgestimmte Arbeit und werden durch seine Text- und Bildauswahl im Katalog ergänzt. Die Relationen seiner Exponate zu anderen Exponaten, zu Mitteln des Displays, zum Raum, zur Gesamtveranstaltung der documenta-Ausstellung sowie zu den um Präsentationskriterien und -ordnungen geführten Diskursen wiesen seinen Beitrag als immer wieder neu definierbar und gestaltbar aus. Die Präsentationsform stellte damit die in der Ausstellung verfolgte Strukturierung entlang von Verhältnissen unterschiedlicher kunsthistorischer Epochen und Stile etwa, von Weiß- zu Farbwerten, von Abstraktion und Figuration oder Hoch- und Populärkultur zur Debatte. Darüber hinaus bezog Buren sich selbst, sowohl als Künstler unter anderen Künstlerinnen und Künstlern als auch im Gegenüber zum Kurator Harald Szeemann und dessen Team, in die Befragung bedeutungsstiftender Machtpositionen im Kunst- und, spezifischer, im kuratorischen Feld mit ein.8 Der sich kontinuierlich wandelnde Status der Streifen, ebenso wie derjenige der eigenen Rolle, den die jeweils unterschiedlich gestalteten Verhältnisse hervorbrachten, erlaubte die Distanz zu bis dahin scheinbar natürlich gegebenen Positionen von Kunst, Künstler und Kurator. Das Spiel mit verschiedenen Formen des öffentlichen Auftritts der weiß-in-weißen Streifen versetzte vertraute Wahrnehmungsverhältnisse in Bewegung, in der Subjekt und Objekt der Präsentation mit ihren angestammten Zuschreibungen nicht mehr eindeutig oder dauerhaft voneinander unterscheidbar waren, und dies auf ästhetischer wie sozialer Ebene. In demselben Maße gerieten auch klare Rollenzuweisungen, die über Gast-Sein und Gastgeberschaft entscheiden sollten, ins Wanken, machten doch sowohl Szeemann als auch Buren Vorgaben für den Raum, den sie sich gegenseitig ebenso wie den übrigen Ausstellungsteilnehmerinnen und -teilnehmern für den jeweiligen Auftritt im Öffentlichen samt der daran geknüpften Teilhabe an der Bedeutungsproduktion in der Ausstellung gewähren – oder eben nicht oder anders – wollten. In Burens collagierender Zusammenstellung werden die Effekte der ausstellenden Transposition zum Thema und bringen dabei sowohl deren kreative, sinnstiftende Anteile zum Tragen als auch deren machtbezogene.
8 Ausführlicher zu Burens Auseinandersetzung mit der Präsentation von Kunst und dem Verhältnis von Künstler zu Kurator auf der documenta 5 vgl. Beatrice von Bismarck, Der Meister der Werke. Daniel Burens Beitrag zur documenta 5 in Kassel 1972, in: Uwe Fleckner/Martin Schieder/Michael Zimmermann (Hg.), Jenseits der Grenzen. Französische und deutsche Kunst vom Ancien Régime bis zur Gegenwart. Thomas W. Gaehtgens zum 60. Geburtstag, Köln 2000, S. 215–229. Buren modifizierte seine Kritik an den Machtpositionen im kuratorischen Feld in den auf die documenta 5 folgenden Jahrzehnten in Entsprechung zu den Veränderungen dieses Feldes. Vgl. etwa Daniel Buren, Where are the Artists, in: Jens Hoffmann, The Next Documenta Should be Curated by an Artist, Frankfurt am Main 2004, S. 26–31; Dan Fox, Being Curated. Daniel Buren: Exhibiting Exhibitions, in: frieze, 154, April 2013, http://www. frieze.com/issue/article/being-curated (Letzter Zugriff: 6. August 2015).
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abb. 4 weather everything, galerie für zeitgenössische kunst, leipzig, 31. august– 1. november 1998. ansicht: bazilebustamente, kadhafi, öl auf holz, 1986, vor andy warhol, mao, wandtapete, 1974
Burens collagierendes Vorgehen exponierte, wie im Titel Exposition d’une exposition vorgezeichnet, die Ausstellung mit den Strukturen, die sie überhaupt erst ermöglichten. Er rückte damit die bedeutungsstiftende Kraft des Ausstellens in den Blick, die sich über die Einzelwerke hinaus in und durch die jeweilige Konstellation ergibt. Die Position des Kurators als Produzent von subjektiver und subjektivierender Bedeutung wies er als Teil dieser von Konkurrenzen zu anderen Akteuren durchzogenen Konstellation aus. Entsprechend Walter Benjamins Verständnis von Montage oder – näher am Bereich der bildenden Kunst – von Collage, nach dem jedes Montieren zugleich auch ein Demontieren voraussetzt, die Konstruktion eines Neuen die Dekonstruktion eines Alten, stellen Burens Vor-, Über-, Neben- und Hintereinander-Gruppierungen seiner Streifen mit anderen Akteuren und Aktanten der documenta deren angestammten Wert, Bedeutung, Status und Funktion zur Debatte, setzen sie aus, demontieren sie, um sie in gewandelter Weise erneut in Erscheinung treten zu lassen. Was als Kunst gelten darf und welche Objekte lediglich den Status von Hilfsmitteln zugesprochen bekommen, erfuhr in diesem Prozess ebenso eine Umwertung und Neuverteilung wie
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die Entscheidungsgewalt über Ein- und Ausschluss, Zugehörigkeit und Fremdheit oder über die Regeln, nach denen die Teilhabe erfolgte. Auf solche Umwertungsprozesse von Ausstellungen abzuzielen, ist unter dem Gesichtspunkt der Politizität keineswegs gleichbedeutend mit kritischer Neuverteilung, wie im Fall Burens, sondern kann im Gegenteil gerade der Ästhetisierung, Entpolitisierung oder Verschleierung von Festschreibungen etablierter Hierarchien dienen. (Abb. 4) Die Installation etwa, die 1998 Eric Troncy mit Weather Everything in der Leipziger Galerie für Zeitgenössische Kunst präsentierte, machte zwar das radikale Umdeutungspotenzial anschaulich, das Ausstellungen besitzen können. Mit dem Ziel, dem Publikum eine unerwartete zusätzliche Bedeutung der Kunstwerke durch Reihungen und Übereinanderhängung zu präsentieren, schien sich allerdings der Einwand Burens bestätigt zu finden, dass dann, wenn Kuratorinnen und Kuratoren den eigenen subjektivierten Standpunkt in den Vordergrund rücken, die künstlerischen Arbeiten nur mehr zu Farbtupfen in der als Werk verstandenen Ausstellung werden.9 Dass seit den späten 1960er-Jahren Kuratorinnen und Kuratoren im Rahmen der Ausweisung ihrer bedeutungsstiftenden Macht stärker als je zuvor das Recht zugesprochen wird, ‚Ich‘ zu sagen, wie es Troncy selbst ausdrückte,10 und mithin als Autorinnen oder Autoren ihrer Ausstellungen in Erscheinung zu treten, lässt sich als eine wesentliche, das Feld des Kuratorischen zusätzlich politisierende Entwicklung beschreiben, in deren Rahmen es galt, um die Teilhabe an der Bedeutungsproduktion im Feld zu streiten. Die eigene Sprecherposition aus den Aushandlungsprozessen auszuklammern, depolitisiert dagegen letztlich die Bedeutungsunterbrechung und Neucodierung, die die künstlerischen Arbeiten durch ihre Zusammenstellung in Wert, Status und Funktion erfahren. In Jens Hoffmanns zweiteiliger Ausstellung Other Primary Structures im Jewish Museum in New York wiederum hat die Collage-Technik den Effekt neuerlicher Hierarchie-Festschreibung. (Abb. 5) Angelegt war sie als Referenz an die Ausstellung Primary Structures, die 1966 von dem kurz darauf ans MoMA wechselnden Kurator Kynaston McShine konzipiert worden war, und die im Verlaufe ihrer Rezeption mehr und mehr zu einem Meilenstein in der Geschichte des Minimalismus, der Ausstellungsgeschichte allgemein und der Geschichte des Jewish Museum im Speziellen geworden war. Das Anliegen des neu ins Amt als Deputy Director gekommenen Kurators Hoffmann war es, wie er selbst betonte, die globalisierten Konditionen des Kunstfeldes im 21. Jahrhundert in einer Ausstellung mitzuberücksichtigen, die wie 1966 der geometrischen Abstraktion gewidmet sein sollte.11 An die Stelle der amerikanischen und britischen Bildhauer und Bildhauerinnen – drei Künstlerinnen unter den insgesamt 42 Teilnehmenden – waren nun 30 skulpturale Positionen (fünf davon Künstlerinnen) aus Mitteleuropa, Asien, 9 Daniel Buren, Ausstellung einer Ausstellung, in: documenta 5, Ausst.-Kat. Museum Fridericianum und Neue Galerie, Kassel 1972, S. 17–29. 10 Eric Troncy, o. T., in: Begleitheft zur Tagung Die Kunst des Ausstellens/The Art of Exhibiting. International Conference, Staatliche Akademie der Bildenden Künste Stuttgart, Stuttgart, 27.–29. April 2001, o. S. 11 Jens Hoffmann, Another Introduction, in: Other Primary Structures, Ausst.-Kat. The Jewish Museum, New York/London 2014, o. S.
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abb. 5 other primary structures, the jewish museum, new york, 14. märz–3. august 2014. ansicht: norberto puzzolo, virtual pyramid with exterior and interior view, 1967, rekonstruiert 2014 (vorne); stanislav kolíbal, labile, gips, 1964 (hinten links); david lamelas, situation of four aluminum plates, aluminium, 1966, rekonstruiert 2014 (hinten rechts); wandtapete mit ansichten von primary structures, the jewish museum, new york, 1966: sol lewitt, no title, bemaltes holz sowie walter de maria, cage, edelstahl, (links) und carl andre, lever, schamottziegel (hinten)
Afrika, dem Nahen Osten und insbesondere – mit fast der Hälfte der Teilnehmenden – aus Südamerika getreten. Die Möglichkeit einer Revision der Kunstgeschichte unter postkolonialer Perspektive unterlief die Ausstellung aber ausgerechnet mit den Mitteln der Collage: Schwarz-weiße Installationsaufnahmen der Primary Structures von 1966 rahmten als Tapeten, vergrößert auf eine 1:1 Relation, die im Raum platzierten Skulpturen. Damit erweiterten etwa, um hier nur eine Konstellation beispielhaft zu erwähnen, die Bodenskulptur Carl Andres oder Sol LeWitts No Title (1966) den Raum um Norberto Puzzolos Virtual Pyramid with Exterior and Interior View, 1967 (rekonstruiert), David Lamelas Situation for Four Aluminum Plates, 1966 (rekonstruiert), und Stanislav Kolíbals Labile, 1964. Wenn die erklärte Zielsetzung der Ausstellung war, künstlerische Positionen zu zeigen, die 1966 unter den Bedingungen eines noch segregierteren Kunstsystems innerhalb McShines Konzept keine Beachtung fanden, so ist es gerade die Konfrontation der Installation von 2014 mit Installationsshots von 1966, die das politische Moment einer solchen Zielsetzung konterkariert. Denn die Referenz auf die Arbeiten aus Großbritannien und Nordamerika tritt hier wie eine Interpretationslinse auf, welche die Präsenz der Werke aus außer-europäischen und -nordamerikanischen
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Ländern erst rechtfertigt. Was sich im Titel Other Primary Structures bereits andeutet, die Fortsetzung eines Othering, findet in dem Einsatz der Fotografien einen weiteren Ausdruck: Das Verhältnis von damals und heute wird gleichbedeutend mit demjenigen von ‚Wir‘ und ‚die Anderen‘, die Inklusion erfolgt vor dem Hintergrund eines Ereignisses, das seinen Ruhm nicht zuletzt unter den Konditionen damaliger Exklusion erlangte. Die präsentationale Trennung zwischen den Exponaten von 2014 und denjenigen von 1966 – sowohl räumlich als auch medial und materiell – setzt eine erneute Hierarchisierung in Szene, die die gewandelte Mobilität und Zugänglichkeit, die das Kunstfeld des 21. Jahrhunderts prägen, vor allem für eine Suche nach Ähnlichkeiten nutzt, die ihrerseits die Zentralität und historische Bedeutung der Kunstszene des globalen Nordwestens erneut bestätigen und untermauern. Der Collage-Effekt lässt damit in der New Yorker Ausstellung Other Primary Structures die dokumentarischen Materialien – die Installationsaufnahmen von 1966 – als maßstabsetzende Folie fungieren, die das Medium Ausstellung als Werkzeug der Einschreibung in den bereits etablierten Kanon westlicher Kunstgeschichte erscheinen lässt. Das ‚Andere‘ der Other Primary Structures erscheint als weiterhin unterschieden – chronologisch, materiell, ökonomisch und in seinem Status. Im Ensemble der Referenzen an die Ursprungsausstellung wirken die eigentlichen Exponate wie Stellvertreter ihrer eigenen vormaligen Exklusion und gewinnen den Charakter von Dokumenten einer von New York aus erzählten ‚großen‘ Geschichte. Etablierte Narrative mit den Mitteln der Montage und Collage gerade zu destabilisieren und in ihren sozialen und politischen Implikationen durch die Möglichkeit des Ausstellens infrage zu stellen und umzudefinieren, steht dagegen im Zentrum der Auseinandersetzung mit dem Medium Ausstellung, die Julie Ault und Martin Beck 2006 für die Wiener Secession vornahmen. (Abb. 6) Im Rahmen des Projekts Installation vollzogen Ault und Beck eine kuratorische Praxis in flux, mit der sie Bedeutung, Aufgaben und Rollen sämtlicher in die Ausstellung involvierter Elemente – von den Materialien über die unterschiedlich beteiligten Akteurinnen und Akteure, sich selbst eingeschlossen, bis zu den einbezogenen Orten und Diskursen – dynamisierten. In ihrer spezifischen Einrichtung und Medialität exponierte Installation die Bedingungen und Potenziale ihrer Konstitution, Funktion und Rezeption.12 Stellvertretend für das Verfahren ästhetischer Neuverknüpfung mit gesellschaftspolitischer Relevanz sei der mit Corita Area betitelte Ausstellungsteil genannt, der noch einmal gerade die Effekte des Collageverfahrens auf verschiedenen Ebenen exemplifiziert. Gewidmet war er der Arbeit der sowohl künstlerisch, gestalterisch, lehrend als auch politisch aktiven katholischen Ordensschwester Corita Kent (1918–1986). 1998 hatte Ault begonnen, sich mit der Bildproduktion Kents und deren Einsatz im Rahmen ihrer verschiedenen Tätigkeitsfelder zu befassen. In Publikationen und Ausstellungspräsentationsformen thematisierte sie künstlerische, religiöse, gesellschaftliche und politische Aneignungsverfahren von ästhetischen Materialien, indem sie Konstellationen schuf, die jeweils Einzelaspekte in den Vordergrund stellten – die ästhetischen Eigenschaften, die biografischen Bezüge, 12 Zur Ausstellung vgl. Julie Ault/Martin Beck, Installation, Ausst.-Kat. Secession, Wien, Wien/ Köln 2006.
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abb. 6 julie ault/martin beck, installation, secession, wien, 22. september– 12. november 2006. ansicht: julie ault, corita area, 2006, diaschau von corita kent und reproduktionen aus corita kent, footnotes and headlines, 1967 (podestoberflächen)
den Einsatz in der Vermittlung, zur Illustration oder Dekoration – und innerhalb der hoch- und populärkulturellen Bildproduktion der 1960er- und 1970er-Jahre verortete.13 In der Wiener Ausstellung rückte Ault die öffentlichen Veranstaltungen und Feiern in den Vordergrund, in denen Kents Arbeiten zum Einsatz kamen, behandelte sie dabei nicht allein als Exponate, die in Diasequenzen zusammengestellt waren, sondern auch – aufgedruckt auf farbig-geometrische Sitzgelegenheiten – als dekorierend informierende Möblierungen des Ausstellungsraums. Aults Umgang mit der Arbeit Corita Kents antwortete auf die Vielfalt der Funktionen, die deren visuelle Produktion in unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen und Handlungsformen übernommen hatte, indem sie ihrerseits das Verhältnis von bildender Kunst, Grafikdesign, sozialpolitischem Engagement und religiöser Überzeugung aus bestehenden hierarchischen Gefügen herauslöste. Die Analogien, ihre eigene zwischen unterschiedlichen professionellen Rollen changierende Position zu der Praxis Corita Kents, spiegeln sich in den unterschiedlichen präsentationalen Umgangsformen mit deren Archivmaterialien. 13 Vgl. u. a. Julie Ault: Come Alive! The Spirited Art of Sister Corita, London 2006.
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Um zur Ausgangsfrage nach der Politizität des Ausstellens zurückzukommen, lassen sich die Unterbrechungen, die die untersuchten Akte des Zusammenstellens im Öffentlichen bewirken, entlang zweier Achsen beurteilen: Zum einen führen sie zu veränderten Grenzen zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, die sich jeweils mit sehr divergierenden Vorzeichen auf die vormaligen Sichtbarkeitsordnungen beziehen: Das Aufbrechen von Hierarchien und Statuszuweisungen, mit den zwischen Kunst und Displaymittel, Hoch- und Populärkultur, westlicher und nicht-westlicher Kunstproduktion unterschieden wird, kann dabei in der Einrichtung neuer Hierarchien, die auf dadurch erstarkten individuellen und institutionellen Subjektpositionen aufbauen, münden; alternativ versetzen die Verfahren des Ausstellens mit kritisch-selbstreflexiver Ausrichtung die Voraussetzungen und Bedingungen der vormaligen Sichtbarkeitsordnungen und ihr Verhältnis zu Repräsentation und Ökonomisierung in eine unabgeschlossene Bewegung. In ihr treten die Prozesse der Konstruktion und die sie leitenden Interessen als befrag- und gestaltbar in Erscheinung, die Präsentation in der Ausstellung stellt ein vorläufiges Ergebnis, einen Zwischenstand der Auseinandersetzung dar. Die zweite Achse ergibt sich durch die Neuverteilung sozialer Teilhabe: Buren hat mit seinem Beitrag zur documenta 1972 einen Akt der Selbstbehauptung praktiziert, mit dem er die konfliktäre Situation zwischen den verschiedenen – den offiziell teilnehmenden ebenso wie implizit auch den ausgeschlossenen – Akteuren einer Ausstellung offen anspricht und zur Aufführung bringt. Die Art und Weise der Neuanordnung entscheidet in den Praktiken der Folgejahre darüber, ob diese Konflikte zugunsten fixierter Rollen- und Aufgabenverteilungen, Machtpositionen und Blickregime ausgeblendet, angeeignet und scheinbar neutralisiert werden oder ob sich über die Austragung der Verteilungskontroversen und das Prozessieren der darin angesprochenen Verhältnisse letztlich auch die gesellschaftliche Legitimation von Kunst und ihrer Einrichtungen ableitet. Wahrnehmungs- und Gastfreundschaftsverhältnisse, die diese beiden Achsen beschreiben, binden schließlich in ihrer Verschränkung die politische Dimension des Ausstellens an eine ethische an: eine, die auf die Verantwortung dringt, die Wahrnehmungsverhältnisse mit Blick auf die darin gezollte Anerkennung und die Gastfreundschaftsverhältnisse hinsichtlich des gewährten Schutzes zu überprüfen. Die in dem lateinischen curare angelegte und das kuratorische Feld begrifflich begründende Sorge würde damit ihren häufig kritisierten paternalistischen Beigeschmack verlieren, da sie weniger auf Menschen, Gemeinschaften und Objekte gerichtet wäre, sondern auf die durch die Ausstellungen zwischen ihnen (vorübergehend) etablierten Verhältnisse.
diskussion hans. d. christ: Gab es in der Ausstellung im Jewish Museum auf textlicher bzw. vermittelnder Ebene Hinweise, dass diese Form des Minimalismus sich aus der Kunstgeschichte Brasiliens der 1950er-Jahre ableitet? Ansonsten wäre dieses Display reine Geschichtsklitterung zur Unterstützung der Argumentation des Kurators und eine Fortsetzung der klassisch-liberalistischen Argumentation, dass die westliche Hemisphäre als kultureller Vorreiter gilt.
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beatrice von bismarck: Mir ging es in meinem Beitrag vor allem darum, auf der Ebene der Ausstellung selbst zu bleiben. Ich habe aber natürlich auch die anderen Vermittlungsebenen angeschaut: Es gibt einen Katalog, der die beiden Ausstellungen zusammenfasst und darauf zielt, die Ausstellung von 2014 in eine Struktur zu bringen, welche jene des Katalogs von 1966 wiederholt.14 Darin finden sich einzelne kurze Texte zu den beteiligten Künstlerinnen und Künstlern und ihren konzeptionellen Überlegungen zu den Werken. Was hier in der Tat fehlt, ist eine Erzählung, die auf lokale Spezifika und Traditionen eingeht, anstatt immer wieder auf Dada zurückzukommen, auf den Konstruktivismus und andere ‚Helden‘ westlicher Kunstgeschichte. Das scheint der Überzeugung zu entspringen, dass die teilnehmenden Künstlerinnen und Künstler sich selbst auch auf diese Vorreiter berufen haben. Der Anspruch der Ausstellung, gängige Erzählmuster aufzubrechen, ist hier nicht gelungen. Was sich darin vielmehr zeigt, sind die möglichen Abweichungen zwischen Anspruch und Ausstellungsergebnis, für die die jeweilige visuelle Argumentation innerhalb der Ausstellung eine entscheidende Rolle spielt.
meike boldt15: Ich finde es überraschend, dass der Künstler Rasheed Araeen16 im Kontext der Ausstellung Other Primary Structures ausgestellt hat, denn in dem Interview mit ihm in dem von Ihnen mitherausgegeben Buch Globalisierung/Hierarchisierung erschien er mir solchen Strukturen gegenüber sehr kritisch zu sein.17 Deswegen würde mich erstens interessieren, wie er und die anderen Künstlerinnen und Künstler die Ausstellung kommentiert haben. Zweitens halte ich das Verständnis von Künstlerinnen bzw. Künstlern als Kuratorinnen bzw. Kuratoren, Forschende oder Wissen-Schaffende und Mitgestalterinnen und Mitgestalter und die damit verbundene Reflexion der Kuratorenrolle für einen sehr guten Ansatz. Darüber hinaus frage ich mich drittens, wie die Forderung von Gayatri Chakravorty Spivak in Can the Subaltern Speak? und Hito Steyerl,18 einen Sprechakt und Raum des Zuhörens zu schaffen, funktionieren kann.
beatrice von bismarck: Zu Ihrer ersten Frage: Ich kenne die Reaktionen der teilnehmenden Künstlerinnen und Künstler dieser Ausstellung nicht. Ich nehme auch nicht an, dass die Platzierung der Arbeiten hier nach den Vorgaben Araeens erfolgte. Dazu gibt es aber keinen publizierten Kommentar seinerseits. Es gibt insgesamt auch nur verhalten kritische Rezensionen zu der Ausstellung, und die Kritik richtet sich eher auf qantitative als inhaltliche Aspekte – darauf etwa, dass die Räume zu klein seien oder zu wenig Arbeiten gezeigt würden.
14 Jens Hoffmann/Kynaston McShine, Other Primary Structures, Ausst.-Kat. Jewish Museum, New York 2014. 15 Meike Boldt ist Studentin im Bachelorstudiengang Kunstgeschichte und Filmwissenschaft am Seminar für Kunstgeschichte und Filmwissenschaft der Friedrich-Schiller-Universität Jena. 16 Zu Theorie und Werk von Rasheed Araeen vgl. From Modernism to Postmodernism: Rasheed Araeen. A Retrospective 1959–1987, Ausst.-Kat. Ikon Gallery, Birmingham 1987; Rasheed Araeen, Ausst.-Kat. S. London A. G., London 1994; Rasheed Araeen, Remarks on interventive tendencies, Kopenhagen 2001; ders., Art beyond art: ecoaesthetics. A manifesto for the 21st century, London 2010. 17 Irene Below/Beatrice von Bismarck (Hg.), Globalisierung/Hierarchisierung. Kulturelle Dominanzen in Kunst und Kunstgeschichte, Marburg 2005. 18 Gayatri Chakravorty Spivak, Can the Subaltern Speak? Postkolonalität und subalterne Artikulation. Mit einer Einleitung von Hito Steyerl, Wien 2007.
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Zu Ihrer letzten Frage: In der Tensta-Kunsthalle gibt es einen Raum, in dem genau das passiert, was Sie angesprochen haben – in ihm wird Zuhören zur Aktivität. Hier eröffnet das Zuhören bzw. Schweigen auch die Möglichkeit, ein Wissen zu heben, das unter anderen Umständen möglicherweise nicht rezipierbar geworden wäre. Und zu Ihrem zweiten Punkt: Die Diskussion um das Verhältnis von Künstler und Kurator ist so alt, wie das Ausstellungsmachen selbst. Mein Argument zielte weniger darauf, dass die Künstler zu Kuratoren oder die Kuratoren zu Künstlern werden oder werden sollten, als vielmehr darauf, danach zu fragen, welche Aktivitäten, Strategien und Rollen zu welchen Zwecken und Zielen in einer kuratorischen Situation zum Einsatz kommen und entsprechend unter den Teilnehmenden verteilt werden könnten.
elisabeth fritz: Würden Sie sagen, dass die beiden von Ihnen präsentierten Achsen politischen Ausstellens – also das Aufbrechen von gängigen Hierarchien der Sichtbarkeit bzw. die Neuverteilung von Teilhabe durch partizipative Strukturen – die zwei zentralen Formen der politischen Ausstellung heutzutage sind? Oder sind es nur Beispiele unter vielen? beatrice von bismarck: Die genannten Positionen stehen für mich stellvertretend für ein Spektrum von in ihrer Politizität divergierenden Ausstellungspraktiken. Sie sind nicht ohne die Wahl- oder Entscheidungsmöglichkeiten innerhalb der verschiedenen Praxisformen und ihren jeweiligen Konnotationen denkbar. Die darin jeweils auch demonstrativ eingenommene Position würde ich als eine Form performativen Handelns betrachten, die nicht zuletzt auch bedeutet, bestimmte Privilegien für sich in Anspruch zu nehmen.
gürsoy dog˘taș: Mich interessieren die unterschiedlichen Parameter für Erfolg, die in den verschiedenen Institutionen angesetzt werden. Maria Lind kann etwa in der Tensta-Kunsthalle ein anderes Programm machen, weil der Erfolgsparameter ein ganz anderer ist als bei Jens Hoffmann. Ich weiß nicht, wie man die Bedeutung solcher Erfolgsparameter in Theorien des Kuratorischen mit einbauen kann, aber vielleicht kannst Du darauf noch einmal eingehen?
beatrice von bismarck: Die institutionelle Kontextualisierung und die daraus jeweils abgeleiteten Erfolgsparameter spielen eine ganz wesentliche Rolle für eine Politik kuratorischen Handelns. Other Primary Structures im Jewish Museum tatsächlich als eine Ausstellung zu gestalten, die die postkoloniale Theorie aufnimmt und eine kommentierende Distanz zur Ursprungsausstellung herstellt, hätte sich ja auch im Kontext internationaler Museumspraxis als profilbildend für die Institution erweisen können. Im Falle von Maria Lind erfolgte Ihre Auswahl der künstlerischen Arbeiten weniger mit Blick auf die internationalen Kunsteinrichtungen als im Interesse eines aus den spezifischen lokalen Anforderungen entwickelten Programms.
anna schober: Meine Frage bezieht sich auf den Begriff der ‚Aushandlung‘ oder des ‚Verhandlungsraums‘. Wird damit nicht die Idee vermittelt, es gebe ein vernünftiges, bewusstes Sich-Auseinandersetzen mit all diesen Prozessen, und die könnten in einem tatsächlichen Raum stattfinden als eine Art Container, in dem diese Prozesse in einer gewissen Weise kontrolliert ausgeführt werden können? Aber sowohl Kunst als auch Kuratieren haben ganz andere Komponenten und Aspekte von Emotionalität, von affektiver Resonanz etc., die eben auch flüchtig, unbewusst und unkontrollierbar sind. Wie ist daher letztlich Ihre Einschätzung von Politizität in
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Bezug auf die drei Hauptbeispiele? Ihr Vortrag hat sich stark auf die Räume und die verschiedenen Komponenten oder Ebenen, die man dabei unterscheiden kann, bezogen. Erzeugt der Begriff des ‚Verhandlungsraums‘ in diesem Zusammenhang nicht ein Stück weit auch einen Mythos?
beatrice von bismarck: Mir ging es weniger um Kontrolle als um ein Zur-Verfügung-Stellen, wie es auch Hans D. Christ in seinem Beitrag angesprochen hat,19 – darum, einen Raum zu öffnen und bestimmte Prozesse überhaupt erst zu ermöglichen, ohne dass die gewünschten Ergebnisse im Vorhinein feststehen. Die Ausstellung als Verhandlungsraum kann dazu beitragen, ein Bewusstsein für die unterschiedlichen Kapitalsorten, die hier auf dem Spiel stehen, für die Regeln und die damit verbundenen Restriktionen zu erzeugen und in den Aushandlungen über die zur Debatte stehenden Belange zum Einsatz zu bringen. Wenn hier die Rede von der Politik von Ausstellungen ist und von denjenigen, die für sie verantwortlich sind, ist diese Form von Bewusstseinsbildung ein wesentlicher Aspekt. Dafür, dass dies spezifische Räume sind, die möglicherweise poröse Abgrenzungen im Verhältnis zur Gesellschaft haben können, stellt die Ausstellung in Tensta ein gutes Beispiel dar. Hier wurden in den Stadtteil hinein und aus dem Stadtteil heraus verschiedene solcher Auseinandersetzungen in die Institution hinein- und wieder zurückgetragen. Nicht nur symbolisch, sondern auf einer sozialen Ebene. Sei es, dass Aktivitäten des in unmittelbarer Nähe gegründeten Frauenhauses jetzt in der Kunsthalle stattfinden können oder dass bestimmte Funktionen, die im Frauenhaus gestrichen worden sind, zumindest temporär von Mitarbeitern der Kunsthalle übernommen werden. Oder dass die kurdische Gemeinschaft begonnen hat, Mitglieder anderer Communities in ihr Haus einzuladen, die bislang nicht dorthin kamen. Diese Vorgänge wurden durch die in der Kunsthalle ausgetragene Auseinandersetzung mit Migrationsprozessen initiiert.
rachel mader: Somit war die Ausstellung in der Tensta Kunsthalle eigentlich ganz anders, viel breiter und aktueller ausgerichtet als die von Jens Hoffmann, die sehr viel mehr kunsthistorisch angelegt war. Wo fängt die politische Schieflage in Jens Hoffmanns Ausstellung an? Ist das Ausstellungsdisplay nur eine Oberfläche, in der sich aber sehr viel zeigt?
beatrice von bismarck: Das Politische kommt in den Praktiken zum Tragen, die wir aus dem Ausstellungswesen kennen. Ich habe mich hier vor allem auf das Verfahren der Collage konzentriert, das sowohl in Ausstellungen auftritt als auch demjenigen, welches Ausstellungen generiert, ähnelt. Das Display ist eines der möglichen Bestandteile eines solchen Collage-Verfahrens. Wie werden dabei die Materialien inhaltlich miteinander verbunden, und was entsteht aus dieser Zusammenführung? Welcher Teil tritt als Träger und welcher als Getragenes in Erscheinung? Für mich ist die Frage an die Ausstellung von Jens Hoffmann weniger, ab wann sie unter politischen Gesichtspunkten in eine Schieflage geraten ist, sondern warum. Welche Verfahren mit welchen Voraussetzungen und Interessen waren daran beteiligt? Welche alternativen Optionen hätte es für die spezifische Zusammenstellung gegeben, welche Prozesse gingen ihr voraus, und welche Effekte resultieren daraus? Für diese Verfahren der Konstellation im Öffentlichen versuche ich, u. a. die Feldtheorie von Bourdieu nutzbar zu machen.
19 Vgl. den Beitrag von Hans D. Christ in diesem Band.
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sandra bradvic20: Genau da möchte ich gern anknüpfen. Sie hatten in Ihrem Beitrag mit Bezug auf Bourdieu von der ,Struktur der Felder‘ gesprochen, die Sie dann auf die Ausstellung quasi als Werkzeug, Medium und Resultat übertragen haben, an dem man die Relationen zwischen den Akteuren – den Kuratoren, Institutionen, Künstlern und allen Beteiligten – ablesen kann. Es ist auffallend, dass die Ausstellung in dieser Art von Handlungsraum stattfindet und sich bereits durch eine sehr kritische, aber auch selbstreflexive Haltung der Kuratoren auszeichnet. Und dann wurden Ausstellungen vorgestellt, die mitunter auch die eigene Geschichte der Institution durch die Wiederholung von Ausstellungen reflektieren. Mich würde in Bezug auf das Verhältnis – auch das Machtverhältnis – der beteiligten Akteure einer Ausstellung interessieren, welche Funktion diese Selbstreflexivität erfüllt. Ist das auch ein Instrument zur Stärkung der eigenen Macht? Können wir nur noch in die Öffentlichkeit treten und von einer kritischen Ausstellung sprechen, indem wir uns selbst hinterfragen?
beatrice von bismarck: Das sind zum Teil auch für mich noch offene Fragen, die etwa in die Nähe der kritischen Auseinandersetzung mit der künstlerischen Institutionskritik führen. Mir scheint es im Moment noch grundsätzlich darum zu gehen, das Kuratorische als eine kulturelle Praxis so zu etablieren, dass sie diese Form der selbstreflexiven Arbeit inkorporiert. Das bedeutet nicht notwendigerweise eine selbstkritische Herangehensweise, in jedem Fall aber eine, die nach den eigenen Voraussetzungen und Bedingungen fragt, nach den Optionen und Effekten der jeweils getroffenen kuratorischen Entscheidungen.
sandra bradvic: Können Sie noch etwas zum Verhältnis von Künstlern, Kuratoren und Institutionen in diesem Fall sagen? Oft spielen diese drei ja auch zusammen, so dass eine Institution sich zur Verfügung stellt, damit Kuratoren mit ihrer Ausstellung über ihre eigene Praxis, aber auch die Geschichte der Institution reflektieren können. Ist das eine Art von Komplizenschaft, oder wie kann man dieses Verhältnis beschreiben?
beatrice von bismarck: Das hängt ganz von der jeweils gegebenen Ausstellungssituation ab. Ein Faktor, der in die Frage nach Komplizenschaft hineinspielt, ist etwa das symbolische Kapital der Mitwirkenden. Künstlerinnen und Künstlern etwa wird traditionell mehr symbolisches Kapital zugesprochen als Kuratorinnen und Kuratoren, weshalb ihnen ein größerer gestalterischer Freiraum und stärkere Abweichungen von der dienenden Rolle gegenüber den Exponaten erlaubt ist. Eine derzeit gängige Praxis gerade musealer Sammlungen besteht entsprechend in der Einladung an Künstlerinnen und Künstler, mit dem Bestand zu arbeiten, um sich so, künstlerisch legitimiert, von wissenschaftlichen oder institutionell gebundenen Ordnungs- und Anordnungsregularien entfernen zu können und damit eine andere Form der Bedeutungsproduktion zu ermöglichen.
hans d. christ: Ich wollte etwas zur Frage, ob das mit dem Raum des Aushandelns ein Mythos ist, ergänzen: Es gibt eine Praxis im Raum, die Selbstrepräsentation im Raum und die Repräsentation
20 Sandra Bradvic ist Doktorandin der Kunstgeschichte an der Graduate School of the Arts der Hochschule der Künste Bern und der Universität Bern, wo sie an einem Promotionsvorhaben über Kuratorische Praxis in Bosnien-Herzegowina 1982–2011 arbeitet.
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durch den Raum.21 Das sind drei unterschiedliche Ebenen, die immer durcheinander geraten. Als wir nach Stuttgart gekommen sind, haben wir die Finanzierungsstrukturen so umgestellt, dass wir Künstlerhonorare auf die erste Ebene, gleichbezahlt mit den Designern, gestellt haben und daher enorm viel Geld für die Künstlerproduktionen akquirieren mussten. Dann erhielten wir aus der Politik die Rückfrage, warum wir diesen Bereich um 400 % gesteigert haben, weil das für sie wie eine Mehrausgabe wirkte. In der Aushandlung mit dem politischen Raum, der ganz konkret als technokratisch-bürokratischer wieder an die Institution angebunden ist, bestimme ich so die Bedingungen neu, die ich als adäquat für eine zeitgenössische institutionelle Praxis betrachte. Insofern ist das kein Mythos. Man muss sich in diesem Zusammenhang aber fragen, was das Selbstkritische bzw. Selbstreflexive ist und in welcher Form dieses auftritt. So wie in der Ausstellung von Jens Hoffmann, also über einen Prozess der Verschleierung, durch eine ästhetisierende, homogenisierende Oberfläche, die mich psychologisch anspricht und in dieser ästhetischen Erfahrung aufgehen lässt, aber eigentlich in Relation zu der verhandelten Ware eine Täuschung darstellt? Oder aber ich nehme die Annahme, dass es immer eine Lücke gibt, die ich nicht ausfüllen kann, mit in die Präsentation auf. Ich würde dann die Frage stellen, wann Ausstellungen z. B. ideologisch werden. Wann verpflichten sie mich auf eine auktoriale Rednerstruktur? Wann schließen sie tatsächlich eine Distanzfindung aus oder ein? Das sind für mich die Momente, wo diese Aushandlung stattfindet, die immer in die Frage der Repräsentationsstrukturen hineinreicht und sich jeweils nach Institutionskontext verschiebt.
wiebke gronemeyer: Ich möchte gerne auf die Frage zurückkommen, ob die Herstellung eines ‚Verhandlungsraumes‘ durch Ausstellungen ein Mythos ist. Sie haben gesagt, dass dieser Verhandlungsraum ein offener und auch ein spezifischer Raum mit porösen Rändern ist – also mit sozial-realer Anbindung. Ich habe mich gefragt, ob es mittlerweile nicht die disziplinare Vorgabe ist – da Institutionen unter enormem Legitimationsdruck stehen – genau diese porösen Ränder herzustellen, um eben Kunst nicht als autonom zu verstehen, sondern in eine Funktionalität zu bringen. Ist dieser Verhandlungsraum mittlerweile vielleicht kein Mythos, sondern eine Vorgabe? Müssen Institutionen und eine kuratorische Praxis diesen Verhandlungsraum mitliefern?
21 Hier wird auf die verschiedenen Strukturen der räumlichen Praktiken und Repräsentationsformen Bezug genommen, die von Henry Lefebvre in seinem Buch La production de l’éspace (1974) formuliert wurden, das leider bis heute nicht vollständig auf Deutsch übersetzt wurde. Ein Auszug ist zu finden in: Jörg Dünne/Stephan Günzel (Hg.), Raumtheorie, Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaft, Frankfurt am Main 2006, nach Henri Lefebvre, La production de l’espace, Paris 42001 (= Collection Idées, Nachdruck von 1974), S. 330–342. Ebd., S. 333: „a) Die räumliche Praxis [pratique spatiale]: Sie umfasst die Produktion und Reproduktion, spezielle Orte und Gesamträume, die jeder sozialen Formation eigen sind, und sichert die Kontinuität in einem relativen Zusammenhalt. Dieser Zusammenhalt impliziert in Bezug auf den sozialen Raum und den Bezug jedes Mitglieds dieser Gesellschaft zu seinem Raum sowohl eine gewisse Kompetenz als auch eine bestimmte Performanz. b) Die Raumrepräsentationen [représentations de l’espace]: Sie sind mit den Produktionsverhältnissen verbunden, mit der ‚Ordnung‘, die sie durchsetzen, und folglich auch mit Kenntnissen, Zeichen, Codes und ‚frontalen‘ Beziehungen. c) Die Repräsentationsräume [espaces de représentation]: Sie weisen (ob kodiert oder nicht) komplexe Symbolisierungen auf, sind mit der verborgenen und unterirdischen Seite des sozialen Lebens, aber auch mit der Kunst verbunden, die man möglicherweise nicht als Raumcode, sondern als Code der Repräsentationsräume auffassen kann.“
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beatrice von bismarck: In Bezug auf kleine, organisatorisch unabhängige oder selbstorganisierte Räume, die sich schwerpunktmäßig mit zeitgenössischer Kunst beschäftigen, gebe ich Ihnen Recht – hier zeichnen sich Aneignungsversuche seitens der Politik ab, die weniger Austragungsorte von Dissens im Blick haben als die Verschiebung von Verantwortung. In größeren Museen dagegen fehlen solche auf Aushandlung ausgerichtete Öffnungen, von denen wir vorhin in Bezug auf den Württembergischen Kunstverein gehört haben, weitgehend.22 Klare Vorgaben, in welcher Weise das Museum abgegrenzt ist von anderen Einrichtungen und dem Umfeld, in dem es sich bewegt, sind bislang noch eher die Norm.
hans d. christ: Wie vorhin deutlich gemacht, wende ich im institutionellen Feld die Dinge an, die über eine künstlerische Produktion in dieses eintreten und es auch permanent aufreißen. Es geht dabei nicht darum, eine vorgegebene Struktur auf die Institution zu übertragen, an deren Rändern man in einer bestimmten Weise zu agieren hat. Wenn eine Künstlerin wie Marina Naprushkina mit einem Projekt kommt, das in einem Migrationsheim stattfindet,23 dann versuche ich die Institution darauf einzustellen, dass sie dieser Anforderung gerecht wird und nicht umgekehrt. Also ich stelle nicht den Künstler darauf ein, dass er meiner Vorstellung von Offenheit an den Rändern entspricht. Das ist eine Wahl von Positionen, die wir an dieser Stelle treffen.
verena krieger: Mir scheint, wir haben jetzt mehrere Begriffe des Verhandlungsraums, die auch miteinander in Konflikt stehen, und man könnte das positiv als eine Mehrdimensionalität dieses Begriffs betrachten. Ob man das eher konkret auf die kuratorische Praxis bezieht, als Handlungsspielräume, als Aktionsspielräume im Umgang mit Institutionen und Künstlern oder allgemeiner als einen gesellschaftlichen Handlungsraum begreift, kann in dieser Mehrdimensionalität vorerst offen gelassen werden und als Folie für weitere Diskussionen dienen, um herauszufinden, in welchem Sinn dieser Begriff für uns sinnvoll zu verwenden ist. Wir nehmen für die weitere Diskussion auch einen geschärften Blick für die diffizilen Handlungsoptionen in der kuratorischen Praxis mit und dafür, wie Strukturen oder konkrete kuratorische Verfahren in unterschiedlichen Kontexten und Anwendungszusammenhängen völlig unterschiedliche politische Bedeutung erlangen können.
22 Vgl. den Beitrag von Hans D. Christ in diesem Band. 23 Im Ausschluss der Öffentlichkeit, Workshop mit Marina Naprushkina, Teil 1: 11. Januar 2014, Württembergischer Kunstverein, Stuttgart, Teil 2: 17.–18. Januar 2014, Berlin.
ausstellungen als (un)politische medien II. permanente manifestationen und danuvius 68 (zur alternativen kunst der slowakei in den 1960er-jahren)
andrea bátorová „Mehr als jemals zuvor gehören uns die Straßen und die Wände der Häuser (…). Die Kunst, ihre nicht messbare Kraft, die uns aus dem Tierreich hervorhebt, hat noch keiner durchbrechen können. Die Diktatoren, die Dogmen sind gefallen, es sind Jahrtausende vergangen, aber der Mensch ist mit seiner Liebe, seinen Träumen und seiner Hoffnung immer geblieben.“ (Alex Mlynárčik/Erik Dietmann) „Was passiert aber, wenn diese gespenstische Welt von der Bühne in das Publikum eintreten würde?“ (J. Chalupecký)
Im Augenmerk dieses Beitrages stehen zwei Ausstellungen, II. Permanente Manifestationen und Danuvius 68, welche im Kontext sowohl der slowakischen Ausstellungspraxis als auch für das Thema dieses Tagungsbandes als essenzielle Beispiele für den vielschichtigen Nexus von Kunst und Politik im mittel- und osteuropäischen Kontext dienen können. Die Untersuchung der alternativen und inoffiziellen Kunst in der Slowakei in den 1960er- und 1970er-Jahren stellt trotz einiger wichtiger Veröffentlichungen seit 1989 ein Forschungsdesiderat dar. Die genannte Periode war durch immense soziopolitische Veränderungen charakterisiert, welche in der ehemaligen Tschechoslowakei eine direkte Auswirkung auf die Kultur und den Kunstbetrieb hatten. Bevor ich mich näher mit II. Permanente Manifestationen und Danuvius 68 auseinandersetze, möchte ich ganz kurz die Situation in der Kultursphäre in der ehemaligen Tschechoslowakei schildern, da diese für das Verständnis der Bedeutung dieser Ausstellungen entscheidend ist. Obwohl die 1960er-Jahre in der Slowakei keiner linearen Entwicklung folgen, lassen sie sich schematisch in drei Etappen unterteilen: Die erste Phase betrifft die Jahre 1957 bis 1963, in welchen Grundlagen für die Entwicklung der neuen Tendenzen geschaffen wurden.1 Die zweite Etappe ist etwa von 1964 bis 1967 anzusetzen. Sie ist durch die Entfaltung der neuen Kunstströmungen wie Aktionskunst, Land Art, Konzeptuelle Kunst bzw. deren Mischformen gekennzeichnet. Elisabeth Jappe bezeichnete das Phänomen der Auswechselbarkeit der Medien und Ausdrucksformen als Mediennomadismus.2 Man kann eben diese Strategie der künstlerischen Freiheit in den 1960er-Jahren feststellen, da in dieser Phase eine Pluralität der Strömungen entsteht. Gleichzeitig schreitet im Land die Entwicklung des sogenannten ‚Sozialis1 Andrea Bátorová, Aktionskunst in der Slowakei in den 1960er Jahren, Berlin/Münster 2009. 2 Elisabeth Jappe, Performance. Ritual. Prozess, München 1993, S. 67.
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mus mit menschlichem Antlitz‘ voran. Die dritte Etappe zwischen 1968 und 1972 stellt einen Höhepunkt dieser Entwicklung dar, was in gewisser Weise ein Paradoxon ist, weil im August 1968 die Annektierung der Tschechoslowakei durch die Armeen des Warschauer Paktes stattfand und somit ab 1970 der Prozess der sogenannten ‚Normalisierung‘ anfing, der durch fortschreitende Unterdrückung aller alternativen Kunstäußerungen gekennzeichnet war. Welche Symptome und welche Auswirkung dieses Paradoxon innehatte, wird im folgenden Text näher geschildert. Grundsätzlich darf man nicht aus den Augen verlieren, dass während der gesamten Zeit der 1960er-Jahre die dogmatische Doktrin des Sozialistischen Realismus als die offizielle und somit institutionell führende Kunstform galt. Der gesamte Kulturbetrieb wurde von der zentralisierten staatlichen Macht regiert. Von der Kommunistischen Partei koordinierte Ausstellungen wurden ein Referenzfeld und Medium der Repräsentation des fortschreitenden Erfolges der Entwicklung des Sozialistischen Staates. II.
permanente manifestationen
In die oben beschriebene, durch die kommunistische Macht regierte Kulturpolitik schlug wie ein Meteorit die Ausstellung II. Permanente Manifestationen von Alex Mlynárčik ein.3 Das Projekt – eine ortsbezogene Installation und gleichzeitig eines der ersten Happenings in der Slowakei – fand in einer öffentlichen Toilette auf einem der Hauptplätze von Bratislava statt. Hintergrund der Entstehung der II. Permanenten Manifestationen ist der Weltkongress der Assoziation der Kunstkritiker (AICA), der vom 2. bis 4. Oktober 1966 in der Tschechoslowakei stattfand. Der Kongress wurde von mehreren großen Ausstellungsprojekten in den Zentren Prag und Bratislava begleitet. Die Ausstellung Zeitgenössische slowakische Kunst in Bratislava präsentierte ausschließlich Künstler und Künstlerinnen, die reguläre Mitglieder des Vereins der bildenden Künstler waren, und stellte somit eine Art „vorsichtigen Kompromiss, der an die obligatorischen Schauen erinnert,“ dar, wie Miroslav Lamač in einer Rezension berichtete.4 Es wurden Künstler und Künstlerinnen gezeigt, die bereits etabliert waren und bis dahin häufig ausgestellt hatten. Für die jungen Künstler und Künstlerinnen bot sich die Gelegenheit, während der Ausstellung der Jungen in Brünn auszustellen. Bei dieser Schau wurden 160 Künstler unter 35 Jahren mit mehr als 400 Werken präsentiert. Ursprünglich sollte dort Alex Mlynárčik ebenso teilnehmen. Nach seiner persönlichen Aussage hat er auf die Teilnahme verzichtet, weil er nicht mit der Tatsache einverstanden war, dass die junge progressive Kunst, um die es bei dem AICA-Kongress vordergründig gehen sollte, an die Peripherie nach Brünn verbannt wurde, und dass in den Zentren Prag und Bratislava nur die offiziellen, etablierten Künstler und Künstlerinnen präsentiert wurden. Der Kongress fand nämlich die ersten vier Tage in Prag und die letzten zwei in Bratislava statt. Es war sehr wahrscheinlich, dass die Teilnehmer und Teilnehmerinnen bei vollem Programm gar nicht nach Brünn reisen würden und die Ausstellung somit 3 Zu Alex Mlynárčik vgl. Pierre Restany, INDE/Ailleurs, Bratislava 1996; Bátorová 2009 (wie Anm. 1). 4 Miroslav Lamač, Z Prahy do Brna a Bratislavy, in: Literární noviny, Nr. 42, 15.10.1966, S. 5 (Übersetzung A. B.).
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abb. 1 alex mlynárčik, II. permanente manifestationen, hurban platz, bratislava, 2.–4. oktober 1966. außenansicht
nur von wenig Fachpublikum gesehen werden würde. Mlynárčik entschied sich während des Kongresses, ein autonomes Projekt auf die Beine zu stellen, und organisierte II. Permanente Manifestationen.5 Die Einladung dazu versandte er vor allem an die Kongressteilnehmer und -teilnehmerinnen. Zwischen dem 2. und 4. Oktober 1966 gestaltete Mlynárčik eine öffentliche Toilette um. Diese befand sich auf einem zentralen Platz, an dem auch die Galéria Cypriána Majerníka ihren Sitz hatte, in der die jungen Künstler und Künstlerinnen damals häufig ausstellten.6 (Abb. 1) Die Toilette befand sich im Untergrund und hatte einen runden Grundriss mit einer Art Rinne, die sich an der Wand entlang zog. In der Rinne installierte der Künstler sieben große Spiegel, auf denen Namen von Philosophen oder Künstlern standen (Hl. Antonius, Hieronymus Bosch, Gerard Chevallier, Godot, Michelangelo Pistoletto und Stano Filko).7 Unter diesen befand sich auch die chemische Formel für Harnsäure. Die Dauer der Aktion war durch vier Banner bzw. Transparente angekündigt, welche an dem äußeren Geländer befestigt wurden. Auf jedem war noch ein Pfeil, der nach unten in den Untergrund zeigte. Während des ganzen Tages wurden die Besucherinnen und Besucher (unter welchen auch zahlreiche Kritiker vom AICA-Kongress waren, etwa Pierre Restany, Michel Ragon, Jindřich Chalupecký, Umberto Apollonio) aufgefordert, eine Nachricht auf den Wänden, den vorbereiteten Papieren oder in einem der Gästehefte zu hinterlas5 Permanente Manifestationen stellte eine Serie von insgesamt vier Projekten dar, die allerdings unterschiedlichen Charakter haben (Permanente Manifestationen I–IV). 6 Die Galéria Cypriána Majerníka gehörte zu den progressivsten Ausstellungsräumen ihrer Zeit. In der Galerie stellten häufig junge und unbekannte Künstler und Künstlerinnen aus, welche gerade in der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre eine bedeutende Rolle in der Entwicklung von non-konformen Tendenzen spielten. 7 Unglücklicherweise gibt es keine Fotodokumentation der Aktion. Die einzigen Relikte sind Aufnahmen von den hinterlassenen Einträgen im Gästebuch. Das Projekt wurde von Restany 1996, S. 24f. (wie Anm. 3) aus Teilnehmerperspektive beschrieben. Ebenso beschrieb Alex Mlynárčik die Umstände, welche die Aktion begleitet haben, in: Jindřich Chalupecký/Alex Mlynárčik/Príbeh Alexa Mlynárčika, P. S. Zápisky z cesty A. M., Samizdat 2011, S. 97–105.
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sen. Aus einem Kassettenrekorder erklang wiederholt ein und dieselbe Melodie, der Radetzky-Marsch, welcher von der Toilettenfrau abgespielt wurde.8 Die anonyme Nachricht, welche sich irgendwo im öffentlichen Raum befindet, ist eines der Hauptmotive in Mlynárčiks Werk. Er zeigte bereits in seinem Frühwerk und bei seiner ersten Pariser Ausstellung, in I. Permanente Manifestationen (1966), den interaktiven Environments Versuchung und Villa dei misteri (beide 1967) sowie Bonjour Monsieur Courbet (1969), großes Interesse an autorlosen Nachrichten, indem er seine ausgestellten Objekte oder Teile der Installationen von den Besuchern und Besucherinnen frei beschriften ließ. Hiermit wurde die herkömmliche und nichtkünstlerische Aktivität im öffentlichen Raum zur kunstinternen Angelegenheit, und das Kunstwerk übernahm die Aufgabe, als Plattform und Medium der Kommunikation zu dienen. Mlynárčiks Faszination für anonyme Nachrichten, welche auf den Wänden einer Stadt, in den Toiletten oder auf den Bäumen hinterlassen wurden, haben nach eigener Aussage Wurzeln in seinem Gefängnisaufenthalt im Jahre 1951.9 Mit 16 Jahren wurde er in der damals sowjetischen Zone in Österreich festgenommen und zu einem Jahr Haft verurteilt, nachdem er mit einem Freund illegal die Grenze der Tschechoslowakei überschritten hatte. Zum Teil verbrachte er die Zeit in einer Einzelzelle, in der er die Kritzeleien von seinen Vorgängern bis ins letzte Detail untersuchte. Dieses prägende Erlebnis spiegelt sich in seinem Werk und in seinem Verständnis der Kunst als Ort der sozialen Begegnung wider. In einem Gespräch äußerte der Künstler Folgendes: „Ich weiß nicht, ob Sie sich eine Einzelzelle vorstellen können – Sie sind einfach allein, eingeschlossen zwischen vier Mauern und irgendwo oben ist ein kleines, winziges, vergittertes Fenster. In der Zelle (…) befand sich nichts außer einem Eimer für die körperlichen Bedürfnisse und einer Strohmatte, die den ganzen Tag an der Wand stehen musste. Ich musste stehen oder hin und zurück fünf Schritte laufen. (…) Der einzige ‚Kontakt mit der Zivilisation‘ waren die Wände voll von kleinen Inschriften und Nachrichten, aber vor allem voll von Strichen, die die hier verbrachten Tage zählten. Diese Graffitis waren nicht geschrieben, sondern mit Nägeln eingeritzt. Sie waren ein Buch, eine Bibel, wenn Sie so wollen, gefüllt mit verschiedenen Mitteilungen, mit den Ursachen des Leides und der Hoffnung. Ich las sie alle hunderte Male, und weiß ganz genau, dass eine Nachricht eines Anonymen an andere Anonyme eine warmherzige Mitteilung darstellen kann, die einen aufmuntern kann und die die Hoffnungslosigkeit unserer Einsamkeit erträglicher macht. Da irgendwo ist die Quelle meiner Beziehung zu Graffitis – als eine Nachricht von Jemandem an Jemanden.“10
Kommen wir jetzt zurück zu den II. Permanenten Manifestationen und zu der Frage, wie die Reaktion des sozialistischen Apparates auf eine solche künstlerische Aktivität war. 8 In seiner Autobiografie schreibt Mlynárčik darüber, dass er im Vorfeld dem Direktor der Technischen Dienste der Hauptstadt seine Ideen mitteilte und diesen um Erlaubnis bat, die öffentliche Toilette zu „mieten“, die er von ihm offiziell auch bekommen hat. Mlynárčik 2011(wie Anm. 7), S. 98. 9 Bátorová 2009 (wie Anm. 1), S. 282f. 10 Ebd., S. 282f. (Übersetzung A. B.)
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Noch während deren Dauer wurde der Künstler durch Polizeibeamte verhört. Er sagte aus, er wollte eine psychologische Untersuchung, eine Art Experiment, durchführen.11 In der Tageszeitung Práca erschien eine umfangreiche negative Kritik der Veranstaltung von Anton Sitár, welche zum Schauplatz eines ideologischen und einseitigen Kampfes wurde.12 Obwohl es heutzutage keine Aufnahmen von der Installation gibt, finden wir paradoxerweise gerade in der Einleitung eine präzise Beschreibung von deren Aufstellung sowie des Verlaufs der Vorbereitungen und des Geschehens, wie es in keinem anderen Text in dieser detaillierten Art und Weise festgehalten wurde. Ebenso beschreibt Sitár die Reaktion der Besucher und Besucherinnen: „Manche Besucher der Toilette haben sich über das Ganze gewundert, andere haben gelacht, manche waren darüber verärgert und haben es sofort gemeldet. Die Polizei hat alles demontiert und begann, sich näher für die Urheber der Idee zu interessieren. Es gab allerdings kaum Spuren. Erst bei dem Produzenten der Spiegel erfuhr die Polizei, wer diese bestellt hat.“13
Sitár bot dem Leser bzw. der Leserin außerdem eine fachliche Begutachtung des Projektes durch einen Psychologen, Psychiater, Sexuologen und Soziologen, die allerdings anonym blieben. Der Psychologe verurteilte die erwähnte Begründung des Künstlers und kritisierte die Tatsache, dass der Künstler kein konkretes Ziel verfolgte. Weiterhin beschrieb der Psychologe das Argument der Anonymität als ,irrtümlich‘, da eine psychologische Untersuchung mit Anonymität nichts anfangen könne. Denn der Künstler müsse für ein objektives Ergebnis nicht nur die Aktivität, sondern auch den Täter und dessen Motivation unter die Lupe nehmen. Ebenso meinte er, dass man für ein objektives Ergebnis die reale Umgebung nicht verändern dürfe, da man durch die künstlerische Umwandlung die Aktivitäten im Raum manipuliere. Während der Psychologe einigermaßen logische Argumente lieferte, verfielen die restlichen drei Urteilenden – der Psychiater, Sexuologe und Soziologe – in eine offensichtliche Aversion gegen den Künstler. Ihm wurden Unprofessionalität, Extravaganz, eine Geistesstörung und sexuelle Abnormalität vorgeworfen:
11 „Ich beschäftige mich mit der theoretischen und praktischen Untersuchung von Inschriften im öffentlichen Raum (…) Das Experiment wollte ich nach dem Prinzip der Anonymität durchführen. Die gesamten Auslagen – Banner, Spiegel, Stifte und Papier – habe ich aus eigener Tasche finanziert. (…) Die Spiegel habe ich installiert, um die Besucher der Toilette zu schockieren, zu provozieren, damit die Männer alle möglichen Schweinereien und anderes darauf schreiben. In dieser Untersuchung ging es mir um die anonyme Äußerung des Publikums. (…) Das intime Verhalten der Menschen auf einer Toilette hat eine weite Auswirkung. Inschriften auf Toiletten sind ein weitverbreitetes Phänomen. Sie sind aus künstlerischer Sicht äußerst interessant. Die Menschen zeichnen und schreiben fantastische Sachen, manchmal ganz ernsthafte Gedichte. Das zu verhindern, ist problematisch. Ich habe deswegen vorgeschlagen, dass man in Bratislava eine öffentliche Toilette gestaltet, in der die Besucher alles Mögliche schreiben und zeichnen können. Das wäre eine Art Meinungsumfrage.“ Zit. n.: Anton Sitár, „Výskum“ na čudnom mieste, in: Práca, 18.10.1966, Nr. 250, S. 4 (Übersetzung A. B.). 12 Ebd. (Übersetzung A. B.) 13 Ebd. (Übersetzung A. B.)
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andrea bátorová „Man sollte den geistigen Zustand dieser Leute untersuchen, damit klar wird, ob es sich um Hysteriker, Menschen mit pathologischer Veränderung der Launen (...) oder Schizophrenie (...) handelt. Man sollte nämlich wissen, wie man diese Leute, falls sie gesund sind, bestrafen sollte, oder ob man sie, falls sie für ihr Tun nicht verantwortlich sind, zu heilen versuchen sollte... Die Tatsache, dass die Erwähnten zu ihrer Untersuchung gerade den Ort einer öffentlichen Toilette ausgesucht haben und dass sie solche Bedingungen schufen, dass sich die Männer beim Urinieren sehen können, führt zu der Vermutung, dass es sich um eine sexuelle Deviation handelt. (...) Wir sehen diese Erscheinung im breiteren Zusammenhang. Wir wissen, dass diese Kunstformen in der letzten Zeit öfters vorkommen; ihre Entstehung werden wir aber nicht nachvollziehen können, weil es sich um eine ausschließlich aus dem Westen importierte Erscheinung handelt. (...) Glauben Sie mir, mit Kunst oder Wissenschaft hat es gar nichts zu tun.“14
Vier Tage nach der Veröffentlichung des Artikels erschien in der gleichnamigen Zeitung eine Reaktion mit dem Titel „Wie man die neue Kunst beurteilt“ von Ľudo Petránsky.15 Der Autor, der damals mehrere Artikel über die alternative und junge Kunst schrieb, trat mit seinen einleitenden Worten in eine direkte Auseinandersetzung mit Sitár: „Wenn jemand den Mut hat, mit den Konventionen zu brechen, passiert es oft, dass derjenige missverstanden wird.“16 Mit Berufung auf Pierre Restanys und Raoul-Jean Moulins Texte über Mlynárčiks Werk, versuchte Petránsky die Idee von den II. Permanenten Manifestationen als einen Aufruf zum partizipativen Verhalten der Mitmenschen in der urbanen Umgebung dem Leser bzw. der Leserin näher zu bringen. Weiterhin wies er darauf hin, dass bei der fachlichen Begutachtung der Aktion die Meinung eines Kunstkritikers oder Kunsttheoretikers fehlte. Petránsky wies geschickt einige Kritikpunkte der ‚Gutachter‘ zurück. Eine weitere Reaktion auf die Kritik von Anton Sitár erschien von Jindřich Chalupecký unter dem Titel „Kunst, Wahnsinn, Verbrechen“.17 Unter Berufung auf die Missinterpretation von Mlynárčiks II. Permanenten Manifestationen unternahm er einen Versuch, das Anliegen von und das Verständnis für solch ‚unorthodoxe‘ Aktivitäten sowie für Happenings im Allgemeinen zu vermitteln: „Die Kunst soll und muss den Mut haben, in alle Bereiche einzutreten, vor allem in die verbotenen: in die Dunkelheit, ins Laster, Verbrechen, in die Hoffnungslosigkeit, Scham. Die Tragödie ist ihr eigenes Reich. ‚Sie werden hören von Sünden, Morden, abartigen Perversionen, Tötungen von den Blinden, zufälligen Schicksalen, von Hinrichtungen, die durch Lügen zu Stande kamen (…)‘, rezitiert Horaz und wir schauen ruhig zu. Was passiert aber, wenn diese gespenstische Welt von der Bühne in das Publikum eintreten würde?“18 14 Ebd. (Übersetzung A. B.) 15 Ľudo Petránsky, Ako hodnotiť nové umenie (K reportáži: „Výskum na čudnom mieste), in: Práca, 22.10.1966, Nr. 254, S. 3. 16 Ebd. (Übersetzung A. B.) 17 Jindřich Chalupecký, Umění, šílenstvi, zločin, in: Sešity pro mladou literaturu 11/1967, S. 47. 18 Ebd. (Übersetzung A. B.)
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Die Kritik von Sitár kann als exemplarisch für eine Zeit gelten, in welcher die nonkonformen Kunstformen um Anerkennung als Kunst kämpfen mussten, was in einer Kultur, in welcher der Dogmatismus und die Doktrin des Sozialistischen Realismus als offizielle Richtlinie galt, sehr schwierig war. Zusätzlich handelte es sich um ein Zusammentreffen von neuen Kunstformen und einer neuen Kunstauffassung mit der akademischen Vorstellung von Kunst, die durch die Konservativen und Traditionellen vertreten wurde. Mlynárčik, der zu der Zeit der Realisierung der II. Permanenten Manifestationen als Assistent an der Akademie der bildenden Künste und Design in Bratislava beschäftigt war, beschrieb in seiner Autobiografie die Sitzung der Professoren und die Konferenz Über die Kunst des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Slowakei zu dem ‚Toiletten-Vorfall‘, worin er die Verurteilung der Aktivität wie auch seiner Person festhielt.19 In Zusammenhang mit dem Thema des Symposiums in Jena ist außer der Konfrontation mit der politischen Macht in Form der erwähnten Kritik und Polemik in den Medien auch die im Jahre 1970 stattfindende Fortsetzung dieser Konfrontation interessant. Diese zeugt von einem manipulativen Umgang innerhalb der Kulturpolitik und kann die zwei Stufen und Dimensionen der Veränderungen innerhalb der kulturpolitischen Situation, welche zwischen 1966 und 1972 stattfanden, gut beleuchten. II. Permanente Manifestationen wurde als Symbol der dekadenten Kunst instrumentalisiert, die unter westlichem Einfluss entstand und demzufolge im Nachhinein verurteilt wurde. Ab 1970, als sich die sogenannte ‚Normalisierung‘ als Folge der Okkupation des Landes durch die Armeen des Warschauer Paktes im August 1968 in der Kultur bemerkbar zu machen begann, wurden die relativ liberalen Entwicklungen in der Kunst in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre rückwirkend als ‚Krisenjahre‘ bezeichnet. Im Jahre 1970 wurden nach dem XIII. Kongress der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei eine Reihe von Materialien zusammengetragen, die als Lehre aus der Krisenentwicklung in der Partei und in der Gesellschaft nach dem Kongress gezogen wurde.20 Dieselbe Resolution wurde im Jahre 1974 gemeinsam mit weiteren Schriften aus späteren Kongressen unter dem Titel Für die sozialistische Kunst veröffentlicht.21 Diese Ansammlung von stark ideologisch geprägten Dokumenten wurde zur führenden Referenz und Orientierungshilfe für die Entwicklung der Kultur der 1970er-Jahre, die im Prozess der Normalisierung wieder ihre dem Sozialistischen Realismus treue und geweihte Aufgabe finden sollte. Dieses sogenannte ,gelbe Buch‘ aus dem Jahre 1974 wurde von Mlynárčik als die ,Direktive der kommunistischen Inquisition‘ bezeichnet. In der Resolution des II. Kongresses des Vereines der slowakischen bildenden Künstler aus dem Jahre 1972, welche im Buch Für die sozialistische Kunst abgedruckt wurde, behandelte man gerade Mlynárčiks II. Permanente Manifestationen als Präzedenzfall und als typisches Beispiel für dekadente, bourgeoise Tendenzen ,aus dem Westen‘. Der Künstler
19 Mlynárčik 2011 (wie Anm. 7), S. 102f. 20 Poučenie z krízového vývoja v strane a spoločnosti po XIII. Zjazde KSČ, Bratislava 1970. 21 Za socialistické umenie, Bratislava 1974.
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wurde im Rahmen der Säuberungen im Jahre 1972 aus dem Verband der slowakischen bildenden Künstler ausgeschlossen und damit zum inoffiziellen Künstler. II. Permanente Manifestationen nimmt eine bedeutende Rolle wegen der Tatsache ein, dass das Projekt außerhalb des institutionellen Feldes stattfand und als Kritik an der damaligen Ausstellungspraxis und Kulturpolitik ausgeübt wurde – d. h. nicht nur Kritik am Diktat des kommunistischen Regimes und an der offiziellen Doktrin des Sozialistischen Realismus, sondern auch Kritik an der Kulturpolitik als ein Kompromiss, wie er sich anhand des Weltkongresses von AICA als einer sich eigentlich progressiv verstehenden Veranstaltung zeigte.
danuvius 68 Die Ausstellung Danuvius 68, welche vom 18. Oktober bis 24. November 1968 stattfand, stellt ein weiteres Beispiel einer Veranstaltung dar, die zum Schauplatz direkter Konfrontation mit den politischen Geschehnissen und ihrer unmittelbaren Auswirkung auf die Kulturpolitik und auf die Ausstellungspraxis wurde. Die als Startschuss einer Biennale konzipierte Schau Danuvius 68, kuratiert durch Ľubomír Kára, sollte im September 1968 in Bratislava stattfinden und junge Kunst sowie die neuesten Tendenzen auf internationaler Ebene vorstellen. Die Altersgrenze der Künstler und Künstlerinnen lag bei 35 Jahren.22 Danuvius 68 kann als eine progressive Veranstaltung bezeichnet werden, welche die Liberalisierung im Rahmen des fortschreitenden Prozesses des ‚Sozialismus mit menschlichem Antlitz‘ in der Tschechoslowakei widerspiegelt. Die Organisatoren legten neben der Schau im Haus der Kunst ebenso Wert auf das begleitende Programm, bei dem experimentelle und unkonventionelle Konzerte und Filmprojektionen aufgeführt wurden. In den Leitlinien der Ausstellung, welche im Katalog und in der Presse veröffentlicht wurden, nahm man sich vor, Kunst, die in den letzten zwei Jahren produziert wurde, „in einer breiten Skala der zeitgenössischen Meinungen und Tendenzen mit Betonung auf den progressiven Zugang zu den zeitgemäßen künstlerischen Fragen und zu den aktuellen Problemen der Zeit“ vorzustellen.23 Außerdem kündigte man an, dass die Ausstellung durch eine internationale Jury beurteilt werde, welche fünf Preise (einen großen Preis und vier kleinere Preise) verleihen würde. Für den Träger bzw. die Trägerin des großen Preises sollte eine Einzelausstellung im Rahmen der folgenden Biennale organisiert werden. In die Jury berief man Jindřich Chalupecký, Werner Hofmann, Pierre Restany, Milan Váross, Lukáš Vaculík und Zoran Kržišnik. Ebenso wurde beschlossen, dass die Ausstellung alle zwei Jahre in Bratislava in Form einer internationalen Biennale stattfinden würde.24 Die Okkupation der Tschechoslowakei durch die Armeen des Warschauer Paktes am 21. August 1968 bedeutete das Ende der Liberalisierung in der Kultur und brachte 22 Letztlich wurden 120 Künstler und Künstlerinnen eingeladen, davon 49 aus dem Ausland. Teilweise wurden die Künstler aufgefordert Werke einzureichen, ebenso konnten sich Künstler und Künstlerinnen aktiv um eine Teilnahme bewerben. 23 Danuvius 68, Ausst.-Kat. Dom umenia, Bratislava 1968, S. 10. (Übersetzung A. B.) 24 Ebd.
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als Resultat den Eisernen Vorhang und die Isolierung für die nächsten 20 Jahre. Die Invasion fand in einer Zeit statt, in der die Vorbereitungen für die Ausstellung, welche im September eröffnet werden sollte, auf Hochtouren liefen. Welche Auswirkung und welche Bedeutung hatte diese enorme politische Umwälzung auf den Inhalt, die Form und den Verlauf der Ausstellung? Die erste unmittelbare Folge der neuen kulturpolitischen Situation war, dass die Schau verschoben werden musste. Am 3. September 1968 (etwa zwei Wochen nach der Invasion) fand ein Treffen des Organisationskomitees – eine Art Krisensitzung – statt, in dem die neueste Entwicklung in der Kultursphäre reflektiert wurde. Man entschied, den Beginn der Ausstellung von September auf Oktober (mit Vernissage am 18.10.) zu verschieben. Die Ausstellung würde in vollem Umfang und gemäß der ursprünglichen Konzeption stattfinden, heißt es im Protokoll der Sitzung: „Durch persönliche Absprache mit den Mitgliedern von AICA (Bordeaux) in Frankreich“, so die damalige strategische Überlegung, „sollte man die Zusammensetzung der Jury ‚unter dem Aspekt der neuen Situation‘ (erneut, A. B.) bestimmen“25 Das Organisationskomitee musste sich bei dieser Zusammenkunft auch mit einem anderen Thema auseinandersetzen. Alex Mlynárčik formulierte direkt nach der Invasion zusammen mit dem schwedischen Künstler Erik Dietmann ein Protestschreiben gegen Gewalt und Aggression, welches nicht nur von den Verfassern, sondern auch durch weitere Künstler und Künstlerinnen (teilweise persönlich) unterschrieben wurde. Das Schreiben wurde an die Organisatoren wie folgt verschickt: „An die Teilnehmer der internationalen Biennale der Jungen DANUVIUS 68; an alle progressiven Künstler und Theoretiker! Geehrte Kollegen und Freunde, in den nächsten Tagen hätte die internationale Biennale der jungen Künstler, Danuvius 68, in Bratislava eröffnet werden sollen. (…) Wir dachten, dass der Glanz unserer Ausstellung umso mehr strahlen würde, da sie in einem Raum ohne Diktatur organisiert sein sollte. Die Zeit hat uns eingeholt und überrascht in der unglaublichsten Weise. Man kann behaupten, heute bleibt einem nur, aus ganzer Kraft zu glauben und alles für die hoffnungsvolle Zukunft des Menschen zu tun. Diese Zukunftsperspektiven sind eine Vision, in der es für Gewalt keinen Platz gibt. Wir sehen die Zeit des schrecklichen Kampfes um eine freie Existenz mit an. Die ganze Welt – und die Künstler mittendrin – steht im Angesicht des nichtentschuldbaren Unrechts und Leidens – der Genozide in Vietnam, Biafra. Vor den Augen aller sterben die Repräsentanten der progressiven Gedanken, die Brüder Kennedy, Dr. Martin Luther King. In den Straßen von Paris kämpfen Nobelpreisträger Seite an Seite mit Tausenden von jungen Leuten für die Ideen der neuen Sorbonne. (…) Liebe Kollegen, unsere Waffen sind weder Panzer, noch Maschinengewehre, Feuer oder Tod. Unsere Waffen sind die realisierten freien Ideen, die uns Hoffnung und Freude über die Existenz zurückbringen. Nehmt die einzig mögliche Haltung ein, die euch euer Bewusstsein und eure Würde ansagt. Möge Danuvius 68 zum Denkmal des Kampfes gegen die Gewalt werden! Verhüllt eure Werke, die mit größter professioneller Verantwortung und im freien künstlerischen
25 Ebd. (Übersetzung A. B.)
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abb. 2 alex mlynárčik/erik dietmann, die erde die geblieben ist, multiple bestehend aus erde, sand, bedruckter plastiktüte, 1968 Geist entstanden sind, mit einem schwarzen Tuch. Lasst die Wände ohne Bilder – aber mit eurem Namensschild. Möglicherweise wird Danuvius 68 nicht stattfinden, dann wisst ihr, wo euer Platz sein wird. Mehr als jemals zuvor gehören uns die Straßen und die Wände der Häuser (…). Die Kunst, ihre nicht messbare Kraft, die uns aus dem Tierreich hervorhebt, hat noch keiner durchbrechen können. Die Diktatoren, die Dogmen sind gefallen, es sind Jahrtausende vergangen, aber der Mensch ist mit seiner Liebe, seinen Träumen und seiner Hoffnung immer geblieben.“26
Weiterhin verschickten Mlynárčik und Dietmann begleitend zu ihrem Aufruf das Multiple Die Erde die geblieben ist – eine kleine Tüte gefüllt mit Erde und Sand aus Paris und Bratislava an Freunde und Bekannte in der ganzen Welt. (Abb. 2) Wie wurde mit diesem kollektiven Protest umgegangen? Der Brief wurde dem Organisationskomitee von Danuvius 68 zugestellt und zu einem der wichtigsten Themen bei der erwähnten Sitzung am 3. September 1968. Im Protokoll hieß es, dass der Verzicht auf die Ausstellungsteilnahme von Alex Mlynárčik, Karol Lacko und Jana Shejbalová-Želibská akzeptiert wurde. Ebenso tritt der schwedische Künstler Erik Dietmann von seiner Teilnahme an der Schau zurück. Ihre geplanten Projekte erschienen dennoch im Katalog. Jene Künstler und Künstlerinnen hingegen, welche das Protestschreiben guthießen (und in deren Auftrag es nach Absprache durch Mlynárčik und Dietmann unterschrieben wurden), dieses allerdings nicht persönlich unterschrieben hatten, wurden weiterhin als Teilnehmer und Teilnehmerinnen wahrgenommen, da ein offizielles, eigenhändig unterschriebenes Dokument fehlte. Die Vernissage der Ausstellung am 18. Oktober im Haus der Kunst in Bratislava eröffnete Ľubomír Kára mit folgenden Worten: 26 Zit. n.: Restany (wie Anm. 3), S. 67. (Übersetzung A. B.)
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abb. 3 vernissage von danuvius 68, haus der kunst bratislava, 18. oktober 1968. ansicht: interaktive plastik von bruno gironcoli „Die Ausstellung Danuvius 68 haben wir unter den Bedingungen vor dem August vorbereitet. Wir hätten diese am 4. September eröffnen sollen. Wir haben mit dem Aufbau angefangen und dann kamen die Panzer. Deswegen mussten wir die Ausstellung verschieben. Die heutige Realisierung der Ausstellung will kein Nachruf auf den ein halbes Jahr dauernden tschechoslowakischen Frühling, sie will nicht der Epilog zu unserem Aufschwung und unseren Hoffnungen, sondern sie will ein Prolog zu einem neuen, unermüdlichen Kampf sein. Die Ausstellung will ein Ausdruck des Kampfes für das Programm unserer Gesellschaft und unserer Kultur sein, der im Januar 1968 geboren wurde. Deswegen haben wir diese so realisiert, wie wir sie damals vorbereitet haben. Sie soll ein Ausdruck für das Streben, für die Vorstellung und den Willen sowie die Ideale des tschechoslowakischen sozialistischen Weges und des Verhältnisses einer freien Kunst in einem freien Leben sein.“27
Insgesamt wurde die Ausstellung äußerst gut besucht und vom Publikum angenommen. (Abb. 3) Der Grand prix von Danuvius 68 wurde an Jozef Jankovič für seine Skulpturen verliehen. (Abb. 4) Weiterhin wurde empfohlen, einige Ankäufe zu tätigen wie eine Zeichnung von Christo. In der Presse gab es einige kritische Stimmen, u. a. von Ivan Jirous, die dem Kurator vorwarfen, den Schwerpunkt auf die „epigonischen“ postsurrealistischen Arbeiten zu legen.28 Jirous reflektiert hingegen als sehr positiv die 27 Z otvorenia výstavy, Výtvarný život, Jhg. 14, 1969, S. 71. (Übersetzung A. B.) 28 Ivan Jirous, Otevřené možnosti, in: Výtvarná práce 22–23/1968, S. 6f.
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abb. 4 jozef jankovič, fall, skulptur bestehend aus metall, gips, epoxidharz, 1968. ansicht: haus der kunst bratislava, 1968
Präsentation der Werke mit konstruktivistischen Tendenzen (Getulio Alviani, Frank Stella), der Neuen Figuration sowie von ein paar Arbeiten, welche mit der Teilnahme des Zuschauers rechnen, z. B. das universelle Environment von Stanislav Filko (Abb. 5), die interaktive Plastik – eine Art ‚Boxsack‘ – von Bruno Gironcoli (Abb. 3) und ein ‚opti-terzieller Stabilloid‘ von Ivan Štěpán. Der Gesamteindruck der Ausstellung wie oft bei solchen groß angelegten Schauen war eher widersprüchlich. Ľubor Kára nannte als Leitidee bei der Installation der Werke „die Tendenz der maximalen Spannung und des Gegensatzes“, welche dem heutigen Weltbild entspreche.29 In diesem Sinne wurden Kunstwerke von Jozef Jankovič, Frank Stella und Andrej Rudavský zusammen präsentiert, was Jirous zufolge nicht immer stimmig war. (Abb. 6) Ausgestellt wurden dank der Vielfalt auch Künstler und Künstlerinnen, die später international hohe Anerkennung erreicht haben, wie der bereits erwähnte Christo. 29 Ebd., S. 6. (Übersetzung A. B.)
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abb. 5 stano filko, universelles environment, installation, 1966–1967. ansicht: haus der kunst bratislava, 1968
Danuvius 68 sollte als Biennale alle zwei Jahre stattfinden, allerdings wurde unter dem bereits geschilderten Gesichtspunkt der politischen Entwicklung der folgenden Jahre die Schau nicht fortgesetzt. Dennoch markiert sie einen wichtigen Referenzpunkt – eine Schwelle, welche die direkten Auswirkungen der Veränderungen in der Politik auf die Situation in der Kultur demonstriert. Es wurden zwei Ausstellungsformate, im Prinzip zwei kulturelle Modellsituationen, vorgestellt, welche gleichzeitig zwei der bedeutendsten Ereignisse der alternativen Kunst der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre in der Slowakei darstellen. Die zwei unterschiedlichen Ausstellungskontexte hängen nicht nur mit der jeweils anderen politischen Situation im Jahre 1966 und 1968 zusammen, sondern wurden auch durch das vollkommen unterschiedliche Format der Ausstellungen geprägt. II. Permanente Manifestationen und Danuvius 68 wurden zu Plattformen der Äußerung von Kritik gegen Autorität und die herrschende Hierarchie. Einmal eine kleine individuelle Ausstellung in einem Offspace außerhalb des Kunstbetriebs, außerhalb der Orte der etablierten Ausstellungs-
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abb. 6 danuvius 68, haus der kunst bratislava, 18. oktober–24. november 1968. ansicht: andrej rudavský, sonntagsecho i (plastik in der mitte), gemälde von frank stella (links), gemälde von jiří načeradský (rechts)
praxis, außerhalb der konventionellen Schaffensweise und sogar außerhalb des offiziellen Programmes des der progressiven Kunst gewidmeten AICA-Kongresses: in einer öffentlichen Toilette, was als Provokation gegenüber der politischen Macht verstanden und weshalb der Künstler für asozial und deviant erklärt wurde. Andererseits wurde hier eine großformatige internationale Schau analysiert, welche als Flaggschiff der Liberalisierung innerhalb der Kultur und als Symbol für Offenheit, für Pluralität, Toleranz und als Schritt in Richtung Befreiung von den Dogmen des Sozialistischen Realismus der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre dienen sollte, deren Vorbereitungen unterbrochen wurden von einem politischen Ereignis, das dermaßen einschlägig war, dass es die gesamte Konzeption infrage stellte und die weitere Planung und Umsetzung der Schau unter äußerster Vorsicht und taktischer Überlegung betrieben werden mussten. Ebenso wurde Danuvius 68 durch die Verweigerung der Teilnahme aus Protest gegen die Okkupation der Armeen des Warschauer Paktes indirekt zur Plattform der freien Meinungsäußerung.
diskussion beatrice von bismarck: Das waren zwei interessante Beispiele, bei denen sich mir zwei Fragen stellten. Zum einen: Was unterscheidet Ihrer Meinung nach eine künstlerische Aktion und eine im Zwei-Jahres-Rhythmus angelegte Ausstellung? Vielleicht sehen Sie das künstlerische Projekt Permanente Manifestationen auch als Biennale angelegt? Und das Zweite: Gibt es Aufnahmen von der Ausstellung Danuvius 68, die eine Vermutung zulassen, wie sich die Einbettung dieser Ausstellung in den realen, aber auch diskursiven Kontext verändert hat? Denn die Rede, die Sie vorgelesen haben, klingt ja wie eine Kampfschrift, die möglicherweise in der politischen Aus-
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richtung nicht mehr zu dem passte, was dann anschließend zu sehen war. Wissen Sie, inwiefern die im Oktober veränderte politische Situation einen Unterschied im politischen Anspruch dieser Ausstellung bewirkt hat?
andrea bátorová: Zur ersten Frage und der Biennale als Aktion: Das ist heute ganz klar anders als damals. Eine künstlerische Aktion ist ja mittlerweile klar definiert. In den 1960er-Jahren waren Mlynárčik und II. Permanente Manifestationen sehr von den Geschehnissen in Paris geprägt. Mlynárčik war bereits 1964 dort und wurde stark beeinflusst von der Philosophie von Pierre Restany. Wer Restanys Werk kennt, kann auch klare Analogien finden, etwa im Auf-dieStraße-Gehen, Aktiv-Sein, die-Leute-Einbeziehen und eine-Situation-in-Bewegung-Versetzen. In diesem Sinne sind eigentlich viele von Mlynárčiks Aktivitäten eine Art Aktion. Ich glaube aber, eine Biennale als Aktion kann eigentlich nur in dem Sinne funktionieren, dass man sagt, es geht um Kommunikation bzw. Projekte, die Kommunikation unterstützen, was als Idee etwa bei der 7. Berlin Biennale (2012) sehr fruchtbar war. Zur zweiten Frage und der veränderten politischen Lage: Das war damals wirklich eine sehr schwierige und unsichere Situation, in der die Leute geglaubt haben, es könnte irgendwie doch anders werden. Die, die das geglaubt haben, hatten dann auch den Mut, das zu äußern. Diese Art von politischer Schizophrenie gab es damals schon. Man muss unterscheiden zwischen den Begriffen ‚offiziell‘ – ‚nicht offiziell‘, ‚alternativ‘– ‚nicht alternativ‘, weil die sich damals teilweise vermischten und manchmal auch überdeckten. Es gibt eigentlich sehr viele graue Zonen dazwischen, und ich glaube, die bisherigen Publikationen bestärken dieses Schwarz-Weiß-Denken, so dass man öfters glaubt, es gab nur ‚reine‘ offizielle oder inoffizielle Kunstwerke in der Zeit. Die Ausstellung Danuvius 68 an sich und ihre Wahrnehmung sind nochmal was ganz anderes. Vom Publikum wurde sie sehr positiv aufgenommen, weil man Neues gesehen und auch Künstler vorgestellt hat, die im einheimischen Kontext damals ganz unbekannt waren. Das war einer der Ansätze der Ausstellung, die mehrere Schichten hatte. Es ging darum, einmal eine Art Pionierrolle als Ergebnis der politischen Liberalisierung der letzten Jahre zu übernehmen, woran man dann zeigen wollte: Wir öffnen uns und wir sind auf der Höhe der Zeit; wir wollen das machen, was in Mailand oder was in Venedig aktuell gemacht wird. Die Organisatoren hatten sich wirklich vorgenommen, eine Art Biennale im mitteleuropäischen Raum zu realisieren, die künftig das Potenzial haben sollte, ein Pendant zur Biennale in Venedig zu bilden. Das war ein großes Unternehmen, das als Idee eigentlich von der politischen Situation vor der Realisierung von Danuvius 68 ausging und im Endeffekt dann in diese andere politische Situation hineingeraten ist.
beatrice von bismarck: Mich interessiert das Verhältnis, mit dem der Begriff des Neuen definiert wurde. Ist ‚neu‘ eine aktuelle Abgrenzung von sich ausbildenden ästhetischen Positionen? Wird der Begriff von den Künstlern selbst definiert? Definiert sich ‚neu‘ auf der Ebene einer politischen Aussage, mit der man sich im internationalen Feld positionieren will? Entspricht das, was gezeigt wurde, diesen unterschiedlichen Ansprüchen? andrea bátorová: Der Anspruch war, Kunstwerke aus den letzten zwei Jahren und junge Künstler zu zeigen – das Neueste aus den Akademien, d. h. Arbeiten, die vorher nicht ausgestellt wurden – wobei natürlich manche Werke bereits irgendwo zu sehen gewesen waren. Es war wirklich so, dass die Kuratoren in die Ateliers gingen, um Arbeiten von Künstlern auszusuchen, die damals
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nicht bekannt waren. Sie waren in dem Sinne ‚neu‘, dass man einen Überblick über die aktuelle Kunst-Produktion der Zeit schuf. Im slowakischen Kontext – denn im genannten Sinne gilt es im Allgemeinen als ‚neu‘ – war das umso ‚neuer‘, da solche Kunstwerke äußerst selten ausgestellt wurden. Es herrschte offiziell nach wie vor die Doktrin des Sozialistischen Realismus und es war sehr schwierig für viele Künstler. Die Galéria Cypriána Majerníka war einer der wenigen Orte, wo junge Künstler austellten, aber sonst gab es sehr wenige Ausstellungsmöglichkeiten.
hans dickel: Ich habe zwei kunsthistorische Detailfragen. Zum einen zu der nicht realisierten aufblasbaren Säule von Alex Mlynárčik in Bratislava: Ist das ein bewusstes oder unbewusstes Zitat der gleichzeitigen Aktion von Christo auf der 4. documenta von 1968?30 Zum anderen gab es in Prag gleichzeitig eine Fluxus-Ost-Station sowie Fluxus-Aktionen, die Milan Knížák koordiniert hat.31 Gibt es da einen Zusammenhang? Gab es künstlerische Kontakte?
andrea bátorová: Mlynárčik hat in Prag studiert, ebenso war er 1964 in Paris bei Restany, und seitdem waren beide befreundet. Mlynárčik verbrachte 1966 längere Zeit in Paris, sah in den Räumlichkeiten der Galerie J, die damals zwar schon geschlossen war, alle relevanten Kataloge und kannte auch viele Nouveaux Réalistes persönlich. Das heißt, er war sehr gut informiert, auch über Christos Arbeiten. Auf der documenta von 1968 hat man ein sehr ähnliches Projekt von Christo gesehen – das 5600 Kubikmeter Paket –, aber Mlynárčik hat sich nicht explizit zu diesem Bezug geäußert. Knížák hatte mit seinen Aktionen bereits 1964/65 in Prag angefangen. Die Danuvius-Ausstellung war mehr auf Malerei, Skulptur und Installation ausgerichtet, nicht auf Aktionen. Knížák hatte mit dieser Ausstellung nichts zu tun. Er war auch viel zu weit außerhalb des Kunstbetriebs, wohingegen Danuvius eine institutionelle, wenn auch für die damalige Zeit sehr liberale Ausstellung war.
elisabeth fritz: Ich habe zwei weitere Fragen zu den Permanenten Manifestationen. Zum einen interessiert mich der Titel, der ja eigentlich das Gegenteil von dem bezeichnet, was die Kunstwerke machen – nämlich eine temporäre Intervention sein. Und dann wollte ich fragen, ob es Schriften zu ideologischen Aspekten gibt, vielleicht auch in Bezug auf die permanente Wirkung, die angestrebt wurde? In dem Zusammenhang möchte ich auch die Frage nach der Rezeption des Publikums dieser öffentlichen Toilette stellen. Sie haben geschildert, wie die Aktion von offizieller Seite bewertet wurde. Weiß man auch etwas über die Besucher, d. h. inwiefern der Ort aufgesucht wurde und wie er aufgenommen wurde? andrea bátorová: Was II. Permanente Manifestationen und ihre Wirkung betrifft, habe ich Informationen von Mlynárčik selbst erhalten. Deswegen kann ich an dieser Stelle ausschließlich auf sein Erlebnis der Aktion zurückgreifen. Ich kann mir aber gut vorstellen, dass die Reaktionen 30 Christo/Jeanne Claude, 5600 Cubicmeter Package, temporäre Installation in der Karlsaue im Rahmen der 4. documenta , Kassel, 27. Juni–6. Oktober 1968. Siehe dazu: 5.600 cubicmeter package. 4. documenta Kassel 1968, Baierbrunn 1968; Christo and Jeanne-Claude. Early works 1958–1969, Ausst.-Kat. Neuer Berliner Kunstverein im Martin-Gropius-Bau, Berlin, Köln 2001. 31 Vgl. Fluxus East. Fluxus-Netzwerke in Mittelosteuropa/Fluxus networks in Central Eastern Europe, Ausst-Kat. Künstlerhaus Bethanien, Berlin u. a., Berlin 2007.
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der Passanten sehr unterschiedlich ausfielen, dass viele interessiert waren, aber dass auch Leute einfach in die Toilette kamen, ihr Geschäft erledigten und gingen, ohne dem Projekt Aufmerksamkeit zu schenken. Dadurch, dass in der Presse darüber geschrieben wurde, wurde diesen Leuten vielleicht erst bewusst, was da passiert ist. Das ist ein typisches Beispiel für ‚Anti-Werbung‘, weil diejenigen, die zufällig dort gewesen waren, es am nächsten Tag vielleicht vergessen hätten. Aber dadurch, dass sie es in der Tageszeitung so aufgeblasen, u. a. als dekadent abgestempelt haben, erwiesen sie sich selbst einen Bärendienst, weil es dadurch erst zu etwas Wichtigem gemacht wurde. Das war auch eine Art Propaganda, die aus diesem politischen Apparat herauskam. Von vielen Aktionen gibt es z. B. nur wenig Dokumentation, aber Sie können Berichte im Archiv des Geheimdienstes finden, der dadurch für uns heute eine wichtige Quelle sein kann. Und zum Titel Permanente Manifestationen: Es ist so, wie Sie sagten, ein Spiel zwischen permanent und temporär. Mlynárčik hat es wirklich so gesehen, dass die Kunst wirken soll und dass die Wirkung dieser Zeit in den Inschriften festgehalten wird. Das heißt, die Leute durften die Sachen verändern, sie beschriften und somit irgendwo den Geist der Zeit einfangen. Hinzu kommt auch die Analogie zu Robert Filliou, der dieses Wort ‚permanent‘ im Sinne Restanys für das ‚permanente Fest‘ benutzte.32 Das hängt mit der Rhetorik des Nouveau Réalisme zusammen und ist ganz klar auch von dessen Philosophie beeinflusst. Eigentlich sind Mlynárčiks Arbeiten sehr vergänglich. Die meisten Sachen existieren nicht mehr – leider. Es wird im Herbst 2014 eine große monografische Ausstellung in der Galerie der Stadt Bratislava geben, und viele Arbeiten müssen dafür rekonstruiert werden.33
ulrich müller34: Hatten die Künstler, die bei Danuvius 68 ausgestellt haben, eine akademische Ausbildung oder waren sie sozusagen ‚Pflanzen des Untergrunds‘? andrea bátorová: Das waren alles ausgebildete Künstler. ulrich müller: Sozusagen gefallene Engel? andrea bátorová: Nein, Danuvius 68 war im Prinzip nicht in diesem Sinne revolutionär, denn es war immer noch stark institutionell verankert und stellte keine Untergrundkünstler aus. Es wäre damals unvorstellbar gewesen, dass ein Künstler ohne akademische Ausbildung ausgestellt hätte. Es waren daher internationale junge studierte Künstler, wie z. B. Frank Stella oder Christo.
anna schober: Ich möchte gerne nach der Spannung fragen, die zwischen diesen Deklarationen und dem Faktum, dass der Künstler der transnationalen Studentenbewegung verhaftet war, besteht. Er bewegt sich in Paris, aber dann diskursiv auch in den USA, in Vietnam, Biafra, 32 Der französische Fluxus-Künstler Robert Filliou (1926–1987) bezeichnete aufgrund der von ihm angestrebten Verbindung von Kunst und Leben das Leben als ‚permanente Kreation‘ und die Kunst als ‚permanentes Fest‘. Zum Werk von Filliou vgl. z. B. den Katalog zur Retrospektive von 1990/1991: Robert Filliou, Ausst.-Kat. Musée d’Art Contemporain de Nîmes/Kunsthalle Basel/Kunstverein in Hamburg, Brüssel 1990. 33 Alex Mlynárčik, Galéria Mesta Bratislavy, Bratislava, 11. September–9. November 2014. http:// www.gmb.sk/sk/exhibition/detail/stopy (Letzter Zugriff: 1. Oktober 2015) 34 Ulrich Müller ist Akademischer Rat und Dozent für neuere und neueste Kunstgeschichte am Seminar für Kunstgeschichte und Filmwissenschaft der Friedrich-Schiller-Universität Jena.
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bis zu Kennedy usw., also im transnationalen Raum der Studentenbewegung. Dann kommt Danuvuis 68, das einen anderen internationalen Raum aufmacht, der in Spannung dazu steht und eher mitteleuropäisch ist. Dieser Raum ist nicht nur von der Kunst, sondern auch von den Kritikern und der Jury etwa Wien und Slowenien näher. Kann man das so sagen?
andrea bátorová: Es bestand durchaus eine Spannung zwischen diesen zwei Projekten, die ich analysiert habe, wie Sie richtig sagen, das sind ganz andere Kontexte. Mlynárčik ist ein Kosmopolit, der einfach einen ganz anderen Blick auf die Kunstproduktion hatte als einige der Leute, die damals in Bratislava Danuvius 68 organisierten. Ohne die Qualifikation der Jurymitglieder infrage stellen zu wollen, möchte ich sagen, es waren auch ganz praktische Gründe, warum die Jury so zusammengestellt war, einfach weil z. B. Wien in der Nähe von Bratislava liegt und weil die Kontakte da waren. II. Permanente Manifestationen und Danuvius 68 waren vor allem vollkommen andere Formate und ich glaube die wesentlichen Unterschiede zwischen diesen resultierten in erster Linie daraus. Natürlich war außerdem nicht jeder in Paris wie Mlynárčik zu dieser Zeit, das war schon eine Ausnahme.
verena krieger: Sie haben verschiedene Begriffe wie ,alternativ‘, ,inoffiziell‘, ,offiziell‘ verwendet, die es zu differenzieren gilt. Können Sie diese Begriffe noch einmal klarer unterscheiden oder genauer situieren? Wie würden Sie denn diese beiden letztendlich doch sehr unterschiedlichen Ausstellungen im Spannungsfeld dieser beiden polaren Begriffspaare ,offiziell‘ – ,inoffiziell‘, ,alternativ‘ – ,nicht alternativ‘ einordnen?
andrea bátorová: Für die Entwicklung in der Slowakei kann man Folgendes sagen: 1968 kam die Okkupation durch die Armeen des Warschauer Paktes und bis 1972 gab es ‚alternative‘, aber noch keine ‚inoffizielle‘ Kunst. Ab 1972, nachdem die strikte Zensur der sogenannten ‚Normalisierung‘ mit radikalen Maßnahmen kam, als z. B. Künstler aus dem Verband der Slowakischen bildenden Künstler ausgeschlossen und Bibliotheken zensiert wurden, gab es dann ‚inoffizielle‘ Kunst. Da besteht aber Bedarf an Differenzierung, weil sich diese inoffiziellen/offiziellen Sphären öfters überschneiden. Ich war letzte Woche bei einer Konferenz in Berlin, Performing Arts in the Second Public Sphere.35 Da wurde der Begriff der ,zweiten Öffentlichkeit‘, der Second Public Sphere verwendet, womit alle diese alternativen oder inoffiziellen Veranstaltungen gemeint sind. Bei seinem Eröffnungsvortrag How to Approach the Second Public Sphere in Eastern Europe before 1989 hat Piotr Piotrowski differenziert, dass es in Polen sogar noch eine dritte Öffentlichkeit gab, also eine Third Public Sphere..Wie wir alle feststellen mussten, sind diese Bereiche sehr komplex und überschneiden sich. Ein Beispiel aus der Slowakei zur Verdeutlichung: Es gab 1972, d. h. in den Jahren als die ‚Konsolidierung‘ angefangen hatte, ein großes Happening von Mlynárčik,36 das mitten in der Stadt Žilina unter Teilnahme von ungefähr 300 Leuten stattfand und als einer der Höhepunkte der Aktionskunst in der Slowakei gilt. Dabei handelte es sich um eine Hochzeit und Hochzeitsgesellschaft, die durch die Straßen ging. Gleichzeitig war die Veranstaltung mit dem Staatsapparat abgesprochen, weil man einen Umzug durch die Stadt nicht ohne offizielle 35 Performing Arts in the Second Public Sphere, Konferenz, Literaturwerkstatt Berlin, 9.–11. Mai 2014. Eine Publikation der Tagungsbeiträge ist in Vorbereitung. 36 Zum Happening Evas Hochzeit siehe: Andrea Bátorová, Aktionskunst in der Slowakei in den 1960er Jahren. Aktionen von Alex Mlynárčik, Berlin 2009, S. 204–208.
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Erlaubnis machen durfte. Das heißt, es wurden die entsprechenden Genehmigungen eingeholt, es wurde sogar Polizeibewachung beantragt, die dann diesen Zug durch die Stadt begleitet und den Verkehr geleitet hat. Das ist ein Beispiel für ein damals hochaktuelles Happening, das aber durch den Staatsapparat in dieser Weise unterstützt wurde. Wo ist hier jetzt das Offizielle, wo ist das Inoffizielle? Danuvius 68 wiederum war eine offizielle groß angelegte Ausstellung, die für damalige Verhältnisse mit ziemlich alternativer Kunst gearbeitet und diese vorgestellt hat. II. Permanente Manifestationen war eine ebenso alternative, aber nicht-institutionelle Ausstellung. Ich würde eher unterscheiden zwischen ,nicht-institutionell‘ und ,institutionell‘, wobei dieser Unterschied im Endeffekt auch nicht ganz hilfreich ist. Es gab in den 1970er-Jahren einige ,inoffizielle‘ Künstler, die nicht im Verband waren, aber in einer Art Institution ausgestellt haben. Wir kommen eigentlich immer mehr dahin, dass man jedes Mal klar definieren muss, wie die Umstände in jedem konkreten Fall waren.
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elena korowin Auf der weißen Wand des klassizistischen Landhauses aus dem 19. Jahrhundert ist ein weißes Banner angebracht: „Seit 1994 herrscht in Tschetschenien Krieg – es reicht!“1 Davor stehen einige Dutzend schwarz gekleideter junger Menschen. Sie halten schwarze Transparente in die Luft. Kameras und Fotoapparate sind auf die protestierende Menge gerichtet: „Wir werden nicht zulassen, dass die Teufel Hass schüren, wir sind in Russland und nicht in der Hölle!!!“, „Das Gesetz ist für alle Gemeinden gleich, für jeden Judas Strick und Gericht!“, „Wir werden nicht zulassen, dass Gott beleidigt wird, Moskau ist schrecklicher als Kondopoga!“. Die jungen Menschen blicken düster in die Kameras und wiederholen ihre Drohungen laut vor dem Gebäude des Sacharow-Zentrums am Ufer der Jausa in Moskau. In diesem Museum und Kulturzentrum findet parallel zu den Demonstrationen auf der Straße eine Diskussion zum Thema „Das Tabu in der zeitgenössischen russischen Kunst“ statt. Diese Veranstaltung mutet anachronistisch an, denn wir schreiben das Jahr 2007, und die zeitgenössische Kunst hat sich doch bereits von allen Tabus befreit und darf alles, oder? Im Frühjahr 2007 ist die zeitgenössische Kunst ein gewichtiges Thema in Moskau, denn die zweite Moskau Biennale hat am 1. März ihre Pforten geöffnet. Josef Backstein, Nicolas Bourriaud, Hans Ulrich Obrist, Daniel Birnbaum und viele weitere Größen der internationalen Kunstwelt geben sich hier unter dem Motto Fußnoten: Geopolitik, Märkte, Amnesie die Ehre, zu kuratieren, zu diskutieren und auszustellen. Parallel dazu eröffnet der Direktor des Sacharow-Zentrums, Juri Samodurow, die Ausstellung Verbotene Kunst 2006. Dieses Projekt war vom Kurator, Andrej Jerofejew, eigentlich für die Moskau Biennale geplant, doch nachdem ihm mehrere Museen und Galerien der Stadt absagten, wandte er sich an Juri Samodurow, der seit 1996 das Ausstellungsinstitut leitete, das dem Nobelpreisträger Andrej Sacharow (1929–1989) gewidmet ist.2 Dieses öffentliche Zentrum ist die einzige nichtstaatliche Non-Profit-Organisation in Russland, die sich gleichzeitig für die Kultur und den Schutz der Menschenrechte einsetzt und weder politisch noch finanziell vom Staat abhängig ist. Die Institution verwaltet den Nachlass des berühmten sowjetischen Dissidenten und ‚Vaters der Wasserstoffbombe‘ Andrej Sacharow. Sie verfolgt drei Ziele, die von ihm in den 1970er-Jahren aufgestellt wurden: „Friedliche Koexistenz, Fortschritt, Menschenrechte“.3 Eine der Hauptaufgaben dieser unabhängigen Einrichtung ist es, Projekte zur Lage der 1 Übersetzung E. K. 2 Wiktoria Lomasko/Anton Nikolajew, Verbotene Kunst. Eine Moskauer Ausstellung, Berlin 2013, S. 7f. 3 www.sakharov-center.ru/about/2.html (Letzter Zugriff: 23. August 2014). (Übersetzung E. K.)
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abb. 1 achtung, religion!, sacharow-zentrum, moskau, 14.–18. januar 2003. ansicht: ausstellung nach der zerstörung am 18. januar 2003 mit alina sashewskajas du sollst dir kein bildnis von mir machen oder foto preiswert (mitte) und alexander kosolapos this is my blood (rechts)
Menschen- und Bürgerrechte in Russland zu veranstalten. Die selbstauferlegte Mission besteht darin, die „historische Erinnerung an den sowjetischen Totalitarismus und den Widerstand gegen die Unfreiheit wachzuhalten, die Werte der Freiheit, Demokratie und Menschenrechte voranzubringen, eine aktive, qualifizierte und freie Diskussion zu aktuellen Fragen der Geschichte, der Menschenrechte und humanitären Probleme insgesamt zu unterstützen und die Entwicklung einer Zivilgesellschaft zu fördern“.4
Juri Samodurow kennt die schwarz gekleideten Demonstranten und Demonstrantinnen vor den Fenstern des Zentrums nur zu gut: Bereits 2003 wagte er es, eine provokante Ausstellung mit zeitgenössischer Kunst unter dem Titel Achtung, Religion! zu veranstalten. Vier Tage nach der Eröffnung der von Arjutjun Sulumjan kuratierten Schau wurden mehrere Exponate von militanten orthodoxen Christen und Christinnen beschädigt und sogar teilweise völlig zerstört. (Abb. 1) Jetzt sind die Bilderstürmer wieder da und halten ihre fundamentalistischen Parolen in die Luft. Die Ausstellung wurde damals frühzeitig geschlossen, obwohl manche Künstler und Künstlerinnen den Wunsch 4 Ebd.
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aussprachen, die zerstörte Ausstellung als Mahnmal stehen zu lassen.5 Es folgte ein Gerichtsprozess, der mit einer Verurteilung zur Geldstrafe von je 100.000 Rubel für Samodurow und seine Mitarbeiterin Ljudmila Wassilowskaja endete.6 Die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen des Sacharow-Zentrums wandten sich schon immer schwierigen Themen zu und sahen es als wesentliche Aufgabe an, Impulse in einem Land zu setzen, dessen Zivilgesellschaft noch nicht aufgebaut ist. Michail Ryklin betont jedoch, dass weder die Ausstellung Achtung, Religion! sensationell gewesen ist noch das Sacharow-Zentrum als eine besonders angesagte Institution der zeitgenössischen Kunst in Moskau gilt; dennoch erregten diese Ausstellung und ihre Folgen so viel Aufmerksamkeit.7 Gerade aus diesem Grund hat sich Juri Samodurow erneut dafür entschieden, ein riskantes Projekt zu unterstützen, das von den staatlichen Institutionen und privaten Galerien abgelehnt worden ist. Für ihn wurde es „zu einer Frage der Ehre, zu beweisen, dass Russland trotz allem ein säkularer Staat ist, in dem die Verfassung, die Gläubigen und Atheisten gleiche Rechte garantiert, respektiert wird.“8 Das Projekt Verbotene Kunst 2006 war eine lang gereifte Idee von Andrej Jerofejew. In seinem Amt als Kurator der Abteilung für zeitgenössische Kunst der Tretjakow-Galerie war er maßgeblich damit befasst, Ausstellungen über die vergangenen 50 Jahre in der europäischen Kunst zu konzipieren. Immer wieder machte er dabei die Erfahrung, dass viele Werke russischer zeitgenössischer Künstler und Künstlerinnen aus den Konzepten gestrichen wurden, ohne dass es dafür einen triftigen Grund gab. Die Direktoren und Direktorinnen der Museen und die künstlerischen Räte schienen eine inoffizielle schwarze Liste von Künstlern bzw. Künstlerinnen und Arbeiten zu haben.9 Es sollte also eine Ausstellung realisiert werden, die ausschließlich aus den abgelehnten, ,verbotenen‘ Arbeiten besteht, in diesem Fall mit Werken, die im Jahr 2006 in den Ausstellungshäusern von den Kuratoren und Kuratorinnen vorgeschlagen und von ihren Vorgesetzten abgelehnt wurden. Diese Ausstellung sollte den Auftakt für eine Reihe bilden und die Kuratoren und Kuratorinnen des Landes wurden von Jerofejew dazu aufgerufen, Werke mit dem gleichen Schicksal beizusteuern. Doch es sollte die einzige Ausstellung der verbotenen Kunst bleiben. In dieser wurden drei unterschiedliche Momente, die Sprache, die Religion und das Verhältnis zum Körper zum Gegenstand der Auseinandersetzung. Juri Samodurow gab im Hinblick auf die Protestaktionen der orthodoxen Vereinigung Volkskirche folgendes Statement zur Ausstellung ab: „Unsere Ausstellung handelte von etwas anderem, sie handelte nicht von der Religion als einer positiven Sache, aber auch nicht von der Religion als etwas Negativem. Unsere Ausstellung war eine Erfassung derjenigen drei Aspekte der zeitgenössischen Kunst, die 5 Michail Ryklin, Mit dem Recht des Stärkeren. Russische Kultur in Zeiten der ,gelenkten Demokratie‘, Frankfurt am Main 2006, S. 49–52. 6 Ebd., S. 45–49. 7 Ebd., S. 45. 8 Lomasko/Nikolajew 2013 (wie Anm. 2), S. 8. (Übersetzung E. K.) 9 Jerofejew in der Transkription der Diskussion „Tabu in der zeitgenössischen russischen Kunst“ am 28.03.2007, http://old.sakharov-center.ru/museum/exhibitionhall/forbidden-art/tabu-art/ texts (Letzter Zugriff: 7. März 2014). (Übersetzung E. K.)
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abb. 2 ilya kabakov, geh doch..., siebdruck auf papier, ende der 1980er jahre
die Kuratoren, also die Kunstwissenschaftler selbst, in den Museen ausstellen möchten, die Vorgesetzten meistens auch, doch scheint es, sie haben Angst – es ist ein Tabu. Und die Angst kommt teilweise aus der Erwartung der Beschuldigungen von Seiten der Gläubigen.“10
Mit dieser Ausstellung sollte die Frage nach dem Tabu in der zeitgenössischen russischen Kunst öffentlich artikuliert werden. Deshalb wurde im Rahmenprogramm der Ausstellung auch eine Diskussion organisiert, zu der sich unterschiedliche Vertreter und Vertreterinnen der Kultur und der orthodoxen Kirche zusammenfanden. Drei Tabus kann man laut Jerofejew und Samodurow in der russischen zeitgenössischen Kunst feststellen: 10 Samodurow in: ebd. (Übersetzung E. K.)
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1. die vulgärsprache (im russischen die sogenannte ,nicht normative sprache‘) Dieser Sprachzweig taucht alltäglich im Film und in der Literatur auf und wird auch als die ,Volkssprache‘ bezeichnet.11 In der Ausstellung gab es mehrere Arbeiten, die die Vulgärsprache in einem ironischen Gestus einsetzen. Ein Beispiel ist der Siebdruck Geh doch... (im Sinne von: „Hau ab…“) von Ilya Kabakov aus dem Ende der 1980erJahre. (Abb. 2) Kabakov, der offiziell als Kinderbuchillustrator in der Sowjetunion gearbeitet hat, verbindet hier die Ästhetik einer Fibel mit naiven bunten Zeichnungen und schematischen Buchstaben für Schulanfänger mit einem Schimpfspruch, der sich aus einem Kindermund sehr verstörend anhören würde. Die Symbiose verschiedener Zeichen und Bedeutungsebenen soll u. a. auf die harte Lebenswelt der sowjetischen Kinder hinweisen – hier die heile Welt der Pioniere und dort der alltägliche Kampf ums Überleben in einer Gesellschaft, die eine geschützte bunte Kinderwelt schnell zu zerstören vermochte. 2. religiöse symbole Eine der frühesten Arbeiten der Ausstellung Geben wir Kohle über Plan (1972) von Michail Roschal-Fedorow verbindet stilistisch die Erscheinung einer orthodoxen Ikone mit einer typischen Losung aus der Zeit der Fünfjahrespläne. (Abb. 3) Der Künstler deutet so auf die dogmatischen Lehrmeinungen der frühen Sowjetunion hin, nicht zuletzt, da Propaganda und Utopie des Sozialismus den orthodoxen Glauben in Russland ersetzen sollten. Jerofejew sagt dazu: „Bei der Vorbereitung solcher Ausstellungen [in denen Werke teilweise zensiert wurden, E. K.], habe ich begriffen, dass manche Werke wesentlich für die eine oder andere Richtung waren, und dass etwa eine der ersten Arbeiten im Stil der Soz-Art von Roschal-Fedorow eine offensichtliche Metapher für die kommunistischen Gebote ist, die auf die Gesellschaft niederkamen (…). Es war nicht einmal möglich, diese Arbeit vorzuschlagen. Die Rede ist davon, dass eine ganze Reihe von Werken ohne Diskussion nur mit den Worten ,Sie verstehen doch...‘ (...) – die charakteristisch für die Sowjetzeit sind – regelmäßig aus der Ausstellung entfernt werden.“12
Ein prägnantes Beispiel für die Umsicht, mit der die Kuratoren in dieser Ausstellung handeln mussten, ist der Beitrag von Alexander Kosolapov, bekannter Vertreter der Soz-Art, der seit Mitte der 1970er-Jahre in New York lebt. Er verbindet klassische religiöse Motive mit Symbolen der Popkultur und Konsumwelt, um auf ihre großen Ähnlichkeiten zu verweisen. Es wurden zwei Arbeiten ausgestellt: Kaviarikone (1995) und McDonalds Werbung (2000). Allerdings wurden aus Sicherheitsgründen nur Re-
11 Jerofejew und Samodurow in: ebd. (Übersetzung E. K.) 12 Jerofejew in: ebd. (Übersetzung E. K.)
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abb. 3 michail roschal-fedorow, geben wir kohle über plan, öl auf holz, 1972
produktionen der Arbeiten gezeigt, denn seine Werke waren 2003 bei Achtung, Religion! stark beschädigt worden. (Abb. 1) 3. der nackte körper Die Gruppe PG wurde in der Ausstellung mit mehreren Postern aus der kritischen Serie Heil Russland! präsentiert. Die schwarz-weißen Drucke erinnern formal an Werbeplakate, allerdings mit kritisch-ironischen Aussagen im Gegensatz zu den affirmativen Slogans der Werbung. So spritzt eine vollbusige Blondine in einem weiß gekacheltem Badezimmer schwarzes Erdöl aus dem Duschkopf über ihren Körper, während im Hintergrund eine Ölbohranlage durch eine Wandöffnung erscheint. Weniger nackt, aber nicht weniger provokant ist die Tschetschenische Marilyn (2004) der Gruppe Blaue Nasen. (Abb. 4) Auf dem Foto versucht eine schwarz verschleierte Frau, in der berühmten Pose von Marilyn Monroe aus dem Film Das verflixte 7. Jahr ihren hochfliegenden Rock im Zaum zu halten. Der Sprengstoffgürtel glänzt auf ihrer Taille und erinnert an Terroranschläge, die im Russland der 2000er-Jahre von tschetschenischen Frauen verübt wurden, und an die Geiselnahme von Beslan (2004). Mit weit aufgerissenen Augen blickt sie auf die Betrachter und Betrachterinnen, die unter ihrem Rock die totenkopfbesetzten Strümpfe sehen. Während der weiße Rock von Monroe von einem Luftzug zum Fliegen gebracht wurde, sieht man auf dem Foto, dass der Rock der tschetschenischen Terroristin von vier Männerhänden hochgehalten wird. Um das Moment der Tabuisierung zu unterstreichen, entschieden sich die Organisatoren für eine eigentümliche Ausstellungsarchitektur. Der Besucher bzw. die Besucherin betrat einen Raum mit weißen Stellwänden, in die kleine Gucklöcher ge-
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abb. 4 gruppe blaue nasen, tschetschenische marilyn, fotografie, 2004
bohrt waren. (Abb. 5) Die Löcher waren über der durchschnittlichen Augenhöhe von etwa 1,60 m angebracht, so dass die Besucher und Besucherinnen sich häufig auf die Zehenspitzen stellen oder sogar auf kleine Klappleitern klettern mussten. Man erhielt gleichsam als Voyeur bzw. Voyeurin einen Blick auf die Werke, die auf oder vor einer Backsteinwand präsentiert wurden. Neben dem Guckloch war das Titelschildchen mit schwarzem Filzstift wie improvisiert aufgezeichnet. Mit dieser Ausstellungsinszenierung bewiesen die Veranstalter mindestens genauso viel Talent zur Ironie wie die Künstler, die in Verbotene Kunst 2006 ausgestellt wurden. Das spielerische Jonglieren mit politischen Symbolen der Propaganda wurde zum Wahrzeichen der sowjetischen Nonkonformisten. Für Künstler wie Ilya Kabakov, Alexander Kosolapow, Michail Roginskij und andere war der Humor die einzige Möglichkeit, dem düsteren Alltag einer festgefahrenen Gesellschaft zu begegnen. Mittlerweile ist Ironie in der Transformation unterschiedlicher Symbole ein geläufiges rhetorisches wie provozierendes Instrument der bildlichen Analyse dogmatisch bestimmter gesellschaftlicher Verhältnisse. Es erscheint als eine russische Tradition, dass stets solchen Künstlern und Künstlerinnen Probleme entstehen, deren Werk Ernst und Affirmation entbehren. Zudem kann Kunst, die auf Unverständnis in der Gesellschaft stößt, schnell Aggressionen hervorrufen, und in Russland hat das Unverständnis, das es bis heute in vielen Teilen der Bevölkerung gibt, eine lange unrühmliche Tradition. Es wird viel zu schnell vergessen, dass es gerade einmal zwei Dekaden her ist, dass die unvorbereitete russische Gesellschaft mit der zeitgenössischen Kunst konfrontiert wurde. Viele
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abb. 5 verbotene kunst 2006, sacharow-zentrum, moskau, 7.–31. märz 2007. ansicht: eingang mit ausstellungstitel, darunter die bitte, die werke nicht zu fotografieren
Kunsthistoriker bzw. Kunsthistorikerinnen verfügten nicht über das Handwerkszeug, dem Publikum diese neuen Tendenzen zu vermitteln. Heute hat die zeitgenössische Kunst in Russland längst ihren Platz eingenommen, jedoch ist dieser bei Weitem nicht so gefestigt wie in Westeuropa. Das ist einer der Gründe, warum die Kunstfreiheit in Russland leidet und Ausstellungen wie Achtung, Religion! und Verbotene Kunst 2006 zu Skandalen werden. In der Diskussion über das Tabu sagte Leonid Bazhanov, der Direktor des Zentrums für zeitgenössische Kunst, Moskau: „Es gab ein unausgesprochenes Verbot – kein schriftliches. Auch ich habe solche Verbote ausgesprochen. Wir haben ja noch keine Zivilgesellschaft – wir arbeiten noch an ihrer Erschaffung. Heute wird die zeitgenössische Kunst nicht mal an der Moskauer Universität unterrichtet.“13 Defizite in der künstlerischen Ausbildung sind nicht das Einzige, das in Russland in Bezug auf das Bewusstsein für die Zeitgenossenschaft der Kunst weitestgehend fehlt. Denn Bazhanov betonte auch, dass es in der Presse und den Neupublikationen der Kunstwissenschaft keine angemessene Kunstkritik gibt und Kunstkritiker bzw. Kunstkritikerinnen fehlten, die etwas von ihrem Handwerk verstehen.14 Viele Ressentiments gegen die zeitgenössische Kunst haben ihren Ursprung in der Sowjetzeit und sind bis heute nicht vollständig beseitigt, nicht zufällig waren Humor, Ironie und die Groteske im Sozialistischen Realismus verboten. Somit beleuchtete die Ausstellung im Sacharow-Zentrum ein reales und grundlegendes Problem der russischen Kunstszene. Die 23 Arbeiten der Ausstellung waren laut Jerofejew nur eine Vorabauswahl.15 Wie die Chronologie der Arbeiten zeigt, handelte es sich bei der ‚verbotenen Kunst‘ sowohl um die Kunst der sogenannten sowjetischen Nonkonformisten aus den 1960er-Jahren als auch um jüngere Werke einer neuen Generation. Darunter waren Arbeiten, die bereits auf offiziellen russischen Ausstellungen im Ausland präsentiert wurden, wie etwa die Tschetschenische Marilyn, die in Bilbao und New York in der Ausstellung RUSSIA! zu sehen war, die von Präsident Wladimir Putin persönlich eröffnet wurde. 13 Bazhanov in: ebd. (Übersetzung E. K.) 14 Ebd. (Übersetzung E. K.) 15 Jerofejew in: ebd. (Übersetzung E. K.)
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Und so stellen sich die Fragen: Wie verboten ist die Verbotene Kunst, und warum ist die besprochene Ausstellung eine politische Ausstellung? Was ist der russischen ,Zivilgesellschaft‘ zumutbar? Diese Praxis steht in einer eigenwilligen Tradition. Bereits zu Zeiten des Kalten Krieges arbeitete die russische Regierung nach der bewährten Strategie, Werke im Ausland zu zeigen, die nicht in den eigenen Museen ausgestellt werden sollten oder durften.16 Kunst, die man dem eigenen Publikum nicht zumuten wollte, wurde zum Instrument der Kulturdiplomatie. Wie schon die Architektur der Ausstellung Verbotene Kunst 2006 – sicher mit ironischem Akzent – andeutete, sind die Zensur oder die Beleidigung religiöser Gefühle, für die Jerofejew und Samodurow später angeklagt wurden, eine Frage des Standpunktes. Um die verbotene Kunst anzuschauen, musste der Besucher bzw. die Besucherin erst einige Hindernisse überwinden und konnte sich keineswegs beschweren, nicht gewarnt worden zu sein. Doch genau diese Situation ist offensichtlich provoziert worden: Gegen die Veranstalter wurde von orthodoxen Gläubigen Klage eingereicht, da sie ihre religiösen Gefühle durch die Bilder verletzt sahen.17 „Wieder einmal treffen die orthodoxe Zivilisation und die europäische Kultur aufeinander und leben ihre ewigen Gegensätze aus“18, so beschrieb Bazhanov die Situation. Doch die Klage der Vertreter und Vertreterinnen der Volkskirche, die übrigens auch vom Duma-Abgeordneten Alexander Tschujew (Partei Gerechtes Russland) unterstützt wurde, sowie Proteste und Drohungen des rechten orthodoxen Flügels machen die Ausstellung noch nicht dezidiert zum Politikum. Ungeachtet der These, dass jede Ausstellung politisch ist und besonders eine Ausstellung zeitgenössischer Kunst im russischen Kontext, soll hier auf die wesentlichen politischen Aspekte dieses Projektes hingewiesen werden. Verbotene Kunst 2006 war laut Jerofejew nicht als eine Provokation der Macht gedacht. Der Kurator betonte, dass er Verständnis für seine Vorgesetzten hat, denn sie handelten aus Rücksicht auf Steuerzahler und staatlich-politische Verpflichtungen. Die Kunstwissenschaftler und -wissenschaftlerinnen könnten dagegen nicht zum wiederholten Male so tun, als ob es diese Kunst nicht gäbe.19 In dieser Ansicht wurde er von Bazhanov unterstützt: „Wenn man als Kunstwissenschaftler von der Angst eingenommen wird, muss man sich aus der Beschäftigung mit der zeitgenössischen Kunst verabschieden.“20 Jerofejew und Samodurow sahen ihre Hauptaufgabe darin, Kunst, die nicht ausgestellt und/oder verschwiegen wird, in einem nichtstaatlichen Museum auszustellen. Sie wollten ein Problem aufzeigen, ohne jedoch Lösungen dafür bieten zu wollen – das Ziel war allerdings auch eine Sichtbarmachung und Diskussion über den Charakter und die Tendenzen der institutionellen Zensur im Kultursektor. Die Folgen dieses Projektes waren schwerwiegender und bedeutender als die Organisatoren 16 Zur kulturellen Diplomatie in diesem Zusammenhang siehe: Elena Korowin, Der Russen-Boom 1970–1990. Sowjetische Ausstellungen als Mittel der Diplomatie in der Bundesrepublik Deutschland, Wien/Köln/Weimar 2015. 17 Lomasko/Nikolajew 2013 (wie Anm. 2), S. 9. (Übersetzung E. K.) 18 Bazhanov in: Transkription der Diskussion „Tabu in der zeitgenössischen russischen Kunst“, 2007 (wie Anm. 9). (Übersetzung E. K.) 19 Jerofejew in: ebd. (Übersetzung E. K.) 20 Bazhanov in: ebd. (Übersetzung E. K.)
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es sich haben vorstellen können. Obwohl die Ausstellung ‚nur‘ von 1.020 Besuchern und Besucherinnen gesehen wurde, hinterließ sie tiefere Spuren im Gedächtnis der zeitgenössischen russischen Kunst als die zweite Biennale, die gleichzeitig in den bekanntesten Institutionen der Stadt ausgestellt wurde.21 Denn die Nachwirkung der Ausstellung im Sacharow-Zentrum hält bis zum heutigen Tag an und lässt sich bis zu den ersten Protesten der Vertreter und Vertreterinnen der Volkskirche zurückverfolgen. Verbotene Kunst 2006 wies auf einen zentralen Zwiespalt hin, der zwischen den im Sacharow-Zentrum ausgestellten Objekten und den offiziellen Leihgaben der Biennale herrschte. Zum Vergleich lässt sich die Ausstellung I Believe (Ein Projekt der künstlerischen Hoffnung) von Oleg Kulik heranziehen. Im Parallelprogramm der Biennale kuratierte der Moskauer Aktionist der 1990er-Jahre im Art Center Winzawod I Believe, eine Ausstellung über den Glauben. 61 Künstler und Künstlerinnen sowie Künstlergruppen waren von Kulik eingeladen worden, ihre ganz persönliche Idee vom Glauben und der Transzendenz zu illustrieren und präsentieren. Die Blauen Nasen, PG und Dmitrij Gutow wurden ebenfalls hier ausgestellt. Das Projekt wurde von der Moskauer Regierung, dem Kulturkomitee und vom Museum für zeitgenössische Kunst Moskau unterstützt. I Believe zeichnete sich durchaus durch religiös gebundenen Ernst aus. Viele der Werke appellierten an Bekehrung und Mission, an Seelenheil und gläubige Inbrunst. Doch die Beiträge der erwähnten Künstler und Künstlerinnen erschienen teilweise provokant, wenn auch nicht so plakativ wie das, was im Sacharow-Zentrum durch die Gucklöcher zu sehen war: „In dem Moment, in dem die Kultur den Ernst zu verlassen scheint und die Offenbarungen für die Sphäre des Spiels und der Freude aufgibt, entsteht das Problem“,22 unterstreicht Jerofejew in der Diskussion deutlich. Der Homo Ludens ist in der russischen Kulturpolitik und der orthodoxen Gesellschaft unerwünscht. Michail Ryklin verfasste 2006 sein Essay „Das Recht des Stärkeren“ über dieses Problem. Der Moskauer Philosoph war Augenzeuge der Situation um die Ausstellung Achtung, Religion!. Seine Ehefrau, die Künstlerin und Lyrikerin Anna Altchuk, gehörte mit Jerofejew und seiner Mitarbeiterin zu den Angeklagten. Ryklin analysiert die Situation im Vergleich mit anderen Ausstellungen, die religiöse Motive behandelten (u. a. Phantom der Lust in der Neuen Galerie in Graz 2003): „Daß [sic!] die Sache in Moskau so weit ging, hat nicht mit dem Vorhandensein einer bestimmten Zahl von religiösen Extremisten zu tun (die gibt es überall), sondern damit, daß [sic!] der Staat, der eigenen Gesetzgebung und ihrer Grundlage, der Verfassung zum Trotz die Russische Orthodoxe Kirche offen begünstigt.“23
21 Zwar liegt die Vermutung nahe, dass Samodurow nach der Erfahrung mit der Ausstellung Achtung, Religion! mit schweren Folgen rechnete, aber nicht in dem Ausmaß, das tatsächlich eintraf. Vgl. dazu: Ryklin 2006 (wie Anm. 5). 22 Jerofejew in: Transkription der Diskussion „Tabu in der zeitgenössischen russischen Kunst“, 2007 (wie Anm. 9). (Übersetzung E. K.) 23 Ryklin 2006 (wie Anm. 5), S. 49–52.
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abb. 6 verbotene kunst. eine moskauer ausstellung, comic von wiktoria lomasko (grafik) und anton nikolajew (kommentar), berlin 2013. ansicht: pjotr werzilow von der gruppe woina wird am 12. juli 2010 vor dem gerichtsgebäude festgehalten, kommentar: „nachdem werzilow die schaben im gerichtsgebäude laufen ließ, schreit er die vertreter der orthodoxen vereinigung volkskirche an: ‚ihr habt doch nur kakerlaken im kopf!‘“
Die Vertreter und Vertreterinnen der orthodoxen Kirche haben sich der Diskussion entzogen, die von den Veranstaltern von Verbotene Kunst 2006 beabsichtigt war. Es wurde Klage eingereicht, und der Abgeordnete Tschujew forderte sogar ein Gesetz, das „religiöse und nationale Heiligtümer vor der Entweihung schützt, sowie die Einsetzung einer speziellen Kommission, die solche Ausstellungen in Zukunft verbieten könne“.24 Das Gerichtsverfahren gegen Jerofejew und Samodurow wurde am 23. Mai 2007 eingeleitet und ein Jahr später, am 15. Mai 2008 wurde die Anklage erhoben. Im Lauf der Anklageerhebung haben beide Veranstalter ihre Stellen verloren, Jerofejew wurde gefeuert, und Samodurow reichte selbst seine Kündigung wegen Differenzen mit 24 Sandra Frimmel, Theater im Taganer Gericht – Die Reportage eines Prozesses, in: Lomasko/ Nikolajew 2013 (wie Anm. 2), S. 143–161, hier S. 146.
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der Stiftung ein.25 Dieses Verfahren reiht sich in die Geschichte von Gerichtsverfahren gegen Kulturschaffende ein, die in den 1990er-Jahren begonnen haben.26 Es wurde zum Katalysator künstlerischer Aktionen in Moskau. Viele neue Künstlergruppen (MY, Bombily, Woina), die gerade in diesen Jahren gegründet wurden und ihre ersten Aktionen im öffentlichen Raum machten, protestierten gegen den offensichtlich politischen Prozess.27 Am 29. Mai 2009, dem Tag, an dem der Prozess eröffnet werden sollte, fanden einige Protestaktionen statt. Bezeichnenderweise stammen die Mitglieder der Gruppen Bombily und Woina aus dem Umfeld von Oleg Kulik, der sie liebevoll als seine Schüler bezeichnete.28 Eine bedeutende künstlerische Dokumentation der Protestaktionen und des Gerichtsverfahrens legten Wiktoria Lomasko und Anton Nikolajew ab. (Abb. 6) Beide besuchten das Gericht: Lomasko zeichnete und Nikolajew schrieb Kommentare dazu. Entstanden ist ein tagebuchartiger Gerichtscomic, der eine subjektive Wiedergabe der Geschehnisse im Gerichtssaal liefert. Dank Lomasko und Nikolajew haben die Leser und Leserinnen nun die Möglichkeit, einen Blick ins Innere dieses Ereignisses zu werfen und einen spannungsgeladenen Prozess in Buchform zu erleben, dem es nicht an Skurrilität mangelt.29 Sie zitieren auf der ersten Seite ihres auch in Deutschland erschienenen Berichtes Diana Matschulina, eine Berichterstatterin der Zeitung Wremja nowostej: „Das erste, was ich sah, als ich den Hof des Taganer Bezirksgerichts betrat, war Justitia. In zerrissene (K)leider [E. K.] gehüllt, wurde sie von Ordnungskräften des Gerichts aus dem Gebäude gezerrt. Die Gerechtigkeit und das Rechtswesen mussten den Rückzug antreten und sie zeigte zum Abschied ihren ausgepeitschten, mit frischen blutigen Striemen überzogenen Rücken. Wie sich herausstellte, war das eine besonders eindrückliche Metapher für das Gericht über die Kunst – der spontane Abschluss einer Performance junger Künstler der Gruppe Bombily, die die Misshandlung der allegorischen Justitia mit realen Peitschen vorgeführt hatten.“30
Dieser Ausschnitt deutet auf die Relevanz dieses Prozesses für die junge Kunst in Moskau hin, denn hier ging es um nichts anderes als um die Kunstfreiheit. Gleichzeitig offenbart die Situation den gesamten Charakter des Prozesses, der bei Frimmel mit einer Theateraufführung verglichen wird: Die Zeugen und Zeuginnen der Anklage und die sogenannten Leidtragenden haben die Ausstellung im Sacharow-Zentrum größtenteils nicht mit eigenen Augen gesehen. Viele von ihnen lasen ihre Antworten im Zeugenstand von Spickzetteln ab, dennoch wurden sie vom Gericht als Opfer der Grausamkeiten in der zeitgenössischen Kunst anerkannt. Frimmel beschreibt die einzelnen Sitzungen als Akte eines Theaterstücks und die Instruktion der Zeugen in 25 www.gazeta.ru/social/2010/06/21/3388804.shtml (Letzter Zugriff: 11. Mai 2014). (Übersetzung E. K.) 26 Frimmel 2013 (wie Anm. 24), S. 143. 27 Ebd., S. 11. 28 Oleg Kulik im Interview, www.online812.ru/2011/07/01/007/ (Letzter Zugriff: 1. September 2014). (Übersetzung E. K.) 29 Frimmel 2013 (wie Anm. 24), S. 149–151. 30 Lomasko/Nikolajew 2013 (wie Anm. 2), S. 12. (Übersetzung E. K.)
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den Fluren als Schauspielproben. Im nächsten Schritt geht sie sogar so weit, diesen Prozess auf formaler Ebene mit den sowjetischen Schauprozessen der 1920er- und 1930er-Jahre gleichzusetzen.31 Ähnlichkeiten lassen sich nicht leugnen, und dennoch hatten die Stalinistischen Schauprozesse nicht zuletzt eine viel größere propagandistische Wirkung und Bedeutung als die Verhandlung um Verbotene Kunst 2006. Eine weitere Arbeit, die konsequent die Geschichte der politischen Prozesse gegen die zeitgenössische Kunst in Russland verfolgt, hatte am 18. März 2014 Premiere im Kölner Museum Ludwig. Das, was Lomasko und Nikolajew wegen des offiziellen Aufnahmeverbots im Gerichtssaal mit Zeichenstift und Text umsetzen konnten, verwandelte der Schweizer Regisseur und Drehbuchautor Milo Rau in ein Gerichtsdrama mit 86 Minuten Länge. Der Titel Die Moskauer Prozesse ist, ähnlich wie bei Frimmel, ein direkter Hinweis auf die so bezeichneten Verhandlungen in den Jahren 1936 bis 1938, die den Anfang des ‚Großen Terrors‘ einleiteten. Rau widmet sich den drei Prozessen gegen Achtung, Religion!, Verbotene Kunst 2006 und die Gruppe Pussy Riot. Es gelang ihm, 22 Darsteller und Darstellerinnen für den Film zu gewinnen, die selbst direkt oder indirekt in diesen drei Prozessen mitwirkten, darunter: Anna Stawizkaja (Verteidigerin in den beiden Prozessen um Achtung, Religion! und Verbotene Kunst 2006), Dmitrij Gutow (beteiligter Künstler), Wiktoria Lomasko, Michail Ryklin, Marat Gelman, Katja Samuzewich (Mitglied von Pussy Riot), Wsewolod Tschaplin (stellvertretende Vorsitzende der Abteilung für kirchliche Außenbeziehungen des Moskauer Patriarchats) und viele andere. Dabei handelt es sich nicht um ein Reenactment, denn die Verhandlungen werden von den beteiligten Personen neu geführt. Es ist dabei beeindruckend zu beobachten, wie die entfachten Diskussionen das diffuse Bild des heutigen Russlands verdeutlichen. Denn Milo Rau wollte auch zeigen, wie die Prozesse hätten geführt werden können, wenn das Gesetz befolgt worden und nicht nur ein Schein von Rechtsstaatlichkeit im Gerichtssaal vorgetäuscht worden wäre. Konsequenterweise hat Rau die Unterbrechung der Dreharbeiten im Sacharow-Zentrum durch die Beamten der Einwanderungsbehörde und der orthodoxen Gläubigen in den Anfangsminuten des Films dokumentiert. Denn am 3. März 2014 wurden die Dreharbeiten für mehrere Stunden unterbrochen und die Visa-Papiere des Regisseurs untersucht: „In dieser Szene in Milo Raus Film prallen Fiktion und Wirklichkeit am deutlichsten aufeinander. Die in konservativ-religiösen Bürgerwehren organisierten Kosaken stehen tatsächlich vor der Tür und glauben, es mit einer kirchenkritischen Kunstaktion zu tun zu haben. Aber ihr Auftritt im Film ist nicht geplant, genauso wenig wie jener der russischen Migrationsbehörde (…). Viel wichtiger als das Urteil im Film – ein knapper Freispruch – ist jedoch der Einblick in die russische Gesellschaft und ihr Verhältnis zu Religion und Autorität, den Rau gewährt. Eine Gesellschaft, die nicht nur zu drei Vierteln russisch-orthodox ist, sondern ein schweres Trauma mit sich trägt, seit in der Sowjetzeit alles Religiöse verboten war und eine Zensurbehörde ,antisowjetische Propaganda‘, auch 31 Frimmel 2013 (wie Anm. 24), S. 152f.
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elena korowin in der Kunst eliminierte – und sich nun trotzdem oder gerade deshalb auf der Suche nach Autorität der Kirche zuwendet.“32
Diese Autorität allerdings, so scheint es, bringt keine andere Lebens- und Kunstanschauung zum Vorschein als die durch den Zusammenbruch der Sowjetunion und des kommunistischen Systems verlorene. Und so skizziert Ryklin in seinem Essay deutlich, dass augenscheinlich die Zeit der letzten Jahrzehnte der Sowjetunion für die Künstler und Künstlerinnen des sogenannten Underground erträglicher waren als die jetzigen. Der Hass und die Aggression der Stalinzeit wurden damals abgelöst durch ein Zusammenhalten gegen einen gemeinsamen absurden Gegner, heute dagegen umgebe die Menschen ein „Kreis der Gleichgültigkeit, der repressiven Neutralität“,33 der noch gefährlicher ist. Jeder wird zum Einzelkämpfer bzw. zur Einzelkämpferin, Solidarität hat sich aus der russischen Kunstszene verabschiedet. Jeder Künstler, jede Künstlerin und jede Künstlergruppe kämpfen ums Überleben, ums Gesehen-Werden, um eine Bühne. Diese Bühne wird etwa von der Moskau Biennale oder anderen offiziellen Ausstellungen der staatlichen Institutionen geboten wie damals in der Sowjetunion. Mit einem Unterschied, auf den Jerofejew und Samodurow hinweisen: Die Verbote werden nicht laut ausgesprochen und verbreitet. Ryklin beschreibt, wie Künstler sich von der Ausstellung Achtung, Religion! öffentlich distanzierten, nachdem der Gerichtsprozess eingeleitet wurde.34 Der besagte Text des Künstlers Wladimir Mamyschew-Monroe erinnere an die Grundregeln der Denunziation: „Es reicht nicht aus, sich abzugrenzen, man muß [sic!] die anderen vernichten“35, attestiert Ryklin. Es gibt keine Nischen mehr, keinen Untergrund und keine freien kulturellen Räume, so das Resümee des Philosophen, und der Grund dafür sei der seit 1999 anhaltende zweite Tschetschenienkrieg als Trauma der russischen Gesellschaft.36 Der Essay von Ryklin wurde 2006 veröffentlicht, damals war das Sacharow-Zentrum die einzige Institution in Moskau, die mit der oben erwähnten Antikriegsparole sichtbar gegen den Krieg protestierte.37 Dann kam Verbotene Kunst 2006 und mit ihr die Erinnerung an die Schrecken des Terrors aus einer scheinbar längst vergangenen Zeit. Die künstlerischen Aktionen, Publikationen und der Film von Milo Rau zeigen, dass die Kulturszene sich erinnert und kämpft – bis heute. Der Tschetschenienkrieg ist heute nicht mehr das einzige Trauma der russischen Gesellschaft, es kommen jeden Tag neue hinzu, und mit dem Finger darauf zu deuten, wie es Jerofejew und Samodurow getan haben, könnte mit jedem Tag gefährlicher werden.
32 Frida Thurm, Die Moskauer Prozesse – Putin gegen Pussy Riot 1:1, in: Zeit Online, 18.03.2014, http://www.zeit.de/kultur/film/2014-03/moskauer-prozesse-milo-rau-dokumentarfilm (Letzter Zugriff: 1. September 2014). 33 Ryklin 2006 (wie Anm. 5), S. 17f. 34 Ebd. S. 115f. 35 Ebd. 36 Ebd. S.110f. 37 Ebd. S. 48.
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diskussion andrea bátorová: Ich habe zwei Fragen. Die erste zum Titel der Ausstellung Verbotene Kunst 2006. Gab es Gesetze, die schon vor dem Jahr 2006 diese Art von Kunst verboten haben oder war es eine Annahme der Kuratoren, dass diese Werke wahrscheinlich als verbotene Kunst angesehen werden? Wurden sie somit erst im Nachhinein, d. h. nachdem sie ausgestellt wurden, zu verbotener Kunst? Und zweitens zum Film Die Moskauer Prozesse (2014): Der gesamte Prozess dauerte ja sehr lange, und der Film bietet für uns Zuschauer nur eine Art Einblick diesbezüglich. Inwiefern sind die Geschehnisse darin rekonstruiert? Inwieweit hat der Regisseur Milo Rau eingegriffen und dadurch den Prozess beeinflusst? elena korowin: Das war ein unausgesprochenes Gesetz, wie Juri Samodurow es auch gesagt hat. Allen Kulturschaffenden ist bewusst, dass solche Werke nicht für Ausstellungen in den öffentlichen Museen Russlands, wie der Tretjakow-Galerie oder dem Puschkin-Museum, vorgeschlagen werden können. Es ist einfach ein Tabu, mit dem alle wohlwissend leben. Und das war das, worauf Jerofejew verweisen wollte, um zu sagen: Es gibt diese verbotene Kunst, die tatsächlich in Besprechungen abgelehnt wurde, und deswegen nennen wir diese Ausstellung auch Verbotene Kunst 2006. Und zu Ihrer zweiten Frage: Vor allen Dingen bietet das Buch Verbotene Kunst. Eine Moskauer Ausstellung. Gerichtsreportage einen sehr guten Einblick in den Prozess. Es gibt keine richtige Dokumentation davon, außer die Augenzeugenberichte von Samodurow. Der Pussy Riot-Prozess war viel präsenter, vor allem durch die Beteiligung der internationalen Medien. Milo Rau geht in seinem Film so vor, dass er die Argumentationen und Anschuldigungen des Prozesses aufgreift und diese in der Art und Weise oder der Abfolge, wie sie im Prozess verhandelt wurden, von seinen Schauspielern vortragen lässt. Es war eigentlich eine Dekonstruktion der administrativen Ketten und Anschuldigungen in den Moskauer Prozessen.
anna schober: Ich habe eine Frage zur Kommunikation dieser Ausstellung im Kontext eines vom Westen dominierten Kunstbetriebs. Die Frage beruht auf einem Gespräch, das ich mit einem Mitglied der Gruppe Blue Noses gemacht habe.38 Das Interessante war, dass Die Blauen Nasen eigentlich keine Gruppe waren, sondern zunächst aus einer einzelnen Kunstaktion39 in 38 Das Gespräch mit Konstantin Skotnikov fand am 7. Dezember 2003 in Novosibirsk im Kontext von Recherchen zur Neu-Erfindung der Avantgardetradition in ehemaligen sozialistischen Ländern seit den 1990er-Jahren statt. Es wurde im Beisein seiner Frau Ludmila Ivashina geführt, die damals für das Soros Center in Novosibirsk arbeitete und auch den Kontakt zu Skrotnikov hergestellt hat. Letzterer bezeichnete die Blue Noses Group als ‚Medienprodukt‘. Das Gespräch liegt nicht in publizierter Form vor. In der aus diesen Recherchen hervorgegangenen Publikation Ironie, Montage, Verfremdung (München 2009), fokussiert Schober auf die Neovantgarde-Bewegung im ehemaligen Jugoslawien. Zu einzelnen anderen künstlerischen Beispielen aus Novosibirsk vgl. Anna Schober, Lumpen Design, Penis Fashion and Body-Part Amplifiers. Artistic Responses to the New Image-Environments in Former Socialist Countries since 1989, in: Performance Research 2/2005: On Form, S. 25–37. 39 An der Kunstaktion Beyond Time Shelter (1999), die als einmaliger Event geplant war, haben, laut Auskunft Konstantin Skotnikovs, zwölf Künstler aus Moskau, St. Petersburg, Novosibirsk, aber auch aus Polen und Slowenien teilgenommen, die sich vorher kannten und zum Teil befreundet waren. Die Aktion bestand darin, dass die Künstler sich für mehrere Tage von der Außenwelt vollkommen abgetrennt in einen Bunker (bomb shelter) zu einer Art sozialem Ex-
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Novosibirsk hervorgegangen ist. Diese Arbeit wurde von einem Kuratorenteam aus dem Westen (für die Bienal di Valencia 2001) aufgegriffen und gezeigt. Durch den Erfolg dieser Kunstaktion waren die beteiligten, zur Aktion einladenden Künstler gezwungen, weiterhin gemeinsam unter diesem Namen aufzutreten, obwohl sie sich vor dieser Aktion nicht wirklich als Gruppe konzipiert und auch danach nie als eine solche deklariert hatten. Sie wurden zunächst im Westen als solche wahrgenommen. Somit hat zumindest diese Gruppe durch den Blick aus dem Westen überhaupt erst ihre Existenz bekommen. Das war für die beteiligten Künstler ein Problem. Sie haben Ähnliches in Ihrem Vortrag insofern angesprochen, als die zur Sprache gebrachten Demonstrationen auch mit Blick auf westliche Medien gemacht werden, was wiederum Rückwirkungen auf den Betrachter und Implikationen für die Rezeption hat. Sind Die Blaue Nasen damit ein Einzelfall, der mit den anderen nicht viel zu tun hat?
elena korowin: Damit machen Sie die Büchse der Pandora auf. Das ist ein sehr großes Problem der russischen Kunst, und zwar schon seit den Zeiten des Kalten Krieges. Das haben wir vor allem mit den Moskauer Konzeptualisten bei der ersten großen internationalen Auktion der UdSSR im Jahr 1988 von Sotheby’s40 erfahren. Dadurch wurden diese Künstler im Westen berühmt, verkauften ihre Werke und verschwanden auf einmal aus Moskau. Das hat natürlich in Russland ein sehr großes Loch gerissen, weil die Künstlergeneration danach keinen Anknüpfungspunkt mehr hatte, und das passiert immer wieder bis zum heutigen Tag. Zum Beispiel Petr Pavlensky, der sich nach dem Pussy Riot-Prozess den Mund zugenäht und später sein Gemächt am Roten Platz festgenagelt hat, gehört zu solchen Künstlern, die natürlich auch auf die Medienwirkung abzielen. Auch Samodurow und Jerofejew sagen, dass viele Aktionen, die im Zusammenhang mit diesem Prozess stattgefunden haben, darauf abzielten, Aufmerksamkeit für die Künstler zu bekommen. Das konnte man auch bei Pussy Riot und Woina beobachten, die sich zunächst als Gruppe sahen. Als sich in der Entwicklung des Prozesses einzelne Mitglieder von Pussy Riot abgespalten haben, ist auch die Gruppe Woina immer mehr auseinandergebrochen. Es gab innere Kämpfe darum, wer die meiste Aufmerksamkeit im Westen bekommt. Der Blick des Westens ist für die russische Kunst unglaublich wichtig. Wie bei den Blauen Nasen und bei allen Nachfolgern ist der Westen heutzutage immer noch sehr einflussreich, weil die Künstler natürlich wahrgenommen werden wollen. Bei Chto Delat? ist es so, dass sie sich eine neue Möglichkeit erarbeitet haben. Sie versuchen, mit ihren Werken, Installationen und Ausstellungen im Westen zu erklären, wie sich innerhalb der letzten 30 Jahre die Kultur und das Zusammenspiel der Akteure in Russland entwickelt haben. Vielleicht werden sie auch aus diesem Grund so gerne ausgestellt, weil sie das zugänglich machen. Aber es ist auf jeden Fall ein sehr großes Problem, das Sie da ansprechen.
barbara lange: Es scheint in Russland nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion eine Situation zu geben, in der Bedingungen für die Zivilgesellschaft ausgehandelt werden. Diese periment sowie Performanceaktivitäten unter dem Motto How to Kill Time zusammengefunden hatten, wobei sie zugleich fotografierten und filmten. Sie hatten Wasser dabei, in Flaschen, die einen blauen Plastikverschluss hatten. Auf den grotesken Fotos und Videos, die während der Aktion im Bunker entstanden sind, sieht man diese Verschlüsse, die sich manche der Teilnehmenden zum Spaß auf die Nase geklemmt hatten – der Name der Gruppe, die in der Folge als Künstlerkollektiv eine gewisse Bekanntheit erlangte, leitet sich davon ab. 40 Vgl. Ada Raev/Isabel Wünsche (Hg.), Kursschwankungen: Russische Kunst im Wertesystem der europäischen Moderne, Berlin 2007.
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Aushandlungsprozesse haben sich im letzten Jahrzehnt stark radikalisiert. Aber es scheint sich jetzt nicht um eine Art diktatorische Situation zu handeln, wie man es vielleicht für die ehemalige Sowjetunion definieren könnte. Da offensichtlich das Recht besteht, eine Ausstellung wie Verbotene Kunst zu machen, die dann sogar vom Titel her etwas vorgreift, was erst danach realisiert wird. Eigentlich geht es um Verhandlung und in dieser Situation wird Kunst als ein Medium eingesetzt – als ein Medium von Künstlern, d. h. den Produzentinnen und Produzenten, wie auch von denjenigen, die Ausstellungen machen. Hierbei werden Ziele formuliert, die zum Teil sehr provokativ sind und die ganze liberale Gesellschaft herausfordern, Position zu beziehen, um dadurch vielleicht Bedingungen aufzeigen zu können oder auch Prozesse aufzuhalten. Mir ist noch nicht klar geworden, wie Sie selbst das sehen, welche Rolle nicht die einzelnen Kunstbeispiele für sich, sondern die Kunst oder die Ausstellung im Verhältnis zu den Instanzen der Politik spielt? Politik ist ja nicht nur die Staatsmacht oder die Legislative, die Recht aushandelt. Im Vortrag von Andrea Bátorová über die Tschechoslowakei hatten wir die Situation, dass zwischen 1968 und 1972 noch ein Aushandlungsraum zu finden ist, wo die Überzeugung im Raum steht, wir können mit Kunst etwas aufhalten, allerdings andere Instanzen viel dominanter sind und viel mehr Macht haben.41 Ist Ihr Beispiel, auch wenn das eine andere politische Situation ist, da Russland im Gegensatz zur Tschechoslowakei kein sozialistischer Staat ist, damit vergleichbar oder etwas ganz anderes?
elena korowin: Das ist schwer zu erklären, da es sich bei diesem Gefüge um ein ambivalentes Verhältnis, ein Konstrukt, das nicht ganz fest ist, handelt. Natürlich ist Russland kein sozialistischer Staat mehr, aber es ist auf jeden Fall eine Maschine, die nach ganz klaren, vorgegebenen Maßstäben funktioniert, die sich noch sehr stark an der Ordnung des sozialistischen Staates orientieren. Innerhalb dieser Maßstäbe gibt man der Kunst eine gewisse Freiheit, um auch die zeitgenössische Kunst auf sogenanntem westlichem Niveau sich entwickeln zu lassen. Aber sobald diese Kunst Grenzen überschreitet, die vom Staatsapparat festgesetzt, aber nirgendwo in Form von Gesetzen oder Aussagen festgeschrieben sind, dann wird versucht, diese Kunst- oder Kulturschaffenden so still als möglich aus der Maschinerie wieder herauszunehmen. Auf diese Art funktioniert das im Moment. Das heißt, Künstlergruppen wie Woina funktionieren nur dadurch, dass sie in Guerilla-Aktionen nachts auf die Straßen gehen und ihre Filme ins Internet stellen. Sehr viele dieser Aktivisten sind bereits im Gefängnis oder im Straflager; d. h. sie kommen auch nicht ungeschoren davon. Das, was in den Institutionen als politische Ausstellung gezeigt wird, ist sehr harmlos. Das berührt auch die Diskussion über die Neu-Entfaltung des Stalinismus in Russland. Es sind fließende Verhandlungen, die geführt werden. Es gibt die Möglichkeit, Ausstellungen zu machen, aber man muss auch mit den möglichen Konsequenzen rechnen. Samodurow wusste das von Anfang an. Er hat im Prozess erklärt, dass er quasi die Rolle eines Märtyrers für die zeitgenössische Kunst annehmen wollte. barbara lange: Aber warum macht man das gerade mit Kunst? elena korowin: Weil die Kunst angreifbar ist und es keinen Schutz für sie gibt. Weil es der einzige Rahmen ist, innerhalb dessen sich eine zivilgesellschaftliche Bewegung entfaltet. Was 41 Vgl. den Beitrag von Andrea Bátorová in diesem Band.
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in den staatlichen Institutionen passiert, ist vorgeschrieben und wird abgesprochen. Was in den nicht-staatlichen Institutionen passiert, das kann man als Freiwild bezeichnen. Die Kunst, die ich hier vorgestellt habe, hat keinen speziellen Staatsapparat über sich, während die Kunst, die in der Tretjakow-Galerie ausgestellt wird, oder auch die Soz-Art einen gewissen Stellenwert hat, der als ungefährlich, unkritisch oder nur kritisch für eine längst vergangene Zeit erscheint.
barbara lange: Ich habe auch noch eine Nachfrage zum Thema Religion. Sie haben in Ihrem Vortrag erwähnt, dass im Prozess der Begriff ‚Pogrom‘42 verwendet wurde. Der hat ja eine ganz konkret historische Bedeutung. Wird hier wirklich auf die Pogrome gegen die Juden in Deutschland angespielt?
elena korowin: Absolut. Die Art und Weise, wie im Prozess mit den Veranstaltern der Ausstellung umgegangen wurde, erinnert in der Rhetorik stark an die Beschuldigungen und Prozesse, die im Jahr 1937 stattgefunden haben. Darauf wird auch im Buch verwiesen. Es gab Beschimpfungen wie „ihr seid Juden“ oder „ihr seid Teufel“. Das mussten sich Samodurow und Jerofejew im Prozess von den Vertretern des Volkgerichts anhören.
gürsoy dog˘ taș: Mir ist aufgefallen, dass im Vortrag zwei Fronten dargestellt worden sind. Innerhalb dieser Fronten gibt es von der Kunst und von der Ausstellung aus eine bestimmte ‚Choreografie‘ der Eskalation des Konflikts. Ich finde, das öffnet nicht gerade Türen für ein Gespräch, sondern es verschließt sie eher. Gibt es Formen des Politik-Machens in Ausstellungen, die ohne diese binäre Konstruktion auskommen?
elena korowin: Es gibt auf jeden Fall mehrere Arten, wie Politik in russischen Ausstellungen gemacht wird. Die Biennale und auch die offiziellen großen Galerien in den großen Städten sind z. B. eine Art. Das ist die offizielle Darstellung des Landes, die durch in Russland zusammengestellte und konzipierte Ausstellungen stattfindet und dann in die Länder des Westens oder des Ostens exportiert wird. Je nachdem, wohin die Ausstellungen kommen, wird auch das Konzept verändert. Dann gibt es einen kleinen Kreis unabhängiger Kulturschaffender wie Samodurow, der eigentlich viel mehr ein Menschenrechtler ist und in seiner Position als Direktor des Sachararow-Zentrums diese Ausstellung gemacht hat. Jerofejew kann man nicht direkt dazu zählen, weil er zum einen für den Staat die Ausstellung in der Tretjakow-Galerie ausgerichtet hat, zum andern aber gewagt hat, in dieser Ausstellung ein tabuisiertes Thema anzusprechen. Und es gibt natürlich, wie das schon immer in der Geschichte Russlands war, die Peripherie. Wir haben Sankt Petersburg, Moskau und dann haben wir dieses riesige Land, das eigentlich schon gar nicht mehr zu Russland gehört, wenn man in Sankt Petersburg und Moskau herumfragt. Dort finden aber auch sehr viele kulturelle und künstlerische Prozesse statt. Vor allem in Sibirien gibt es einige Orte, in denen sich tatsächlich Kultur-Zentren gebildet haben. Zum Beispiel hat das IFA (Institut für Auslandsbeziehungen) in Stuttgart mit der Partnerstadt Samara an der Wolga zusammen große Biennalen zur Kunst auf der Straße ausgerichtet. Es gibt auch diese Kultur. Aber dadurch, dass sie weit weg ist von den Zentren, auf die die Augen gerichtet sind, auch die der westlichen Politik, findet das in so einer Art eingeschlossener, eigener Öffentlichkeit statt, die 42 Anm.: Dieser Begriff wurde nur in der Vortragsfassung des Beitrags verwendet.
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nur wenig oder gar nicht nach außen tritt. Das sind nur einige Beispiele von Arten der Politik in Ausstellungen in Russland.
rachel mader: Können Sie etwas zum Begriff der Diplomatie sagen? Für mich haben Sie die Ausstellung als eine Art der Bevormundung durch die Diplomatie dargestellt. Bezieht sich das vor allem auf den Kurator, der, wie Sie sagten, die Rolle des Märtyrers übernimmt, um zeitgenössische Kunst zu vermitteln? Von wem war das beabsichtigt, wozwischen wurde vermittelt, und ist diese Diplomatie hier gescheitert?
elena korowin: Der Begriff der Diplomatie hat in meinem Beitrag keine Rolle gespielt, damit habe ich mich vor allem in meiner Dissertation43 beschäftigt. Darin ging es um sowjetische Ausstellungen, die in der Bundesrepublik gezeigt wurden und die entweder aus westlicher oder sowjetischer Sicht irgendeine Art von Kulturdiplomatie vermitteln sollten.
43 Elena Korowin, Der Russen-Boom 1970–1990. Sowjetische Ausstellungen als Mittel der Diplomatie in der Bundesrepublik Deutschland, Wien/Köln/Weimar 2015.
über die konflikte der 13. istanbul biennale mit der gegenöffentlichkeit gürsoy dogˇ taș Die 13. Istanbul Biennale, die im Jahr 2013 unter dem Titel Mom, am I barbarian? veranstaltet wurde, platziert sich mit ihrem Ausstellungsthema ‚Gegenöffentlichkeiten‘ innerhalb einer äußerst spannungsreichen Dynamik zwischen Real-Politik, Aktivismus und Kunst. In dem Konzept einer agonistischen, d. h. konfliktuell ausgerichteten Öffentlichkeit liegt für die Biennale das Versprechen von einer Wirksamkeit, ihre eigenen institutionellen Strukturen und damit Grenzen politischen Prozessen zu öffnen. Trotz dieses Vorhabens bleiben die eigenen ökonomischen und institutionellen Positionen der Biennale von ihr selbst jedoch unreflektiert. Dieses schwerwiegende Versäumnis, ihre eigenen Funktionsweisen und damit auch ihre ideologische Basis selbstkritisch zur Disposition zu stellen, tritt in zwei Konflikten besonders deutlich hervor und wird debattierbar: Zum einen in der Konfrontation mit einer kritischen Öffentlichkeit, die bei Biennale-Veranstaltungen protestiert und interveniert, und zum anderen in der durch die Gezi-Park-Bewegung ausgelöste Entscheidung der Kuratorin Fulya Erdemci, ursprünglich in der Öffentlichkeit geplante Veranstaltungen abzusagen. In diesen Konflikten tritt das widersprüchliche Politikverständnis der 13. Istanbul Biennale zutage: Während sie sich im konkreten Rahmen einer Ausstellung explizit für eine agonistische Öffentlichkeit einsetzt, kann sie als Institution die impliziten Machtdiskurse ihres hegemonialen Ausstellungskomplexes kaum diskursivieren.
das ausstellungskonzept Das komplex angelegte Ausstellungsformat der 13. Istanbul Biennale, bestehend aus einem Filmprogramm (30. März bis 14. April 2013), einer dreiteiligen Symposionreihe mit Workshops, Vorträgen, Seminaren, Performances etc. (8. Februar bis 11. Mai 2013) und der Ausstellung (14. September bis 10. November 2013), wählt sich, wie erwähnt, als Themenschwerpunkt die Öffentlichkeit(en). Die Mechanismen der Exklusion und die Produktion von Ungerechtigkeit werden anhand rasanter städtischer Transformationen (insbesondere in der Stadt Istanbul) und des Konzepts der Zivilbürgerschaft hinterfragt. Zugleich interessiert sich das Ausstellungskonzept für die emanzipativen Strategien, mit denen Öffentlichkeit eingefordert und eingenommen wird. Hierbei kommt der agonistischen, konfliktuell ausgerichteten Öffentlichkeit eine Schlüsselrolle zu.1 Das 1 Dem von Chantal Mouffe ausgearbeiteten Modell des Agonismus liegt die Überzeugung zugrunde, dass – im Gegensatz zu Modellen des Pluralismus – Konflikte in Demokratien nicht eliminiert, sondern als deren Grundlage erhalten werden sollen; allerdings nicht als Kampf zwischen Feinden, sondern als einer zwischen Kontrahenten, deren Positionen sich zwar (mit
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Ausstellungskonzept bezieht sich dabei explizit auf die Sozialphilosophin Chantal Mouffe, die hierfür die theoretische Grundlage schafft.2 Mouffe entwickelt ihr Konzept der agonistischen Öffentlichkeit, um das „sozialistische Projekt zu reformulieren, um eine Antwort auf die Krise der kommunistischen und sozialistisch geprägten Linken zu geben“.3 Diese Krise ergibt sich aus der Entwicklung einer Post-Politik, also einer entpolitisierten Form der Politik, die, zusammengefasst, die demokratischen Debatten zugunsten von sogenannten Experten-Lösungen vernachlässigt, wie dies etwa im Neoliberalismus zu verzeichnen ist. Mouffe setzt sich für die Repolitisierung der Demokratie ein und spricht dabei von radikaler Demokratie.4 In diesem Sinne problematisiert die 13. Istanbul Biennale die postdemokratische Krise sowie die dazugehörigen Regierungstechniken, deren Folge ein Schwinden von demokratischen Aushandlungsmöglichkeiten ist. In ihrem Ausstellungsformat will die Biennale die Demokratie vitalisieren. Themen wie die Exklusion aus dem demokratischen Prozess, das Übergehen von Bürgerrechten oder die Kreation des Fremden bzw. Anderen lassen sich auch im Titel der Biennale wiederfinden: Mom, am I barbarian? ist dem gleichnamigen Buch der türkischen Poetin Lale Müldür entlehnt. Mit dem Aufgreifen des Begriffs ‚Barbarismus‘ mit seinem Ursprung in der griechischen Antike wird sowohl die Demokratie als ,Goldenes Zeitalter‘ evoziert als auch deren Exklusionsmechanismus. Im Rahmen der Ausstellung befragt die Biennale die Aktualität des Barbarismus in unseren Zivilisationen. Im agonistischen Modell der Öffentlichkeit kann für Mouffe kritische Kunst einen Dissens erzeugen, der die vorhandenen, sedimentierten Hegemonien stört und dadurch wahrnehmbar macht. Diese Funktion der Kunst, die ideologischen Strukturen, in denen wir leben, zu entlarven, betont das Biennale-Ausstellungskonzept mit einem Zitat von Mouffe: „Consequently, art can play a role ‚subverting the dominant hegemony and by contributing to the construction of new subjectivities (…). According to the agonistic approach, critical art is art that foments dissensus, which makes visible what the dominant consensus tends to obscure and obliterate. It is constituted by a manifold of artistic aller Härte) bestreiten, aber jeweils legitim vertreten werden. Vgl. Chantal Mouffe, Agonistik. Die Welt politisch denken, Frankfurt am Main 2014, insb. S. 21–43. 2 In ihrem ersten kuratorischen Statement, das vor Beginn der Gezi-Park-Bewegung entstand, geht die Kuratorin Fulya Erdemci ausführlicher auf die agonistische Öffentlichkeit im Sinne Chantal Mouffes ein. Fulya Erdemci (a), Mom, Am I Barbarian?, 2013. http://cdn.iksv.org/ media/content/files/press/07c183e0a97436d387561f27d1722b12.doc (Letzter Zugriff: 17. Oktober 2014). Im Ausstellungsführer wird Mouffe allerdings nicht mehr explizit erwähnt. Fulya Erdemci (b), Mom, am I barbarian?, in: The Guide to the 13th Istanbul Biennal, Istanbul 2013, S. 22–34, hier S. 25. 3 Mouffe 2014 (wie Anm. 1), S. 191. Das Interview mit Elke Wagner „Und jetzt, Frau Mouffe?“ ist erstmals in: Heinrich Geiselberger (Hg.), Und jetzt? Politik, Protest und Propaganda, Frankfurt am Main 2007, S. 105–127 erschienen und konnte so Erdemci bei ihren Vorbereitungen der Biennale bereits vorliegen, auch wenn Mouffes Buch Agonistics. Thinking the World Politically, in dem das Interview wiederabgedruckt ist und das hier in der deutschen Ausgabe zitiert wird, 2014 erst nach der Biennale erschien. 4 Chantal Mouffe, Über das Politische. Wider die kosmopolitische Illusion, Frankfurt am Main 2007, S. 48.
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practices aiming at giving a voice to all those who are silenced within the framework of the existing hegemony‘.“5
So eine antihegemoniale Kunst pendelt zwischen einer Instrumentalisierung zu aktivistischen Zwecken und ihrer Autonomie (ohne dass der Autonomie-Begriff im Ausstellungskonzept weiter erläutert oder eingeordnet wird). Einer einseitigen Vereinnahmung der Kunst für aktivistische Zwecke steht das Ausstellungskonzept kritisch entgegen: „In the face of urgency, many artists joined the Occupy movement and many others support the struggles and reactions especially (but not exclusively) against neoliberal urban transformation (...). Simultaneously, the discussion around the autonomy and instrumentalization of art has gained a momentum (...). Does art-as-public-domain and activism share the same goal of changing society? In the face of urgency, can art and its institutions be mobilized as a useful political tool? Or will art lose its power in the collision?“6
Während die kritische Kunst auf die strukturellen, normativen und ethischen Kontingenzen der Gesellschaft abzielt, ist sie selbst in diese verstrickt. Besonders problematisch erscheint solch eine Verstrickung auch für eine Biennale, wenn sie zu ihrer Finanzierung die neo-liberalen Mechanismen nutzt und befördert, die sie eigentlich kritisieren wollte: „While artistic practices that claim public domain become more prevalent, simultaneously under the spell of privatization, art institutions have become dependent on private funding and commercial support. As this increases, it has generated growing pains: in certain cases, the contemporary art world serves as the epicenter of the distribution of neoliberal culture and mechanisms. Our research for the Biennial extends to an investigation of how the ,boomingʻ art world, specifically its market, functions in Istanbul and elsewhere, and what traces of this impact we might find.“7
Mit dem Stilmittel der offenen Fragen hebt die 13. Istanbul Biennale das Aussondieren eines Terrains gegenüber einem Festlegen und Festschreiben hervor. Der Wunsch nach Reflexion erfährt durch das diskursiv angelegte Ausstellungsformat seine Entsprechung. Somit kann sich die Biennale von bereits existierenden Ausstellungsformaten wie dem der 7. Berlin Biennale unter dem Titel Forget Fear aus dem Jahr 2012, deren Ausstellungskonzept ebenfalls durch die real-politischen Ereignisse der diversen Platzbesetzungsbewegungen beeinflusst war, abgrenzen. Anders als in Berlin will die 13. Istanbul Biennale jedoch kritisch-aktivistische Kunst nicht mit politischem Aktivismus gleichsetzen. Sowohl die beschriebene Themensetzung als auch der kuratorisch-methodologische Ansatz erinnern an Strategien des ‚Neuen Institutionalismus‘. Der Begriff besagt zusammengefasst, dass die Institutionen nicht lediglich Ausstellungen produzieren, 5 Erdemci 2013a (wie Anm. 2), Zitat im Zitat von Chantal Mouffe. 6 Ebd. 7 Ebd.
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sondern diese Ausstellungen vielmehr nur einen Teil innerhalb eines diskursiven Programms aus Vorträgen, Workshops, Publikationen etc. darstellen, zu dem ebenfalls Kooperationen mit kunstfernen Institutionen oder Stadtteilprojekten gehören. Die Institutionen werden zu einem sozialen Raum, der nicht nur demokratisch organisiert ist, sondern selbst eine demokratische Politik betreibt. So werden die Aufteilungen zwischen Publikum, Kunstwerk und Institution gelockert. Ein bekanntes Beispiel für solch eine Institution ist das MACBA in Barcelona.8 Ganz im Sinne des ‚Neuen Institutionalismus‘ ist auch die 13. Istanbul Biennale nicht an der ‚bloßen‘ Ausstellung interessiert, sondern orientiert sich an der demokratischen Praxis. Allerdings zeigen sich durch Kollisionen mit den Biennale-Gegnerinnen und -Gegnern, wie ich anhand des ersten Konflikts erläutern werde, die Defizite des Ausstellungsentwurfs. Der erste Konflikt entsteht, indem die Biennale-Gegnerinnen und -Gegner im Stil eines Détournements auf das Ausstellungsthema der agonistischen Öffentlichkeit rekurrieren, um der Biennale nachzuweisen, dass sie kontradiktorisch zu ihrem eigenen Vorhaben agiert und Öffentlichkeit nicht (genug) reflektiert, diversifiziert und erweitert, sondern vielmehr beschränkt, sowie um infrage zu stellen, dass das Format der Biennale sich tatsächlich für eine Gegenöffentlichkeit einsetzt. Der Konflikt ereignet sich im Vorfeld der eigentlichen Ausstellungen und lenkt damit die Aufmerksamkeit weg von der Ausstellung und den Kunstwerken und hin zu dem konkreten politischen Handlungsradius der Institution und der Kuratorin. Die Biennale-Gegnerinnen und -Gegner möchten durch ihre Aktionen die Biennale als Resultat neoliberaler Politik auffassen und auf ihre hegemoniale Praxis hinweisen. Dieses auch, weil das linkspolitisch ausgerichtete Ausstellungsvorhaben von Erdemci unerwähnt und unproblematisiert lässt, dass die 1987 eröffnete Istanbul Biennale selbst das Resultat einer neoliberalen Umstrukturierung von Politik und Ökonomie in der Türkei ist, die ihren Anfang mit dem dritten Militärputsch 1980 nahm.9 Anhand dieses Konflikts, ein Realitätseffekt der Biennale, können die Bedingungen des Produktionsapparats in Beziehung gesetzt werden zum Ausstellungsthema und dessen imaginärer Aufladung. Anders als im diskursiven Rahmenprogramm und in der Ausstellung selbst, muss die Biennale während dieses Konfliktes ihre Vermittlerposition aufgeben und selbst politisch handeln. Wenn ich im Folgenden auf den Konflikt mit den Biennale-Gegnerinnen und -Gegnern detaillierter eingehe, dann deshalb, weil mich die Differenzen zwischen den beiden Konfliktparteien bzw. die Überlagerungen ihrer politischen Handlungen interessieren und nicht, um ein Urteil darüber zu fällen, ob eine der beiden Parteien die bessere, realere Politik macht.
8 Jorge Ribalta beschreibt die entsprechende Entwicklung des MACBAs: Jorge Ribalta, Experiments In A New Institutionality, 2009. http://www.macba.cat/PDFs/jorge_ribalta_colleccio_eng. pdf (Letzter Zugriff: 17. Oktober 2014). 9 Ilker Ataç, Die „Konservativ-liberale“ Politik der AKP in der Türkei im historischen Zusammenhang, 2009. http://www.linksnet.de/de/artikel/24835 (Letzter Zugriff: 17. Oktober 2014).
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der konflikt mit den biennale-gegnerinnen und -gegnern Eine besonders beachtete Protestaktion der Biennale-Gegnerinnen und -Gegner ereignete sich am 10. Mai 2013. Als Mise en Scène diente ihr die Lecture Performance Art House Index des Brüsseler Künstlerduos Vermeir & Heiremans in den Konferenzräumen des luxuriösen Marmara Taksim Hotels in Istanbul. In ihrer Performance versuchen beide Künstler, aus ihrem Apartment in Brüssel ein Finanzvehikel zu machen, um dieses zu verkaufen. Sie entwickeln unter Anleitung des fiktiven Investmentexperten Frank Goodman, mit dem sie über Skype konferieren, ein fiktives Derivat. Sie kombinieren hierfür Lösungen der Immobilienmärkte mit sogenannten Kunstreputationsindizes. Diese Indizes zeigen, dass die Wertsteigerung im Kunstbetrieb hochgradig spekulativ ist und der Eigenwert der Kunst sich aus der Signatur des Künstlers ableitet. Der Konferenzraum des Marmara Taksim Hotels war aus der Sicht des Duos für dieses Setting deshalb so treffend ausgesucht, weil sich hier sehr realistisch die Businesskonferenzsituation simulieren ließ.10 Diese Veranstaltung fand als dritter und letzter Teil der Symposionreihe Public Alchemy statt, die von Andrea Phillips ko-kuratiert wurde. Unter dem Titel Public Capital wollte sie im letzten Symposion die Zusammenhänge zwischen der zeitgenössischen künstlerischen und kuratorischen Produktion und deren Finanzierung untersuchen, womit diese Veranstaltungsreihe prädestiniert dafür war, von den Biennale-Gegnerinnen und -Gegnern unterwandert zu werden. Der Verlauf des Protestes lässt sich in fünf Episoden gliedern. Unter dem Namen Kamusal Direniş Platformu (Plattform des öffentlichen Widerstands) sammelten sich Künstlerinnen und Künstler, Studentinnen und Studenten sowie Aktivistinnen und Aktivisten, um gegen Gentrifizierung zu protestieren. In der ersten Episode bewegt sich ein Mann zehn Minuten nach Beginn der Performance völlig geräuschlos aus dem Publikum in die Mitte des Konferenzraums. Er entfaltet eine weiße Flagge, deren obere Hälfte aus dem Logo der Biennale besteht und deren untere Hälfte den Namen eines von Gentrifizierung bedrohten Stadtteils zeigt sowie das Logo eines Konzerns, der an städtischen Transformationen mitverdient, und legt sich hin. Nach ein paar Minuten greifen die Techniker der Biennale ein, packen den Körper des Mannes und tragen ihn nach draußen. Indes pausierte das Künstlerduo und beobachtete irritiert die Geschehnisse. Nach wenigen Minuten wiederholte sich dieses Ereignis mit einer anderen Person aus dem Publikum. Es lief derselbe Vorgang ab, nur waren auf der weißen Flagge der Name eines anderen Stadtviertels und ein anderes Konzernlogo abgedruckt. Unschwer war zu erkennen, dass durch den Protest die Biennale als ein Teil des Problems der Gentrifizierung in Istanbul markiert wird. Die zweite Episode besteht aus einem Vorfall am Ende dieser Veranstaltung im Hotel. Die Kuratorin Fulya Erdemci fordert von dem Aktivisten und Künstler Niyazi Selçuk, der das Geschehen aufgezeichnet hat, das Filmmaterial ein – mit der Begründung, 10 Vgl. dazu http://jubilee-art.org/?rd_project=417&lang=en (Letzter Zugriff: 17. Oktober 2014) und den Vortrag von Andrea Phillips (Kuratorin des Public Program) an der Harvard Graduate School of Design am 2. Oktober 2013. In diesem Vortrag geht sie auf diesen Konflikt ein: http://www.youtube.com/watch?v=T935mVxM6OM (Letzter Zugriff: 17. Oktober 2014).
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dass Selçuk ihre Persönlichkeitsrechte verletzt habe. Dieser entgegnet aber, dass diese Aufnahmen durch das Recht auf künstlerische Freiheit gedeckt seien. Da sie sich nicht einigen können, erstatten beide auf einem Istanbuler Polizeirevier gegenseitig Anzeige.11 Darauf folgt als dritte Episode die Positionierung der Biennale-Leitung: Am nächsten Tag, dem 11. Mai 2013, gibt die Biennale eine kurze Pressemeldung heraus, in der Erdemci betont, dass nicht gegen die Protestierenden insgesamt Anzeige erstattet wurde, sondern allein gegen den Filmemacher Niyazi Selçuk. Bei dieser Gelegenheit erläutert sie die Absicht der Biennale und des Veranstaltungsprogramms, eine reale Öffentlichkeit herzustellen, in der verschiedene Stimmen, sogar konfligierende Ideen, Gehör finden und in der Menschen ohne Angst und ohne sich gegenseitig zu behindern, miteinander sprechen könnten. Solche Plattformen zu obstruieren, bedeute aber gerade, eine Einschränkung der Meinungsfreiheit zu reproduzieren, so Erdemcis widerspruchsvolle Antwort. Das Gesprächsangebot an die Protestierenden ist an die Forderung geknüpft, dass sie beim Vorbringen ihres Anliegens auf Gewalt und Vandalismus verzichten.12 Die Biennale sieht sich also in der Position, die Bedingungen und Regeln des Miteinandersprechens vorgeben zu können und die Definitionsmacht darüber innezuhaben, wann Protest in Vandalismus umschlägt. Diese Regeln werden gesetzt, noch bevor überhaupt auf die Forderungen der Protestierenden eingegangen wird. Die vierte Episode: Am 25. Mai (drei Tage bevor die Protestwelle im Gezi-Park beginnt) wird der Brief von Erdemci von den Protestierenden mit einem offenen Brief erwidert. Sie heben den Widerspruch des Konzepts der Biennale hervor, auf der einen Seite einen öffentlichen Diskurs initiieren zu wollen und auf der anderen Seite selbst eine Politik der Exklusion zu betreiben. Dieser Brief, der die Biennale auffordert, auf ihren „autoritären Reflex“13 zu verzichten, ist von einer beeindruckend großen Anzahl an Künstlerinnen und Künstlern sowie Aktivistinnen und Aktivisten unterschrieben. Es folgt als fünfte Episode noch ein letzter Austausch offener Briefe, der am 9. Juni beendet wird. In ihrer abschließenden Replik entschuldigt sich Fulya Erdemci für die Vorfälle, die am 10. Mai passiert sind. Sie beschreibt erneut die Situation, um eine Zirkulation von Fehlinformationen zu verhindern. Erdemci lädt alle zu einem „konstruktiven und friedlichen“ Gespräch ein.14 Dieser Einladung kommen die Protestierenden bzw. Künstlerinnen und Künstler aber nicht nach.
11 Vgl. Elif İnce, Bienal protestosu karakolda bitti, 2013. http://www.radikal.com.tr/hayat/bienal _protestosu_karakolda_bitti-1133025 (Letzter Zugriff: 17. Oktober 2014). 12 Der offene Brief ist nachzulesen unter: http://bienal.iksv.org/en/archive/newsarchive/p/1/728 (Letzter Zugriff: 17. Oktober 2014). 13 Die vollständige Aufforderung lautet: „We would kindly and urgently invite you to change this authoritarian reflex and rethink the proposed process (structure) of the 13th Istanbul Biennial.“ Der Brief ist nachzulesen unter: http://art-leaks.org/2013/06/09/call-to-rethink-the-13thistanbul-biennial-and-response-of-the-biennale-curators (Letzter Zugriff: 17. Oktober 2014). 14 Das Statement von Erdemci ist nachzulesen unter: http://bienal.iksv.org/en/archive/ newsarchive/p/1/790 (Letzter Zugriff: 17. Oktober 2014).
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besonderheiten des konflikts Die Aktivistinnen und Aktivisten der Kamusal Direniş Platformu performen ihr In-Erscheinung-Treten in einer einfachen, nahezu elementaren Weise. Hatten sie sich zuerst unkenntlich unter das Publikum gemischt, bewegen sie sich im Zuge ihrer Interventionen aus diesem in die Mitte des Raumes und führen eine Verwandlung zu agitierenden Akteuren einer Performance durch, mit dem strategischen Ziel, Gegeninformationen zu platzieren. Auf ihrem Weg vom Publikum in die Mitte des Raumes und während sie von dort aus dem Raum weggetragen werden, bleiben die Aktivistinnen und Aktivisten ganz still. Dieses Nichts-Sagen kontrastiert mit den Absichten des diskursiven Public Program, einen Raum des Sagbaren zu schaffen. Während des Verlaufes der Performance bleiben das Publikum und das Biennale-Team, bis auf die Techniker, ebenfalls still und abwartend; sie alle antizipieren mit gemischten Gefühlen diesen Einbruch in ihre Abläufe. Die unabgeschlossenen Verhandlungen in den Räumen des Marmara Konferenz Center werden auf weitere Austragungsorte ausgedehnt – die Öffentlichkeit (mit dem offenen Brief ) und das Polizeirevier. Der anspruchsvoll gestaltete Raum für Begegnung und Austausch des Public Program der Biennale wurde durch das Détournement der Aktivisten zweckentfremdet. Während die Biennale in diesem diskursiven Programm über Hegemonien und Ausschlüsse in den Medien, den Ausstellungen und im öffentlichen Raum reflektieren wollte, wurde sie mit ihrer eigenen Produktion von Hegemonien und Ausschlüssen konfrontiert. Durch das forcierte Aufeinandertreffen von Biennale-Gegnerinnen und -Gegnern und Public Program prallen zudem zwei verschiedene Formen der Kritik und scheinbar unvereinbare Zielvorstellungen von dem, was Öffentlichkeit sein kann und wie sie sich herstellen lässt, aufeinander. Die Biennale will im Rahmen des Public Program über die agonistische Öffentlichkeit reflektieren, währenddessen wollen die Protestlerinnen und Protestler sie praktizieren. Auch wenn der Konflikt zwei Parteien zeigt, zwischen denen es zu keiner Versöhnung kommen wird, stehen sich die beiden nicht statisch gegenüber. Vielmehr sind sie beide Teil eines Prozesses, in dem sie sich gegenseitig transformieren. Hierbei entsteht eine paradoxe Situation: Zum einen stellen sich die Aktivisten und Aktivistinnen mit ihrer Kritik an der Biennale in ein konkurrierendes Verhältnis zur Biennale selbst, zum anderen platzieren sie sich mit ihrer Performance wie Ko-Produzentinnen und -Produzenten dieser Veranstaltung, die sich intensiv mit dem Ausstellungskonzept und den möglichen Exponaten auseinandergesetzt haben. Indem die Aktivistinnen und Aktivisten die unsichtbaren Hegemonien der Biennale dadurch entlarven, dass sie die Disziplinierungsstrategien der Biennale provozieren und damit das Machtgefälle, also die Asymmetrien der Hierarchien, offenbar werden lassen, verweigern sich die Aktivistinnen und Aktivisten dem Gespräch mit der Biennale. Sie setzen auf andere Machtstrategien, indem sie auf einer unüberwindbaren Opposition insistieren. Trotz dieser paradoxen Situation und den Verflechtungen betonen die Aktivistinnen und Aktivisten die Differenz zwischen ihren Ideologien und damit ih-
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rem Öffentlichkeitsbegriff und denjenigen der Biennale. Sie machen ihre kollektiven, hierarchiefreien Organisationsformen der Biennale gegenüber geltend, um von hier aus ihre transparenten, entdisziplinierten und entspezialisierten Verfahren mit den intransparenten, undemokratischen der Biennale zu kontrastieren.
kein ‚neuer institutionalismus‘ Diese Proteste kehren eine der Hauptwidersprüchlichkeiten der 13. Istanbul Biennale hervor. Die Kuratorin übernimmt die Verfahren und Themen des ‚Neuen Institutionalismus‘, indem sie mit der Biennale ein politisches Forum für die Auseinandersetzung mit der agonistischen Öffentlichkeit zu schaffen versucht, ohne aber die Apparatur der Biennale selbst verändern zu wollen und ohne die Institutionskritik, die von Seiten der Künstlerinnen und Künstler in den letzten Dekaden geäußert wurde, als Organisation zu verinnerlichen. Für so ein Vorhaben wäre sie prädestiniert gewesen, nicht nur aufgrund ihrer Expertise nach einer langjährigen Auseinandersetzung mit dem Thema Öffentlichkeit (z. B. als Direktorin der SKOR – Foundation For Art and Public Domain in Amsterdam), sondern auch aufgrund ihres Einblicks in die Apparatur der Biennale nach ihrer Zeit als Direktorin (und als Gründungsdirektorin) derselben zwischen 1994 und 2000. Indem Fulya Erdemci aber die Gründe für die sich regelmäßig wiederholenden Proteste der Biennale-Gegnerinnen und -Gegner in ihrer Ausstellungskonzeption übergeht, verleugnet sie auch den lokal-geschichtlichen Hintergrund dieser ideologischen Kämpfe. Sie sind nämlich auch ein Echo auf die Kräfteverschiebung der sozio-politischen Topografie des türkischen Kunstfeldes seit der Gründung der Biennale. Ihre Gründung 1987 durch den wohlhabenden Geschäftsmann Nejat F. Eczacıbaşı ist ein Aspekt der neoliberalen Umstrukturierung der Türkei, deren Anfänge bis zum Militärputsch im Jahr 1980 zurückreichen. Diese Entwicklung hatte weitreichende Folgen für die Museen. War das Museum vormals idealiter der Ausdruck eines bürgerlich-emanzipativen Selbstverständnisses im Geiste der modernen demokratischen Gesellschaft, so überlässt der Staat die Museen sowie die Sammlungs- und Ausstellungspraxis, insbesondere was zeitgenössische Kunst betrifft, nun wohlhabenden Mäzenen.15 Des Weiteren muss die Gründung der Biennale in einem globalen Kontext gesehen werden. Istanbul setzt die Biennale ein, um den lokalen Kunstbetrieb der Stadt transnational auszurichten, die Wettbewerbsdynamik innerhalb des Kunstfeldes zu verändern und Istanbul zu vermarkten. Von den Biennalen im Allgemeinen erhofft man sich, dass sie sich zum zentralen institutionellen Umschlagplatz der „globale[n] Zirkulation von Artefakten, Diskursen und kulturelle[n] ProduzentenInnen“16 entwickeln, jedoch unterscheiden sich Einflusspotenziale der Biennalen untereinander erheblich und damit die Legitimationskräfte indirekt Standards der Kunstproduktion vorgeben zu können. 15 Vgl. Buket AltInoba, Musealisierung im Spannungsfeld der Modernisierung in der Türkei, in: Kunst und Politik. Jahrbuch der Guernica Gesellschaft 13/2011: Museum und Politik – Allianzen und Konflikte, hg. von Anna Greve, S. 115–129; Marcus Graf, Istanbul Biennale – Geschichte, Position, Wirkung, Berlin 2013. 16 Larissa Buchholz, Feldtheorie und Globalisierung, in: Beatrice von Bismarck (Hg.), Nach Bourdieu: Visualität, Kunst, Politik, Wien 2008, S. 211–239, hier S. 220.
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Aus diesem Wettbewerb ergeben sich viele der Antipathien gegenüber der Biennale. Sie äußern sich in der häufig vorgebrachten Kritik, dass die Biennale einen Kulturimperialismus betreibe. Diese Kritik ist in verschiedenen Versionen anzutreffen. So wird z. B. eine Feindlichkeit gegenüber den traditionell türkischen Kunststilen ausgemacht, die sich in der Angst der nationalistischen Linken bemerkbar macht, dass die Biennale einen Teil des US-amerikanischen und europäischen Imperialismus darstelle, der auf lange Sicht die Türkei zersplittern werde. Die orthodoxe Linke wiederum lehnt zahlreiche der politischen Kunstwerke der Biennale ab und etikettiert diese als „Globalismus-Kunst“, mit dem Hinweis darauf, dass lokale linksgerichtete Kunstströmungen mit dem Militärputsch brutal zerschlagen wurden.17
wiederkehrender streitpunkt: der sponsor Auch die Proteste gegen die Koç Holding müssen aus diesem Zusammenhang heraus begriffen werden. Seitdem sie 2007 der Hauptsponsor der Biennale ist,18 ist sie für die Aktivistinnen und Aktivisten zu einem Synonym für die Neoliberalisierung des Kunstbetriebs geworden. Auslöser der Proteste gegen diesen Sponsor sind dessen Waffengeschäfte und die Verbindung der Koç-Familie zum Militär. Vehbi Koç, der Patriarch der Familie, hatte General Kenan Evren zu dessen Militärputsch im Jahr 1980 in einem Brief gratuliert, da er sich von der Militärherrschaft eine Zerschlagung der erstarkten Gewerkschaften erhoffte. Auch profitiert die Koç Holding von der Neoliberalisierung des Landes, die der Militärputsch in der Türkei implementiert.19 Anders als bei der 14. Sydney Biennale führten die Proteste in Istanbul nicht zu einer Trennung vom Hauptsponsor.20 Auf der einen Seite taucht die Kritik an dem Hauptsponsor im Rahmen der Ausstellung auf, wie etwa durch die Video-Lecture The Museum as a Battlefield von Hito Steyerl aus dem Jahr 2013. Diese Arbeit informiert u. a. darüber, dass die Koç Holding ein Waffenproduzent und der türkische Staat ihr größter Abnehmer ist. Auf der anderen Seite wiederum kommt es nicht zu Kritik, wenn etwa die Rolle der Medien von der Biennale thematisiert, dabei jedoch die Koç Holding, der viele große einflussreiche 17 Vgl. Süreyyya Evren, Anhaltende Spannungen – Orthodoxe Linke gegen/und die türkische Gegenwartskunst, in: Hedwig Saxenhuber (Hg.), Kunst+Politik. Aus der Sammlung der Stadt Wien, Wien 2008, S. 170–178. 18 Der Sponsorenvertrag läuft Ende 2016 aus. http://bienal.iksv.org/en/archive/newsarchive/p/1/ 448 (Letzter Zugriff: 7. September 2015). 19 Vgl. Eric Goodfield/Angela Harutyunyan/Aras Özgün, Event and Counter-Event: The Political Economy of the Istanbul Biennial and Its Excesses, in: Rethinking Marxism 4/2011, S. 478–495. 20 Der Hauptsponsor der 14. Sydney Biennale war Transfield, eine Firma mit einer ebenfalls ‚dunklen‘ Vergangenheit, die heute in Australien Heime für Asylsuchende baut, welche eher Haftanstalten gleichen. Die Trennung der Biennale von Transfield ist auch deshalb so bemerkenswert, da der Gründer der Firma, Franco Belgiorno-Nettis zugleich der Gründer der Sydney Biennale war. 2006 verstarb Franco Belgiorno-Nettis, sein Sohn Luca Belgiorno-Nettis trat aus dem Vorstand der Biennale aus. In Sydney ging der Protest allerdings von den teilnehmenden Künstlerinnen und Künstlern aus. Paul Farrell/Michael Safi, Sydney Biennale chairman quits over company’s links to detention centres, 2014. http://www.theguardian.com/artanddesign/2014/ mar/07/sydney-biennale-chairman-quits-transfield-detention (Letzter Zugriff: 17. Oktober 2014).
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Medien in der Türkei gehören, weder erwähnt noch problematisiert wird. Ebenso fehlt es an Kritik in der Arbeit des türkischen Künstlerkollektivs Networks of Dispossession, die im Rahmen der Biennale-Ausstellung gezeigt wird. Das Kollektiv übersetzt die Informationen ihrer ausführlichen Recherche zu den Einflüssen des privaten Kapitals auf den öffentlichen Raum in ein Diagramm. Weil die Koç Holding eine gewichtige Rolle in diesen Netzwerken spielt, fällt ihre Absenz in diesen Diagrammen besonders stark auf.21 Eine einzelne Arbeit wie die von Steyrl kann eine kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Institution jedoch nicht ersetzen. Wie erforderlich diese wäre, zeigt auch der Umstand, dass die Kuratorin der Biennale Fulya Erdemci als Favoritin für den Direktorenposten des 2017 in Istanbul eröffnenden Museums für zeitgenössische Kunst der Koç Holding gilt. Diese Aussicht auf den Direktorenposten muss für das Vorhaben der 13. Istanbul Biennale als kontraproduktiv gewertet werden, da sie der Unabhängigkeit Erdemcis entgegensteht.
rückzug aus dem öffentlichen raum Während die Proteste der Biennale-Gegnerinnen und -Gegner und die Realitätseffekte, die hierbei entstehen, nicht zu Neujustierungen innerhalb des kuratorischen Vorhabens führen, fordert der Einbruch des Realen durch die Gezi-Park-Bewegung eine Neuordnung des Ausstellungsvorhabens nachdrücklich ein. Die Gezi-Park-Bewegung umfasst bekanntermaßen eine Protestwelle, die am 28. Mai 2013 in Istanbul als eine Demonstration gegen den Bau eines Einkaufszentrums im Stil einer dort in den 1940er-Jahren abgerissenen osmanischen Kaserne begann. Die Protestbewegung führt zur Besetzung zunächst des Gezi-Parks und dann des Taksim-Platzes. Auf dem Platz kam es zu heftigen Auseinandersetzungen mit der Polizei, so etwa am Tag der gewaltsamen Räumung, dem 15. Juni 2013. Der Park wurde zum Symbol zivilgesellschaftlichen Widerstandes gegen das türkische Regierungssystem unter Premierminister Recep Tayyip Erdoğan ebenso wie gegen den urbanen Wandel der Stadt. Unter dem Eindruck der brutalen Polizeigewalt gegenüber den friedlichen Demonstrantinnen und Demonstranten auf dem Taksim-Platz und im Gezi-Park entscheidet die Kuratorin Mitte Juni 2013, sich aus dem öffentlichen Raum zurückzuziehen. Von ihrem ursprünglichen Plan, 14 künstlerische Projekte auf den Straßen und Plätzen von Istanbul stattfinden zu lassen, sieht sie ab.22 In einer Pressemeldung23 begründet sie diesen Schritt damit, dass sie es fraglich fände, ausgerechnet von denjenigen Behörden, die eine freie Meinungsäußerung der Bürger unterdrückten, die Genehmigung zur Umsetzung der künstlerischen Projekte einholen zu müssen. Somit findet sich die Istanbul Biennale, die sich entschieden für den städtischen öffentlichen Raum einsetzt und deren Ausstellungskonzept Ausdruck der Besetzungsbewegungen seit 2010 ist, in der paradoxen Situation wieder, dass sie in diesem Raum 21 Georg Imdahl, Agoraphobia, in: Texte zur Kunst 93/2013, S. 244–248, S. 246; Catrin Lorch, Der Sponsor und die Straßenhunde, in: Süddeutsche Zeitung, 14.09.2013, S. 13. 22 Imdahl 2013 (wie Anm. 21), S. 244. 23 http://bienal.iksv.org/en/archive/newsarchive/p/1/814 (Letzter Zugriff: 7. September 2015).
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gar nicht auftaucht und lediglich an den fünf offiziellen Ausstellungsorten Antrepo 3, Arter, SALT Beyoglu, 5533 und der griechischen Grundschule Galata Arbeiten zeigt. Arter und SALT sind zudem nicht öffentliche, sondern private Museen, hinter denen die stärksten Geschäftskonglomerate des Landes stehen. So ließe sich für diese Entscheidung zusätzlich argumentieren, dass sie mit den Performances im öffentlichen Raum keine visuelle Konkurrenz zu den vorhandenen Performances schaffen wollte, zu denen es im Kontext der Gezi-Park-Bewegung gekommen war, wie etwa die berühmt gewordene Intervention des Standing Man. Diese Entscheidung ist nicht in allen Bereichen des Kunstbetriebs, der sich nicht als Gesamtheit gegen die Biennale gestellt hatte, nachvollziehbar. Künstler wie Ahmet Öğüt werteten diesen Rückzug als einen kampflosen Abzug der Biennale aus der Stadt, und das, obgleich sie sich qua Ausstellungsthema dem Konflikt verschrieben hatte.24 In dieser Distanz zur Gezi-Park-Bewegung verhandelt die Kuratorin die Eigenständigkeit der Biennale und die Autonomie der Kunst. Sie will eine Biennale meiden, in der Kunst und Aktivismus ineinander fallen, wie es bei der 7. Berlin Biennale zu beobachten war. Anders als ihr Public Program, das die Idee eines monolithisch verstandenen Öffentlichkeitsbegriffs aufbrechen wollte und sich selbst als ein politisches Forum verstand, in dem Öffentlichkeit und damit Demokratie praktiziert werden sollten, entscheidet sich die Ausstellung für die entgegengesetzte Haltung. Die Strategie, mehr als eine Kunstinstitution und ein politisches Forum sein zu wollen, wandelt sich im Verlauf der Gezi-Ereignisse und reduziert sich darauf, bloß eine Ausstellung sein zu wollen. Die Biennale ist kein Format, das sich aktiv an den Entwicklungen der Gezi-Bewegung beteiligt. Und mehr noch: In der Ausstellung selbst finden sich keine sichtbaren Allianzen mit dieser Bewegung. In einem Interview betont Erdemci ihre Absicht, die beiden Felder Ausstellung und Besetzungsbewegung voneinander abzugrenzen und ihre eigene Position so zu definieren, dass sie nicht die Kuratorin der Protestbewegung sei.25 Zudem verzichtet die Biennale auf die Fortsetzung des diskursiven Programms, für das Mitte September und Anfang November 2013 noch zwei weitere Symposien im Rahmen von Public Alchemy geplant waren. Hier hätten Möglichkeiten geschaffen werden können, mit der Gezi-Bewegung in Dialog oder zumindest in Kontakt zu treten. Es ist also eine konservative Rückbesinnung auf die ‚Kernkompetenzen‘ einer Kunstinstitution zu beobachten und eine Vernachlässigung des antagonistischen Denkens, das noch im Ursprungskonzept der Ausstellung zu finden war. Außerdem findet mit der Entscheidung für einen Rückzug aus dem öffentlichen Raum die Ausstellung ausschließlich in geschlossenen Räumen statt, von denen zwei Räume White Cubes par excellence darstellen. Erdemci will mit ihrer Ausstellung nicht den europäischen und angelsächsischen Kanon und somit das Narrativ dieser Hegemonie wiederholen, womit sie den Agonismus allein auf diesen Aspekt verengt: Sie zeigt, nach eigenen Angaben, Kunstwerke 24 Ahmet Öğüt, Another World Is Possible – What about an Anonymous Istanbul Biennial?, 2013. http://art-leaks.org/2013/08/13/another-world-is-possible-what-about-an-anonymous-istanbul -biennial (Letzter Zugriff: 17. Oktober 2014). 25 Ann Katrin Fessler, „Ich bin nicht die Kuratorin der Revolution“, 2013. http://derstandard. at/1378249199510/Ich-bin-nicht-die-Kuratorin-der-Revolution (Letzter Zugriff: 11. Juli 2014).
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aus weniger privilegierten Regionen (Lateinamerika, Naher Osten, Nord-Afrika).26 Dabei folgt sie probaten Ausstellungsstrategien, wie sie seit mehr als einem Jahrzehnt praktiziert werden.27 Aus dieser Perspektive und den mit ihr einhergehenden ästhetischen Kriterien wird die Kluft zwischen der widerständig-kritischen Kunst, den Kollaborationen, den Performances der Besetzungsbewegungen und den Kunstwerken in der Ausstellung größer. Wobei Erdemci sich in Bezug auf Kunstwerke, die im Kontext der Bewegung entstanden sind, sogar explizit äußert: In einem Vortrag am 25. Oktober 2013 während des Creative Summit in New York beschreibt Erdemci die Gezi-Kunst als zu ,unreif‘ für ihr Ausstellungsvorhaben.28 Im Rückzug der Kuratorin von den öffentlichen Plätzen als mögliche Austragungsorte der Biennale ist nicht bloß eine schnelle Reaktion auf die sich überstürzenden politischen Ereignisse zu sehen, die sich jeder Vorausplanung entziehen, sondern drückt sich ein klares Bewusstsein für die Hierarchien im Kunstfeld aus, mit deren Verteidigung Erdemci während der Gezi-Ereignisse beschäftigt ist. Im Vergleich zu der Bewegung, die sich selbst als heterodox, horizontal, unautoritär versteht und daher Exklusionsmechanismen ablehnt, tritt das hierarchische, kompetitive Denken der Biennale, die über die Entscheidung verfügen will, wer Teil der Biennale ist und wer nicht, besonders markant hervor. Auch der freie Eintritt für alle Biennale-Besucherinnen und -Besucher kann diese Barrieren nicht nivellieren.29
fazit Obwohl die 13. Istanbul Biennale, ihre Gegnerinnen und Gegner und die Gezi-Park-Bewegung mit ihrer gemeinsamen ideologischen Basis der agonistischen Öffentlichkeit einer ähnlichen politischen Ausrichtung zu folgen scheinen, gemäß der das Schwinden von demokratischen Aushandlungsmöglichkeiten in einem neoliberalen Regime kritisiert und sich für die Repolitisierung von gesellschaftlichen Strukturen engagiert wird, fügen sich diese Forderungen nicht zu einer Äquivalenzkette. Vielmehr treten trotz vergleichbarer Absichten die unterschiedlichen und teilweise unvereinbaren Ziele der drei Instanzen zutage. Anders als die Biennale-Gegnerinnen und -Gegner oder die Gezi-Park-Bewegung, wird die 13. Istanbul Biennale, so meine Analyse, in ihrem Vorhaben, die Machtdynamiken innerhalb einer städtischen Öffentlichkeit wie der Istanbuls zu problematisieren, selbst kritisiert und teilweise abgelehnt. Der 13. Istanbul Biennale wird das Mandat abgesprochen, unter Rückgriff auf das Konzept der agonistischen Öffentlichkeit die Symptome der post-demokratischen Wende zu verhandeln, da sie 26 Erdemci 2013b (wie Anm. 2), S. 31. 27 Vgl. Oliver Marchart, Hegemonie im Kunstfeld – Die documenta-Ausstellungen dX, D11, d12 und die Politik der Biennalisierung, Köln 2008. 28 Ein Video des Vortrags ist zu sehen unter: http://creativetime.org/summit/2013/10/25/fulyaerdemci (Letzter Zugriff: 17. Oktober 2014). 29 Trotzdem gilt es hervorzuheben, dass diese in der Geschichte der Istanbul Biennale die erste Ausstellung mit freiem Eintritt war. Vgl. Ingo Arend, Der Raum des Denkens (13. Istanbul Biennale), 2013. http://www.getidan.de/gesellschaft/ingo_arend/55741/der-raum-des-denkens13-istanbul-biennale (Letzter Zugriff: 17. Oktober 2014).
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selbst als ein Symptom dieser Wende aufgefasst wird. Mit ihren Hegemonien dehnt sie im türkischen Kunstbetrieb ihr Herrschaftsdispositiv aus. Den Emanzipationsbestrebungen durch Aneignung von linkspolitischen Themen dient sie aus Perspektive der Biennale-Gegnerinnen und -Gegner eben nicht. Die Gezi-Park-Bewegung wiederum, die generell kritisch gegenüber Institutionen, aber auch gegenüber einer elitistischen Haltung eingestellt ist, da diese der Idee der direkten Demokratie zu widersprechen scheinen, lehnt zwar die Biennale nicht öffentlich ab, aber sie kooperiert auch nicht sichtbar mit ihr. Dieses Misstrauen gegenüber einer Institution, in dem Fall der Ausstellungsinstitution, ist paradoxerweise auch in der Konzeption der 13. Istanbul Biennale – durch ihre Anknüpfung an den ‚Neuen Institutionalismus‘ – angelegt und für sich selbst reklamiert. Doch weder kann die Biennale dieses Misstrauen künstlerisch umsetzen noch kann sie es nutzen, um sich mit den Biennale-Gegnerinnen und -Gegnern oder der Gezi-Park-Bewegung zu solidarisieren. Diese Konflikte und sich nicht einlösenden Ausstellungskonzepte geben einen tiefen Einblick in die widersprüchlichen Begehrensstrukturen der Apparatur der Biennale. Um mit Helmut Draxler zu sprechen, driften die Ideale der Biennale von einer agonistischen Öffentlichkeit ab. Durch dieses Abdriften kann das Ideal der Biennale mit einem für dieses Ideal konstitutiven ‚Anderen‘ in Relation gesetzt und der Blick auf die antipodischen Mechanismen der Biennale geschärft werden. So wird z. B. das Ideal politisch bedeutungsvoll aufgeladen und zugleich dazu eingesetzt, um institutionelle Mängel zu verdrängen. Für Draxler fasst diese Dynamik der Begriff ‚Phantasma‘, mit dem ein „Horizont an Erwartung und Möglichkeiten“ bezeichnet wird. Im Zusammenhang der Öffentlichkeit besteht das Phantasmatische darin, dass sie den „Erwartungen und Vorstellungen als Bedingung jedes Sprechens hinsichtlich der institutionellen Strukturen der politischen Rahmenbedingungen, des Kulturbetriebs (...) immer schon voraus geht“.30 Ein Beispiel für dieses ‚Vorausgehen‘ liefert ein Interview mit der Kuratorin, in dem sie abermals gefragt wird, weshalb sie sich aus dem öffentlichen Raum zurückziehen würde. Sie antwortet: „Besides, reversing what is happening in the urban public spaces (privatization and commercialization of what previously belonged to public), we try to create public spaces inside the (mostly) private ones.“31 Der Rückzug aus der urbanen Öffentlichkeit in private Räume, um dort eine Öffentlichkeit entstehen zu lassen, ist deshalb so problematisch, weil die Bedingungen und die Anschlussmöglichkeiten so einer Öffentlichkeit von der Biennale selbst gesetzt werden und, anders als im Fall der ‚Straßenöffentlichkeit‘, nicht durch einen rechtlichen Rahmen abgesichert und einklagbar sind. Wie problematisch solch ein Öffentlichkeitsbegriff ist, zeigte sich besonders im ersten der beiden Konflikte. 30 Helmut Draxler, Phantasma und Politik #6: Kunst im öffentlichen Raum, Diskussion mit Alice Creischer, Oliver Marchart, Simon Sheikh, Sarah Vanhee, Joanna Warsza u. a., moderiert von Helmut Draxler am 4. April 2014 im Rahmen der Veranstaltungsreihe Phantasma und Politik, Hebbel am Ufer, Berlin 2013–2015. Die zitierte Passage stammt aus einem unveröffentlichten Text, den Helmut Draxler im Vorfeld der Veranstaltung an die Diskussionsteilnehmerinnen und -teilnehmer verschickt hat. 31 Gabi Scardi, Mom, am I barbarian?, Interview mit Fulya Erdemci, 2013. http://www.domusweb. it/en/art/2013/09/05/mom_am_i_barbarian.html (Letzter Zugriff: 17. Oktober 2014).
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Das Ideal, durch Einsatz der Theorie der agonistischen Öffentlichkeit die Ausstellungsituation zugunsten einer politischen Arena zu überwinden, folgt somit einer Logik des Phantasmas. Sie scheint die expressive Kategorie der Politik gegenüber der juridischen vorzuziehen. Dem ausdrücklichen Dissens werden in diesem Zusammenhang viele Fähigkeiten zugeschrieben, vor allem scheint er demokratische und ästhetische Prozesse parallelisieren zu können. Das Potenzial der Biennale, mit unterschiedlichen Vermittlungsformaten im Kunstfeld politische Themen zu diskursivieren, wird aber genau in dem Moment verlangsamt, in dem es entscheidend für die Biennale wird: wenn die Ereignisse in ihrem Umfeld die Biennale auf sich selbst zurückwerfen.
diskussion beatrice von bismarck: Du hast mit dem Phantasma-Begriff von Helmut Draxler eine seltsame Zwickmühlensituation kultureller Praxis beschrieben. Seit wir von Avantgarde sprechen, stellt sich immer wieder die Frage, inwieweit aus den bestehenden Verhältnissen heraus eine Verschiebung stattfinden kann, was meiner Meinung nach auch immer ein kuratorisches Problem ist. Vor diesem Hintergrund würden mich zwei Dinge interessieren. Zum einen hast Du die Stiftung für zeitgenössische Kunst SALT Galata erwähnt als Institution, die sich selbst politisch definiert und sich ja auch im Verhältnis zum Gezi-Park positioniert hat. Vielleicht kannst Du etwas dazu sagen, wie Du deren Handlungsspielraum – gerade vor dem Hintergrund der Ereignisse – definieren würdest. Und das Zweite wäre die grundsätzliche Positionierung der Istanbul Biennale, die sich mittlerweile auf ganz unterschiedliche politische Handlungsweisen berufen hat – als Adressierung gesellschaftlicher Entwicklungen mit den Mitteln der Kunst. Ich denke da etwa an das Kuratorenkollektiv What, How & for Whom (WHW), das 2009 für die 11. Istanbul Biennale verantwortlich war.32
gürsoy dog˘ taș: Vasif Kortun initiierte eine Reihe an diskursiven Formaten über die Gezi-Park-Bewegung in der Kulturinstitution SALT, einer Plattform für zeitgenössische Kunst, deren Direktor er ist.33 Anders als Fulya Erdemci musste er diese Aktivitäten nicht in das große Ausstellungskonzept einer Biennale mit ihrer internationalen Ausrichtung und vordefiniertem Zeitfenster einfügen und konnte sich dem Druck des Gelingens und Erfolgs entziehen. Trotz der Unterschiede vereinen sich Erdemcis und Kortuns Projekt in der ‚Wenn nicht wir, wer dann‘-Haltung, denn von den staatlichen Museen gehen solche kritischen Initiativen nicht aus. Beide stecken in einem ähnlichen Dilemma: Sie solidarisieren sich mit den Protestbewegungen gegen die damalige Regierung, nur können beide nicht überzeugend nachweisen – auch wegen
32 Das unabhängige Kuratorenkollektiv What, How & for Whom wurde 1999 begründet, hat seinen Hauptsitz in Zagreb und besteht aus den Mitgliedern Ivet Ćurlin, Ana Dević, Nataša Ilić, Sabina Sabolović und Dejan Kršić. Der Schwerpunkt liegt auf der Entwicklung kollaborativer Arbeitsmodelle und einer kreativen Nutzung des öffentlichen Raumes. Zu einer Übersicht der Projekte und Ausrichtung der Gruppe vgl. www.whw.hr (Letzter Zugriff: 14. September 2015). Zur 11. Istanbul Biennale von 2009 vgl. http://11b.iksv.org/ (Letzter Zugriff: 14. September 2015). 33 Zur Konzeption und den Veranstaltungen von SALT vgl. http://www.newmuseum.org/artspaces/ view/salt (Letzter Zugriff: 14. September 2015).
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der Organisationsstruktur ihrer Institutionen –, dass ihr Zweifel am Staat nicht gänzlich neoliberal geprägt ist. Die Proteste wollten sich von diesen ideologischen Widersprüchen abgrenzen. Zum zweiten Aspekt Deiner Überlegungen: Die Biennale hat zweifelsohne zur Diversifizierung des Istanbuler Kunstbetriebs beigetragen und ihr zu einer internationalen Prominenz verholfen. Den trägen Kurator ‚Staat‘ mit all seinem kultur-ideologischen Ballast hat die Biennale mit agilen und namhaften Kuratorinnen und Kuratoren abgehängt. Nur ist die Biennale wegen ihrer eigenen Verwicklung nicht in der Position, die neoliberale Entwicklung glaubhaft zu kritisieren. In dieser Hinsicht ist ihr Boden gleichsam toxisch, und ich bezweifele, dass sie aus eigenen Kräften eine Dekontamination dagegen vornehmen kann.
anna schober: Ich finde, dass Sie sehr schön die konkurrierende Position der Biennale-Gegner und deren Ko-Präsenz gezeigt haben. Ich wollte fragen, ob diese Zwiespältigkeit auch auf der ästhetischen Ebene sichtbar geworden ist?
gürsoy dog˘ taș: Die Biennale-Gegnerinnen und -Gegner, aber auch die Gezi-Protest-Bewegung verbanden sehr stark ihren Kampf mit ästhetischen Strategien. Einige dieser Aktionen bekamen eine internationale Aufmerksamkeit wie z. B. der Standing Man: Erdem Gündüz’ Choreografie bestand ‚lediglich‘ darin, auf dem Taksim-Platz zu stehen und auf das Atatürk-Kultur-Zentrum zu blicken. Ihm schlossen sich sehr schnell viele weitere Personen an. Die Subversion seiner Aktion bestand darin, dass Menschen sich versammelten und dabei das Versammlungsrecht unterlaufen konnten, in welchem der Abstand zwischen den Personen für die Bezeichnung als ‚Versammlung‘ klar bestimmt ist. Die Aktivisten überschritten diesen offiziellen Abstand und blieben inoffiziell doch eine Versammlung. Eine andere Aktion mit starken Bildern war das gemeinsame Fastenbrechen: Eine große Gruppe von unterschiedlichsten Menschen folgt dem Aufruf der antikapitalistischen und revolutionären Muslime, und sie solidarisieren sich mit dem gemeinsamen Fastenbrechen gegen die Polizeigewalt. Das etwa 500 Meter lange Bankett erstreckte sich von der Istiklal Caddesi, einer prominenten Istanbuler Fußgängerzone, bis zum Taksim-Platz. Eine Szene, die übrigens der Künstler Christoph Schäfer in seinen Gouachen aufgriff und auf der Biennale ausstellte. Für gewöhnlich ist Schäfers Arbeitsweise durch eine sozial engagierte, relationale, kollaborative Praxis charakterisiert. Für die Biennale produziert er hingegen ein Werk, das an die Wand gehängt werden kann. Nicht nur hat die Biennale die geplanten Performances in der Öffentlichkeit abgesagt, sondern sie reduziert auch insgesamt den Aktionsradius von Kunst auf das Ausstellbare.
hans dickel: Ich frage mich, wie es mit der Geschichte dieses Konfliktpotenzials aussieht. Wir haben dieses im Rahmen der Tagung verschiedentlich und zu unterschiedlichen Epochen angesprochen. Die finanzielle und institutionelle Abhängigkeit der Kunst ist ein Widerspruch zu ihrem Autonomieanspruch, mit dem wir leben müssen. Vielleicht ist es in diesem Zusammenhang sinnvoll, 40 Jahre zurückzudenken an die Studentenbewegung in Westeuropa und Nordamerika. Jürgen Habermas und Theodor Adorno haben diese Entwicklung begleitet und davor gewarnt, dass sich die Studierenden im Kampf gegen die Institutionen der Kunst in die
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Gefahr begeben, die Institutionen der Kunst mit der Kunst selbst zu verwechseln.34 Adorno meinte sogar, die Abschaffung der Kunst sei gleichzusetzen mit der Barbarei.35 Wenn man die Institutionen der Kunst mit der Kunst selber verwechsle, dann werde das eigentliche Potenzial der Kunst übersehen. Die Aktivistinnen und Aktivisten haben einen Sabotageakt gemacht und sich gewissermaßen als Parasiten in die Performances von anderen Künstlern hineinbegeben. Das ist eine Aktion, die zumindest bedenklich ist, weil man damit quasi das Urheberrecht der anderen verletzt. Wie haben sich die Biennale-Künstler zu den Protestaktionen verhalten? Wäre es hilfreich, für die Analyse dieses von Ihnen beschriebenen Konflikts 40 Jahre zurück nach Nordamerika zu Habermas und der Studentenbewegung zu blicken?
gürsoy dog˘taș: Das Künstlerduo Vermeir & Heiremans hat nach der Istanbul Biennale eine Perfomance entwickelt, in der es die Störung durch die Protestaktionen mit den liegenden und zugedeckten Aktivistinnen und Aktivisten aufgegriffen, nachgestellt und in ihre Arbeiten eingegliedert hat. Zwischen dem Protest und dem Duo hat sich eine Art Verwertungskreislauf entwickelt. Die rationalistischen Theorien von Habermas scheinen nicht zu greifen, um die Ideologien und Machtstrukturen einer Ausstellungsapparatur zu problematisieren, dies lässt sich auch gut an den theoretischen Referenzen der Institutionskritik ablesen, wie Michel Foucault und Pierre Bourdieu.36 Gerade Bourdieu kann mit seiner Feldtheorie die Idee der Autonomie der Kunst in größere dynamische Zusammenhänge einordnen und anders als Habermas das agonistische Prinzip im System der Kunstwelt aufzeigen, von dem die Institution nur eine Station unter vielen ist. Diese Kämpfe entscheiden über den Status des Kunstwerks und seinen sozio-ästhetischen Handlungsspielraum, deshalb war es für meinen Beitrag wichtig, nicht isoliert auf das einzelne Kunstwerk zu schauen und seine Bedingungen auszublenden. Insgesamt scheinen die heterogenen Besetzungsbewegungen sich nicht mit dem homogenen Öffentlichkeitskonzept, wie es Habermas z. B. in seiner Publikation Strukturwandel der Öffentlichkeit (1962) entwickelt,37 fassen zu lassen. Die Protestlerinnen und Protestler insistieren auf dem unauflöslichen Dissens. Die Diversifizierung der heutigen Proteste ergibt sich auch aus den Enttäuschungen der 68er-Proteste, die Entwicklungen wie den Post-Marxismus und den Post-Strukturalismus beförderte.
barbara lange: Für mich haben Sie wie mit einer Lupe auf ein Problem aufmerksam gemacht, so dass sich mir die Frage stellt, ob sich damit ein Dilemma zeigt, mit dem wir es im Grunde häufig zu tun haben. Wir gehen im Allgemeinen davon aus, dass Ausstellungen das Potenzial haben, zur politischen Willensbildung beizutragen. Das ist ein Konzept, das sich in der frühen Moderne ausgebildet hat und sehr stark in Westeuropa, z. B. in Frankreich, verbreitet ist, wodurch sich die öffentliche Kunstförderung herausbilden konnte. Da sind die Mitspieler jedoch klarer positioniert, weil die Öffentlichkeit wiederum durch das demokratische System kontrolliert wird 34 „So legitim Herbert Marcuses Kritik am affirmativen Charakter der Kultur war, so sehr verpflichtet sie dazu, in das einzelne Produkt einzugehen: sonst wird ein Antikulturbund daraus.“ Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, Frankfurt am Main 1970, S. 374. 35 „Die Abschaffung der Kunst in einer barbarischen Gesellschaft macht sie zu deren Sozialpartner.“ Ebd., S. 373. 36 Vgl. Michel Foucault, Was ist Kritik?, Berlin 1992; Pierre Bourdieu, Die Regeln der Kunst, Frankfurt am Main 2001. 37 Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Frankfurt am Main 132013.
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und es unterschiedliche Foren und Repräsentanten des Politischen gibt, für die Gelder bereit gestellt werden. Dieses Prinzip hat sich jetzt gewissermaßen in der Welt verbreitet und gelangte auch in Gesellschaften, die überhaupt nicht über diese Strukturen der Kulturförderung verfügten. Dort kommt es dann zu ganz anderen Verquickungen, indem nämlich die Privatwirtschaft als Förderer eintritt, die ganz andere, partikulare und unternehmerische Interessen verfolgt, während in Bezug auf staatliche Interessen – zumindest in demokratischen Staaten – darauf geachtet wird, dass eine gewisse Balance gehalten wird. Und jetzt treten beide als die Hauptfinanzierer der Öffentlichkeit – also der öffentlichen Räume – auf, wie beispielsweise bei der Istanbul Biennale, wo eine gut meinende Kuratorin Dinge zur Diskussion stellt, aber sich gleichzeitig in Abhängigkeiten begibt, die sogar bis in private Verstrickungen hineinreichen. Gibt es eine Möglichkeit, aus diesem Dilemma herauszufinden, außer dass man sagt, die bürgerliche Demokratie des Westens ist die beste aller Regierungsformen und wir brauchen daher eine öffentliche Kulturförderung wie in Deutschland? Oder kann man sich dieses Spiel der Kräfte auch anders vorstellen, denn dieses Dilemma ist ja ganz klar vorhanden?
gürsoy dog˘ taș: Mir fallen keine Auswege aus dieser Situation ein. Die herrschende türkische AKP-Regierung baut die Förderung der zeitgenössischen Kunst ab. Sie ist nicht an dem kritischen Potenzial der Kunst interessiert, da deren Kritik sich grundsätzlich gegen die Regierung richtet. Jahrzehnte vor der AKP-Regierung wurden zudem die Akademien vernachlässigt, ihre Strukturen nicht den aktuellen Anforderungen des Kunstbetriebs angepasst. Dies ist natürlich schade, hier könnten für Künstlerinnen und Künstler Freiräume geschaffen werden, in denen sie sich für die Zeit ihres Studiums der Logik des Kunstmarkts entziehen könnten. Auf der anderen Seite zeigen die Proteste, die ja nicht nur in Istanbul stattfanden, sondern auch in europäischen Metropolen wie Madrid, Athen oder Berlin, dass das ‚westliche‘ Modell der Demokratie selbst einer Modernisierung bedarf. Denn mit der wachsenden Schere zwischen Arm und Reich werden die unsichtbaren Mauern der Museen, die eine Hemmschwelle für bestimmte Bevölkerungsgruppen bilden, undurchdringlicher. Das Aufklärungspotenzial der Kunst entfaltet sich dann nicht demokratisch für alle.
wiebke gronemeyer: Meine Frage betrifft den sogenannten kuratorischen Handlungsspielraum. Sie haben beschrieben, inwieweit sich das Konzept der Kuratorin auf den Begriff der agonistischen Öffentlichkeit von Chantal Mouffe38 stützt. Damit versteht man den kuratorischen Handlungsraum als einen, der Konsensbildung zulässt, und deshalb erscheint es paradox, dass bei dem Ziel, einen Konflikt herzustellen, die Fähigkeit zur Kritik verloren geht – also vor allem jene zur Selbstkritik im Anschluss an die von den Biennale-Gegnern aufoktroyierte Kritik. Inwiefern würden Sie sagen, dass es einen Handlungsspielraum auch für Selbstkritik der Kuratorin gegeben hätte, ihr Konzept zu verändern? Oder handelt es sich vielleicht einfach um eine strukturell gegebene Schwierigkeit, dass man als Biennale in so einer Situation mit den verschiedenen Machtansprüchen oder Hierarchien gar nicht dazu fähig ist, was zu dieser Diskrepanz zwischen theoretischem Anspruch und tatsächlich ermöglichtem Handlungsspielraum führt?
38 Mouffe 2007 (wie Anm. 4).
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gürsoy dog˘ taș: Anders als die Institutionskritik, die sich im Idealfall selbstkritisch den eigenen Machtstrukturen stellt, fordert die Theorie des Agonismus nicht diese Form von Selbstkritik. Agonismus versteht sich als Kampf gegen die Hegemonie des Anderen, nicht des Selbst. Daher würde ich bei der Problemanalyse nicht nur den kuratorischen Handlungsradius oder die Machtstrukturen der Biennale hinterfragen, sondern weitergehen und wissen wollen, ob Mouffes diskurstheoretische Hegemonie nicht blinde Flecken hat. Seit der Documenta 11 (2002) beeinflusste ihre Theorie Ausstellungskonzepte, die sich mehr oder minder als ‚Plattform‘ zwischen Realpolitik und der Ausstellungssituation positionierten, um eine kritische Öffentlichkeit zu erzeugen. Obwohl Mouffe sich gegen den Neoliberalismus engagiert, konnten sich neoliberale Ausstellungsinstitutionen nahezu widerspruchsfrei auf sie beziehen. Sie selbst war teilweise als Rednerin zu deren Eröffnungen eingeladen. Ihre Theorie müsste Formen der Selbstkritik explizit verhandeln, dann würden die Machtpositionen der Kunstinstitutionen nicht hinter den scheinbar progressiven Ausstellungstrategien verschwinden. So müsste die Istanbul Biennale sich durch Mouffes Theorie veranlasst sehen, sich mit ihrer eigenen Hegemonie auseinanderzusetzen. Im Augenblick ist diese Biennale gefangen in einem Zirkel der Vergesslichkeit, alle Jahre setzt die Biennale zu einer engagierten Ausstellung an, als hätte es nie heftige Kritiken an ihr gegeben.
joseph beuys und die FIU die honigpumpe am arbeitsplatz auf der documenta 6 in kassel 1977
barbara lange dreimal beuys Als im Mai 2013 das Lenbachhaus in München nach Generalsanierung und Vergrößerung wiedereröffnet wurde, war die goldglänzende Fassade des Erweiterungsbaus nicht das einzige, was für Aufmerksamkeit sorgte. Man hatte die Zeit der Schließung für den Ausbau der Sammlung nutzen und aus dem Besitz von Lothar Schirmer die Installation von Joseph Beuys vor dem Aufbruch aus Lager I (1979/1980) (Abb. 1) erwerben können. Prominent platziert und um weitere Dauerleihgaben aus der Kollektion des langjährigen Weggefährten und Sammlers dieses Künstlers ergänzt, führt diese Installation nun in einen eigenen Beuys-Trakt ein, der mit der Wiedereröffnung eingerichtet wurde. Unter Bezugnahme auf die eigene Geschichte – 1979 hatte der Ankauf von Beuys’ Installation zeige deine Wunde (1974/1975) durch das Lenbachhaus in der Bundesrepublik Deutschland für eine hitzig geführte Debatte über den gesellschaftlichen Stellenwert von Kunst gesorgt1 – präsentiert man mit dieser kleinen Schau ausschnitthaft ein Stück gesellschaftspolitisch engagierter Kunst in der alten Bundesrepublik Deutschland. Dabei dokumentiert nicht zuletzt die neuerworbene Installation vor dem Aufbruch aus Lager I, dass Beuys spätestens seit dem Ende der 1960er-Jahre darum bemüht war, die Orte der Kunst als Foren des Politischen zu interpretieren, wie er sich auch umgekehrt dafür einsetzte, die Öffentlichkeiten des Politischen mit künstlerischen Positionsnahmen zu erweitern: Anlass und Ausgangspunkt für vor dem Aufbruch aus Lager I war das Verlassen der Büroräume in der Düsseldorfer Altstadt, die Joseph Beuys zuvor für die von ihm 1970 gegründete Organisation für direkte Demokratie durch Volksabstimmung (freie Volksinitiative e. V.) genutzt hatte. Die Bodenplatten, die in der Installation z. T. als geometrische Körper gestaltet oder wie Anschlagtafeln an die Wände platziert sind, ein Klapptisch, auf dem erzählerisch eine Petroleumlampe sowie ein Holzteller mit Fett und Messer stehen, und eine mit Kreide beschriebene Tafel gehörten somit ursprünglich zum Inventar desjenigen Ortes, an dem Beuys gemeinsam mit anderen die Möglichkeiten von Einflussnahme auf die Entscheidungsprozesse der repräsentativen Demokratie diskutiert und in diesem Rahmen auch Bürgerbefragungen sowie seine Kandidatur bei Kommunalwahlen in Nordrhein-Westfalen organisiert hatte. 1972 war er mit der Organisation für direkte Demokratie durch Volksabstimmung 1 Vgl. Barbara Lange, Schwierigkeiten mit der Liebe zur zeitgenössischen Kunst: Der Streit um die Installation von Joseph Beuys zeige deine Wunde, in: Christian Drude/Hubertus Kohle (Hg.), 200 Jahre Kunstgeschichte in München. Positionen, Perspektiven, Polemik 1780–1980, München/Berlin 2003, S. 239–247.
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abb. 1 joseph beuys, vor dem aufbruch aus lager I, installation, 1970/1980. ansicht: lenbachhaus münchen, 2013
(freie Volksinitiative e. V.) samt dem Mitarbeiter Karl Fastabend für 100 Tage auf die documenta 5 nach Kassel gezogen, um dort in einem Diskussionsmarathon seine Vorstellungen einer befriedeten Gesellschaft zu präsentieren.2 (Abb. 2) Fotografien, die das Büro in der Düsseldorfer Andreasstraße oder den Aufbau in Kassel 1972 zeigen,3 wie auch die Abschriften von Tonbandaufnahmen, die die Diskussionsverläufe auf der documenta 5 in Auszügen dokumentieren,4 vermitteln einen eigentümlichen Eindruck: Wir sehen Beuys in seinem bekannten Erscheinungsbild mit Hut, Anglerweste und Jeans bekleidet. Neben ihm Karl Fastabend, ein älterer Herr, mindestens in seinen Sechzigern, das Kopfhaar säuberlich mit Pomade gescheitelt und über die Halbglatze gekämmt, in einem schlecht sitzenden und im Schnitt aus der Mode gekommenen Anzug, der so gar nicht in das Ambiente einer internationalen Kunstschau oder einer alternativen Politszene zu passen scheint. In den Diskussionsdokumentationen lesen 2 Vgl. Pia Witzmann, Das Inventar für direkte Demokratie, in: Veit Loers/Pia Witzmann (Hg.), Joseph Beuys. documenta-Arbeit, Ausst.-Kat. Museum Fridericianum Kassel, Ostfildern 1993, S. 83–85; Veit Loers, Von der Rose zum Boxkampf, in: ebd., S. 113–123. 3 Vgl. ebd. 4 Vgl. Clara Bodenmann-Ritter (Hg.), Joseph Beuys. Jeder Mensch ein Künstler, Frankfurt am Main 1975.
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abb. 2 joseph beuys, organisation für direkte demokratie durch volksabstimmung (freie volksinitiative e.v.), seit 1970. ansicht: documenta 5, kassel, 30. Juni – 8. Oktober 1972
wir Äußerungen, in denen es viel und immer wieder um Kreativität geht, um den Menschen im Allgemeinen, um Freiheit, Leben und Krise. Die Standpunkte des Politischen, die Beuys äußert, bleiben im Vergleich zu den Verlautbarungen von Parteien diffus. So wie Karl Fastabend wie ein Symbol für den Durchschnittsbürger von der Straße wirkt – redlich, einfach und in keiner Weise charismatisch –, so haben auch die Äußerungen von Beuys eher symbolischen Charakter. Auch zur documenta 6 1977 wurde Joseph Beuys eingeladen. Diesmal beteiligte er sich mit einer Arbeit, die aus zwei Komplexen zusammengesetzt war:5 Honigpumpe am Arbeitsplatz bestand zum einen aus der heute im Louisiana Museum of Modern Art, Humlebæk befindlichen, zerlegten Installation Honigpumpe, die im zentralen Treppenhaus des Fridericianum, der sogenannten Rotunde, in Kassel eingerichtet 5 Vgl. ausführlich Veit Loers/Pia Witzmann, Honigpumpe am Arbeitsplatz, in: dies. 1993 (wie Anm. 2), S. 157–167; Johannes Stüttgen, Die documenta-Beiträge von Joseph Beuys als plastisch-logische Einheit (von innen betrachtet), in: ebd., S. 8–32, hier S. 24–28.
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abb. 3 joseph beuys, honigpumpe, installation, 1977. ansicht: documenta 6, kassel, rotunde des fridericianum, 26. juni–2. oktober 1977
worden war. (Abb. 3) Ein auf Margarine gelagerter Generator pumpte Honig durch Plastikschläuche, die inmitten der Treppenspindel bis hoch zur Glaskuppel liefen. Die Besucher der Ausstellung nahmen neben dem optischen Eindruck auch das Brummen des Motors und den Geruch von warmem Fett und süßlichem Honig wahr. Diese akustischen und olfaktorischen Elemente bewirkten, dass man die Präsenz der Installation auch aus gewisser Distanz über die Räumlichkeiten des Treppenhauses hinaus realisieren konnte und durch sie angelockt wurde. Zum anderen fanden auf den Treppenumgängen während der 100 Tage der documenta Seminare und Workshops der FIU, der Free International University, statt, die von unterschiedlichen Personen geleitet wurden und die thematisch ein breites Spektrum abdeckten. (Abb. 4) Themen wie Menschenrechte, Atomkraft, Bildungspolitik, Arbeitslosigkeit und Sozialsystem oder gewaltlose Revolution warfen allgemeine gesellschaftspolitische Fragen auf.6 Indem 6 Vgl. die Abbildung des Programmplakats in: ebd., S. 186, Abb. 127. Im Verlauf der 100 Tage in Kassel wurden bei den Veranstaltungen der FIU von verschiedenen Personen eine Reihe
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abb. 4 fiu auf der documenta 6, kassel, fridericianum, 26. juni–2. oktober 1977. ansicht: workshop zu nordirland
Joseph Beuys diese durch seinen Beitrag nun in die documenta integrierte, machte er die Ausstellung zu einem Forum der politischen Meinungsbildung. Für ihn war dies die Realisierung eines ‚erweiterten Kunstbegriffs‘, der sich vom Objektbegriff gelöst und kreatives Handeln generell zur Kunst erklärt hatte. Wie Beuys in einem auf der documenta geführten Interview hierzu ausführte: „Ich wollte einen Arbeitsplatz herstellen, auf dem sichtbar wird, wie der erweiterte Kunstbegriff wirkt, das heißt, wie er sich als erweiterter Kunstbegriff vom tradierten Kunstbegriff unterscheidet und auf was er sich bezieht. Also hier ist es eine Erweiterung, dass man im tradierten konventionellen Kunstbetrieb ja im allgemeinen den Begriff bezieht auf das, was im Kunstbetrieb geschieht durch Künstler, durch Galerien, durch Museen, durch Kunsthistoriker, durch Kunstmärkte, und aus dieser Isolation, in der von Tafelzeichnungen angefertigt, die Joseph Beuys später in die Installation Das Kapital Raum 1970–77 (1981, ehemals Schaffhausen, Hallen für Neue Kunst) integrierte. Auf diese Arbeit gehe ich hier nicht weiter ein. Vgl. zu diesem Werk Mario Kramer, Joseph Beuys ‚Das Kapital Raum 1970–1977‘, Heidelberg 1991; Franz-Joachim Verspohl, Joseph Beuys, Das Kapital 1970–77: Strategien zur Reaktivierung der Sinne, Frankfurt am Main 1993; Christel Sauer, Eine Entstehungsgeschichte: Das Kapital Raum 1970–1977 & Die Hallen für Neue Kunst Schaffhausen, Basel 2012. Vgl. auch Christel Sauer (Hg.), Denk-Kapital. Ideen zur Gestaltung der Gesellschaft. Vorträge von Persönlichkeiten aus Wirtschaft und Politik in den Hallen für Neue Kunst Schaffhausen, Basel 2012.
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barbara lange sich das kulturelle Leben befindet, auch ganz besonders die Kunst, breche ich aus, und nicht nur ich alleine dieses Mal, sondern das gesamte Arbeitskollektiv, das internationale Arbeitskollektiv, was eben diesen erweiterten Kunstbegriff sich nun beziehen lässt auf jedermann, auf jedermanns Schöpferkraft, auf jedermanns Kreativität, auf jedermanns Fähigkeit und auf alle Problemfelder, die im Gesellschaftskörper vorzufinden sind als Kraftfelder dieser Gesellschaft; im kulturellen Bereich, könnte man auch sagen, da ist der Freiheitsbereich, wo die freie Entfaltung der Persönlichkeit stattfinden sollte.“7
Die Entscheidung, nicht mehr wie noch auf der documenta 5 in erster Linie symbolisch zu kommunizieren, sondern statt dessen mit einem ,Arbeitskollektiv‘ tatsächliche Prozesse der Meinungsbildung und Strategieentwicklung ins Zentrum zu stellen, war mit einer maßgeblichen Veränderung des politischen Profils von Joseph Beuys verbunden: Zwar gab Beuys seine Rolle als Impulsgeber für gesellschaftliche Veränderungsprozesse nicht auf. Anders als auf der documenta 5 mit der Organisation für direkte Demokratie durch Volksabstimmung (freie Volksinitiative e. V.), bei der er im Wesentlichen alleine diskutierte und seine Meinung vertrat, war Honigpumpe am Arbeitsplatz ein kollaboratives Projekt, in dem nicht nur verschiedene Sprecher auftraten, sondern auch tatsächlich Positionen im Disput verhandelt wurden. 1977 agierte Beuys nicht mehr wie noch fünf Jahre zuvor wie der Leitstern einer Bewegung. Seine Position war vielmehr die eines Theoretikers geworden, der mit Honigpumpe Strukturen eines gesellschaftlichen Veränderungsprozesses ästhetisch kommentierte und der in dem ihm im Rahmen der Ausstellung zugestandenen Raum mit FIU Kommunikations- und Erkenntnisprozesse geschehen ließ. Beuys war ein Netzwerker geworden, der durch sein ‚erweitertes‘ Kunstwerk Menschen mit gleichen Interessen zusammenbrachte und dazu anregte, sich als eine informierte und informierende Öffentlichkeit zu organisieren. Unter den drei von mir angeführten Beispielen aus dem Œuvre von Beuys ist dieser Beitrag auf der documenta 6 derjenige, bei dem sich ästhetische Praxis und praktische Politik am meisten einander annähern: Während die Installation vor dem Aufbruch aus Lager 1 (Abb. 1) wie ein Dokument funktioniert, das Geschichte konserviert, und dadurch auf konkrete Politik verweist, während der Auftritt auf der documenta 5 als Organisation für direkte Demokratie durch Volksabstimmung (freie Volksinitiative e. V.) symbolhaft die für jeden wirksame kreative Impulsgebung durch Kunst nachvollziehbar machen sollte, hatte Honigpumpe am Arbeitsplatz durch die FIU (Abb. 4) realpolitische Bestandteile. Ausstellung war hier Politik geworden. Allerdings ist von allen drei genannten Kunstwerken der Ausstellungsbeitrag auf der documenta 6 trotz seiner realpolitischen Eigenschaft gerade derjenige mit der geringsten Anbindung an die damalige Tagespolitik. Während die anderen beiden für historische Etappen innerhalb der Kommunalpolitik der alten Bundesrepublik Deutschland stehen, hat Honigpumpe am Arbeitsplatz eher allgemeinen Charakter, der sie aufgrund dieser utopischen Dimension zu einem generellen Vorbild für partizipative Vorgänge machen kann. Bevor ich die Verbindung von Kunst und Politik in diesem Werk und deren Stellenwert auf 7 Interview von Karl Oskar Blase mit Joseph Beuys, in: Loers/Witzmann 1993 (wie Anm. 2), S. 169–176, hier S. 169.
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der Großausstellung documenta kommentiere, möchte ich zunächst den Charakter der politischen Plattform, den Beuys mit der FIU auf der documenta 6 einbrachte, vorstellen.
die FIU zu gast auf der documenta 6 Seit Joseph Beuys 1967 mit Gründung der Deutschen Studentenpartei sein Agieren im Feld der Kunst als politisch markierte, war viel geschehen: Die Teile der gesellschaftlichen Aufbruchbewegung in der Bundesrepublik Deutschland, die sich als Rote Armee Fraktion (RAF) radikalisiert hatten und die in den Untergrund gegangen waren, terrorisierten in den 1970er-Jahren das Land mit Anschlägen. In Bekennerschreiben bezogen sie Stellung gegen Institutionen, gegen Vertreter des Kapitals und die das öffentliche Meinungsbild prägenden Medien. Sympathisanten für ihre gewalttätige Kritik fanden sie nicht zuletzt unter jungen Intellektuellen an den Hochschulen. Dort wurden allerdings auch breit Alternativen zum terroristischen Kampf gegen ein Establishment diskutiert, das man im Einklang mit den Terroristen für repressiv, korrupt, geschichtsvergessen und für kreativfeindlich hielt. Verglichen mit dem Beginn der 1970er-Jahre war 1977, als die documenta zum sechsten Mal in Kassel stattfand, die innenpolitische Atmosphäre aufgeheizt. Mit ständigen Polizeikontrollen in Innenstädten und auf Überlandstraßen sowie Razzien im Unterstützermilieu wurde staatlicherseits Autorität demonstriert. Doch trotz Inhaftierung des Kopfs der RAF im Hochsicherheitsgefängnis in Stuttgart-Stammheim war keine Befriedung der Situation, sondern nicht zuletzt durch die Offensichtlichkeit von Staatsmacht und Staatsgewalt eher eine zunehmende Eskalation eingetreten, die den Eindruck politischer Ratlosigkeit vermittelte. 1977 gipfelte diese schwere innenpolitische Krise der alten Bundesrepublik Deutschland in der Ermordung von Generalbundesanwalt Siegfried Buback und von Jürgen Ponto, dem Vorstandssprecher der Deutschen Bank, der Entführung und Ermordung von Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer, der Entführung einer Maschine der Deutschen Lufthansa und Ermordung ihres Flugkapitäns Jürgen Schumann sowie dem zeitgleichen Selbstmord der in Stuttgart-Stammheim einsitzenden RAF-Terroristen Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe.8 Die Monate September und Oktober 1977, in denen sich die Konfrontation zuspitzte, werden mit Blick auf die Verletzung demokratischer Prinzipien seither symbolhaft als ,Deutscher Herbst‘ bezeichnet.9 Die politische Aufbruchsstimmung vom Beginn der 1970er-Jahre, die durch die neue, von der SPD geführte Regierung mit der Annäherung an die Staaten des Warschauer Pakts, dem symbolischen Kniefall von Bundeskanzler Willy Brandt im Warschauer Ghetto oder durch die Einleitung einer neuen Geschlechter- und Familienpolitik ihre Zeichen gesetzt hatte, drohte zu versanden und durch eine Politik abgelöst zu werden, die sich nun auf restriktive Gesetze zur Eindämmung 8 Eine geraffte, dennoch instruktive Geschichte der Vorgänge liefert Willi Winkler, Die Geschichte der RAF, Berlin 2007. 9 Wie zur RAF ist die Literatur zum sogenannten ,Deutschen Herbst‘ so umfangreich, dass es schwer fällt, der Komplexität der Diskussionen mit wenigen Literaturverweisen Rechnung zu tragen. Einen Einstieg in das Thema bietet: Hans Peter Trötscher (Hg.), Baader-Meinhof und die Folgen: 30 Jahre „Deutscher Herbst“, F.A.Z.-Audio-Dossier 15, Frankfurt am Main 2007.
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von Terroranschlägen zu konzentrieren schien. Da bis heute wesentliche Straftaten aus dieser Zeit, wie etwa die Ermordung des Generalbundesanwalts Buback, nicht haben aufgeklärt werden können und sich zudem nach der deutschen Wiedervereinigung herausstellte, dass RAF-Mitglieder seinerzeit in der DDR Unterschlupf fanden, ist die Aufarbeitung dieser Phase deutscher Geschichte bis heute nicht abgeschlossen.10 Doch nicht nur die allgemeine innenpolitische Situation in der Bundesrepublik Deutschland hatte sich innerhalb von zehn Jahren radikal verändert. Auch Joseph Beuys persönlich hatte die Grenzen staatlicher Toleranz erfahren müssen: Im Herbst 1972 hatte er im Rahmen der Auseinandersetzungen um den freien Zugang zur künstlerischen Ausbildung an der Akademie in Düsseldorf gleich im Anschluss an die documenta 5 seine dortige Anstellung als Professor verloren und war seither ohne festes und regelmäßiges Einkommen allein auf seinen Erfolg auf dem Kunstmarkt angewiesen. Mithilfe von Freunden und Unterstützern war es ihm gelungen, international – vor allem in England und den USA – als Künstler bekannt zu werden und sich so eine neue existenzielle Grundlage aufzubauen;11 die friedliche Veränderung der Gesellschaft mit den Mitteln der Kunst war in den 1970er-Jahren nicht nur in der Bundesrepublik Deutschland ein virulentes Thema. Nicht zuletzt die Ausstellungstournee des Zeichnungskonvoluts A Secret Block for a Secret Person in Ireland, das seit 1974 in England und Nordirland ausgestellt worden war, hatte dazu beigetragen. Konzeptionell wurde Beuys bei seinen Aktivitäten maßgeblich von Caroline Tisdall unterstützt, einer freischaffend tätigen Journalistin, die quasi kongenial seine Ideen auch im ganz realen Wortsinn so übersetzte, dass sie als politische Utopien international kompatibel wurden. In Vorträgen, die Beuys und Tisdall an den Ausstellungsstationen zu A Secret Block for a Secret Person in Ireland hielten, wurde eine Verbindung zwischen den präsentierten künstlerischen Artefakten und der Idee von Prozessen zur Befriedung der Gesellschaft propagiert. Der Verweis auf das realpolitische Engagement von Joseph Beuys in der Kommunal- und Bildungspolitik der frühen 1970er-Jahre wurde dabei durch das Argumentieren mit einem Konzept abgelöst, das Keimzelle wie Forum für die Entwicklung einer neuen Dialogstruktur sein sollte: FIU. FIU war auch der Begriff, mit dem Beuys seine Beteiligung auf der documenta 6 rahmte. FIU, die Free International University, war allerdings keine Institution mit einem Gebäude, einem Curriculum und einem Lehrkörper, der dieses realisierte. Mit FIU umschrieben Beuys und Tisdall vielmehr die Idee, durch Aktivierung von kreativem Potenzial durch den Künstler einen Diskussionsraum für gesellschaftliche Perspektiven jenseits kapitalistischen Profitdenkens eröffnen zu wollen. Dabei verfolgte ein Unterstützerkreis von Beuys mit FIU, damals noch das Kürzel für das deutschsprachige Freie Internationale Universität, an ihrem Anfang im April 1974 zunächst tatsächlich das 10 2005 zeigte der Kunst-Werke Berlin e. V. Positionen künstlerischer Auseinandersetzung mit dem Thema. Vgl. Klaus Biesenbach (Hg.): Zur Vorstellung des Terrors: Die RAF. Eine Ausstellung, Ausst.-Kat. Kunst-Werke Berlin, Göttingen 2005. 11 Barbara Lange, Joseph Beuys – Richtkräfte einer neuen Gesellschaft: Der Mythos vom Künstler als Gesellschaftsreformer, Berlin 1999, S. 206–208. Vgl. auch Carin Kuoni (Hg.), Energy Plan for the Western Man. Joseph Beuys in America. Writings by and Interviews with the Artist, New York 1990.
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ganz pragmatische Ziel, dem aus dem Staatsdienst fristlos entlassenen Kunstprofessor in Düsseldorf eine eigene Kunsthochschule einrichten zu wollen. Man griff hierzu eine seit Ende 1971 im Zusammenhang mit den Zulassungsproblemen an der Düsseldorfer Akademie zirkulierende Idee von Beuys auf, die aktuellen gesellschaftlichen Missstände durch die Optimierung von Kreativitätsbildung mittels Gründung einer neuen Hochschule in der Tradition des Bauhauses anzugehen.12 Die Initiative scheiterte jedoch nicht allein an fehlenden finanziellen Ressourcen. Anders als seine Sympathisanten verfolgte Joseph Beuys selbst dieses konkrete Projekt, das von ihm viel administrative Arbeit verlangt hätte, von Beginn an nur halbherzig, obwohl er selbst in späteren Äußerungen die Bürokratie für das Nichtrealisieren verantwortlich machte.13 Es war in den folgenden Monaten vor allem Caroline Tisdall, die erkannte, dass man auch ohne die Einrichtung einer Institution mit dem Namen FIU die verschiedenen Aktivitäten von Beuys begrifflich homogenisieren und als politische Idee funktionalisieren konnte.14 Im Verlauf des Jahres 1974 wurde FIU so zum Ausdruck dessen profiliert, was Joseph Beuys als ,Soziale Plastik‘ bezeichnete:15 Ein Kunstwerk, das sich zwar dem auf finanziellen Gewinn hin ausgerichteten Verkauf verweigert, das aber in sozialer Hinsicht sehr wohl verhandelbar und gewinnbringend ist, indem es Raum zur Zirkulation von Ideen zur Optimierung von Lebensverhältnissen schafft. Das ästhetische Konzept der Moderne, durch den künstlerischen Impuls die Gestaltung von Gesellschaft nach ethischen Gesichtspunkten initiieren zu können, wurde so dahingehend konkretisiert, dass die Idee immer erst durch politisches Handeln ihre Form erhält. Indem FIU einen Diskussionsraum des Politischen eröffnete, erhielt sie zugleich eine hybride Struktur, die, wie Honigpumpe am Arbeitsplatz zeigt, Stärke wie Schwäche sein konnte. Verglichen mit Interessenverbünden fehlte ihr die konkrete Zielsetzung, so dass nach dem Ende der documenta die temporäre Gemeinsamkeit auseinanderfiel. Während der 100 Tage in Kassel konnte sie jedoch zum Sammelbecken für ganz unterschiedliche Potenziale werden und Menschen ein unverbindlicher Einstieg in politische Meinungsbildung und Auseinandersetzung sein. Auch wenn aus den Diskussionen 12 Lange 1999 (wie Anm. 11), S. 152–157. 13 Vgl. etwa Joseph Beuys, Die Gesellschaft als Kunstwerk. Vortrag am 6. August 1974 in Achberg, in: Rainer E. Rappmann (Hg.), Joseph Beuys, Kunst = Kapital: Achberger Vorträge, Wangen 1992, S. 13–31, hier S. 19; Joseph Beuys, Neue Perspektiven, in: Volker Harlan/ Rainer Rappmann/Peter Schata (Hg.), Soziale Plastik. Materialien zu Joseph Beuys, Achberg 1976, S. 40–43. Vgl. demgegenüber die Unterlagen im Stadtarchiv Düsseldorf, Akte IV 43422, die das Fehlen einer klaren Konzeption dokumentieren. 14 Nach Beitritt von Großbritannien zur EWG (später EU) war es auch Caroline Tisdall, die versuchte, Gelder aus EWG-Mitteln für die Projekte von Beuys unter dem Label FIU einzuwerben. Vgl. Caroline Tisdall in Zusammenarbeit mit Robert McDowell, Report to the European Economic Community on the Feasibility of Founding a ‚Free International University for Creativity and Interdisciplinary Research‘ in Dublin, Dublin/London 1975. Die als Verlagsadressen der Free University Press in Dublin und London angegebenen Standorte waren tatsächlich Wohnadressen von Tisdall, gedruckt wurde die Publikation von Gerhard Steidl in Göttingen. 15 Vgl. Barbara Lange, Soziale Plastik, in: Hubertus Butin (Hg.), Begriffslexikon zur zeitgenössischen Kunst, Köln 2014, S. 323–326. Da FIU als Ausdruck von ‚Sozialer Plastik‘ verstanden wurde, wurden im Umfeld von Beuys daher beide Begriffe z. T. auch synonym verwendet. Vgl. etwa Johannes Stüttgen, Freie Internationale Universität/Free International University FIU. Organ des erweiterten Kunstbegriffs für die Soziale Skulptur. Eine Darstellung der Idee, Geschichte und Tätigkeit der FIU, Düsseldorf 1984. Es existiert eine 2. erweiterte Auflage (Wangen 1987).
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keine gemeinsame Aktion, z. B. gegen Terrorismus oder den Abbau von Bürgerrechten, erfolgte, für eine Reihe von Besucherinnen und Besuchern fungierte die FIU als Initialmoment für politisches Handeln in anderen Kontexten. Honigpumpe am Arbeitsplatz ist somit ein Konzeptkunstwerk, das im Rahmen der documenta 6 durch soziale Kommunikation Prozesse der Meinungsbildung erprobte. Die Form, die hierfür gewählt worden war, wurde aus der politischen Diskussionskultur übernommen und konnte, durch das Kunstwerk transformiert, vom Kunstereignis wieder in diese zurückwirken. Mit Ausnahme weniger Spezialisten waren die Seminar- und Diskussionsleiter der FIU wie etwa Caroline Tisdall politisch interessierte Bürgerinnen und Bürger, die sich informiert hatten und die ihre Ansichten öffentlich kundtaten. Dem Publikum stand es frei, ihrer Meinung zu folgen, ihnen Widerspruch zu leisten oder einfach nur zuzuhören. Anders als die Foren der Politik, die in der Bundesrepublik Deutschland in diesen Tagen der documenta 6 durch die Debatten über den Umgang mit Terrorismus und die Einschränkung von Freiheitsrechten geprägt waren, blieb hier der unmittelbare Alltagsbezug ausgespart, so dass das Erproben relativ unverbindlich sein konnte. FIU war ein Kunstwerk, das die Erfahrung vermittelte, die Grenze zwischen allgemeiner Meinung, den Interpretationen einer Gruppe und der individuellen Auffassung von Einzelnen auszuhandeln. Arbeitete Joseph Beuys in Organisation für direkte Demokratie durch Volksabstimmung (freie Volksinitiative e. V.) noch mit der symbolischen Figur des ‚gemeinen Bürgers‘, so konnte auf der documenta 6 das sogenannte ‚gemeine Volk‘ nun tatsächlich seine Stimme erheben und, anders als in den Diskussionen mit Beuys auf der documenta 5, dabei durchaus auch das letzte Wort behalten. Im Rahmen der FIU konnten und wurden Gegnerschaften ausgetragen, wurde Demokratie praktisch geprobt.16
politik und das politische: zum affektiven potenzial von kunst Es verwundert daher nicht, dass die FIU heute als Vorläufer, wenn nicht als Vorbild von künstlerischen Praktiken angesehen wird, die in Form politischer Aktion demokratische Verhältnisse einfordern.17 Dass sie diesen Stellenwert einnehmen kann, verdankt sie auch kuratorischen Entscheidungen. Das Team um Manfred Schneckenburger hatte die documenta 6 unter die Überschrift ‚Kommunikation‘ gestellt und dabei die Rolle der Massenmedien in ihrem Verhältnis zu den Künsten zum Thema gemacht.18 Den Besucherinnen und Besuchern bot sich dabei ein heterogenes Bild. Es wurden die Repräsentationsmodi von Malerei wie etwa in Gemälden von Georg Baselitz mit expressivem Duktus und Arbeiten von Gerhard Richter mit deutlicher Referenz auf 16 Chantal Mouffe plädiert dafür, diesen Antagonismus als genuine Grundlage von Demokratie zu begreifen, die nur durch das Austragen von Divergenzen ihre Stabilität gewinnen kann. Vgl. Chantal Mouffe, Über das Politische. Wider die kosmopolitische Illusion. Frankfurt am Main 2007. Zur Rolle der Künste als Verhandlungsräume der Demokratie vgl. Juliane Rebentisch, Die Kunst der Freiheit. Zur Dialektik demokratischer Existenz, Frankfurt am Main 2013. 17 Vgl. etwa Anne Pasternak, Foreword, in: Nato Thompson (Hg.), Living as Form: Socially Engaged Art from 1991–2011, New York/London 2012, S. 7–9, hier S. 8. 18 Vgl. Lothar Romain, Von der Botschaft zur Kommunikation – Erläuterungen zum Medienkonzept der d 6, Ausst.-Kat. Documenta, Kassel 1977, Bd. 1, S. 19–32.
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abb. 5 richard serra, terminal, 1977, 3 cortenstahlplatten, 1230 x 360 x 274 cm. ansicht: bochum 2007
fotografische Abbildungsverfahren genauso zur Diskussion gestellt wie etwa eine spektakuläre Lichtinstallation von Otto Piene. Es waren Künstler aus der DDR zu Gast, die die dort staatlich tolerierte Form der Malerei präsentierten. Walter de Marias für das Auge nicht sichtbarer Erdkilometer (1977) wurde genauso ausgestellt wie die nicht nur optisch, sondern auch physisch intensiv wirksame Arbeit Terminal (1977) von Richard Serra (Abb. 5), die allerdings in Kassel noch nicht die heftigen Reaktionen hervorrief wie an ihrem späteren Standort in Bochum.19 Eine eigene Abteilung zeigte Filme und Videos. Hier thematisierte u. a. Ulrike Rosenbach mit Herakles – Herkules – King Kong (1977) (Abb. 6) die Rolle des medial überlieferten Bildes für die Identitätskonstruktion von Männlichkeit.20 Der Beitrag von Joseph Beuys bot nur eine 19 Vgl. Ingo Bartsch, ‚Terminal‘ von Richard Serra. Eine Dokumentation in 7 Kapiteln, Bochum 1980. 20 Vgl. Barbara Paul, Mythos Mann. Ulrike Rosenbachs Videoinstallation ‚Herakles-Herkules-King Kong‘ (1977), in: Marburger Jahrbuch 25/1998, S. 199–220.
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abb. 6 ulrike rosenbach, herakles – herkules – king kong, videoinstallation 1977, bestehend aus s/w-großfotografie, 2 fototableaus mit je 12 einzelfotos, 2 videomonitoren mit lautsprechern, 2 videobändern im loop. ansicht: documenta 6, kassel, fridericianum 26. juni–2. oktober 1977
Variante der kommunikativen Möglichkeiten von und mit Kunst, die sinnlich und intellektuell auf unterschiedliche Weise politische Standpunkte herausfordern konnte. Ihn in der Rotunde des Fridericianum zu platzieren und damit an einem zentralen Ort, ließ ihm allerdings eine weitaus bedeutsamere Position zukommen als etwa der Arbeit von Ulrike Rosenbach, die abseits von den Hauptlaufwegen der Ausstellung zusammen mit den anderen Videoarbeiten im Dachgeschoss gezeigt wurde. Dies hatte auch praktische Gründe, existierten doch dort einigermaßen geeignete Lichtverhältnisse für elektronische Bilder. Manfred Schneckenburger und sein Kuratorenteam hätten aber mit wenig gestalterischem Aufwand durchaus auch – wie es 15 Jahre später Jan Hoet auf der documenta IX mit Bruce Naumans Videoinstallation praktizierte – Herakles – Herkules – King Kong einen zentraleren Standort zuweisen können: etwa im Eingangsbereich des Fridericianum. Die Verhandlung von Geschlechteridentität und patriarchalen Strukturen hätte so im Rahmen der sogenannten ,Mediendocumenta‘ einen prominenten Platz erhalten und auch die Themen der FIU wie die Frage nach der Künstlerinnen- bzw. Künstleridentität entsprechend hinterfangen. Mit größerer Nähe zum Ausstellungsbeitrag von Beuys hätte man Rosenbachs Arbeit direkt an die Diskussionen, die im Rahmen der FIU über Militarisierung der Gesellschaft, deren Kosten wie Schaden für die Sozialsysteme geführt wurden, anbinden können. Statt-
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dessen setzte das Kuratorenteam bei Herakles – Herkules – King Kong den Akzent auf die formalen Aspekte der Arbeit als damals noch neuartige Videoinstallation. Möglichkeiten von Kunst, ihre politische Wirkung entfalten zu können, hängen nicht nur von der Form des Werkes ab, sondern auch vom Raum, der ein Entfaltungsraum werden kann, und dem Stellenwert, den man ihr zugesteht. Strategien der Präsentation können so überwältigend sein, dass man sich den ästhetischen Argumenten eines Kunstwerks nicht entziehen kann. Sie können umgekehrt aber ein potenziell brisantes Werk zu einem zahmen Tiger machen. Der kuratorische Umgang mit Honigpumpe am Arbeitsplatz zeigt, dass die Ausstellungsmacher der documenta 6 dem internationalen Renommee von Joseph Beuys Rechnung trugen und ihn mit einer Arbeit, die seinem bekannten Profil entsprach, an zentralem Ort platzierten. Dies war, bedenkt man die Struktur der Arbeit, ein Bekenntnis zu einer künstlerischen Position, die den Anspruch hatte, konkret gesellschaftlich wirksam zu sein, indem die Besucherinnen und Besucher nicht nur rezeptiv die Honigpumpe, sondern durch die FIU performativ Teil einer politischen Gemeinschaft wurden. Im Vergleich mit Ulrike Rosenbachs Werk Herakles – Herkules – King Kong und Richard Serras Arbeit Terminal war der Beitrag von Joseph Beuys als spezifisch politisch zu identifizieren, indem durch die FIU die Besucherinnen und Besucher zu einer kollektiven Identität zusammengefasst wurden, die über politische Themen diskutierten. Ohne dieses Kollektiv, ohne ihre Teilnahme an den Diskussionen – die auch im stillen Zuhören bestehen konnte – existierte das Werk nicht. FIU ließ dabei keinen Zweifel, sich am Ort politischer Meinungsbildung zu befinden. Auch wenn die Themen eher genereller Natur waren und keineswegs auf den aktuellen ,Deutschen Herbst‘ und die Notwendigkeit einer innenpolitischen Befriedung Bezug nahmen, wurde eine Positionsnahme eingefordert. Nicht Anregung zum Nachdenken über Gesellschaft, sondern konkrete soziale Prozesse waren die fundamentale Grundlage des Werkes.21 Ist dies nun der Punkt, an dem Ausstellung Politik wird, indem ein Werk keine Kontemplation, keine offene Deutung oder auch diffuse Anregungen mehr zulässt, sondern durch die Einbindung in eine narrative Kohärenz kontingent nur noch politische Handlung ist? Dies wäre aus meiner Sicht eine Engführung von Kunst, die ihr Verhältnis zur Politik auf Codes begrenzt, die aus dem Feld der Politik, nicht jedoch dem der Ästhetik generiert werden, und die Formen der Kunst so als nachgeordnet, gewissermaßen als illustrativ klassifiziert. Demgegenüber scheint auch im Feld der Kunst die Differenzierung zwischen Politik und dem Politischen sinnvoll.22 „Denn das, was in der Gegenwart der liberalen Gesellschaft als Politik vermittelt wird, sind im wesentlichen Teilprozesse eines Funktionssystems, das sich verselbstständigt zu haben und im institutionell ablaufenden Interessenabgleich mit mehr oder minder eingeschränktem Handlungsspielraum zu erstarren scheint. Der Begriff des Politischen 21 Vgl. zu diesem Aspekt der Formierung auch Thomas Bedorf, Verkennende Anerkennung. Über Identität und Politik, Berlin 2010, S. 226. 22 Zur Diskussion innerhalb der politischen Theorie vgl. Kurt Röttgers (Hg.), Das Politische und die Politik, Frankfurt am Main 2010 sowie für die Diskussionen dieser Gegenüberstellung prägend Alain Badiou, Über Metapolitik, Berlin 2003. Für den Bereich der Kunst vgl. Rebentisch 2013 (wie Anm. 16).
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barbara lange jenseits dieser als Gesamtheit der Politik verstandenen Prozeduren wäre dann ein kritischer Begriff, der von der ‚bloßen Politik‘ positiv abgehoben wird.“23
Gehen wir davon aus, dass Kunst durch ihre sinnliche, die Kognition übersteigende Wirkungsweise in der Lage ist, Standpunkte des Politischen und nicht nur Standpunkte der Politik zu organisieren, gewinnt sie durch ihre Eigenart ein Potenzial, Politik mit den Möglichkeiten der Ästhetik zu kommentieren und politische Positionsnahmen zu initiieren und zu unterstützen. Mit der Differenzierung zwischen Politik und dem Politischen wird auch das Problem offensichtlich, dem sich Beuys mit Honigpumpe am Arbeitsplatz stellen musste, wollte er sich nicht aus dem Feld der Kunst zurückziehen: Politik, als die die FIU zu identifizieren war, läuft Gefahr, zu erstarren und die Offenheit, die mit dem Kunstverständnis der Moderne einhergeht, aufzugeben. Um Kunst zu bleiben, war es daher dringend notwendig, neben der FIU auch die sinnlich wirkende Installation Honigpumpe auszustellen und beide Komplexe wechselweise aufeinander zu beziehen. Die Politik wurde so durch ein Angebot für das Politische ergänzt. Werken wie Herakles – Herkules – King Kong oder Terminal fehlt die Eindeutigkeit von Honigpumpe am Arbeitsplatz. Sie tragen jedoch in sich die Option des Politischen, die durch entsprechenden Kontext zum Tragen kommen kann, wie etwa die späteren Diskussionen um Serras Arbeit am Standort Bochum zeigen. Auf der documenta 6 verzichteten die Kuratoren wie bei der Videoinstallation von Rosenbach auf das Ausspielen dieser Möglichkeit. Diese war keine Schau, die explizit die politischen Potenziale von Kunst zeigen wollte, sondern die Varianz der Medien. Kritisch betrachtet wurde auch im Umgang mit dem Beitrag von Beuys – bei aller Akzeptanz seines politischen Agierens – von den Kuratoren eher auf das formale Spektakel der Politik als auf das Potenzial des Politischen gesetzt, waren doch Störungen, die man durch die das Werk konstituierende Diskussionsplattform erwarten musste, durch den Bekanntheitsgrad, den Beuys und die FIU 1977 hatten, kalkulierbar und das Werk so keineswegs brisant. Tatsächlich widerspenstig wurde der Beitrag von Beuys durch die Installation Honigpumpe. Beide Teile, Honigpumpe und FIU müssen daher zusammengedacht werden. Im Vergleich mit seinen beiden eingangs vorgestellten Werken vor dem Aufbruch aus Lager I und Organisation für direkte Demokratie durch Volksabstimmung (freie Volksinitiative e. V.) wird das Potenzial dieser zweigleisigen Synthese deutlich. In den Diskussionen der vergangenen Jahre zum politischen Stellenwert von Kunst waren es vor allem die Kunstobjekte, die in die Kritik geraten waren, während man demgegenüber den Werken mit einer Grenzaufhebung zwischen Kunst und Alltag mit ihren partizipativen Strukturen eine politische Wirkungsmacht zuerkannte. Mit meinem Blick zurück auf Honigpumpe am Arbeitsplatz plädiere ich dafür, die Diskussionsvoraussetzungen komplexer zu fassen und zu bedenken, dass die Potenziale der Kunst für das Politische nicht zuletzt in der Ästhetik und damit in ihrer Differenz zur Politik liegen. Ausstellungen machen Politik, indem sie sich thematisch positionieren. Sie werden politisch, wenn sie die ästhetische Eigenart aufzeigen und ihr damit den ihr eigenen Argumentationsraum geben. 23 Bedorf 2010 (wie Anm. 21), S. 232f.
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diskussion verena krieger: Inwiefern sind die Gespräche, die es innerhalb der FIU auf der documenta 6 gab, überliefert, und welchen Charakter hatten diese? Waren das eher offene Gespräche oder waren sie stark strukturiert, wie es – teilweise zumindest – später bei Beuys der Fall war, so dass die Gespräche sehr stark einer Lehrer-Schüler-Interaktion ähnelten? Da fand ja eher ein Lehrgespräch statt, bei dem Beuys an der Tafel stand und das Steiner’sche Denkmodell erklärt hat. Hat es eine allmähliche Verschiebung zu dieser autoritäreren Struktur gegeben, oder war diese von Anfang an gegeben? Eine andere Frage wäre, wie sich die Honigpumpe und diese Workshops praktisch und auch konzeptuell zueinander verhielten. Die Honigpumpe wurde als etwas, das heranlockt und in diesen Raum hineinzieht, beschrieben. Erhält sie dadurch sozusagen Symbolcharakter für diese Prozessualität?
barbara lange: Zum ersten: Die Gespräche verliefen unterschiedlich, auch deshalb, weil Beuys nicht der Einzige war, mit dem man Gespräche führte. Verglichen mit der documenta 5 von 1972, wo Beuys ebenfalls diskutierte und sämtliche 100 Tage anwesend war, war er 1977 viel weniger präsent. Einmal gab es ein wöchentlich wechselndes Programm mit festem Ablauf und Zeitangaben zu den jeweils stattfindenden Seminaren. Oder es gab jeden Abend einen festen Termin, an dem über ein bestimmtes Thema wie z. B. Menschenrechte diskutiert werden konnte. Die Diskussionen und Seminare wurden in der Form des berühmten Stuhlkreises, den Beuys schon in den 1960er-Jahren in seinem Unterricht praktiziert hatte, durchgeführt, und dabei konnten durchaus die Sprecher wechseln. Beuys’ Aktionen aus der Mitte der 1970er-Jahre an anderen Orten, die auch schon unter dem Namen FIU gelaufen sind, sorgten hingegen für konfliktreiche Situationen, weil Beuys das Mikrophon nicht aus der Hand gab und die anderen Diskutanten sich akustisch häufig gar nicht durchsetzen konnten. Eine derartige Situation gab es auf der d6 nicht. Insgesamt ist von anderen Aktivisten kritisiert worden, dass Beuys hier viel weniger präsent war als noch 1972. Das heißt, er war inzwischen mit anderen Dingen beschäftigt, und für ihn war zu diesem Zeitpunkt die FIU gar nicht mehr so wichtig wie für andere. Er hatte quasi diesen Raum auf der d6 zur Verfügung gestellt und gesagt: Wenn ihr FIU machen wollt, dann könnt ihr nach Kassel kommen. Die angesprochenen autoritären Strukturen, die in den Diskussionsveranstaltungen mit Beuys zu beobachten sind, scheinen hier in dieser Form und in der Breite jedenfalls nicht existiert zu haben. Allerdings gibt es von der FIU auf der d6 keine Tonbandaufzeichnungen – anders als noch bei der documenta von 1972, wo sehr viele Audiobänder entstanden sind. Das Fehlen dieser Aufzeichnungen spricht auch dafür, dass es für Beuys gar nicht mehr so wichtig war, alles zu dokumentieren. Nun zur zweiten Frage zum formalen Zusammenhang von Honigpumpe und FIU: Wie beschrieben nutzte Beuys die Treppenspindel im Friedericianum, indem er von unten bis hoch unters Dach entlang dieses zentralen Weges die Installation aufbaute. Sie fiel aber nicht nur optisch ins Auge, sondern vor allem durch ihr lautes Brummen und den durch die Wärme erzeugten Fettgeruch, der leicht süßlich in der Luft lag. Dadurch wurde man auch in Entfernung von der Installation affiziert und dazu gebracht zu überlegen, was das ist. Und dann gab es noch Wandzeitungen, die auf das jeweils aktuelle Programm der documenta und die variierenden Zeiten der Diskussionen hinwiesen, die stark von Beuys’ eigenen Terminen und seiner Anwesenheit in Kassel abhingen. Die Diskussionen fanden zum Teil im Treppenhaus statt und als
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Besucher musste man sich so ein bisschen vorbeizwängen, wenn man einen anderen Teil der Ausstellung sehen wollte.
christian saehrendt24: Ich hätte noch eine Bemerkung zu Richard Serras Stahlskulptur Terminal. Diese war nicht nur in Bochum, sondern schon in Kassel sehr unbeliebt und hat viele Aggressionen hervorgerufen. Sie wurde gelegentlich mit Parolen beschmiert, von linken Gruppen als verschwendetes Geld und letztlich als dekadente Aktion gegeißelt. Zeitweise war der umgebende Boden regelrecht aufgeweicht, da in den Winkeln sogar uriniert wurde. Die Skulptur galt sozusagen als öffentliches Ärgernis, und es gab nicht wenige Leute, die den Verkauf nach Bochum mit einer gewissen Häme quittiert haben. Was mich aber noch zur FIU interessiert: Sofern ich das richtig verstanden habe, war diese eine Art Organisationshülse ohne echtes Innenleben, um Gelder zu akquirieren. War sie letztlich nur Vehikel, um eine Struktur zu haben, die öffentlich vorzeigbar ist?
barbara lange: Zunächst zu Serra: Ich konnte in diesem Rahmen nicht ausführlich darauf eingehen, aber es ist ein ganz großer Unterschied zu dem, was in Bochum stattfand, wo die Aufstellung sogar vom Landtag thematisiert und in den Foren der Politik diskutiert wurde. Die räumliche Situation ist dort eine völlig andere als in Kassel, auch wenn der Blick ähnlich verstellt wurde und man sich davon bedrängt fühlen konnte. Dass so ein Werk zu Diskussionen über Kunst an sich führt, würde ich noch als im Rahmen des Normalen betrachten. Aber die CDU hat in Bochum die Aufstellung auf einer kommunalpolitischen Ebene zu einem Wahlkampfthema gemacht. Es ging nicht nur um die Frage, wie hier mit Kunst im öffentlichen Raum umgegangen wird, sondern um die Nutzung von öffentlichem Raum im Allgemeinen. Das gab es in Kassel noch nicht. Und nun zur FIU: Ich denke, es würde zu kurz fassen, sie nur als Label zu verstehen, um an Gelder zu kommen. Das wurde natürlich auf verschiedenen Ebenen gemacht, nicht nur für die documenta. Die FIU hat etwa auf Initiative von Caroline Tisdall nach dem Beitritt Großbritanniens zur EWG Mitte der 1970er-Jahre Subventionsmittel für Strukturfördermaßnahmen, die auch kulturelle Projekte förderten, beantragt, um sich als reale Institution mit Gebäude und Curriculum zu begründen. Die Gelder sind aber nicht bewilligt worden. Es geht bei der FIU nicht nur um diese pragmatischen Zusammenhänge, sondern die FIU ist tatsächlich ein Konzeptkunstwerk. Es geht auch um die Idee, dass Kunst sich gesellschaftlich realisieren kann. Wenn es heute die FIU Achberg gibt, dann hat sich da etwas ausgehend von Beuys’ Kunstwerk realgesellschaftlich realisiert. Die FIU ist also sowohl eine strategische Möglichkeit, an Geld zu kommen, als auch eine künstlerische Idee im Sinne eines Konzeptkunstwerks.
hans dickel: Sie haben darauf hingewiesen, dass auch andere Künstlerinnen und Künstler mit ihren Werken über ästhetische Erfahrungen politische Implikationen wecken. Mir scheint aber wichtig zu sein, darauf hinzuweisen, dass Beuys dies in seiner Präsentation anders als andere Künstler reflektiert hat. Er unterscheidet zwischen Plastik und sozialer Plastik oder zwischen 24 Christian Saehrendt ist Kunsthistoriker und Publizist. An der Tagung When Exhibitions become Politics. Geschichte und Strategien des politischen Ausstellens war er mit dem Vortrag „‚Nation branding‘ und ‚Nation Building‘ mithilfe der zeitgenössischen Kunst. Die ‚dOCUMENTA (13)‘ im Kontext politischer ‚Soft Power-Konzeptionen‘“ beteiligt.
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dem Maschinenraum mit dem Honigschlauch als plastische Setzung und dem Rezeptionsfeld bzw. Diskursraum, in dem sich die Akteure zusammenfinden. Ist das bei Beuys nicht doch etwas Besonderes im Vergleich zu seinen Zeitgenossen? Und zum Zweiten habe ich mich gefragt, ob diese festen Zeitpläne nicht auch liturgische Bezüge etwa zu den Gesetzestafeln oder den festen Zeiten der Messe haben. Michael Diers, der damals bei Walther König gearbeitet hat, erzählte mir einmal, dass Beuys wirklich jeden Morgen um neun Uhr dort war. So hat er vielleicht nicht hundert, aber doch sehr viele Tage dort verbracht. Und die Installation hat ja selbst durchaus rituelle Qualitäten: diese Inszenierung in der Apsis und dass der Honigschlauch außen herum um den Halbkreis der Teilnehmerinnen und Teilnehmer ging. Diese liturgischen Dimensionen sind vielleicht auch auf theoretischer Ebene vorhanden, etwa in der Vorstellung vom herrschaftsfreien Diskurs und der Konsensfindung bei Jürgen Habermas.25 Deren Öffentlichkeits- und Diskursbegriffe waren damals ein wichtiges zeitgenössisches Thema. Können Sie das miteinander in Beziehung bringen? Und schließlich möchte ich Ihrem Vortrag noch an einer Stelle widersprechen. Ich bin der Meinung, dass die Arbeit von Ulrike Rosenbach nicht im Treppenhaus hätte gezeigt werden können, denn sie ist eine wandbezogene Arbeit, die im Gegensatz zu Naumans Monitoren nicht in einem großen Raum ausgestellt werden kann. Ulrike Rosenbachs Stimme war ganz wichtig, jedoch relativ leise, und wäre daher im Treppenhaus oder im Foyer-Raum bei den vielen Besucherinnen und Besuchern verloren gegangen. Die Videokunst war damals ja ganz am Anfang, und auch die Arbeit von Nam June Paik, eine der ersten Multi-Monitor-Installationen, wurde in einem relativ kleinen Raum ausgestellt. Ich glaube daher, dass Rosenbachs Arbeit bewusst an dieser Stelle gezeigt wurde. Man lief auf ihre Stimme, die direkt vor dem Monitor zu hören war, zu und sah schon aus der Ferne den Herkules. Das war eher eine intime Erfahrung.
barbara lange: Zunächst zu Ihrer letzten Frage: Ich glaube auch nicht, dass man die Arbeit von Rosenbach im Treppenhaus hätte zeigen können, und zwar nicht nur weil es eine kleiner-formatige Arbeit ist, sondern weil es damals noch gar keinen Begriff für diese Kunstform gab. Erst Wulf Herzogenrath hat sie später als „Videoskulptur“ benannt.26 Zudem ist es eine ortsbezogene Arbeit, die Rosenbach speziell für diesen Raum gemacht hat. Es wäre also vorstellbar, dass sie für einen anderen Raum auch ein anderes Dispositiv entwickelt hätte. Mein Argument war, dass die Platzierung eine kuratorische Entscheidung war und man diese Arbeit theoretisch auch an einem anderen Ort hätte zeigen können. Sicherlich gibt es zu diesem Zeitpunkt noch keine Videokunstprojektionen auf große Leinwände und Rosenbach hat konkret mit dem kleineren Monitor und dem Fernsehbild gearbeitet. Man hätte aber vielleicht etwas anderes machen können, ich glaube es war einfach noch nicht die Zeit dafür. Und mir geht es eigentlich mehr darum, dass man geschlechterpolitische Fragen damals gar nicht zu einem zentralen Thema machen wollte. Beuys ist 1977 gerade im deutschen Kunstkontext und bei der documenta ein Wiedergänger, der schon lange und erfolgreich da gewesen ist. Er hätte durchaus bewirken können, dass das Thema der Geschlechterpolitik zentraler platziert worden wäre. Ein Thema, das gerade im Zusammen25 Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt am Main 1981. 26 Wulf Herzogenrath, Videokunst. Ein neues Medium – aber kein neuer Stil, in: ders. (Hg.), Videokunst in Deutschland 1963–1982. Videobänder, Videoinstallationen, Video-Objekte, Videoperformances, Fotografien, Ausst.-Kat. Kölnischer Kunstverein u. a., Stuttgart 1982, S. 10–29, hier S. 29.
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hang mit den genannten politischen Diskursen – vor allem bei Marcuse – auch ganz zentral verhandelt wurde. Marcuse hatte ja eine sogenannte Randgruppentheorie entwickelt, die besagt, dass, wenn es überhaupt Impulse für eine tatsächliche Veränderung der Gesellschaft geben kann, diese nicht aus dem Zentrum, sondern nur von den Rändern aus entwickelt werden können.27 Deshalb war die gerade aufgekommene feministische Bewegung so wichtig. Und da hätte Beuys anknüpfen können und zeigen, dass er mit seinem politischen Anliegen nicht allein da steht, sondern ein internationales Arbeitskollektiv bildet. Und da er Rosenbach auch kannte, hätte er sie ganz konkret ansprechen und fragen können, ob sie mit ihrer Position bei ihm mitmachen hätte wollen. Ich teile Ihre Einschätzung, dass das anachronistisch gedacht ist, aber es geht mir darum, deutlich zu machen, dass man es auch anders hätte machen können, wenn man gewollt hätte. Die Frage ist dann, warum es nicht gewollt worden ist. Und nochmal zum herrschaftsfreien Raum, der wie gesagt bei Marcuse eine große Rolle spielt. Die FIU bekommt ihre theoretische Formierung ganz stark durch England, speziell durch Caroline Tisdall, die Marcuses englischsprachige Publikationen mehrfach angeführt hat. In diesem Zusammenhang ist zudem Herbert Read und sein Diskurs mit dem Institute of Contemporary Arts (ICA) sehr wichtig.28 Zu Ihrer anderen Frage: Das Liturgische ist schon häufig im Zusammenhang mit Werken von Beuys genannt worden, also dass er vor allem Formen der katholischen Liturgie übernimmt und sich mit seinen Arbeiten in diese einschreibt. Die Frage ist, warum er das so gerne gemacht hat. Sie stellen jedenfalls eine über die Jahrhunderte in der Kultur existierende Tradition und somit bekannte Strategie der Darstellung und Vermittlung dar. Zudem scheint hier die Erinnerung ein wenig von den tatsächlichen Ereignissen abzuweichen. Wenn man weiß, wie viele Projekte Beuys zu jener Zeit gleichzeitig realisiert hat – darunter auch Ausstellungen an anderen Orten –, weiß man, dass er nicht jeden Morgen um neun in Kassel gewesen sein kann. Was unterscheidet nun Beuys von anderen Künstlern seiner Zeit? Mit der Unterscheidung von ‚Plastik‘ und ‚sozialer Plastik‘ hat er sicherlich eine neue Theorie zur Verfügung gestellt, die auch das de-materialisierte Kunstwerk jenseits des konkreten Objekts berücksichtigt, so dass die Kunst tatsächlich in die Gesellschaft, also auch in die Politik hineinwirken kann. Im Jahr 1977 machen das aber auch andere, wie z. B. Rosenbach, allerdings auf andere Weise. Das ist die Zeit, in der sie anfängt, im Kölner Kontext mit Cologne TV zu arbeiten bzw. es zu entwickeln.29 Das war der Versuch einer lokalen Fernsehstation, mit der man für eine kleine Sendekapazität eine Art Stadtteilfernsehen produzierte, das einerseits Videokunst sowie andererseits Nachrichten aus dem Stadtteil zeigen und so politische Aktionen initiieren sollte. Man versuchte also, ein Privatfernsehen aufzuziehen – das es in Deutschland zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht gab – und Cologne TV hat tatsächlich im engeren Umkreis gesendet. Leider ist von diesen Möglichkeiten, mit Video27 Herbert Marcuse, Bemerkungen zu einer Neubestimmung der Kultur, in: ders., Kultur und Gesellschaft 2, Frankfurt am Main 1968, S. 147–171. Vgl. auch: Weiblichkeitsbilder. Silvia Bovenschen und Marianne Schuller im Gespräch mit Herbert Marcuse, in: Gespräche mit Herbert Marcuse, Frankfurt am Main 1978, S. 65–87; Barbara Lange, Vom Nutzen und Nachteil utopischen Denkens: Konzepte des Androgynen bei Gislind Nabakowski und Caroline Tisdall, in: kritische berichte 26/1998, Heft 3, S. 23–33. 28 Vgl. Barbara Lange, Joseph Beuys – Richtkräfte einer neuen Gesellschaft: Der Mythos vom Künstler als Gesellschaftsreformer, Berlin 1999, S. 197–200. 29 Vgl. Ulrike Rosenbach, Video als Medium der Emanzipation, in: Herzogenrath 1982 (wie Anm. 26), S. 99–102, hier S. 100, 101.
joseph beuys und die FIU
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oder Fernsehtechnologie im politischen Bereich zu arbeiten, sehr viel verloren gegangen. Das ist ein Beispiel für ein ganz anderes Medium als das, das Beuys gewählt hat. Man könnte sich im Rahmen einer Tagung nur mit der Politik der d6 auseinandersetzen und untersuchen, welche künstlerischen Strategien es im Einzelnen gab. Jedenfalls würde ich Beuys zu diesem Zeitpunkt nicht mehr so singulär als politischen Künstler sehen, aber er ist sicherlich jemand, der diskursive und praktische Eckpfeiler diesbezüglich gesetzt und für Rosenbach zur Verfügung gestellt hat.
gürsoy dog˘ taș: Die FIU diente Jahrzehnte später einigen Künstlerinnen und Künstlern als Formatvorlage für eine eigene alternative Akademie, die sich emanzipativ gegen die universitäre Bologna-Reform einsetzt. Information und ihre Distribution sollen diese Akademien aus ihren institutionellen Begrenzungen und ihrer Kommerzialisierung befreien. Gibt es andersherum auch konkrete Vorläufer der Beuys-Akademie?
barbara lange: Es gibt hier wichtige Bezüge, die Beuys aber nicht deutlich macht, etwa die Summer Schools im US-amerikanischen Kontext. Das Black Mountain College in North Carolina wäre hier zu nennen.30 Summer Schools oder Summer Camps gibt es auch in Großbritannien, worauf sich wiederum Caroline Tisdall bezieht. Nach dem Zweiten Weltkrieg wird das British Council ins Leben gerufen, in dessen Rahmen auch Kunst- und Kulturförderung stattfindet. Wir vergessen auf dem Kontinent häufig, dass Großbritannien nach dem Zweiten Weltkrieg nicht die finanzielle Unterstützung für den Wiederaufbau aus den USA bekam wie die alte Bundesrepublik. Dort bestand somit lange Zeit eine sehr schwierige Situation für die Kunst, in welcher das Institute of Contemporary Art sowie das British Council durch ihre Unterstützung der Kunst- und Kulturinitiativen neue Bewegungen mit sich brachten. Die Traditionslinie künstlerischer Akademien wird in der Folge jedenfalls ganz wichtig und man müsste bei der FIU genauer untersuchen, welche Initialzündungen sie diesbezüglich gegeben hat.
publikum: Sie hatten am Rande erwähnt, dass bei der documenta 6 auch aktuelle Kunst aus der DDR gezeigt wurde. Mich würde interessieren, wo diese im Fridericianum verortet war und welche kuratorische Intention dahinter stand, diese Kunst zu diesem Zeitpunkt auszustellen. barbara lange: Diese ist in einem eigenen Ausstellungsgebäude, der Kunsthalle, gezeigt worden, um Varianten malerischer Positionen vorzustellen. Der Bezug zur DDR ist übrigens auch deshalb interessant, als es auch hier Sommerzusammenkünfte gab, bei denen auf Vorschlag von Betriebsangehörigen Künstler eingeladen wurden und man in relativ zwangloser Umgebung über Kunst diskutierte. Man fragte sich etwa, welche Arten von Kunst man machen konnte und wie diese in ganz konkrete Aufträge einfließen könnten. Das ist auch eine Variante politischen Engagements von Künstlern, die wir in unsere Reflexionen zu diesem Thema einbeziehen sollten.
30 Vgl. Eugen Blume u. a. (Hg.), Black Mountain. Ein interdisziplinäres Experiment 1933–1957, Ausst.-Kat. Nationalgalerie im Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwart – Berlin, Leipzig 2015.
vom handeln und sprechen gesprächsformate in ausstellungen von group material und wochenklausur
fiona geuß Im Laufe der 1960er-Jahre suchten Künstlerinnen und Künstler zunehmend das direkte Gespräch mit ihrem Gegenüber; mit Museen, mit Galeristinnen und Galeristen, mit Kunsthochschulen und mit ihren nicht-institutionalisierten Rezipientinnen und Rezipienten, dem Publikum, um gemeinsam politische und soziale Inhalte zu diskutieren. Mithilfe solcher Formate sollte nicht zuletzt die Ausrichtung der sich in diesem Jahrzehnt herauskristallisierenden Gegenwartskunst auf das Konsumentinnen- und Konsumentenverhältnis aufgebrochen und unterlaufen werden.1 Zudem gelangte im Kontext der sozialen Bewegungen der späten 1960er-Jahre, die geltende Konzeptionen von Öffentlichkeit hinterfragten,2 die Kunstinstitution als Ort der bürgerlichen Öffentlichkeit in die Kritik. Formate des politischen Protests hielten Einzug in künstlerische Ausdrucksformen und ihr Verhältnis zur Kunstinstitution, etwa die Art Strikes in New York oder die performativen Interventionen der Guerilla Art Action Group.3 Später streben Institutionen selbst den Dialog mit den Ausstellungsbesucherinnen und Ausstellungsbesuchern an, darunter in Ansätzen Art into Society – Society into Art im ICA in London 1974 und zwei Jahrzehnte darauf Culture in Action in Chicago. Neben diesen entweder an bestehende Institutionen gerichteten oder von ihnen ausgehenden Ansätzen entstehen im Laufe der 1970er-Jahre vor allem in New York zunehmend sogenannte Artist-run Spaces.4 Die „collective conversation“ als ihre künstlerische Praxis beschreibend, organisierte die 1979 gegründete Künstlerinnen- und Künstlergruppe Group Material einen eigenen Ausstellungsraum in New York für gemeinschaftlich kuratierte Ausstellungen.5 Das hier weitestgehend in den Schaffensprozess integrierte Gesprächsformat entwickelt sich in den 1990ern schließlich u. a. bei der österreichischen Gruppe WochenKlausur zum Bestandteil einer künstlerischen Praxis, die sich im institutionellen Kontext bewegt und gleichzeitig selten konkrete Ausstellungsobjekte, sondern Gesprächssituationen für bestimmte Gemeinschaften generiert. 1 Zum Autonomieanspruch von Kunst und dessen Kommerzialisierung: Kerstin Stakemeier, (Not) More Autonomy, in: Karen van den Berg (Hg.), Art Production beyond the Art Market?, Berlin 2013, S. 257–277. An dieser Stelle möchte ich Kerstin Stakemeier für ihre Unterstützung in meiner Forschung zum Gespräch als Teil künstlerischer Praktiken danken. 2 Arthur Strum, Öffentlichkeit von der Moderne zur Postmoderne: 1960–1999, in: Peter Uwe Hohendahl (Hg.), Öffentlichkeit. Geschichte eines kritischen Begriffs, Stuttgart 2000, S. 92–123, hier S. 106. 3 Vgl. Julia Bryan Wilson, Art Workers. Radical Practice in the Vietnam War Era, Berkeley 2009. 4 Vgl. Julie Ault, Alternative Art New York. 1965–1985, Minnesota 2002; Alan W. Moore, Art Gangs. Protest and Counter Culture in New York City, New York 2011. 5 Tim Rollins, What Was to be Done?, in: Julie Ault (Hg.), Show and Tell: A Chronicle of Group Material, London 2010, S. 217–219, hier S. 218.
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Vor dem Hintergrund dieser verschiedenen Formen von Teilhabe bis hin zur Schaffung konkreter Gesprächssituationen verhandelt dieser Beitrag künstlerische Praktiken, die im Rahmen von Ausstellungsformaten in gesellschaftliche Abläufe eingreifen, und das mittels Strategien der Partizipation, bei denen sich der Rezeptionsprozess als werkkonstituierend erweist. Wo die Partizipation eine klare Struktur von Subjekt (Künstlerin/Künstler) und Objekt (Publikum) nahelegt, sollen künstlerische Arbeitsweisen zur Diskussion gestellt werden, deren Form und Zweck in der Erzeugung einer dialogischen Struktur bestehen, die mittels Gesprächsformaten über diese Hierarchisierung hinausführt.6 Inwiefern können Ausstellungsformate Gesprächsräume öffnen, anstatt das Ausstellen von Objekten mit einer ,Veranstaltungs-Ökonomie‘ zu erweitern?7 Welches Verständnis von Öffentlichkeit liegt ihnen zugrunde? Denn dieses scheint entscheidend im Hinblick auf das politische Potenzial von Ausstellungsformaten, die gesellschaftliche Abläufe in der Kunst kritisch produktiv machen. Hannah Arendt beschreibt in Vita activa (Originalausgabe erschienen unter dem Titel The Human Condition, 1958) den Begriff von politischer Öffentlichkeit als Raum des Miteinanderhandelns und -sprechens.8 Dieses Verständnis von politischer Öffentlichkeit als Zwischenraum, der aus Handeln und Sprechen entsteht, soll im Folgenden anhand von Group Materials früher Ausstellung The People’s Choice (1981) und WochenKlausurs Schiffsgesprächen im Rahmen der Intervention zur Drogenproblematik für die Zürcher Shedhalle (1994) genauer betrachtet werden. Zunächst wird jedoch die eingangs skizzierte Entwicklung der späten 1960er-Jahre in Form einer Vorgeschichte einführend erläutert.
zur vorgeschichte: „maybe the trojan horse was the first activist artwork.“ (lucy lippard)9 In ihrem Aufsatz „Trojan Horses: Activist Art and Power“ von 1984 unterscheidet die amerikanische Kunstkritikerin und Kuratorin Lucy Lippard zwischen politischer Kunst, die sich mit sozialen Inhalten auseinandersetzt, und aktivistischer Kunst, die in soziale Belange eingreift und diese wie ein Trojanisches Pferd in die Kunstinstitution einbringt. Der Ursprung jener Praktiken liegt für Lippard im Umfeld des Protests gegen die Kommerzialisierung des Kunstwerks und die ,Elitisierung‘ der Kunstinstitutionen in den späten 1960er-Jahren.10 Wie bereits angedeutet, äußern sich die Reaktionen
6 Ein Untersuchungsmodell hierfür bietet das Modell der ,dialogischen Ästhetik‘ des Kunsthistorikers Grant Kester. Grant Kester, Conversation pieces: community and communication in modern art, Berkeley 2004, S. 82–123. 7 Nina Möntmann beschreibt dies als Entwicklung des Bildungs- zum Konsumauftrag: Nina Möntmann, Die Kunstinstitution im Spätkapitalismus, 2006, http://eipcp.net/transversal/0106/ moentmann/de (Letzter Zugriff: 15. September 2014). 8 Hannah Arendt, Vita activa oder vom täglichen Leben, München 2010, S. 249. 9 Lucy Lippard, Trojan Horses: Activist Art and Power (1984), in: Brian Wallis (Hg.), Art After Modernism: Rethinking Representation, New York 1991, S. 341–358, hier S. 341. 10 Vgl. ebd., S. 350.
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abb. 1 guerilla art action group, blood bath, museum of modern art, new york, 18. november 1969
darauf seit Ende des Jahrzehnts vor allem im Performancebereich und der politischen Organisierung. Dazu zählt zum einen die 1969 gegründete Guerilla Art Action Group (GAAG), die mit ihren stets an konkrete Anliegen gebundenen performativen Interventionen in den laufenden Ausstellungsbetrieb einbrach. So auch am 18. November 1969, als um 15 Uhr 10 zwei Frauen und zwei Männer die Lobby des Museum of Modern Art in New York betraten. Sie verlasen ein Statement und verteilten Flugblätter mit der Forderung nach dem Rücktritt von Mitgliedern des Beirats des Museums, die in Waffengeschäfte für den Vietnamkrieg involviert waren. Daraufhin begannen sie einen Ringkampf, der in einer Lache aus Rinderblut und Applaus der umherstehenden Museumsbesucherinnen und -besucher endete.11 (Abb. 1) Der Applaus ist hier interessant, da die spontane Aktion von einigen der zufälligen Beobachterinnen und Beobachter als Teil einer musealen Inszenierung aufgefasst wurde. Die Vermittlung konkreter gesellschaftlicher Belange wird also scheinbar museumstauglich verpackt, wobei GAAG mit der Aktion gleichzeitig die üblichen Grenzen des Museums aufbricht. Für die politische Organisierung steht die sich Anfang 1969 formierende Art Workers’ Coalition (AWC), u. a. mit Carl Andre, Hans Haacke, Joseph Kosuth, Sol LeWitt
11 The Guerilla Art Action Group, 1969–1976. A Selection, New York 1978 (Reprint 2011), o. S.
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und Lucy Lippard.12 Anfang 1970 demonstrierten Mitglieder der AWC vor Picassos Guernica im MoMA mit dem Plakat And Babies, das eine Farbfotografie des Massakers von My-Lai in Vietnam 1968 und das Zitat eines Fernsehinterviews mit einem der beteiligten amerikanischen Soldaten zeigt („Q: And Babies? A: And Babies“).13 Zuvor hatte das Museum die anfangs zugesagte Kostenübernahme für Produktion und Distribution des Plakats mit der Begründung zurückgezogen, dessen Veröffentlichung läge nicht in der Funktion eines Museums. Mit der Aktion zielten die Künstlerinnen und Künstler auch darauf ab, dass das Museum Guernica als historisierte Darstellung der Katastrophe des spanischen Bürgerkriegs akzeptiere, nicht aber jene zeitgenössischen. Genau diesen Wandel zu vollziehen, verlangte die AWC von zeitgenössischen Kunstinstitutionen.14 Der Ausstellungsort soll zu einem Ort der aktiven Auseinandersetzung mit aktuellen Belangen werden, ein vergleichbares Anliegen wie jenes der Performances der Guerilla Art Action Group. Während die AWC einen engen Bezug zu Inhalten der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung, Gleichberechtigungs- und Antikriegsbewegung hatte und sich an bestehende Institutionen richtete, sind im Hinblick auf die Forderung nach Mitbestimmung im europäischen Kontext neben Protestaktionen von Künstlerinnen und Künstlern auch westeuropäische Kunstvereine selbst zu nennen.15 Zum Beispiel die 1969 aus der Deutschen Gesellschaft für Bildende Kunst als basisdemokratischer Kunstverein hervorgegangene Neue Gesellschaft für Bildende Kunst in Berlin. Doch auch traditioneller strukturierte Institutionen führten Formen der Teilhabe ein: die Ausstellung Art into Society – Society into Art im ICA in London 1974 etwa, deren Beiträge die Beteiligung der Besucherinnen und Besucher anstrebten, darunter die Freie Internationale Universität (FIU) von Joseph Beuys.16 Angestoßen durch die in den 1960er-Jahren noch weitestgehend im Performancebereich sowie in der politischen Organisierung stattfindenden Ausformungen, entsteht 12 Der zwei Jahre bestehende Verbund ging aus einer Protestaktion des Bildhauers Takis Vassilakis hervor, der seine Skulptur Tele-sculpture aus der von Pontus Hulten kuratierten Ausstellung The Machine at the End of the Mechanical Age im MoMA entfernte. In Folge der Aktion trafen sich Künstlerinnen und Künstler sowie Kritikerinnen und Kritiker und präsentierten noch im Januar eine Liste mit 13 Forderungen an das MoMA, die einerseits politisch ausgerichtete Kunstpraktiken und andererseits das Arbeitsverhältnis von Künstlerin bzw. Künstler und Institution sowie die Präsentation von Kunstwerken adressierten. Mit dem im Frühling 1970 organisierten New York Artists’ Strike Against Racism, Sexism, Repression, and War, an dem zahlreiche Institutionen New Yorks teilnahmen und ihre Ausstellungen für die Dauer des Streiks schlossen, endete die aktive Zeit der AWC. Ausführlichere Darstellungen: Therese Schwartz, The Politicalization of the Avant-Garde I–IV, in: Art in America, Vol. 59 (6), Nov.–Dez. 1971; Vol. 60 (2), März–Apr. 1972, S. 70–79; Vol. 61 (2), März–Apr. 1973, S. 67–71; Vol. 62 (1), Jan.–Feb. 1974, S. 80–84; Lucy Lippard, The Art Workers’ Coalition: Not a History (Studio International, November 1970), in: dies., Get The Message? A Decade of Art for Social Change, 1984, S. 10–19. 13 Lucy Lippard, The Dilemma (Arts Magazine, Juli 1970), in: dies. 1984, S. 4–9, hier S. 8f. 14 Vgl. Elena Volpato, The Art Workers’ Coalition, in: Moussemagazine 25/2010, http://moussemagazine.it/articolo.mm?id=609 (Letzter Zugriff: 15. September 2014). 15 Zum Einfluss der Studierendenproteste 1968 auf Aktionen von Künstlerinnen und Künstlern im Rahmen der Triennale Mailand, der documenta oder der Biennale in Venedig und deren Einfluss auf die AWC siehe Schwartz 1972 (wie Anm. 12). 16 Vgl. Christos Joachimides/Norman Rosenthal (Hg.), Art into Society – Society into Art. Seven German Artists, Ausst.-Kat. Institute of Contemporary Arts, London 1974, S. 5, 7.
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in den 1970ern eine institutionelle Praxis, der ein sich veränderndes Verhältnis zu ihrer Öffentlichkeit zugrunde liegt. Ausstellungsbesucherinnen und -besucher sollen zu Gesprächspartnerinnen und -partnern werden. Zugleich entstehen Initiativen von Künstlerinnen und Künstlern und selbstorganisierte Räume, die wiederum sowohl Formen von Institution als auch von Öffentlichkeit hinterfragen. Während es also zunächst um die Kritik bestehender Strukturen ging, werden nun neue geschaffen – wie bereits ein Vorschlag der AWC lautete –, um den Dialog um Ausstellungsformate zu fördern und zu gewährleisten.17 Im Zuge dieser Entwicklung halten Gesprächsformate verstärkt Einzug in künstlerische Praktiken, und Künstlerinnen sowie Künstler erarbeiten Formen der Partizipation an der Schnittstelle zwischen Kunst und Gesellschaft.
group material, the people’s choice: die ausstellung als potenziell diskursive situation „It was 1978 and we had no choice. We had to do something. We wanted to make a scene. A brilliant desperation was in the air for we young artists who wanted – needed – to be politically engaged but lacked any venues for new and true artistic inquiry, experimentation, demonstration, and change.“18
So beschreibt Gründungsmitglied Tim Rollins die Atmosphäre vor der Entstehung von Group Material. Die Gruppe formierte sich 1979 aus ehemaligen Studierenden von Joseph Kosuth an der School of Visual Arts und eröffnete 1980 einen eigenen Ausstellungsraum in der 244 East 13th Street, Lower Eastside in New York.19 Diesen unterhielt die Gruppe ein Jahr lang, um dann mit wenigen Mitgliedern um Julie Ault bis 1996 Ausstellungsprojekte im öffentlichen Raum, in Kunstinstitutionen, alternativen Kunsträumen und auf Biennalen sowie der documenta von 1987 zu zeigen. Oftmals in Form von Timelines oder als Ausstellung in einer Ausstellung konzipiert, wurden diese späteren Projekte stets im Verbund mit diskursiven Veranstaltungen, Diskussionen und Workshops umgesetzt.20 The People’s Choice, eine der ersten Ausstellungen in der Lower Eastside, lud Nachbarinnen und Nachbarn ein, gemeinsam mit der Gruppe Gegenstände aus dem eigenen Umfeld auszustellen. Die Künstlerinnen und Künstler baten die Bewohnerinnen und Bewohner, Objekte aus ihrer Wohnung für ein alternatives Archiv der Kunsterfahrung bereitzustellen.21 Die etwa 100 Objekte, darunter Klassenfotos, ein von Kindern gemaltes Wandbild, Poster, Kunsthandwerk und religiöse Figuren, wurden, sobald sie eintrafen,
17 Vgl. Volpato 2010 (wie Anm. 14). 18 Rollins 2010 (wie Anm. 5), S. 217. 19 Julie Ault, Chronicle: 1979–1996, in: dies., Show and Tell: A Chronicle of Group Material, London 2010, S. 7–207, hier S. 7. 20 Vgl. Lars Bang Larsen, People’s Choice, in: Frieze 132/2010, S. 25–26. 21 Doug Ashford, Group Material: Abstraction as the Onset of the Real, in: Maria Lind (Hg.), Performing the Curatorial: Within and Beyond Art, Berlin 2012, S. 47–59, hier S. 51.
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abb. 2 group material, the people’s choice (arroz con mango), ausstellungsraum in der lower eastside, new york, 10. januar– 1. februar 1981
an den Wänden des Ausstellungsraumes angebracht.22 (Abb. 2) Labels identifizierten die Besitzerinnen und Besitzer der Objekte, und gerade dieser Hinweis auf die Gemeinschaft der ,Leihgeber‘ unterscheidet The People’s Choice von Installationen, die durch das Ausstellen anonymisierter Alltagsgegenstände den White Cube unterwandern wollen.23 Im Unterschied zu jenen manifestieren sich anhand der Labels partizipatorischer Prozess und Dialog in der Ausstellung. Damit wurden die Teilnehmerinnen und Teilnehmer nicht nur in den kuratorischen Prozess, sondern auch in die Ausstellungspräsentation einbezogen, und so war The People’s Choice unmittelbares Ergebnis von Group Materials Suche nach Dialog.24 Es ging folglich um Inklusion, wobei die Marxʼsche Kritik an 22 Das Kombinieren unterschiedlichster Objekte findet sich auch später in den Timelines der Gruppe wieder. Vgl. Larsen 2010 (wie Anm. 20). 23 Alison Green, Citizen Artists: Group Material, in: Afterall Journal 26/2011, S. 16–25, hier S. 18. 24 Moore 2011 (wie Anm. 4), S. 114.
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der Spaltung des Menschen in einen öffentlichen und einen privaten anklingt.25 The People’s Choice nutzt das Ausstellungsformat zur Sichtbarmachung eines demokratischen Prozesses, auf dessen Grundlage die Gesellschaft kritisch hinterfragt werden kann.26 Im Pressetext heißt es dann auch: „A display of the private gone public, of the notnormally-found-in-an-art-gallery, of personal choice and cultural value on one block in New York City.“27 Der gemeinschaftlich organisierte Ausstellungsraum suggeriert hier ein sich von traditionellen Galerien unterscheidendes Öffentlichkeitsverständnis, konkretisiert um den kulturellen Wert eines Häuserblocks in New York, und verfolgt eine dialogische Struktur des kuratorischen Prozesses. Diesem Ansatz der „collective conversation“ als künstlerischer und zugleich kuratorischer Praxis entsprechend, urteilt eine zeitgenössische Besprechung in Artforum, die Idee hinter der Ausstellung werde als wichtiger erachtet denn die arrangierten Ausstellungsobjekte.28 In einem Manifest von 1981 ergänzt die Gruppe ihr Bestreben, den Kunstbegriff zu erweitern, bezeichnenderweise mit der Frage danach, was eine Kunstausstellung sein könne, und beansprucht so für sich das Kuratieren als künstlerische Praxis.29 Mit The People’s Choice schuf Group Material einen semi-institutionellen Rahmen, der gerade jene Hierarchisierung zwischen Kuratorin bzw. Kurator, Künstlerin bzw. Künstler und Ausstellungsbesucherinnen bzw. -besuchern konkret unterwandert, mit dem Ziel, die Ausstellung in ein ‚soziales Forum‘ zu transformieren:30 „Art presented as a changeable social forum, as dialogue, gives a context where not just images but political mutuality itself can be personified without figures – a collection of positions, volitions, and agencies without specificity.“31 So beruht The People’s Choice auf einem spezifischen Begriff von Öffentlichkeit, der Kunst-Publikum und jenes in direktem Umfeld des Ausstellungsraumes gleichermaßen integriert, anstatt gegenüberzustellen, wobei nicht nur Konzept und Prozess, sondern auch das Format der Ausstellung selbst als potenziell diskursive Situation verstanden wird.32
25 Karl Marx, Zur Judenfrage (1844), in: Ino Augsberg/Sebastian Unger (Hg.), Basistexte: Grundrechtstheorie, Baden-Baden 2012, S. 73–88, hier S. 79; Karen Kenkel, Marx‘ Kritik an der bürgerlichen Öffentlichkeit; vormärzliche Radikalisierung der liberalen Öffentlichkeit; Problematisierung des Publikums im ästhetischen Diskurs, in: Peter Uwe Hohendahl (Hg.), Öffentlichkeit. Geschichte eines kritischen Begriffs, Stuttgart 2000, S. 54–62, hier S. 57–58. 26 Ashford 2012 (wie Anm. 21), S. 53. Zu Group Materials Ausstellungen als „parliaments of multiple voices“ vgl. Larsen 2010 (wie Anm. 20), S. 26. 27 Ault 2010 (wie Anm. 19), S. 34. 28 Thomas Lawson, The People’s Choice, Group Material (Artforum, April 1981), in: Ault 2010 (wie Anm. 19), hier S. 32. 29 Ashford 2012 (wie Anm. 21), S. 49; Moore 2011 (wie Anm. 4), S. 110. Gerade im Hinblick auf kuratorische Praktiken und den in den 1980er-Jahren einsetzenden Diskurs um die Position von Kuratorinnen und Kuratoren erweist sich die frühe Zeit von Group Material als äußerst interessant. 30 Ashford 2012 (wie Anm. 21), S. 48. 31 Ebd., S. 58. 32 Moore 2011 (wie Anm. 4), S. 113.
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sculpture chicago, culture in action: die ausstellung als gesprächsmetapher Seit Anfang der 1990er befassten sich in den USA und kurz darauf auch in Europa eine Reihe institutioneller Ausstellungen mit sozial engagierter Kunst. Einflussreiches Beispiel ist Culture in Action, kuratiert von Mary Jane Jacobs bei Sculpture Chicago 1993, als deren Vorläufer der Katalog u. a. die von Kaspar König kuratierten Skulptur Projekte in Münster von 1987 nennt.33 Laut Katalog definiert Culture in Action allerdings ein neues Verständnis öffentlicher Kunst außerhalb der musealen Präsentation, die Künstlerin bzw. Künstler und Publikum als gleichwertig betrachtet, die Distanz zwischen den beiden reduziert und durch gemeinsame Aktionen Dialog fördert.34 Die acht Projekte mit lokalen Gruppen der Stadt, die teilweise bereits seit 1992 entstanden,35 wurden kontrovers diskutiert, entweder als erfolgreiche Community-based Art gelobt oder als verallgemeinernde Darstellung von Randgruppen wahrgenommen.36 In Iñigo Manglano-Ovalles Videoprojekt Tele-Vecindario sieht die Kuratorin Mary Jane Jacobs eine für das gesamte Ausstellungsprojekt gültige Metapher: „In order to function as a catalyst for community dialogue and change, ‚Culture in Action‘ directly engaged audiences – physically, mentally, emotionally, and socially. A metaphor first identified by Iñigo Manglano-Ovalle is applicable: each project of the program overall became an ongoing tertulia, a constantly evolving conversation among circles of ,neighbors‘.“37
Für Tele-Vecindario arbeitete Iñigo Manglano-Ovalle mit Bewohnerinnen und Bewohnern des überwiegend mexikanischen Viertels West Town in Chicago. Das Video33 Michael Brenson, Healing in Time, in: Mary Jane Jacobs, Culture in Action, Ausst.-Kat. Sculpture Chicago, Seattle 1995, S. 16–49, hier S. 17. 34 Eva M. Olson, New Art, New Audiences: Experiments in Public Art, in: ebd., S. 10–15, hier S. 10. 35 Einzelne Projekte liefen bereits einen längeren Zeitraum, bis zu einem Jahr, vor der Präsentation in den Museen und im öffentlichen Raum an, weshalb Culture in Action in der Literatur oft mit 1992–1993 datiert wird. Die eigentliche Ausstellung fand allerdings für ca. 100 Tage von Mai bis September 1993 statt, wobei genauere Datenangaben aus der vorhandenen Literatur nicht zu rekonstruieren sind. Vgl. David Morris/Paul O’Neill, Introduction: Exhibition as Social Intervention, in: Joshua Decter/Helmut Draxler u. a. (Hg.), Exhibition as Social Intervention: Culture in Action 1993, London/Köln 2014 (Exhibition Histories Vol. 3), S. 8–13, hier S. 8. Zur Angabe der Ausstellungsdauer von Mai bis September 1993 vgl. die Abbildung des Ausstellungsflyers: ebd., S. 69. 36 Die Kunsthistorikerin Miwon Kwon identifizierte 2002 einen „shift from site-specificity to community-specificity“. Sie beschreibt Culture in Action als „not so much a radical turn in practice as it is a belated turn in institutional reception“ und kritisiert die Remarginalisierung benachteiligter Gruppen, die Depolitisierung und Remystifizierung des künstlerischen Prozesses. Miwon Kwon, One Place After Another. Site-specific art and locational identity, Cambridge/London 2002, S. 108. Zu Culture in Action als ,Diskursparadigma‘ vgl. Marius Babias/Achim Könneke (Hg.), Die Kunst des Öffentlichen. Projekte, Ideen, Stadtplanungsprozesse im politischen, sozialen, öffentlichen Raum, Dresden 1998, S. 19. 37 Mary Jane Jacobs, Outside the Loop, in: Ausst.-Kat. Sculpture Chicago 1995 (wie Anm. 33), S. 50–61, hier S. 60.
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abb. 3 culture in action, sculpture chicago (an verschiedenen orten und im öffentlichen raum von chicago), mai–september 1993. ansicht: iñigo manglanoovalle, cul-de-sac: a street-level video installation, museum of contemporary art, chicago, 3. juli–10. august 1993
projekt begann mit aufgezeichneten Gesprächen ehemaliger Gang-Mitglieder und Anwohnerinnen sowie Anwohnern und existiert als Street Level Youth Media auch noch nach Ende der Ausstellung. Manglano-Ovalle beschreibt die Entstehung der Videos als eine Vermittlung des Künstlers durch das Werkzeug des Gesprächs und greift die lateinamerikanische Kultur der Tertulia, das gemeinsame abendliche Gespräch auf der Straße, auf.38 Tele-Vecindario wurde als Outdoor-Installation in den Straßen West Towns und als Video-Installation im Museum for Contemporary Art in Chicago präsentiert. (Abb. 3) Dem Katalogtext ist zu entnehmen, dass, während einige Bewohnerinnen und Bewohner West Towns zwar zum ersten Mal ein Museum betraten, das Kunstpublikum weitestgehend im Museum blieb.39 In der Tat gehen die Projekte der Ausstellung, die im Katalog nicht als solche bezeichnet wird, weder über die angesprochene Hierarchisierung hinaus noch bilden sie ein für sie spezifisches Öffentlichkeitsverständnis aus. Es entsteht eher der Eindruck, dass hier bereits vorhandene Positionen von Künstlerin bzw. Künstler, Gangster, Nachbarin bzw. Nachbar weder unterwandert noch zumindest infrage gestellt werden. Die Tertulias resultieren stattdessen in einer Videoinstallation im Museum und in den Vorgärten des 38 Vgl. Mary Jane Jacobs, Tele-Vecindario, in: ebd., S. 76–87, hier S. 77. 39 Jacobs 1995 (wie Anm. 36), S. 82.
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Viertels, die bestehende Vorstellungen von Gangster und Nachbarin bzw. Nachbar am Ende doch zu reproduzieren scheint. Diese Übertragung der Belange der Beteiligten, der gesellschaftlich relevanten Anliegen in „meaningful aesthetic metaphors“ (Jacobs), folgt schließlich doch eher repräsentativen Strukturen des Ausstellens.40 Dennoch vermochte Culture in Action erstmals Kunstpraktiken an ein breiteres Publikum zu vermitteln, die sich in Form von Kunst im öffentlichen Raum konkreten Gemeinschaften in bestimmten gesellschaftlichen Kontexten widmen.41
wochenklausur, die schiffsgespräche: die konkrete gesprächssituation als bestandteil der ausstellung Wie schon in den späten 1960er-Jahren beobachtet, hielten also bis in die 1990er-Jahre und in deren Verlauf experimentelle Strukturen und gemeinschaftliche Arbeitsformen Eingang in Ausstellungsformate, und auch Kunstinstitutionen forderten nun das Publikum zu „Grenzverletzungen“ auf und dazu, „sich als prinzipiell gleichwertige DialogpartnerInnen zu erleben“.42 Als bewusste Abgrenzung zum vorherigen Programm und dessen Präsentation leitete die Shedhalle Zürich mit der Einladung der österreichischen Gruppe WochenKlausur 1994 ihre inhaltliche Neuausrichtung ein.43 Laut der neuen Philosophie der Shedhalle, so WochenKlausur, sollte Kunst nicht mehr von politischer Realität abgekapselt sein,44 wie um 1970 bereits durch die GAAG und AWC gefordert. WochenKlausur führte seit Beginn des Jahrzehnts in wechselnder Besetzung Interventionen auf Einladung von Institutionen durch, wobei sie deren Infrastruktur und Ressourcen für die Umsetzung sozialer Belange nutzt, Lösungsvorschläge zur Veränderung „gesellschaftspolitischer Defizite“ erarbeitete und sie in einem eng gefassten Zeitraum umsetzte.45 Die Shedhalle entwickelte gemeinsam mit WochenKlausur ein konkretes Projekt zur Drogenproblematik der Stadt. Im Zuge der lokalen Recherche entschied sich die Gruppe für die Einrichtung einer tagsüber zugänglichen Pension für obdachlose Prostituierte, da bestehende Notunterkünfte nur nachts geöffnet waren. Ein dringendes Vorhaben, das seit Ende der 1980er mehrmals gescheitert ist, sowohl aus finanziellen Gründen
40 Ebd., S. 60. 41 Kürzlich wurde der Ausstellung eine umfangreiche Publikation gewidmet: Joshua Decter/ Helmut Draxler u. a. (Hg.), Exhibition as Social Intervention: Culture in Action 1993, London/ Köln 2014 (Exhibition Histories Vol. 3). 42 Walter Stach/Martin Sturm, Vorwort, in: Stella Rollig/Eva Sturm (Hg.), Dürfen die das? Kunst als sozialer Raum. Art, Education, Cultural Work, Communities, Wien 2002, S. 7–9, hier S. 8. 43 Holger Kube Ventura, Politische Kunst Begriffe in den 1990er Jahren im deutschsprachigen Raum, Wien 2002, S. 167. 44 Wolfgang Zinggl, Intervention zur Drogenproblematik, in: ders. (Hg.), WochenKlausur. Gesellschaftspolitischer Aktivismus in der Kunst, Wien 2001, S. 29–35, hier S. 29. 45 Ebd.; Bei der Intervention zur Drogenproblematik waren beteiligt: Katharina Lenz, Petra Mallek, Isabelle Schaetti, Matthias Schellenberg, Nina Schneider, Simon Seibherr und Wolfgang Zinggl. Vgl. dazu auch Sylvia Kafehsy (Hg.), 8WochenKlausur. Künstler und Künstlerinnen zur Drogenproblematk, Zürich 1994.
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abb. 4 wochenklausur, intervention zur drogenproblematik, shedhalle, zürich, 2. januar–31. märz 1994
als auch aufgrund von Widerstand der Anwohnerinnen und Anwohner sowie einer „Emotionalisierung“ der Thematik in der lokalen Presse.46 Tatsächlich wurde bald ein Haus in der Nähe des Straßenstrichs gefunden, der Besitzer stimmte trotz der Proteste von Bürgerinitiativen einer Vermietung zu, und es gab potenzielle Geldgeber. Doch diese mussten erst noch von der Tragfähigkeit des Projekts überzeugt werden, und die Gruppe brauchte kurzfristig politische und mediale Unterstützung. Um diese zu erhalten, lud WochenKlausur Protagonistinnen und Protagonisten aus Politik, Medien und der Drogenszene zu Gesprächen auf dem Zürcher See ein. Bei den 15 Schiffsgesprächen mit jeweils vier Teilnehmerinnen und Teilnehmern waren die Künstlerinnen und Künstler selbst nicht anwesend, informierten die Passagiere aber vor und nach den Bootsfahrten noch am Steg über das geplante Hausprojekt.47 (Abb. 4) Die Gruppe setzte keine Pressekonferenz oder prominent besetzte Diskussionsveranstaltung in der Shedhalle an, sondern initiierte 15 spezifische Gesprächssituationen, mit bestimmten Personen unter jeweils spezifischen Bedingungen, ohne Dokumentation 46 Ebd., S. 30. 47 Ebd., S. 33. Die Gruppe nutzte Gesprächsformate auch in weiteren Projekten z. B. Intervention am Arbeitsmarkt, NGBK 1998 oder Intervention zur Verbesserung der Streitkultur, Institut für moderne Kunst Nürnberg 2000.
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abb. 5 wochenklausur, intervention zur drogenproblematik, shedhalle, zürich, 2. januar–31. märz 1994
oder eine breitere Öffentlichkeit als ein (unbeteiligtes) Publikum: „Worüber sie genau sprachen, haben wir nie erfahren. Das war uns auch nicht wichtig.“48 Die Frage der Dokumentation ist insofern von Bedeutung, da es den Künstlerinnen und Künstlern nicht auf die zu dokumentierende Situation auf dem Schiff ankam, sondern offenbar auf die Entwicklungen im Anschluss an diese, eine unterstützende Berichterstattung oder die Unterstützung einer Politikerin bzw. eines Politikers, die bzw. der vielleicht erstmals im direkten Gespräch mit Protagonistinnen und Protagonisten der Drogenszene war.49 Die Gesprächssituationen selbst verfügen über eine Komplexität und einen wei48 Ebd. 49 An dieser Stelle kann nur kurz auf die wichtige Rolle der Presse in diesem Projekt sowie z. B. auch in den von der amerikanischen Künstlerin Suzanne Lacy mit Schülerinnen und Schülern sowie Polizistinnen und Polizisten inszenierten Gesprächssituationen hingewiesen werden, die sich gerade durch die traditionelle Funktion der Presse als Medium der Öffentlichkeit als interessant erweist.
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terführenden Kontext, der kaum vollständig zu dokumentieren ist.50 So befindet sich in der Shedhalle auch keine Ausstellungspräsentation, keine visuelle Umsetzung dessen, was WochenKlausur über die Dauer der Intervention zur Drogenproblematik schaffen, sondern das ,Kommandozentrum‘ der Gruppe. (Abb. 5) Der Ausstellungsraum wird zur Werkstatt, das Atelier geht an die Öffentlichkeit. Entscheidend ist nicht, dass die Intervention zu einem offensichtlichen Ergebnis führte, also ganz konkret in einen expliziten gesellschaftlichen Ablauf, die Obdachlosigkeit drogenabhängiger Prostituierter, eingriff. Denn die beteiligten Gesprächspartnerinnen und -partner aus Politik und Medien verfassten im Anschluss tatsächlich unterstützende Zeitungsartikel oder setzten sich für eine öffentliche Finanzierung des Hausprojekts ein. Mit zeitlicher Verzögerung von etwa einem Jahr führte die Intervention zur Drogenproblematik schließlich zur Entstehung einer entsprechenden Unterkunft, deren Finanzierung durch die Stadt über die Dauer von fünf Jahren gewährleistet wurde. Entscheidend ist vielmehr, dass WochenKlausur mit den Schiffsgesprächen einen Gesprächsraum schuf, der im gesellschaftlichen Kontext zuvor so nicht existierte und der bestehende gesellschaftliche Strukturen infrage stellte, um diese neu überdenken zu können. Die Schiffe mit den von WochenKlausur eingeladenen Teilnehmerinnen und Teilnehmern generieren nicht nur eine Öffentlichkeit jenseits einer definierten Gruppe von Ausstellungsbesucherinnen und -besuchern oder Drogenabhängigen. Sie entziehen sich einer über die Gesprächssituation selbst hinausgehenden Präsentation kurzerhand auf den See.51 Von Bedeutung ist demnach, dass WochenKlausurs Schiffsgespräche mittels eines spezifischen Öffentlichkeitsverständnisses den Demonstrationscharakter jener partizipatorischer Ansätze übersteigen, die ihre ,Öffentlichkeit‘ als unproblematisch voraussetzen, wie es bei Culture in Action der Fall zu sein scheint, statt sie zur Diskussion zu stellen.
schluss: vom handeln und sprechen Besonders im Hinblick auf die Genrebildung ,politischer Kunst‘ seit Ende der 1990erJahre erweist sich meines Erachtens die Betrachtung des Gesprächs als Teil künstlerischer Praktiken gerade jenseits von Genregrenzen als produktiv und als wesentliche Strategie ihrer Destabilisierung. Mit dem Gespräch als Format künstlerischer Praxis nutzen die Künstlerinnen und Künstler von Group Material und WochenKlausur die Kunst als 50 Ähnliches gilt für The People’s Choice von Group Material. In einem Aufsatz über die Dokumentation der Ausstellungsprojekte der Gruppe fragt Julie Ault, wie der Kontext einer Situation überhaupt kommuniziert und im Nachhinein vermittelt werden kann. Julie Ault, Active Recollection: Archiving Group Material, in: Stine Hebert/Anne Szefer Karlsen (Hg.), Self-organised, London 2013, S. 102–112, hier S. 105f. 51 Im Hinblick auf die Figur des Schiffes als gesellschaftlich wirksamer Raum sei an dieser Stelle kurz auf Michel Foucaults Begriff der Heterotopie verwiesen, „wirksame Orte, die in die Einrichtung der Gesellschaft hineingezeichnet sind, sozusagen Gegenplatzierungen oder Widerlager […]“. Foucault beschreibt das Schiff als „die Heterotopie par excellence“, als „das größte Imaginationsreservoir“. Michel Foucault, Andere Räume, in: Karlheinz Barck (Hg.), Aisthesis, Leipzig 1991, S. 34–46, hier S. 46.
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traditionell kontemplativen gesellschaftlichen Raum, um aus ihm eine Aktivierung des Öffentlichen jenseits dessen politischer Institutionalisierungsformen anzustoßen. Dabei liegen differenzierte Verständnisse von Öffentlichkeit zugrunde, welche die gesellschaftliche und künstlerische Relevanz der hier besprochenen Arbeiten überhaupt erst deutlich sichtbar machen. Ab Mitte der 1990er-Jahre kommt nicht nur der Begriff der Öffentlichkeit vermehrt im Kunstdiskurs auf,52 im Zuge von Phänomenen wie der ,relationalen Ästhetik’ des Kurators Nicolas Bourriaud oder ,Event-Ökonomien‘ wie 100 Tage, 100 Gäste der documenta X,53 werden Gesprächsformate in der Kunst im Sinne einer Kommodifizierung des sozialen Austausches immer weiter ausgehöhlt.54 In Folge ist das Gespräch im Sinne der Kunstpraktiken von Group Material und WochenKlausur ab Ende der 1990er dann eher außerhalb des institutionellen Ausstellungsraumes als Teil künstlerischer Praktiken zu beobachten, die sich z. B. mit alternativen Formen von Bildung und Wissensproduktion befassen.55 Doch wie lässt sich das Gespräch als Teil der hier betrachteten künstlerischen Praktiken erfassen, und welche Bedeutung hat es für das jeweilige Verständnis von Öffentlichkeit? Der Literaturwissenschaftler Maurice Blanchot beschreibt, dass jedes Gespräch von der Notwendigkeit des Intervalls geprägt ist, dem Hin und Her, von Gesprächspartnerin bzw. -partner zu Gesprächspartnerin bzw. -partner, wobei er die Bedeutung der Unterbrechung hervorhebt.56 Diese Notwendigkeit des Intervalls ließe sich nun auf Group Materials The People’s Choice und WochenKlausurs Schiffsgespräche übertragen, nicht nur auf die alternierende Beteiligung der Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner, sondern auch auf die Notwendigkeit des Intervalls von Sprechen und Handeln. Jürgen Habermas analysiert in Strukturwandel der Öffentlichkeit (1962) die Entstehung der klassisch-liberalen Öffentlichkeit im 17. und 18. Jahrhundert, entwirft jedoch kein Modell für die Nachkriegsgesellschaft.57 Dies versuchen Oskar Negt und Alexander Kluge in Öffentlichkeit und Erfahrung (1972), wobei die Autoren darauf verweisen, dass die bürgerliche Öffentlichkeit nach Habermas dazu neige, unmittelbare politische Impulse von ihrer Realisierung zu trennen, Reden vom Handeln zu trennen.58 Hannah Arendts Begriff der politischen Öffentlichkeit in The Human Condition (1958) hingegen zielt auf Pluralität und das menschliche Miteinander ab, auf den Zwischenraum, der aus Sprechen und Handeln entsteht. Dabei sind „Handeln und Sprechen (…) Vorgänge, die von sich aus keine greifbaren Resultate und Endprodukte 52 Rosalyn Deutsche, Evictions. Art and spatial politics, Cambridge 1996, S. 269. 53 Ventura 2002 (wie Anm. 43), S. 176. 54 Stewart Martin beschreibt dies in einer Kritik der ‚relationalen Ästhetik‘ wie folgt: „In these works the re-direction of our attention from objects to subjects does not produce a space of inter-subjective conviviality, but the instrumental commodification of labour that social exchange can be reduced to in capitalist societies.“ Stewart Martin, Critique of Relational Aesthetics, in: Third Text 21/4, Juli 2007, S. 369–386, hier S. 383. 55 Hier ist wiederum ein Zusammenhang mit kunsthistorischen Vorläufern wie der FIU von Joseph Beuys zu beobachten. 56 Maurice Blanchot, Entretien infini, Paris 1969, S. 106–107. 57 Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Neuwied 1962; Vgl. Strum 2002 (wie Anm. 2), S. 96. 58 Oskar Negt/Alexander Kluge, Öffentlichkeit und Erfahrung, Frankfurt am Main 1972, S. 94.
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hinterlassen. Aber dies Zwischen ist in seiner Ungreifbarkeit nicht weniger wirklich als die Dingwelt unserer sichtbaren Umgebung.“59 Group Material und WochenKlausur nutzen das Ausstellungsformat als diesen Zwischenraum, in dem gemeinsam gesprochen und gehandelt wird. Damit verstehen sie nicht nur die Ausstellung als ein politisches Format, sondern machen mit dem Gespräch als Teil ihrer künstlerischen Praxis soziale Veränderungen oder Konflikte an der Verbindungslinie von Kunst und Gesellschaft kritisch produktiv.
diskussion elisabeth fritz: In Deiner Argumentation zur Differenzierung der partizipatorischen Strategien war der Öffentlichkeitsbegriff sehr wichtig. Einmal die Reflektiertheit und die Voraussetzung von Öffentlichkeit oder auch Gemeinschaften, die schon existieren, und zum anderen die Idee, dass man durch die Kunstaktion diese Öffentlichkeit und Gemeinschaften erst erzeugt. Wie ist jetzt das Dialogische oder das Gespräch in diesem Zusammenhang zu verorten? Sind partizipatorische Praktiken immer Gesprächspraktiken, auch wenn sie nicht nur auf Gespräche hinauslaufen, sondern vielleicht auch auf andere Handlungen? Siehst Du noch eine Möglichkeit zur Differenzierung und Unterscheidung anhand des Dialogbegriffs?
fiona geuß: In den 1970er-Jahren entwickelt sich das Gespräch zu einem künstlerischen Format. Etwa die Collagen des britischen Künstlers Stephen Willats, die in intimen Gesprächssituationen mit Bewohnerinnen und Bewohnern aus Sozialwohnungen entstehen.60 Das Leben in den Sozialsiedlungen wird nicht nur thematisiert, sondern tatsächlich aus dem konkreten Gespräch herauskommend nachgezeichnet. In den 1990ern initiieren WochenKlausur oder die amerikanische Künstlerin Suzanne Lacy konkrete Gesprächssituationen. Grant Kesters Modell der ‚dialogischen Ästhetik‘, das die ästhetische Erfahrung im Dialog selbst verortet, ist hier in der Differenzierung sehr hilfreich.61
elisabeth fritz: Also könnte man sagen, dass Gespräche eine Sub-Form von Partizipationskunst und nicht ein strukturelles Merkmal von Partizipation im Allgemeinen sind?
fiona geuß: Ja. In den letzten beiden Jahrzehnten wurde eine Reihe von Begriffen für partizipatorische, sozial engagierte Kunstpraktiken geprägt, von Lacys New Genre Public Art (1995)62 bis hin zu Kesters Begriff Dialogical Art (2004). Wobei ich denke, sich Gesprächsformate in den 59 Arendt 2010 (wie Anm. 8), S. 225. 60 Vgl. z. B. Willats Projekt Leben in vorgegebenen Grenzen – 4 Inseln in Berlin, das 1979/1980 im Rahmen eines DAAD Stipendiums entstand und in der Neuen Nationalgalerie sowie an den Entstehungsorten, u. a. Gropiusstadt, ausgestellt wurde. Stephen Willats. Leben in vorgegebenen Grenzen – 4 Inseln in Berlin, Ausst.-Kat. Nationalgalerie Berlin, Berlin 1980; zu Arbeitsablauf und Entstehung der Collagen: Stephen Willats. Leben in vorgegebenen Grenzen – 4 Inseln in Berlin, in: Kunstnachrichten, 6/1981, S. 24–27; zum Beginn von Willats Nachbarschaftsprojekten: Andrew Wilson, Das Publikum als Grundprinzip, in: Anja Casser/ Philipp Ziegler (Hg.), Stephen Willats. Art Society Feedback, Nürnberg 2010, S. 22–61. 61 Kester 2004 (wie Anm. 6). 62 Suzanne Lacy, Mapping the Terrain, Seattle 1994.
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unterschiedlichen künstlerischen Projekten anzuschauen, kann produktiv sein, um über diese Genregrenzen hinwegzukommen.
rachel mader: Wenn ich den Gesamtbogen des Vortrages richtig verstanden habe, dann plädieren Sie dafür, dass diese Gesprächsformate oder diese Diskursivierung, die im institutionellen Kontext in den 2000er-Jahren stark vorangetrieben wurde, tatsächlich immer noch das Potenzial hat, den Betrieb zu politisieren. Ihr Rekurs auf Nina Möntmann und ihre sehr kritische Einschätzung dieser Entwicklungen im Rahmen des New Institutionalism schien mir dabei eigentlich nicht als Stütze Ihrer Argumentation, da sie eher von einer – übertrieben formuliert – vollständigen Kommensurabilität dieser Formate ausgeht. Warum haben Sie diese Theorie dennoch eingebracht?
fiona geuß: Ich sehe auf jeden Fall die Tendenz seit den 1990er-Jahren dieser, wie Sie es nennen, Kommensurabilität im Sinne von Nina Möntmann.63 Diese Form der beginnenden Institutionalisierung zeigt sich auch am genannten Beispiel von Culture in Action. Ende der 1990er entwickeln sich aber auch Initiativen, die dieser, sagen wir, ‚Institutionalisierung des Gesprächs‘ entgegentreten. Wenn man etwa die 1998 gegründete 16 Beaver Group in New York64 oder andere Projekte betrachtet, die sich mit alternativen Bildungs- oder Lernformen auseinandersetzen.
barbara lange: Ich habe mich auch mit der Ausstellung Art into Society, Society into Art, die am ICA stattgefunden hat, auseinandergesetzt, und ich weiß, dass sie von unendlich vielen Zufällen begleitet wurde und am Ende letztlich zufällig ihre Form gefunden hat. Angefangen von der Auswahl der Künstler und der Werke bis hin zu den Öffnungszeiten und anderen Aspekten. Für die Organisation spielte Caroline Tisdall eine wichtige Rolle, die als Journalistin der Ausstellung eine sehr bestimmte Form bzw. Beschreibung gegeben hat. Diese widerspricht zum Teil den Berichten über die Abläufe von anderen Beteiligten, aber Tisdall inszeniert alles zu einer flüssigen Erzählung. Ich denke, dass das auch auf eine ganze Reihe von anderen Projekten zutrifft, die Sie vorgestellt haben. Im Grunde genommen haben wir es einerseits mit den Verläufen selbst zu tun und andererseits mit einer Überlagerung durch Narrative, die auch zu den Kunstwerken gehören. Daraus folgt erstens die Frage, wie wir in der Recherche damit umgehen, und zweitens, wie man inszenatorisch damit umgeht. Was für Darstellungsmöglichkeiten gibt es, wenn man so ein Projekt in einer Ausstellung oder in einer Geschichte des Ausstellungswesens präsentieren möchte? Tendenziell laufen diese Kunstprojekte Gefahr, in der Kunstgeschichte unterzugehen. Auch wenn da ein ganz wichtiges Ereignis stattgefunden und sehr viel bewegt hat, greift man dennoch z. B. eher auf Serra zurück, weil seine Werke sich schön auf einem Foto abbilden lassen. Wie kann man diesen Gap praktisch überbrücken und wie gehen Sie damit um? Zudem noch ein Kommentar: Sie haben Hannah Arendt genannt, und ich glaube, dass sie für unseren Zusammenhang sehr produktiv gemacht werden kann, weil Arendt diesen Zwischenraum thematisiert, der auch ermöglicht, Aspekte der visuellen Kultur mit zu berücksichtigen. Das heißt, man kann nicht
63 Nina Möntmann, Die Kunstinstitution im Spätkapitalismus, 2006, http://eipcp.net/transver sal/0106/moentmann/de (Letzter Zugriff: 15. September 2014). 64 http://16beavergroup.org/ (Letzter Zugriff: 30. Juli 2015).
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nur beschreiben, welche Themen diskutiert wurden, sondern auch, wie diese in der Ausstellung auf einer nicht-verbalen Ebene verhandelt worden sind.
fiona geuß: Das ist natürlich eine kunsthistorische Herausforderung. Was man von diesen Projekten größtenteils hat, sind Fotografien, aber oftmals auch nicht, weil die Dokumentation gar nicht in der Intention der Künstler lag. Gleichzeitig – oder vielleicht ist das auch eine spätere Entwicklung – arbeiten beispielsweise viele Künstler mit dem Format der Zeitung. Dann gibt es zu jedem Projekt eine Zeitung oder Publikation, die jenes überdauert, wenn man so will. Der amerikanische Kunsthistoriker Grant Kester geht auch genau auf dieses Problem des für Kunsthistoriker verfügbaren Materials ein.65
barbara lange: Aber das sind Einzelfälle, und das fängt bereits in den 1970er-Jahren an. Bei Art into Society ist im Anschluss auch ein Fotoband entstanden.66 Diese Formen der Dokumentation wie etwa auch im Medium Video sind jedoch Zusammenstellungen, denen selbst eine bestimmte Erzählstruktur zugrunde liegt und die bestimmte Ordnungsmuster aufgreifen.
fiona geuß: Genau, die Zeitungen dokumentierten das, was geschehen ist, aber sie ergänzen es auch. Bei der Gruppe Temporary Services67 spielen z. B. Publikationen eine enorm wichtige Rolle und sind mehr als nur eine Dokumentation von dem, was geschehen ist, sondern eher eine Art Rahmung oder Weiterführung. publikum: Bei den Gesprächsformaten, die Sie vorgestellt haben, geht es einerseits um den Öffentlichkeitsbegriff und andererseits scheinen einige der Gesprächsformate-Projekte nur semi-öffentlich oder vielleicht sogar nicht-öffentlich zu sein. Es ist interessant, dass in den vorgestellten Formaten gerade das Schaffen von intimen oder privaten Situationen das politische Moment auszumachen scheint. Da stelle ich mir die Frage nach der Reichweite dieses Öffentlichkeitsbegriffs und inwiefern das Politische beim Ausstellen häufig automatisch zusammen gedacht wird mit dem Potenzial, Dinge öffentlich bzw. sichtbar zu machen. Was könnte das politische Potenzial von kuratorischen oder künstlerischen Praktiken sein, Sachen öffentlich zu machen oder nicht? Gibt es eine Erklärung dafür, dass das politische Potenzial von Ausstellungen häufig mit dem Potenzial, Sachen sichtbar oder öffentlich zu machen in Zusammenhang gestellt wird? Wie erklärt sich das und worin genau liegt dann das politische Potenzial des Öffentlich-Machens? Macht man Dinge öffentlich, wenn man sie sichtbar macht, oder stellt man dadurch erst die Öffentlichkeiten her? Oder könnte das Politische auch darin liegen, Dinge nicht auszustellen und der Öffentlichkeit zu entziehen? Welche Art von Öffentlichkeit entsteht dann, wenn die Projekte gar nicht öffentlich sind? Ich finde es jedenfalls interessant, dass man hier teilweise wohl implizit schon unterschiedliche Öffentlichkeitsbegriffe voraussetzt.
fiona geuß: Das ist möglich, wenn man Öffentlichkeit nicht als einen Raum versteht, also Platz, Haus oder Saal. Und auch nicht als etwas, das mir zugeteilt wird nach dem Motto: Hier ist 65 Kester 2004 (wie Anm. 6), z. B. S. 189. 66 Art into Society: Society into Art., Ausst.-Kat. Institute of Contemporary Arts, London 1974. 67 http://www.temporaryservices.org/ (Letzter Zugriff: 30. Juli 2015).
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jetzt der Ort, wo du hingehen kannst und dann öffentlich bist. Den von mir heute vorgestellten Beispielen ist eher ein Verständnis von Öffentlichkeit als aktivem Akt zuzuordnen, der nicht zur Verfügung gestellt wird, sondern den man sich selbst erschafft. Dabei ist Hannah Arendts Beschreibung von Öffentlichkeit als das, was zwischen Sprechen und Handeln passiert, sehr hilfreich. Ich gehe davon aus, dass es bei den von mir untersuchten Künstlerinnen und Künstlern nicht die Öffentlichkeit gibt, wie im Sinne von Habermas, also eine Öffentlichkeit, die für alle gilt und in die jeder ein- oder austreten kann, und dass gerade Gesprächsformate das Potenzial haben, dieses Verständnis zu hinterfragen.
das ausstellende, das diskursive und das performative medien der politisierung kuratorischer praxis (am beispiel former west)
wiebke gronemeyer Als „Ironie des Politischen“ bezeichnet Oliver Marchart die paradoxe Situation von Großausstellungen, die in der Gleichzeitigkeit ihres historisch determinierten hegemonialen Anspruches und zeitgenössisch politischen gegenhegemonialen Bestrebens begründet liegt.1 Genau diese Paradoxie hält für Marchart jedoch die Möglichkeit bereit, das Politische als einen Konflikt zu denken, wofür die Ausstellung nicht nur ein Kräfteverhältnis darstellt, sondern es auch notwendigerweise instabil hält und somit Diskussions- und Handlungsmöglichkeiten anbieten kann. In zeitgenössischer kuratorischer Praxis geschieht dies zunehmend auf zweierlei Art und Weise. Zum einen rücken Ausstellungen politische Kunstpraxen in den Mittelpunkt, die im Medium der Ausstellung gegenübergestellt werden, was somit zu einem politischen Analyseinstrumentarium wird. Mehr und mehr jedoch gesellt sich zu diesem analytischen Interesse ein genuines Bestreben nach Politisierung, wofür sich kuratorische Praxis nicht nur der politischen Aussagen von Kunstwerken bedient, sondern darüber hinaus eigene trifft. Nicht nur die Grenze zwischen Kunstwerk und Kontext ist dabei fließend, sondern der diskursive Kontext von Kunstwerken tritt in den Vordergrund. Als Curatorial Turn bezeichnet Paul O’Neill die seit den 1990er-Jahren zunehmende Experimentierfreudigkeit im und mit dem Medium der Ausstellung im Hinblick auf die Frage der Relevanz des diskursiven Raumes, den die Ausstellung ursprünglich als Rahmen für die gezeigten Kunstwerke schuf, und der nun in das Zentrum der Aufmerksamkeit rückt.2 Diskursproduktion, die im Medium der Ausstellung stattfand, ermöglichte es kuratorischer Praxis, ein kritisches Potenzial herauszuarbeiten, das aus dem eben dort produzierten Diskurs wächst und potenziell in andere Kontexte weitergetragen werden kann. In diesem Sinne sind Ausstellungen komplexe zeitgenössische Ausdrucksformen, ausgestattet mit rhetorischen Überzeugungsstrategien, die kulturelle, soziale und politische Werte und Beziehungen dem Publikum nicht nur präsentieren, sondern für das Publikum produzieren. 1 Oliver Marchart, Hegemonie im Kunstfeld. Die documenta-Ausstellungen dX, D11, d12 und die Politik der Biennalisierung, Berlin 2008 (= n. b. k. Diskurs 2), S. 9f. 2 Paul O’Neill, The Curatorial Turn: From Practice to Discourse, in: Elena Filipovic (Hg.), The Biennial Reader: An Anthology on Large-Scale Perennial Exhibitions of Contemporary Art, Ostfildern 2010, S. 240–258.
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Nicht nur hat sich so der Fokus weg vom Kunstwerk als Objekt und hin zu dialogischen, interaktiven und partizipativen künstlerischen Arbeiten verschoben, mehr und mehr verabschiedet sich kuratorische Praxis vom Medium der Ausstellung als primäre Ausdrucksform. Für viele zeitgenössische Kuratoren und Kuratorinnen bzw. Künstler und Künstlerinnen ist die Ausstellung nicht länger ein zentrales Medium der Manifestation ihrer Arbeit, sondern stellt nur eine mögliche Form der Artikulation im Kontext größerer Forschungszusammenhänge dar. Um über die Grenzen des Mediums Ausstellung hinaus zu sprechen, lohnt es sich genauer zu untersuchen, inwieweit ausstellende, diskursive und performative Strategien kuratorischer Praxis eine kritische Aussagekraft für sich beanspruchen. Als Beispiel dafür bietet sich das Projekt Former West an, das im Folgenden vorgestellt und hinsichtlich der Frage diskutiert wird, inwieweit die Funktion kuratorischer Praxis im Kontext zeitgenössischer Gesellschafts- und Kulturproduktion eine politisierende sein kann. former west – kunst als forschungsapparat „Wenn sich der postkommunistische ‚Osten‘ in einem zugleich emanzipatorischen, selbstkolonisierenden und strategischen Manöver als ‚ehemaliger Osten‘ neu erfunden hat, dann könnte man sich fragen, warum sein westlicher geopolitischer Widerpart nicht in ähnlicher Weise von den Protokollen und Beziehungen des Kalten Krieges Abstand genommen hat. Offensichtlich betrachtete der so genannte Westen den Zusammenbruch des Kommunismus als endgültigen Triumph der kapitalistischen Demokratie über ihren einzigen ernsthaften ideologischen Konkurrenten. In seiner Siegestrunkenheit hat dieser Westen die gewohnte Dreiteilung der Welt aus dem Kalten Krieg beibehalten. Er verhält sich auf symbolischer und realpolitischer Ebene weiter wie ein ‚erster‘ unter drei doch angeblich gleichen Teilen der imaginär geeinten – gemeinsamen – Welt.“3
2008 initiierten Maria Hlavajova und Charles Esche mit Former West eine Art Gedankenplattform, die sich unter Beteiligung vieler Kuratoren und Kuratorinnen, Künstler und Künstlerinnen, Philosophen und Philosophinnen, Kritiker sowie Kritikerinnen und vielen mehr der Frage annimmt, wie die westliche Welt nach 1989 fern alter Hegemonialansprüche zu denken und begreifen wäre. So versteht sich das langfristige Forschungs-, Ausstellungs- und Publikationsprojekt als spekulatives Forum zur Debatte über die kulturellen, sozialen, wirtschaftlichen und politischen Folgen der Veränderungen, die der Fall der Berliner Mauer als eines von vielen Ereignissen 1989 mit sich brachte. Die Formate, derer sich Former West bedient, sind vielfältig: Kongresse, Seminare, Vorträge, Online-Archive und Ausstellungen variieren stark in Größe, Umfang der Kunstwerke und institutionellem Austragungsort.4 Innerhalb des lose definierten thematischen 3 Former West: Dokumente, Konstellationen, Ausblicke. Ausst.-Kat. Haus der Kulturen der Welt Berlin/BAK, basis voor actuele kunst, Berlin/Utrecht 2013, S. 7. 4 Einzel- oder kleinere Gruppenausstellungen fanden über die Jahre immer wieder in der BAK, basis voor acutele kunst in Utrecht statt. Andere Ausstellungen und Symposien wurden in Institutionen wie dem Museo Reina Sofia, Madrid, dem Haus der Kulturen der Welt, Berlin oder an Universitäten wie der Istanbul Technical University oder der Akademie der bildenden Künste
das ausstellende, das diskursive und das performative
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Rahmens versammelt das Projekt diverse Formate, die Teil ausstellender, diskursiver und performativer Strategien kuratorischer Praxis sind bzw. sich so beschreiben lassen. Obwohl mittlerweile gleichwertig etabliert,5 unterscheiden sich diese Strategien doch entscheidend in Bezug auf das Verhältnis zwischen Kurator bzw. Kuratorin, Werk und Rezipient bzw. Rezipientin – insofern dieses überhaupt noch zu benennen ist – speziell in Hinblick auf die Frage, welches Autonomiebestreben das jeweilige Format als solches in Bezug auf eine kritische und politische Aussagekraft verfolgt. Eine Beschreibung des Projektes als Ganzes ist aufgrund der enormen Vielfalt der Teilprojekte unmöglich und würde zu einem zu oberflächlichen und wenig detailverbundenen Ergebnis führen. Daher konzentriert sich diese Analyse auf einige konkrete Beispiele innerhalb des Former West Kontextes, die besonders relevant für einen Vergleich verschiedener Strategien kuratorischer Praxis sind. Die Beziehung zwischen der Ausstellung Vectors of the Possible (BAK, Utrecht, 2010) des Kurators Simon Sheikh und den Vorträgen und Seminaren, die er im Kontext des von ihm ko-kuratierten 2nd Former West Research Congress (Istanbul, 2010) hielt, wird vor dem Hintergrund beschrieben, inwieweit sich ausstellende und diskursive Strategien ergänzen bzw. miteinander konkurrieren. Das Berliner Kapitel des Projektes Former West: Dokumente, Konstellationen, Ausblicke (HKW, Berlin, 2013) strebte eine Auflösung jeglicher Formatdefinitionen in Bezug auf das Diskursive, Ausstellende und Performative an, verbunden mit der gesellschaftspolitisch motivierten Intention, die Vision einer neuen gemeinsamen Welt zu schaffen.6 Hier stellt sich die Frage, ob und inwieweit kuratorische Strategien dafür ihren mediatorischen Charakter zugunsten eines propagierenden und intervenierenden aufgeben müssen. Über die einzelnen Veranstaltungen hinaus bildet das Projekt eine diskursive Beziehung, die als Rahmen für die verschiedenen Formate kuratorischer, künstlerischer und wissenschaftlicher Forschungspraktiken fungiert. Es etabliert einen Handlungsraum, der zwar unabhängig von einem Ort ist, dafür aber an den besonderen thematisch-begrifflichen Kontext gebunden ist, der durch jeden Kongress, jedes Seminar, jede Ausstellung und jede Publikation weiter angereichert wird. Um festzustellen, ob und wie Former West ein relevantes Beispiel für sowohl kooperierende als auch konkurrierende Strategien kuratorischer Praxis hinsichtlich einer Politisierung derselben ist, gilt es zu klären, inwieweit sich das Projekt von Biennalen und Großausstellungen unterscheidet. Zunächst einmal fallen Ähnlichkeiten auf: Das Projekt ist thematisch organisiert, temporär und beinhaltet viele verschiedene Formate. Dabei produziert es seine eigene und der Secession in Wien abgehalten. Für eine vollständige Auflistung des Programms mit Texten, Bildern und Videos siehe www.formerwest.org/Chronicle (Letzter Zugriff: 12. September 2014) 5 Spätestens mit den documenta 10 und 11 hat sich diskursive kuratorische Praxis nicht mehr nur als Begleitprogramm von Ausstellungen durchgesetzt. Als weitere Beispiele sind Cork Caucus: Art, Possibility, and Democracy, 2005, ko-kuratiert von Annie Fletcher und Charles Esche, sowie Art/not art, die Konzeption der letztendlich gescheiterten Manifesta 2006 auf Zypern (Vgl. International Foundation Manifesta (Hg.), Notes for an Art School, Amsterdam 2006), oder Projekte wie If I Can’t Dance, I Don’t Want To Be Part Of Your Revolution (http:// www.ificantdance.org/About/00-IfICantDance, letzter Zugriff: 8. September 2015) zu nennen. 6 Siehe das Vorwort Maria Hlavajovas in: Ausst.-Kat. Haus der Kulturen der Welt/BAK, basis voor actuele kunst 2013 (wie Anm. 3), S. 7–15.
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Infrastruktur und etabliert ein eigenes Kommunikationsnetzwerk, nicht nur für sich selbst, sondern vor allem für die beteiligten Künstler und Künstlerinnen, Theoretiker und Theoretikerinnen, Kuratoren und Kuratorinnen sowie anderen Kulturproduzenten und -produzentinnen, die sich des intellektuellen Rahmens als Gedankenplattform und Ressource bedienen. Die politischen Ambitionen können dabei variieren, und es besteht keinerlei Zwang, diese thematisch in irgendeiner Weise in den Kontext des Projektes zu integrieren. Vielmehr nährt sich die Identität des Projektes aus den diversen politischen Interessen und Bestrebungen, die unausweichlich in dessen Verlauf auch miteinander in Konflikt treten. Diesen zu moderieren, ist Aufgabe kuratorischer Praxis, verbunden mit der Ambition, das dabei Produzierte – Sozialität, Erfahrung, Wissen – aus dem Erlebniskontext des Projektes herauszuheben und über das Feld des Kulturellen hinaus erfahrbar zu machen. „We believe art is a useful device to measure a more general consciousness of the state of global relationships today and to help us collectively think beyond them. In this sense, art is more than ‚the thing itself‘ of the artwork but a systemic form of imagining from out of the conditions at hand towards something that is not yet formed.“7
Oliver Marchart hat auf die Problematiken hingewiesen, die sich für kuratorische Praxis als eine einen Handlungsraum bildende Tätigkeit ergeben, im Besonderen hinsichtlich der Frage, wie das Kuratorische eine politisierende Funktion auch außerhalb des Kunstfeldes haben kann.8 Zunächst einmal definiert er die Funktion kuratorischer Praxis als Herstellung von Öffentlichkeit, was nicht gleichzusetzen ist mit allgemeiner Zugänglichkeit, sondern bedeutet, im Medium des Konflikts eine Debatte stattfinden zu lassen. Über diesen Begriff lässt sich eine Definition des Politischen herleiten. Nach Carl Schmitt bezeichnet das Politische keine Sache und kein „Sachgebiet, sondern nur den Intensitätsgrad einer Assoziation oder Dissoziation von Menschen“.9 Hannah Arendt bezeichnet die Freiheit „mit den Vielen redend zu verkehren und das Viele zu erfahren“ nicht als Zweck oder Mittel der Politik, sondern als „der eigentliche Inhalt und Sinn des Politischen selbst“.10 Auch wenn man aus diesen Positionen noch den Begriff des ,politischen Konsens‘ als demokratische Entscheidungsfindung im Sinne eines Habermasʼschen gemeinsamen Willens herauslesen kann, muss im Kontext kuratorischer Praxis als Handlungsraum bildende Tätigkeit das Politische als Konflikt gedacht werden, der mithilfe ausstellender, diskursiver und performativer Strategien ausgetragen wird. Doch genauso wenig wie das Politische an und für sich existiert, gibt es eine feste Instanz von Öffentlichkeit. Auch sie wird immer wieder im und für den Handlungsraum hergestellt. So lässt sich auf Chantal Mouffes Beschreibung 7 www.formerwest.org/ResearchCongresses/1stFormerWestCongress/Text/IntroductoryNotes (Letzter Zugriff: 12. September 2014) 8 Oliver Marchart, Die kuratorische Funktion – Oder, Was heißt eine Aus/Stellung zu organisieren?, in: Marianne Eigenheer (Hg.), Curating Critique, Frankfurt am Main 2007, S. 172–179. 9 Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen. Berlin 82009, S. 38. 10 Hannah Arendt. Was Ist Politik?: Fragmente aus dem Nachlaß, hg. v. Ursula Ludz, München 2003, S. 52.
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des öffentlichen Raumes als diskursives Schlachtfeld, auf dem Dissens ohne Konsolidierungsmöglichkeiten betrieben wird, verweisen.11 Marchart erhebt allerdings den nachvollziehbaren Einwand, dass sich Antagonismus als das, was im Moment des Konfliktausbruchs entsteht, nicht intentional organisieren lässt, da „Antagonismus ja gerade das ist, was jede Institution und ‚Organisation‘ unterbricht“.12 Somit ist die kuratorische Funktion in der Organisation von Antagonismus als Merkmal des Politischen die Organisation von etwas Unmöglichem. Damit es nicht bei einer solchen Handlungsunfähigkeit bleibt, betrachtet Marchart den Prozess der Organisation von Öffentlichkeit als Konfliktherstellung im Sinne des Politischen genauer und fordert kuratorische Praxis dazu auf, ein antagonistisches Potenzial herzustellen oder zu bearbeiten, wobei es um eine Verhandlung des Unmöglichen geht: „Das Unmögliche, das von der kuratorischen Funktion organisiert wird, ist das Politische, und die Politik selbst – im Sinn einer wirklichen Aktualisierung des Politischen – ist ‚immer‘ eine Praxis, die auf das Unmögliche selbst zielt: Auf das nämlich, was in einer bestimmten Situation vom hegemonialen Diskurs als unmöglich definiert wird. Kuratorische Praxis, die zu politischer Praxis wird oder werden will, muss sich also genau derselben Herausforderung stellen wie politische Praxis.“13
Von einem Prozess der Politisierung kuratorischer Praxis kann man sprechen, wenn sich dieser der von der hegemonialen Formation ausgesprochenen Unmöglichkeit annimmt, einem gegen-hegemonialen Bestreben in Form der Artikulation, Manifestation und Konstruktion einer Gegenpositionierung Ausdruck zu verleihen.14 Um für das Beispiel von Former West von kuratorischer Praxis im Sinne der Organisation einer politischen Öffentlichkeit zu sprechen, gilt es, die verschiedenen Strategien näher zu beleuchten. Wie kann es im besten Falle zu einer antagonistischen Position als Artikulierung und Manifestierung eines gegenhegemonialen Bestrebens kommen, ohne dass das Projekt letztendlich zum Opfer der anfangs erwähnten Ironie des Politischen wird? Wie kann sich die Institution wirklich politisch öffnen, ohne dem traditionell geprägten hegemonialen Diskurs unterworfen zu werden? Kann Former West einen Handlungsraum schaffen, in dem die Positionierung eines ehemaligen Westens es zulässt, von einer gemeinsamen Welt zu sprechen bzw. diese zu denken? In welcher Form haben daran ausstellende, diskursive und performative Strategien kuratorischer Praxis Anteil? Zunächst einmal lässt sich Former West als Diskursproduktionsmaschine beschreiben, ersichtlich an dem vorherrschenden Format der Kongresse, die Diskussionsrunden und Vorträge beinhalten und aus denen Publikationen hervorgehen. Die ersten Jahre des 11 Den antagonistischen Charakter von Politik beschreibt Mouffe im Allgemeinen (Chantal Mouffe, On the Political. Thinking in Action, London/New York 2005) sowie auch im Besonderen als Ausgangspunkt für künstlerische Praxis (Chantal Mouffe, Artistic Activism and Agonistic Spaces, in: Art&Research – A Journal of Ideas, Contexts and Methods 2/2007), http://www. artandresearch.org.uk/v1n2/mouffe.html (Letzter Zugriff: 17. Juni 2016). 12 Marchart 2007 (wie Anm. 8), S. 174. 13 Ebd. 14 Ebd., S. 175 und Marchart 2008 (wie Anm. 1).
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Projektes waren davon geprägt, einen eigenen begrifflichen Rahmen zu schaffen und so den Begriff des ‚former West‘, des ehemaligen Westens, als contra-ideologisch und sich mit gegenhegemonialen Strömungen assoziierend zu belegen. Dabei ist es nicht das primäre Interesse von Former West, Kunst als etwas Politisches zu beschreiben oder zu interpretieren, sondern die Prozesse des Denkens, die an künstlerischer Praxis beteiligt sind, in ein eigenes Denkmuster zu integrieren, das über deren Relevanz für die Frage der sozialen, politischen und kulturellen Bedingungen von Kunstproduktion nachdenkt. In diesem Sinne steht das Projekt ganz in der Tradition des sogenannten Discursive Turn kuratorischer Praxis, der in den letzten Jahren immer wieder eingehend beschrieben wurde.15 Demnach wird kuratorische Praxis immer schon als diskursbildend verstanden: „The curatorial seeks to strengthen a realm of engagement that understands itself less in text bound terms, but particularly as a space that can be configured socially, temporally, and discursively.“16 Eine solche Definition des Diskursiven als Raum und Ort der Produktion bezieht sich auf Aussagen über das Potenzial kuratorischer Praxis als Medium nicht nur der Infragestellung, sondern auch der Kritik an den sozialen, kulturellen und politischen Bedingungen von Kulturproduktion, die kuratorische Praxis umgeben. In diesem Sinne bezeichnet Mick Wilson den Wert des Diskursiven als dem Kommerz widersprechend und eine kritische kommunikative Kompetenz beinhaltend.17 Diese sollte jedoch nicht verwechselt werden mit der selbstreferenziellen Art und Weise, mit der Konzeptkunst seit dem Ende der 1960er-Jahre das Medium des Diskursiven als reflexive Teilnahme an den Bedingungen der eigenen Produktionsmöglichkeiten innerhalb des Kunstsystems versteht. Former West ist sich der Tradition des Diskursiven als emanzipierendes Medium wohl bewusst und will dieses nun dahingehend nutzen, aus der Selbstreferenzialität der Kunst hinauszutreten. Dafür nutzt es die spezifisch diskursive Qualität des Kuratorischen als beziehungssetzende Strategie, die potenziell Erkenntnis über die politischen, kulturellen und sozialen Bedingungen schaffen kann, unter denen solche Beziehungen zustande kommen können. Sowohl Wilson als auch O’Neill beschreiben den Zusammenhang der diskursbildenden Rolle des Kuratorischen mit der schwindenden Rolle des Kritikers.18 Der Handlungsraum, den das Kuratorische bildet, wird ein Raum für Kritik. Auf die Gefahr hinweisend, dass das Kuratorische eine Art Orchestrierung von Kritik sei, beschreibt Liam Gillick, dass der kuratorisch initiierte Diskurs nicht einer ist, mit dem der Künstler konfrontiert wird, sondern der in Zusammenarbeit entsteht. Gerade innerhalb des kontinuierlichen Dialoges zwischen Künstler bzw. Künstlerin und Ku-
15 Zum Beispiel von Paul O’Neill, Irit Rogoff, Maria Lind, Beatrice von Bismarck, Dorothee Richter u. v. m. 16 Beatrice von Bismarck, In the Space of the Curatorial: Art, Training, and Negotiation, in: Leonie Baumann/Carina Herrin/Brian Currid (Hg.), Crosskick: European Art Academies hosted by German Kunstvereine. A Format linking Art Education and Curatorial Practice, Köln 2009, S. 42–45, hier S. 41. 17 Mick Wilson, Curatorial Moments and Discursive Turns, in: Paul O’Neill (Hg.), Curating Subjects, London 2007, S. 201–215, hier S. 204. 18 Ebd., S. 242; OʼNeill 2010 (wie Anm. 2).
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rator bzw. Kuratorin, der Kontextualisierung, Artikulation und Interpretation liefert, wird Kritik als Medium der Kontextualisierung verlagert, wenn auch nicht ersetzt.19 Diese Untersuchung ist bezüglich des Anspruches von Former West relevant, mithilfe von Kunst, also während des Prozesses der Kunstproduktion, zu denken und somit den dialogischen Prozess zwischen Künstlern bzw. Künstlerinnen, Akademikern bzw. Akademikerinnen, Theoretikern bzw. Theoretikerinnen, Schriftstellern bzw. Schriftstellerinnen, etc. als Produkt der Herstellung der eigenen Produktionsbedingungen anzusehen. Dies generiert einen Diskurs, der parallel zur Kunstproduktion stattfindet, in dem Kunst einem anderen, aber nicht unbedingt höheren Ziel dient, nämlich der Beziehung zwischen dem, was durch kuratorische Praxis produziert wird – Bedeutung, Wissen, Beziehungen, Sozialität – und denjenigen, wofür es produziert wird – Zuschauer bzw. Zuschauerin, Zuhörer bzw. Zuhörerin, Teilnehmer bzw. Teilnehmerin –, zu überdenken. Das Überdenken dieser Beziehung im Handlungsraum des Kuratorischen mittels diskursiver Kategorien bezieht dabei die Funktion des Ausstellenden ein – es umklammert sie sozusagen. Individuelle Werke werden als kontingente Äußerungen, eingebettet in eine Kakophonie einer andauernden, obwohl immer wieder temporären und mobilen Konversation, präsentiert. Dabei haftet den ausgestellten Werken leider so manches Mal der Charakter einer Metapher an.
vectors of the possible In diesem Kontext lässt sich über die Ausstellung Vectors of the Possible sprechen, die Simon Sheikh im Herbst 2010 am BAK in Utrecht kuratierte. Hier wird mittels diskursiver Strategien eine zum Teil wörtliche, zum Teil metaphorische Mobilisierung von Begriffen und Themen als belebendes Prinzip genutzt, um künstlerische Positionen zur orchestrieren. Parallel zur Ausstellung fand der zweite Former West-Kongress in Istanbul mit dem Titel On Horizons: Art and Political Imagination statt. Ko-kuratiert von Sheikh wurde im Kongress die Möglichkeit erörtert, Kunst so zu verstehen, dass sie als horizontgebende, orientierende Maßnahme in einer sonst horizontlosen Welt fungiert.20 Im Zentrum der Aufmerksamkeit stand die Idee von Horizontalität als Form räumlicher Definition der Relation zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Sheikh schlug vor, den Begriff des Horizontes als Signifikanten zu nutzen, zu dem sich künstlerische Praxen politisch verhalten können. Dabei hat Kunst die Funktion, einen Möglichkeitsraum politischer Handlung auszubilden.21 Zunächst einmal analysiert Sheikh den Verlust eines Horizontes mit dem Fall der Mauer, als das Gegenüber mit der Auflösung der Dichotomie Ost/West verloren ging und in eine 19 Wilson 2007 (wie Anm. 17), S. 205; Saskia Bos/Liam Gillick, Towards a Scenario: Debate with Liam Gillick, in Saskia Bos/Karin van Santen (Hg.), Modernity Today: Bijdragen Tot Actuele Artistieke Theorievorming = Contributions to a Topical Artistic Discourse, Amsterdam 2004, S. 74–86. 20 www.formerwest.org/ResearchCongresses/2ndFormerWestResearchCongress/Video/ OpeningRemarks (Letzter Zugriff: 12. September 2014) 21 www.formerwest.org/ResearchCongresses/2ndFormerWestResearchCongress/Video/VectorsOfThePossible (Letzter Zugriff: 12. September 2014)
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abb. 1 vectors of the possible, BAK, basis voor actuele kunst, utrecht, 12. september–28. november 2010. ansicht: elske rosenfeld, our brief autumn of utopia, installation, 2010
(vermeintlich) gemeinsame Welt überging.22 Es sei somit die Aufgabe der Kunst, den Horizont als kritisches Analyseinstrument zu begreifen, um so eine Artikulation des zukünftigen Imaginärem möglich zu machen. Darin würde sich eine soziale und zugleich politische Funktion des Horizontes finden. Kunst kann eine Form dieser Artikulation darstellen und so einen Diskurs über die Frage, was gemeinschaftliches Leben bedeuten kann, anregen. Für Sheikh ist der Horizont ein Mittel, um Kunst politisch zu denken.23 In der Ausstellung präsentiert er eine Reihe von Kunstwerken von Matthew Buckingham, Chto Delat?/What is to be done?, Freee, Sharon Hayes, Runo Lagomarsino & Johan Tirén, Elske Rosenfeld, Hito Steyerl und Ultra-red in einer Art ,Versuchsanordnung‘. Jedes Kunstwerk übernimmt mittels der Darstellung oder Repräsentation der Idee eines Horizontes die Funktion, eine Beziehung zwischen Kunst und Politik zu ergründen und gleichzeitig eine Form der Vorstellung von Welt zu präsentieren – als ,Vektoren des Möglichen‘ sozusagen, wie im Titel angedeutet. Sheikh gibt einen thematisch engmaschigen Interpretationskontext vor, den er auch für die einzelnen Werke in der Ausstellungsbroschüre zum Ausdruck bringt. Den Arbeiten wird kaum Raum 22 Vgl. dazu auch Claire Bishops präzise und treffende Analyse der Konsequenzen des Zusammenbruchs der Sowjetunion für zeitgenössischer Kunst- und Kulturproduktion. Claire Bishop, Artificial Hells: Participatory Art and the Politics of Spectatorship. London/New York 2012, S. 194ff. 23 Vectors of the Possible, Ausst.-Kat. BAK, basis voor actuele kunst Utrecht 2010, S. 17–19.
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gelassen, ihre formalen und ästhetischen Qualitäten zu entfalten. So z. B. befassen sich mehrere Werke in der Ausstellung mit der Idee der Utopie als Form politischer Imagination. Elske Rosenfelds Installation Our Brief Autumn of Utopia (2010) behandelt den ‚Zentralen Runden Tisch‘, ein Ausschuss verschiedener Mitglieder der DDR sowie von Experten aus der Bundesrepublik Deutschland, der zwischen November 1989 und März 1990 eine alternative Verfassung für das wiedervereinigte Deutschland entwickelte, die jedoch nie zum Tragen kam. In der Ausstellung zeigt Rosenfeld Videos, die die erste und letzte Sitzung des Ausschusses dokumentieren, sowie ein Exemplar der gedruckten Verfassung, und ein Video, das zeigt, wie die Künstlerin in der Verfassung Seite für Seite blättert. (Abb. 1) Sheikh nimmt weniger auf die einzelnen Komponenten der Arbeiten Bezug, sondern stellt den utopischen Charakter der Installation in den Vordergrund, den er als eine Form politischer Imagination identifiziert. Er interpretiert Rosenfelds Arbeit als Forschungsprojekt, das sich dieser ,verlorenen Geschichte‘ annimmt, nicht um die Vergangenheit zu verändern, sondern um eine alternative Zukunft vorstellbar zu machen.24 Dabei kommt der Arbeit eine ganz besondere Rolle zu, nämlich Beispiel für die Art und Weise zu sein, wie ein Kunstwerk eine politische Vorstellungskraft erzeugen kann. Selbige Funktion attestiert der Kurator auch anderen Arbeiten in der Ausstellung, wie z. B. Sharon Hayes’ Diaprojektionen In the Near Future (2009), für die eine Reihe von 35-mm-Farbdias in verschiedenen Räumen der Ausstellung horizontal knapp über dem Boden projiziert werden. (Abb. 2) Die Bilder zeigen, wie die Künstlerin an diversen Orten im öffentlichen Raum Protestschilder („Organise or Starve“; „Actions speak louder than Words“) hochhält, wobei dies aber nicht im Kontext einer Demonstration geschieht, sondern einfach als Teil des öffentlichen Alltagslebens. Sheikh liest Hayes’ Arbeit als Verbildlichung der Geste des Protestes, und nicht als Protest selbst. Dies widerspricht aber ein Stück weit der Intention der Künstlerin, die bei ihren Protesten auf historische Parolen zurückgreift und die Proteste an ihren historischen Originalschauplätzen inszeniert. Im Kontext von Verbildlichungsprozessen als Bedingung für politische Vorstellungskraft nährt sich die Frage, inwieweit die Werke die ihnen zugeschriebene Funktion als ,Vektoren des Möglichen‘ erfüllen können und wollen, wenn sie dafür lediglich auf das reduziert werden, was sie abbilden. Dies gilt für fast alle Werke der Ausstellung, da sie gemeinsam einem Begriff des Horizontes unterworfen sind, der die Beziehung zwischen Betrachter bzw. Betrachterin und Werk produziert, und durch den – gleich einem Prisma – die Werke zu sehen, beleuchten und interpretieren sind.25 Sheikh reduziert die Kunstwerke auf ihr Potenzial als Illustrationen, die der Herausbildung einer Vorstellungskraft dienen. Dabei überlagert das Diskursive das Ausstellende, denn die Verbildlichung von Horizonten mittels der Werke in der Ausstellung verhindert vielmehr die Möglichkeit politischer Vorstellungskraft, als dass es sie befähigt. Die Ausstellung vermittelte dabei den unglücklichen Versuch, diskursive Beziehungen darzustellen, die an anderer Stelle ihren Ursprung haben. Die Kunstwerke sollten als 24 Ebd., S. 17. 25 Simon Sheikh, Vectors of the Possible: Art Between Spaces of Experience and Horizons of Expectation, in: Maria Hlavajova/Simon Sheikh/Jill Winder (Hg.), On Horizons: A Critical Reader in Contemporary Art, Utrecht/Rotterdam 2011, S. 152–168.
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Das Problem der Verwechslung diskursiver Beziehungen als Element künstlerischer
abb. 2 vectors of the possible, BAK, basis voor actuele kunst, utrecht, 12. september–28. november 2010. ansicht: sharon hayes, in the near future, dia-installation, 2009
Verweissystem fungieren, wobei der kuratorische Raum ihnen nicht die Möglichkeit ließ, die Bedingungen ihrer Beziehungssetzungen selbst zu definieren. In diesem Sinne produziert die Ausstellung das Gegenteil von etwas Imaginären. Ein Teil des Problems liegt dabei in der Vorstellung vom Horizont selbst, die als semantisches Mittel eingesetzt wird, um Kunst zu politisieren. Wissensproduktion (mit den Kunstwerken als systemische Medien) mit diskursiven Beziehungen auf Ebene kuratorischer Praxis (durch eine Interpretation der Funktion der künstlerischen Wissensproduktion für die Wissensproduktion im sozialen und kulturellen Raum) liegt auch in einem falschen Verständnis von Politik und Ästhetik. So präzise Sheikh anderswo dieses Verhältnis thematisiert,26 stellt sich hier die Frage, ob eine ästhetische Erfahrung, die in der Auseinandersetzung mit den Kunstwerken gemacht wird, sich wirklich in eine politische transformieren lässt. Die kontinuierliche Debatte über die Möglichkeit des transformatorischen Potenzials künstlerischer und kuratorischer Praxis im Rahmen von Former West ist von einer performativen Qualität gekennzeichnet, die einen Handlungsraum als Möglichkeitsraum schafft. Dies geschieht besonders im Kontext der sogenannten ,Projektausstellung‘, in der verschiedene Formate nebeneinander und ohne notwendigerweise miteinander 26 Simon Sheikh, Exhibition Making and the Political Imaginary: On Modalities and Potentialities of Curatorial Practice, Lund 2012, S. 224.
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abb. 3 former west: documents, constellations, prospects, haus der kulturen der welt, berlin, 18.–24. märz 2013. ansicht: teilnehmerinnen und teilnehmer von learning place, 18. märz 2013
abb. 4 former west: documents, constellations, prospects, haus der kulturen der welt, berlin, 18.–24. märz 2013. ansicht: li ran, beyond geography, videoinstallation, 2012
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abb. 5 former west: documents, constellations, prospects, haus der kulturen der welt, berlin, 18.–24. märz 2013. ansicht: christoph schlingensief, ausländer raus – bitte liebt österreich, installation von nina wetzel in zusammenarbeit mit matthias lilienthal, filme von paul poet, 2000/2013
in Einklang gebracht zu werden als performative Strategie kuratorischer Praxis Ausdruck finden.27 Als Beispiel dafür kann das einwöchige Berliner Kapitel Former West: Dokumente, Konstellationen, Ausblicke beschrieben werden, das im März 2013 im Haus der Kulturen der Welt stattfand. Performances, Ausstellungen, Seminare, Vorträge, Diskussionen etc. ereigneten sich gleichzeitig (Abb. 3–6). Gerahmt wurden die verschiedenen thematischen Auseinandersetzungen mit Begriffen wie ‚Kunstproduktion‘, ‚Infrastruktur‘, und ‚Weltbürgertum‘ sowie von einem Verständnis von „Kunst als Plattform für Suche und Verhandlung, Vorschlag und gemeinsame Erörterung sowohl der Zukunft der Welt als auch der Geschichten der Welt seit 1989“.28 Boris Groys thematisierte die spezifische Stellung der Kunstproduktion im aktuellen gesellschaftlichen Kontext, um herauszufinden, in welchem Ausmaß Kunst zeitgenössische Gesellschaft transformieren könnte.29 Diese Frage zu beantworten, ist für Former West eine erstrebenswerte Form von Realität, jedoch nicht in einer naiven oder blauäugigen Weise. Auf der Ebene kuratorischer Praxis übersetzt sich diese Ambition in die Frage, wie ein Handlungsraum erschaffen werden kann, der zum einen eine öffentliche Plattform 27 Dabei verweist Lind auf die Ähnlichkeit zu Strategien der post-production in der Popkultur. Maria Lind (Hg.), Performing the Curatorial Within and Beyond Art, Berlin 2012, S. 12. 28 Ausst.-Kat. Haus der Kulturen der Welt/BAK, basis voor actuele kunst 2013 (wie Anm. 3), S. 12. 29 Ebd., S. 18.
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abb. 6 former west: documents, constellations, prospects, haus der kulturen der welt, berlin, 18.–24. märz 2013. ansicht: james benning, twenty cigarettes, video, 2011 (links) und chto delat (what is to be done?), perestroika timeline, videoinstallation, 2009/2013 (rechts)
für individuelle Auseinandersetzungen mit diesem Thema bietet, und zum anderen die Notwendigkeit einer Politisierung der Ausstellungsräume hin zu einer politischen Öffentlichkeit vermittelt, um den produzierten Raum als zwar im Feld der Kunst geschaffenen, aber nicht bloß kunst-immanenten Handlungsraum zu begreifen – eine notwendige Bedingung, um über das Verhältnis von Kunst und Wirklichkeit als in flux nachzudenken.
performativität und politisierung In der Auseinandersetzung mit den Produktionsprozessen wurden bei Former West die gegenwärtigen Bedingungen von Kunst- und Kulturproduktion im Rückgriff auf Erfahrungen der Vergangenheit und in Bezug auf Annahmen für die Zukunft verhandelt. Diskursive und ausstellende Strategien liefen im Performativen zusammen. Informationsvermittlung und Erfahrungsaustausch gingen fließend ineinander über. Die Präsentation von Kunstwerken, der statische Ausstellungsbereich, wurde umgeben bzw. überlagert von einer Erlebnispädagogik mittels Verräumlichung eines Ereignis- und Aufführungscharakters des diskursiven Kontextes. Dies konstituierte eine unmittelbar eigene Lebenswirklichkeit und erfüllt damit ein Kriterium von Performativität. Erika Fischer-Lichte führt den Begriff auf John L. Austin zurück, der ihn von dem Verb to perform ableitete als Ausdruck für „eine Handlung voll-
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ziehend“.30 Im Sinne seiner Sprechakttheorie bedeutet performativ eine Äußerung, mit der nicht bloß ein bestehender Sachverhalt beschrieben wird, sondern ein neuer Sachverhalt geschaffen wird. Ein Sprechakt sagt nicht nur etwas, sondern vollzieht genau die Handlung, von der gesprochen wird. Die Äußerung ist somit selbstreferenziell und insofern wirklichkeitskonstituierend. „Performative Äußerungen richten sich immer an eine Gemeinschaft, die durch die jeweils Anwesenden vertreten wird. Sie bedeutet in diesem Sinne die Aufführung eines sozialen Aktes.“31 Somit haben performative Äußerungen eine transformative Funktion, denn sie stellen die soziale Wirklichkeit her, von der sie sprechen. Für die Ästhetik des Performativen ist im Besonderen charakteristisch, dass dieses in der Lage ist, die Dichotomie begrifflicher Schemata zu destabilisieren.32 Durch die Vieldeutigkeit, die den Äußerungen zugeschrieben werden können, gerade dadurch, dass sie selbstreferenziell sind, bringen sie gewohnte Deutungsmuster ins Wanken und öffnen so einen Handlungsraum, der auf einem Konflikt mit dem Erwartbaren beruht. Von einer performativen Qualität kuratorischer Praxis kann man in Hinblick auf die genuine Konstitutionsleistung sprechen, die auf das Ereignis selbst als auch auf seine spezifische Materialität im Prozess der Situationsbildung zutrifft, und die von den Handlungen aller Beteiligten überhaupt erst hervorgebracht wird. Im Sinne Marcharts bildet sich so eine Stellungnahme als Gegenposition, was eine Konfliktherstellung überhaupt erst möglich macht. Es entsteht ein Konflikt zwischen den Kategorien, mit denen wir Kunst erfahren, rezipieren und interpretieren, und der Ereignishaftigkeit, mit der sie präsentiert wird. Annahmen und Erwartungen treten in einen Gegensatz zu der wirklichen Situation. In unserer Wahrnehmung verschwimmt der Unterschied zwischen Kunst und Wirklichkeit bzw. die Möglichkeit zu einer alternativen Wirklichkeit wie im Falle von Former West. Allein der Begriff hat schon einen performativen Charakter, denn er konstituiert sich immer und immer wieder durch die Zuschreibungen von Bedeutungen, die sich in Seminaren, Publikationen, Ausstellungen etc. vollziehen. So kann das Performative eine Politisierung im Sinne einer Rezeptionsästhetik hervorrufen, der ein Wandel vom Werk- zum Ereignisbegriff zugrunde liegt, so wie er auch auf Sheikhs Ausstellung zutrifft. Für das Performative, das das Ausstellende (Repräsentative) und Diskursive (Produzierende) zur Sprache bringt, kann man keine Unterscheidung mehr treffen hinsichtlich Produktion, Werk und Rezeption. Vielmehr ist es das Ereignis bzw. die Situation, die im Moment der Wahrnehmung entsteht und ihre eigene spezifische Ästhetik hat, auch wenn diese – und dies war Kern meiner Kritik an Sheikhs Ausstellung – weder gleichzusetzen ist mit einer Ästhetik politischen Aktivismus noch sich, wenn auch nur metaphorisch, in eine Vision von Wirklichkeit übertragen lässt. „Indem sie Krise und Instabilität als Wissen begreift, stellt diese Gedankenlandschaft nicht nur infrage, wie die Dinge stehen, sondern entwirft aktiv Vorstellungen, wie diese Dinge anders sein und welche Formen sie annehmen könnten. Die Kunstwerke im Zentrum dieser Konstellationen folgen dieser Logik. Sie sind Korpora des Wissens: 30 Erika Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, Frankfurt am Main 2004, S. 31. 31 Ebd., S. 32. 32 Ebd., S. 31f.
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sowohl Dokumente, die uns zu den Rissen und Spalten führen, durch die wir ein Bild von der ‚Ehemaligkeit‘ des Westens erlangen könnten, als auch Ressourcen für eine andere Art zu denken.“33
Im Falle des Berliner Kapitels überlagert die performative Qualität der Situationsbildung jegliche Formate des Ausstellenden oder Diskursiven, die in ihr stattfinden. Die Frage, wie dieses experimentelle Arrangement verschiedener Formate und Inhalte – das im Gegensatz zu Sheikhs Ausstellung weniger stark gerahmt wird von einem begrifflichen Korsett als vielmehr versucht, einen solchen Rahmen in der Ereignishaftigkeit der Situation selbst herzustellen – seine transformative Funktion erreicht, bleibt bestehen. Diese Frage zu beantworten, heißt, über Formen der Politisierung kuratorischer Praxis durch performative Strategien zu sprechen. Dafür wage ich die These, dass notwendigerweise ein Autonomieverlust von Kunst nicht nur in Kauf genommen, sondern herausgefordert wird. Die Autonomie der Kunst setzt eine grundlegende Differenz zwischen Kunst und Wirklichkeit voraus, die sie zugleich postuliert. Dieser Behauptung wird im Beispiel widersprochen: In Anlehnung an die Entwicklung der Politisierung von Kunst seit Ende der 1960er-Jahre sei es die transformative Funktion von Kunstproduktion, alternative Wirklichkeiten zu konstituieren und zur Debatte zu stellen.34 Der Prozess der Politisierung für kuratorische Praxis bedeutet hier eine performative Hervorbringung der Materialität von Situationen, die Dichotomien wie Kunst und Wirklichkeit, ästhetisch vs. sozial/politisch zum Einstürzen bringen – ob im Format der Ausstellung, des Seminars, der Performance etc. Mit Bezug auf die Wahrnehmung der Veranstaltungen im Rahmen des Berliner Kapitels fällt eine Unterscheidung zwischen Kunst und Wirklichkeit für die Ereignishaftigkeit kuratorischer Praxis zunehmend schwer. Für mich persönlich war der bleibende Eindruck des Kongresses eine Synthese von überschwänglicher Euphorie gepaart mit unglaublicher Frustration, das vor Ort produzierte Gedankengut zu Alternativen hegemonialer Kulturproduktion in den eigenen Alltag kuratorischer Praxis integrieren zu wollen. Man könnte sagen, dass ich Opfer der Politisierung geworden bin, denn ich habe mich so sehr auf einen Konflikt mit meinen Vorstellungen und Wahrnehmungen eingelassen, dass mich die Ereignishaftigkeit der Situation voll und ganz eingenommen und für den Moment eine Gleichsetzung von Kunst und Wirklichkeit provoziert hat. Die unüberbrückbare Differenz beider zu begreifen und zu überwinden, bedeutet, die Strategien der Politisierung als Konfliktsuche mit dem Autonomieanspruch von Kunst mit und durch kuratorische Praxis zu verstehen, der kontinuierlich herausgefordert wird. Dabei ist nicht eine Aufhebung jeglicher Differenz zwischen Kunst und Wirklichkeit das Ziel. Vielmehr stellt die permanente Aneinanderreihung als Ergebnis kuratorischer Performativität einen wesentlich effektiveren Konflikt im Auge des Betrachters und der Betrachterin bzw. des Teilnehmers und der Teilnehmerin her.
33 Ausst.-Kat. Haus der Kulturen der Welt/BAK, basis voor actuele kunst 2013 (wie Anm. 3), S. 62. 34 Ebd.
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Wenn man über Politisierung als Maßnahme kuratorischer Praxis spricht, liegt der Begriff der kuratorischen Intentionalität nahe. Dafür beschreibt Sheikh als Maßnahme zur Herstellung von Öffentlichkeit die vollkommene Repräsentation aller Stimmen in der Institution als offenes Dialogforum, das gleichzeitig die Bedingungen seiner eigenen Potenzialität zu Kommunikation produziert, als „eine logische Unmöglichkeit“.35 Mit Bezug auf Mouffe rät er indes der Institution, sich vom Ziel, Bedeutungshoheiten zu schaffen, zu verabschieden und sich indes als Plattform zu begreifen, die Raum für Konflikte schafft. So würde die Institution nicht mehr als traditioneller Raum verstanden werden, der eine stabile Form sozialer Ordnung repräsentiert und somit hegemoniale Ansprüche vertritt, sondern als Produzentin einer Instabilität und Gegenposition, die einen Handlungsraum im Sinne eines Verhandlungsraumes eröffnet. Sheikh betont so die Rolle des Kurators bzw. der Kuratorin als eine, die Kritik, Konflikt und Dissens in die institutionelle Praxis als demokratisches Projekt trägt, wofür Former West beispielhaft verschiedene Strategien an den Tag gelegt hat, die sich ergänzen, auch wenn sie miteinander in eine konkurrierende Situation treten. Schlussendlich kann man von einer Politisierung kuratorischer Praxis sprechen, gerade weil die Frage nach der transformativen Funktion von Kunst in Wirklichkeit nicht gelöst, sondern produktiv an den Pranger gestellt worden ist.
diskussion elisabeth fritz: Du hast beschrieben, dass die Euphorie und der Anspruch, die Welt zu verändern bzw. neue Konzepte für die Welt zu erschaffen, bei Former West sehr stark war. Warum ist es Deiner Einschätzung nach wichtig, dass ein solches Anliegen explizit formuliert wurde? So verliert sich in zeitgenössischen politischen Ausstellungen doch vieles in kleineren Aktionen und dem interventionistischen Handeln in kleineren Strukturen. Oft begnügen sich Projekte heute mit dem Ziel, einen Teil bzw. Mikrostrukturelles zu bewegen. Aber hier wird dieser große, globale Anspruch formuliert. Wurde das denn während der Konferenz in Berlin thematisiert? Und welche Rolle spielt der Anspruch für die beschriebene Euphorie des Gesamtprojekts?
wiebke gronemeyer: Ich glaube, ganz anfänglich im Jahr 2009 war dieser Anspruch in der persönlichen Erfahrung begründet, dass Maria Hlavajova aus dem sogenannten ,former east‘ stammt und nach 1989 in den Westen kam, womit sich auch viele der anderen Mitwirkenden identifizieren konnten. Das sieht man in den ersten Interviews aus den Anfangsjahren, z. B. mit Etienne Balibar, der sich fragt: was hat sich eigentlich hier verändert, müssten wir nicht auch über einen ‚former west‘ sprechen? Das Problem, was ich jetzt bei Former West sehe, ist, dass das Projekt sich über die Jahre sozusagen selbst institutionalisiert und komplett eigene Strukturen geschaffen hat, wobei der anfangs formulierte Anspruch immer noch mitschwingt. So musste man sich die Frage stellen: Was ist eigentlich zwischen 2009 und 2013 passiert? Das wurde in der Lecture von Franco „Bifo“ Berardi thematisiert, der von einem Game over in Bezug auf 35 Simon Sheikh, The Trouble With Institutions, or Art and Its Publics, in: Nina Möntmann (Hg.), Art and Its Institutions: Current Conflicts, Critique and Collaborations, London 2006, S. 142–150, hier S. 149.
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die Identifikation mit der einstigen Ambition gesprochen und in diesem Sinne fast schon das Scheitern gefeiert hat.36 Zum andern war die Euphorie in der Woche in Berlin damit belegt, dass so viele Studierende anwesend waren und jede Diskussion, ob unter sich oder in dem stets gefüllten großen Vortragssaal, unheimlich angeheizt war. Man fragte sich: Was könnte eine Alternative sein, wie könnten wir es anders machen? Die Referenz zu Bruno Latour und dem Moment des Gathering37 war dabei immer sehr wichtig. Zeitgleich hat sich für mich die Frustration mit dieser Euphorie überlagert. Ich würde mir wünschen, dass Former West die Frage nach dem Verhältnis ihres heroischen Anspruches zu den erzeugten Handlungen und Strukturen in Zukunft kritischer reflektiert.
verena krieger: Sie haben relativ scharf den Vergleich zwischen Simon Sheikhs Ausstellung 2010 und der Großveranstaltung 2013 in Berlin konturiert und anhand der Begriffe des Diskurses und des Performativen binär gegenübergestellt. Bei Sheikh hatten Sie den Status der Werke, der durch die Diskursivierung festgeschrieben wurde und ihnen praktisch einen illustrativen Charakter verlieh, ziemlich deutlich gemacht. Muss man nicht auch Ähnliches für die Veranstaltung von 2013 sagen? Zeigte sich dort nicht auch dieses ‚In-die-Ecke-Stellen‘, die Werke als Rahmung oder eine Art Dekoration am Rande zu behandeln und sie nicht mehr wirklich selbst zur Sprache kommen lassen?
wiebke gronemeyer: Da würde ich Ihnen auf jeden Fall zustimmen. Auch ich stellte mir die Frage, ob das Ausgestellte nur noch Dekoration ist oder den Raum für die Ruhepausen bildet, die man zwischen zahlreichen Vorträgen an einem Tag benötigt. Wäre dann die Folgerung, dass man die Werke einfach weglassen könnte? Oder ist dieses Zusammenstoßen sogar notwendig, um letztendlich ein Scheitern der originären kuratorischen Aufgabe, Kunstwerke zu versammeln und zur Präsentation zu bringen, aufzuzeigen? Haben die Former West-Kuratoren sich bewusst mit diesem ‚Scheitern‘ auseinandergesetzt? Oder haben sie die Werke tatsächlich einfach nur in die Ecke gestellt, um allem anderen Platz zu machen? Sicherlich gibt es Parallelen zur Ausstellung von Sheikh, auch wenn in Berlin der Status der Werke nicht im gleichen Maße fixiert war. Die Frage ist, ob genau das den Veranstaltern die Freiheit gibt, ihre eigene Autonomie zu entfalten. Kuratorische Entscheidungen, wie etwa die Hängung der Werke auf Bauzäunen, die durchlässig sind und den Blick auf die anderen Installationen und Diskussionsveranstaltungen freigeben, lassen jedenfalls vermuten, dass die Umkehr von einer Rahmung der Ausstellung durch den Diskurs zu einer Rahmung des Diskurses durch die Ausstellung hier explizit reflektiert wurde.
rachel mader: Ist dieser Umstand, dass das Werk im Diskurs verschwindet oder ihn nur noch illustriert, nicht erstaunlich? Wird das nicht von Künstlerinnen und Künstlern aufgegriffen, die das monieren und sich in dieser Position eigentlich nicht wohlfühlen? Und wenn das nicht der Fall ist, wie erklärt man sich das? 36 Eine Aufzeichnung des Vortrages mit dem Titel Game Over (?) von Franco „Bifo“ Berardi am 19. März 2013 im Rahmen von Former West ist abrufbar unter: http://www.formerwest.org/ DocumentsConstellationsProspects/Contributions/GameOver (Letzer Zugriff: 9. September 2015). 37 Vgl. Bruno Latour, Why Has Critique Run out of Steam? From Matters of Fact to Matters of Concern, in: Critical Enquiry 30/2004, S. 225–248, hier S. 233.
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wiebke gronemeyer
wiebke gronemeyer: Das habe ich mich auch gefragt, und ich habe bei der Berliner Veranstaltung mit einigen Mitgliedern des Kollektivs Chto Delat?/What is to be done? oder Künstlern wie Stefan Panhans darüber gesprochen, deren Werke im Rahmen der Ausstellung Dissident Knowledges38 ausgestellt wurden. Gerade bei Stefan Panhans’ Arbeit fiel mir unangenehm auf, dass man quasi bis zum Ende des Gebäudes unten in den Keller hinter den Toiletten gehen musste, um sie überhaupt sehen zu können. Das ist aber ein Problem, das bei vielen Großausstellungen auftritt. Vielleicht gibt es bei den Künstlerinnen und Künstlern mittlerweile eine Abgebrühtheit, das in Kauf zu nehmen, um dafür Popularität und mediale Aufmerksamkeit zu bekommen. Man hat an der Ausstellung teilgenommen, scheint auf der Liste der Contributors auf und irgendwann ist es in der Erinnerung dann gleich, wie die Präsentation vor Ort aussah. Das wäre eine Erklärung. Zum anderen war es bei Simon Sheikhs Ausstellung z. B. so, dass die Künstler auch eingeladen waren, in die anschließende Publikation aufgenommen zu werden. Sie waren also alle noch über die zur Verfügung gestellten Kunstwerke hinaus an den Projekten beteiligt. Und gerade wenn so ein Projekt eine kommunikative Infrastruktur für sich erschafft, ist es ganz schwer sich dem zu widersetzen und es in der Rückschau zu kritisieren.
38 Former West: Dokumente, Konstellationen, Ausblicke, Ausst.-Kat. Haus der Kulturen der Welt Berlin/BAK, basis voor actuele kunst, Utrecht 2013, hier S. 78f., 126f.
autorinnen und autoren
andrea bátorová
Kunsthistorikerin. Seit 2011 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für kulturelle und visuelle Studien an der Akademie der Bildenden Künste und für Design in Bratislava, Slowakei. 2007–2009 wissenschaftliche Volontärin an der Staatsgalerie Stuttgart. Promotion an der Universität Regensburg mit einer Arbeit über die Aktionskunst in der Slowakei (Publikation auf Deutsch 2009 in Berlin und auf Slowakisch 2011 in Bratislava). Regelmäßige Publikationen in kulturellen Periodika wie Profil – Magazin für zeitgenössische Kunst, Jazdec, Flash art etc. Mitglied bei AICA und im Kernteam des DFG-Projekts Aktionskunst jenseits des Eisernen Vorhangs (2015–2018, Institut für Theaterwissenschaft, FU Berlin). Laufendes Habilitationsprojekt zur Topografie der Repräsentationen des Körpers und seines Bezugs zum Raum in der osteuropäischen alternativen und inoffiziellen Kunst sowie zur Kontextualisierung der performativen Praktiken im mitteleuropäischen Raum nach 1945. Publikationen u. a.: Celebration, Festival, and Holiday in Former Czechoslovakia in the 1960s and 1970s as Art for Alternative and Non-Official Art, in: Centropa. A Journal of Central European Architecture and Related Arts 12.1/2012, S. 77–91; Akčné umenie na Slovensku v 60. rokoch 20. storočia. Slovart, Bratislava 2011; Aktionskunst in der Slowakei in den 1960er Jahren, Berlin 2009 (Dissertationspublikation); Alternative Tendenzen in der Slowakei in den 1960er Jahren und ihre Parallelen zu Fluxus, in: Fluxus East. Fluxus-Netzwerke in Mittelosteuropa, Ausst-Kat. Künstlerhaus Bethanien u. a., Berlin 2007, S. 163–176. beatrice von bismarck
Professorin für Kunstgeschichte und Bildwissenschaft, Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig. 2009 Initiatorin des Studiengangs Kulturen des Kuratorischen. 2000–2012 Programmleiterin der Galerie der HGB. Mitbegründerin und -leiterin des /D/O/C/K-Projektbereich der HGB. 1993–1999 Universität Lüneburg, Mitbegründerin und -leiterin des Kunstraums der Universität Lüneburg. 1989–1993 Städelsches Kunstinstitut, Frankfurt am Main, Abteilung 20. Jahrhundert. Aktuelle Forschungsgebiete: das Kuratorische, der künstlerische Arbeitsbegriff, kulturelle Praxis und Globalisierungseffekte, Funktionen des postmodernen Künstlerbilds. Publikationen u. a.: Timing – On the Temporal Dimension of Exhibiting (Hg. mit Rike Frank/Benjamin Meyer-Krahmer/Jörn Schafaff/Thomas Weski), Berlin 2014; Cultures of the Curatorial (Hg. mit Jörn Schaffaf/Thomas Weski), Berlin 2012; Grenzbespielungen. Visuelle Politik in der Übergangszone, Köln 2005; Kuratorisches Handeln – Immaterielle Arbeit zwischen Kunst und Managementmodellen, in: Marion von Osten (Hg.), Norm der Abweichung, Zürich/Wien/New York 2003, S. 81–98; Interarchive. Archivarische Praktiken und Handlungsräume im zeitgenössischen Kunstfeld (Hg. mit Hans Ulrich Obrist/Diethelm Stoller/Ulf Wuggenig), Köln 2002.
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autorinnen und autoren
hans d. christ
Kurator und Autor. Seit 2005 Direktor des Württembergischen Kunstvereins Stuttgart zusammen mit Iris Dressler. 2004 Ko-Kurator der 3rd Seoul International Media Art Biennale, Seoul Museum of Art, Seoul. Seit 2001 Lehraufträge im In- und Ausland, u. a. in Iowa City, Zürich, Seoul und Stuttgart. 1996 Gründung von hartware projekte (seit 2001 hartware medien kunstverein) in Dortmund zusammen mit Iris Dressler. Seit 1993 diverse Projekte an der Schnittstelle von künstlerischer Lehre, Aneignung öffentlicher Räume und kuratorischer Praxis (bis 1996 eigene künstlerische Praxis). Zahlreiche Herausgabe von und Publikationen in Ausstellungskatalogen sowie essayistische Textproduktion über Raum, Stadt, Politik, Gemeinschaft, Gender, Medien in Rückkoppelung zu Fragen des Zu-zeigen-Gebens zeitgenössischer Kunst. Ausstellungen im Württembergischen Kunstverein, Stuttgart u. a: Die Bestie und ist der Souverän, Koproduktion mit dem MACBA – Museu d’Art Contemporani de Barcelona, 17. Oktober 2015–17. Januar 2016; Ein umherschweifender Körper. Sergio Zevallos in der Gruppe Chaclacayo, 18. Oktober 2014–11. Januar 2015; Acts of Voicing. Über die Poetiken/Politiken der Stimme, 13. Oktober 2012–13. Januar 2013; Die Chronologie der Teresa Burga. Berichte Diagramme, Intervalle/29.09.11, 30. September 2011–8. Januar 2012; Rabih Mroué. Ich, der Unterzeichnende Das Volk fordert, 22. Mai–31. Juli 2011; Michaël Borremans. Eating the Beard. Zeichnungen, Malerei, Film, 20. Februar–1. Mai 2011; Subversive Praktiken. Kunst unter Bedingungen politischer Repression, 60er–80er/ Südamerika/Europa, 30. Mai–2. August 2009; Stan Douglas. Past Imperfect. Werke 1986–2007, 15. September 2007–6. Januar 2008; Anna Oppermann. Revisionen der Ensemble Kunst, 17. Mai–12. August 2007. hans dickel
Seit 2002 Professor für Neuere Kunstgeschichte an der Universität Erlangen-Nürnberg. 1996–2002 Lehrstuhlvertretungen am Institut für Kunstgeschichte der Freien Universität Berlin, Gastdozenturen in Harvard und Prag. 1996 Habilitation an der Universität Hamburg mit einer Arbeit zum Thema Kunst als zweite Natur. Studien zum Naturverständnis in der modernen Kunst (Berlin 2006). 1988–1993 Wissenschaftlicher Assistent für Kunstgeschichte an der Hochschule der Künste Berlin. Schwerpunkte in Forschung und Lehre: Moderne und zeitgenössische Kunst, Die Kunst und die Künste, Kunst im Stadtraum, Natur und Landschaft, Zeichnung. Publikationen u. a.: Crossovers. The Art of Rodney Graham, Roni Horn and Diana Thater between Technology and Nature, in: Camilla Skovbjerg Paldam/Jacob Wamberg (Hg.), Art, Technology and Nature, Renaissance to Postmodernity, London 2015, S. 199–210; Unter Druck. Zur Performance-Kunst in der späten DDR am Beispiel der Dresdner Autoperforationsartisten, in: Claudia Emmert/Jessica Ullrich (Hg.), Affekte, Berlin 2015, S. 194–205; Das Frauenbild der Medien im Zerrspiegel der Kunst. Cindy Sherman und die Ästhetik der ‚Image Bank‘, in: Diana Lohwasser/ Jörg Zirfas (Hg.), Der Körper des Künstlers, München 2014, S. 201–218; Orte der
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Erinnerung – Formen des Gedenkens. Mahnmale zur NS-Zeit im deutsch–deutschen Vergleich, in: Peter Buhmann/Hans Dickel (Hg.), Ästhetische Bildung in der Erinnerungskultur, Bielefeld 2014, S. 97–118; Zeichnen seit Dürer. Die süddeutschen und schweizerischen Zeichnungen der Renaissance in der Universitätsbibliothek Erlangen (Hg.), Petersberg 2014; Künstlerbücher mit Photographie seit 1960, Hamburg 2008. gürsoy dogˇ tas¸
Kurator, Kritiker und Kunsthistoriker. Seit 2015 Promotionsvorhaben in Kunstgeschichte zum Thema Agonistische Ausstellungstrategien eines hegemonialen Ausstellungskomplex: Über die Politiken der 7ten Berlin und 13ten Istanbul Biennale an der Ludwig-Maximilians-Universität in München, Vorträge dazu u. a. bei den Symposien Situating the Global Art, Freie Universität Berlin (2015); Türkeiforschung in Deutschland III – Die Türkei im Spannungsfeld von Kollektivismus und Diversität, Universität Hamburg (2014). 2010–2012 Kurator im Kunstraum München. 2007–2013 Herausgeber des Artistzine Matt Magazine. Ausstellungen u. a. Die kalte Libido – Sammlung Goetz im Haus der Kunst, Haus der Kunst, München, 26. Juni 2015–28. Februar 2016; Parfümiert mit Dynamit, basis e. V., Frankfurt am Main, 17. Juli–20. August 2015; Das Kleid sitzt nicht/The Dress Doesn’t Fit, Charim Galerie Wien, 11. Oktober–14. November 2013. Publikationen u. a. Über Ger van Elk im Kunstverein München, Texte zur Kunst, Web-Archiv, 7. Oktober 2014, www.textezurkunst.de/articles/dogtas-gervanelk/ (Letzter Zugriff: 8. September 2015); Keine Wut im Bauch, in: Texte zur Kunst 95/2014, S. 210–212; Jochen Schmith, in: Frieze d/e 13/2014, S. 133–134; „Die Vergangenheit ist da, damit wir versuchen können, sie hinsichtlich unseres begehrenden Blicks zu verstehen…“. A Conversation with curator Tamar Garb, in: Contemporary and. Platform for international art from African perspectives, 20. Juni 2013, www.contemporaryand. com/de/magazines/the-past-is-there-for-us-to-try-to-understand-in-relation-to-ourown-desiring-gaze/ (Letzter Zugriff: 8. März 2016). elisabeth fritz
Kunsthistorikerin und Soziologin. Seit 2012 wissenschaftliche Assistentin am Lehrstuhl für Kunstgeschichte der Friedrich-Schiller-Universität Jena. 2009–2012 Stipendiatin am Doktoratsprogramm Kategorien und Typologien in den Kulturwissenschaften, Karl-Franzens-Universität Graz, dort 2012 Promotion. 2008–2009 Universitätsassistentin am Institut für Kunstgeschichte der Universität Wien. 2006–2008 Kuratorische Assistentin und Kunstvermittlerin in verschiedenen Kunstinstitutionen in Wien. Laufendes Habilitationsprojekt über Konzepte und Repräsentationen der Geselligkeit in der französischen Kunst des 18. Jahrhunderts. Publikationen u. a.: Authentizität – Partizipation – Spektakel. Mediale Experimente mit ,echten Menschen‘ in der zeitgenössischen Kunst, Köln/Weimar/Wien 2014 (Dissertationspublikation); Kategorien zwischen Denkform, Analysewerkzeug und
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autorinnen und autoren
historischem Diskurs, Heidelberg 2012 (Hg. mit Rita Rieger/Nils Kasper/Stefan Köchel, mit eigenem Beitrag); Wiederholung des Unwiederholbaren. Reproduktion und Selbsthistorisierung im Werk von Michael Asher, in: Claudia Tittel (Hg.), Die Kunst der Re-Produktion. Strategien der Wiederholung in zeitgenössischer Kunst, Fotografie und Film, Berlin 2016 [in Drucklegung]; Towards a Critical Mode of Spectacularity: Thoughts on a Terminological Review, in: esse. arts + opinions 81/2014, S. 4–11. fiona geuß
Kunsthistorikerin und Doktorandin am Kunsthistorischen Institut der Freien Universität Berlin zum dialogischen Kunstwerk und Formen des Gesprächs in künstlerischen Praktiken seit den 1970er-Jahren. 2010–2012 Ko-Organisatorin des Veranstaltungsortes Salon Populaire in Berlin Schöneberg. 2015 Mitbegründerin der Initiative A Public Library in Berlin. 2014 Visiting Curator bei Gertrude Contemporary, Melbourne. Seit 2012 freie kuratorische Tätigkeit in Berlin, u. a. für den Projektraum Archive Kabinett. Seit 2010 Seminare im Rahmen der autodidaktischen, pädagogischen Plattform The Public School Berlin. Vorträge u. a.: Social Responsibility and Art since the 1960s, University of Essex, 22. Mai 2015; Centre for Ideas, Victorian College for the Arts, Melbourne, 13. März 2014; Formen/Modelle der Bildung und Selbstbestimmung, NGBK Berlin, 14. März 2013. Publikationen u. a.: The People’s Choice – Floating Dialogues. How artists create publics through conversation formats, in: Seismopolite Journal of Art and Politics 12/2015, www.seismopolite.com/the-peoples-choice-floating-dialogues-how-artists-create-publics-through-conversation-formats (Letzter Zugriff: 8. März 2016); Perform a Lecture! (Hg. mit Ellen Blumenstein, mit eigenem Beitrag), Berlin 2011. wiebke gronemeyer
Kuratorin und Kunstwissenschaftlerin. 2015 Promotion am Goldsmiths College, London, mit einer Arbeit über Wissensproduktion in kuratorischer Praxis. Seit 2013 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Department for Social Sciences and Humanities an der Jacobs University, Bremen. 2012 Visiting Scholar am Institute of Culture and Society an der University of Western Sydney. 2011–2012 Promotionsstipendiatin der Gerda-Henkel-Stiftung. Studium der Philosophie, Kunst- und Kulturwissenschaften und kuratorische Praxis in Valencia, Witten/Herdecke und London. Ausstellungen u. a.: No Neutral Ground, Deutsche Botschaft, London, 11.–20. Oktober 2011; Still Life with Modern Guilt, MOT International, London, 23. September–18. Dezember 2010; Im Moment des Verdachts (ko-kuratiert mit Thomas Thiel), Kunstverein Bielefeld, 6. Februar–25. April 2010. Publikationen u. a.: From Here Onwards, Back and Forth, in: Jonathan Monk (Hg.), WCW Catalogue, Hamburg 2014, S. 25–30; The Conundrum of Practice, in: Vera Mey (Hg.), Duty of Care, Auckland 2013, S. 31–40.
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elena korowin
Kunstwissenschaftlerin. Seit 2014 wissenschaftliche Assistentin am Institut für Kunstwissenschaft und Medienphilosophie der Hochschule für Gestaltung Karlsruhe. 2010–2013 Stipendiatin des Brigitte Schlieben-Lange Programms des Ministerium für Wissenschaft und Kunst des Landes Baden-Württemberg an der Hochschule für Gestaltung Karlsruhe. Dort Promotion 2013. 2010–2014 Kuratorische Assistentin und Kunstvermittlerin an der Staatlichen Kunsthalle Baden-Baden. Publikationen u. a.: Der Russen-Boom. Sowjetische Ausstellungen als Mittel der Diplomatie in der Bundesrepublik Deutschland, Köln/Weimar/Wien 2015 (Dissertationspublikation); Redaktion des Ausst.-Kat. Room Service. Vom Hotel in der Kunst und Künstlern im Hotel, Kunsthalle Baden-Baden, Köln 2014, darin: Das Hotel. Von Gastlichkeit und Repräsentation seit der Antike bis Heute, S. 17–25; Tatlins Geist, in: TATLIN. Neue Kunst für eine neue Welt. Internationales Symposium, Ostfildern 2013, S. 98–101. verena krieger
Seit 2011 Lehrstuhl für Kunstgeschichte an der Universität Jena. 2008–2011 Univ.-Professorin an der Universität für angewandte Kunst Wien. Zuvor Gast- und Vertretungsprofessuren in Stuttgart, Bern, Jena, München und Karlsruhe. Forschungsthemen: Ambiguität in der Kunst, Konzepte des Künstlers und der Kreativität, Avantgarde und Politik, Methodenfragen der Kunstgeschichte, Genderkonstruktionen in Kunst und Kunsttheorie der frühen Neuzeit und Moderne. Buchpublikationen u. a.: Was ist ein Künstler? Genie – Heilsbringer – Antikünstler. Eine Ideen- und Kunstgeschichte des Schöpferischen, Köln 2007; Kunst als Neuschöpfung der Wirklichkeit. Die Anti-Ästhetik der russischen Moderne, Köln/Weimar/Wien 2006. (Mit-)Herausgeberschaft mit eigenen Beiträgen: Sebastian Jung. Winzerla. Kunst als Spurensuche im Schatten des NSU, Jena 2015; BrandSchutz // Mentalitäten der Intoleranz. Begleitbuch zur Kunstausstellung, Jena 2013; Die Wiederkehr des Künstlers. Themen und Positionen der aktuellen Künstler/innenforschung, Köln/Weimar/Wien 2011 (Hg. mit Sabine Fastert/Alexis Joachimides); Ambiguität in der Kunst. Typen und Funktionen eines ästhetischen Paradigmas, Köln/Weimar/Wien 2010 (Hg. mit Rachel Mader); Kunstgeschichte und Gegenwartskunst. Vom Nutzen und Nachteil der Zeitgenossenschaft, Köln/Weimar/Wien 2008; Metamorphosen der Liebe. Kunstwissenschaftliche Studien zu Eros und Geschlecht im Surrealismus, Hamburg 2006.
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autorinnen und autoren
barbara lange
Seit 2006 Lehrstuhl für Kunstgeschichte an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen. 1998–2006 Professorin an die Universität Leipzig. Nach der Promotion 1986 in Bonn und verschiedenen Museumstätigkeiten von 1989–1995 Assistentin am Kunsthistorischen Institut in Kiel, dort 1995 Habilitation mit einer Untersuchung über Joseph Beuys sowie Hochschuldozentin von 1996–1998. Laufende Projekte: Das lebendige Kunstwerk. Konzepte von Natur und Leben in der Kunst seit 1890 sowie Europa nach dem Krieg – Die Potenziale von Kunst in den späten 1940er und den 1950er Jahren. Publikationen u. a.: Einer für alle: Joseph Beuys, in: Hans Hubert u. a. (Hg.), Künstlerhelden?, Merzhausen 2015, S. 283–297; Indianer sein. Von der Sehnsucht nach dynamischer Existenz bei Aby Warburg und Marsden Hartley, in: Gerald Schröder/ Änne Söll (Hg.), Der Mann in der Krise? Visualisierung von Männlichkeit im 20. und 21. Jahrhundert, Wien/Köln/Weimar 2015, S. 19–36; Satire als politisches Statement: Cosima von Bonin, in: Rachel Mader (Hg.), Radikal ambivalent. Engagement und Verantwortung in den Künsten heute, Zürich/Berlin 2013, S. 195–208; Relationale Situationen. Soundinstallationen von Haroon Mirza, in: Olga Moskatova u. a. (Hg.), Körperlichkeit der Abstraktion, München 2013, S. 179–189. rachel mader
Kunstwissenschaftlerin. Seit September 2012 Leiterin am Forschungsschwerpunkt Kunst, Design & Öffentlichkeit, Hochschule Luzern – Design & Kunst; 2009–2014 Projektleitung Die Organisation zeitgenössischer Kunst – Künstlerische Praxis und Kulturpolitik in Großbritannien in der Nachkriegszeit (Habilitation). 2008–2009 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Gegenwartskünste an der Zürcher Hochschule der Künste. 2002–2008 wissenschaftliche Assistentin im Bereich Kunstgeschichte der Gegenwart an den Universitäten Bern und Zürich; 2006 Deubner-Preis für den Artikel Meister der Leuchtstoffröhren – Wie Dan Flavin zu seinem Stil kam. Publikationen u. a.: Funktionale Orte künstlerischer Forschung, in: Jens Badura/Selma Dubach/Anke Haarmann (Hg.), Künstlerische Forschung. Ein Handbuch, Zürich 2015, S. 255–258; radikal ambivalent – Engagement und Verantwortung in der Kunst heute (Hg.), Zürich 2014; Begegnen, interagieren, verhandeln – zur Neukonzeption von Öffentlichkeit in der partizipatorischen Kunstpraxis, in: Dagmar Danko/Oliver Moeschler/Florian Schumacher (Hg.), Perspektiven der Kunstsoziologie II. Kunst und Öffentlichkeit, Wiesbaden 2014, S. 95–111; How to move in/an institution, in: oncurating.org 21/2014: (New) Institution(alism), http://oncurating-journal.de/index. php/issue-21-reader/how-to-move-inan-institution.html#.Ve6_dpfUK7Q (Letzter Zugriff: 8. September 2015); Kollektive Autorschaft in der Kunst. Alternatives Handeln und Denkmodell (Hg.), Berlin 2012; Gillick the Discourse Star, in: Mona Schieren/ Andrea Sick (Hg.), Look at me. Celebrity Culture at the Venice Art Biennale, Nürnberg 2011, S. 96–110; Der Künstler als Unternehmer und die Folgen, in: Sabine Fastert/
autorinnen und autoren
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Alexis Joachimedes/Verena Krieger (Hg.), Die Wiederkehr des Künstlers. Themen und Positionen der aktuellen Künstler/innenforschung, Köln/Wien 2011, S. 206–215. anna schober
Kulturhistorikerin und Soziologin. Seit 2016 Professorin für Visuelle Kultur an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt. Leitung des DFG-Forschungsprojekts Everybody. Eine transnationale Ikonografie an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Dort seit 2011 u. a. Mercator Visiting Professor sowie Vertretungsprofessorin für Soziologie. 2009 Habilitation mit einer Arbeit zu Visueller Kultur und Geschichte von Öffentlichkeit an der Universität Wien. Internationale Forschungsaufenthalte u. a. an der Jan van Eyck Academie in Maastricht, am Centre for Theoretical Studies in the Humanities and Social Sciences, an der University of Essex und als Visiting Professor an der Universität Verona (2009–2011 gefördert durch das Marie Skłodowska-Curie Actions Research Fellowship Programme der Europäischen Kommission). Studium der Geschichte, Kunstgeschichte und Politikwissenschaften in Wien, Frankfurt am Main und Colchester. Publikationen u. a.: The Cinema Makers. Public Life and the Exhibition of Difference in South-Eastern and Central Europe since the 1960s, Bristol 2013; Ironie, Montage, Verfremdung. Ästhetische Taktiken und die politische Gestalt der Demokratie, München 2009; Blue Jeans. Vom Leben in Stoffen und Bildern, Frankfurt am Main 2001; Montierte Geschichten. Programmatisch inszenierte historische Ausstellungen, Wien 1994.
abbildungsnachweis
bátorová
(1, 2) Pierre Restany, INDE/Ailleurs, Bratislava 1996, S. 33, 65. (3) Foto: Jan Ságl. (4–6) Výtvarný život 14/1969, S. 8, 41, 40, (6) © VG Bild-Kunst, Bonn 2016. von bismarck (1, 2) Courtesy: Tensta Konsthall, Spånga, Foto: Jean-Baptiste Beranger, (2) © VG Bild-Kunst, Bonn 2016. (3) Jean Louis Maubant, Daniel Buren. Erinnerungsphotos 1965–1988, Basel 1989, o. S., © VG Bild-Kunst, Bonn 2016. (4) Courtesy Galerie für zeitgenössische Kunst, Leipzig, Foto: Hans Christian Schink. (5) http://www.wnyc.org/story/original-minimalists-far-ny (Letzter Zugriff: 14. September 2015), Foto: David Heald, © VG Bild-Kunst, Bonn 2016. (6) Courtesy Secession, Wien, Foto: Werner Kaligofsky. christ
(1, 3, 5, 6) Foto: Hans D. Christ. (2) Foto: Michael Ernst, © VG Bild-Kunst, Bonn 2016. (4) Courtesy NOH Suntag. dickel
(1–6) © DAAD, Berlin. (2, 4–6) © VG Bild-Kunst, Bonn 2016. geuß
(1) The Guerilla Art Action Group, 1969–1976. A Selection, New York 1978 (Reprint 2011), o. S. Courtesy 1978 John Hendricks und Jean Toche. (2) Julie Ault (Hg.), Show and Tell: A Chronicle of Group Material, London 2010, S. 33. Courtesy Group Material, New York. (3) Joshua Decter/Helmut Draxler u. a., Exhibition as Social Intervention: Culture in Action 1993, Köln 2014, S. 126. Courtesy Iñigo Manglano-Ovalle, Mary Jane Jacobs. Foto: John Mc Williams, Sculpture Chicago. (4) Grant Kester, Conversation pieces: community and communication in modern art, Berkeley 2004, S. 2. Courtesy WochenKlausur. (5) Wolfgang Zinggl (Hg.), WochenKlausur. Gesellschaftspolitischer Aktivismus in der Kunst, Wien 2001, S. 28. Courtesy WochenKlausur.
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abbildungsnachweis
gronemeyer
(1, 2) Foto: Victor Nieuwenhuis. (3–6) Foto: Marcus Lieberenz/bildbuehne.de. korowin
(1, 5) Foto: Sacharow-Zentrum Moskau, Fotograf unbekannt, (1) © VG Bild-Kunst, Bonn 2016. (2) © Ilya und Emilia Kabakov, © VG Bild-Kunst, Bonn 2016. (3) http://www.gif.ru/people/roshal-fyodorov/city_578/fah_585 (Letzter Zugriff: 28. Juli 2015). (4) © Blue Noses Group, Courtesy Guelman Gallery. (6) Wiktoria Lomasko/Anton Nikolajew, Verbotene Kunst. Eine Moskauer Ausstellung, Berlin 2013, S. 127. krieger
(1, 2, 4, 5) © Jürgen Scheere/Fotozentrum FSU Jena, (5) © VG Bild-Kunst, Bonn 2016. (3) Foto: Rebekka Marpert. (6) Foto: Elisabeth Fritz. lange
(1–4) Helmut Friedel/Lothar Schirmer (Hg.), Joseph Beuys im Lenbachhaus und Schenkung Lothar Schirmer, München 2013, S. 97, 93, 150, 156, 189, © VG BildKunst, Bonn 2016. (5) http://en.wikipedia.org/wiki/File:Bochum_070217_035_00.jpg (Letzter Zugriff: 19. Februar 2015), © VG Bild-Kunst, Bonn 2016. (6) Barbara Paul, Mythos Mann. Ulrike Rosenbachs Videoinstallation Herakles – Herkules – King Kong (1977), in: Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft 25/1998, S. 199–200, hier S. 201, © VG Bild-Kunst, Bonn 2016. schober
(1, 2, 4) © Osthaus Museum Hagen, Fotos (Abb. 1–2): Stephan Schraps, (1) © VG Bild-Kunst, Bonn 2016. (3) © mit Dank an Bodo Baumunk, Foto: Margret Nissen. (5) © Wienbibliothek im Rathaus, Handschriftensammlung, Archiv Gerhard Fischer, mit freundlicher Genehmigung von Lea Bernhard. (6) © Volker März, VG Bild-Kunst, Bonn 2016.
KUNST – GESCHICHTE – GEGENWART HERAUSGEGEBEN VON VERENA KRIEGER
BD. 1 | VERENA KRIEGER,
BD. 3 | ELISABETH FRITZ
RACHEL MADER (HG.)
AUTHENTIZITÄT • PARTIZIPATION •
AMBIGUITÄT IN DER KUNST
SPEKTAKEL
TYPEN UND FUNKTIONEN EINES
MEDIALE EXPERIMENTE MIT
ÄSTHETISCHEN PARADIGMAS
„ECHTEN MENSCHEN“ IN DER
2010. 295 S. 99 S/W- UND 16 FARB. ABB.
ZEITGENÖSSISCHEN KUNST
FRANZ. BR.
2014. 336 S. 83 S/W-ABB. FRANZ. BR.
ISBN 978-3-412-20458-7
ISBN 978-3-412-22164-5
BD. 4 | VERENA KRIEGER, BD. 2 | SABINE FASTERT,
ELISABETH FRITZ (HG.)
ALEXIS JOACHIMIDES,
»WHEN EXHIBITIONS BECOME
VERENA KRIEGER (HG.)
POLITICS«
DIE WIEDERKEHR DES KÜNSTLERS
GESCHICHTE UND STRATEGIEN DER
THEMEN UND POSITIONEN DER
POLITISCHEN KUNSTAUSSTELLUNG SEIT
AKTUELLEN KÜNSTLER/INNEN-
DEN 1960ER JAHREN
FORSCHUNG
2016. 293 S. 59 S/W-ABB. FRANZ. BR.
2011. 362 S. 74 S/W-ABB. FRANZ. BR.
ISBN 978-3-412-50377-2
BR656
ISBN 978-3-412-20727-4
böhlau verlag, ursulaplatz 1, d-50668 köln, t: + 49 221 913 90-0 [email protected], www.boehlau-verlag.com | wien köln weimar
SANDRA FRIMMEL
KUNSTURTEILE GERICHTSPROZESSE GEGEN KUNST, KÜNSTLER UND KURATOREN IN RUSSLAND NACH DER PERESTROIKA (DAS ÖSTLICHE EUROPA: KUNST- UND KULTURGESCHICHTE, BAND 2)
Seit der Jahrtausendwende werden in Russland außergewöhnlich viele Gerichtsprozesse gegen Kunst, Künstler und Kuratoren geführt. Am Beispiel der beiden größten Prozesse gegen die Organisatoren der Ausstellungen »Achtung, Religion!« und »Verbotene Kunst 2006« befasst sich die Autorin mit dem Aushandeln der Bedeutung von Kunst(werken) und mit ihrer gesellschaftspolitischen Wirkung im Kontext des Gerichts. Im Fokus steht die Frage, mit welchen Mitteln durch die Prozesse versucht wird, einen normativen Kunstbegriff nicht nur argumentativ zu verhandeln, sondern auch dauerhaft und rechtlich verbindlich zu fi xieren. Wie wird diskutiert, was die Kunst in Russland heute soll, darf und kann? Wie wirkt die Kunst? Und wo liegen die Grenzen der Kunstfreiheit? 2015. 334 S. 11 S/W- UND 54 FARB. ABB. GB. 170 X 240 MM | ISBN 978-3-412-22511-7
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