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German Pages 202 [203] Year 2017
Hans-Christoph Goßmann Michaela Will (Hrsg.)
Wolfgang Seibert engagiert sich seit langem für jüdisches Leben in Norddeutschland. Ohne ihn würde es die Jüdische Gemeinde Pinneberg nicht geben. Er hat den Impuls zur Gründung dieser Gemeinde im Jahr 2002 gegeben und sich Mitstreiterinnen und Mitstreiter gesucht, um dies in die Tat umzusetzen. Dass die vielen russischsprachigen Gemeindeglieder in ihrer Gemeinde die Unterstützung bekommen, die sie z.B. bei Behördengängen benötigen, ist in erster Linie das Verdienst von Wolfgang Seibert. Nicht minder ist es sein Verdienst, dass diese Gemeinde gegen rechtsradikale Tendenzen in unserer Gesellschaft deutlich ihre Stimme erhebt. Das politische Engagement der Gemeinde nimmt u.a. darin Gestalt an, dass sie einem von Abschiebung bedrohten muslimischen Flüchtling und danach einem afghanischen Juden, der ebenfalls abgeschoben werden sollte, in der Synagoge Kirchensasyl gewährt hat. Auch dies wäre ohne den hohen persönlichen Einsatz von Wolfgang Seibert nicht möglich gewesen. Als Würdigung dieses Einsatzes wurde ihm der Menschenrechtspreis der Stiftung Pro Asyl verliehen. Wolfgang Seibert engagiert sich in hohem Maße für den interreligiösen Dialog. Dies spiegelt sich in den Beiträgen dieser Festschrift wider. Mit ihnen wollen jüdische, christliche und muslimische Weggefährtinnen und Weggefährten Wolfgang Seibert für sein Wirken danken.
ISBN 978-3-95948-271-4
Hans-Christoph Goßmann / Michaela Will (Hrsg.) - Siehe, wie gut und schön es ist...
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„Siehe, wie gut und schön es ist, wenn Geschwister beieinander wohnen“ Festschrift für Wolfgang Seibert Verlag Traugott Bautz GmbH
„Siehe, wie gut und schön es ist, wenn Geschwister beieinander wohnen“
Jerusalemer Texte
Schriften aus der Arbeit der Jerusalem-Akademie
herausgegeben von Hans-Christoph Goßmann
Band 18
Verlag Traugott Bautz
Hans-Christoph Goßmann Michaela Will (Hrsg.)
„Siehe, wie gut und schön es ist, wenn Geschwister beieinander wohnen“ Festschrift für Wolfgang Seibert
Verlag Traugott Bautz
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http://www.dnb.de› abrufbar.
© Verlag Traugott Bautz GmbH 98734 Nordhausen 2017 ISBN 978-3-9594 8-271-4
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Vorwort Wolfgang Seibert engagiert sich seit langem für jüdisches Leben in Norddeutschland. Die Jüdische Gemeinde Pinneberg würde es ohne ihn nicht geben. Er hat den Impuls zur Gründung im Jahr 2002 gegeben und sich Mitstreiterinnen und Mitstreiter gesucht, um dies in die Tat umzusetzen. Die Gemeinde entstand; es dauerte nicht lange, da hatte sie siebzig Gemeindeglieder. Heute sind es über 270. Dies ist bemerkenswert, denn bei dieser Gemeindegründung handelt es sich um eine echte Neugründung; vor der Shoa hatte es in Pinneberg keine jüdische Gemeinde gegeben. Dass die vielen russischsprachigen Gemeindeglieder in ihrer Gemeinde eine wirkliche Heimat gefunden haben, liegt nicht nur daran, dass die Gottesdienste dreisprachig – in hebräischer, deutscher und eben auch russischer Sprache – gefeiert werden, sondern auch daran, dass sie dort die Unterstützung bekommen, die sie z.B. bei Behördengängen benötigen. Dass dies so ist, ist in erster Linie das Verdienst von Wolfgang Seibert. Dass diese Gemeinde gegen rechtsradikale Tendenzen in unserer Gesellschaft deutlich ihre Stimme erhebt, ist nicht minder das Verdienst von Wolfgang Seibert. Dabei geht das politische Engagement der Gemeinde noch weit darüber hinaus: So hat sie einem von Abschiebung bedrohten muslimischen Flüchtling und danach einem afghanischen Juden, der ebenfalls abgeschoben werden sollte, in der Synagoge Kirchensasyl gewährt. Auch dies wäre ohne den hohen persönlichen Einsatz von Wolfgang Seibert nicht möglich gewesen. Als Würdigung dieses Einsatzes wurde ihm in diesem Jahr der Menschenrechtspreis der Stiftung Pro Asyl verliehen. Wolfgang Seibert setzt sich seit Bestehen der Gemeinde konsequent dafür ein, dass die Pinneberger Synagoge ein offenes Haus, ein Ort der Begegnung ist. Der interreligiöse Dialog hat im Leben der Gemeinde einen hohen Stellenwert.
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Dies spiegelt sich in den Beiträgen dieser Festschrift wider. Mit ihnen wollen jüdische, christliche und muslimische Weggefährtinnen und Weggefährten Wolfgang Seibert anlässlich seines siebzigsten Geburtstages für sein Wirken danken. Entsprechend ist sie unter die Aussage des 133. Psalms gestellt: „Siehe, wie gut und schön es ist, wenn Geschwister beieinander wohnen“ (Vers 1). Hans-Christoph Goßmann Michaela Will
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Inhaltsverzeichnis Hans-Christoph Goßmann / Michaela Will Vorwort
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Annette Eichenauer Wolfgang Seibert zum Siebzigsten
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Hans-Ulrich von Fersen / Rimma Boikova Gemeinsame Erinnerungen aus 15 Jahren. Wolfgang.pi
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Maren Gottsmann Kippa, Siddur und Machsor - Kostbarkeiten zu Gast
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Dagmar Fritzsche-Wagner und Konfirmand*innen der Evangelisch-Lutherischen Kirchengemeinde Niendorf Rückblick auf einen Besuch in der Pinneberger Synagoge
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Horst-Dieter Schultz Multireligiöser Gottesdienst – ein Weg zur Verständigung
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Ute Ehlert-In Der Engel der Kulturen – eine Bodenintarsie als Zeichen für Frieden und Versöhnung
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Klaus-Georg Poehls SEINE Planungen, SEINE Gedanken und das Projekt Weltethos
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Dorothea Pape Die Jüdische Gemeinde Pinneberg und das Wachsen der Königsherrschaft Gottes
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Ephraim Meir The Question of Holiness
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Michaela Will Menschenrechte haben (k)eine Religion. Abraham Joschua Heschel und Martha Nussbaum
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Hans-Christoph Goßmann Bildung und Religion. Elemente einer VerhältnisBestimmung aus christlicher Perspektive
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Rien van der Vegt Der wandernde Christ
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Ali-Özgür Özdil Moses und sein Nachbar im Paradies
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Gabriele Schmidt-Lauber Luther und die Juden
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Thomas Drope Der Schatten der Vergangenheit und unsere Verantwortung als Kirche
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Halima Krausen Interreligiöse Textstudien. Einige Erfahrungen
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Martin Aaron Kindermann ‘So much unlike Daniel Deronda’: The Narrative of Jewish London in Amy Levy’s Reuben Sachs
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Joachim Liß-Walther Vor 70 Jahren: Operation „SS Exodus 1947“ Über das Schicksal der jüdischen Passagiere der „Exodus 47“. Mit Auszügen aus einem Tatsachenroman von Yoram Kaniuk
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Statt eines Nachwortes: Friedemann Magaard Was wäre, wenn der Geist wieder wehte?
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Wolfgang Seibert zum Siebzigsten Annette Eichenauer Wolfgang lernte ich Ende der 1990er Jahre kennen, er war Kunde in der Buchhandlung, in der ich damals arbeitete. Wir stellten schnell Gemeinsamkeiten fest, diese betrafen zunächst unsere ähnlichen Interessen bei der Buchauswahl. Auch unsere regionale Herkunft ähnelte sich, wir sind beide in Hessen geboren. Bald entwickelte sich ein reger Austausch auch über andere Themen, bis wir bei der Religion landeten. Von dort bis zur Gründung der Jüdischen Gemeinde Pinneberg waren es noch einige Jahre, aber der Weg dorthin zeichnete sich ab. Im Laufe der fast 20 Jahre lernte ich einen Menschen kennen und schätzen, der sehr kontaktfreudig ist und die Gabe hat, andere Menschen mitzunehmen und zu begeistern. Der Projekte aus dem Hut zaubert und spontan Wege findet, andere einzubeziehen. In Pinneberg und Umgebung gibt es wohl kaum noch Menschen, die unsere Gemeinde nicht kennen. Das ist allein Wolfgang zu verdanken. Und in dieser Zeit wurde aus einem Einzelkämpfer ein Teamplayer, der nur noch manchmal seine Mitmenschen überfährt. Wolfgang ist ein sehr politischer Mensch mit einer scharfen Zunge und dem unbedingten Willen, sich rechtem Gedankengut und Taten aktiv in den Weg zu stellen. Es gibt keine Demonstration ohne ihn, meist wird er auch als Redner angefragt. Da bleibt die eine oder andere Blessur nicht aus, die es in den letzten Jahren immer wieder gab. Dazu kommen seine Schriften und Veröffentlichungen, die keinen Zweifel an seinem ethischen wie religiösen Standpunkt aufkommen lassen. Dieser Mensch steht aktiv für seine Überzeugungen und seinen Glauben ein.
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Die Gemeindearbeit nimmt dabei einen großen Raum ein. Es sind weniger die großen Aufgaben wie Umbauten oder Koordinierung von Handwerkern, und der 2. bis 9. Anruf, wenn diese nicht erscheinen… Nein, es sind die vielen Kleinigkeiten, die alle erledigt werden müssen. Vom Kauf einer Ersatzbirne über die Beaufsichtigung straffällig gewordener Jugendlicher, die in der Gemeinde ihre Sozialstunden ableisten, meist ist Wolfgang derjenige, der das leistet. Auch wenn es keine One-Man-Show ist. Besonders liebenswert finde ich die Planung der Gottesdienste, die möglichst nicht mit den Heimspielen von St. Pauli kollidieren sollten. Denn das ist für ihn ein echter Gewissenskonflikt. Und den Humor, der sich oft in nicht ganz jugendfreien Witzen zeigt. Eine Gemeinde ist recht schnell gegründet, die wahre Herausforderung besteht darin, sie aufzubauen und dann dauerhaft mit Leben zu erfüllen. Und das tust Du, lieber Wolfgang, mit ganzem Herzen und voller Kraft. In diesem Sinne: Bis 120 und einen Dienstag! Annette Eichenauer ist Mitglied im Vorstand der Jüdischen Gemeinde Pinneberg.
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Gemeinsame Erinnerungen aus 15 Jahren. Wolfgang.pi Hans-Ulrich von Fersen / Rimma Boikova Irgendwann vor ungefähr zwölf Jahren erreichte uns durch Flüsterpropaganda die Information, dort oben in Pinneberg gibt es eine tolle liberale jüdische Gemeinde … Also hin mit der S-Bahn von Hamburg … nahe des Bahnhofes, in einer Kirchengemeinde, nicht zu verfehlen, zur jüdischen Gemeinde, die hier ihre provisorischen Gottesdienste abhielt. Eine bekannte Geräuschkulisse aus russischen und deutschen Lauten empfing uns, denn für den Kiddusch, der dem Gottesdienst folgen würde, musste vorgearbeitet werden, Tische und Geschirr wurden vorbereitet. Im Hintergrund mühten sich zwei gestandenen „ältere“ Herren unter Ächzen ab, die Rolle mit den Fünf Büchern Mose auf den Anfang zurückzurollen – keine leichte Arbeit. Hier waren die Herren Rothschild und Seibert bei der Arbeit – der Landesrabbiner und der Leiter der liberalen Jüdischen Gemeinde Pinneberg. Nach und nach verstanden wir die agierenden Personen, nämlich Dr. Wolfgang Seibert, den Vorsitzenden, und Dr. Walter Rothschild, den Landesrabbiner der sechs liberalen Gemeinden in Schleswig-Holstein mit Wohnsitz in Berlin. Durch Wolfgangs besondere Findigkeit wurden mehrere Umzüge in Pinneberg durchgeführt, um eine bessere Bet-Möglichkeit zu finden, einmal musste nach relativ kurzer Zeit umgezogen werden, weil sich hinter der Wandvertäfelung alter verdeckter Schimmel vergrößerte und die Senioren der Gemeinde die steile Treppe schwer bewältigten. Hier ergab sich eine der seltenen Gelegenheiten, sich der Stadt Pinneberg zu präsentieren, als die Tora-Rolle feierlich unter einem Baldachin in die neue Räumlichkeit getragen wurde – in eine ehemalige Altentagesstätte des Roten Kreuzes mit dem Namen Clara Bartram. Und so ist die liberale Jüdische Gemeinde Pinneberg nun im ClaraBartram-Weg 14 zu erreichen – wo erst einmal mit Zeit und Muskelkraft
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Ehrenamtliche das Gelände aufräumten, manches bei den Innenarbeiten in Selbsthilfe durchgeführt wurde. Während der Vorbereitung zu diesem Schriftsatz gemeinsames Brainstorming in den Chanukka-Feiertagen – hier stört kaum jemand – um die Persönlichkeit Dr. Seiberts, der für uns nun nach und nach zu Wolfgang wurde, der große Kompetenz und Menschlichkeit, aber auch Härte und Durchsetzungsfähigkeit bei einem internen Personalkonflikt gegenüber den Behörden bewies, Sachlichkeit, Humor und Sinn für die große Linie vorlebte, darstellen zu können, ohne in die Nähe einer Biographie zu kommen – das war nicht einfach. Seine Kontakte erstreckten sich auf viele Menschen, vom muslimischen Schlachter über die Kirchengemeinden diverser Konfessionen, die umliegenden jüdischen Gemeinden verschiedener Richtungen, die Kopftuch-Oma, die ihm stolz ihre Blumenpracht an der Terrasse präsentierte oder manchmal etwas zum Probieren brachte, natürlich „halal“. So erfuhr er die Solidarität der muslimischen Gemeinden in Pinneberg, die sich vor ihn stellten, als ein Muslim über das Internet drohte, ihn zu ermorden. So kam es, dass aus Hamburg die Imanin Halima Krausen sich hin und wieder zum Gottesdienst einfand oder zu Feiertagen, Gäste aus verschiedenen Bereichen kamen, Konfirmandengruppen aus der Reformierten Kirche Hamburg, wir brachten christliche Gäste aus dem Hamburger christlich-jüdischen Gesprächskreis mit. Es kam vor, dass Jugendliche, Antifa-Anhänger, den Sicherheitsdienst liefen – gerade nach dem kleinen Stein-Anschlag während des Gottesdienstes, eine Situation, die wir nicht noch einmal erleben möchten, es ließ die Stimmung des Novemberpogroms 1938 ahnen … leider saßen an den Fenstern die alten Zeitzeuginnen. Diese Situation hat Wolfgang durch Kommandos und Ruhe sehr besonnen beherrscht. … Einige Tage später wurde ein großer Pflasterstein durch die Scheibe geworfen – zum Glück war es in der Nacht …
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Über Wolfgang – und dafür danken wir besonders – lernten wir eine „Antifa“ kennen, junge und vordenkende Menschen, die nicht im trägen Strom der bürgerlichen Mitte lebten. Die Hinwendung zum einzelnen Menschen, zur zweiten Sprachgruppe, war beachtlich – am Beispiel Rimma, die als Kind die deutsche Hungerblockade gerade so überlebte, leider ihre Mutter nicht – 1942 – Rimma konnte im Sender Transmitter befragt werden konnte – und so ist der Fall der Blockade am 27. Januar 1944 wie ein zweiter Geburtstag. Sie wie auch andere Kontingentflüchtlinge, die den Weg in den Gebetsraum einer jüdischen Gemeinde gefunden haben, sind Wolfgang sehr dankbar, wie hilfreich mit einer mehrsprachigen, einfachen Liturgie dem fremden Geschehen gefolgt werden konnte. Er hat dies gut vermittelt. Und immer, wenn Wolfgang die „Parascha“ auslegte, warteten wir mit Spannung auf das gesprochene Wort mit seinen Ansichten zu diesem oder jenem Thema. Nicht jeder der russischsprachigen Gemeindeglieder hat verstanden, welch eine Leistung er vollbracht hat – er und sein Handy waren neben dem PC sein Büro. Absprachen mit dem Landesverband, wann ein Rabbiner oder Kantor/-in für Pinneberg frei wäre, Ehrenamtliche wurden über das Internet gemahnt, der Gemeinde zur Hilfe zu kommen, um zu helfen oder wer nach Potsdam (Limrud) möchte. Inzwischen hat es sich wohl herumgesprochen, dass die JerusalemGemeinde zu Hamburg und die liberale Jüdische Gemeinde Pinneberg ein gemeinsames Kooperationsabkommen (christlich-jüdischer Gemeindepartnerschaftsvertrag) abgeschlossen haben, was bisher einzigartig in Deutschland ist. Weniger bekannt dürfte sein, dass Wolfgang der Kontakt der „Chewra Kadischa“ im Landesverband der Jüdischen Gemeinden von SchleswigHolstein ist – eine mehr als verdienstvolle Arbeit. Unvergessen aber die vielen Exkursionen, die gerade für die Neuen, die „Zuwanderer“ gedacht waren, um die nähere „Neue Heimat“ kennenzulernen. Neben Husum und Sylt mit der Inselrundfahrt, die große Fahrt
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nach Berlin in den Reichstag, wo sowohl die Originalinschriften auf den Wänden – Graffities – der sowjetischen Soldaten von 1945 zu bewundern waren – als auch die große Synagoge in der Hamburger Straße. Aber neben diesen vergnüglichen Bildungsfahrten auch Bergen-Belsen mit seinen sowjetischen Soldatengräbern – im Hauptkomplex das Lager, das KZ, das so vielfältig genutzt wurde, wo Anne Frank und Schwester in den Massengräbern verschwanden … Wer war Anne Frank? … für die russischsprachigen Zuwanderer – die jüdischen Kontingentflüchtlinge – eine weitere Bewusstseinserweiterung. Und dazwischen Wolfgang in Ruhe, der seine zweisprachige Herde von Punkt zu Punkt führte, der nicht seine Freundlichkeit verlor … angesichts der Massengräber. Nur sieben Leute! In den Zigarettengesprächen erzählte Wolfgang von einer Gruppe russischsprachiger Leute, die er sammelte, es waren vorwiegend Juden aus der Ukraine. Erst traf man sich im Keller der Diakonie, es wurde herumgegrantelt, gemeckert, dass es keine Gemeinde gibt, keine jüdische Gemeinde. Solch eine Gemeinde hatte es allerdings in Pinneberg nie gegeben … auch nicht vor 1945. Ja, in Elmshorn gab es früher eine Gemeinde. Sehr zur Überraschung der Zuwanderer brachte Wolfgang ihnen die Grundbegriffe des deutschen BGB-Rechts bei, die in den Worten gipfelten: „Wir brauchen 7 Leute!“ – „Sieben Leute, um einen Verein zu gründen“ – „dann sind wir auf dem Weg zur Gemeinde“. Und so geschah es … Not-Sukka Ob wir falsch in den Kalender gesehen hatten, Wolfgang uns keine Terminänderung per E-Mail oder Telefon mitgeteilt hatte, ist heute nicht mehr zu klären. Wir standen etwas verloren vor der Gemeinde, in diesem Haus befand sich die Gemeinde, in diesem Wohnhaus wohnte auch
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Wolfgang Seibert, den wir herausklingelten. Er war etwas überrascht … drehte sich um und kam mit einem dickeren Buch und bunten Bändern zurück … geleitete uns in den Garten hinter diesem Haus, wo sowohl Bäume mit tiefhängenden Zweigen standen als auch hohe Büsche. Mit zwei Griffen und den bunten Bändern wurden Zweige und Buschspitzen zusammengebunden … Und schon standen wir in einer Art Not-Sukka … Wolfgang las verschiedene Abschnitte … und hatte so die Situation gerettet. Fazit Letztendlich als Fazit möchten wir folgendes sagen: „Baruch ha shem“, dass wir den Menschen Wolfgang in seiner schwierigen Arbeit begleiten durften, denn das sollte keiner vergessen, er ist hiergeblieben, er ist nicht gegangen, er hat an eine Zukunft geglaubt, eine Zukunft für die jüdische Gemeinschaft, bei diesem kleinen Rest Überlebender, eine Zukunft in Deutschland. Hans-Ulrich von Fersen ist Mitglied im Vorstand der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit in Hamburg e.V. Rimma Boikova, Leningrad/St.Petersburg, ist Mitglied der Jüdischen Gemeinde Hamburg
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Kippa, Siddur und Machsor - Kostbarkeiten zu Gast Maren Gottsmann Es gibt Kostbarkeiten in unserer Gemeinde, die gehören der Gemeinde nicht. Sie sind zu Gast bei uns: eine Kippa und die jüdischen Gebetsbücher Siddur und Machsor.
Wir sind dankbar für diese Gäste und vor allem für den, der sie zu uns bringt: Wolfgang Seibert. Die Kippa trägt er in Gottesdiensten. Für ihn bedeutet das: in der Synagoge und in der Kirche. Er hat mehrere. Die aktuelle Lieblingskippa wechselt bei ihm. Eine seiner Kippot ist schwarz-weiß gemustert wie ein Fußball, mit der hat er einmal die Profifußballer des Hapoel Tel Aviv begeistert. Dazu trug er nämlich ein St. Pauli T-Shirt. Was das Tragen einer Kippa für ihn bedeutet, wurde er 18
einmal für unseren Gemeindebrief befragt. Wolfgang Seibert überlegte: „Es gibt mir ein anderes Verhältnis zu mir selber.“ Und dann grinste er und meint: „Wenn ich im Gottesdienst meine Predigt halte, die ich zu Hause ohne Kippa vorbereitet habe, dann kommt immer etwas anderes raus. Ich weiß nicht, ob es an der Kippa liegt, aber jedenfalls verändert sich meine Predigt unter der Kippa.“ Seit 2006 gedenken wir in Niendorf gemeinsam mit ihm der Shoah in einem Gottesdienst jeweils am 9. November. Wie wir damals zueinander gekommen sind – die Evangelisch-Lutherische Kirchengemeinde Niendorf und Wolfgang Seibert? Irgendjemand sagte uns auf die Frage nach einem Kontakt zu jüdischen Gemeinden in und um Hamburg: „Fragt doch mal Herrn Seibert. Der hat bestimmt Interesse.“ Und so war es. Das erste gemeinsame interreligiöse Gedenken begingen wir zusammen mit den christlichen Pfadfindern und Pfadfinderinnen vom Stamm Bugenhagen. Sie kannten Wolfgang Seibert wiederum über die AntifaArbeit. „Schamar we sachor“, erinnern und gedenken, diese Aufforderung aus der Tora ist Wolfgang Seibert im Zusammenhang mit der Shoah ein wichtiges Anliegen. Sehr deutlich hat er sich stets gegen ein „Vergeben und Vergessen“ gewandt. Vergeben, das könnten nur die Ermordeten, so zitierte er in dem ersten Gedenkgottesdienst seine Großmutter. Erzählt hatte sie ihrer Familie jedoch nie von ihren Erlebnissen in Auschwitz. Erst kurz vor ihrem Tod sprach sie darüber. Es war furchtbar, was sie erzählte. Erinnerung bedeute deswegen für ihn, so Wolfgang Seibert, die Last dieser und so vieler anderen Erfahrungen weiterzutragen. Er wüsste gar nicht, ob er sich von dieser Last befreien wollte. Oder ob er nicht genau diese Last benötigte, um weiterzumachen. Gemeinsam mit anderen Menschen zu gedenken bedeutet für ihn jedoch Jahr für Jahr, einander der Hoffnung zu vergewissern, dass sich solches Grauen niemals wiederholen wird. Jedes Gedenken war und ist besonders. Eingeprägt haben sich aus diesen vielen Abenden die Unentrinnbarkeit des Grauens durch Worte von Paul Celan ebenso wie die Lieder ermordeter jüdischer Künstlerinnen und
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Künstler und der Berg von Scherben, den wir zum 70jährigen Gedenken des 9. November 1938 in der Kirche am Markt aufschütteten: Schale um Schale zerbrochenen Glases krachte und klirrte vor dem Altar auf die Fliesen. Bis wir endlich, endlich Kerzen in all diese Zerstörung setzen konnten. Eine der Kerzen leuchtete für unser Miteinander, für den Dank, dass Wolfgang Seibert das El male rahamim für die Opfer der Shoah in unserer Kirche betet. Dabei fügt er seit vielen Jahren in den hebräischen Gebetstext die Namen der Konzentrationslager ein. Sie fallen heraus aus den Worten der für christliche Kirchen fremden Sprache. Die Namen der Konzentrationslager und: haGermanim, die Deutschen. Die deutschen Mörder. Das fällt heraus, klirrend, schneidend, wie Scherben. Seit 2011 gestalten wir diesen Gedenkgottesdienst mit dem jeweils 10. Jahrgang des benachbarten Gymnasiums Ohmoor. Die Auseinandersetzung der Jugendlichen mit der Shoah, ihre Forderungen, aus der Geschichte Konsequenzen zu ziehen, geben Mut. Im Gespräch mit Wolfgang Seibert erleben die Fünfzehnjährigen, wie sehr Geschichte die konkreten Geschichten und Schicksale durch Generationen hindurch prägt. Und sie erleben gleichzeitig, dass jüdisches Leben Teil unserer heutigen Gegenwart ist. „Es geschah in Hamburg, in meiner Heimatstadt!“ so fasste ein Schüler fassungslos die Ergebnisse seiner Recherche zum 9. bzw. 10. November 1938 zusammen. Dass Wolfgang Seibert diese immer wieder neue Erschütterung begleitet und aushält und uns am Ende jedes dieser Abende mit dem jewarechecha Adonai vejischmerecha entlässt, dafür danke ich ihm von Herzen. Einst fragte ein Rabbi einen Schüler: Wann ist der Übergang von der Nacht zum Tag. Und sie versuchten eine Antwort: Vielleicht, wenn man den ersten Lichtschimmer am Horizont sieht. Nein, sagte der Rabbi. Wenn du in das Gesicht eines Menschen siehst und darin das Gesicht deines Bruders, deiner Schwester erkennst, dann ist die Nacht zu Ende und der Tag bricht an. Solange dies nicht geschieht, ist die Nacht noch in uns.
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Es ist gut, in diesen Tagen, in dieser Zeit mit Menschen wie Wolfgang Seibert unterwegs zu sein. Maren Gottsmann ist Pastorin in der Evangelisch-Lutherischen Kirchengemeinde Niendorf in Hamburg. Konfirmandinnen und Konfirmanden der Evangelisch-Lutherischen Kirchengemeinde Niendorf haben sich unter der Leitung von Dagmar Fritzsche-Wagner im Rahmen ihres Konfirmand*innenunterrichts mit dem jüdischen Glaubens beschäftigt und in diesem Zusammenhang auch einen Gottesdienst der Jüdischen Gemeinde Pinneberg besucht, den Wolfgang Seibert geleitet hat. Diesen Besuch haben sie in guter Erinnerung:
Rückblick auf einen Besuch in der Pinneberger Synagoge Lieber Herr Seibert, es ist zwar schon fast zwei Jahre her, dass unsere Konfirmandengruppe bei Ihnen war – mittlerweile sind wir schon konfirmiert, dennoch halten wir den Besuch in der Synagoge in bester Erinnerung. Beeindruckend fanden wir Ihre Offenheit uns gegenüber, obwohl es gerade damals Übergriffe auf Synagogen gegeben hat. Wir fühlten uns sofort wohl und aufgenommen in Ihre Gemeinschaft und obwohl uns vieles fremd war, haben wir verstanden, worum es ging. Ganz besonders interessant fanden wir die Tradition der Kopfbedeckung, die unsere Jungs ganz selbstverständlich übernahmen. Das gemeinsame Essen im Anschluss war sehr schön und familiär. Vielen Dank für diese ganz besondere Erfahrung, die wir mit Ihnen machen durften. Dagmar Fritzsche-Wagner und die Konfigruppe aus der EvangelischLutherischen Kirchengemeinde Niendorf
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Multireligiöser Gottesdienst – ein Weg zur Verständigung Horst-Dieter Schultz In den letzten Jahren werden in Deutschland viele Wege zur Verständigung der verschiedenen Kulturen gesucht. Wir reden von Integration, vom Miteinander-Leben, ohne die Wurzeln der verschiedenen Traditionen abzuschneiden. Einer dieser Wege ist der multireligiöse Gottesdienst. Vorbemerkung 1 Es gibt nur einen Gott. Ob wir ihn Elohim, Gott Vater oder Allah nennen, ist eine Namensgebung. Die drei großen Religionen Judentum, Christentum und Islam haben in ihrer Glaubensprägung nur ein Ziel: das Leben mit Gott im Alltag und die Vereinigung mit diesem Gott in der Ewigkeit. Alle drei Glaubensrichtungen beziehen sich auf Abraham, den „Vater des Glaubens“. So weit die Gemeinsamkeiten. Dabei darf aber auch nicht außer Acht gelassen werden, dass die Vorstellungen und Wege mit und zu diesem Gott sehr unterschiedlich sind. Sehr vereinfacht dargestellt kann man sagen: Das Judentum hat für seinen Weg die Tora mit allen Ausführungsbestimmungen (u. a. das Erste oder Alte Testament), die Christen haben als Weg Jesus Christus (Erstes und Zweites oder Altes und Neues Testament) und der Islam hat den Koran (in diesem sind auch Gedanken und Weisungen beider Testamente enthalten). Alle drei Glaubensrichtungen werden von ihren Anhängern sehr unterschiedlich ausgelegt und gelebt. Wir unterscheiden grob zwischen orthodoxen und liberalen Anhängern. In allen drei Wegen gibt es Menschen, die ihren Weg ernst nehmen, aber auch welche, die zwar dazu gehören, aber ihren eigenen Lebensweg unabhängig von ihrem Glauben gestalten.
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Vorbemerkung 2 Der multireligiöse Gottesdienst will diejenigen miteinander ins Gespräch bringen, die offen ihren Glauben leben (liberale Anhänger) oder auf dem Weg ihres Lebens neben den Alltagsentscheidungen einen tieferen Sinn suchen. Es geht nicht um Konkurrenz, Selbstdarstellung als „besserer Weg“ oder Vermischung aller drei Wege zu einem „Einheitsbrei“. Ziele dieser Gottesdienste sind: Respekt voreinander bezeugen, Kennenlernen der unterschiedlichen Wege und gemeinsam Gott loben, jeder auf seine Weise. Wir konnten auf unserem Weg die Jüdische Gemeinde Pinneberg, vertreten durch Dr. Wolfgang Seibert, die muslimische Seite, vertreten durch Shaykha Halima Krausen, und die evangelisch-lutherische Gemeinde, vertreten durch Pastor Dr. Goßmann und mich zu den multireligiösen Gottesdiensten versammeln. Gerne hätte ich darüber hinaus auch Vertreter katholischer und orthodoxen Christen sowie auch weitere Vertreter jüdischer und muslimischer Gemeinden mit eingebunden. Durchführung multireligiöser Gottesdienste Jeder Gottesdienst hatte ein Thema wie z. B. „Suchet der Stadt Bestes“ oder „Die Freude der Buße“. Veranstaltungsorte waren „Open Air“ oder im evangelischem Gemeindehaus – je nach Jahreszeit und Wetterlage. Drei Kerzen auf dem Altartisch symbolisierten die drei Glaubensrichtungen. Im liturgischen Ablauf kamen immer alle drei Vertreter gleichermaßen zu Wort. Wenn gebetet wurde, beteten alle drei in ihrer Glaubenssprache: deutsch, hebräisch und arabisch – wobei das Hebräische und Arabische ins Deutsche übersetzt wurde. Ebenso bei den Lesungen wurden Texte aus der Tora, dem Neuen Testament und dem Koran verlesen. Im Mittelpunkt standen drei Auslegungen zu dem jeweiligen Thema. Diese Auslegungen fanden in deutscher Sprache statt. Da die Gemeinde nur aus deutsch sprechenden Zuhörern bestand, war eine Übersetzung z. B. ins Arabische nicht notwendig. Jeder Gottesdienst endete mit einem Segenszuspruch aller drei Religionen.
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Schwierig war die Auswahl von Liedern. Sie sollten möglichst aus unserer Zeit stammen, gut mitsingbar sein und der Anbetung Gottes dienen. Die Begleitung erfolgte mit Gitarre, Flöte oder entsprechenden Instrumenten. Erfahrungen – Lernen für die Zukunft Die Einladungen zu den multireligiösen Gottesdiensten kamen von einer evangelischen Kirchengemeinde. Entsprechend bestand auch die Zuhörerschaft zu über 90 % aus evangelisch geprägten Christen. Die Veranstaltungen fanden immer an christlichen Feiertagen statt (z. B. Sonntag, Buß- und Bettag, Pfingstmontag). Von daher blieb die jüdisch oder muslimisch geprägte Teilnehmerschaft sehr klein. Durch die Aufnahme der Liberalen Jüdischen Gemeinde Hamburg als Dauergast im Gemeindehaus und aktives Mitgestalten der Gottesdienste durch z. B. jüdische Tänze wuchs diese Seite stärker. Von daher bestand ein integrativer Sinn wesentlich darin, die christlichen Teilnehmer mit der religiösen Kultur der jüdisch und muslemisch geprägten Mitbewohner vertraut zu machen. Nach jedem Gottesdienst wurde ein kleiner Stehimbiss mit Kaffee und Tee gereicht und es entstanden sehr intensive Gespräche. Es waren offene und ehrliche Beiträge, Zuspruch und Kritik konnten geäußert werden. Sehr wichtig dabei war für mich, darauf zu achten, dass die persönliche Würde des Einzelnen nicht verletzt wurde. Erfreulich war der Respekt, der den anderen, oft unbekannten Wegen entgegengebracht wurde. Was ich mir wünsche Multireligiöse Gottesdienste sind eine sehr gute Möglichkeit, Mitmenschen anderer kultureller Prägungen besser verstehen zu lernen. Sowohl Juden als auch Moslems sind oft stärker von ihrem Glauben geprägt als wir Christen. Viele Entscheidungen des Alltags werden in der Tora und dem Koran geregelt und geben damit Verhaltensweisen vor. Leider haben wir Christen die „christliche Freiheit“ oft dazu benutzt, unseren Glauben auf den Sonntagsgottesdienst zu verlagern, den Alltag aber
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nach anderen Regeln zu gestalten. Christliche Normen spielen im „christlichen Abendland“ oft nur noch eine untergeordnete Rolle. Hier können wir sehr viel voneinander lernen. Das Reden über unseren Glauben und die Lebensgestaltung nach den jeweiligen religiösen Werten sollte als Ergänzung und nicht als Gegensatz verstanden werden. Ich wünsche mir, dass besonders in Stadtteilen, in denen jüdische oder muslemische Gemeinden zusammen mit christlichen Kirchen bestehen, auf dem Gebiet des Religiösen ein stärkerer reger Austausch entsteht. Viele Versuche durch Sport, Theater und Musik oder andere multikulturelle Veranstaltungen finden statt, um Verständigung unter den Kulturen zu schaffen. Ich bin der Meinung, dass Gemeinden im Austausch über ihre Anschauung von Gott und ihre religiös geprägten Lebenswege noch mehr Verständnis für den jeweils Anderen bekommen können. Sehr freuen würde mich, wenn Christen wieder stärker ihren eigenen Glauben erkennen und im Alltag praktizieren würden. Dabei dürfen sie allerdings die Offenheit für andere Glaubenserkenntnisse nicht verlieren. Verstehen wir uns doch alle als „Glaubende auf dem Weg“. Legen wir Berührungsängste ab und treten in einen offenen Austausch über Glaubensfragen. Allerdings muss das von allen Seiten gewollt und gelebt werden. Schlussbemerkungen Es gibt nur einen Gott. Er ist der Vater für alle Menschen. So wie Geschwister oft sehr unterschiedlich sind, so sind auch die Anschauungen der Glaubenden sehr unterschiedlich. Lernen wir doch, einander zu lieben, so wie Gott uns liebt. Lernen wir doch, die Unterschiede als Bereicherung zu sehen und nicht als Möglichkeit der Ausgrenzung. Voneinander lernen, miteinander leben und füreinander da sein – das sollte unser Motto als „christliche Gastgeber“ sein. Horst-Dieter Schultz ist Pastor im Kirchenkreis Hamburg-West/Südholstein.
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Der Engel der Kulturen – eine Bodenintarsie als Zeichen für Frieden und Versöhnung Ute Ehlert-In Seit Gründung der Ev. Akademie in der Region Alstertal hat sich ein schöner Kontakt mit der liberalen Jüdischen Gemeinde Pinneberg und insbesondere mit Wolfgang Seibert ergeben. Neben interreligiösen Gesprächen und einer von ihm gehaltenen Predigt über das Vaterunser aus jüdischer Sicht ist die Gestaltung des Vorplatzes der Simon-PetrusKirche mit dem Engel der Kulturen ein Höhepunkt in der Zusammenarbeit mit der jüdischen Gemeinde gewesen. Zum 50. Jubiläum der SimonPetrus-Kirche wurde am 29. Juni 2014 eine Bodenintarsie als Zeichen für Frieden und Versöhnung sichtbar vor der Simon-Petrus-Kirche platziert: der Engel der Kulturen. Gestaltet wurde die Intarsie von den Künstlern Gregor Merten und Carmen Dietrich. Seit 2010 wandert dieser Engel der Kulturen durch den deutschen und südost-europäischen Raum bis hin nach Istanbul. Zu sehen sind die drei Symbole der abrahamitischen Religionen: der Davidstern, das Kreuz und die Mondsichel. Deutlich fällt die Unvollständigkeit am Kreuz und am Stern auf. Der Mondsichel fehlt, wie auf Flaggen islamisch geprägter Staaten üblich, der kleine Stern im Rund. Alle Drei sind
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integriert in eine Engelsfigur; denn in allen drei abrahamitischen Religionen kennt man Engel als Boten Gottes. Der Stern gilt im Judentum als die Prophetie an das Volk Israel: Der blinde Prophet Bileam, begabt mit der Fähigkeit zu Visionen, weissagt: „Ein Stern geht in Jakob auf, ein Zepter erhebt sich in Israel“ (Numeri 24, 17). Diese Textstelle wird zur Schlüsselstelle der jüdischen Hoffnung auf den Messias, zunächst gedacht als politischer, erfolgreicher Fürst, später als Heiland aller Völker im eschatologischen Sinn. Das Kreuz steht für den Tod des unschuldig verurteilten Jesus. Es galt als die schlimmste Form einer Hinrichtung. Erst langsam entwickelte es sich in der Christenheit zum grundlegenden Symbol für die Auferstehung Christi und besagt, dass er zu uns Menschen kommt auch in den tiefsten Punkten unseres Menschseins, er leidet mit uns und ist uns nahe und schenkt uns neues Leben. Die Mondsichel, oft dargestellt mit einem kleinen Stern in dem offenen Rund, könnte auf den ägyptischen Mond Jah zurückgehen. Sein Zeichen bedeutet Herrschaft über die gesamte Welt, Himmel und Erde. Mohammed nutzte es nicht, er führte eine schlichte grüne Flagge, erst Osman I. griff dieses Symbol auf, und seither kennen die Sunniten es als Kennzeichnung ihres Glaubens. Für islamisch geprägte Staaten ist es heute im Genfer Abkommen als Gegenstück zum Roten Kreuz international anerkannt als Roter Halbmond. Juden, Christen und Muslime leben ihren Glauben intensiv, und es gibt wohl niemanden, der das Gute im eigenen Glauben erlebt, der seinen Glauben leichtfertig aufgeben möchte. Das meint das Symbol des Engels der Kulturen auch nicht. Es geht nicht um Gleichmacherei. Aber es geht darum, miteinander ins Gespräch zu kommen, etwas vom Glauben des anderen zu erfahren und vom eigenen Glauben zu erzählen – in aller Offenheit, ehrlich und auch mit kritischen Fragen. Es sollen keine Unterschiede wegdiskutiert werden.
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Gerade solch ein Aufeinander-Zugehen bewirkt aber – wenn es ernsthaft geschieht – neben dem Verstehen des anderen auch ein neues Erkennen des eigenen Glaubens. Wir dürfen davon ausgehen, dass Gott größer und barmherziger ist, als wir Menschen es uns vorstellen können, und dass er sich somit auch in anderen Religionen zeigt als nur in der unsrigen. Angesichts wachsender fundamentalistischer Strömungen in allen Religionsgemeinschaften sollten wir hier bei uns in Hamburg einen Freiraum schaffen für eine moderne jüdische, christliche und islamische Theologie. Ich bin mir ziemlich sicher, dass wir dann die Anwesenheit eines Engels erfahren werden, oder anders gesagt: Wir können dann Frieden spüren oder etwas mehr von der Wahrheit Gottes. Ute Ehlert-In ist Pastorin der Evangelisch-Lutherischen Kirchengemeinde Poppenbüttel und leitet die Evangelische Akademie in der Region Alstertal.
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SEINE Planungen, ethos
SEINE
Gedanken und das Projekt Welt-
Klaus-Georg Poehls Tief verborgen sind sie oft, fast scheint es manchmal unmöglich, sie freizulegen. Zu viel liegt auf ihnen, zuviel gilt es aufzureißen, weg zu schaffen: Ermüdung und Enttäuschung, Ernüchterung und Erlahmen lasten schwer. Seit 25 Jahren machen wir entweder in der katholischen Gemeinde Maria Grün oder in unserer Gemeinde das Fest für alle, es soll Flüchtlinge, die bei uns leben und Blankeneserinnen und Blankeneser zusammenbringen; Menschen unterschiedlicher Herkunft und unterschiedlicher Religion sind eingeladen, in einem Friedensgebet gemeinsam für den Frieden zu beten und dann Gemeinschaft zu leben und zu feiern. Die Friedensdekade im November endet seit zig Jahren am Buß- und Bettag mit einem Friedensgebet der Religionen. Die Dekade begleitend hängt die Ausstellung „Weltreligionen – Weltfrieden – Weltethos“ hier in unserer Kirche oder im Gemeindehaus, ansonsten wandert sie durch Schulen, Volkshochschulen oder Gemeinden in Hamburg und in seinem Umfeld. Jedes Jahr im Mai feiern wir den „Engel der Kulturen“, der als Bodenintarsie zwischen Kirche und Gemeindehaus liegt, mit einem interkulturellen Fest. Die Arbeitsgruppe Weltethos und die Initiative Weltethos e.V. laden zu Workshops und Vorträgen ein, die dem Kennenlernen anderer Religionen dienen – und vor allem der Begegnung mit ihren Vertreterinnen und Vertretern. Wolfgang Seibert habe ich bei all diesen Veranstaltungen als treuen Partner erlebt, der, wann immer es sein voller Kalender erlaubte, humorvoll und engagiert zur Stelle war. Und vielleicht teilen wir auch diese Erfahrung: Es treffen sich immer wieder dieselben Leute, und hinter vorgehaltener Hand fragen sich manche, was denn das alles wohl bringen solle.
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Wenn das stimmt, wenn es keinen Frieden auf der Welt gibt ohne Frieden unter den Religionen, und wenn es keinen Frieden unter den Religionen gibt ohne einen Dialog der Menschen unterschiedlichen Glaubens (vgl. dazu H. Küng, Spurensuche. Die Weltreligionen auf dem Weg, München 1999, 306), dann ist die Sache des Friedens hier schon auf dem Spiel und gefährdet, hier schon, in einem Land, in einer Stadt, wo Friede doch herrscht – wenn wir denn dieses im Großen und Ganzen „Gewaltfreie“, dieses im Großen und Ganzen „Rechtmäßige“, dieses im Großen und Ganzen „Nebeneinanderliche“ Frieden nennen wollen. Ist es das aber? Soll das schon reichen? Haben wir keinen größeren und schöneren Traum für uns, für unsere Welt? Schwer wiegt die Erschöpfung, die Resignation. Groß sind die eigenen Fragen danach, ob denn die Theologie hergibt, was mein Glaube mir zur Pflicht macht, ob die Fragen nach der Wahrheit der eigenen und der anderen Religionen sich nicht aufheben in ein unverbindliches „Irgendwie glauben wir doch alle, weil da irgendwie eine Kraft ist!“ – was ich kaum hören kann, dieses Irgendwie – zu dem ich aber vielleicht doch irgendwie beitrage? Und weitere Fragen häufen sich, weitere Zweifel melden sich, weitere Nachrichten vom Vorrücken der Strammen, der Fundamentalen, der Rechtgläubigen, der wahren Vertreter der Wahrheit, der Guten, der Gotteskämpfer, der Anständigen kleben sich zusammen. Mein Gott, wie schwer wird es wohl erst denen gemacht, die Frieden wollen, wo wirklich Krieg ist, wo Hass sich austobt? Ganz tief verborgen unter alldem liegen Gottes Gedanken, ja Planungen des Friedens. Gedanken nur, die manchmal so schnell weg geweht, die so leicht sind unter all dem Schweren, dass sie fast schon zerbrochen scheinen. Und manchmal weiß wohl nur noch Gott selbst von ihnen, kein Mensch scheint sie mehr zu kennen, zu beachten. Niemand mehr da, der seine Hoffnung setzt auf sie?
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„Denn ich, ich weiß die Planungen, die ich über euch plane, ist SEIN Erlauten, Planungen des Friedens, nicht zum Bösen mehr, euch Zukunft und Hoffnung zu geben“ (Die Schrift, verdeutscht von M. Buber gemeinsam mit F. Rosenzweig, Bücher der Kündung, 332 – Jirmejahu 29, 11). „Ich weiß wohl, was ich für Gedanken über euch habe, spricht der Herr: Gedanken des Friedens und nicht des Leides, dass ich euch gebe Zukunft und Hoffnung“ (Die Bibel nach Martin Luthers Übersetzung, revidiert 2017, 786, Jeremia 29, 11). So heißt es beim Propheten Jeremia. Er hat es als ein Gotteswort verstanden. Nicht, weil er als einer der wenigen Gott hätte hören können, sondern weil er Worte fand, die für ihn Gott selbst umschreiben. Ohne es begründen zu können, ohne irgendeinen Beweis, teilt Gott selbst sich hier mit – oder nehme ich Gott selbst hier wahr. Es „vertraut“ sich der unendliche große Gott, der Gott Abrahams, der Gott des jüdischen Volkes und auch der Muslime und auch der Christen, den Menschen an – mit seinen Gedanken und Planungen des Friedens, die Hoffnung wirken und Zukunft eröffnen wollen. Und seither, seit jeher, gilt: Immer da, wo Friede aufscheint, wo Hoffnung anfängt zu pulsieren, wo Zukunft Farbe und Schönheit gewinnt, da ist auch Gott. Das Evangelium, an das wir glauben, ist nicht Religion noch Konfession, sondern es ist Gottes Liebe. Das Leben und Feiern dieser Liebe wird seine Formen finden, wird religiöses Leben bedeuten – aber Religion darf sich nicht über diese Liebe erheben, darf sie nicht für sich beanspruchen und somit gefangen nehmen wollen. „Eure Festreigen hasse, verschmähe ich, eure Einschließungen mag ich nicht riechen, ja, wenn ihr mir Hochgaben darhöht und eure Einleitspenden, schätze ichs nicht zugnaden, eurer Mastochsen Friedmahl blicke ich nicht an. Tu mir das Geplärr deiner Lieder hinweg, dein Lautenspiel will
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ich nicht hören“ (Die Schrift, verdeutscht von M. Buber gemeinsam mit F. Rosenzweig, Bücher der Kündung, 643 – Amos 5, 21-24). „Ich hasse und verachte eure Feste und mag eure Versammlungen nicht riechen – es sei denn, ihr bringt mir rechte Brandopfer dar –, und an euren Speisopfern habe ich kein Gefallen, und euer fettes Schlachtopfer sehe ich nicht an. Tu weg von mir das Geplärr deiner Lieder; denn ich mag dein Harfenspiel nicht hören! Es ströme aber das Recht wie Wasser und die Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Bach“ (Die Bibel nach Martin Luthers Übersetzung, revidiert 2017, 906, Amos 5, 21-24). Glauben wir doch nicht, wir könnten die Klage Gottes über eine Religiosität, die sich nicht mehr den Menschen zuwendet, die nicht mehr über sich selbst hinauswachsen kann, nur auf die Kultpraxis des Alten Israel beziehen. Unsere Religion ist in Frage gestellt, zuerst unsere und nicht die der anderen. Und wenn wir als Christen sagen, wir seien bewegt von Gottes Geist, und von uns geht kein Friede aus, keine Bewegung hin gerade zu den Menschen, die Nachbarn und doch fremd sind mit ihrer Religion, dann leugnen wir diesen Geist. Gott hat uns seine Gedanken anvertraut, ja, er hat einen jeden von uns zu einem seiner guten Gedanken geschaffen. Was bewirken aber Gedanken gegen Realitäten? Sie verändern sie. So wie ein Gedanke nur an die Menschen, die ich liebe, mich lächeln machen kann, so kann ein jeder Gedanke Gottes eine Hoffnung mehr in diese Welt setzen und einen Tag mehr Zukunft eröffnen. Denn jede neue Hoffnung gibt einen Menschen weniger auf; und jeder Tag mehr hilft Zukunft bauen. Die Planungen Gottes und seine Gedanken des Friedens haben für mich unmittelbar zu tun mit der Erklärung zum Weltethos, die „von Hans Küng entworfen und in einem intensiven Beratungsprozess mit Gelehrten aus verschiedenen Religionen weiterentwickelt [wurde]. Unter Betei-
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ligung von 6.500 Menschen der verschiedensten großen und kleineren Religionen diskutierte und verabschiedete das Parlament der Weltreligionen in Chicago die Erklärung am 4. September 1993 und sprach sich somit für ein Weltethos aus. Insgesamt 200 Vertreter aus allen Weltreligionen unterzeichneten die Erklärung. Damit verständigten sich erstmals Repräsentanten aller Weltreligionen auf Kernelemente eines gemeinsamen Ethos, wie das Prinzip Menschlichkeit, die ‚Goldene Regel‘ und die ‚vier unverrückbaren Weisungen‘: Gewaltlosigkeit, Gerechtigkeit, Wahrhaftigkeit sowie Partnerschaft und Gleichberechtigung von Mann und Frau“ (www.weltethos.org/Erklaerung zum Weltethos). In der Erklärung heißt es: „Wir sind Frauen und Männer, welche sich zu den Geboten und Praktiken der Religionen der Welt bekennen: Wir bekräftigen, dass sich in den Lehren der Religionen ein gemeinsamer Bestand von Kernwerten findet und dass diese die Grundlage für ein Weltethos bilden. Wir bekräftigen, dass diese Wahrheit bereits bekannt ist, aber noch mit Herz und Tat gelebt werden muss … Wir erklären: Wir sind alle voneinander abhängig. Jeder von uns hängt vom Wohlergehen des Ganzen ab. Deshalb haben wir Achtung vor der Gemeinschaft der Lebewesen, der Menschen, Tiere und Pflanzen, und haben Sorge für die Erhaltung der Erde, der Luft, des Wassers und des Bodens. … Wir müssen andere behandeln, wie wir von anderen behandelt werden wollen. Wir verpflichten uns, Leben und Würde, Individualität und Verschiedenheit zu achten, so dass jede Person menschlich behandelt wird – und zwar ohne Ausnahme. Wir müssen Geduld und Akzeptanz üben. Wir müssen fähig sein zu vergeben, indem wir von der Vergangenheit lernen, aber es niemals zulassen, dass wir selber Gefangene der Erinnerungen des Hasses bleiben. Indem wir unsere Herzen einander öffnen,
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müssen wir … eine Kultur der Solidarität und gegenseitigen Verbundenheit praktizieren. Wir betrachten die Menschheit als unsere Familie. Wir müssen danach streben, freundlich und großzügig zu sein. Wir dürfen nicht allein für uns selber leben, müssen vielmehr auch anderen dienen und niemals die Kinder, die Alten, die Armen, die Leidenden, die Behinderten, die Flüchtlinge und die Einsamen vergessen. … Wir verpflichten uns auf eine Kultur der Gewaltlosigkeit, des Respekts, der Gerechtigkeit und des Friedens. … Die Erde kann nicht zum Besseren verändert werden, wenn sich nicht das Bewusstsein der Einzelnen zuerst ändert. Wir versprechen, unsere Wahrnehmungsfähigkeit zu erweitern, indem wir unseren Geist disziplinieren durch Meditation, Gebet oder positives Denken. Ohne Risiko und ohne Opferbereitschaft kann es keine grundlegende Veränderung in unserer Situation geben. Deshalb verpflichten wir uns auf dieses Weltethos, auf Verständnis füreinander und auf sozialverträgliche, friedensfördernde und naturfreundliche Lebensformen. Wir laden alle Menschen, ob religiös oder nicht, dazu ein, dasselbe zu tun“ (Erklärung zum Weltethos. Die Deklaration des Parlamentes der Weltreligionen, hrsg. v. Hans Küng u. Karl-Josef Kuschel, München [Piper] 1993. 2f.). Wer sich so hat einladen lassen, wer sich auf ein Weltethos verpflichtet, der entdeckt zugleich den Reichtum, die Schönheit und das Friedenspotential der Religionen, trifft auf Menschen anderen Glaubens und gemeinsamer Grundwerte, arbeitet auch mit nicht-religiösen Menschen zusammen, denn am Projekt Weltethos können auch sie teilnehmen, überzeugt durch entsprechende philosophische Überlegungen. Die Gedanken und Planungen Gottes und das Projekt Weltethos bedingen einander; denn der Glaube an den einen Gott verschafft einen langen Atem, lehrt, auch mit Scheitern umzugehen und gibt Kraft, es immer neu zu versuchen, dem Frieden unter den Religionen zu dienen, der eine Vo-
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raussetzung ist für den Frieden unter den Nationen. Und das Projekt Weltethos wiederum eröffnet dem Glauben an den einen Gott viele Möglichkeiten, Gottes Gedanken und Planungen umzusetzen und einen gemeinsamen hoffnungsvollen Weg in die Zukunft zu gehen. Klaus-Georg Poehls ist Pastor der Evangelisch-Lutherischen Kirchengemeinde Blankenese, Referent der Stiftung Weltethos und Vorsitzender der Initiative Weltethos e.V.
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Die Jüdische Gemeinde Pinneberg und das Wachsen der Königsherrschaft Gottes Dorothea Pape Wenige Entwicklungen der letzten Jahre haben in meinen Augen Pinneberg so positiv beeinflusst wie die Gründung der liberalen Jüdischen Gemeinde im Jahre 2002, an deren Entstehen, Entwicklung und Fortbestehen vor allem ihr Gemeindeleiter Wolfgang Seibert Anteil hatte und hat. Für uns Pinneberger, welcher Religion wir auch angehören mögen (einschließlich der „Religionslosen“), ist er mit seiner freundlichen, intelligenten, einladenden und bewundernswerten Arbeitsweise ein Maßstab an Tatkraft und Engagement. Er zeigt uns allen, dass man auch an und in schwierigen und schwierigsten Umständen nicht zu verzweifeln braucht, sondern mit Gottvertrauen „dran zu bleiben“ kann an dem einen Ziel, das er nie aus den Augen verloren hat. Dieses Ziel, für das man sicherlich im Judentum und Christentum unterschiedliche Begriffe finden könnte, zu dem es aber auch gleiche bis sogar identische Begrifflichkeiten geben kann, nennt Jesus die ( מלכות השמיםMalchut Haschamajim), die Königsherrschaft Gottes. Sich in dieser sonst wenig bezaubernden Stadt in einer kleinen, aber feinen Synagoge versammeln zu können und in der Sprache, in der Gott die Welt erschaffen hat, zu singen und zu beten und somit ein Stück „neue Welt“ für uns alle zu schaffen – inmitten eines Deutschlands, das politisch wieder weiter nach rechts rückt und fremdenfeindlich aufrüstet – beinhaltet einen großen Segen, den wir alle nur genießen können. Bringt er uns doch nach der Schoah in eine endlich wieder mögliche, lebendige Balance mit all dem, was wir an Vielfalt und Schönheit im religiösen Spektrum finden können. Und es baut sich durch Gottes Zutun und Segen die מלכות השמיםfast wie von selbst.
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„Es gibt Steine wie Seelen, die sind hingeworfen auf den Straßen. Aber wenn einst die neuen Häuser gebaut werden, dann fügt man ihnen die heiligen Steine ein.“1 Nichts anderes tut sich in Pinneberg, auch im Zusammengehen und in der Freundschaft mit muslimischen Gläubigen der DITIB-Moschee und anderen. Die quasi „angeborene“, von Natur aus vorhandene Offenheit des liberalen Judentums auch Frauen und Männern anderer Religionen, insbesondere meiner evangelisch-lutherischen Tradition gegenüber, ist in Pinneberg gleichsam personifiziert in Wolfgang Seibert. Es ist ein weiterer friedensstiftender Aspekt, den ich ausdrücklich und voller Dank betonen möchte, da er sich keineswegs auf mich beschränkt, sondern vielmehr auf alle freundlich und im tiefsten liberal gesinnten Menschen (Friede auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens). Und so freue ich mich, gefragt worden zu sein für dieses liber amicorum etwas zu schreiben. Da ich hin und her gerissen bin, ob ich etwas Jüdisches oder etwas Christliches zum Anlass weiteren Erfreuens nehmen sollte, bleibe ich bei dem, was ich besonders liebe, und wende mich dem bereits angesprochenen Thema zu, der מלכות השמים. Möge sie beiden, Juden und Christen, deutlich sein. Auszüge aus meiner Predigt zu Mk 4, 26-29 zu Sexagesimae am 19. Februar 2017 in der Heilig-Geist-Kirche zu Pinneberg, die ab und zu auch von der Jüdischen Gemeinde Pinneberg als Versammlungsort für größere Veranstaltungen wie Purim genutzt wird: „Haben Sie, habt Ihr schon einmal erlebt, dass etwas von ganz allein geworden ist? Ohne großes Zutun? Sie glauben, das gibt es nicht? – Die Bibel sagt: doch. Ohne dass man sich groß kümmert. Der Traum jeder Hausfrau … es geschieht etwas, ohne unser Zutun … ohne diese wahnsinnigen Anstrengungen, etwas zustande bringen zu müssen. 1
Quelle: http://www.lexikus.de/bibliothek/Die-Geschichten-des-Rabbi-Nachman/ Worte-des-Rabbi-Nachman/Die-Wanderung-der-Seelen.
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In unserem Innern. Nicht nur Seele, Geist und Leib entwickeln sich und verändern sich in einem Menschenleben, sondern auch das, was Gott tut – im Innern. Und zwar das, was Jesus das Reich Gottes nennt. Wächst einfach – in uns, unter uns, mit uns. Der durch und durch jüdische Mann Jesus hat seinen Zuhörern immer wieder davon erzählt und immer wieder Bilder und ganze Bildergeschichten dazu entwickelt … Er hat sie so eindrücklich erzählt, dass sie viele Jahre hindurch immer wieder erzählt worden sind, in lebendiger Erinnerung blieben und dann in den Kanon des Neuen Testamentes aufgenommen worden sind – Bilder-Geschichten zum Reich Gottes. Weder Jesus noch seine Jüngerinnen und Jünger ließen sie los, man lebte damit und bestärkte die eigene Frömmigkeit und die anderer – wie mit anderen religiös tradierten Geschichten auch. Das lebendige Erzählen in die Lebenssituationen der Menschen hinein hat bis heute nicht aufgehört – weder im jüdischen noch im christlichen Gottesdienst, in dem es um das Gottsuchen und Gottfinden, die innere Brücke in dieses Reich Gottes geht. Im Lukasevangelium heißt es: „Da er aber gefragt ward von den Phariseern / Wenn kompt das reich Gottes? Antwortet er jnen / vnd sprach / Das reich Gottes kompt nicht mit eusserlichen Geberden / Man wird nicht sagen / Sihe hie / oder da ist es. Denn sehet / Das reich Gottes ist inwendig in euch.“ (Lk 17,20 nach Luther im Original) Inwendig in Euch – übersetzt der alte Luther. In der neuesten Übersetzung (2017) steht: Es ist mitten unter euch. Das ist etwas ganz anderes als inwendig in euch. Wahrscheinlich wollten die moderneren Übersetzer mitteilen: Das Reich Gottes gehört doch in eine Gemeinschaft. Dort muss man es spüren – inwendig innen, in einem einzelnen Menschen ist doch viel eigene Phantasie, eigene Konstruktion – aber ist das so? Ist es nicht auch so, dass ich es sowohl in mir als auch in der Gemeinschaft, zusammen mit anderen spüre, wenn es „geschieht“? Was macht das Reich Gottes mit mir? Was mit anderen? Was macht es mit uns? Hören wir den Text aus Markus 4 zum Reich Gottes:
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Und er (Jesus) redete: das Reich Gottes ist wie ein Mensch, der wirft Samen auf die Erde und schläft und steht auf, Nacht und Tag hindurch, und der Same sprosst und wächst in die Höhe. Wie, weiß er selbst nicht. Von selbst bringt die Erde Frucht, zuerst grüne Saat, alsdann die Ähre, darauf das volle Weizenkorn in den Ähren. Wenn es die Frucht zulässt, sendet er sofort die Sichel, denn die Ernte ist da. (Verse 26 bis 29) Ein Bild entsteht. In mir. Ein Mensch, der Samen auf die Erde wirft … leicht zu verstehen, leicht zu sehen … ein schönes Bild. Das würde auch meine muslimische Freundin Fatma freuen, die sich immer so begeistern kann für reife Kornfelder. Dieses Wogen der Ähren im Wind. Diese Farben, diese Schönheit. Sie steht im Feld und ist glücklich. Alles in Ordnung, das Leben ist spürbar. Gottes Segen auch, sagt sie. Diese Fülle an reifen Körnern, die von einem Tag auf den anderen geerntet werden … entstanden aus einzelnen, ausgestreuten kleinen Körnern, vielfach vermehrt … Saatkorn. Saat des Lebens, Saat Gottes. Das Reich Gottes ist wie ein Mensch. Der aussät … und erntet. Auch Gott macht das Ernten Spaß, wie wir hören. Sobald was da ist von seinem Reich – kommt er selbst und erntet. Wahrscheinlich macht er das immer wieder einmal, kommt einfach, freut sich und erntet … vielleicht sogar mehrmals in der Woche, oder sogar mehrmals am Tag? Ernte hat so viel mit dem Leben zu tun. Und doch ist dieser Bibeltext nicht nur ein Ernte-Erlebnis-Text. Der erste Satz ist ganz besonders beachtenswert. Er legt den Fokus auf uns selbst: Das Reich Gottes ist wie ein Mensch. Nicht wie viele Menschen oder alle – sondern wieder nur einer. Ein Mensch. Das Reich Gottes ist wie ein Mensch – in dessen Innern etwas ganz Enormes vor sich geht. Es geht nicht nur um Säen, Wachsen und Ernten. Es geht um „alles in der Welt“. Um Gott und die Welt – in uns. Es geht um Dich, um mich, um uns. Es geht darum, wie sein Himmel, seine Königsherrschaft, beginnt –
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in uns – und unseren „Gemeinschaften“. Wie sie wächst und „erntereif“ wird. Und was haben wir heute noch mit dem Reich Gottes am Hut? Interessiert uns das überhaupt wirklich? In einer Welt, in der man fast alles kaufen kann? Wo alles zu haben ist, selbst das „Himmelreich“? Wo man sich so gut wie alles selber machen kann? … Wo man Gott nur braucht, wenn man ins Krankenhaus muss oder wenn man ein schönes Familienfest feiern möchte – wie eine Taufe oder Konfirmation? Der Text aber ist sehr klar und deutlich. Das Himmelreich hat gar nicht so viel damit zu tun, was wir machen oder wollen oder womit wir unsere Zeit füllen. Die מלכות השמיםkommt quasi von allein. Ohne unser Zutun. Gott wirkt sie in uns. Still und verborgen und doch durch uns im Innern und dann aus uns heraus. Sie wächst sozusagen über uns hinaus. Es entsteht das Reich Gottes. Wie ein Mensch entsteht – so entsteht das Reich Gottes. Das Eigentliche ist dem Tun des Menschen aber sowas von entzogen, dass man es fast als „totalitäres System“ bezeichnen könnte. Das Reich Gottes entsteht ohne unser Zutun – allein durch Gottes Werk. Still und verborgen. Aber in uns. Versuchen wir es einmal von einer anderen Seite: Wir leben auch in einer Zeit ständiger Terrorgefahr, in der immer wieder Anschläge von Terroristen und Fundamentalisten verübt werden, mit dem Ziel „Gottesreiche“ mit Bomben „aufzubauen“, „auszubomben“. Dann möchte auch die rechtsorientierte AfD unserer Zeit, dass im christlichen Abendland, „alles in Ordnung“ ist und Gott der rechte Gott ist – wobei sie nur eine Seite Gottes „gelten lässt“ (als wenn man das könnte. „Warum gibt es unterschiedliche Religionen, wo es doch nur einen Gott gibt? Und die Anhänger sind dann auch noch der Meinung, Gott ‚glaube‘ nur an sie?“ fragte Rabbi Rothschild in seiner Bühnenshow im Eppendorfer Kulturhaus im Februar 2017).
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Gott aber lässt sich das nicht nehmen – weder aus der Hand noch aus dem Segens-Handeln: Sein Reich wirkt er selbst, das macht er – weil unsereins das gar nicht kann. Das Säen, das Wachsen und Fruchtbringen bis hin zum Ernten – das macht Gott! Wir leben unser Leben – und merken mal mehr, mal weniger etwas von Gott – er aber lässt seine Sonne scheinen über Gute und Böse und inwendig in uns das Reich Gottes anlegen und wachsen – bis es dann geerntet werden kann. Eigentlich ohne Zeitangabe, jeden Tag oder nur dann, wenn es reif ist – zum Schluss aber ganz bestimmt. Sicherlich schaut er ja jeden Tag, was es da so zu ernten gäbe und gibt – gar nicht so geduldig. Bei mir habe ich jedenfalls den Eindruck, ist das so. Jesus konzentriert sich in seiner Bildergeschichte nicht auf das „passive“, fast hilflose, dem Tun Gottes gleichsam völlig ausgesetzte Abwarten des Menschen, sondern er beschreibt einfach nur den Ablauf der Vorgänge wie in der Natur. Man muss Geduld aufbringen und warten können auf die Ernte – bis zur Ernte, aber spüren tut man schon etwas – von Anfang an. Gott wirkt in einem Menschen, er sät und baut und macht und tut. Selbst die Ernte macht nicht der Mensch, sondern Gott. Gott macht das – wie beruhigend. Wohin der Same, Gottes Wort, auch fällt, es kehrt nicht leer zurück. Der Segen bringt Segen hervor. Es wächst. Jesus erzählt von Gottes Tun in uns – gegen alle Fanatiker und übermäßig Bemühten, do-it-yourself-maker, denen das alles oft nicht schnell genug gehen kann – und die dann selbst anpacken, weil Gott ihnen einfach zu lahm ist. Das Gleichnis von Jesus aber hat eine enorme Wucht. Der Mensch muss sich vor Gott darauf gefasst machen, dass Gott sein Ding durchzieht, ob er /sie will oder nicht. Am Ende steht man vor Gottes Reich und weiß eben nicht, wie man dazu gekommen ist bzw. wie es in einem oder einem anderen, wie es in einem Menschen zustande gekommen ist.
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Für alle diejenigen, die ein Projekt nach dem anderen planen und alles selbst tun wollen, damit es gelingt, ist dieses Gleichnis vielleicht aber auch ein großer Trost? Wer seinen Anteil vom Himmel heraus rechnen will, der hat es immer noch nicht begriffen, sondern hat ihn schon jetzt verloren. Die Versuchung, Gott beiseite zu schieben und sich selbst an seine Stelle als „Macher“ zu setzen, ist in unserer heutigen Zeit so gut wie auf allen „Wachstumsgebieten“ sehr groß. Eine Art Größenwahn. Sich selbst als den Säenden anzusehen, der immer wieder aussät und bis zur Ernte alles „selbst“ beeinflusst und steuert, ist ein großer menschlicher – und verheerender – Irrtum. Gott aber will etwas anderes. Jesus hat es „im Ohr“, dieses Kerygma des Tenachs. Denn so finden wir es bei Jesaja – Gottes wunderbarer Weg: „Suchet den HERRN, solange er zu finden ist; ruft ihn an, solange er nahe ist. Der Gottlose lasse von seinem Wege und der Übeltäter von seinen Gedanken und bekehre sich zum HERRN, so wird er sich seiner erbarmen, und zu unserm Gott, denn bei ihm ist viel Vergebung. Denn meine Gedanken sind nicht eure Gedanken, und eure Wege sind nicht meine Wege, spricht der Herr, sondern so viel der Himmel höher ist als die Erde, so sind auch meine Wege höher als eure Wege und meine Gedanken als eure Gedanken. Denn gleichwie der Regen und Schnee vom Himmel fällt und nicht wieder dahin zurückkehrt, sondern feuchtet die Erde und macht sie fruchtbar und lässt wachsen, dass sie gibt Samen zu säen und Brot zu essen, so soll das Wort, das aus meinem Munde geht, auch sein: Es wird nicht wieder leer zu mir zurückkommen, sondern wird tun, was mir gefällt, und ihm wird gelingen, wozu ich es sende. Denn ihr sollt in Freuden ausziehen und im Frieden geleitet werden. Berge und Hügel sollen vor euch her frohlocken mit Jauchzen und alle Bäume auf dem Felde in die Hände klatschen.“ (Jesaja 55, 6-12) Gott ist die erste Ursache, er ist Schöpfer von allem, auch von uns, auch von den Anlagen in uns zu seinem Reich. Das ist hier sehr klar.
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Es geht bei Gott nicht darum, dass man sich hinstellt und sagt: „Das war alles meine Idee. Das habe ich gemacht. Ohne meine umwerfende Persönlichkeit, meinen Charme, meine Beziehungen und vor allem mein Können hätte das gar nicht entstehen können!“ Das ist beim Reich Gottes nicht möglich. Was wächst, entsteht durch Gott, bei mir und mit anderen zusammen. Denn von selbst bringt die Erde Frucht. Der Mensch weiß nicht, wie. Sie tut es ohne ihn. Der Text ist eine Einladung zum Staunen darüber, was in uns wächst durch Gottes Segen – und in und durch andere. Amen. Dorothea Papa ist Pastorin der Evangelisch-Lutherischen Heilig-GeistKirchengemeinde Pinneberg.
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The Question of Holiness Ephraim Meir In many religions, holiness is a central notion. In the following, I reflect on the Jewish understanding of holiness, which is, in my view, basically humanistic. I offer my short meditation to Wolfgang Seibert, who spontaneously knew what holiness is about when in 2014 he welcomed a Sudanese refugee into his reform synagogue in Hamburg. As the leader of the Jewish community in Pinneberg, Wolfgang took care of "his" refugee during the month of Ramadan and protected him until he received refugee status. I salute Wolfgang, who now celebrates his seventieth birthday, with the traditional wish "until 120." In the Torah-portion Qedoshim (Lev. 19:1-20:27), we hear the words "You shall be holy, for I the Eternal your God am holy" (Lev. 19:2: qedoshim tiheyu ki qadosh ani ha-Shem). The meaning of this verse is clear: only God IS holy, Jews are commanded to BECOME holy. This central commandment indicates that the Jewish people are not intrinsically holy, since their task consists in becoming holy. Jews are assigned to strive for holiness, without ever reaching the level of the Holy One himself. To become holy is therefore a life-long, asymptotic task that is infinite. Only a self-deluded individual would say that he has reached the goal. Holiness is not inherent in the Jewish people. It is not an ontological quality or a natural status; it is rather a never-ending duty. The Hebrew word for "holy" is qadosh and its meaning is "separated." The separatedness of "holiness," is not negative: it is a separatedness in function of a relationship. In the covenant (in Hebrew: berit), God as the Holy One relates to the people of Israel, who are commanded to become a "priestly kingdom and a holy nation" (Ex. 19:6 mamlèkhèt cohanim vegoy qadosh). Our daily prayers in the community always end with a sentence of the prophet Zechariah: "And the Eternal will be King over the entire earth;
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on that day the Eternal will be One and his name One" (Zechariah 14:9 ve-haya ha-Shem le-mèlèkh al kol ha-arèts, ba-yom ha-hu yiheyè haShem èchad u-shemo èchad). The words "on that day" (ba-yom ha-hu) demonstrate that God is not yet "One" for the people of Israel, who have to make Him One by creating a unified society and a unified humanity. In other words: Israel's credo "Listen Israel, the Eternal is our God, the Eternal is One" (Deut. 6:4 shema Yisrael ha-Shem elohenu ha-Shem èchad) makes no sense if this theological utterance remains without anthropological consequences. To make God One is only possible through the creation of a unified humanity. God will become unique for us once humanity is united. With this difficult task, for which Israel is chosen in a difficult election and for which they have paid a high price for centuries, Israel sees itself as the "one nation," parallel with "the one God." The uniqueness of Israel is parallel with the uniqueness of God. This comes into expression in a prayer (Mincha) on Shabbat: "You are One and your name is One and who is like your people Israel, a unique people upon the earth" (atta èchad ve-shimkha èchad, u-mi ke-amkha Yisrael goy èchad ba-arèts"). The uniqueness of the Jewish people lies in the consciousness of its task to unify the world and, by doing so, making God One. In an elevated Jewish religious lifestyle and way of thought, one comes into contact with the Holy One, with the One, through contact with others. The infinite comes into perspective in the attachment and dedication to other finite beings. The verse "You shall be holy, for I the Eternal your God am holy." (Lev. 19:2 qedoshim tiheyu ki qadosh ani ha-Shem elohekhèm) is situated in the larger context of many social commandments such as the deference to one’s mother and father (Lev. 19:2), the duty to rise before the aged and to respect the face of the old, the prohibition of stealing (Lev. 19:11) and the interdiction of cheating in measuring length, weight, or quantity (Lev. 19:35). Foremost, the central commandment to become holy receives special importance in the commandment to love the neighbor. The verse of Lev.
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19:18 is explicit: "You shall not take vengeance or bear a grudge against the sons of your people; you shall love your neighbor as yourself: I am the Eternal" (lo tiqom ve-lo titor beney amèkha ve-ahavta le-re'akha kamokha, ani ha-Shem). Situated in its historical context, the command to love the neighbor is the command to love the fellow Jew, parallel with "the sons of your people" in the first half of the verse. However, explaining a verse in its historical context is not enough; it also and foremost functions in the present day context. A text echoes in ever changing contexts, until today. In the dialogical interreligious hermeneutics which is currently evolving, the verse of Lev. 19:18 pertains to all human beings, whoever and wherever they are. Beyond its historical meaning, we may interpret the verse as urging us to love the fellow human being, who is a brother or a sister. A person is assigned to love the fellow human being as if they were his or her own family and this makes him or her unique: the I becomes unique because he or she takes care of the other. We are called to love the other, whoever that may be. That love, being there for the other, is our uniqueness. We are responsible for his or her life and welfare. This interpretation of Lev. 19:18 goes beyond loving the members of our own group. "The neighbor," whom we have to love, is anyone. If we want to make God One, we will have to relate to others as if we are all one family. Here we can learn from Ben Azai, who was in disagreement with Rabbi Akiva. Rabbi Akiva condensed the entire Torah to the verse "You shall love your neighbor as yourself." But this verse, as I explained, is ambiguous: who is the neighbor in this case? Ben Azai disagreed with Rabbi Akiva. He referred to the verses in Genesis, “this is the book of the generations of Adam: in the day that God created Adam in the likeness of God He made him. Male and female He created them” (Gen. 5:1-2a). According to him, the neighbor is unambiguously every human being, since all are made in God’s image. Therefore, he preferred the verse in Genesis as the basis of the entire Torah. Hillel formulated the Biblical love commandment, “You shall be loving towards your fel-
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low human being as yourself” in a negative way: “Do not to others what you do not want done to yourself” (Babylonian Talmud Shabbat 31a). This is the quintessence of the Torah. One hundred years later, Rabbi Akiva taught that the love commandment is the “great rule” (klal gadol) of the entire Torah (Jerusalem Talmud, Nedarim 9:4). We understand this as the commandment to develop a positive attitude towards every human being, as if he or she was my brother or sister. About two millennia later, the German Jew Franz Rosenzweig in his Star of Redemption (1921) saw this commandment as the source of all other commandments. To create a brother- and sisterhood with all in view of a unified world is the duty of every Jew and, in fact, of every human being. The love commandment especially applies to strangers who live amongst us. Lev. 19:34 reads: "As a citizen among you shall be the foreigner who resides with you; you shall love him as yourself, for you were foreigners in the land of Egypt: I am the Eternal your God." (keèzrach mi-kèm yiheyè lakhèm ha-ger ha-gar itkhèm, ve-ahavta lo ki gerim hayyitèm be-èrèts mitsrayim, ani ha-Shem elohekhèm). This verse offers us the motivation for relating lovingly to the foreigner: we have to love the stranger, because we ourselves resided in a foreign land, where we were oppressed. We know what discrimination, humiliation and persecution are about. The Exodus meant the redemption out of our situation of slavery. Today, foreigners are frequently second class citizens, a new kind of slaves who do the work which others refuse to do; they are often ill-treated and discriminated against. The attention to the foreigner and the love of him or her urge us to action. Holiness resides in the love of the foreigner. Welcoming the stranger and assisting him or her is a holy duty and brings us in contact with the Higher Worlds. Wolfgang Seibert has given us an example of such a practical holiness. He is a Jew giving "Kirchenasyl" to a Muslim. This is concrete interconnectedness, concrete holiness. In an instinctively Jewish act, Wolfgang helped "his" refugee, because he remembered
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the situation of the Jews in Germany more than 70 years ago, and the situation in Egypt more than 3200 years ago. Jews have a long memory. Prof. Dr. Ephraim Meir ist Professor für neuere jüdische Philosophie an der Bar-Ilan-Universität in Ramat Gan, Israel, und Emmanuel-LévinasGastprofessor für jüdische Dialogstudien und interreligiöse Theologie an der Akademie der Weltreligionen der Universität Hamburg.
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Menschenrechte haben (k)eine Religion.
Abraham Joschua Heschel und Martha Nussbaum Michaela Will I. Menschenwürde und Menschenrechte „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geist der Brüderlichkeit begegnen.“2 Mit diesen Worten beginnt die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen von 1948. Und weiter heißt es: „Jeder hat Anspruch auf die in dieser Erklärung verkündeten Rechte und Freiheiten ohne irgendeinen Unterschied, etwa nach Rasse, Hautfarbe, Geschlecht, Sprache, Religion, politischer oder sonstiger Überzeugung, nationaler oder sozialer Herkunft, Vermögen, Geburt oder sonstigem Stand.“3 Zu diesen unverletzlichen und unveräußerlichen Rechten gehört auch das Recht auf Religionsfreiheit. Diese umfasst Glaubensfreiheit ebenso wie „die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung allein oder in Gemeinschaft mit anderen, öffentlich oder privat durch Lehre, Ausübung, Gottesdienst und Kulthandlungen zu bekennen.“4 Insofern haben die Menschenrechte von ihrem Anspruch her ‚keine Religion‘. Sie gelten allen Menschen unabhängig von der Art ihrer Religion und billigen ihnen Religionsfreiheit zu. Die unantastbare Würde jedes Menschen und das Bekenntnis zu den Menschenrechten sind auch die Grundpfeiler des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland.5 Die theoretische und praktische Religionsfreiheit gilt auch hier als unverletzlich und kann somit nur durch die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen, Artikel 1, unter: http://www.un.org/depts/german/menschenrechte/aemr.pdf . 3 A.a.O., Artikel 2. 4 A.a.O., Artikel 18. 5 Vgl. Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Artikel 1 und 2, unter: http://www.gesetze-im-internet.de/bundesrecht/gg/gesamt.pdf . 2
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Grundrechte anderer begrenzt werden. So heißt es in Artikel 4 des Grundgesetzes: „Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich. Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet.“6 Dennoch ist die Religionsfreiheit in Deutschland in den letzten Jahren vermehrt begrenzt worden, und zwar insbesondere gegenüber Angehörigen der islamischen Religion.7 Zu nennen wären hier beispielsweise das jüngst beschlossene Burkaverbot für Beamte sowie die in einzelnen Bundesländern geltenden Kopftuch- und Burkaverbote an Schulen.8 Hinzu kommen die alltäglichen offenen und subtilen Diskriminierungen, wenn beispielsweise Musliminnen aufgrund ihres Kopftuchs Respekt oder ein Arbeitsplatz verweigert werden. Haben Menschenrechte in unserem Land also doch eine Religion, nämlich die christliche? Lassen Sie A.a.O., Artikel 4, Absatz 1 und 2. Vgl. Ute Sacksofsky (2015): Glaubensfreiheit – ein Grundrecht nur für den religiösen Mainstream?, in: Merkur 69 (789), 57-64, hier 57. Vgl. auch dies. (2014): Religiöse Freiheit als Gefahr?, in: dies. [u.a.]: Erosion von Verfassungsvoraussetzungen. Berichte und Diskussionen auf der Tagung der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer in Erlangen vom 1. bis 4. Oktober 2008, Berlin, 7-46. 8 Vgl. epd/mig (2017): Bundestag beschließt Burka-Verbot für Beamte, unter: http://www.migazin.de/2017/05/02/umstritten-bundestag-burkaverbot-beamte/ ; NDR.de (2016): Hamburgs Schulen kämpfen gegen Islamismus, unter: https://www.ndr.de/nachrichten/hamburg/HamburgsSchulen-kaempfen-gegen-Islamismus,islamschueler100.html . Vgl. auch Michael Ohlhus-Molthagen (2017): Burkaverbot für Beamte verfassungsgemäß?, unter: http://www.burkaverbot.de/aktuell/274burkaverbot-fuer-beamte-verfassungsgemaess; Maximilian Steinbeis (2014): Zur Geselligkeit verpflichtet, VerfBlog, 2014/7/24, unter: http://verfassungsblog.de/zur-geselligkeit-verpflichtet/; ders. (2014): Burkaverbot: Grundrechtsschutz auf Proportionalitäts-Fläschchen gezogen, VerfBlog, 2014/7/01, unter: http://verfassungsblog.de/burkaverbot-grundrechtsschutz-aufproportionalitaetsflaeschchen-gezogen/. 6 7
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uns dazu auf die Stimmen von zwei jüdischen Denker*innen hören, die zu unterschiedlichen Zeiten für die Rechte von Minderheiten eingetreten sind: Abraham Joshua Heschel und Martha Nussbaum. II. Alle Menschen sind Gottes Kinder (Abraham Joshua Heschel) 9 a) Zur Biographie Abraham Joshua Heschel (1907-1972) ist in Warschau als Nachkomme bedeutender rabbinischer Persönlichkeiten geboren.10 Seine Vorfahren waren über sieben Generationen chassidische Rabbiner.11 Als zukünftiger chassidischer Führer wurde er unter der Aufsicht seines Vaters Moshe Mordecai Heschel und nach dessen Tod unter der Aufsicht seines Onkels Alter Israel Shimon Perlow, des Novominsker Rebbe, von Privatlehrern unterrichtet und lernte schon früh Bibel, Mischna und Kodices, Talmud, Midrasch und chassidische Literatur. Zusätzlich lernte er in einem von der Gerer Dynastie12geprägten Schtiebl (kleine Synagoge)
Zum Folgenden vgl. Michaela Will (2016): Pfarramt und Rabbinat. Identitätskonstruktionen im Dialog, 111ff, 159ff. 10 Zur Biographie vgl. Eduard K. Kaplan / Samuel H. Dresner (1998): Abraham Joshua Heschel. Prophetic Witness, New Haven / London; Eduard E. Kaplan (2007): Spiritual Radical. Abraham Joshua Heschel in America, New Haven / London; Susannah Heschel (1996): Introduction, in: A.J. Heschel (1996): Moral Grandeur and Spiritual Audacy, ed. By Susannah Heschel, New York, vii-xxx; Fritz A. Rothschild / Ephraim Meir (2007²): [Art.] Heschel, Abraham Joshua, in: Encyclopedia Judaica, Vol. 9, Detroit, 70-72;. 11 Vgl. Abraham Joshua Heschel (1996): Interview at Notre Dame, in: ders. (1996): Moral Grandeur and Spiritual Audacy, 381-393, hier 383f. 12 Die Gerer Rabbiner-Dynastie ist eine chassidische Bewegung, deren Ursprung im 19. Jahrhundert in der polnischen Stadt Góra Kalwaria, jiddisch: Ger, liegt. Vgl. Stefan Krakowski / Abram Juda Goldrat (2007²): [Art.] Gota Kalwaria, in: Encyclopaedia Judaica, Vol. 7, 760f. 9
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und in der chassidischen Mesivta Yeshiva, in deren Rahmen er ca. 1923 von Rabbiner Menahem Zemba ordiniert wurde.13 Nach seinem Abitur in Wilna (1927) studierte Heschel in Berlin an der Friedrich-Wilhelm-Universität Philosophie, Kunstgeschichte und Semitische Philologie sowie an der liberalen Hochschule für die Wissenschaft des Judentums, wo er ab 1931 höhere Semester Talmud lehrte. Zugleich pflegte er Kontakte zum Rabbiner-Seminar für das orthodoxe Judentum. 1934 erhielt er seine liberale Rabbinerordination durch Rabbiner Alexander Guttmann, 1935 mit einer Dissertation über Prophetie die Doktorwürde.14 1937/38 arbeitete er für die Mittelstelle für jüdische Erwachsenenbildung bei der Reichsvertretung der Juden in Deutschland und lehrte am Jüdischen Lehrhaus in Frankfurt am Main, dessen Leitung er nach der Emigration Martin Bubers übernahm. Nach seiner Ausweisung nach Polen Ende 1938 lehrte er in Warschau am Instytut Nauk Judaistycz, dem Warschauer Institut für Jüdische Studien. 1939/40 gelang es ihm, über London, wo er das Institute for Jewish Learning gründete, in die USA zu fliehen.15 Dort lehrte er fünf Jahre als außerordentlicher Professor für Philosophie und rabbinische Studien am Hebrew Union College in Cincinnati angehende Reformrabbiner und dann bis zu seinem Tod als Professor für Jüdische Mystik und Ethik am Jewish Theological Seminary in New York, der Ausbildungsstätte des konservativen Judentums.16 Heschels Werk umfasst neben Studien über klassische jüdische Quellen wie Prophetie, Talmud, mittelalterliche Philosophie und Chassidismus religionsphilosophische Schriften und BeiZu den unterschiedlichen Einflüssen der verschiedenen Richtungen des Chassidismus auf Heschel vgl. Abraham Joshua Heschel (20085): A Passion for Truth, Woodstock; ders.: (1985): The Circle of the Baal Sheem Tov. Studies in Hasidism, ed. by Samuel H. Dresner, Chicago / London. 14 Abraham Joshua Heschel (1936): Die Prophetie, Kraków. 15 Der größte Teil von Heschels Familie konnte nicht aus Europa fliehen und wurde ermordet. 16 Vgl. Kaplan (2007): Spiritual Radical, 1-65, 67ff. 13
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träge zu gesellschaftspolitischen Themen.17 Durch seine zahlreichen Vorträge und Veröffentlichungen, seine Lehre sowie durch sein gesellschaftspolitisches Engagement in der Bürgerrechtsbewegung, in der Anti-Vietnamkriegs-Bewegung18 und im interreligiösen Dialog19 hat er mehrere Generationen von Rabbinern verschiedener Richtungen geprägt und wurde und wird als prophetische Stimme auch in christlichen und politischen Kontexten wahrgenommen. b) Gleichheit als religiöses Gebot Schon 1958 hat Heschel in einem Vortrag vor der Rabbinical Assembly die Ängstlichkeit und Unschlüssigkeit der Rabbiner beklagt, zugunsten der Schwarzen Stellung zu beziehen.20 1963/64 entfaltet er dies in zwei Vorträgen vor den ‚religiösen Führern’ der jüdischen und christlichen amerikanischen Gemeinden. In seinem Vortrag vor der National ConfeVgl. Rothschild / Meir (2007²): [Art.] Heschel, Abraham Joshua, 70. Vgl. Abraham Joshua Heschel (1996): The Reasons for My Involvement in the Peace Movement, in: ders.: Moral Grandeur and Spiritual Audacy, 224-226; ders. (1966): The Moral Outrage of Vietnam, in: Robert McAfee Brown [u.a.]: Vietnam. Crisis of Conscience, New York, 4861. 19 Zu Heschels Verständnis des interreligiösen Dialogs vgl. Abraham Joshua Heschel (1965/2000²): Keine Religion ist ein Eiland, in: Fritz A. Rothschild (Hg.): Christentum aus jüdischer Sicht. Fünf jüdische Denker des 20. Jahrhunderts über das Christentum und sein Verhältnis zum Judentum, Berlin / Düsseldorf, 324-341; Abraham Joshua Heschel (1985): Die ökumenische Bewegung, in: ders.: Die ungesicherte Freiheit. Essays zur menschlichen Existenz, Neukirchen-Vluyn, 145148. Vgl. auch Ephraim Meir (2011): Differenz und Dialog (Religionen im Dialog 4), Münster [u.a.], 159ff; Ursula Rudnick (2007): Zur jüdischen Wahrnehmung des Christentums. Joseph B. Soloveitchik und Abraham Joshua Heschel, in: Begegnungen 90/4, 11-22, hier 19ff. 20 Vgl. Heschel (1958): Yisrael: Am, Eretz, Medinah, in: Proceedings of the Rabbinical Assembly of America 22, New York, 118-136, hier 118; vgl. auch Kaplan (2007): Spiritual Radical, 215. 17 18
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rence on Religion and Race interpretiert er die Diskriminierung der Schwarzen vor dem Hintergrund der Sklaverei in Ägypten.21 Er verurteilt Rassismus als Satanismus sowie Blasphemie und verweist auf die Schöpfungsgeschichte, die die Verwandtschaft aller Menschen bezeugt und die Grundlage zur Versöhnung legt. Er betont, dass bei der Freiheit eines Menschen die Freiheit der ganzen Menschheit auf dem Spiel steht, dass alle verletzt werden, wenn ein Mensch beleidigt wird. Dabei denkt er an alle rassischen, religiösen, ethnischen und kulturellen Minderheiten. Er konstatiert, dass Rassismus ein Problem der Weißen ist, dass Gebet sowie Vorurteil nicht in demselben Herzen wohnen können und Gottesdienst ohne Mitgefühl ein Gräuel ist. Auf der Grundlage der jüdischen Tradition betont Heschel, dass öffentliche Demütigung eine Form der Unterdrückung ist, die schmerzlicher als körperliche Verletzung oder wirtschaftlicher Verlust ist. Er verweist darauf, dass es im Hebräischen für Mord und Demütigung nur ein Wort, ‚Blutvergießen’, gibt und die Tradition Selbsttötung der öffentlichen Beleidigung eines anderen Menschen vorzieht. Er kritisiert Nachlässigkeit und Schweigen als Mithilfe zum Unrecht sowie den Mangel an Forderungen, Insistieren, Einwänden und Verurteilungen. Als Grundlage dafür bezieht sich Heschel auf das Mitgefühl und Handeln der Propheten. Er verweist darauf, dass die Propheten sich als Anwälte der Schwachen verstanden, sich eingemischt, Unrecht nicht geduldet und andere zum Kämpfen aufgerufen haben.22 Sie hätten erkannt, dass Gleichgültigkeit böse ist und dass Gott nicht gleichgültig ist, sondern mitleidet. Im Unterschied zur prophetischen Einmischung führt Heschel die Haltung eines weißen Predigers auf. Dieser hatte die Pfarrer Vgl. Abraham Joshua Heschel (1985): Religion und Rasse, in: ders: Die ungesicherte Freiheit. Essays zur menschlichen Existenz, Neukirchen-Vluyn, 72-84. 22 Vgl. Abraham Joshua Heschel (1969): The Prophets, New York, Volume I, 204f; ders. (1969): The Prophets, New York [u.a.], Vol. II, 262ff. 21
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verdammt, die gegen die Diskriminierung protestiert hatten. Die Begründung des Predigers lautete, dass das Amt des Pfarrers in der Führung der Seelen der Menschen zu Gott und nicht in der Einmischung in vergängliche gesellschaftliche Probleme bestehe. Demgegenüber betont Heschel die leidenschaftliche Verkündigung der Propheten, dass Gott selbst mit diesen Problemen befasst ist. Er sieht den Anfang der menschlichen Tragik in der Absonderung Gottes bzw. der Trennung in weltlich und heilig. Für ihn ist Gott in den Slums spürbarer gegenwärtig als in Herrenhäusern. Gott ist bei denen, die unter den Beleidigungen der Gleichgültigen leiden. Im Blick auf den moralischen Zustand der Gesellschaft sieht Heschel einige als schuldig, aber alle als verantwortlich an, unabhängig vom einwandfreien Verhalten Einzelner. Dabei geht es Heschel um mehr als Gleichheit als erstrebenswertes Ziel. Er fordert das Gefühl für die Ungeheuerlichkeit der Ungleichheit ein. Denn aus seiner prophetischen Perspektive ist die Bedrohung der Gerechtigkeit eine Bedrohung Gottes. Das Recht auf Gleichheit beruht für ihn nicht auf menschlichem Verdienst, sondern auf der Liebe und Zuwendung Gottes zu allen Menschen, auf Gottes Gegenwärtigkeit in der Spur des Menschen. Gleichheit als religiöses Gebot beinhaltet für ihn persönliches Engagement, Bruderschaft, gegenseitige Achtung und Zuwendung. Es bedeutet, dass die Beleidigung und Entrechtung eines Schwarzen zur eigenen Verletzung und Beraubung wird. Die Grundlage dafür liegt in Heschels Erkenntnis der Einheit Gottes und der Menschheit. „Gott ist einer und die Menschheit ist eine. [...] Gott ist der Vorfahr jedes Menschen. Entweder ist Er der Vater aller Menschen oder keines Menschen. Entweder ist jeder Mensch Gottes Ebenbild oder keiner.“23
Heschel betont, dass die Pflicht, Achtung und Mitleid für jeden Menschen zu haben, unabhängig von dessen moralischen Verdiensten ist, Heschel (1985): Religion und Rasse, 80 (Hervorhebungen im Original). 23
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weil Gottes Bund allen Menschen gilt und alle die gleiche göttliche Würde haben. Für ihn ist die Diskriminierung eines Menschen eine Verachtung der Forderung Gottes. Grundlegend für Heschels Haltung ist der Glaube an die Fähigkeit des Menschen zur Umkehr, zu neuer Erkenntnis, neuem Geist und neuem Handeln. Ausgehend davon, dass Gott auf der Suche nach dem Menschen ist und wartet sowie hofft, dass der Mensch Gottes Willen tut, sieht Heschel es als das Zweckmäßigste an, zu handeln sowie an Gottes Hilfe und Gnade zu glauben. Er ist der festen Überzeugung, dass diese Welt bzw. diese Gesellschaft erlöst werden kann. Um auch gegen die eigene Neigung und Eigeninteressen für Gerechtigkeit einzutreten, braucht man, so Heschel, die Kühnheit des Glaubens. Das einzige Heilmittel sieht Heschel im persönlichen Opfer. Dabei geht es ihm darum, um Gottes willen mehr zu tun, als man verstehen kann, um einen Sprung in die Tat. Heschel fordert, dass die Not der Schwarzen das wichtigste Anliegen der religiösen Führer werden soll. In der Situation der Schwarzen vernimmt er Gottes Stimme, Gottes Forderung. Er betont, dass Gott für die Vollendung der Geschichte die Hilfe der Menschen braucht. Gottes Bedürfnisse könnten nicht im Raum durch den Besuch von Synagogen oder Kirchen befriedigt werden, sondern nur in der Geschichte bzw. in der Zeit durch Erbarmen und Gerechtigkeit. Heschel fordert die religiösen Führer dazu auf, nicht nur die Regierung zu ermahnen, sondern selbst durch Willkommenheißen der Schwarzen ein Beispiel zu geben, und erwartet tägliche Rechenschaft darüber. Er wünscht sich in jedem Menschen etwas von einem Propheten. Er fordert konstante konkrete Anteilnahme aller im öffentlichen und privaten Bereich. Die Sorge um die Würde der Schwarzen müsse Teil des Glaubensbekenntnisses werden, denn die Beleidigung eines Schwarzen sei eine Beleidigung der Majestät Gottes. Kein Geistlicher oder Laie dürfe in Frage stellen, dass sich die Verehrung Gottes in der Achtung vor dem Menschen zeige. Heschel vergleicht die Geschichte der Schwarzen mit 56
der Geschichte Josephs, der zum Retter für seine Brüder wurde, und verweist auf die großen geistlichen Schätze der Schwarzen, die zum Segen für die ganze Menschheit werden könnten. c) Recht zur Anpassung – Recht zum Anderssein In seinem Vortrag auf der Metropolitan New York Conference on Religion and Race betont Heschel 1964 die Notwendigkeit bleibenden Engagements gegen Rassismus in Theorie sowie Praxis und verbindet dies mit der Forderung nach grundlegenden gesellschaftlichen Veränderungen.24 Ausgehend davon, dass die Forderungen der Schwarzen bezüglich sozialer Veränderungen von vielen als banal angesehen würden, verweist Heschel darauf, dass Propheten wie auch Gott die menschliche Not in ihrer Alltäglichkeit beachtet und sich um die Schäden der Gesellschaft gekümmert hätten. Die Situation der Schwarzen wie auch die Not anderer Unterdrückter ist für Heschel Prüfstein für die Menschlichkeit der Weißen. Für Heschel ist die Notlage der Schwarzen ständige Erinnerung an das eigene Versagen und die eigene Nachlässigkeit. Konkret erinnert er daran, dass nicht die Autorität religiöser Institutionen die Apartheit verurteilte, sondern die religiösen Institutionen erst durch gerichtliche Entscheidungen zum Handeln gezwungen wurden. In den Gesetzen sieht er nur die Grundlage für Gleichheit, die allein durch Weisheit und Liebe vollendet werden kann. Dabei ist Gleichheit für ihn kein Zwang zur Einförmigkeit, sondern schließt das Recht zur Anpassung wie auch das Recht zum Anderssein ein. Integration bedeutet für ihn Gemeinschaft, gegenseitiger Respekt und Sich-umeinander-Kümmern. Sie entsteht durch gemeinsame Verehrung, Freude, Werte, Erkenntnisse und Verpflichtungen. Heschels Vision ist, dass eines Tages Hautfarbe und Rasse irrelevant sind. Dies könne nicht durch eine Behörde, sondern nur durch Vgl. Abraham Joshua Heschel (1985): Die Weißen auf dem Prüfstand, in: ders.: Die ungesicherte Freiheit, 85-93. 24
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begeisterte Lehrer und die Kraft eines starken Glaubens realisiert werden. Angesichts von Desintegration und Enthumanisierung der Gesellschaft geht es Heschel jedoch nicht um eine Eingliederung der Schwarzen in die bestehende Gesellschaft. Ihre Integration soll als Gelegenheit genutzt werden, die Glaubwürdigkeit der Gesellschaft zu überprüfen und diese zu verändern. Heschel sieht die Weißen auf dem Prüfstand, ob sie durch Hingabe und unaufhörliches Handeln der geistigen Würde des gewaltfreien Engagements der Schwarzen entsprechen. Er fordert von den Weißen Weisheit, Ausdauer und Großzügigkeit sowie die Fähigkeit, den Kummer der Schwarzen zu fühlen. Der Kampf um die Bürgerrechte ist für ihn auch ein Aufruf zu gesellschaftlicher Veränderung gegen Automation, Versagen des Erziehungssystems, Mißbrauch von Freiheit, Gleichgültigkeit, Sinnlosigkeit, Armut und Arbeitslosigkeit. In der Bewegung der Schwarzen sieht er den Schmerzensschrei einer kranken, gespaltenen Gesellschaft. Mit dem Verweis auf die Verzweiflung der Schwarzen fordert er die religiösen Führer zum Verständnis für Aktionen gewaltfreien Widerstands auf. Er warnt davor, dass Religion zum Spott wird, wenn die religiösen Führer gleichgültig gegenüber der Ironie einer hochtechnisierten, aber ungerechten Gesellschaft bleiben. Heschel hat nicht nur in Reden und Aufsätzen zur Unterstützung der Bürgerrechtsbewegung aufgerufen, sondern auch an Verhandlungen mit der Regierung und an Protestmärschen teilgenommen. In einem Telegramm anlässlich eines Treffens des amerikanischen Präsidenten mit 400 christlichen und jüdischen Geistlichen forderte er Kennedy auf, die religiösen Führer zu nationaler Umkehr sowie persönlichem Opfer aufzurufen und ein Monatsgehalt für einen Fond für Wohnung und Erziehung der Schwarzen spenden zu lassen.25 Am Protestmarsch von Selma nach Montgomery nahm Heschel in der ersten Reihe neben Martin Lu25
Vgl. Susannah Heschel (1996): Introduction, vii.
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ther King teil. In der amerikanischen Öffentlichkeit wurde er mit Kippa, weißem Haar und Bart als typischer Rabbiner und Symbol des hebräischen Propheten wahrgenommen. Heschel selbst beschreibt die spirituelle Bedeutung des Protestmarsches als Gebet: „For many of us the march from Selma to Montgomery was about protest and prayer. Legs are not lips and walking is not kneeling. And yet our legs uttered songs. Even without words, our march was worship. I felt my legs were praying.”26
In dieser Einheit von politischem Protest und Gebet wird die Verbindung von Spiritualität und Handeln deutlich, die Heschels Denken und Leben durchzieht. III. Gleiche Rechte für alle Religionen (Martha Nussbaum) a) Zur Biographie Die amerikanische Philosophin Martha Nussbaum ist 1947 in New York geboren.27 Sie studierte klassische Philologie und Theaterwissenschaften an der New York University und bei Bernard Williams, Hilary Putnam und John Rawls in Harvard. Nach Erwerb des Ph.D. in Altphilologie lehrte sie an der Harvard University, der Brown University und der Oxford University Philosophie, Altphilologie und vergleichende Literaturwissenschaften. Von 1987 bis 1993 arbeitete sie als Wissenschaftliche Beraterin am World Institute for Development Economics Research in Helsinki, einer Abteilung der United Nations University. Dort entwickelUnveröffentlichter Bericht Heschels, zitiert nach: Susannah Heschel (2005): Following in my father’s footsteps: Selma 40 years later, in: Vox of Dartmouth, Vol. XXIII, Issue 14. Vgl. auch: Unveröffentlichter Bericht Heschels, zitiert nach: Susannah Heschel (1996): Introduction, xxiii; dies. (1998): Theological Affinities in the Writings of Abraham Joshua Heschel and Martin Luther King, Jr., 133. 27 Zur Biographie von Nussbaum siehe http://www.law.uchicago.edu/faculty/nussbaum/; https://de.wikipedia.org/wiki/Martha_Nussbaum (Stand aller Webseiten: 16.6.17). 26
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te sie gemeinsam mit Amartya Sen den Capabilities Approach, der die Lebensqualität in Entwicklungsländern anhand der möglichen Fähigkeiten anstelle des Bruttoinlandsprodukts misst.28 Seit 1995 ist sie Professorin für Recht und Ethik an der University of Chicago. Für ihre Arbeiten hat sie viele Literaturpreise und 65 wissenschaftliche Ehrungen erhalten, u.a. von der Universität Bielefeld. 2016 erhielt sie den Kyoto Prize in Arts and Philosophy.29 Aufgewachsen als White Anglo-Saxon Protestant konvertierte sie anlässlich ihrer Heirat mit Alan J. Nussbaum zum Judentum, behielt ihren jüdischen Glauben auch nach der Scheidung bei. 2008 bestätigte sie ihre Verbundenheit zum Judentum durch die Feier ihrer Bat Mitzwa. Ihr 2012 erschienenes Buch The New Religious Intolerance ist dem reformjüdischen Rabbiner Arnold Jacob Wolf gewidmet.30
Vgl. Martha Nussbaum (2000): Women and Human Development. The Capabilities Approach. Cambridge University Press, Cambridge. Zu Nussbaums Weiterentwicklung des Befähigungsansatzes siehe Martha Nussbaum (1999): Sex & Social Justice, New York/Oxford; dies. (2002): Konstruktion der Liebe, des Begehrens und der Fürsorge. Drei philosophische Aufsätze, übersetzt von Joachim Schulte, Stuttgart. Der Band enthält jedoch nur drei der fünfzehn Aufsätze der englischen Aufsätzsammlung. 29 Vgl. Becky Beaupre Gillespie (2016): Prof. Martha Nussbaum wins Kyoto Prize, unter: https://news.uchicago.edu/article/2016/06/17/profmartha-nussbaum-wins-kyoto-prize. 30 Martha Nussbaum (2012): The New Religious Intolerance. Overcoming the Politics of Fear in an Anxious Age, Cambridge. Rezensionen: Giles Fraser (2012): Martha Nussbaum and the new religious intolerance: 'Is it right to allow nuns to teach in full habit but to ban Muslim teachers wearing headscarves?', in: The Guardian 29, Juni 2012; The New Religious Intolerance. An Interview with Martha Nussbaum, in: Memento, 17. Mai 2013; Maleiha Malik (2012): The New Religious Intolerance: Overcoming the Politics of Fear in an Anxious Age, in: Times Higher Education, 26. April 2012. 28
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Ausgehend von der aristotelischen Philosophie hat Nussbaum eine Theorie der Emotionen entwickelt, die Empathie als einen wesentlichen Bestandteil der Ethik ausweist.31 Diese Ethik entfaltet sie anhand zentraler gesellschaftlicher Herausforderungen, so im Blick auf Feminismus, weltweite soziale Gerechtigkeit, Inklusion und religiöse Toleranz. b) Die neue religiöse Intoleranz In ihrem 2014 in Deutschland erschienenen Buch Die neue religiöse Intoleranz. Ein Ausweg aus der Politik der Angst thematisiert Martha Nussbaum die zunehmende Diskriminierung von Muslim*innen in Europa und den USA und stellt das Selbstbild dieser Länder als offene, tolerante und vielfältige Gesellschaften in Frage. Ausgangspunkt für ihre grundlegende Kritik an Europa sind die Verbote von Burka, Niquab und Kopftuch, die sie als schwere Belastung der Ausübung religiöser Freiheit wahrnimmt, sowie das Minarettverbot in der Schweiz und die Morde in Norwegen. Darüber hinaus weist sie auf vielfältige Diskriminierungen im Alltag hin, mit denen Muslim*innen konfrontiert sind, wenn sie religiöse Verpflichtungen wie Kopfbedeckungen oder Essensvorschriften einhalten. Die Beobachtung, dass es in den USA auch Gewalt und Diskriminierung gibt, aber keine vergleichbaren gesetzlichen Verbote von religiöser Kleidung oder Minaretten, sieht Nussbaum in einem anderen Verständnis von Nationalität begründet. Während das US-amerikanische Verständnis nationaler Identität ausgehend von politischen Idealen definiert worden sei und Heterogenität eher zulasse, lege das europäische Nationalitätsverständnis den Akzent auf Homogenität und kulturelle Assimilation, auch wenn die vermeintliche Homogenität immer schon Fiktion war. Martha Nussbaum (2014): Politische Emotionen. Warum Liebe für Gerechtigkeit wichtig ist, übersetzt von Ilse Utz, Suhrkamp, Frankfurt a.M.; dies. (2012): Nicht für den Profit: warum Demokratie Bildung braucht. übersetzt von Ilse Utz, Überlingen. 31
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„In hohem Maß von der Romantik beeinflusst, haben diese Nationen geographische Abstammung, ethnolinguistische Volkszugehörigkeit sowie Religion als notwendige, zumindest aber zentrale Elemente der nationalen Identität benannt. Und damit scheinen alle Menschen, die einen anderen geographischen Ursprung, ein anderes heiliges Land, anderes Aussehen und Kleidung haben, nie ganz dazuzugehören, gleichgültig, wie lange sie schon in dem betreffenden 32 neuen Land leben.“
Zugleich betont Nussbaum, dass Vorstellungen nationaler Identität der Veränderung unterworfen sind und Europa ein stärker inklusives und politisches Verständnis nationaler Zugehörigkeit entwickeln kann. „Immer haben Nationen mehrere Optionen: Sie können einige Eigenschaften der Nationalität hervorheben, andere in den Hintergrund rücken. Eine Nation ist eine Erzählung, eine Geschichte darüber, was die Menschen zusammengeführt hat und was sie zusammenhält, eine Geschichte des geteilten Leids, geteilter Freuden und Hoffnungen. Diese Geschichte ist immer dynamisch und kann auf eine Weise erzählt werden, die Integration begünstigt – oder, wenn 33 Ängste die Oberhand gewinnen, den Ausschluss.“
Um die Wurzeln der Ängste und Verdächtigungen freizulegen, die aus ihrer Sicht gegenwärtig die westlichen Gesellschaften entstellen, hält Nussbaum „eine ethische Herangehensweise im Geiste Sokrates‘“ für dringend notwendig.34 Hierfür bedarf es politischer Grundsätze gleichen Respekts, rigoroser Kritik an Ungleichbehandlungen und der Ausbildung des „inneren Auges“, des Mitgefühls. c) Politische Grundsätze gleichen Respekts Als ersten Schritt zur Bekämpfung falscher Ängste nennt Nussbaum die Entwicklung von Grundprinzipien, die die Neigung der Angst zur Bevorzugung des eigenen Ich aufdecken und einer solchen Parteilichkeit durch den Blick auf das Wohl der anderen entgegenwirken. Diese PrinA.a.O., S. 22f. A.a.O., S. 87. 34 Martha Nussbaum (2014): Die neue religiöse Intoleranz. Ein Ausweg aus der Politik der Angst, Darmstadt, 13. 32 33
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zipien liegen für sie in den Gedanken der Menschenwürde, der Gleichheit und der Gerechtigkeit gegenüber Minderheiten. Das letzte Prinzip sieht sie in Europa nicht in gleichem Maße ausgeprägt wie in den USA. Das Prinzip der Menschenwürde bedeutet für Nussbaum, dass alle Menschen unveräußerliche, menschliche Würde besitzen und im Hinblick auf diese Würde gleich sind. Im Unterschied zu Immanuel Kant und John Rawls verknüpft sie die Idee der menschlichen Würde nicht mit der menschlichen Fähigkeit zum Denken, sondern mit der Fähigkeit „wahrzunehmen, uns zu bewegen, Gefühle zu empfinden, zu lieben und zu sorgen“.35 Regierungen dürfen diese gleiche Würde nicht verletzen und sollten Respekt gegenüber Gleichheit und Würde zeigen. Das Gewissen bzw. die „Fähigkeit des Menschen, nach der letzten Bedeutung des Lebens zu suchen“, versteht Nussbaum in enger Beziehung zur Menschenwürde bzw. als Teil von ihr.36 Das Gewissen zu verletzen, heißt, die Menschenwürde zu verletzen. Das bedeutet, dass die Menschenwürde verletzlich ist. Sie wird verletzt, wenn Menschen daran gehindert werden, den Gehorsam gegenüber Vorschriften ihrer Religion auszuüben, oder wenn sie gezwungen werden, Überzeugungen auszudrücken, die sie nicht teilen. Gewissensfreiheit beinhaltet daher, dass weltliche Bedingungen geschaffen werden müssen, die „die Freiheit des Glaubens, des Glaubensausdrucks und der Glaubenspraxis schützen“.37 Die Verbindung der Prämissen der Verletzlichkeit und der Gleichheit bedeutet, dass „die Freiheit umfassend und für alle gleich sein muss“.38 Für die meisten Verfassungen impliziert heute der Schutz der Gewissensfreiheit die „‚freie Ausübung‘ [der Religion] für alle auf Grundlage der Gleichheit“.39 Nur wenige bedeutende öffentliche Belange wie Friede und Sicherheit werden als wichtiger als religiöse Freiheit verstanden. A.a.O., S. 62. Ebd. 37 A.a.O., S. 64. 38 Ebd. 39 A.a.O., S. 65. 35 36
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Eine Grenze wird der Religionsfreiheit da auferlegt, wo Friede und Sicherheit oder die gleichen Rechte anderer bedroht sind. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass für die Religionsfreiheit das Gewissen des Einzelnen die relevante Instanz ist und nicht die Meinung der Mehrheit der Religionsmitglieder. Nach der Tradition von John Locke bedingt der Schutz der gleichen Gewissensfreiheit zweierlei: „Gesetze, die religiösen Glauben nicht unter Strafe stellen und Gesetze, die die religiöse Praxis nicht diskriminieren.“40 Roger Williams fordert darüber hinaus, dass Minderheiten eine Ausnahme gewährt werden sollte, wenn von Mehrheiten verabschiedete Gesetze die Gewissensfreiheit bedrängen, beispielsweise hinsichtlich Militärpflicht oder Tätigkeiten an Feiertagen. Im religiösen Establishment beispielsweise einer Staatskirche sieht Nussbaum eine Bedrohung der Gleichheit, indem eine Innengruppe und eine Außengruppe geschaffen werden. Nussbaum resümiert: „In der gegenwärtigen Welt brauchen wir eine Politik, die den Einsichten folgt, die sich aus den oben genannten Prinzipien ergeben und das gleiche Maß an Respekt für alle Bürger zeigt, indem für eine weitgefasste und gleiche Freiheit gesorgt wird, für die größte Freiheit, die mit der gleichen Freiheit für alle und der Bewahrung unverzichtbarer öffentlicher Interessen harmoniert (z. B. Frieden und Sicherheit). […] Das US-Gesetz bewahrt […] Unparteilichkeit, was dahingehend interpretiert worden ist, dass der Staat nicht nur keine Religion vor anderen bevorzugen darf, sondern auch nicht Religion vor Nichtreligion, oder Nichtreligion vor Religion.“41
Nussbaum konstatiert, dass so manche europäische Politik die locksche Prüfung nicht bestehen würde. Die Unterschiede zwischen Europa und den USA sieht sie darin begründet, dass die USA von religiösen Abweichlern gegründet und immer wieder durch neue Immigranten bereichert wurden. Dass eigentlich jeder eine Minderheit war, führte zu einem Geist der Offenheit und Demut. 40 41
A.a.O., S. 67. A.a.O., S. 82.
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„In der Welt, die Williams und Locke im Sinn hatten, sagt, die Mehrheit nicht: ‚Ich bin die Norm, und du passt nicht hinein.‘ Sie sagt vielmehr: ‚Ich respektiere dich als Gleichen, und ich weiß, dass mein eigenes religiöses Streben nicht das einzige ist. Auch wenn ich größer an Zahl und damit mächtiger bin, will ich doch versuchen, die Welt auch für dich angenehm zu machen.‘ Das ist der Geist einer freundlichen Gastgeberin.“
d) Rigorose Kritik am Beispiel des Burkaverbots Als zweiten Schritt gegen religiöse Intoleranz fordert Nussbaum eine rigorose Kritik des eigenen Handelns, die Ungleichbehandlungen aufgrund von Inkonsequenz aufspürt. Dies entfaltet sie anhand der Frage des Burkaverbots. Auf der Grundlage der skizzierten politischen Grundsätze gleichen Respekts dekonstruiert sie die Hauptargumente für ein Burkaverbot als inkonsequent. 1. Argument: Sicherheit Als erstes Argument für ein Burkaverbot nennt Nussbaum die Sicherheit: Die Sicherheit verlange, dass Menschen ihr Gesicht zeigen, wenn sie in der Öffentlichkeit auftreten.42 Das Argument der Sicherheit ist aus ihrer Sicht inkonsequent, weil andere vergleichbare Verhüllungen erlaubt sind. Entsprechend konstatiert sie, dass nicht die Bedeckung per se, sondern die muslimische Bedeckung Angst und Misstrauen erweckt. Gegen das Argument, dass angesichts des Terrorismus ein Verdacht gegen Frauen mit Burka legitim sei, konstatiert sie, dass Kriminelle gewöhnlich versuchen, keinerlei Verdacht zu erregen. „Wäre ich in den USA oder Europa eine Terroristin […], wäre das Letzte, was ich tragen würde, eine Burka, weil diese Bekleidung Verdacht und Aufmerksamkeit erregt. […] Im Nahen Osten wäre es für eine Terroristin vermutlich eine geschickte Strategie, eine Burka anzuziehen; in Europa oder den USA wäre das dumm. Wäre ich einen Terroristin, würde ich mich vermutlich wie Martha Nussbuam im Winter anziehen: einen bodenlangen, schicken Daunenmantel, den Hut über die Augenbrauen gezogen, eine extra Kapuze gegen die Kälte, eine große Sonnenbrille und einen voluminösen indischen Schal um Mund und Nase. Trotzdem hat man mich nie in einem Kaufhaus, einem öf42
Vgl. a.a.O., S. 93ff. 65
fentlichen Gebäude oder auch einer Bank aufgefordert, diese Kleidung abzulegen. Im Sommer würde ich als intelligente Terroristin einen riesigen Schlapphut, einen langen, luftigen Kaftan tragen und dazu vermutlich eine große Tasche von Louis Vuitton, die nach Konsum aussieht. Genau so würde eine schlaue Terroristin einherkommen, und schlaue Terroristen sind die, die man fürchten muss.“43
Gegen die Bedrohung, die von unförmiger, verhüllender Kleidung ausgeht, fordert Nussbaum anstelle von Diskriminierung eine geeignete Sicherheitspolitik mit Metalldetektoren, Körperscannern, Abtastungen u.a. wie beispielsweise an Flughäfen. 2. Argument: Transparenz und Freundschaft unter Bürgern Als zweites, mit dem ersten Argument verbundenes Argument für das Burkaverbot führt Nussbaum die Behinderung der gesellschaftlich notwendigen Transparenz und Gegenseitigkeit an.44 Die Burka bedrohe die soziale Harmonie, da die Transparenz und Gegenseitigkeit, die für das Verhältnis der Bürger untereinander notwendig sind, behindert würden, wenn ein Teil des Gesichts verdeckt ist. Auch dieses Argument ist ihrer Meinung nach inkonsequent, weil andere vergleichbare Verhüllungen erlaubt sind. Des Weiteren verweist sie auf das Verständnis der Augen als Fenster zur Seele in vielen Kulturen sowie auf wissenschaftliche Untersuchungen, denen zufolge der Kontakt mehr über Augen als über Nase und Mund erfolgt. Außerdem konstatiert sie, dass Menschen sich schnell auf neue Arten der Kommunikation einstellen. „Blinde entwickeln ein übergenaues Gehör und können ihr Gegenüber an der Stimme erkennen – was auch für Menschen zutrifft, die regelmäßig miteinander telefonieren. Zusätzlich zum Augenkontakt lässt die Burka das Erkennen per Stimme [sowie das Erkennen] von typischen Körperhaltungen und Gesten zu. Ich sehe keinen Grund zur Annahme, dass Menschen sich nicht sehr
43 44
A.a.O., S. 94f. Vgl. a.a.O., S. 93, 98ff.
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schnell auf neue Arten, Individualität zu erkennen, einstellen können, je nach Erfordernis der Situation.“45
Nussbaum verortet das Argument der Transparenz im Kontext der Stigmatisierung von Menschen mit von der Mehrheit abweichendem Äußeren in vielen Kulturen. 3. Argument: Degradierung zum Objekt Die Degradierung zum Objekt nennt Nussbaum als drittes Argument für das Burkaverbot. Die Burka sei ein Zeichen der männlichen Beherrschung, welches die Vergegenständlichung der Frau symbolisiert: ein „degradierendes Gefängnis“, ein Zeichen der Unterwürfigkeit. Sie bringe die Menschen dazu, Frauen für bloße Objekte zu halten und sie entsprechend zu behandeln. Diesem Argument setzt Nussbaum entgegen, dass moderne Gesellschaften von Symbolen männlicher Dominanz und einer Vergegenständlichung, bei der die Frauen als Objekte betrachtet werden, durchsetzt sind. Für nicht akzeptabel hält sie eine Kritik, die sich nur auf die Vergegenständlichung in der Kultur der anderen bezieht. „Sexmagazine, Pornographie, Aktfotos, enge Jeans, transparente oder enthüllende Kleidung – all das behandelt Frauen als Objekte, was in der Medienkultur weit verbreitet ist. Frauen werden aufgefordert, sich in diesem Sinne zu vermarkten, und schon seit langem beobachten Feministinnen, dass damit Frauen ihrer Kompetenz und Individualität beraubt und zu Objekten oder Waren reduziert werden. Wir mögen das für schlecht oder gut halten oder uns einer generellen Einschätzung enthalten, weil wir spüren, dass wir nur von Fall zu Fall entscheiden können. Alle Antworten auf das Phänomen der ‚objectivication‘ kann man rechtfertigen. Was aber nicht gerechtfertigt werden kann, ist, gegen die ‚objectivication‘ nur dann Einwände zu erheben, wenn es sich um die Kultur der anderen handelt. Und was ist mit dem ‚degradierenden Gefängnis‘ der plastischen Operationen?“46
45 46
A.a.O., S. 98f. A.a.O., S. 101. 67
Auch bei einer kritischen Haltung gegenüber der Vergegenständlichung von Frauen hält Nussbaum Verbote weder für angemessen noch für sinnvoll. „Auch wenn wir gegen bestimmte Optionen sind, denken wir doch meist, die Menschen sollten die Freiheit haben, ihre eigenen Fehler zu machen. Befürworter des Burkaverbots schlagen ja nicht das Verbot all dieser ‚objektivierenden Praktiken‘ vor. Oft partizipieren sie hier sogar.“ 47
Ein gesetzliches Verbot der Burka lehnt Nussbaum ab. Respekt für Menschen erfordert aus ihrer Sicht gleiche Freiheitsbedingungen. Zugleich weist sie darauf hin, dass Legalität nicht Zustimmung bedeutet. Respekt bezieht sich für sie auf den Menschen und ist mit einer Ablehnung seines Verhaltens vereinbar. Zugleich plädiert sie dafür, auf das Selbstverständnis der Frauen zu hören. „Und ich glaube, der Anstand fordert, dass man sich zumindest um Verständnis bemüht. Wir sollten auf das hören, was die Frauen, die eine Burka tragen, sagen, was sie darüber denken, ehe wir unsere eigene Meinung äußern.“ 48
Eine Verurteilung der Burka ist für Nussbaum unhöflich und üble Nachrede. „Gegen die Burka zu sprechen ist, wenngleich nicht illegal oder zutiefst unmoralisch, doch vermutlich üble Nachrede, vor allem dann, wenn man über den Islam wenig weiß.“49
4. Argument: Nötigung Als viertes Argument für das Burkaverbot führt Nussbaum die These der Nötigung auf. Viele Frauen trügen die Burka nur deshalb, weil man sie dazu genötigt habe. Dazu konstatiert Nussbaum, dass alle Formen von Gewalt und körperlicher Nötigung zu Hause illegal sind, und Gesetze Ebd. A.a.O., S. 103. 49 A.a.O., S. 104. 47 48
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gegen Gewalt und Missbrauch konsequenter durchgesetzt werden sollten. Sie betont, dass häusliche Gewalt ein gesamtgesellschaftliches Problem ist und es keinen Beweis gibt, dass muslimische Frauen einen unverhältnismäßig hohen Anteil an dieser Gewalt aufweisen. Im Blick auf Kinder und Jugendliche spricht sie sich gegen eine gesetzliche Intervention aus, sofern nicht körperliche oder sexuelle Gewalt ausgeübt wird. „Was aber ist mit Kindern und Heranwachsenden? Sicher haben sie keine andere Wahl, solange sie bei ihren Eltern leben. Weshalb man dem familiären Druck, religiöse Kleidung zu tragen, kaum wird begegnen können. Diese Frage eröffnet ein weites Feld, weil in modernen Familien nichts mehr verbreitet ist als unterschiedliche Formen von Nötigung und Druck: Die Kinder sollen erstklassige Colleges besuchen, sich mit Leuten von der ‚richtigen‘ Religion oder Ethnie treffen, ‚angemessene‘ Kleidung tragen, eine hoch dotierte Karriere anstreben, sich duschen, ‚und so weiter und so fort bis zum nimmerletzten‘, wie James Joyce einst sagte. […] Eltern, die ihre Kinder durch emotionale Erpressung motivieren, sind tadelnswert, die Polizei aber in solchen Fällen zu holen, würde bedeuten, ein zu großes Maß an gesetzlicher Intervention bei Familienangelegenheiten zu befürworten.“50
Lautstarken öffentlichen Protest bezeichnet Nussbaum auch diesbezüglich als üble Nachrede und ungehörig. Darüber hinaus fordert sie dazu auf, auch hinsichtlich des Umgangs mit Autoritäten unterschiedliche Lebensformen als notwendigen Beitrag zur Gesellschaft wahrzunehmen. „Amerikaner und Europäer müssen […] offen der Tatsache ins Gesicht sehen, dass manche Menschen in der Tat ein Leben wählen, dass Autorität und Zwang beinhaltet. Angesichts der Tatsache, dass die USA und die meisten europäischen Nationen seit einiger Zeit Freiwilligen-Armeen haben […], haben sämtliche Bürger dieser Nationen allen Grund, dankbar dafür zu sein, dass sich die Vorliebe für ein geordnetes Leben, das der Obrigkeit unterworfen ist, […] durch ihre Gesellschaften zieht. […] Vor allem sollten sie nicht ein Leben
A.a.O., S. 108f. Vgl. James Joyce (2004): Ulysses, Frankfurt/Main, S. 995. 50
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dämonisieren, das die Unterwerfung unter Autoritäten erfordert, andere Lebensformen dagegen hochhalten […].51
5. Argument: Gesundheit Die Gesundheit nennt Nussbaum als letztes Argument für ein Burkaverbot. Die Burka sei per se ungesund, weil sie heiß und unbequem sei. Dem gegenüber konstatiert Nussbaum, dass Kleidung, die den Körper bedeckt, bequem oder unbequem sein kann, je nach Stoff. Außerdem weist sie darauf hin, dass bedeckende Kleidung bei Sonneneinstrahlung den Vorteil bietet, dass sie das Hautkrebsrisiko reduziert. Sie betont, dass ein Verbot unbequemer, ungesunder Frauenkleidung nicht zu rechtfertigen ist. „Um es klar zu sagen: Wollen die Befürworter des Verbots tatsächlich alle unbequeme und womöglich ungesunde Frauenbekleidung verbieten? Müsste man da nicht mit Stöckelschuhen anfangen, so schön sie auch sind? Aber nein, Stöckelschuhe werden mit Mehrheitsnormen assoziiert (und sind ein wichtiger spanischer Exportartikel). Also erregen sie keinen Zorn. Generell begrenzt der Staat seine regelnden Eingriffe in puncto Bekleidung darauf sicherzustellen, dass Kinderkleidung feuerfest und frei von schädlichen Chemikalien ist und größere Gesundheitsrisiken vermieden werden. Doch insgesamt dürfen Frauen Kleidung tragen – und werden geradezu dazu ermutigt –, die man mit Recht als gesundheitsgefährdend bezeichnen kann, sei es durch Verkürzung der Sehnen oder durch die Tatsache, dass sie der Sonne ausgesetzt sind.“ 52
Fazit: Inkonsequenz und Menschenwürde Resümierend konstatiert Nussbaum, dass alle fünf Argumente für das Burkaverbot inkonsequent und daher „vollkommen unakzeptabel in einer Gesellschaft sind, die sich der gleichen Freiheit für alle verpflichtet hat.“53 Gleicher Respekt für das Gewissen bedeutet für sie, diese so genannten Argumente zurückzuweisen.
A.a.O., S. 110f. A.a.O., S. 112f. 53 A.a.O., S. 113. 51 52
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Insgesamt stellt Nussbaum fest, dass die europäischen Nationen auf Homogenität bedacht sind, aber durch ihre Einwanderungspolitik de facto pluralistisch sind. Ihrer Wahrnehmung nach verweigert Europa Minderheiten den gleichen Raum wie der Mehrheit und behandelt somit Menschen ungleich. Mit Kant weist sie darauf hin, dass Vorurteile die Grundlage für ein Versagen auf ethischem Gebiet sind. Daher muss ihrer Meinung nach eine pluralistische Gesellschaft alle möglichen Anstrengungen unternehmen, alle Mitglieder mit gleichem Respekt zu behandeln und Vorurteile zu vermeiden. f) Ausbildung des „inneren Auges“ Als dritten Schritt zu einer Umsetzung religiöser Toleranz nennt Nussbaum die Ausbildung des „inneren Auges“, einer „Vorstellungskraft, die uns erkennen lässt, wie die Welt vom Standpunkt anderer Religionen oder Ethnien aussieht“.54 Angesichts der Befangenheit in den eigenen selbstsüchtigen Zielen und Wünschen hält sie die Entwicklung einer mitfühlenden Phantasie für notwendig, um gute Vorsätze in die Tat umsetzen zu können. „Wir müssen andere Denkweisen ausbilden, eine Haltung der Neugier, der Frage und des Wahrnehmens, die uns sagt: ‚Hier ist ein anderer Mensch. Ich möchte wissen, was er oder sie gerade sieht und fühlt.‘ Diese Neugier muss durch Tatsachen erhärtet werden, denn ohne eine genaue historische und empirische Information können wir diese Frage nicht beantworten. Und es braucht noch etwas: die Bereitschaft, aus sich heraus und in eine andere Welt einzutreten.“55
Das „innere Auge“ kann zur Routine werden, wenn es von Anfang an kultiviert wurde. Dabei geht es um Offenheit und ein Lernen, dass es andere Denkwelten und Gefühle gibt. Andere Menschen mit ungewöhnlicher Kleidung oder Verhaltensweise erscheinen dann nicht mehr als 54 55
A.a.O., S. 13. A.a.O., S. 121. 71
bedrohlich, anstößig oder Beleidigung der Mehrheit und müssen nicht assimiliert werden. Das „innere Auge“ ermöglicht Respekt. Dieser gilt den Personen, nicht ihren Taten. Ihr religiöses Verhalten muss nicht gutgeheißen werden. Jedoch müssen die Ziele der anderen begriffen werden, um eine Belastung für ihr Gewissen oder einen Widerspruch zu staatlichen Interessen erkennen zu können. Eine mitfühlende Phantasie lässt anderen Freiraum für ihre Ziele, solange kein zwingendes öffentliches Interesse betroffen ist. Nussbaum versteht eine solche mitfühlende Phantasie oder Empathie als Teil einer mitfühlenden Fürsorge, die der Angst entgegenwirkt. „Die empathische Phantasie ist der Angst entgegengesetzt. Bei der Angst wird die Aufmerksamkeit eines Menschen eingegrenzt und konzentriert sich auf die eigene Sicherheit. Bei der Empathie richtet sich das Denken nach außen. Dieser Richtungs-Unterschied macht die Empathie zu einem wertvollen Gegenmittel zum Narzissmus der Angst.“56
Eine solche Fürsorge ermöglicht kritische Wahrnehmung und Widerspruch gegen Diskriminierung. „Sympathie schließt empathische Anteilnahme ein und geht doch weiter als sie, weil sie in der jeweiligen Situation Werte setzt und Hierarchie sowie gesellschaftliche Uneinsichtigkeit kritisiert, was Stigmatisierung und ungerechtes Leiden der Minderheit zur Folge hat.“ 57
Für Nussbaum ist eine mitfühlende Phantasie Voraussetzung, damit politische Grundsätze und rigorose Kritik umgesetzt werden können. „Gute politische Leitlinien und stringente Argumente wirken nur vor dem Hintergrund ethisch gegründeter Wahrnehmungen, und diese Wahrnehmungen bedürfen der Phantasie. Nur die ‚inneren Augen‘ können uns mitteilen, dass das, was wir sehen, ein vollgültiger Mensch ist, der Wünsche und Ziele hat
56 57
A.a.O., S. 125. A.a.O., S. 154.
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und eben keine Waffe ist, die unsere Sicherheit bedroht, oder ein Stück Müll.“58
Abschließend weist Nussbaum auf die Fragilität der guten politischen Grundsätze in „Zeiten der Angst“. Angesichts der gegenwärtigen Bedrohung dieser Grundsätze durch grundlos erzeugte Ängste hebt sie die Bedeutung der Einzelnen hervor. „Um der unheilvollen Tendenz entgegenzutreten, unsere Sicht auf das angeblich so wichtige Ich einzuengen, braucht es in erster Linie einen jeden von uns; es braucht die sokratische […] Verpflichtung, unsere Wahlmöglichkeiten genau zu prüfen, um zu erkennen, ob sie selbstsüchtig sind, ob sie uns privilegieren und die gleichen Ansprüche anderer vernachlässigen. Und wir brauchen gleichermaßen den inneren Geist, der die Suche nach konsequenter Haltung beleben muss, soll dies nicht eine leere Hülle bleiben. Wir brauchen also den Geist der Neugier und der Freundschaft.“
IV. Mitgefühl und Gerechtigkeit für alle – Impulse für uns heute Es ist bemerkenswert, wie viele gemeinsame Linien sich bei Heschel und Nussbaum finden lassen, obwohl sie von unterschiedlichen Ausgangspunkten her für unterschiedliche Zeiten schreiben. Einige dieser Anknüpfungspunkte möchte ich mit Ihnen teilen. In ihnen sehe ich auch die Aktualität der Gedanken dieser beiden jüdischen Denker*innen für unseren Kontext. Ausgangspunkt für Heschel wie auch für Nussbaum ist die gesellschaftliche Ungerechtigkeit gegenüber einer Minderheit. Diese Ungerechtigkeit stellt für sie eine Verletzung der menschlichen Würde dar. Sie zeigt sich auf zwei Ebenen: auf der Ebene diskriminierender Gesetze sowie in Form von alltäglicher Diskriminierung. Dabei kennzeichnen Heschel und Nussbaum auch öffentliche Demütigung und üble Nachrede als verletzende Formen der Unterdrückung. Dieser strukturellen und individuellen Ungerechtigkeit muss aus ihrer Sicht in Wort und Tat widerspro-
58
A.a.O., S. 155. 73
chen werden. Dabei geht es um die Änderung von Gesetzen ebenso wie um das alltägliche Handeln Einzelner. Die Voraussetzung für ein Eintreten gegen Ungerechtigkeit liegt für Heschel wie auch für Nussbaum im Mitgefühl mit dem Anderen. Dieses ermöglicht, die eigene Gesellschaft aus der Perspektive der Anderen wahrzunehmen und auch gegen die eigenen Neigungen und Interessen für Gerechtigkeit für alle, egal, ob Minderheit oder Mehrheit, einzutreten. Dabei ist für Heschel wie für Nussbaum klar, dass das Ziel nicht eine Einpassung der Anderen in die bestehende Gesellschaft sein kann, sondern in der gemeinsamen Gestaltung einer neuen, gerechteren Gesellschaft liegt. Dabei betonen Heschel wie auch Nussbaum die große Bedeutung des einzelnen Menschen und der Freundschaft. In diesem Sinne liegt es in unser aller Verantwortung, dass Menschenrechte in unserem Land „keine Religion“ haben. Dr. Michaela Will ist Pastorin im Frauenwerk des Kirchenkreises Hamburg-West/Südholstein.
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Bildung und Religion
Elemente einer Verhältnisbestimmung aus christlicher Perspektive Hans-Christoph Goßmann Die meisten Veranstaltungen, die die Jüdische Gemeinde Pinneberg und die Jerusalem-Gemeinde zu Hamburg gemeinsam planen, vorbereiten und durchführen, sind Bildungsveranstaltungen. Haben jüdische wie christliche Gemeinden einen Bildungsauftrag? In welchem Verhältnis stehen Bildung und Religion zueinander? Zu diesen Fragen werde ich im Folgenden aus christlicher Perspektive Stellung nehmen. Der Begriff ‚Bildung‘ Wenn ich der Frage des Verhältnisses von Bildung und Religion eingehe, werde ich zunächst auf die Frage der Bildung eingehen und in einem ersten Schritt darlegen, was ich unter dem Begriff Bildung verstehe. Denn hinsichtlich der inhaltlichen Füllung dieses Begriffes besteht keineswegs Konsens. Godwin Lämmermann weist zu Recht darauf hin, dass eine allgemein anerkannte Definition des Bildungsbegriffes – zumindest zur Zeit – nicht existiert: „Bildung ist nach Sache und Begriff plural konstituiert: Begrifflich entzieht sie sich jeder eindeutigen definitorischen Bannung, inhaltlich ist Bildung – sowohl als Ziel wie auch als Weg – offen und damit plural strukturiert.“59 Deshalb ist es unerlässlich darzulegen, was im Rahmen dieses Beitrags unter ‚Bildung’ verstanden wird. Mein hier zugrunde gelegtes Verständnis von Bildung entspricht dem, das der Erziehungswissenschaftler Wolfgang Nieke in seiner Monographie ‚Interkulturelle Erziehung und Bildung. Wertorientierung im All-
59
G. Lämmermann, Rezension zu: U. Pohl-Patalong (Hg.in), Religiöse Bildung im Plural. Konzeptionen und Perspektiven, in: Pastoraltheologie 93, 2004, S. 59. 75
tag’60 entfaltet. Niekes Bildungsverständnis basiert auf der „Vorstellung, dass jeder neu heranwachsende Mensch die Leistung zu erbringen hat, zum Subjekt zu werden. Dieser Prozess wird als grundsätzlich eigentätig gedacht, also als nicht vollständig determiniert durch Außeneinflüsse wie Sozialisation und Erziehung. Diese Leistung aus eigenem Vermögen und in eigener Freiheit wird als Bildung bezeichnet. Eine so verstandene Bildung führt zur Konstituierung der Persönlichkeit und der Herausbildung eines subjektiven Bewusstseins von der je einzigartigen Individualität. Bildung in diesem Sinne kann durch die Arrangements der Erwachsenen (die Erziehung) nur angeregt, gestützt und in Maßen gelenkt werden, ist aber grundsätzlich unverfügbar und verbleibt in der Verantwortung des einzelnen.“61 Bildung erschöpft sich somit keineswegs in der Vermittlung von Wissen; sie zielt, um es mit den Worten von Wolfgang Nieke zu sagen, auf die „Konstituierung der Persönlichkeit und der Herausbildung eines subjektiven Bewusstseins von der je einzigartigen Individualität“ ab; sie zielt somit nicht darauf ab, möglichst viel Wissen zu erwerben – das schadet sicher nicht, ist hinsichtlich der Bildung jedoch nicht das letztlich Entscheidende –, sondern darauf, sich ein eigenes Urteil bilden zu können und eigenständige Entscheidungen treffen zu können.62 Bildung aus christlicher Perspektive Ich frage als christlicher Theologe, was nach christlichem Verständnis dazu zu sagen ist, und trage diese Frage an die biblische Überlieferung 60
W. Nieke, Interkulturelle Erziehung und Bildung. Wertorientierung im Alltag (Schule und Gesellschaft , Bd. 4), Opladen 2000. 61 W. Nieke, a.a.O., S. 32. 62 Dies ist nicht zuletzt auch für wissenschaftliches Arbeiten von Relevanz. Denn wissenschaftliches Arbeiten und Forschen setzt eben dies voraus: sich eine eigenständige Sicht des je eigenen Forschungsgegenstands zu erarbeiten und auf dieser Grundlage eine These formulieren und im wissenschaftlichen Diskurs vertreten zu können. . 76
heran: Was sagt die biblische Überlieferung zu dieser Frage? Lässt sich mit ihr die eingangs zitierte These von Wolfgang Nieke begründen oder steht sie womöglich gar im Widerspruch zu ihr? Ich nenne exemplarisch eine Bibelstelle aus dem Buch Deuteronomium, dem Fünften Buch Mose. Da heißt es im 30. Kapitel in Vers 15: „Siehe, ich lege dir heute das Leben und das Gute vor, den Tod und das Böse“ und in Vers 19: „Ich nehme Himmel und Erde heute über euch zu Zeugen: Ich habe euch Leben und Tod, Segen und Fluch vorgelegt, dass du das Leben erwählst und am Leben bleibst, du und deine Nachkommen“. Hier wird dem Menschen die Entscheidung nicht abgenommen. Beides wird ihm vorgelegt – auf der einen Seite das Leben und das Gute, auf der anderen Seite der Tod und das Böse. Der Mensch kann selbst entscheiden, was er wählt, aber er muss sich auch selbst entscheiden. Er wird in Vers 19 nachdrücklich dazu ermahnt, sich für das Leben zu entscheiden und nicht für den Tod und das Böse. Aber eine solche eindringliche Ermahnung wäre natürlich gar nicht nötig gewesen, wenn ohnehin klar wäre, dass sich der Mensch für das Leben entscheidet und er somit gar keine Möglichkeit hätte, eine freie Entscheidung zu treffen. Diese Möglichkeit hat der Mensch. Wenn es im ersten Buch der Bibel heißt, dass Gott den Menschen zu seinem Bilde geschaffen hat, zum Bilde Gottes (Genesis 1, 27), dann wird damit nicht zuletzt eben diese Möglichkeit gemeint sein, eigene freie Entscheidungen zu treffen. Wenn der Mensch aber die Möglichkeit hat, eigene freie Entscheidungen zu treffen, dann muss er auch dazu befähigt werden. Und das ist nur möglich durch eine Bildung im o.g. Sinne, also durch eine Bildung, die darauf abzielt, „zum Subjekt zu werden“ – um es mit den Worten von Wolfgang Nieke zu sagen. Bildung und Reformation In diesem Jahr begehen wir das Reformationsjubiläum: 500 Jahre Reformation gilt es zu feiern. Da bietet es sich natürlich an, nach der Bedeutung einer so verstandenen Bildung für Martin Luther zu fragen. Da-
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bei wird deutlich, dass diese Bedeutung gar nicht hoch genug veranschlagt werden kann. Luther hat sich mit Vehemenz für eine öffentliche Bildung eingesetzt, die allen Bürgern offenstehen sollte. In einer kleinen Schrift an die Ratsherren in jeder deutschen Stadt appelliert er 1524 an die weltliche Obrigkeit, staatliche Schulen zu errichten, um für eine gute Ausbildung der Bevölkerung zu sorgen. Er rief auch dazu auf, öffentliche Bibliotheken zu gründen, um Menschen aller Schichten Zugang zu Büchern und breitem Wissen zu vermitteln. Die protestantische Gemeinde in Halle an der Saale nahm sich den Aufruf zu Herzen und gründete 1552 die heute älteste erhaltene evangelische Gemeindebibliothek. Die Reformation und Luthers Aufruf zur Gründung von Schulen und Bibliotheken führten zu einer regelrechten Bildungsoffensive in Deutschland. Im Zusammenhang seines Bildungsverständnisses ist auch seine Übersetzung der Bibel zu sehen. Durch diese Übersetzung hat Luther einen wichtigen Beitrag zur Entstehung und Verbreitung des Frühneuhochdeutschen geleistet. Er selbst ging sehr kreativ mit Sprache um, wir verdanken ihm etliche neue Begriffe wie z.B. den „Lückenbüßer“ oder den „Lockvogel“ – um nur zwei Beispiele zu nennen. Seine Bibelübersetzung wurde zum größten Bucherfolg der deutschen Geschichte. Luther ging es keineswegs um ausschließlich religiöse Bildung. So schrieb er, bevor er seine Familie gründete: Wenn er eigene Kinder hätte, müssten diese nicht nur die Sprachen und Naturwissenschaften erlernen, sondern umfassend gebildet werden, zum Beispiel in Musik und Kunst, damit sie später jeden Beruf ergreifen können. Für die Reformatoren war Bildung somit sehr wichtig. Zu Lebzeiten Luthers konnten nur wenige Menschen lesen und schreiben, Bildung gehörte zu den Privilegien des Adels und der Geistlichkeit. Luther machte sich demgegenüber für Bildungsgerechtigkeit stark; jeder sollte gemäß seiner Auffassung lesen und schreiben können, unabhängig von Herkunft oder Geschlecht. Dank der Reformatoren, vor allem Luther und
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Melanchthon, entstand eine regelrechte Bildungsbewegung und es kam zu zahlreichen Schulgründungen. Das Engagement Luthers für die Bildung ist ohne dessen theologische Hintergründe nicht zu verstehen. Er vertrat ein grundlegend anderes Amtsverständnis als die römisch-katholische Kirche, bei dem zwischen den geweihten Priestern und dem Volk differenziert wird. Luther vertrat demgegenüber das so genannte Priestertum aller Gläubigen, genauer gesagt: das Priestertum aller Getauften. So schrieb er im Jahr 1520 in einer seinen frühen Schriften, der Schrift ‚An den christlichen Adel deutscher Nation‘: „Alle Christen sind wahrhaft geistlichen Standes, und ist unter ihnen kein Unterschied dann des Amts halben allein. ... Demnach so werden wir allesamt durch die Taufe zu Priestern geweiht. ... Was aus der Taufe gekrochen ist, das mag sich rühmen, dass es schon Priester, Bischof und Papst geweiht sei, obwohl es nicht jedem ziemt, dieses Amt auch auszuüben.“ Da es für Luther zwischen den Menschen keine Unterschiede gab, die durch das kirchliche Amt begründet waren, gab es für ihn auch kein Herrschaftswissen der Geistlichen, zu dem die Laien, also diejenigen, die dem Volk angehören, keinen Zugang haben durften. Luther war davon überzeugt, dass jeder Mensch mit der gleichen Würde geboren wurde und in der Lage sein sollte, das Evangelium selbständig zu verstehen. Deshalb war es so wichtig, eine Übersetzung der Bibel zu erstellen, die vom Volk auch wirklich verstanden werden konnte; deshalb hat er – um das berühmte Zitat hier zur Sprache zu bringen – dem Volk aufs Maul geschaut, als er an der Übersetzung gearbeitet hat. „Man muss“, so schrieb er, „die Mutter im Hause, die Kinder auf der Gasse, den gemeinen Mann auf dem Markt drum fragen und denselbigen auf das Maul sehen, wie sie reden, und danach dolmetschen. So verstehen sie es denn und merken, dass man deutsch mit ihnen redet.“ Denn vor der Reformation war von katholischer Seite tatsächlich vor dem Lesen der Bibel gewarnt worden, mit der Begründung, es verführe zu eigenen Gedanken und damit auch zum kritischen Hinterfragen der Kirche. Luther ging es
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aber eben darum, das sich jeder seine eigenen Gedanken machen und zu eigenen Urteilen gelangen könne. Deshalb wollte er jeden in die Lage versetzen, die Bibel zu lesen. Nun können wir die Bibel eigentlich nur verstehen, wenn wir die Sprachen, in denen sie geschrieben ist – Hebräisch, Aramäisch und Griechisch – lernen. Denn jede Übersetzung – und sei sie auch noch so gut – ist letztlich bereits eine Interpretation. Die Möglichkeit, diese Sprachen zu erlernen, haben Gemeindeglieder von Kirchengemeinden im Allgemeinen jedoch nicht. Umso wichtiger ist es, dass angehende Pastorinnen und Pastoren dies in ihrem Theologiestudium tun können. Das Studium der Sprachen Hebräisch, Griechisch und Latein ist integraler Bestandteil des Studiums der evangelischen Theologie; Aramäisch kann zusätzlich erlernt werden. Nun kann es dabei aus den eben dargelegten Gründen nicht darum gehen, dass Pastorinnen und Pastoren auf diese Weise ein Herrschaftswissen ansammeln, das den Gemeindegliedern nicht zur Verfügung steht. Es geht vielmehr darum, dass die zukünftigen Pastorinnen und Pastoren gleichsam stellvertretend für ihre Gemeinde ein wissenschaftliches Theologiestudium absolvieren und die theologische Kompetenz im Rahmen ihrer beruflichen Tätigkeit dann in ihre Gemeinde einspeisen. Da Bildung für den Glauben und dessen Reflexion von solch hoher Bedeutung ist, kann niemand ohne ein wissenschaftliches Studium der evangelischen Theologie evangelische Pastorin bzw. evangelischer Pastor werden. Bildung in Leben der evangelischen Kirche heute Für die Kirche, die in der reformatorischen Tradition Martins Luthers steht, ist Bildung von hoher Bedeutung. Zu den Kernaufgaben jeder Gemeindepastorin und jedes Gemeindepastors gehört der Konfirmandenunterricht, der die Jugendlichen auf ihre Konfirmation vorbereitet. Im Rahmen der Konfirmation bekennen sie sich zum christlichen Glauben. Dieses Bekenntnis ist Ausdruck der eigenen, freien Entscheidung
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jedes Konfirmanden. Ich hatte einmal einen Konfirmanden, der sehr intensiv mitgearbeitet hat und sich im Endeffekt gegen die Konfirmation entschieden hat, weil er die Inhalte christlichen Glaubens zwar sehr interessant fand, aber festgestellt hat, dass sie nicht seinem persönlichen Glauben entsprechen. Natürlich habe ich dies bedauert. Aber eine solche bewusste eigene Entscheidung ist mir als Pastor im Zweifelsfall lieber als ein nichtreflektiertes, einfach so dahingesagtes ‚Ja‘ zum christlichen Glauben. Zu den Arbeitsfeldern der evangelischen Kirche gehören nicht zuletzt auch die der Evangelischen Akademien. Diese waren in der Anfangszeit der Bundesrepublik Deutschland von großer Bedeutung, weil sie die Foren waren, auf denen gesamtgesellschaftliche Prozesse reflektiert wurden. Und auch heutzutage beteiligen sie sich an den entsprechenden Diskursen und bieten für diese geeignete Foren. Fazit Bildung ist eine Dimension christlichen Glaubens, auf die nicht verzichtet werden könnte, weil sie zum Wesen dieses Glaubens gehört. Deshalb haben christliche Gemeinden einen Bildungsauftrag. Da ich in Bezug auf die Bedeutung der Bildung keinen Unterschied zwischen christlichem und jüdischem Glauben erkennen kann, sehe ich auch einen entsprechenden Bildungsauftrag jüdischer Gemeinden und somit auch eine gute Grundlage für Bildungsveranstaltungen, die gemeinsam von jüdischen und christlichen Gemeinden verantwortet werden. Dr. Hans-Christoph Goßmann ist Pastor der Jerusalem-Gemeinde zu Hamburg und leitet die Jerusalem-Akademie.
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Der wandernde Christ Rien van der Vegt Exkursion nach Berlin, eigentlich zu weit für eine Tagesexkursion. Es war ein anstrengender Tag, früh weg, spät wieder zurück in Hamburg. Man verabschiedete sich, mehrere bedankten sich ausdrücklich für den schönen Tag. Leichte Verwunderung beim Reiseleiter. Was hatten wir gesehen? Ja, es war auch interessant, das Wetter war gut und die Gruppe bestand fast ausschließlich aus netten und interessierten Menschen. Aber man könnte es auch kritisch betrachten, besonders wenn man es damit vergleicht, was andere Exkursionen zu bieten haben an Ruhe und Entspannung. Wir hatten fast sieben Stunden Fahrt über die Autobahn, in Berlin schnell zum „Denkmal für die ermordeten Juden Europas“ beim Brandenburger Tor, eine nicht sehr lange Mittagspause, danach das Haus der Wannsee-Konferenz, in dem ausführlich eingegangen wird auf die unfassbaren Übeltaten des so genannten Dritten Reiches. Zum Schluss besuchten wir noch die Liebermann-Villa am Wannsee. Schöne Gemälde, schöne Gärten, aber im Hintergrund doch auch wieder dieselbe Geschichte von Verfolgung und Mord, von der Max Liebermann die Anfänge miterleben musste. Was sind das für Menschen, die sich dann, endlich wieder in Hamburg, bedanken für den „schönen Tag“? Es sind irgendwie sehr besondere Geschöpfe, mit denen ich Reisen und Exkursionen machen darf. Ich freue mich darüber, nehme es meistens einfach hin, möchte jetzt aber ein paar Dinge dazu schreiben in dieser Festschrift für Wolfgang Seibert. Es geht dabei um Fragen, die man sich einmal stellen kann, vielleicht auch stellen sollte nach mehr als 12 Jahren Reisen „auf jüdischen Spuren“, die das Lehrhaus Hamburg organisiert hat. Es geht dabei fast jährlich um zwei Tagesexkursionen, eine Reise von fünf Tagen und eine von ungefähr einer Woche. Nur selten musste eine geplante Reise abgesagt werden, meistens meldeten sich problemlos genügend Menschen an und
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es gelingt manchmal auch, eine Reise durchzuführen mit einer MiniGruppe. Warum werden solche Reisen organisiert und welche Menschen haben daran Interesse? Was wollen sie, was erwarten sie – und sind die Erwartungen zu erfüllen? Was ist der Sinn solcher Fahrten und wo hört der auf? Was wird besucht – und was könnte man besuchen? Ich möchte versuchen, die Fragen zu beantworten, habe dazu ein paar kurze Geschichten, typische oder besondere Beispiele dafür, was einem auf einer solchen Reise passieren und begegnen kann. Reisen nach Israel habe ich hier nicht berücksichtigt. Sie sind in so vielen Hinsichten Ausnahme-Reisen, so dass mir das besser schien. Am Anfang steht oft eine Verwunderung, jedenfalls ein Interesse. Als ich ein kleiner Junge von sieben Jahren war, stand da an der Straße das Auto einer Familie in der Pension in Bergen, an der niederländischen Küste, in der wir wohnten. Es war ein Mercedes und es hatte Radkappen mit einem roten Kreis in der Mitte. Meine Mutter fragte, ob ich wusste, welcher Familie das Auto gehörte, und erzählte dann, dass es sich um jüdische Menschen handelte. Sie erklärte kurz, dass die Juden das Volk der Bibel sind, zu dem auch Jesus gehörte. Das war mir alles nicht ganz neu, aber die kompakte Information ist mir immer im Gedächtnis geblieben, zusammen mit den Radkappen und der Art und Weise, auf die meine Mutter erzählte. Es war ihr sehr wichtig, dass ich das kapierte. Es interessierte mich. Die Bibel war ja sehr alt; alles, was darin zu lesen war, war Vergangenheit. Alles hatte sich geändert in der Welt. Römer und Babylonier waren verschwunden, aber mit den Juden war das anders. Da waren noch Menschen, die eine lebendige Verbindung bildeten zu der Zeit und zu der Realität der Bibel – es kam mir wichtig und spannend vor. Religiöse Inhalte waren noch gar nicht so präsent. Vielleicht spielten sie mit, denn der Glaube war wichtig bei uns, aber es war vor allem, dass da mitten im grünen Polderland Menschen waren, die eine
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Verbindung hatten zu früheren Zeiten, zu fernen Ländern, zu Jerusalem und zu Gott. Und sie sahen so normal aus. Andere Menschen haben ihre eigenen Erfahrungen. Aus ihrer Jugend, aus der Zeit der Gewaltherrschaft. Manchmal sind es ganz alltägliche Erlebnisse, oft auch existentielle. Es können Geschichten sein, die in der Familie erzählt wurden, oder Dinge, die sie selber getan und erlebt haben, früher, später, um Menschen zu helfen und um die Vergangenheit präsent zu halten. Viele Menschen machen Reisen nicht nur so. Sie haben ihre eigenen Gründe, die sie nur selten erzählen. Das gilt besonders, wenn die Reisen den Anspruch haben, etwas tiefer zu gehen als Entspannung und Zeitvertreib. Und bei Reisen mit jüdischen Themen kommen oft, wie von selbst, sehr nette und interessante, gleichgesinnte Menschen zusammen. Und viele haben so eine gewisse Verwunderung. Der „wandernde Jude“ ist eine bekannte Symbolfigur. Seine Wurzeln sind antisemitisch, aber das Bild wurde auch von Juden aufgenommen – im objektiven, manchmal sogar in positivem Sinn. Fast überall in der Welt wohnen Juden. Es gibt Christen, die wundern und wandern mit. Vom Lehrhaus aus sind das oft Christen, aber auch Juden, die die Wege des wandernden Juden nachgehen, die ihn suchen. Warum organisiert das Lehrhaus Hamburg solche Reisen? Es gibt jedenfalls ein paar Ansätze zu Antworten. Erstens passen sie gut zu den Zielen der Gesellschaft für christlichjüdische Zusammenarbeit, zu der das Lehrhaus Hamburg gehört. Es geht dort um Geschichte und Gegenwart des Zusammenlebens von Juden und Christen, mit allen Fragen, die dazu gehören. Man kann dazu viele Vorträge und Gespräche organisieren, aber Reisen bringen ganz eigene Erfahrungen. Ein zweiter Grund ist die Erfahrung, dass die Reisen funktionieren. Ich habe das selber wohl einmal bezweifelt, aber es gibt genügend Men-
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schen, die Interesse haben, über das Judentum zu lernen, etwas davon zu erleben, der Geschichte nachzugehen und Menschen zu begegnen. Sie lernen, wie man das bei einer Studienreise erwarten darf, sie begegnen auch Mitreisenden mit denselben oder ähnlichen Interessen. Und zum Dritten: Es ist einfach eine große Freude, solche Reisen zu planen und durchzuführen. Bei der Frage nach den Menschen, die sich für solche Reisen anmelden, kann man schon sagen, dass sie sich nicht sehr unterscheiden von denen bei anderen Bildungsreisen. Interessen, Alter, Bildungsniveau: Vieles ist sehr ähnlich. Natürlich gibt es Mitglieder der GCJZ, die mitfahren, aber auch Interessenten aus Akademien, jüdischen Gemeinden und Kirchengemeinden sind dabei. Das Lehrhaus ist nicht konfessionell gebunden, es fahren zum Glück immer auch wieder Menschen mit, die keiner Religion angehören. Das Lehrhaus Hamburg wird trotzdem keine Massenbewegung, wir bilden auch keinen neuen Trend in der Reiseindustrie. Dafür ist es dann doch zu speziell, hat es einen zu besonderen Charakter. Natürlich, nicht alle Menschen wollen nur Sonne, See und Sand in ihrem Urlaub, aber Lehrhaus-Reisen sind für viele dann doch einen Tick zu ruhig und zu ernst. Ich finde, die Reisen sind untereinander recht unterschiedlich: In Polen gibt es ganz anderes zu sehen, besonders auch in Verbindung mit dem Judentum, als in Norditalien oder in Prag. Aber Reisen zu Orten jüdischen Lebens beschäftigen sich immer mit bestimmten Themen, von denen viele Menschen gar nicht so viel wissen möchten – erst recht nicht im Urlaub. Das wissen wir, es gehört dazu und das Wichtigste sind die Menschen, die schon mitfahren. „Ruhig“ und „ernst“ habe ich geschrieben. Das gilt nicht die ganze Zeit. Aber bei den Themen ist es unvermeidlich, dass es sehr ruhige und ernste Momente gibt, an denen niemand etwas zu sagen weiß, Das ist dann auch angemessen. Die Bewohner unserer Welt gehen manchmal so unsagbar schrecklich miteinander um, dass es keine Worte gibt. Man kann
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zu Hause bleiben, man kann es ab und zu wagen, sich damit zu konfrontieren – und vielleicht dann doch lieber nicht ganz alleine. Sowohl Denken als auch Fühlen sollten zu Reisen dazugehören, und seltene Male kann man dann einmal große Fragen des Lebens antippen und bedenken, vielleicht sich darüber austauschen. Bedeutung der Reisen Für die Teilnehmer, glaube ich, liegt eine einfache Bedeutung schon in dem Wort „Studienreise“, wobei noch einmal betont sei, dass das Studieren keine rein kognitive Aktivität sein soll. Gefühl gehört dazu, auch Erfahrung. Nicht die wilden „Bungee-jumping“-Erfahrungen, aber das Leben von Juden und Christen an verschiedenen Orten, in verschiedenen Zeiten, insofern wir es schaffen, das nachzuempfinden. Eine Bedeutung haben die Reisen manchmal auch darin, dass sie zeigen, dass das Thema wichtig ist für Menschen, auch so wichtig, dass manche sich das anschauen wollen. Das wird in Prag oder Venedig nicht direkt auffallen, dort gibt es schon genügend Interessenten, aber jüdische Gemeinden in Tschernowitz, in Sibiu oder in Delmenhorst können sich manchmal wundern und freuen über den unerwarteten Besuch. In Marburg wird ein Stadtspaziergang zur jüdischen Geschichte angeboten, schon seit mehr als zehn Jahren, aber wir waren die erste Gruppe, die das wichtiger fand als Schloss, Altstadt oder Kneipentour. Eine Bedeutung gibt es auch für unser Thema in breiterem Sinn. Zusammenleben zwischen Menschen mit verschiedenen Religionen und Kulturen ist nicht immer einfach. Man kann darüber sprechen, man kann studieren, aber auch Reisen gehören zu den Möglichkeiten. Wir möchten das Thema bekannt machen, Menschen anregen, darüber zu sprechen – und wir tun das auf unsere eigene Art und Weise. Dann jetzt einmal zur Sache: Was kann man denn so besuchen, wie macht man sich ein Bild von einer oft verlorenen Vergangenheit?
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Erstens denkt man natürlich an Synagogen. Die sind auffällig, leicht zu erkennen und sie stehen oft mitten in den Orten. Sie sind das Erste, oft auch das einzige Zeichen jüdischen Lebens, das ein normaler Bürger sich vorstellen könnte, einmal zu besuchen. Eine Synagoge ist ein klares Symbol für jüdisches Leben, in Gegenwart oder Vergangenheit, und es ruft Fragen auf, durch ihre Architektur, durch die hebräische Inschrift, durch die Menschen, die sie besuchen. Am schönsten ist eine Synagoge natürlich während eines Gottesdienstes. Dann kann man sehen, wie das Gebäude funktioniert, wie die Menschen sich verhalten beim Gebet. Vor allem gibt es keinen besseren Ort, um zu zeigen, dass es an dem Ort lebendiges Judentum gibt. Das ist immer, wie viel oder wenig auch verstanden wird, eine Erfahrung, die die Reisenden nicht vergessen. Es ist aber nicht immer einfach, einen Gottesdienst zu besuchen. Manche Gemeinden sind sehr zögerlich, Gäste bei den Gebeten zuzulassen. Manchmal haben sie wohl schlechte Erfahrungen gemacht. Oder der Besuch der eigenen Gemeinde ist nicht so zahlreich und man möchte nicht, dass die Gäste in der Mehrheit sind. Oft sitzt man als Gruppe etwas weiter von der aktiven Gemeinde weg, kann aber gut dem folgen, was passiert. Eine Gelegenheit, den Besuch vorzubereiten oder das Erlebte zu besprechen, ist wichtig. Ein Besuch in einer Synagoge außerhalb der Gebete ist etwas prosaischer, hat aber andere Vorteile. Man kann sich alles in Ruhe anschauen, oft hat auch ein Rabbiner oder ein anderer Vertreter der Gemeinde die Zeit, das Gebäude und seine Funktion zu erklären. Vielleicht wird sogar der Toraschrein geöffnet und eine Rolle herausgenommen. Dann lassen sich wieder ganz andere Fragen beantworten. Und dann gibt es die Synagogen, die gar nicht mehr benutzt werden, an Orten, wo oft keine Juden mehr leben. Man kann sie manchmal trotzdem besuchen. Das ist wieder etwas ganz anderes: Die Atmosphäre erinnert manchmal an ein Museum, manchmal eher an eine Ruine. Solche Synagogen findet man aber am meisten.
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Jüdische Friedhöfe gibt es in Deutschland sehr, sehr viele. Oft war ein Friedhof das Erste, das eine jüdische Gemeinde erwerben konnte, und an vielen Orten ist es das Letzte, das noch an eine jüdische Vergangenheit erinnert. Natürlich machen viele Friedhöfe beim ersten Hinsehen einen ähnlichen Eindruck. Das Grün von Bäumen, Gras und Moos, die Grabsteine, die Ruhe, auch die fremden Buchstaben. Trotzdem können auch Laien einfach wichtige Unterschiede feststellen. Da ist das Alter der Steine, ähnlich wie auf einem christlichen Friedhof, und oft kann man viel mehr lesen als zuerst gedacht, weil, zum Beispiel auf der Rückseite, auch deutsche Texte angebracht sind. Auf neuen Friedhöfen, wo noch Menschen beerdigt werden, findet man oft russische Gräber, auch mit Blumen und Schmuck. Manche Städte wie Hamburg besitzen eine ganze Reihe Friedhöfe, aber es ist nicht einfach, sie zu besuchen. In Dörfern sind sie nicht immer abgeschlossen, auch abhängig davon, ob einmal etwas vorgefallen ist. Wenn man mit einer Gruppe einen Friedhof besucht, geht es nur teilweise um Erklärung und Übersetzung. Die Atmosphäre ist sehr dicht, die Gruppe verbreitet sich fast immer über das ganze Areal, jeder sucht eine eigene Ecke und schaut und liest. Es gibt eine gewisse Hilflosigkeit, die aber nicht wirklich stört. Wie auf jedem Friedhof steht man dem Tod gegenüber, aber die jüdische Umgebung macht das noch etwas fremder, direkter. Oft gibt es ein paar Dinge zu erklären, zu erzählen. Über die Steine, über einzelne Menschen, wenn da etwas bekannt ist. Hier und da geben Steine etwas preis gibt von ihren vielen Geheimnissen – und das reicht, es gibt das Vertrauen, dass man in Prinzip viel mehr lösen könnte. Die Dankbarkeit für ein paar Einzelheiten ist groß. „Jede Veränderung ist verboten.“ Und da liegt das Grab des Chatam Sofer wirklich als eine Insel der Vergangenheit, unverändert unter der Erde. Es ist eine der bemerkenswertesten Grabstätten, die wir je besucht haben. Den Eingang muss man suchen, man braucht einen Schlüssel –
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oder einen Menschen, der weiß, wo der zu bekommen ist. Es ist unten am Burgberg in Bratislava, in der Hauptstadt der Slowakei. Nebenan verläuft eine vielbefahrene Straße, durch einen Tunnel kreischt die Straßenbahn, ein kleines, schwarzes Gebäude verbirgt das Grab des Mosche Schreiber, genannt Chatam Sofer. Touristen kommen nicht hierher, nur orthodoxe Juden, aber die dann auch aus der ganzen Welt. In Jerusalem kannte ich eine Synagoge, wo man mir sagte, sie hielten sich an den großen Gelehrten aus Preßburg. Bei ihm, bei dem jegliche Veränderung verboten ist, fühlte man sich sicher in der modernen Welt. Preßburg war eine wichtige Stadt, als Mosche Schreiber 1806 hier Rabbiner wurde. Es lag nicht weit von Wien und war lange Zeit die wichtigste Stadt der östlichen Reichshälfte in der Donaumonarchie. Schreiber, ein passender Name, erlangte große Bedeutung als einer der Leiter des orthodoxen Judentums in einer Zeit der Aufklärung und Assimilation. Er gründete eine Jeschiwa, seine Söhne setzten die Dynastie fort. Beerdigt wurde er 1839 auf dem jüdischen Friedhof von Preßburg. In der Nazizeit wurden Straße und Tunnel gebaut, nur eine kleine Ecke blieb erhalten. Die wurde später überbaut, liegt heute vier Meter unter dem Niveau der Straße. Wenn man es schafft, hinein zu gelangen in dem kleinen Betraum, kann man über eine Treppe auf den alten Friedhof dort unten gelangen, gelegen in einer künstlichen Grotte. Im Dach gibt es sehr kleine Fenster, die etwas Licht durchlassen, es brennen auch einige Lampen. Die Stimmung ist äußerst merkwürdig. Ungefähr zwanzig Grabsteine stehen dort, so, wie sie schon fast 180 Jahre stehen. Jede Veränderung ist verboten. Man hat sich daran gehalten. Keine Veränderung. Aber nichts ist gleich geblieben. Viel seltener als eine Synagoge oder einen Friedhof findet man eine Mikwe, ein rituelles Bad, oder die Reste davon. Eine moderne Mikwe kann manchmal besichtigt werden, wirklich bekannt sind einige mittelalterliche Beispiele, wirklich beeindruckende Anlagen. Die Juden durften keine Türme bauen, bauten ihre Treppen dafür in die Erde; sie führten
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nach unten, bis das Grundwasser erreicht wurde. Bekannt sind die Mikwen in Worms und Speyer, in Friedberg und Offenburg. Es gab natürlich viel mehr Mikwen, manche sind auch noch wohl vorhanden, aber sie können einfach vergessen werden – oder man weiß nicht mehr, wozu eine Treppe in einem Keller einmal führen sollte. Ein Besuch in einer so großen, tiefen Mikwe ist ein Erlebnis: die Treppen nach unten, das Wasser, das besondere Licht, die Erklärung, die jeder so ungefähr kennt, aber die doch gegeben wird, weil sie dazugehört. Und da steht so eine Gruppe auf den großen Stufen und schaut in das Wasser. Schulen werden eher selten besucht. Die Gründe liegen auf der Hand: Entweder sind sie noch in Gebrauch, oder die jüdische Schule wurde von anderen übernommen – und auch dann soll man den Unterricht nicht stören. Dazu kommt, dass Schulen sich im Allgemeinen recht ähnlich sind. In Brody in der Ukraine steht noch das Gymnasium von Joseph Roth – man versucht dort, das Gedächtnis lebendig zu halten. In Leer, ein ganz anderes Beispiel, waren wir in der ehemaligen jüdischen Schule, in Ostfriesland der wichtigste Ort des Gedenkens. In Hamburg gibt es die schöne „Jüdische Töchterschule“. Schulen erfüllten für eine jüdische Gemeinde immer eine wichtige Aufgabe; lernen hat bekanntlich einen hohen Stellenwert. Wo das möglich war, wurde bald eine Schule gegründet. Andererseits, in Gemeinden, die kleiner und grauhaariger wurden, war die Schule oft das erste, was nicht mehr funktionierte. Extra für Wolfgang Seibert sei noch erinnert an die ziemlich ungewöhnliche und weite Fahrt nach Seesen, zur Wiege des liberalen Judentums. Der „Jacobstempel“, 1810 in Gebrauch genommen als erstes jüdisches Gebetshaus mit Orgel und Gottesdienst in deutscher Sprache, wurde leider 1938 zerstört. Wir konnten aber das Gymnasium, das Israel Jacobson schon 1801 gründete, besuchen.
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Bei Museen ist das wieder ganz anders: Sie sind direkt dazu gedacht, besucht zu werden. Sie bieten auf vielen Reisen eine willkommene Handreichung für Reisende. Ein gewisses Problem gibt es manchmal, wenn die Ausstellung konzipiert ist als eine allgemeine Einführung in das Judentum. Wenn der lokale Aspekt fehlt oder zu kurz kommt, können Museen sich erstaunlich ähnlich sein. Es gibt aber viele und sehr gute jüdische Museen, sowohl in Deutschland als auch in vielen anderen Ländern, sicher auch im Osten Europas. Gerade kleine Museen haben oft eine lebendige und rührende Beziehung zu der jüdischen Bevölkerung vor Ort. Solche Beziehungen können die Museen so wertvoll machen. Das jüdische Museum in Kopenhagen ist sehr klein, aber es hat alles, was man so braucht, sogar den richtigen Architekten, Daniel Libeskind. Von außen ist es einfach ein Teil der königlichen Bibliothek, und man muss sehr gut aufpassen, um den Eingang zu finden. Ein großer Stein zeigt das Wort „Mitzwah“ auf Hebräisch, „gute Tat“, das Thema des Museums. Der Stein ist eine Tür und dadurch kommt man in die Ausstellungsräume, ganz in hellem Holz gestaltet. Vieles soll erinnern an die guten Taten der Dänen, die 1943 fast die ganze jüdische Bevölkerung von Dänemark sicher nach Schweden gebracht haben. Leicht spannend wird der Besuch, weil der Fußboden nicht ganz eben ist: so kann man sich fühlen wie in einem kleinen Fischerboot auf hoher See... Manche Gäste müssen deshalb ab und zu eine kurze Pause einlegen. Das Museum ist nicht groß, behandelt aber angemessen die Geschichte der Juden, vor allem in Kopenhagen, von den Anfängen im 16. Jahrhundert bis heute. Wohnhäuser sind das Normalste von der Welt – man muss schon recht viel dazusagen, damit ihre Bedeutung und ihre Besonderheit klar werden. Einzelne jüdische Häuser sind selten bewahrt geblieben, aber das ehemalige Ghetto von Wilna bekam langsam mehr Farbe und Bedeu-
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tung, als Frau Fania Brancovska, 83 Jahre alt, uns durch die Straßen und Höfe führte, wo sie gewohnt und wofür sie als Partisanin gekämpft hatte. Ähnliches kann man erleben in Kazimierz, in den Straßen von Amsterdam, wo das Ghetto war, und in Berlin: In vielen Straßen der Spandauer Vorstadt stehen noch die alten Häuser. Sonst hat alles sich geändert: die Menschen, die Läden, der Verkehr, die Sprache und die Farben. In der Schweiz, im nördlichen Hügelland in der Umgebung von Aarau, liegen zwei kleine Dörfer, Endingen und Lengnau, die nur von Juden bewohnt wurden. Jedes Haus gehört dazu, man kann die aber nicht besuchen. Und mitten im Dorf steht die Synagoge, mit einer Uhr und die Zehn Gebote hoch oben, wo man sich auch ein Türmchen vorstellen könnte. Einiges wird sich geändert haben, aber die Dörfer machen noch immer einen geschlossenen Eindruck. Sie bilden eine merkwürdige Synthese aus einem schweizerischen Dorf und einer jüdischen Gemeinde. An der Straße zwischen den beiden Dörfern, ungefähr in der Mitte, liegt der Friedhof. Das war die jüdische Welt in der Schweiz bis vor 150 Jahren, als sie sich endlich frei niederlassen durften. Menschen kann man auch besuchen und mit ihnen sprechen. Wo es noch möglich ist, Zeitzeugen zu begegnen, ist das oft ein großes Erlebnis. Wir hatten auf den Reisen in Polen und der Ukraine ein paarmal das Glück, besondere Menschen vermittelt zu bekommen. So trafen wir in Drohovic Alfred Schreyer, der uns viel erzählen konnte über die Stadt, über die Geschichte der Juden dort und über seinen Lehrer, den Schriftsteller und Maler Bruno Schulz. In Lemberg führte uns Herr Dorfmann, in Rumänien sprachen wir mit dem Autor und Pastor Eginald Schlattner, und es wären mehrere andere Beispiele zu nennen. Eigentlich bedeutet jede Begegnung mit Menschen, die erzählen über das, was nicht mehr zu sehen ist, eine Steigerung des Wertes einer Reise. Wenn es um so besondere Schicksale geht, kann die Erinnerung an solche Begegnungen einen ein Leben lang begleiten.
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Manchmal bilden Personen ein Thema für eine Reise oder eine Exkursion. Franz Kafka ist ein besonderer Begleiter in Prag, nicht als orthodoxer Jude, aber als Beispiel für eine große Gruppe Prager Juden am Anfang des 20. Jahrhunderts. Er war assimiliert, das Judentum interessierte ihn aber schon, er lernte etwas Hebräisch und spielte mit dem Gedanken, nach Palästina auszuwandern. Er hatte jüdische und auch nicht-jüdische Freunde, war verlobt mit einer jüdischen Frau, hatte eine tschechische Freundin und lernte am Ende seines Lebens Dora Dymant kennen, die einen sehr traditionellen Hintergrund hatte. In einem ganz normalen Dorf in Tschechien steht ein Haus, in dem Franz Kafka gewohnt hat. Eine kleine Plakette nennt die Daten und zeigt das unverwechselbare Gesicht des Autors. Wir sind mit dem Bus dorthin gefahren, sind ausgestiegen und haben etwas erzählt über die Bedeutung dieser Pension Stüdl im Dorf Schelesen im Leben Kafkas. Er lernte dort Julie Wohryzek kennen, verlobte sich, löste die Verlobung und schrieb den „Brief an den Vater“. Lohnt sich das? Vorneweg bezweifle ich das manchmal, im Nachhinein fühlt es sich ganz anders an. Kafka wohnte dort zweimal ein paar Monate. Nichts erinnert an Prag. Kafka wollte manchmal überall in der Welt wohnen, nur nicht in Prag. Er brauchte den Abstand. Wenn etwas klar wird in Schelesen, ist es das: der Abstand. Man kann bei so einem Haus nur die Geschichte erzählen. Andere Häuser sind da manchmal hilfreicher. In Wien gibt es ein Freud-Museum, wo seine ganze Wohnung gezeigt wird, inklusive Couch. Wenn man es besucht hat, weiß man nicht viel mehr vom Judentum, aber sehr viel von Freud. Es gibt in Düsseldorf ein Heine-Haus, in Rijnsburg ein SpinozaHaus und natürlich das Buberhaus in Heppenheim. Die „Reste“ muss man als eigene Kategorie aufführen, weil sie so typisch sind für solche Reisen mit jüdischen Themen. Es ist oft so viel zerstört worden, dass nicht mehr genau zu sagen ist, was für Bedeutung einzelne Steine und Mauern hatten. Reste sind schlimm, sie sind fast das
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Schlimmste. Mitten in Hamburg, nicht weit vom Großneumarkt, befindet sich die Poolstraße. Dort ist eine Autowerkstatt, und wenn man nach hinten weiter geht, sieht man ein Gewölbe, das eindeutig zu einem besonderen Gebäude gehörte. Es sind die Reste der alten liberalen Synagoge. Synagogen werden genutzt als Kirchen, als Werkstätten, als Vorratsspeicher. Oder sie stehen einfach nur herum, mit oder ohne Dach, ganz kaputt oder mit nur ein paar Säulen, die stehen. In Tarnow sieht man ein ganz kleines Stückchen Synagoge auf einem grünen Rasen – und ein Schild. In Tschortkiw, der Stadt des Schriftstellers Karl Emil Franzos, machten wir einen Zwischenhalt. Die Mittagspause dauerte länger als erwartet, die Gruppe wartete auf den Reiseleiter Leszek. Der hatte aber eine Synagoge gefunden, jedenfalls ein Gebäude, das danach aussah, musste die Sache untersuchen und wollte sie uns gerne noch zeigen. Die Gruppe wollte aber weiter nach Tschernowitz, und zwar schnell. Die Synagoge wartet noch immer darauf, entdeckt zu werden. Wenn kaum mehr etwas vorhanden ist, bleiben die Landschaften. In Dänemark ist von der Rettung der Juden im Oktober 1943 nicht mehr viel zu sehen. Das Museum behandelt das Thema, aber die Fotos sind alt und vage, eine kleine Gedenkstätte bringt vor allem Texte, die Menschen sind uralt. Aber die Landschaft ist noch da. Die Öresund. Die schwedische Küste ist gut sichtbar, nicht weit weg. Kleine Häfen sind noch vorhanden, nur liegen dort vor allem Yachten, keine Fischerboote mehr. Man sieht aber sofort: Hier war es. Die Ukraine hat endlose Landschaften: blauer (oder grauer) Himmel und gelbe Felder, wie die Fahne des Landes, wie im Film „Alles ist erleuchtet“. In der Landschaft liegen Berdichev, Medzibozh und Tschernowitsch, die Städte der berühmten Rabbiner des Chassidismus. Und es gibt die Bäume, die nichts sagen. Die Buchen in der Bukowina, die schrecklichen Wälder bei Drohovic, das Rumbola-Wäldchen bei Riga, an der Eisenbahn.....
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Auch über die Lager der Nazizeit muss ich etwas schreiben. Vielleicht denken viele Menschen nur an solche Orte, wenn es um Reisen mit jüdischen Themen in Osteuropa geht. Das ist so zwar nicht richtig, aber die Lager sind da. Es gibt einige enorme Anlagen, menschenleere Areale, vergleichbar mit Tschernobyl. Vergiftet sind sie. Man kann sie besuchen, aber hält es nicht lange aus. Baracken und Krematorien sind zerstört, selten rekonstruiert. Und es gibt ein paar Denkmäler, meist ziemlich hilflose Versuche, eine Handreichung zu bieten für Gedenken, Verarbeiten. Man trifft nicht viele Menschen, manchmal Gruppen junger Israelis. Kleinere Lager sind gekennzeichnet durch ein Schild, manchmal nicht einmal das. Den Jungfernhof in Riga muss man suchen – alles ist überwuchert, nur wenige Reste sind geblieben. Aber der Ort ist der gleiche. Gleise, eine Straße, ein Fluss. Soll man solche Stätten besuchen? Manche sprechen empört von „Katastrophentourismus“, und ich kann mir darunter schon etwas vorstellen. Trotzdem, wir konnten diese Orte durchaus gut besuchen mit den Gruppen, die sich auf einer Reise in den Osten Polens einließen. Die Frage ist doch verhältnismäßig einfach: Entweder findet man, dass an die Schrecken der Nazizeit gedacht werden sollte, oder man ist eben anderer Meinung. Wenn das Gedenken aber einen Sinn hat, dann müssen die Orte instandgehalten werden. Und dann sollten die Besucherzentren und Museen auch nicht leer bleiben. Es gibt zum Glück Menschen, die sehr gut durch solche Orte führen können: authentisch, mit Wissen und etwas Mitleid mit den Besuchern, die sich die schreckliche Geschichten anhören, die sich anschauen, was dazugehört. Man muss nicht so lange bleiben, das Wichtige ist oft innerhalb von einer Stunde zu sehen, abhängig auch davon, ob Menschen schon des Öfteren an solchen Stätten waren. Und abhängig von den Entfernungen, die zu gehen sind. Und was sonst noch dazu gehören kann: Man kann sich auf einer „jüdischen“ Reise natürlich beschränken auf
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Synagogen und Friedhöfe, auf klar definierbare jüdische Gebäude und Gegenstände. Es ist nicht, dass das zu wenig wäre oder dass es langweilig werden würde, es gibt gute positive Gründe, ein Land oder eine Gegend auch breiter kennenzulernen. Ein Friedhof in Holland ist anders als ein Friedhof in Polen, eine Synagoge in Hamburg anders als eine in Venedig. Das hängt zusammen mit Stil, Mode und Geschichte, mit Klima, mit den Menschen, die an einem Ort wohnen. Das Judentum ist überall erkennbar als Judentum, in seinen Formen, in Gebäuden und Gebrauchsgegenständen. Aber es ist auch an allen Orten gerade wieder ein wenig anders. Der Reis, könnte man sagen, ist überall gleich, aber die Sauce schmeckt immer anders – und die Sauce ist wichtig. Wenn man das Judentum in Amsterdam verstehen möchte, muss man etwas wissen von der Geschichte der Niederlande, sowohl im 17. als auch im 20. Jahrhundert. Das Judentum war immer offen, hat vieles übernommen aus anderen Kulturen, hat sich teilweise assimiliert und ist doch im Kern sich selber treu geblieben. Es gab auch immer viele jüdische Elemente, die von der Umgebung übernommen wurden und sich jetzt entdecken lassen in Kunst, Kultur und Sprache der Nicht-Juden. Im jüdischen Museum in Berlin stand ein riesiger Knoblauch. Damit versuchte man, die Bedeutung der Schum-Städte im Mittelalter klar zu machen. Diese Städte, Speyer, Worms und Mainz, hatten eine leitende Rolle in der Welt des deutschen Judentums im frühen Mittelalter – bis die Gemeinden von den Kreuzfahrern zerstört wurden. Als SchumStädte wurden sie bezeichnet, weil die Anfangsbuchstaben ihrer drei Namen das Wort S-W-M, „Schum“ bildeten, hebräisch für „Knoblauch“. Man kann die drei Städte besuchen, es gibt in allen dreien auch jüdische Spuren, die man sich gut ansehen kann, aber nach meinem Empfinden bekommt so eine Reise viel mehr Bedeutung, wenn man auch die drei Kaiserdome in das Programm aufnimmt, die auf andere Weise bezeichnend sind für die mittelalterliche Kultur.
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Martin Buber hat einen kurzen Text geschrieben über den Blick vom alten jüdischen Friedhof in Worms hinüber zum Dom. Er vergleicht Dom und Friedhof, lobt den schönen Dom, fühlt sich aber verwurzelt in seiner jüdischen Tradition, die immer noch gültig ist. Durch das Nebeneinander, das es schon in den mittelalterlichen Städten gab, gewinnt das jüdische Leben eine andere Perspektive. Es war nicht nur ein Leben in einer alten Stadt, in kleinen Straßen mit bescheidenen Häusern, mit einer schönen Synagoge und einer Mikwe, auf die man stolz sein konnte. Es war auch ein Leben als Außenseiter im Schatten der gewaltigen Dome. Was ist eine Minderheit und wie lebt sie? Wie haben die Juden sich gefühlt, in der ständigen Gefahr, verfolgt oder vertrieben zu werden? Und wie haben die Christen die Juden wahrgenommen? Es gibt nicht viele mittelalterliche Städte, in denen man das Nebeneinander so gut nachvollziehen kann. Buber war etwas bescheiden, vielleicht auch einfach vorsichtig. Es war eine schwere Zeit. Man kann vom Friedhof den Dom sehen und vom Dom den Friedhof. Es gibt aber in Worms auch eine schöne Synagoge, komplett mit Mikwe. Wir möchten auf den Lehrhaus-Reisen die verschiedenen Blickrichtungen ausprobieren und vergleichen, dabei darauf achten, dass sowohl die Synagogen als auch die Kirchen, eventuell auch noch andere Gebäude, zu ihrem Recht kommen. Judentum ist zum Glück heutzutage viel mehr als der Friedhof, den Buber im Januar 1933 (!) erwähnte. Das Christentum ist nicht nur Dom – es gibt bescheidene Kapellchen und auch viele Friedhöfe. Sonst aber zeigt Bubers Bild – das sichtbare Nebeneinander, der Austausch, die Besinnung darauf – schon Sinn und Ziel der LehrhausReisen. Pastor Rien van der Vegt ist Studienleiter des Lehrhauses Hamburg und evangelischer Vorsitzender der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit in Hamburg e.V.
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Moses und sein Nachbar im Paradies Ali-Özgür Özdil Sehr häufig in interreligiösen Kontexten, wie zum Beispiel auf Podiumsdiskussionen, wo ich mit einem jüdischen und christlichen Dialogpartner auf dem Podium saß, musste ich den Satz der ModeratorInnen hören: „Als erstes war das Judentum, dann folgte das Christentum und dann kam der Islam. Deswegen möchten wir auch mit dieser Chronologie beginnen und dem jüdischen Referenten als erstes das Wort geben..." Lediglich in zwei von mehr als 100 solcher Veranstaltungen, durfte ich – auch wenn ich im Verständnis der Moderation eigentlich an letzter Stelle dran wäre – als erster beginnen. Ich wiederum erklärte bei Gelegenheit, dass im islamischen Verständnis nicht der Prophet Muhammad (Friede sei mit ihm) der erste Prophet des Islam ist, sondern Adam als der erste Prophet gilt, der bekanntlich weder Jude noch Christ war, und dass der Koran den islamischen Monotheismus nicht auf Muhammad, sondern auf Abraham zurückführt. Laut Sure 4, Vers 125, und Sure 22, Vers 78, ist der Islam „die Religion Abrahams“, so dass der Prophet Muhammad keine neue Religion bringt, sondern die Religion seines Stammvaters Abraham wiederbelebt. Zur Verwunderung vieler Dialogpartner gelten auch Moses und Jesus sowie ihre Anhänger als Muslime, d.h. Gottergebene, deren Religion die Gottergebenheit (arab. Islam) ist. Dieses inklusive Verständnis von Religion (Moses ist Muslim – ein Gottergebener – und seine Religion ist Islam – die Gottergebenheit) führt unweigerlich zur Verwirrung, weil dies eben eine Frage der Perspektive ist. Verstehen wir Judentum, Christentum und Islam als drei verschiedene Religionen oder als die Offenbarungen desselben Gottes zu unterschiedlichen Zeiten an unterschiedliche prophetische Persönlichkeiten? Geschichten von Abraham, Moses und Jesus sind für Muslime keine Geschichten über – für den Islam – fremde Persönlichkeiten oder Religi-
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onen, sondern „islamische“ Geschichten, die alle auf dieselbe Quelle, nämlich auf den einen und einzigen Gott zurückführen. Im Folgenden möchte ich Geschichten über Moses teilen, die auch Teil der islamischen Überlieferungsliteratur sind, wobei es sich entweder um ursprünglich islamische Quellen, wie etwa aus dem Koran oder den Aussagen des Propheten Muhammad, um von Muslimen übernommene jüdische Quellen oder um Legenden handeln kann, in denen man den tieferen Sinn sucht, ohne den Beleg über ihre Authentizität. Moses im Koran Moses spielt im Koran und somit auch im Islam eine zentrale Rolle als Prophet und Gesandter Gottes. Die längste Sure des Korans ist die Sure 2 (Baqara), in der es um das „Goldene Kalb“ geht. An mehr als 300 Stellen des Korans lernen wir über Moses. Zum Beispiel begegnet er im Koran einem Weisen Namens Khidr (übersetzt „Der Grüne“), von dem er lernen soll. Laut islamischer Überlieferung glaubte Moses nämlich, der weiseste Mensch zu sein, doch Gott wollte ihm zeigen, dass es noch weisere Menschen gab, woraufhin Moses einem solchen Menschen begegnen wollte. Diese Begegnung wird in Sure 18 („Die Höhle“) in den Versen 65-82 folgendermaßen beschrieben: (65) Da fanden sie einen von unseren Dienern (Khidr), dem wir Barmherzigkeit von uns hatten zukommen lassen, und den wir Wissen von uns gelehrt hatten. (66) Moses sagte zu ihm: „Darf ich dir folgen, damit du mich (etwas) von dem rechten Weg lehrst, den du gelehrt worden bist?“ (67) Dieser antwortete (ihm jedoch): „Du vermagst nimmer bei mir auszuharren in Geduld. (68) Und wie vermöchtest du geduldig zu sein bei Dingen, die über dein Begreifen sind?“ (69) Er (Moses) sprach: „Du wirst mich, so Gott will, geduldig finden, und ich werde gegen keinen deiner Befehle ungehorsam sein.“
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(70) Er (Khidr) sagte: „Nun gut. Wenn du mir folgen willst, so frage mich nach nichts, bis ich es dir von selbst erkläre.“ (71) So machten sich beide auf den Weg, bis sie in ein Boot stiegen, in das er ein Loch hineinschlug. (Moses) sprach: „Schlugst du ein Loch hinein, um seine Mannschaft zu ertränken? Fürwahr, du hast etwas Schreckliches getan!“ (72) Er antwortete: „Habe ich nicht gesagt, du würdest es nimmer vermögen, bei mir auszuharren in Geduld?“ (73) Er (Moses) sagte: „Stelle mich nicht meines Vergessens wegen zur Rede, und sei deswegen nicht streng mit mir.“ (74) So zogen sie weiter, bis sie einen Jüngling trafen, den er erschlug. Er (Moses) sagte: „Hast du einen unschuldigen Menschen erschlagen, ohne dass (er) einen anderen (erschlagen hätte)? Wahrlich, du hast etwas Furchtbares getan!“ (75) Er sagte: „Habe ich dir nicht gesagt, du würdest es nimmer fertigbringen, bei mir in Geduld auszuharren?“ (76) Da sagte er ihm: „Wenn ich dich noch einmal wieder fragen sollte, brauchst du mich nicht mehr mitzunehmen. Das wird dir keiner übelnehmen.“ (77) So zogen sie weiter, bis sie bei den Bewohnern einer Stadt ankamen und von ihnen Gastfreundschaft erbaten; diese aber weigerten sich, sie zu bewirten. Nun fanden sie dort eine Mauer, die einzustürzen drohte, und er richtete sie auf. Er (Moses) sagte: „Wenn du es gewollt hättest, hättest du einen Arbeitslohn dafür erhalten können.“ (78) Er sprach: „Dies ist die Trennung zwischen mir und dir. Doch will ich dir die Deutung von dem sagen, was du nicht in Geduld zu ertragen vermochtest.“ In den darauffolgenden Versen (79-82) erklärt Khidr Moses die Gründe für sein Handeln. Moses sieht jedes Mal nur die äußere Wahrheit, die sich ihm allein durch Beobachtung der Taten Khidrs erschließt. Khidr hingegen, über den Gott in Vers 65 spricht: „...den wir Wissen von Uns gelehrt hatten“, kennt die innere Wahrheit. So lassen sich an diesem Bei-
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spiel zwei Menschtypen erkennen, denen wir auch heute begegnen: Der eine ist ein Meister der Narration. Er lernt Dinge, die er deutet und im Rahmen seines Assoziationsvermögens wiedergibt. Der andere ist ein Meister der Kognition. Er erfasst den Sinn einer Sache und setzt sie in einen neuen Sinnzusammenhang. Sollen wir die Begegnung von Moses und Khidr nur auswendig lernen und weiter erzählen, so wie eine Geschichte, oder sollen wir auch den Sinn, der darin verborgen ist, erfassen? Welchen Wert hätte eine Überlieferung, wenn sie keinen Bezug zu uns hätte? Moses und der unwissende Hirte In seinem Mathnawi erzählt der Mystiker ar-Rumi von einer Begegnung des Moses mit einem Hirten. Als Moses sich dem Mann nähert, sitzt dieser an einem Baum gelehnt und betet zu Gott: „O mein lieber Gott! Weißt Du, wie sehr ich Dich liebe! Für Dich würde ich alles tun, was immer Du auch wünschst. Mein bestes Schaf würde ich für Dich opfern, zubereiten und Reis dazu kochen. Bitte Du mich nur darum, ich würde Dir die Füße waschen, Dir die Ohren reinigen, Dich von Deinen Läusen befreien. Meine Liebe zu Dir ist dermaßen unbeschreiblich groß.“ Moses hingegen kann nicht ertragen, was seine Ohren mit anhören müssen. Völlig wutentbrannt schreit er den Mann an: „Sei still, du Unwissender! Was glaubst du, was du da tust? Isst Gott etwa Reis? Hat er etwa Füße, die du waschen könntest? Gibt es denn ein solches Gebet? Du begehst eine große Sünde! Bitte sofort um Vergebung dafür!“ Der Hirte läuft daraufhin vor Scham rot an und schwört, nie wieder solch unbedachte Gebete zu sprechen und bricht in Tränen aus. Bis spät in die Nacht sitzt Moses dann bei dem Mann und bringt ihm Gebete bei. Dann verabschiedet er sich von dem Mann mit dem Gedanken: Ich habe heute etwas Gottgefälliges getan. Gott wird sehr zufrieden mit mir sein. Gott spricht daraufhin zu Moses: „Was hast du nur getan! Habe Ich dich entsendet, um diejenigen, die von Mir getrennt sind, mit Mir zu vereinen, oder diejenigen, die mit Mir vereint sind, von Mir zu trennen? Du
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hast den armen Hirten verletzt. Du hast nicht begriffen, wie sehr er mit Mir verbunden war. Auch wenn er sich nicht bewusst war, was er sprach, war er in seinem Glauben aufrichtig. Wir schauen nicht auf die Worte, sondern auf die Absicht. Sollten Wir alleine auf die Worte blicken, gäbe es heute keinen einzigen Menschen mehr auf Erden. Was für jemand anderen ein Lob ist, mag dir als Beleidigung erscheinen. Was ihm Honig ist, mag für dich Gift sein. Das, was du gehört hast, klang in deinen Ohren wie Gottesleugnung und Sünde, doch selbst wenn darin ein Fehler sein sollte, was für ein süßer Fehler das doch ist.“ Moses erkannte seinen Fehler und ging am nächsten Tag erneut zum Hirten. Wieder sah er ihn beim Gebet, doch dieses Mal war nichts von der gestrigen Innigkeit und Aufrichtigkeit seines Gebets zu spüren. Er versuchte lediglich das, was er von Moses auswendiggelernt hatte, mühsam zu wiederholen. Dabei versprach er sich mehrmals, stotterte und schwitzte vor Anstrengung. Moses verspürte erneut Reue, streichelte dem Hirten den Rücken und sagte: „O Freund! Ich habe mich geirrt. Bitte vergebt mir und betet zu Gott, wie ihr es wünscht. Denn dies ist bei Gott wertvoller.“ Moses und der streunende Hund Ich las einmal die Geschichte eines Mannes, der während einer Bootsfahrt versucht haben soll, ein Skorpion vor dem Ertrinken zu retten, wobei der Skorpion ihn mehrmals stach. Er versuchte ihm trotz der Warnung anderer zu helfen. Diese sagten daraufhin: „Wir haben dir doch gesagt, er würde dich stechen!“ Welche Antwort gab er ihnen? Dann las ich eine Geschichte über Moses, der versucht haben soll, einen Stachel aus der Pfote eines streunenden Hundes zu entfernen. Auch ihn sollen einige gewarnt haben, der Hund könnte ihn beißen. Das tat dieser auch. Trotzdem soll Moses dem Hund geholfen haben. Beide Geschichten – unabhängig davon, ob sie nun tatsächlich stattgefunden haben oder nicht – wollen am Ende das Gleiche betonen: Auch wenn er (der Skorpion oder der Hund) seiner Natur folgt, mich zu ste-
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chen oder zu beißen, folge ich dennoch meiner (menschlichen) Natur und handele trotzdem menschlich. Geht es bei Geschichten also darum, ob sie tatsächlich stattgefunden haben, oder um den Sinn, der in ihnen enthalten ist und aus denen wir etwas lernen können? Moses und die Gerechtigkeit Gottes Eines Tages, als der Prophet Moses seinen Gottesdienst beendet und sich unter einen Baum setzt, blickt er auf einen Wasserbrunnen und sieht, wie ein Soldat angeritten kommt, um Wasser zu trinken. Als der Reiter sich zum Wassertrinken vorbeugt, stört ihn jedoch sein Geldbeutel dabei, der um seine Schulter hängt, und er legt ihn beiseite. Nachdem er seinen Durst stillt, setzt er sich wieder auf sein Pferd und reitet los, vergisst jedoch den Geldbeutel. Im selben Moment kommt ein kleines Kind hüpfend zum Brunnen, sieht den Beutel, nimmt ihn mit und läuft weiter. Ihm folgt ein alter Mann, der ebenfalls zum Brunnen kommt und anfängt, Wasser zu trinken. In diesem Moment kommt der Soldat zurück und sucht nach seinem Beutel. Da er ihn nicht finden kann, packt er den alten Mann am Kragen und verlangt nach seinem Beutel. Wie sehr ihn der alte Mann auch versucht zu überzeugen, dass er nicht wisse, wo der Beutel ist, glaubt ihm der Soldat nicht, zieht sein Schwert und tötet ihn. Moses, der das beobachtet, sagt: „O mein Schöpfer, was ist das nur für eine Gerechtigkeit? Ich weiß, man stellt Deine Angelegenheiten nicht in Frage, aber ich habe dies nicht verstanden.“ Gott antwortet ihm: „O Moses. Ich habe dir nicht so viel Verstand verliehen, dass du Meine Angelegenheiten verstehen könntest, so dass du über Mich Deutungen anstellst. Aber um dein Herz zu beruhigen, werde Ich dir erklären, was geschehen ist: Der Soldat hatte das Geld dem Vater des Kindes geraubt, das den Beutel zu sich nahm. Der alte Mann war einst ein kräftiger, junger Mann und hatte einmal für eine Nichtigkeit einen Bauern getötet. Der Soldat, der den alten Mann getötet hat, war
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der Sohn dieses Bauern. O mein unwissender Diener. Bitte nun um Vergebung für deinen Zweifel.“ Moses und der Mann mit den meisten Sünden Als Moses auf dem Weg zum Berg Sinai war, sprach ihn ein Mann an und sagte: „Kannst du Gott fragen, wer unter allen Menschen der größte Sünder ist?“ Moses fragte daraufhin Gott und bekam zur Antwort: „Wenn du zurück gehst, wirst du einem Mann mit einem Kind begegnen. Dieser ist der mit den meisten Sünden.“ Tatsächlich sah Moses auf seinem Rückweg einen Mann mit einem Kind an der Hand an ihm vorbeigehen. Am nächsten Tag sagte derselbe Mann zu Moses, der ihn ein Tag zuvor gefragt hatte: „Kannst du dieses Mal Gott fragen, wer der Mensch mit den wenigsten Sünden ist?“ Als Moses Gott auch danach fragte, bekam er zur Antwort: „Auf deinem Rückweg wirst du einen Mann mit einem Kind sehen. Das ist der mit den wenigsten Sünden.“ Als Moses zurückkehrte, sah er, dass es derselbe Mann von gestern war und staunte darüber: Dieser war erst gestern der größte Sünder und heute der mit den wenigsten Sünden? Moses bekam zur Antwort: „Als dieser Mann heute an dir vorbei ging, kam er mit seinem Kind vom Strand. Sein Kind hatte ihn gefragt: »Vater, gibt es etwas, das mehr ist als die Sandkörner am Strand?« Und sein Vater antwortete ihm: »Ja, mein Sohn, die Weltenmeere.« Daraufhin fragte das Kind: »Und gibt etwas, das größer ist als die Weltenmeere?« – »Ja mein Sohn. Die Sünden deines Vaters!« Und das Kind wollte wissen: »Gibt es denn etwas, was noch größer ist als die Sünden meines Vaters?« Und der Mann antwortete ihm: »Ja mein Sohn. Die Barmherzigkeit Gottes!«“ Gott erklärte Moses: „Während dieser Mann sich gestern als den größten Sünder sah, sah er heute meine Barmherzigkeit als größer als seine Sünden an, was ihn heute zu dem mit den wenigsten Sünden gemacht hat.“
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Moses und sein Nachbar im Paradies Moses fragte einmal Gott: „Wer wird im Paradies mein Nachbar sein?“ Gott sagte ihm, dass es ein bestimmter Schlachter sein werde. Moses fragte sich, welche besondere Eigenschaft dieser eine Mann wohl habe, um sein Nachbar im Paradies zu sein. So machte er sich auf den Weg zu diesem Menschen und besuchte ihn. Als er den Mann schließlich fand, verriet er ihm jedoch nicht, dass er Moses war, und beobachtete er ihn bei der Arbeit, erkannte aber keine Besonderheit an ihm. Als der Mann ihn am Abend zum Essen einlud, sah Moses, wie der Mann einen Teil des zubereiteten Essens beiseitelegte. Der Mann legte erst Moses etwas zum Essen vor, entschuldigte sich dann bei ihm und ging in ein Nebenzimmer. Moses sah durch einen Türspalt, wie der Mann sich um eine andere Person kümmerte. Er gab ihr etwas zu essen und tat noch andere Dinge. Moses bekam auch mit, dass die alte Person, um die sich der Mann kümmerte, dem Mann etwas ins Ohr flüsterte und der Mann „Amen“ sagt. Als der Mann dann zu Moses zurückkehrte, sagt er: „Entschuldigt mich bitte. Ich hatte etwas Wichtiges zu erledigen. Aber nun kann ich mich endlich um euch kümmern.“ Moses fragte ihn daraufhin neugierig: „Wer was das, um den ihr euch da gekümmert habt?“ Der Mann sagte: „Das war meine Mutter. Sie hat sonst niemanden außer mir und ist sehr hilfsbedürftig. Ich gebe ihr täglich etwas zu essen, wasche sie und kümmere mich um all ihre Bedürfnisse.“ Moses fragte erneut neugierig nach: „Bevor ihr euch von ihr entfernt habt, zog sie euch zu sich und flüsterte euch etwas ins Ohr und ihr sagtet ‚Amen‘“. Der Mann sagte: „Meine Mutter betet täglich für mich, das ich im Paradies der Nachbar von Moses werde.“ Schmunzelnd fügte er hinzu: „Ich aber denke, wer bin schon ich und wer der große Gottesgesandte Moses?“ Daraufhin sagte ihm Moses: „Ich bin Moses. Gott hat mir berichtet, dass ihr mein Nachbar im Paradies sein werdet und deswegen wollte ich euch kennenlernen. Gott hat das Gebet eurer Mutter erhört.“
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Schlusswort Dies war nur ein kleiner Ausschnitt über Moses in islamischen Texten. Sie können natürlich nicht im Geringsten die wahre Größe von Moses für Juden, Christen und Muslime widerspiegeln, sondern lediglich Durst machen auf noch mehr. Was gibt es da noch alles in unseren Quellen, was vielleicht sogar fern von theologischen Kontexten für ein gemeinsames Lesen, Nachdenken und Sprechen geeignet wäre? Gottesgesandte in der Sprache des Volkes sozusagen. Verständlich selbst für Kinder. So blicke ich auf mehr als zwei Jahrzehnte interreligiösen Dialogs zurück, wo wir uns mit theologischen Texte und Themen gegenseitig zum Schwitzen brachten, aber auch mit Erzählungen wie diesen zum Schmunzeln und manchmal sogar zum Lachen. So heißt es im Koran: „Für jeden von euch haben Wir ein Gesetz und einen deutlichen Weg festgelegt. Und wenn Gott wollte, hätte Er euch wahrlich zu einer einzigen Gemeinschaft gemacht. Aber (es ist so,) damit Er euch in dem, was Er euch gegeben hat, prüfe. So wetteifert nach den guten Dingen! Zu Gott wird euer aller Rückkehr sein, und dann wird Er euch kundtun, worüber ihr uneinig zu sein pflegtet.“ Dr. Ali-Özgür Özdil ist Direktor des Islamischen Wissenschafts- und Bildungsinstituts in Hamburg.
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Luther und die Juden Gabriele Schmidt-Lauber Für evangelische Christen ist es eine heikle und besondere Aufgabe, sich angesichts des Holocausts mit einer zumindest problematischen Seite Luthers auseinanderzusetzen. Manche seiner Äußerungen wirken in der Rückschau nach Auschwitz wie eine Vorwegnahme der Schrecken. Luthers Worte rufen ein Entsetzen hervor, auf das manche unter uns am liebsten mit einer Abkehr vom lutherischen Erbe reagieren möchten. Hat man sich im Nationalsozialismus zu Recht auf Luther berufen? Martin Luther ist eine historische Person, ein Kind seiner Zeit. Als solcher ist er auch zu betrachten. Das Ringen um ein tieferes Verstehen seiner Rechtfertigungslehre, die nach wie vor für evangelische Identität zentral ist, hat die Forschung seit langem zum Einbeziehen des von Angst und apokalyptischer Endzeiterwartung geprägten Lebensgefühls des 15. Jahrhunderts gebracht63. Es scheint kein Problem für uns zu sein, in Hinsicht auf diesen Aspekt mit Luthers mittelalterlicher Persönlichkeit umzugehen. Eine historisch relativierende Betrachtung der Äußerungen Luthers gegenüber den Juden hingegen gerät leicht in den Verdacht, apologetische Interessen zu verfolgen und den Reformator gleichsam um jeden Preis reinwaschen zu wollen von den gegen ihn vorgebrachten Vorwürfen. Die entscheidende Frage bleibt: Wie können wir einen angemessenen Umgang mit unserem evangelischen Erbe finden, wenn wir zugleich einen scharfen Antijudaismus in ihm erkennen müssen? Um zunächst die Sachlage besser verstehen zu können, werde ich in diesem Beitrag zunächst auf die historischen Zusammenhänge eingehen, in denen Luthers Äußerungen stehen. In einem zweiten und dritten Schritt 63
Bernd Moeller, Frömmigkeit in Deutschland um 1500, in: ARG 56, 1965, 5-31. 107
werde ich auf diesem Hintergrund Aspekte aus Luthers Schriften und seiner Rechtfertigungslehre in den Blick nehmen, um als Abschluss nach Perspektiven für eine evangelische Theologie zu fragen. Politische Situation und zeitgenössische Haltung Wie präsent waren Juden überhaupt für Martin Luther? Wir wissen, dass er nahezu keinen näheren Kontakt mit Juden hatte64, und das war angesichts von deren politischer und gesellschaftlicher Situation nicht ungewöhnlich. Für Luther war eine Stadt ohne Juden der Normalfall 65, ein Miteinander kannte er weder im Kurfürstentum Sachsen, seiner Heimat, noch andernorts. In weiten Teilen Europas war die Ausweisung von Juden seit langem gängige Praxis. 1517 lobt der Humanist Erasmus von Rotterdam Frankreich wegen seiner judenfeindlichen Politik – im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern sei Frankreich nach langer und erfolgreicher Ausweisungspolitik „judenrein“.66 1492 und 1497 wurden die Juden auch aus Spanien und Portugal vertrieben. Diese Ausweisungen hatten enorme Migrationsfolgen in Europa, die wiederum im Zusammenhang mit wirtschaftlichen Veränderungen eine Steigerung der schon bekannten Vorurteile gegen sämtliche Randgruppen mit sich brachten. Viele Juden ließen sich im östlichen Mittelmeerraum oder in Polen, aber auch im Deutschen Reich nieder, wo es immerhin – gegen erhebliche Zahlungsforderungen – zumindest gelegentlich eine rechtliche Absicherung durch die Territorialfürsten gab. Eine Bedrohung durch judenfeindliche Maßnahmen ging hier nicht von der Obrigkeit, sondern von der Bevölkerung aus und zeigte sich z.B. in gezielten Pogromen. 64
Mit Ausnahme einer Begegnung mit einigen Juden 1525/26 liegt kein derartiger Beleg vor, vgl. Thomas Kaufmann (2013), Luthers „Judenschriften“, Tübingen, 2. Auflage, 8. 65 Kaufmann (2013). 66 Bernhard Lohse (1995), Luthers Theologie, Göttingen, 357. „Es wäre weit gefehlt zu vermuten, dass etwa die Humanisten als Vorkämpfer einer freien Geisteshaltung grundsätzlich und insbesondere gegenüber den Juden für eine gewisse Toleranz eingetreten wären.“ Ebd., 358. 108
Das bekannteste, aber keineswegs einzige Beispiel dafür ist während der Reformationszeit die Zerstörung der Synagoge in Regensburg 1520 und die blitzschnelle Errichtung einer hölzernen Wallfahrtskirche an ebendieser Stelle – eine symbolträchtige Handlung. Die Ablehnung des Judentums findet sich auch in diversen Schriften gebildeter Männer, die sich in die lange Tradition der Adversus JudaeosLiteratur einreihen und mühelos die seit Jahrhunderten bekannten Vorurteile und Verunglimpfungen aufnehmen. Ohne auf die Vorgeschichte, die Gründe oder den Inhalt des spätmittelalterlichen Antijudaismus näher eingehen zu wollen,67 möchte ich dennoch betonen, dass die judenfeindliche Haltung auch hier stets religiös begründet wurde. Vor dem Hintergrund dieser Schriften fallen die harten Worte Luthers keineswegs aus dem Rahmen, bedient er sich darin doch auch ausführlich der einschlägigen Literatur.68 Das Bild vom Judentum speist sich bei Luther dann auch eher aus literarischen Zeugnissen als aus eigenen Begegnungen. Mittelalterliche Legenden und Vorurteile, die die Gesamtstimmung im 15. und 16. Jahrhundert bestimmten, prägten auch ihn. Weit verbreitet war seit 1507 eine Schrift des zum Christentum konvertierten Juden Johannes Pfefferkorn. Mit dem erklärten Ziel der Mission unter den Juden „widerlegte“ Pfefferkorn angebliche jüdische Überzeugungen, und sein Wort hat umso mehr Gewicht, als er doch als Insider gilt und die jüdischen Vorstellungen über Christen und ihre Theologie scheinbar aus bestem Wissen referierte. Tatsächlich aber nimmt er allein die bekannten christlichen Vorurteile in scharfem und abfälligem Ton auf. 67
Vgl. dazu etwa Karl Heinrich Rengstorf; Siegfried von Kortzfleisch (Hgg.) (1988), Kirche und Synagoge. Handbuch zur Geschichte von Christen und Juden. Darstellung mit Quellen, Bd. 1, München, 210-306. 68 Heinz Schreckenberg (1994), Die christlichen Adversus-JudaeosTexte und ihr literarisches und historisches Umfeld (13. – 20. Jh.) (EHS.T, Bd. 497), Frankfurt a.M., 616. 109
Schriften Luthers Wie äußert sich nun Martin Luther? Schon in seinen frühen Vorlesungen setzt der junge Luther sich, bereits in der Auslegung der Genesis oder nach dem reformatorischen Durchbruch der Psalmen, aber auch in seiner Paulusexegese, häufig mit dem Judentum auseinander, ohne dass ihm dies Anlass zum Verfassen eigener thematischer Schriften gibt. Das Bild vom Judentum, das er dabei zeichnet, ist – vielleicht gerade in Luthers Ringen um ein neues Gerechtigkeitsverständnis – bestimmt von Vorwürfen, das Judentum führe als Gesetzesreligion schnurstracks in die Eigengerechtigkeit und Selbstheiligung und damit weit weg von Gott. Allerdings hat Luther nicht allein die Juden mit dieser Anklage bedacht, sondern zugleich auch alle „falschen Christen“, die auf die eigenen Leistungen vertrauen, statt die Gerechtigkeit ganz von Gott zu erhoffen. Allmählich wird dabei die Nähe zu antipapistischen Äußerungen immer deutlicher. Die Auseinandersetzung mit dem auserwählten Volk Gottes, an das die Verheißungen gerichtet waren und das dennoch den Heiland nicht erkennt, bleibt für Luther in der Entwicklung und Ausformung seiner Theologie wesentlich. 1523 erscheint die erste der so genannten Judenschriften Luthers, „Dass Jesus Christus ein geborener Jude sei“. Wie alle Lutherschriften, die explizit das Judentum thematisieren, ist auch diese keineswegs an die Juden selbst gerichtet, sondern an christliche Zeitgenossen. Die erste Schrift ist eigentlich als Verteidigungsschrift zu verstehen: Luther war vorgeworfen worden, er leugne die Gottessohnschaft Christi und meine, dass Jesus lediglich aus dem Samen Abrahams stamme. Das war gefährlich, und obwohl Luther diesen Vorwurf zwar absurd fand, sah er sich insbesondere aus politischen Gründen genötigt, darauf einzugehen. „Dass Jesus Christus ein geborener Jude sei“ ist als Missionsschrift bezeichnet worden, und tatsächlich schreibt Luther, dass er nebenbei durch den beständigen Bezug auf alttestamentliche Schriftstellen „vielleicht auch der Juden etliche möchte zum Christenglauben reizen“.69 Er will 69
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anders vorgehen als die groben Eselsköpfe, nämlich die Päpste, Bischöfe, Sophisten und Mönche, die eher vom Christentum forttrieben als einlüden: „Und wenn ich ein Jude gewesen wäre und hätte solche Tölpel und Knebel gesehen den Christenglauben regieren und lehren, so wäre ich eher eine Sau geworden denn ein Christ.“70 Bis zum jüngsten Tag gelte die Verheißung „Abrahams Geblüt (welches sind da die Juden)“, weshalb die Christen verpflichtet sind zu einem freundlichen Umgang mit den Juden. Man solle sie aus der Heiligen Schrift lehren, ihnen nicht die Handarbeit verbieten, so dass sie Wucher treiben müssten, und sie nicht nach päpstlichem Gesetz, sondern nach dem Gesetz christlicher Liebe behandeln. Die Schrift wurde schnell und weit verbreitet. In jüdischen Kreisen wuchs die Hoffnung auf eine nachhaltige Verbesserung der eigenen Lage. Ohnehin hatte der Aufbruch, den die Reformation für das Reich bedeutete, in vielfältiger Hinsicht den Effekt, dass benachteiligte oder umstrittene Personengruppen das neue Gedankengut nutzen wollten, um Freiheit und Verbesserung zu erreichen. Im Hintergrund allerdings stand für Luther die persönliche Bekanntschaft mit Bernhard Giphel, der sich als Jude nach dem Kennenlernen der reformatorischen Botschaft hatte taufen lassen. Für Luther war er das beste Beispiel dafür, dass nun, nachdem das Evangelium aus 1500jähriger Gefangenschaft befreit wurde und die Endzeit nahte, alle, auch die Juden, Christus erkennen und sich bekehren werden. 1538 klingen Luthers Töne in der Schrift „Wider die Sabbater an einen guten Freund“ ganz anders. Vorausgegangen war folgendes: 1518 war in der jungen humanistischen Universität Wittenberg eine Professur für Hebräisch eingerichtet worden, was einige Rabbiner veranlasste, zu Luther zu reisen und mit ihm ein wissenschaftliches Gespräch über biblische Texte zu führen. Sie führen in ihrer Argumentation rabbinische 70
WA 11, 314, 28-315, 2. 111
Traditionen an, was für Luther inakzeptabel war und, verbunden mit der Nachricht, die von ihm mit freundlichem Geleit versehenen Herren hätten auf der Rückreise Christus einen hingerichteten Straßenräuber genannt, für besondere Enttäuschung sorgte. Dazu kam, dass ein evangelischer Christ aus Böhmen Luther über eine neue Sekte informierte, in der die Beschneidung geübt und statt des Sonntags der Sabbat geheiligt werde. Luther ordnete dies als Erfolg jüdischer Mission ein und belehrte in der Schrift „Wider die Sabbather“ den böhmischen Christen über das Judentum, in ablehnenden und enttäuschten Worten über die Verstocktheit derer, die sich nicht zum Evangelium bekehren. Die umfangreichste und heute berühmteste Lutherschrift zum Thema erschien 1543, drei Jahre vor Luthers Tod. Schon der Titel zeigt die deutlich veränderte Haltung auf: „Von den Juden und ihren Lügen“. Anlass gab eine bisher nicht identifizierte jüdische Schrift, in der in Dialogform ein Jude und ein Christ über einzelne Bibelstellen diskutierten und in der der christliche Gesprächspartner dem jüdischen nichts Angemessenes entgegensetzen konnte.71 Politischen Hintergrund bot die Ausweisung von Juden aus Böhmen, die zu einer erhöhten Migrationsbewegung auch durch Sachsen führte. Luthers Ziel war es, zu einer restriktiveren Haltung hinsichtlich eines Durchzugs durch sächsisches Gebiet zu verhelfen. Zugleich aber sind seine Äußerungen in einem komplexeren politischen Kontext zu sehen: Die altgläubige Polemik, die die Reformation für einen Aufschwung des Judentums verantwortlich machte, zu stoppen und zugleich die protestantischen Territorialstaaten „judenfrei“ zu machen, schien für die Reformatoren unabdingbar, und zwar, um das Evangelium weiterhin blühen zu lassen. Auch deshalb wohl hat gerade Melanchthon, der große Humanist unter den Reformatoren, so intensiv und eifrig für die Verbreitung dieser Schrift gesorgt.
71
Kaufmann (2013), 17.
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Luther argumentiert in dieser späten Schrift durchgehend aus der Warte eines harten theologischen Antijudaismus heraus, und zwar methodisch durch seine christologische Auslegung der messianischen Verheißungen im Alten Testament begründet, mit der er das rabbinische Verständnis entkräften will. Die Rabbiner nämlich, so Luther, verdrehen wissentlich und willentlich die ihnen bekannte Wahrheit, dass Jesus Christus der erwartete Messias ist, und bringen damit das jüdische Volk um die Möglichkeit, sich zum Christentum zu bekehren.72 Diesen Vorwurf macht Luther übrigens nicht nur den Juden, sondern auch christlichen Häretikern, Schwärmern, Täufern – sie alle wissen doch um die Wahrheit in Christus und entstellen sie dennoch. Zugleich bedient Luther sich breit sämtlicher Vorurteile, Verunglimpfungen und Beschimpfungen, die sich in der Fülle spätmittelalterlicher wie auch älterer antijüdischer Literatur finden lassen. Luthers Ziel ist es, allem jüdischen Leben die Grundlage zu entziehen. Ihre Vertreibung aus protestantischen Gebieten aufgrund des verkehrten Glaubens hielt er für die beste Lösung, sollte die Obrigkeit sich dazu nicht entschließen, bietet er andere Vorschläge an. Sie lesen sich heute fast wie eine Vorwegnahme dessen, was im 20. Jahrhundert in Deutschland geschehen ist: Die Synagogen sollen verbrannt werden, die Häuser zerstört, die Schriften weggenommen. Die Rabbiner dürfen nicht mehr lehren, die Juden sollen schutzlos sein beim Reisen, ihr Besitz solle eingezogen werden. Junge und starke Männer und Frauen sollen zu körperlicher Arbeit gezwungen werden, und noch einmal: Die Juden sollen vertrieben werden. Auch wenn es weitere Äußerungen Luthers zu den Juden gab, sind diese Schriften die wichtigsten. Andere Argumente kommen nicht hinzu. Es sind die harten Worte der Schrift von 1543, die seit dem vergangenen Jahrhundert besondere Berühmtheit erlangt haben. Nachdem die so ge72
Lohse (1995), 365. 113
nannten Judenschriften Luthers über Jahrhunderte hinweg keine besondere Beachtung gefunden haben und z.B. in wesentlichen Ausgaben von ausgewählten Lutherschriften nicht aufgenommen wurden, beriefen sich vier Jahrhunderte nach ihrem Erscheinen die Nationalsozialisten mit ihrer Vernichtungspolitik auf Luther. In der Aufarbeitung des Dritten Reiches wurde Luther von Kritikern insbesondere wegen dieser Äußerungen wesentlich verantwortlich gemacht auch für den rassischen Antisemitismus des 20. Jahrhunderts. Allerdings ist zu beachten, dass die entscheidende Frage für Luther theologisch und nicht von einem Rassebegriff her definiert wurde. Deutung auf der Basis lutherischer Rechtfertigungslehre Ich komme zum dritten Punkt: Wie können wir Luther verstehen und deuten? Eine rein psychologische Deutung des Wandels in Luthers Verhältnis zum Judentum, die von einer zunehmenden Verbitterung ausgeht und die Aussagen über Juden in die Mitte anderer grober und harter Äußerungen gegen seine – theologischen und politischen – Gegner einordnet, bleibt unbefriedigend. Luthers ambivalentes Wesen, das mit zunehmendem Alter immer sichtbarer neben solcher Härte auch Zartheit und Einfühlungsvermögen umschließt, verbietet eine einfache Deutung. In der älteren Forschung betonte man die Enttäuschung Luthers: Nach seiner reformatorischen Entdeckung, die in seiner Sicht das Evangelium von Christus endlich für alle sichtbar offen legte, müssten doch alle die Wahrheit erkennen. Der rasante Siegeszug der Reformation besonders in den ersten Jahren schien ihm recht zu geben. In der jüngeren Forschung fragt man mehr danach, ob ein Antijudaismus genuin zu Luthers Theologie gehört.73 Das Zentrum seiner Theologie, die Rechtfertigungslehre, besagt, dass der Sünder sola gratia sola fide 73
Z.B. Peter Vollmer (2013), Die Freiheit eines Christenmenschen und Luthers antijudaistische Rechtfertigungslehre. Eine Auseinandersetzung mit einem schwierigen Erbe des Reformators, in: Deutsches Pfarrerblatt 11/2013, 643-648. 114
propter Christum gerecht gesprochen wird. Damit bleibt jeder, der nicht an Christus glaubt, vom Heil ausgeschlossen. Luthers Ablehnung des Judentums speist sich damit allein aus dessen Weigerung, Jesus als den Messias anzuerkennen. Dieses Verstockungsmotiv ist seit der Alten Kirche in der theologischen Literatur bekannt; aus ihm leiten bereits die frühen Theologen ein Selbstverständnis der Christenheit als Nachfolgerin in Erwählung bzw. im Erbe des Heils ab. In jedem Aspekt der Theologie Luthers ist die Christozentrik tragend, an Christus entscheidet sich alles. Konsequent verfolgt Luther deshalb auch eine rein christologische Exegese des Alten Testaments und spricht dem Judentum jeden Zugang zu einer eigenen Interpretation ihrer Bibel ab.74 In der jüdischen Geschichte sieht Luther den Beweis für die Treue Gottes gegenüber seinen Verheißungen an sein Volk und zugleich für die berechtigte Strafe, die es wegen seiner Verweigerung erhält.75 Zu dem Bewusstsein, in der reformatorischen Rechtfertigungslehre den exklusiven Anspruch auf die göttliche Wahrheit zu haben, kommt etwas Zweites: Die Zeit drängt. Wie seine Zeitgenossen ist Martin Luther von apokalyptischen Erwartungen erfüllt und sieht die Endzeit angebrochen. Es gilt jetzt, sich zu Christus zu bekehren und der ewigen Verdammnis zu entrinnen, und Luther fühlt sich wegen seiner frühen freundlichen Töne dem Judentum gegenüber mitschuldig, habe er sie doch nicht ausreichend zu Christus getrieben. So kann man seine spätere veränderte Haltung durchaus als Selbstkorrektur sehen76, nötig geworden auch wegen seiner eigenen Angst, von Gott zur Rechenschaft gezogen zu werden. Mit seiner neuen Theologie kämpft Luther auch für ein in seiner Sicht richtiges Verständnis des göttlichen Gesetzes. Es dient in erster Linie dazu, dem Menschen seine eigene Sündhaftigkeit vor Augen zu führen 74
Vollmer (2013), 644. Kaufmann (2013), 21. 76 Kaufmann (2013), 20. 75
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und ihm die Gnadenbedürftigkeit bewusst zu machen. Luther bleibt dabei, dass das Gesetz eine gute Gabe Gottes sei, aber eben nur zu diesem Zweck. Das Judentum ist für ihn eine Religion der Selbsterhebung und Selbstrechtfertigung gegenüber Gott77, indem die Erfüllung des Gesetzes als Weg zum Heil gesehen werde und die Gnade unberücksichtigt bleibe. Damit hat der Mensch sein ewiges Heil selbst in der Hand, kann es erlangen durch das, was er tut. Luthers Verständnis der Sünde als anthropologische Grundgegebenheit des Menschen und der Gnade als Geschenk Gottes widerspricht dies völlig. Die eigentliche Gegnerin in solcher Argumentation scheint die katholische Kirche zu sein. Tatsächlich klingen manche Passagen in Luthers Schriften, in denen er eine vermeintliche jüdische Werkgerechtigkeit bekämpft, theologisch hinsichtlich des Gesetzes ähnlich wie sein Kampf gegen die scholastische Theologie und die Praxis der Kirche. Schon deshalb ist es geboten, Luthers Kenntnis über die jüdische Theologie seiner Zeit zu überprüfen – einer Selbstinterpretation des zeitgenössischen Judentums wird sie ebenso wenig entsprochen haben wie der des gegenwärtigen Judentums.78 Evangelische Theologie in lutherischem Erbe Was machen wir nun mit diesem lutherischen Erbe? 1. Eine deutliche Distanzierung der evangelischen Kirche und Theologie von Luthers antijudaistischen Gedanken ist unabdingbar und entspricht glücklicherweise ebenso kirchlicher Praxis wie die deutliche Ablehnung einer Berufung auf Luther im Nationalsozialismus. 2. Der Theologie stellt sich darüber hinaus die Aufgabe, theologische Grundgedanken Luthers insbesondere in seiner Rechtfertigungslehre auf einen tatsächlichen Antijudaismus hin zu befragen und dabei stärker, als es bisher häufig geschieht, Luther 77 78
Vollmer (2013), 644. Lohse (1995), 366.
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wirklich als historische, von seiner Zeit geprägte und zudem innerlich höchst ambivalente Person einzubeziehen. Als Vorkämpfer für einen modernen Freiheitsgedanken, für Emanzipation und Selbstbewusstsein kann er als solcher nicht fungieren. 3. Wir haben uns nach unserem eigenen Religionsverständnis zu fragen. Ist in einer pluralen Gesellschaft ein exklusives Religionsverständnis, wie Luther – und seine Zeit – es leben, angemessen? Konkret bedeutet das, dass wir über die Frage der Christozentrik in evangelischer Theologie neu nachdenken müssen. 4. Dies kann nur im Gespräch geschehen. Neben der durch Begegnung gewonnenen Kenntnis über andere Religionen (und Konfessionen) hat dies durch theologische Fachgespräche stattzufinden, in denen die jüdischen Auslegungen der Hebräischen Bibel und des Neuen Testaments gehört und respektiert werden. Auch lutherische Theologie ist nichts Statisches, sondern hat Veränderungen zu unterliegen – in Anlehnung an Luthers Sicht auf die Kirche als ständig zu reformierende gilt auch der Satz: „theologia semper reformanda est“. Prof. Dr. Gabriele Schmidt-Lauber ist Professorin für Diakonische Theologie an der Evangelischen Hochschule für Soziale Arbeit & Diakonie in Hamburg.
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Der Schatten der Vergangenheit und unsere Verantwortung als Kirche Thomas Drope Seit 2007 gedenken wir in Pinneberg der Gewalttaten der Nazis in der Reichspogromnacht 1938 gegen Juden in Deutschland. Wolfgang Seibert und ich haben mit anderen zusammen Gottesdienste zum Gedenken vorbereitet und durchgeführt. Unsere Grundüberzeugung: Nie wieder soll es Faschismus geben, nie wieder sollen Rassismus und Antisemitismus Politik und Leben der Menschen zerstören. Darin sind wir uns als Christen und Juden einig. Meistens fanden die Gottesdienste in der Pinneberger Christuskirche statt. Wolfgang und ich haben Dialogpredigten gehalten, wir singen und beten gemeinsam und einzeln. Jedes Jahr betet Wolfgang vor der versammelten Gemeinde das jüdische Gebet „El malechei rachamim.“ Zum Vaterunser sagt Wolfgang: „Das kann ich gut mitbeten. Es ist ein jüdisches Gebet. Jesus war ja auch Jude.“ In den Jahren der gemeinsamen Gottesdienste habe ich viel gelernt. Vor allem anderen dieses: Es ist sehr viel im gemeinsamen Gottesdienst möglich, wenn es zuvor besprochen wird. Mit Wolfgang kann ich sehr gut diskutieren. Ich bin ihm und Gott dankbar für die Weite seines Herzens. Die folgende Predigt habe ich am 9. November 2014 gehalten. Predigt im Gedenken an die Reichspogromnacht 1938: Von den Zeiten und Stunden aber, liebe Brüder, ist es nicht nötig, euch zu schreiben; denn ihr selbst wisst genau, dass der Tag des Herrn kommen wird wie ein Dieb in der Nacht. Wenn sie sagen werden: Es ist Friede, es hat keine Gefahr –, dann wird sie das Verderben schnell überfallen wie die Wehen eine schwangere Frau und sie werden nicht entfliehen.
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Ihr aber, liebe Brüder, seid nicht in der Finsternis, dass der Tag wie ein Dieb über euch komme. Denn ihr alle seid Kinder des Lichtes und Kinder des Tages. Wir sind nicht von der Nacht noch von der Finsternis. So lasst uns nun nicht schlafen wie die andern, sondern lasst uns wachen und nüchtern sein. (1. Thessalonicherbrief 5, 1 – 6 ) Friede und Gnade sei mit euch! Liebe Gemeinde, lieber Wolfgang Seibert, liebe Gäste aus der jüdischen Gemeinde, die ersten Christinnen und Christen lebten in einer starken Erwartung: Es würde nicht mehr lange dauern, bis der auferstandene Christus wiederkomme. Alle, die sich bis dahin hatten taufen lassen, würde er rufen und in Gottes anbrechendes himmlisches Reich leiten. Jesu Kommen würde ihnen Heil und ewigen Frieden bringen. Ihre Gegenwart aber stand im Zeichen von Unfrieden und Gewalt. Sie fingen an, die Ereignisse umzudeuten. Sie interpretierten die Gewalt, die ihnen widerfuhr, als erste Zeichen des nahenden Gottesreiches. Alles Alte würde zerbrechen, bevor der neue Himmel und die neue Erde anbrächen. So wie ihre Verfolger überraschend mitten in der Nacht oder mitten in ihre Versammlungen kamen, so überraschend würde Gott den neuen Himmel und die neue Erde schaffen. Gut, wer dafür gewappnet war. Sie als „Kinder des Lichts“ sollten es sein. Es kam anders. Ihre Hoffnung hat sich nicht erfüllt. Neuer Himmel und neue Erde blieben aus. Weitere Umdeutungen erlaubten es den Christinnen und Christen, sich in dieser Welt einzurichten. Nach Jahrhunderten hatten sich die Verhältnisse umgekehrt. Die Getauften waren nun selbst Herrschende. Sie unterdrückten andere. Ihr Selbstverständnis blieb: „Kinder des Lichts“ zu sein. Sie bewahrten sich die Hoffnung eines „Tages des Herrn“, mit dem Gottes Herrschaft in die Welt käme. Doch in der Hand der Mächtigen ver-
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wandelte sich diese Hoffnung in eine Drohung irdischer Machthaber gegen Minderheiten und Schwächere. Von Zeit zu Zeit setzten sie sie in brutale Taten um. So war es auch nicht der „Tag des Herrn“, als am 9. November 1938 SA-Männer in Deutschland Synagogen überfielen, die Gotteshäuser jüdischer Gemeinden schändeten und mit Feuer und Axt zerstörten. Es war die Nacht des Verderbers und seiner Gesellen. Da war kein Licht in ihren Gedanken und Taten – es war finster. Es herrschte Lebensgefahr für die jüdischen Bürger, die schon zuvor so viel Erniedrigung und Entrechtung erfahren hatten. Die Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 war der Auftakt zur jedermann offensichtlichen entgrenzten staatlichen Gewalt gegen die deutschen Juden. Sie war der organisierte Versuch der Nazis zu sehen, was denn ginge. Und weil das übrige Volk zusah und nicht dagegen aufbegehrte, sich nicht auf die Seite der Überfallenen stellte, ging alles. Sie kamen als Diebe in der Nacht. Und machten denen, die glaubten: So weit werden sie nicht gehen, überdeutlich: Es wird kein Friede mehr sein, nur noch Gefahr. Die Taten in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 waren ein flächendeckender Angriff auf jüdische Menschen und Gebäude in Deutschland. Alle konnten sehen und hören, was zerstört wurde. Alle sollten es sehen und hören. Das seit längerem aus der offiziellen Rede verschwundene Wort „Kristallnacht“ verrät in dreierlei Hinsicht etwas davon: Ganz oberflächlich ist viel Kristall und Glas in jener Nacht zu Bruch gegangen. Glasscheiben, Gottesdienstgerätschaften, Kristallleuchter. In zweihundert Städten Deutschlands konnte jede und jeder es am Morgen danach sehen. Viel wichtiger jedoch: Die Menschlichkeit im Zusammenleben der Deutschen war irreparabel zerbrochen worden. So wie Kristall, das auf den Boden geworfen wird und zersplittert. Es lässt sich nicht wieder
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zusammensetzen. Es war zerbrochen und zerrissen worden, was Menschen miteinander leben lässt. Und wenn Kristall zerschlagen wird, dann bekommen es auch die im Haus mit, die es selbst nicht sehen. Es ist unüberhörbar. Das war die Absicht: Alle Deutschen sollten davon wissen. Die Verfolgung der jüdischen Nachbarn in Deutschland geschah nicht im Verborgenen. Alle sollten Zeugen sein. Sie sollten durch Mitwissen, Dulden, Nichtstun die Verbrechen mit tragen. Die übrige deutsche Bevölkerung wurde zur Komplizenschaft gezwungen. Und sie widersetzte sich nicht. Die meisten taten ihren Mund nicht auf für die Schwachen. Sie trauten sich nicht. Und sie hatten sich über Jahre hin mit der verbalen und körperlichen Rohheit gegen Jüdinnen, Juden und andere abgefunden. Was in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 geschah, war nicht erst der Auftakt zur jedermann offensichtlichen Gewalt gegen Juden. Es war eine weitere Station auf dem längst von den Nationalsozialisten ersonnenen Weg zur „Endlösung.“ Die Pogromnacht war Teil der seit Jahren vollzogenen Ausgrenzung und Degradierung hin zur Vernichtung aller Juden. Die Pogromnacht sollte zeigen: Jüdische Mitbürger sollen in diesem Land kein Haus und keine Heimat mehr haben. Weder hier noch andernorts. Das alles konnte nicht verborgen bleiben. Nur: Die in neutestamentlicher Tradition so genannten „Kinder des Lichts“, die getauften Christinnen und Christen, sie wollten es nicht sehen – oder es später zumindest nicht gesehen haben. Die meisten schwiegen wie das übrige Land. Sie fürchteten sich, dass die Apokalypse über sie genauso hereinbrechen könnte. Deshalb setzten sich nicht öffentlich für die jüdischen Geschwister ein. Dabei hätte es den Kirchen sehr gut angestanden, ihre Stimmen deutschlandweit für die jüdischen Mitmenschen zu erheben. Sie trauten sich nicht. Juden standen im Fokus der Nazis – aber auch Christen.
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So liest es sich im Band der Pinneberger Geschichtswerkstatt: Pinneberg zur Zeit des Nationalsozialismus (S. 270f.): „Ende 1938 fand eine Welle nationalsozialistischer Propagandaveranstaltungen gegen die „überstaatliche(n) Mächte“ statt: „Judaismus“, „Jesuitismus“ und „Freimaurerei“. Der Pinneberger SS-Führer Walter Lienau klärte die Ellerbeker auf: „Ausgehend von dem Judentum, dem Vater aller „überstaatlichen Mächte“ streifte Pg. Lienau die schwarze Gefahr – die politisierende Kirche, zeigte, wie die rote Gefahr – die Judenstoßtruppe – sich in Deutschland Eingang verschaffte und die Seele der Arbeiter vergiftete...“ Diese und andere Veranstaltungen standen im Zusammenhang mit dem Beginn der Ausschaltung der Juden aus dem öffentlichen Leben Deutschlands in der „Kristallnacht“... In dieser Nacht waren in ganz Deutschland, angeblich spontan, in Wirklichkeit organisiert, jüdische Synagogen und Geschäfte als Reaktion auf die Ermordung eines deutschen Diplomaten zerstört worden. Am Abend des 9. 11. fand im Osterholder Quellental die alljährliche Gedenkveranstaltung der NSDAP statt ... In der aufgeheizten Atmosphäre (aufgrund der Nachricht von der Ermordung des deutschen Gesandten von Rath in Paris) trafen die Befehle der schleswig-holsteinischen SA-Führung zur Rache an den Juden auch bei der Pinneberger SA-Standarte ein. Sicher ist, dass SAObersturmführer Meyer und der ehemalige Stahlhelm-Führer Rechtsanwalt Kreutzfeldt sich noch in derselben Nacht nach Elmshorn begaben, wo die Synagoge in Brand gesteckt wurde....“ Die Kinder des Lichts, wie sie von Paulus im Thessalonicherbrief euphorisch genannt werden, leuchteten nicht in der Finsternis der Kristallnacht. Auch nicht in den Jahren davor oder danach. Die Niederlage in Sachen Courage-für-die-jüdischen-Geschwister-vorGott werden wir als Kirchen in Deutschland niemals vergessen machen. Und wir sollten es gar nicht versuchen.
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Auch die positiven Ausnahmen lassen das Gesamtbild nicht schöner werden. Sie hat es gegeben. Heinrich Albertz erinnerte sich später: „Es war der Sonntag nach dem Tage, den die Deutschen geschmackvoller Weise ‚Reichs-kristallnacht‘ genannt haben. Karl Immer (Pastor in der Gemeinde Wuppertal-Barmen-Gemarke, Anm. d. Hrsg.) stellte sich hin vor die Gemeinde, ohne Talar, und sagte seiner Gemeinde, ein paar hundert Meter von der Gemarker Kirche entfernt sei das Wort Gottes verbrannt worden. Er meinte damit die Zerstörung und das Anzünden der Barmer Synagoge in der Zur-Scheuren-Straße. Er wolle und könne deshalb heute keine Predigt halten. Er wolle nur zwei Texte vorlesen. Und er las die Zehn Gebote in ihrer ursprünglichen Fassung und das Gleichnis vom barmherzigen Samariter, betete das Vaterunser und sagte: Wer die Texte richtig verstanden hat, der möchte doch bitte nachher zu ihm in die Sakristei kommen. Und es kamen nach meiner Erinnerung so vierzig oder fünfzig Gemeindeglieder. Und dann haben wir in den nächsten Tagen mit gefälschten Pässen immerhin noch eine Reihe jüdischer Mitbürger aus dem ‚Deutschen Reich‘ herausgebracht.“ Doch sechs Millionen sind umgekommen, vergast, verbrannt, vernichtet worden. Dieser Verlust von Menschen ist nicht wieder gut zu machen. Jüdisches Leben ist in Deutschland und Europa beinahe vollständig ausgerottet worden. Die Wurzel wurde gekappt, aus der auch wir unseren Saft aus der Tiefe ziehen. Das Licht wurde ausgemacht, das uns auch unseren Glauben und unser Leben erhellen könnte. Wie sollten wir uns noch als Kinder des Lichts verstehen? Es gibt keine Entschuldigung. Die Last aus der Geschichte tragen wir mit uns. Vielleicht auch, um aufmerksam zu sein, wenn es wieder antijüdische Haltungen in unserer Kirche geben sollte. Nicht ganz unwahrscheinlich. Auf dem Kirchentag in Hamburg im letzten Jahr, beim Abend der Begegnung, regte sich eine Frau mir gegenüber auf. Sie käme aus der Christuskirche Pinneberg, sagte sie, unserer Gemeinde. Lauthals störte sie sich an der Losung „Soviel du brauchst“
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aus dem Zweiten Buch Mose und an der Eröffnungspredigt des Kirchentages. „Immer nur Juden“, giftete sie, „ich will das gar nicht mehr hören. Das ist doch ein Kirchentag. Wieso hören wir denn dann immer etwas aus dem Alten Testament? Wir haben doch Christus und das Neue Testament. Das reicht doch.“ Ich hielt entgegen: Für uns gehöre beides zusammen. Das Neue Testament mit dem Alten Testament. Beide zusammen sind Gottes Wort an uns. Das Neue Testament ist ohne das Alte Testament leer, wie die Hülle eines Körpers, dem alles Innere fehlt. Mein Reden half bei ihr nicht. Die Frau blieb stur. Es ist unsachlich, so wie sie zu argumentieren. Jesus war Jude und hat im Gespräch mit anderen Juden gezeigt, dass er aus der Tora lebt und denkt. Jesus, die Evangelien, Paulus und die Briefe sind in ihrer Tiefe überhaupt nicht zu verstehen, wenn man das Alte Testament weglässt. Das Leiden und der Tod Jesu werden von den Evangelisten mit den Worten und Bildern aus den Psalmen und Propheten gedeutet. Wir sind in unserem Glauben mit Israel verbunden. Und das ist gut so. Es gibt soviel religiösen Reichtum und lang durchdachte Erfahrung mit Gott, die wir von Jüdinnen und Juden erfahren können. Wir, die wir in der Folge einer Kirche leben, die es Jüdinnen und Juden oft schwer gemacht hat, haben es besonders nötig, jüdisches Leben und jüdische Frömmigkeit kennenzulernen. Kinder sind dafür bekannt, dass sie unbefangen auf Anderes zugehen können, wo sich Erwachsene oft nicht trauen und ihnen davon abraten. Wäre es nicht angemessen für die Kinder des Lichts, dass sie auf die Anderen zugingen und so neu und unbefangen in ihre eigenen Dunkelheiten und die Dunkelheiten der Welt hineinleuchteten? Es wäre der wahre Tag des Herrn, an dem dies passiert. Amen. Thomas Drope ist Propst im Kirchenkreis Hamburg-West/Südholstein.
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Interreligiöse Textstudien Einige Erfahrungen Halima Krausen Das Experiment mit interreligiöser Hermeneutik im Rahmen des internationalen Forschungsprojets ReDi (Religion und Dialog in modernen Gesellschaften) an der Akademie der Weltreligionen der Universität Hamburg ist auf vielerlei Weise neu und revolutionär: Das eine ist, dass fünf verschiedene Forscher aus der katholischen, evangelischen, jüdischen, muslimischen und buddhistischen Tradition aus der Perspektive ihrer jeweils eigenen Religion teilnehmen. Das andere ist der systematische Ansatz in den sorgfältig geplanten Schritten des Prozesses, gefolgt von Selbstreflexion des Forschungsteams. Auf diese Weise wird sowohl der Aspekt der textzentrierten Begegnung und Interaktion als auch der theologische Blickwinkel möglicher neuer Einsichten in die Schrift im Hinblick auf die Offenheit gegenüber anderen Religionen durch einen mehrperspektivischen Ansatz erkundet. Abgesehen von dieser systematischen Gründlichkeit des Experiments ist interreligiöse Textarbeit nicht völlig neu. Während es zutrifft, dass in den meisten Fällen religiöse Quellen „des Anderen“ mit Polemik im Sinn studiert werden, hat es auch schon ziemlich früh in der Geschichte einzelne Fälle von Studien zwischen den Religionen gegeben mit der Absicht, den eigenen spirituellen Horizont zu erweitern, besonders unter Mystikern, wie es z.B. im Fall des Moghulprinzen Dara Shikoh (gest. 1659) deutlich wird1, der mit Hinduweisen studierte und die Upanischaden ins Persische übersetzte. Allerdings wurden solche Versuche oft als synkretistisch und häretisch verurteilt oder als irrelevant abgetan. Sie 1 Zu Einzelheiten siehe: Jonardon Ganeri: Migrating Texts and Traditions: Dara Shukoh and the Transmission of the Upanishads to Islam. http://www.columbia.edu/itc/mealac/pollock/sks/papers/Ganeri(migratingtexts).pdf (Zugriff 12. August 2015).
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sind sicherlich nicht mit gegenwärtigen Projekten zu vergleichen, insbesondere nicht mit solchen, die nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden, viel weitere Verbreitung finden und sowohl akademische und institutionelle Unterstützung genießen, das bekannteste wahrscheinlich das Netzwerk „Scriptural Reasoning“, eine internationale Initiative, gegründet 1995 von Peter Ochs, David F. Ford und Daniel W. Hardy. Die ursprüngliche akademische Praxis, die in erster Linie die Schriften der abrahamitischen Traditionen im Brennpunkt hat, breitete sich allmählich an die Basis aus und beeinflusste eine Anzahl von zivilgesellschaftlichen Projekten in der westlichen Welt. Im Folgenden will ich Erfahrungen mit drei weiteren Projekten der interreligiösen Textarbeit mit leicht unterschiedlichen Methoden, Zielgruppen und Teilnehmerzahlen umreißen, und zwar hauptsächlich auf der Grundlage teilnehmender Beobachtung, die im Nachhinein zusammengefasst wird, sowie einige auswertende Gedanken: Die Internationale Jüdisch-Christliche Bibelwoche in Bendorf / Georgsmarienhütte bei Osnabrück, Die International Theology Conference am Shalom Hartman Institute in Jerusalem und Den Jüdisch-Muslimischen Textstudientag in London.
The Internationale Jüdisch-Christliche Bibelwoche Die jährlich stattfindende Internationale Jüdisch-Christliche Bibelwoche wurde 1969 im Hedwig-Dransfeld-Haus in Bendorf am Rhein von Vertretern des Leo-Baeck-College in London und Mitarbeitern des Hauses
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begründet, darunter Pastor Rudolf Stamm und die Direktorin des Hauses, Anneliese Debray. Sie fand dort statt, bis das Tagungszentrum 2003 geschlossen wurde und die Bibelwoche eine neue Heimat im Haus Ohrbeck in Georgsmarienhütte bei Osnabrück fand2. Elemente der Idee waren a) die deutsch-jüdische Begegnung nach der Shoah, b) die Notwendigkeit des jüdisch-christlichen Dialogs zur Überarbeitung gegenseitiger Fehlvorstellungen wie jene, die in der Vergangenheit im christlichen Antijudaismus eine Rolle gespielt hatten, und c) das gemeinsame Studium biblischer Quellen und ihre Erkundung aus verschiedenen Perspektiven. Da Teilnehmer aus Großbritannien, Deutschland und anderen europäischen Ländern anwesend waren, wurde die Tagung von vornherein zweisprachig gehalten3. Ungefähr zu derselben Zeit wurden Schritte unternommen, eine trilaterale Tagung ins Leben zu rufen mit praktisch demselben Hintergrund plus Vertretern der Deutschen Muslim Liga Bonn e.V.4. 1972 entstand die Ständige Konferenz von Juden, Christen und Muslimen in Europa (JCM)5, an der ich seit den späten 1980ern aktiv und seit 2000 als Mitglied des Organisationsteams teilgenommen habe. Einige jüdische und christliche Teilnehmer, mit denen ich mich bei der JCM angefreundet 2 Einzelheiten einschließlich der Themen und Vorträge zu den mehr als zehn Jahren nach der Schließung des Hedwig-Dransfeld-Hauses befinden sich auf der Homepage von Haus Ohrbeck, Osnabrück: http://www.haus-ohrbeck.de/hausohrbeck/bibelforum/juedisch-christliche-bibelwoche.html (Zugriff 14. August 2015). 3 Einzelheiten zu Beweggründen, Geschichte und dem theologischen Hintergrund siehe Koeppler, Daniela: Zelte der Begegnung. Geschichte und theologische Bedeutung der „Ständigen Konferenz von Juden, Christen und Muslimen in Europa“ und der „Internationalen Jüdisch-Christlichen Bibelwoche“, Frankfurt a. M. 2010; Edith Petschnigg: „Die Bibel ist das, was eint“. Geschichte und Bibelrezeption „jüdisch-christlicher“ Basisinitiativen in Deutschland und Österreich nach 1945 (Doktorarbeit, Universität Graz); sowie Howard Cooper, Colin Eimer, Elli Tikva Sarah (Eds.): Welcome to the Cavalcade. A Festschrift in Honour of Rabbi Professor Jonathan Magonet. Kulmus Pub., 2013. 4 http://www.muslimliga.de/ (Zugriff 14. August 2015). http://www.jcm-europe.org/index.html (Zugriff 14. August 2015); eine neue 5 Website ist im Aufbau.
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hatte, waren regelmäßige Teilnehmer an beiden Tagungen. Das gab mir die Möglichkeit, zu einem (etwas neidischen) Beobachter der Bibelwoche aus der Ferne zu werden, bis ich 2015 die Gelegenheit hatte, selbst zum ersten Mal teilzunehmen. Die Struktur der Woche ähnelt der Struktur der JCM. Die Tagung begann am Sonntag am späten Nachmittag mit einer Einführung. Das Thema in dem Jahr war Kohelet (Prediger Salomo)6. Im Laufe der folgenden drei Tage fanden vormittags gemischte Textstudiengruppen statt, die vom Organisationsteam so zusammengesetzt waren, dass eine ausgewogene Anzahl von jüdischen und christlichen Teilnehmern dabei war (ein weiterer Zug, mit dem ich von der JCM vertraut war), und mit dem Schwerpunkt auf verschiedenen Ansätzen, darunter eine gründliche Auseinandersetzung mit dem hebräischen Text sowie mit einem kanonischen Ansatz; jüdisch-christliches Bibelstudium aus den verschiedenen theologischen Perspektiven; der Bibeltext und die heutige Welt; sowie Interpretation und kreative Ausdrucksformen durch darstellende Kunst, Raum oder Bewegung. Es gab reichlich Freizeit nach dem Mittagessen, die für Speakers‘ Corner Angebote, Chorproben, Networking oder einfach zum Ausruhen genutzt werden konnte. Auch ein Einführungskurs Hebräisch wurde in diesem Zeitfenster angeboten. Ein Vortrag zum Tagungsthema war für den Nachmittag eingeplant, jeweils aus einer jüdischen, einer christlichen und einer anderen Perspektive. An den Abenden nach dem Abendessen gab es „Fringe“-Angebote durch Teilnehmer, die ihre eigenen Gedanken in informeller Weise mit Zuhörern teilen wollten, außer am Mittwoch, wo es stattdessen ein kulturelles Programm gab. Die Struktur veränderte sich dann am Donnerstagnachmittag mit einem Ausflug. Die Veränderungen gingen weiter nach den letzten Gruppensitzungen am Freitagnachmittag mit einer Plenarsitzung „Texte 6 Vorträge und andere Materialien sind auf der Website von Haus Ohrbeck zu finden: http://www.haus-ohrbeck.de/haus-ohrbeck/bibelforum/juedisch-christlichebibelwoche/materialien-bibelwoche-2015.html (Zugriff 17. August 2015).
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im Dialog“: Ein christlicher Referent stellte Gedanken zu einem neutestamentlichen Text vor, in diesem Fall Matth. 6:19-34, gefolgt von einer jüdischen Response und Diskussion. Der Abend galt einem neuen Element im Programm, den Gottesdiensten, angefangen mit dem Anzünden der Shabbatkerzen und dem festlichen Freitagsabend-Gottesdienst, an dem Nichtjuden teilnehmen konnten, indem sie sich je nach ihrer Neigung entweder der Liturgie anschließen oder respektvolle Beobachter sein konnten. Der Abend endete mit einem ausgiebigen ShabbatAbendessen und Oneg Shabbat (Freude des Shabbat). Nach dem Morgengottesdienst am Shabbat mit Torahlesung wurde das Programm mit einem weiteren Plenum fortgesetzt: einer jüdischen Präsentation zum selben neutestamentlichen Text (Matth. 6:19-34), gefolgt von einer christlichen Response und Diskussion. Bei solchen Vorträgen und Diskussionen bleiben aufgrund begrenzter Zeit viele Fragen offen oder neue werden durch die Antworten ausgelöst; diese wurden in einem Tontopf gesammelt und am Samstagnachmittag im Teku7-Zeitfenster behandelt. Auf das Abendessen folgte die Vesper nach dem franziskanischen Ritus des Hauses mit lateinisch gesungenen Psalmen, dann „Apodosis“, der Abschiedsabend mit verschiedenen Beiträgen der Teilnehmer. Die Tagung endete am Sonntag nach dem christlichen Gottesdienst (in diesem Fall niederländisch-reformiert; die Konfession wird von den christlichen Teilnehmern entschieden) und einer kurzen Auswertung. In persönlichen Gesprächen teilten die Teilnehmer einige ihrer Erfahrungen. Was die soziale Seite betrifft, die Entstehung neuer Freundschaften mit Angehörigen des anderen Glaubens, Networking, Zusammenarbeit über die Tagung hinaus z.B. durch gegenseitige Einladungen zu Vorträgen und Podien, so ähnelten diese sehr denen, mit denen ich von anderen Tagungen her vertraut war. Dasselbe gilt für Ansichten bezüglich des Fortbestehens der Tagung über mehrere Jahrzehnte: Außer dem fortbestehenden 7 Teku: nach einem Ausdruck aus dem Talmud, der im Grunde besagt, dass eine spezielle, vielleicht kontroverse Frage zu diesem Zeitpunkt nicht endgültig geklärt werden kann und damit offenzulassen ist, um vielleicht erst von Elia beantwortet zu werden, wenn er kommt, um den Messias anzukündigen.
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allgemeinen Interesse am Thema wird großer Wert auf Dialog auf Augenhöhe gelegt, was bereits bei der Vorbereitung und Organisation beginnt, bei der alle beteiligten Religionen gleichermaßen repräsentiert sind, wodurch sichergestellt wird, dass durch Speisegebote bedingte Erfordernisse, Gebetszeiten usw. angemessen berücksichtigt werden und die Teilnehmer sich verstanden und zu Hause fühlen können. Was den Aspekt des gemeinsamen Textstudiums betrifft, so teilten sowohl jüdische als auch christliche Gesprächspartner Eindrücke von neuen Bedeutungen, die sich eröffnen, wenn man aus der vertrauten Routine der eigenen Fragen, Terminologie und Methodologie heraustritt – nicht nur durch unerwartete Fragen und Aussagen seitens der Menschen von den „anderen“ Traditionen, sondern auch durch unterschiedliche Ansätze von Gelehrten innerhalb der eigenen Tradition. Man sollte meinen, dass es angesichts früherer Erfahrungen meinerseits mit sowohl muslimischen als auch interreligiösen textzentrierten Studientagungen und Workshops hinsichtlich neuer textbezogener Einsichten bei der Bibelwoche „nichts Neues unter der Sonne“8 gebe. Allerdings löste der Prozess durchaus Fragen hinsichtlich der Wechselwirkungen zwischen Lebenserfahrung, Liturgie und dem eigenen Schriftverständnis auch vor und jenseits der absichtlichen und bewussten Annäherung an die Schrift als das Vorverständnis beeinflussende Elemente aus. An irgendeinem Punkt in der intellektuellen Entwicklung kann Ritual zu einem „Ort der Auseinandersetzung“ für kritisch denkende Individuen werden9, womöglich mit der Folge, dass sich eine Person oder eine kleine Gruppe von rituellen Ausdrucksweisen abkehrt, denen sie nicht länger zustimmen kann, oder durch persönliche Reinterpretationen oder durch Anschluss an eine gleichgesinnte Bewegung zur Liturgiereform Neues entsteht, begleitet von feinen Veränderungen im Verständnis ver8 Pred. 1:9. 9 Im islamischen Kontext erinnert mich dies an den Begriff mihrâb, wörtl. „Ort der Auseinandersetzung“, für die Gebetsnische in der Moschee.
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schiedener Aspekte der Schrift. Die Forschung scheint sich so weit mit liturgischer und psychologischer Hermeneutik befasst zu haben sowie mit Hermeneutik im Kontext von Inkulturation, hauptsächlich mit Bezug auf die Bibel und gewöhnlich mit dem Blick auf eine einzelne religiöse Tradition. Die Frage ist jetzt a) welchen Einfluss Vertrautheit mit einer oder mehrerer Liturgien/Rituale „der Anderen“, der Versuch, die Bedeutung „ihres“ Rituals zu erkunden, indem man provisorisch in „ihren“ Schuhen steht, für Praktizierende, die in ihrer eigenen Tradition verwurzelt sind, nicht nur auf ihr Verständnis der Schriften „der Anderen“ haben kann, sondern auch auf den Rückblick auf „ihre eigene“, b) wie weit sich eine solche Erfahrung auf Zugehörigkeits- oder Identitätsgefühl einer Person auswirkt, und c) mit welchen Methoden dies näher erforscht werden kann.
Die International Theology Conference Die jährliche International Theology Conference in Jerusalem wurde zuerst 1984 von Rabbiner David Hartman und Pastor Dr. Paul van Buren ins Leben gerufen und fand am Bildungszentrum des ersteren statt, dem Shalom-Hartman-Institute in Jerusalem, ursprünglich als eine Initiative für textbasierte jüdisch-christliche Begegnung nach der Shoah, und 2000 auch geöffnet, um Muslime sowohl als Teilnehmer als auch im Organisationsteam einzuschließen10. Männliche und weibliche Gelehrte und Praktizierende aus den drei Religionen, sowohl lokal aus Israel und Palästina als auch international aus Europa, Amerika, Asien und Afrika, wurden zu der einwöchigen Tagung mit intensivem Studium von Texten 10 Einzelheiten siehe Peter A. Pettit und Menachem Fisch: Religious SelfCritique in the Trusted Presence of Others. https://www.academia.edu/12433571/Religious_Selfcritique_in_the_Trusted_Presence_of_Others_With_Peter_A_Pettit_2015 (Zugriff 31. August 2015); International Theology Conference auf der Shalom Hartman Institute Website http://hartman.org.il/Programs_View.asp?Program_Id=9&Cat_Id=325&Cat_Type=Pro grams (Zugriff 1. September 2015).
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aus der jüdischen, christlichen und muslimischen Tradition zu einem zentralen Thema eingeladen. Die Struktur war wie folgt: Ein Referent von einer der drei Religionen stellte ein Paket aus relevanten Textabschnitten aus der eigenen Tradition vor, meist in ihren Originalsprachen und mit einer englischen Übersetzung, zusammen mit Vorschlägen für die Arbeit damit einschließlich einiger Erklärungen zum historischen Hintergrund und vielleicht ein paar Leitfragen. Die Teilnehmer teilten sich dann in gemischte Studiengruppen von etwa zehn Personen auf, die zuvor vom Organisationsteam festgelegt worden waren, und gingen in verschiedene Räume zur gemeinsamen mehrperspektivischen tieferen Erkundung der Texte nach dem Muster der jüdischen Havruta. Das für diese Phase vorgesehene Zeitfenster erstreckte sich gewöhnlich über einen ganzen Vormittag oder Nachmittag. Dann trat das Plenum erneut zu einem kurzen Vortrag des Referenten und einer ausführlichen Diskussion zusammen. Dieselbe Prozedur wiederholte sich dann jeweils mit den beiden anderen Traditionen. Das Programm enthielt auch einige andere Vorträge, ein öffentliches Podium und eine Exkursion hauptsächlich zu einem lokalen interreligiösen Dialog- oder Bildungsprojekt sowie reichlich Zeit für informellen Austausch und Networking. Trotz zahlreicher Komplikationen wie Schwierigkeiten an israelischen Checkpoints für Teilnehmer aus der West Bank und aus Ostjerusalem, internationalen Reiserestriktionen und die Jahre der Intifada und des Krieges wuchs die Konferenz beständig an, sowohl zahlenmäßig (zuletzt gab es 40 – 60 Teilnehmer) und hinsichtlich des Vertrauen, das sich unter ihnen aufbaute. Zu den Themen in den vergangenen fünfzehn Jahren gehörten Spiritual Encounters with God (2002), Family as Value and Modern Challenge (2008), Holy Living in Human Bodies (2010), The Good Person (2011), und The Religious Problem of Environmental Ethics (2014), aber auch herausfordernde wie Beyond the Pale: Sin and Ex-
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clusion among Jews, Christians and Muslims (2003), Beyond Tolerance: The Religious Problem of Ruling the Other (2005), und The Fundamentalist Impulse and its Religious Correctives (2007). Als regelmäßige Teilnehmerin an der Konferenz seit 2002 verfolgte ich die Entwicklung mit großem Interesse. So wurden nicht nur die intrareligiösen und interreligiösen Blickwinkel berücksichtigt, sondern „der Andere ist eingeladen, nicht an einem interreligiösen Dialog, sondern sozusagen am eigenen intrareligiösen Dialog teilzunehmen“11. Dieses Konzept trat in den letzten paar Jahren noch mehr zutage, als die Plenumsdiskussion noch weiter unterteilt wurde, um ein Zeitfenster für die Diskussion unter den Religionsgenossen des Referenten in der Gegenwart der anderen zu beinhalten, bevor sie sich zur Endphase für das allgemeine Plenum öffnete. Die Texte auf Expertenebene zu erkunden eröffnete nicht nur Einsichten in die intellektuelle und spirituelle Welt hinter der Perspektive des Anderen, sondern auch in bislang unbekannte mögliche Dimensionen des Texts vor dem Hintergrund der eigenen Tradition, die Wege zu neuen Ideen hinsichtlich einer für heutige Fragen relevanten Interpretation eröffnen kann. Gleichzeitig mit diesen gemeinsamen Entdeckungen und Reflexionen zu oft kontroversen Themen konnte ich beobachten, wie Verständnis und Vertrauen zwischen den Teilnehmern anwuchs – wie David Hartman, ein Gründervater der Konferenz, es nannte, die Solidarität der Differenzen. Das war in diesem Fall wichtig, denn die Konferenz fand ja nicht in einem emotionalen Vakuum statt, sondern in der manchmal sehr gespannten Atmosphäre des Nahen Ostens in Jerusalem einschließlich der Jahre der al-Aqsa-Intifada. Die Konfliktsituation wurde nie direkt im offiziellen Programm angesprochen mit Ausnahme einer Exkursion, die im Grunde eine Besichtigungstour der „Sicherheitsbarrie11
Ibid.
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re“ in Jerusalem war unter der Leitung eines Rechtanwalts, der auch auf die sozialen Konsequenzen jenseits der dramatischen aufmerksam machte (jemand starb auf dem Weg ins Krankenhaus, weil der Krankenwagen an einem Checkpoint aufgehalten wurde usw.); ich erinnere mich besonders an die Unterbrechung des Austausches zwischen Palästinensern in Israel und Palästinensern in der West Bank: Der erzwungene NonDialog zwischen ihnen sowie mit jüdischen Israelis verschärft das Bild der Anderen in ihren jeweiligen Narrativen und wird damit zu einem Hindernis für eine mögliche Deeskalation und gegenseitige Verständigung. Mein Eindruck von einigen persönlichen Gesprächen mit tatsächlichen und potentiellen lokalen einheimischen muslimischen und christlichen Teilnehmern, einige davon Freunde, die ich zur Teilnahme anregen wollte, war, dass sie sich einen mehr praxisbezogeneren Ansatz der Konferenz gewünscht hätten und sie es daher nicht als eine Priorität betrachteten, auch wenn ihnen keine bürokratischen Hindernisse, etwa die des Grenzverkehrs, im Weg gestanden hätten. Aufgrund der Tatsache, dass die Konferenz als ein jüdisch-christliches Projekt vor einem „westlichen“ Hintergrund angefangen hatte und Muslime erst im Nachhinein mit eingeschlossen wurden, schloss ich aus dem Tenor unserer Gespräche auch, dass sie sich nicht wirklich in den Entwicklungsprozess einbezogen fühlten bzw. dass es hinsichtlich der Perspektiven eine Asymmetrie gab zusätzlich zu der, die auf dem „westlichen“ Bildungshintergrund beruhte, der gewöhnlich einen hohen Grad an Kompartimentierung beinhaltete, zumindest zwischen der Konzentration auf das Fachgebiet und der Alltagserfahrung. Ich begann mich zu fragen, wie sich die Erfahrungen und Einsichten, die in einem ziemlich theoretischen und abstrakten Textstudienkontext wie der Konferenz gewonnen werden, auf eine praktischere Ebene der Förderung des gegenseitigen Verständnisses, der Versöhnung und der mentalen Fähigkeiten übersetzen lassen, die für das Leben in einer pluralen Gesellschaft erforderlich sind (wohl wissend,
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dass es auch von jedem einzelnen Teilnehmer abhängt, dies in der eigenen Arbeit „zu Hause“ umzusetzen). Auf das Textstudium bezogen fand ich die Konzentration und Intensität des Prozesses hilfreich dabei, tief in die Welt der Schriften einzutauchen. Ich war natürlich mit den Passagen in Deuteronomium und Josua vertraut, die sich auf die Eroberung Kanaans beziehen und das vertreten, was man in modernen Begriffen als Genozid bezeichnen würde. Anfänglich war ich etwas befremdet von solchen Aussagen im Talmud, die rassistisch, sexistisch und anstachelnd klingen. In der Tat habe ich auch erlebt, wie solche Aussagen zur Konfliktverschärfung instrumentalisiert wurden, sowohl von jüdischen extremistischen Gruppen zur Anstachelung zu Feindseligkeiten gegen Palästinenser als auch zur Polemik gegen Juden durch muslimische Extremisten. In den Studiensitzungen wurden solche Texte, wenn sie in Verbindung mit dem Konferenzthema auftraten, nie verschwiegen, sondern frei diskutiert und in Perspektive gesetzt. Dasselbe geschah mit entsprechenden muslimischen Texten einschließlich Passagen von Mullah Omar. In Anbetracht der regionalen Konfliktsituation erschien die vertrauensvolle Atmosphäre, in der dieser Austausch stattfand, wie ein Wunder – und nicht nur mir. Im Laufe der Zeit veränderte sich allmählich auch mein eigenes Bibelverständnis. Was Einzelheiten betrifft, wurde ich sehr viel mehr zuversichtlich, biblische Passagen muslimischen Zuhörern vorzustellen (z.B. die Geschichten von Jonah oder Hiob; auf Theologie und Recht bezogene Texte), zusammen mit den entsprechenden Qur'antexten, die oft einen „Rückblick“ auf das beinhalten, was bereits in „früheren Offenbarungsschriften“ angesprochen wurde. Außerdem veränderte sich meine Perspektive allmählich von einer Auffassung der biblischen Schriften als „Vorgeschichte“ zur Qur'anoffenbarung zu einer Auffassung von ihnen als Dokumenten einer wichtigen Veranschaulichung einer langen wechselhaften Beziehung zwischen dem Göttlichen und einer bestimmten
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Volksgruppe. Wenn man sich von Lesarten löst, die eine solche Beziehung ausschließlich für eine Gruppe in Anspruch nehmen, und sie vielmehr als das Zeugnis für eine Erfahrung versteht, dann können diese scheinbar endlosen Berichte vom Auf und Ab und verschiedenen Herausforderungen von außen über die Generationen und Jahrhunderte hinweg und durch verschiedene Veränderungen des kulturellen Klimas hindurch, ohne dass dabei die Beziehung endgültig zerbricht, sehr ermutigend sein12, besonders für Menschen, die sich selbst in einer Situation radikaler soziokultureller Veränderungen empfinden.
Der jüdisch-muslimische Textstudientag Der jüdisch-muslimische Textstudientag ist ein zweimal jährlich stattfindender Studientag in London, organisiert von der An-Nisa Society, einer muslimischen Gesellschaft für das Wohl der Familie, und dem Leo Baeck College. Er wuchs um 2003 aus der Erfahrung der Organisatoren mit der jüdisch-christlich-muslimischen Konferenz in Bendorf / Wuppertal und der International Theology Conference in Jerusalem, angeregt sowohl von dem Konzept des „Dialogs auf Augenhöhe“ und der Idee der textzentrierten Interaktion und als eine konstruktive Reaktion auf die zunehmende Polarisierung zwischen den jüdischen und muslimischen Gemeinden in Großbritannien. „In vollem Bewusstsein der Komplexität der internationalen politischen Lage wollten wir eine Arena schaffen, wo wir Fragen stellen, diskutieren, herausfordern und uns letztendlich für neue Verständnismöglichkeiten und Erfahrungen öffnen konnten. Unsere Absicht war nicht, die Welt über Nacht zu verändern, sondern Juden und Muslimen zu ermöglichen, einander ‚gegen den Strich‘ wahrzunehmen ... Diese Dialoggruppe ist ein sicherer Ort, wo sich Teilnehmer in ihrem jeweils eigenen Tempo bewegen können, um mit den vorliegen12 Halima Krausen: The Torah – Seen through a Qur'anic Lens. In: Howard Cooper, Colin Eimer, Elli Tikva Sarah (Hg.): Welcome to the Cavalcade. A Festschrift in Honour of Rabbi Professor Jonathan Magonet. Kulmus Pub., 2013.
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den Themen zu ringen oder sich auseinanderzusetzen. Kein Thema ist tabu, solange es auf respektvolle und konstruktive Weise diskutiert wird.“13 Die Teilnehmer stammen aus verschiedenen Denominationen innerhalb der beiden Traditionen, idealerweise eine gleiche Anzahl von Juden und Muslimen. Eine Auswahl von Texten zum Thema, bereitgestellt in einem Heft mit Studienmaterial für die Sitzung, das zuvor ausgeteilt wird und z.B. mit Abschnitten aus der Hebräischen Bibel sowie Überlieferungen und Kommentaren beginnt, wird von der jüdischen theologischen Expertin vorgestellt, gewöhnlich Rabbi Sybil Sheridan, zusammen mit einer kurzen Erklärung zu Hintergrund und Kontext sowie einer nützlichen Arbeitsanleitung und Leitfragen. Die Teilnehmer teilen sich dann paarweise auf, wobei jedes Paar aus einem jüdischen und einem muslimischen Partner besteht (oder möglicherweise aus gemischten Dreiergruppen, wenn die Teilnehmerzahl ungleich ist), und haben Zeit, die Texte zu lesen und erste Eindrücke und Fragen untereinander zu diskutieren. Beide Experten bewegen sich zwischen diesen Studiengruppen, um auszuhelfen, wenn ernsthaftere Fragen auftauchen. Nach dieser Phase kommt das Plenum wieder zusammen für erste Fragen und einen Austausch von Eindrücken, einem kurzen Input der Vortragenden und einem gemeinsamen Gespräch. Nach Mittagessen und Gebeten, wobei jede Gruppe die andere einlädt, an ihrem Gebet teilzunehmen oder als respektvolle Beobachter anwesend zu sein, wird der Studientag mit der anderen Tradition fortgesetzt, in diesem Beispiel eine Auswahl von Texten aus dem Qur'an sowie
13 Beschreibung der Ziele des Studientages, wie sie zusammen mit anderen Informationen an potentielle Teilnehmer verschickt wird. Original auf der FacebookSeite Jewish-Muslim Study Day Facebook page https://www.facebook.com/pages/Jewish-Muslim-Text-Study/134617189971903? sk=info&tab=page_info (Zugang 31. August 2015).
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Überlieferungen und Kommentaren, geleitet von Shaykha Halima Krausen, wobei dasselbe Muster befolgt wird. Die Themen der Sitzungen reflektieren gewöhnlich eine Reihe von Fragen, die beide Gemeinschaften betreffen. Wir haben mit „Die Möglichkeit der Versöhnung zwischen unseren religiösen Traditionen“ angefangen. Von der leichten und offenen Atmosphäre dessen ermutigt, was für viele Teilnehmer eine erste Begegnung war, entstanden Fragen bezüglich einiger Schlüsselbegriffe, insbesondere „Islam“, was im Allgemeinen verstanden wird als „Hingabe an Gott“, und „Israel“, das als „Ringen mit Gott“ übersetzt wird. „Ringen und Hingabe“ war daher das Thema für die nächste Sitzung, in der wir Texte aus beiden Traditionen erkundeten, die sich damit befassten, Gottes vertrauensvoller Diener zu sein, geduldig im Leiden zu sein, Gott zu hinterfragen und mit Gott zu ringen. Nur ein Jahr später war das Vertrauen innerhalb der Gruppe genügend gewachsen, dass wir zwei Sitzungen durchführen konnten zu „Jerusalem: Geheiligt – geliebt – umstritten“, in denen der Gedanke entstand, eine jüdisch-muslimische Studienreise nach Jerusalem zu planen – es waren hauptsächlich finanzielle und organisatorische Gründe, dass die Reise bisher nicht zustande kam. Als Yom Kippur in den Ramadan fiel, legte sich „Fasten“ als Thema nahe einschließlich einer gemeinsamen Mahlzeit zum Fastenbrechen. Andere Themen waren „Gebet“, „Opfer“, „Vergebung“, „Befreiung“, aber auch herausforderndere wie „Territorium und Identität“, „Shariah und Halachah“, „Was wurde aus unseren heiligen Schriften? – Tradition, Interpretationen und Missinterpretationen“, sowie „Verfolgung, Unterdrückung, Genozid. Wo ist Gott?“. Zu einer Gelegenheit wurde ein jüdisch-muslimischer historischer Rundgang statt des üblichen Textstudiums organisiert, bei dem Orte besucht wurden, die für beide Traditionen von gemeinsamem Interesse waren wie die Bevis-Marks-Synagoge (die älteste Synagoge in Großbritannien), East London Mosque und das Jüdische Museum in Ostlondon. Ausbrüche des Nahostkonflikts machten sich bemerkbar, indem sie manch-
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mal zeitweilig persönliche Beziehungen zwischen einzelnen Teilnehmern überschatteten, beeinflussten aber weder wesentlich die allgemeine Atmosphäre noch gefährdeten sie den Studientag selbst. Beim Studientag im Mai 2015 zu „Wiederherstellung der Erde – eine jüdisch-muslimische Reaktion“ gab es eine leichte Veränderung des Formats: Zusätzlich zu dem üblichen Studium von Textpaketen zum Thema der menschlichen Verantwortung für die Erde wurden zwei zusätzliche Referentinnen eingeladen, über praktische Aspekte der Umweltpflege zu sprechen: Rabbi Debbie Young-Somers, die am LeoBaeck-College unterrichtet, und Ruby Ridwan, die gemeinsam mit ihrer Familie die Willowbrook Farm betreibt, die erste Farm in Großbritannien, bei der Prinzipien der halal und organischen Produktion umgesetzt werden. Zum ersten Mal wurde diese Sitzung auch von Susanne van Esdonk, begleitet, einer Doktorandin an der School for Culture and History (Faculty of Humanities) in Amsterdam, die an einem Teil des Projekts „Delicate Relations: Jews and Muslims in Amsterdam and London“ beteiligt ist, das seinen Schwerpunkt auf gegenwärtigen Beziehungen zwischen Juden und Muslimen in (Groß-)London hat. Bislang wurden die Ergebnisse noch nicht veröffentlicht. Soweit ich es übersehen kann, ist im Laufe der Zeit ein Kreis von regelmäßigen Teilnehmern entstanden, der auch über den Studientag hinaus entweder persönlich oder über die sozialen Medien in Verbindung ist, relevante Informationen, Feiertagsgrüße und gegenseitige Einladungen zu Veranstaltungen austauscht sowie sich gegenseitig als Referenten einlädt. Inzwischen ist die Frage aufgetreten, wie man neu Hinzukommende integrieren kann, die noch nicht mit dem Allgemeinwissen über die jeweils andere Tradition bzw. der in der Gruppe gewachsenen Dialogkultur vertraust sind.
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Im Laufe der vergangenen Jahre entstand in Zusammenarbeit von der An-Nisa Society und der West London Synagogue eine Initiative namens Peace by Piece, die in den Sommerferien eine einwöchige jüdischmuslimische Jugendreise nach Marokko organisiert14, an der Teenager der Religionsschule der West London Synagogue 15 und der Supplementary Muslim School in Wembley der An-Nisa Society15 teilnehmen. Diese Reisen, gut vorbereitet durch einführende Seminare, Begegnungen der beiden Gruppen und Nachbereitungstreffen, beinhalten Besuche von jüdischen und muslimischen Orten in Marokko, Begegnungen mit den jeweiligen lokalen Gemeinschaften sowie das Studium von Texten und Ritualen beider Traditionen. Da ich in Deutschland ansässig bin, war ich bislang nur indirekt mit Rat und Vorschlägen beteiligt sowie durch ein Feedback, nach dem die jungen Leute offensichtlich sehr von der Erfahrung profitieren, sowohl hinsichtlich der Kenntnisse von ihrer eigenen und der anderen Religion als auch in Bezug auf Verständnis und Freundschaft zwischen den beiden Gruppen. Im Laufe der Zeit entstand bei den Eltern der Wunsch, sich mehr einzubringen und etwas von der Erfahrung zu teilen. Während die Erfahrung zeigt, dass es viel komplizierter ist, eine Reise mit berufstätigen Erwachsenen zu organisieren, waren sie für den Gedanken offen, am jüdisch-muslimischen Textstudientag teilzunehmen. Dieser Schritt erfolgte dann im Oktober 2015.
Fazit Alle drei Veranstaltungen sind mehr prozessorientiert als ergebnisorientiert, d.h. es gibt keine öffentlichen Verlautbarungen oder gemeinsame Erklärungen, aber eine große Offenheit, was die persönlichen Lernprozesse der Teilnehmer angeht und das, was sie anschließend mit nach 14 2015). 15
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Peace by Piece, http://www.wls.org.uk/interfaith-2/ (Zugriff 1. September http://www.wls.org.uk/education/ (Zugriff 1. September 2015).
Hause nehmen und in ihr Alltagsleben integrieren. Dies macht es auf den ersten Blich schwierig, den „Erfolg“ einzuschätzen. Eins der offensichtlichen Ergebnisse dieser Art von interreligiöser Begegnung ist, dass sie den Teilnehmern eine Gelegenheit bietet, von anderen religiösen Traditionen zu lernen, sich einer gewissen Dosis von Herausforderung auszusetzen, sowie sich zu vernetzen – alles dies Ergebnisse, die auch mit anderen Mitteln als mit textzentrierter Interaktion erreicht werden können. Die Tatsache, dass eine solche Begegnung, im Gegensatz zu gelegentlichen Einzelveranstaltungen, von Vorträgen mit Frage- und Antwortrunde, eine ausführliche gemeinsame Auseinandersetzung mit den Text beinhaltet, ist eine Weise, eine Erfahrung von Zusammenarbeit zu vermitteln, die eine Möglichkeit für Koexistenz und gegenseitiges Vertrauen verdeutlicht. Eine solche Erfahrung kann zumindest eine Dimension zu ansonsten zweidimensionalen Informationen hinzufügen, ob sie schriftlich, mündlich oder durch Multimedia präsentiert werden: die Tiefendimension durch physisches Zusammensein und das Ringen miteinander, und die vierte Dimension der Zeit, dass die Erfahrung nachhaltiger machen kann. Davon erwarte ich, dass solche Begegnungen eher geeignet sind, Stereotypen entgegenzuwirken, die im Laufe der bisherigen Bildung und Konditionierung entstanden sind bzw. nicht bewältigt werden konnten. Was ich aber hier bemerkenswert finde, bezieht sich auf das Verständnis des eigenen Textes und des Textes der Anderen. Im Gegensatz zu Lehrbüchern, Schönliteratur, Geschichtsschreibung und anderer Literaturgattungen haben heilige Schriften der Religionen einen tiefgreifenden Einfluss auf die Wahrnehmung der Menschen, die in ihrer Tradition stehen, sowie auf ihre Interpretation der Welt, sei es durch absichtliches bewusstes Studium, bewusst oder halb bewusst durch Liturgie oder sogar indirekt durch Bilder und Begriffe, von denen selbst in der säkularisierten Kultur noch Spuren zu finden sind. Eine schrittweise Veränderung der
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eigenen Textwahrnehmung durch gemeinsames Studium mit Menschen anderer Traditionen in Richtung auf eine größere Akzeptanz pluraler Perspektiven wurde meines Erachtens in den erwähnten Forschungspapieren gut belegt. Ich gehe davon aus, dass es gerade dieser ganzheitliche Prozess ist, einschließlich der dafür benötigten Zeit, der für die nachhaltigen Veränderungen notwendig ist, der die bloße kognitive Ebene überschreiten und Wege eröffnen kann, Begriffe und Bilder über die Tradition hinaus zu verstehen und möglicherweise zu übersetzen, in der man verwurzelt ist, und dadurch Theologien zu entwickeln, die der diversen Realität Raum geben, und mehr Brücken innerhalb der Diversität der modernen Gesellschaft zu bauen. Außerdem kann er als wertvoller Input für die Weiterentwicklung einer pluralistischen religiösen Bildung genutzt werden. Shaykha Halima Krausen ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Akademie der Weltreligionen der Universität Hamburg.
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‘So much unlike Daniel Deronda’: The Narrative of Jewish London in Amy Levy’s Reuben Sachs Martin Aaron Kindermann Since the urban planer Edward Soja outlined the connection between the social, the historical and the spatial, academic discourse on our understanding of space has drastically changed.79 We can no longer conceive space as a container or a stage for history to unfold. Rather, space can be described as a multi-facetted relational network with various and often ambiguous semantic layers. The geographer Doreen Massey described three characteristics of space any should consider: Space is a relational network constituted through various interactions; it is constituted by multiple heterogeneous relations and, finally, space should not be perceived as static, but as “in the process of being made. It is never finished; never closed.”80 In the following I explore Jewish spaces in nineteenth century London. More precisely, I will analyse the literary representations of these spaces in Amy Levy’s novel Reuben Sachs (1888).81 Thereby I will retrace the various attempts at constructing an Anglo-Jewish identity suggested by the novel. These strategies of locating and staging identity draw on the architectural and social space of London’s West End Jewish community. It will become clear that the novel negotiates different conceptualisations of identities. Herein, Reuben Sachs uses narrative perspective as a vital means, not only to portray the conditions of hybrid self-
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cf. Edward Soja. Thirdspace: Journeys to Los Angeles and Other Real-and-Imagined Places. Cambridge, MA: Blackwell, 1996, p. 3. 80 Doreen Massey. For Space. London: SAGE, 2005, p. 9. 81 Amy Levy. “Ruben Sachs”. In: The Complete Novels and Selected Writings of Amy Levy. Ed. Melvyn New. Gainesville, FL: University Press of Florida, 1993, pp. 197-293. 143
construction, but also to establish a counter-narrative which comments on and questions the protagonists’ own performative strategies. My analysis of Levy’s text is based on a relativistic notion of space, which understands its polyvalence, relationality as well as its everchanging fluidity as vital constituents. Space, therefore, has to be described as a relational network constituted through our actions: our locating of objects and bodies, which are then constantly arranged and rearranged. It is a network in constant motion, which is, furthermore, inscribed with social and historic layers. Michel de Certeau has foregrounded the importance of social relations with regard to space in general and urban space in particular.82 Hereby he stresses the polyvalence of space as a constantly changing network, depending on different perspectives that are highly mobile and through which the spatial framework is constituted. Therefore, London does not provide the stage on which individuals construct their identities, but the very process of selfconstruction is inscribed into the spatial network. Consequently, literary space does by no means just imitate the world we inhabit. Any rendering of a literary space constructs its very own intratextual network of relations and the spatial structure is endowed with further semantic layers. It is through these layers that information concerning the semantic framework of the depicted world is presented. Thus, a character’s location within this framework is closely linked to the respective positioning within the narrative outline of the text. In his model of the semiosphere Jurij M. Lotman stresses the importance of mobility between the semantic spheres established in the process of meaning making. The border between these semantic spheres is a unique structure, a space of multiple meanings and a spatial structure belonging simultaneously to the inside as well as the outside. Hence the semantic border must be perceived as hybrid: “Just as in mathematics the border 82
Michel de Certeau. The Practice of Everyday Life. Berkeley / Los Angeles / London: UCP, 1988, p. 117.
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represents a multiplicity of points, belonging simultaneously to both the internal and external space […].”83 Characters may or may not be able to cross the boundaries of the various semantic sub-structures. They may even be located within the boundary, which is the location of heightened semiotic processes in Lotman’s model. Being located within a space of multiple meanings and hybridisation, such a character “belongs to two worlds, operates as a kind of interpreter, settling in the territorial periphery, on the boundary […]”84. A close analysis of Levy’s novel reveals that it is exactly this mode of enhanced spatial competence and mobility that is crucial to the novel’s negotiation of different concepts of an Anglo-Jewish identity. Levy’s text evolves around two central characters, Reuben Sachs and Judith Quixano, whose mutual attraction is in conflict with the social hierarchy of West London’s Jewish community as well as Reuben’s political career. Furthermore, the text outlines the social advance of both protagonists in the context of strictly divided gendered semiospheres: Whereas Reuben’s rise represents a typical male advance in society – his career in the Conservative Party and his election to Member of Parliament –, Judith’s options are severely more limited. She is confined to modes of female social mobility wherein securing profitable marriage options seems to be the one and only way to rise within the social hierarchy. After Reuben distances himself from Judith in order to further his career and she accepts the proposal of Bertie Lee-Harrison, a convert to Judaism. As her husband’s family is rooted in London’s non-Jewish society the union brings about an alienation of Judith, although Bertie’s convert status also establishes a domestic space which oscillates between a Jewish and non-Jewish upper middle class home. Reuben dies of cardiac disease soon after being elected Member of Parliament for St. Baldwins. Marriage as well as the election conceptualise the rise of the 83
Jurij M. Lotman. “On the Semiosphere”. In: Sign System Studies, 33.1 (2005), pp. 208-209. 84 Lotman (2005), p. 211. 145
Anglo-Jewish individual in a non-Jewish surrounding, which, on the one hand, highlights a process of estrangement, inherent to the assimilation and self-location outside the Jewish community. On the other hand, this rise in the non-Jewish world portrays the hybrid formation of AngloJewish identity when processes of self-construction can no longer produce a coherent narrative. With regard to social spatiality, the text initially designs two distinct spheres in urban space: the male sphere, which is mainly characterised through the social mobility of young men in law, finances and politics. The female sphere conceptualises social space in the context of marriage and social relations. On the whole, both spheres reduce the individual to its market value: whether to political parties, law firms or the marriage market. So, because of his progressing career Reuben is characterised by his mother as a “safe investment” (Reuben Sachs, 197) with the obligation to marry money. Nevertheless, options for mobility within the outlined spatial framework differ greatly. The city to Reuben is a buzzing sphere of mercantile possibilities, expectations and political struggles: He was back again; back to the old, full, strenuous life which was so dear to him; to the din and rush and struggle of the London which he loved with a passion that had something of poetry in it. (Reuben Sachs, 200) Male mobility is highlighted within the city’s framework and linked to a generation of young Jewish men aiming at success in a non-Jewish society and leaving behind more and more of their cultural ties and traditions. But locating the male self within the highly mobile modern business metropolis comes at a cost: Reuben, just like all the other young men progressing in society, is characterised by a state of nervousness and dysfunction. As a literary motif, this stresses the quick pace and multiplicity of urban space to which the body seems to be unable to adapt. The body is at odds with these new modes of mobility.
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With regard to female mobility the text clearly foregrounds the spatial restrictions of the protagonist Judith who is conceptualised as enclosed in a domestic setting. From this perspective, the only places in which a female Anglo-Jewish identity can be publically articulated seem to be the shopping centre Whiteleys and the ball-room: Her outlook on life was of the narrowest; of the world, of London, of society beyond her own set, it may be said that she had seen nothing at first hand; had looked at it all, not with her own eyes, but with the eyes of Reuben Sachs. (Reuben Sachs, 210) Judith’s options of social and spatial mobility seem to be reduced to marriage and her perception of urban space is always depending to male mediators, such as Reuben. Although matrimony is vital to the social location of both, Reuben and Judith, it is the only discursively accepted mode of female social mobility. In equivalence to Reuben’s progress as a politician and lawyer, marriage with regard to Judith is presented as promotion within the framework of urban society. Judith, nevertheless, in the course of the narrative becomes fully aware of her confinement. When Reuben is no longer interested in her and she finally resigns herself to a mercenary marriage with Bertie. An essential space of intertwinement of the male and female semantic spheres is the ball-room: As a spatialisation of social gender-interaction, the ball-room is inscribed with the semantics of the market place. Here, female mobility is allowed to articulate itself in aiming for the most profitable presentation of gender-identity in order to ensure marriage options. Judith’s performance in the ball-room sets the stage for her later marriage to Bertie. But the ball-room also provides Reuben and Judith with a chance to interact. Being located in a semantic subspace which is strongly characterised through notions of confinement and lack of knowledge, Judith’s performance in the ball-room highlights the sharp contrast between the restriction of feminine mobility and the mercenary relations inscribed into this space, that Levy herself depicted as a vortex
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in her essay “Middle Class Jewish Women of To-Day” in the Jewish Chronicle (17.09.1886). The relationship between Reuben and Judith is not looked upon favourably by the community, with her being too poor and therefore unsuitable for the upcoming politician Sachs. Yet, the ballroom is nevertheless a polyvalent spatial structure, a boundary, to which deviant behaviour is always imminent. It constitutes not only a space for unmarried men and women to interact but also a sphere in which Jewish and gentile subspaces mingle. Thus, it presents Reuben and Judith with a contact zone, in which to articulate their mutual attraction. Whereas the text highlights limitations and confinement of the characters in the gendered spatial framework, the dynamics with regard to locating a Jewish identity in urban space seem much more polyvalent. The younger generation loses cultural ties to its community, which Reuben’s friend Leopold Leuniger voices most outspokenly, when he proposes the disintegration of Anglo-Jewry as an ideal. Although Reuben argues against Leopold in this matter, his own religious ties seem to have altogether vanished. Using Reuben’s character perspective, the novel stresses that Reuben “had, to some extent, shaken off the provincialism inevitable to one born and bred in the Jewish community” (Reuben Sachs, 197). Religious practices are linked to an older generation which seems to be more and more unable to locate itself within the semantic network of the modern metropolis London. This opposition is highlighted when the daily prayers of Solomon Sachs, the head of the family, are presented form an outside perspective: “He wore a skull-cap, and, at the present moment, was pacing the room, performing what seemed to be an incantation in Hebrew below his breath” (Reuben Sachs, 213). Although the narrative voice at other times reveals certain knowledge of Judaism, here the narrative perspective uses the point of view of Reuben’s generation, who no longer understands Hebrew, to whom prayers have lost their meanings and to whom religion has become a shallow ritual followed once a year on the High Holidays.
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But Levy’s text refrains from reducing the complexity of an AngloJewish identity to a simple conflict of generations. One branch of the Sachs family seems to resist the forces of total assimilation, because of which they appear to be more or less isolated, as the narrator describes from an openly hostile perspective: Born and bred in the very heart of nineteenth century London, belonging to an age and a city which has seen the throwing down of so many barriers, the levelling of so many distinctions of class, of caste, of race, of opinion, they had managed to retain the tribal characteristics, to live within the tribal pale to an extent which spoke worlds for the national conservatism. (Reuben Sachs, 233) Retaining Jewish roots is closely linked to obstinacy before the background of the ideal of assimilation, which the literary scholar Bryan Cheyette outlines for the upper class of nineteenth-century Anglo-Jewry: “[…] the Anglicization of migrant Jews was given the highest priority by a centralized and assimilated Anglo-Jewish elite.”85 Levy’s novel relates Leopold’s ideal of disintegration and the deviance of those who refuse to assimilate to apologetic tendencies in the Anglo-Jewish community. Here, emancipation is discursively linked to the ideal of the ‘gentleman of the Jewish persuasion’ but, simultaneously, the display cultural practices, and therefore difference, becomes exactly the otherness which the assimilation process seeks to dissolve. Therefore, it does not come as a surprise that the Jewish community in Levy’s text is mapped along class-conscious rather than cultural lines. Reuben’s family is located on Lancaster Gate, which is, in the terms of the mercantile upper middle class, a very central positioning, whereas Judith’s mother lives on Walterton Road, on the periphery. 85
Bryan Cheyette. “Imagined Communities: Contemporary Jewish Writing in Great Britain”. In: Vivian Liska / Thomas Nolden (ed.): Contemporary Jewish Writing in Europe. A Guide. Bloomington, IN / Indianapolis, IN: Indiana University Press, 2008, p. 91. 149
A vital narrative technique employed by Levy’s text to stress the hybridity of Anglo-Jewish identity is the complex construction of narrative perspective through different points of reference. Bertie’s openly orientalist comment on the London Jewish community lacking “local colour” (Reuben Sachs, 206), on the one hand, stresses the gentile expectation of Jewish cultural otherness. But, on the other hand, it expresses Bertie’s concern about the diminishing of religious roots visible from the convert’s perspective. A second technique employed by the text to foreground the polyvalence of urban space and the process of locating identity within this framework is the use of intertextual relations, only a few of which can be taken into account here. Apart from incorporating works of an Anglo-Jewish literary canon, such as the novels of Israel Zangwill, Reuben Sachs clearly relates to works of Charles Dickens and George Eliot, and therefore to a non-Jewish literary tradition. By locating Reuben as a lawyer on Chancery Lane and portraying him in a “little dingy room with its professional litter of books and papers” (Reuben Sachs, 243), Dickens’s Bleak House (1853) and the spatial semantics of the Chancery are established as background to the narrative. The spatial and social opaqueness inherent to literary London as designed by Dickens is further explored when Judith and Reuben spent the dance at the Leunigers together and the social transgression of the couple, their emotional ambiguity and the depiction of literary space merge: The November air was damp, warm, and filled full of a yellow haze which any but a Londoner would have called fog. Across the yard and a half of garden which divided the house from the street, she could see the long deserted thoroughfare with its double line of lamps, their flames shinning dull through the mist. (Reuben Sachs, 258) Fog and mist appear as symptoms of an indistinguishable relational network, which is endowed by semantic layers that relate to Judith as well as to Reuben. Judith’s insecurity with regard to Reuben’s behaviour,
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which signals at the same time attraction and distance, blurs her perception so that the emotional obscurity is projected onto urban space where relations seem to fade into the mist of the city. George Eliot’s Daniel Deronda (1876) provides a further location within the intertextual network, on which Levy herself commented as failing to capture the complexity of the Anglo-Jewish community: […] although every Jew must be touched by, and feel grateful for the spirit which breathes throughout the book. There has been no serious attempt at serious treatment of the subject; at grappling in its entirety with the complex problem of Jewish life […].86 Eliot’s outline of London’s Jewish community focuses on a perception of Jewishness which is determined by the visionary character of Mordechai who seeks to retain and strengthen a specific cultural facet of Jewishness that is closely linked to a re-location in Israel as the religious and cultural centre of Judaism. Levy’s text rejects this approach and uses the reference to Eliot’s novel to highlight the hybridity of assimilated young Jews in West London. Bertie is described by Leopold as “shocked at finding us so little like the people in Daniel Deronda” (Reuben Sachs, 238). The intertextual network is used to strengthen the notion of polyvalence with regard to the Jewish community foregrounding diversity and conflict. Explicitly not aiming to move to Eretz Yisrael but to advance in London’s world of politics, law and finance, characters like Reuben and Leopold establish a counter narrative to the cultural discourse articulated by Eliot’s pretext. It is obvious that Reuben Sachs employs various techniques to enrich the narration with polyvalent, conflicting layers and hybrid formations of space as well as identity. As the novel centres on the Jewish community and has no relevant non-Jewish characters, the perspective of the proselyte Bertie is used as a mirror to the social self-staging of other charac86
Amy Levy. “The Jew in Fiction”. In: The Jewish Chronicle, 4.6.1886, p. 13. 151
ters. Apart from passages when the narrative voice itself uses a culturally distanced point of view to accentuate estrangement or even to question stereotypical and anti-Semitic notions, it is partly through the perception of Bertie that schisms and processes of alienation are represented. Furthermore, the text designs swift changes in narrative perspective, shifting quickly between the characters’ and the narrator’s perception, thus establishing oscillating points of view. The polyvalent diversity of social space is represented through the technique of depicting social events, like a festive dinner after Yom Kippur, through rapid shifts in narrative focus. When Solomon Sachs recites the Birkat HaMazon, the grace after meals, the emotional distance of the younger family members is captured through these swift shifts: Rose, led on by Jack, giggled hysterically behind her pocket handkerchief. Leo and Esther took airs of aggressive boredom. Judith, lifting her eyes, met Reuben’s in a smile, and even Montague Cohen permitted himself to yawn. Only old Solomon at the head of the table, mumbling and droning out the long grace in his corrupt Hebrew […]. (Reuben Sachs, 236) By spatialising the present characters through locating them at the dinner table the text displays the diversity of modes of cultural conceptualisations in the context of locating constructions of self with regard to Anglo-Jewry. Finally, the polyvalent design of the text is even further stressed through the self-location of the narrative voice with regard to the narrated events. By using a diversity of perspectives, narrated events are commented on, questioned and sometimes even negated, when the narrative voice establishes counter narratives, which, for example, reveal seemingly bi-spatial oppositions to be grounded in much more complex relational settings. Therefore, the narrative voice locates itself in the hybrid semantic space of the boundary by blurring seemingly clear-cut oppositions.
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Reuben Sachs designs an attempt to capture the complex conditions of constructing Anglo-Jewish identities and making the inherent polyvalence perceivable within the narrative outline itself. With regard to spatialisations of gender identities the text surely articulates a feminist critique of discursively enforced restrictions and passivity, as Nadia Valman has convincingly outlined.87 But this articulation locates itself within a complex attempt at representing the conditions for constructing and performing an Anglo-Jewish identity within the urban network of London. Herein processes of hybridisation are linked to narrathological means, such as narrative perspective, that transfer seemingly solid semantic divisions into a state of oscillation. Through this blurring of boundaries, literary space as such is depicted as a relational, open and ever-changing structure. The city appears to be a fluid hybrid framework in which protagonists strive to locate themselves. The novel does not aim at constructing coherent conceptualisations of identity but at negotiating various attempts at articulating a Jewish identity in Britain. Thus, supposed dichotomies are questioned and social as well as spatial mobility is foregrounded in its importance to the constitution of the relational network as a whole. The text designs various versions of Anglo-Jewish identities that strive to bring together secular and religious notions of Jewishness, Jewish and English identity-designs as well as attempts at gender-performance and -projections that are represented within the context of spatial multitude. This mode of representation relates to a complex network of fragmented and multi-facetted connections experienced from various shifting points of view, each highlighting different semantic layers.
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Nadia Valman. “Amy Levy and the Literary Representation of the Jewess”. Naomi Hetherington / Nadia Valman (ed.): Amy Levy. Critical Essays (Athens, OH: Ohio UP, 2010), 90-109. 153
Works Cited: Certeau, Michel de. The Practice of Everyday Life. Berkeley / Los Angeles / London: UCP, 1988. Cheyette, Bryan. “Imagined Communities: Contemporary Jewish Writing in Great Britain”, in: Vivian Liska / Thomas Nolden (ed.): Contemporary Jewish Writing in Europe. A Guide. Bloomington, IN / Indianapolis, IN: Indiana University Press, 2008, pp. 90–117, Levy, Amy. “The Jew in Fiction”. In: The Jewish Chronicle, 04.06.1886. --- “Middle Class Jewish Women of To-Day”. In: The Jewish Chronicle, 17.09.1886. --- “Ruben Sachs”. In: The Complete Novels and Selected Writings of Amy Levy. Ed. Melvyn New. Gainesville, FL: University Press of Florida, 1993, pp. 197-293. Lotman, Jurij M. “On the Semiosphere”. In: Sign System Studies, 33.1 (2005), pp. 205-229. Massey, Doreen. For Space. London: SAGE, 2005. Soja, Edward. Thirdspace: Journeys to Los Angeles and Other Realand-Imagined Places. Cambridge, MA: Blackwell, 1996. Valman, Nadia. “Amy Levy and the Literary Representation of the Jewess”. In: Naomi Hetherington / Nadia Valman (ed.): Amy Levy. Critical Essays. Athens, OH: Ohio UP, 2010, pp. 90-109. Dr. Martin Aaron Kindermann ist Mitglied der Jüdischen Gemeinde Pinneberg.
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Vor 70 Jahren: Operation „SS Exodus 1947“
Über das Schicksal der jüdischen Passagiere der „Exodus 47“ Mit Auszügen aus einem Tatsachenroman von Yoram Kaniuk Joachim Liß-Walther `Befreit, aber nicht frei´ – Jüdische `Displaced Persons´ im Nachkriegsdeutschland Der Name Pöppendorf sagt den meisten Menschen in SchleswigHolstein wenn nicht nichts, so doch kaum etwas. Pöppendorf ist die Bezeichnung für ein Lager, das in Lübeck-Kücknitz lag, von dem heute kaum mehr etwas zu sehen ist, liegt es doch weit ab im Waldhusener Forst. Nur wenige Kilometer entfernt lässt sich zumindest die Lage eines weiteren ehemaligen Lagers ausfindig machen: Am Stau. Eine Erinnerungstafel mit Lagerskizze informiert über die Geschichte Pöppendorfs. Während im Lager Am Stau bereits vom NS-Regime Zwangsarbeiter aus dem Osten eingepfercht worden waren, errichtete die britische Besatzungsmacht nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges 1945 das Pöppendorfer Lager zunächst für heimkehrende ehemalige Wehrmachtsangehörige. Mit Nissenhütten und Baracken wurde das Lager kurz darauf ausgebaut und diente ab November 1945 vor allem Flüchtlingen und Vertriebenen aus den deutschen Ostgebieten als Übergangsort. Mit mehr als einer halben Million Menschen, die durch das Lager geschleust und versorgt wurden, war Pöppendorf das größte Flüchtlingslager in Schleswig-Holstein. 1948 wurde Pöppendorf als Wohnlager hergerichtet, in dem unter mangelhaften Bedingungen bis zu seiner Auflösung noch etwa 500 Personen lebten. Im Lager Am Stau waren vor allem so genannte `Displaced Persons´, abgekürzt DPs, untergebracht. Mit dem Begriff `DP´ werden all die Personen bezeichnet, die „infolge des Zweiten Weltkrieges aus ihrer Heimat durch Kriegseinwirkungen
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und deren Folgen vertrieben, geflohen oder verschleppt worden waren“88 und sich auf dem Gebiet der drei westlichen Besatzungszonen befanden: überlebende KZ-Häftlinge, Zwangsarbeiter und Fremdarbeiter, die in deutschen Unternehmen geschuftet hatten, Kriegsgefangene. Die meisten stammten aus Osteuropa, darunter auch solche, die vor der Sowjetarmee geflüchtet waren. Nicht mit diesem Begriff umfasst sind die Deutschen, die millionenfach aus den östlichen Gebieten wie Schlesien, Pommern, Ostpreußen in den Westen flohen oder vertrieben wurden. Man geht davon aus, dass nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges auf dem Gebiet der späteren Bundesrepublik zwischen 6,5 bis 7 Millionen `DPs´ lebten,89 auch von 8 Millionen ist die Rede.90 Durch die Maßnahmen der Alliierten konnten zwischen 1945 und 1947 etwa sieben Millionen Menschen in ihre früheren Heimatländer zurückgebracht werden. Im August 1947 befanden sich noch 1.214.500 DPs in den besetzten Westzonen Deutschlands und in Österreich.91 Darunter waren viele Personen nicht bereit, in ihre Heimatländer zurückzukehren, da sie befürchten mussten, als `Kriegsverräter´ oder gar `Faschisten´ be- und verurteilt zu werden. In einer außergewöhnlichen Lage befanden sich die an Leib und Seele gepeinigten und traumatisierten Juden, die die Konzentrations- und Vernichtungslager des NS-Terrorregimes und die Todesmärsche mehr tot als lebendig überstanden hatten. Sie bezeichneten sich selbst als `She´aerith Hapletah´, als `Rest der Geretteten´, – nach einem Wort, das sich im biblischen Buch Esra findet: „Können wir nach alledem von neuem deine Gebote brechen und uns mit diesen gräuelbeladenen Völkern ver88
Angelika Königseder/Juliane Wetzel, Lebensmut im Wartesaal. Die jüdischen DPs (Displaced Persons) im Nachkriegsdeutschland, Frankfurt/Main 2004 (Aktualisierte Neuausgabe), S. 7. 89 Ebd. 90 Vgl. Wolfgang Jacobmeyer, Jüdische Überlebende als `Displaced Persons´, in: Geschichte und Gesellschaft 9, 1983, S. 421, Anm. 1. 91 Vgl. dazu: Deutsches Auswandererhaus. Das Buch zum Deutschen Auswandererhaus Bremerhaven, Bremerhaven 2006, S. 29. 156
schwägern? Musst du uns dann nicht zürnen, bis wir ganz vernichtet sind, so dass kein Rest von Geretteten übrigbleibt? Herr, Gott Israels, du bist gerecht; darum hast du uns als geretteten Rest übriggelassen, wie es heute der Fall ist“ (Esra 9,14.15).92 Der `Rest´ bestand aus einer nur kleinen Gruppe der DPs. „Von den rund 500 000 Juden in Deutschland (1933) hatten sich bei Kriegsausbruch noch etwa 185 000 innerhalb der Grenzen des `Altreichs´ befunden.
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Im 2. Buch der Könige, 19,30.31, findet sich ein weiterer Bezug: „Wer vom Haus Juda entronnen und übriggeblieben ist, wird wieder unten Wurzeln treiben und oben Früchte tragen. Denn von Jerusalem wird ein Rest ausziehen, vom Berg Zion ziehen die Geretteten hinaus.“ Königseder und Wetzel führen dazu aus: „Das Thema der Spannkraft und Vitalität sowie des jüdischen Staates als Zentrum der jüdischen Sehnsucht, das sich auf diesen Bibelabschnitt zurückführen lässt, findet sich wieder in der Symbolik der Sche´erit Haplejta. Auf vielen Veröffentlichungen begegnet uns ein Bild, das einen Baum mit abgesägtem Stamm, aber mit fest im Boden verankerten Wurzeln zeigt. Der gefällte Teil, der mit seiner unteren Hälfte auf dem Boden liegt, ist leblos und verödet, während aus dem Baumstumpf neue Triebe sprießen, die die Umrisse Palästinas umranken. Mit jedem weiteren Jahr, das die Juden in den Displaced Persons-Lagern zubrachten, veränderte sich der Baum: Die mit Leben erfüllten Triebe wurden zahlreicher. Dieser `Lebensmut im Wartesaal´ kennzeichnete die Situation der jüdischen DPs in Deutschland.“ Königseder/Wetzel beziehen sich dabei ebd. auf eine Rede von Zalman Grinberg, die der erste Präsident des Zentralkomitees der befreiten Juden in der amerikanischen Besatzungszone im Oktober 1945 in München gehalten hatte: „Hier sammelt sich der Rest des Judentums und hier ist der Wartesaal. Es ist ein schlechter Wartesaal, aber wir hoffen, dass der Tag kommen wird, an welchem man die Juden an ihren Platz führen wird.“ Im letzten jüdischen DP-Lager, Föhrenwald, warteten noch 1953 über 1500 Juden auf ihre Ausreise (Königseder/Wetzel, S. 8). 157
Weitere 32 000 konnten – nach unsicheren Schätzungen – in den folgenden Jahren ins Ausland gelangen.“93 Es waren am Kriegsende auf deutschem Boden nur noch 50.000 Juden am Leben, davon höchstens 25 000 deutsche Juden; die anderen stammten aus unterschiedlichen Ländern. Sie wurden zumeist in DP-Lagern nahe den Konzentrationslagern, aus denen sie befreit worden waren, untergebracht – so etwa in der britischen Besatzungszone, die den westlichen norddeutschen Raum umfasste, in der SS-Kaserne in Bergen93
Ursula Büttner, Not nach der Befreiung. Die Situation der deutschen Juden in der britischen Besatzungszone 1945 bis 1948, Hamburg 1986, S. 8. Diese von der Landeszentrale für politische Bildung Hamburg als Sonderheft herausgegebene differenzierte Untersuchung ist mit zahlreichen Materialien und Dokumenten versehen. Ohne diese Materialien findet sich der Aufsatz in Ursula Büttner (Hg.), Das Unrechtsregime. Internationale Forschung über den Nationalsozialismus, Bd. 2: Verfolgung – Exil – Belasteter Neubeginn, Hamburg 1986. Das Buch zum Deutschen Auswandererhaus (vgl. Anm. 91) gibt auf S. 29 folgende Zahlen an: „Laut den Statistischen Jahrbüchern des Deutschen Reiches emigrierten zwischen 1933 und 1939 insgesamt 117.014 Menschen aus Deutschland. In den Arbeitsberichten des Zentralaus-schusses bzw. der Reichsvertretung der Deutschen Juden sind jedoch im gleichen Zeitraum mindestens 234.000 Juden als Flüchtlinge aus Deutschland verzeichnet. Es handelt sich um Glaubensjuden und um Menschen, die nach den Nürnberger Rassegesetzen von 1935 zu Juden ernannt worden waren. In den Statistischen Jahrbüchern des Deutschen Reiches wurden demnach die jüdischen Flüchtlinge unterschlagen.“ Viele Flüchtlinge flohen in benachbarte Länder, etwa Holland, Belgien, Frankreich, aus denen sie nach Kriegsbeginn und Besetzung durch die Deutschen entweder weiter fliehen mussten oder herausgeholt und in die NS-Vernichtungslager verschleppt wurden; nicht wenige emigrierten in die Sowjetunion, nach Asien und Südamerika, die meisten jedoch in die USA und nach Palästina. Noch während des Krieges, zwischen 1939 und 1941 – bis zum vom NS-Regime verhängten Auswanderungsverbot – gelang etwa 23.000 Juden die Flucht.
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Belsen (Hohne).94 In einem amerikanischen Untersuchungsbericht vom Herbst 1945 hieß es: „Sie sind befreit, aber nicht frei.“95 Im Unterschied zu den Nicht-Juden gab es für die Juden keine Heimat mehr, die sie aufsuchen konnten, da ihre Heimstätten zumeist zerstört waren und kaum noch Verwandte überlebt hatten. Die Lage wurde für sie zusätzlich belastet, da sie zunächst in den Lagern mit Kollaborateuren der Nazis aus dem Baltikum und osteuropäischen Ländern konfrontiert wurden – so waren im Lager Neustadt an der Lübecker Bucht neben 3200 DPs 800 Juden einquartiert. Vor allem kam es immer wieder zu Spannungen zwischen Polen und Juden. Vor allem in der amerikanischen Besatzungszone ging man deshalb dazu über, spezielle Lager für Juden einzurichten.96 94
Für viele Lager galt mutatis mutandis, was Wolfgang Benz, Zwischen Befreiung und Heimkehr. Das Dachauer Internationale Häftlingskomitee und die Verwaltung des Lagers im Mai und Juni 1945, in: Dachauer Hefte 1, S. 39-40, zur Lage im Lager Dachau berichtet: „Äußerlich unterschied sich die Situation nach dem 29. April, dem Tag der Befreiung, für die meisten aber wenig von dem Zustand davor. Hatte die Bedrohung durch die SS aufgehört, so dauerte die Lebensgefahr doch an, die von Typhus und vom Fleckfieber ausging, von den schauderhaften sanitären Verhältnissen, von den umherliegenden Leichen, deren Abtransport auch eine Woche nach der Befreiung noch im Gange war. Und die Befreiung hatte auch noch nicht die Freiheit gebracht, wenigstens nicht die Freiheit, das Lagergelände zu verlassen.“ Viele Zeitzeugen kommen zu Wort bei Michael Brenner, Nach dem Holocaust. Juden in Deutschland 1945-1950, München 1995. 95 Zit. bei Michael Brenner, Nach dem Holocaust. Juden in Deutschland 1945-1950, München 1995, S. 18. 96 Von der amerikanischen Besatzungspolitik im Hinblick auf die Juden unterschied sich die britische in einem wesentlichen Punkt: Die Briten betrachteten die deutschen Juden nicht wie die anderen als DPs, sondern als Menschen deutscher Nationalität. Sie sollten integriert werden in den Aufbau des neuen Deutschland. Für sie waren also nicht die Besatzungsmächte verantwortlich, sondern die deutschen Behörden, freilich unter der Aufsicht der Briten. Die deutschen Juden aber als Deutsche zu behandeln, hatte die Konsequenz, dass alle Maßnahmen 159
Dies war auch dem immensen Zustrom jüdischer Menschen geschuldet, die 1946 aus Osteuropa, vor allem aus Polen flohen – in Polen musste man nach Kriegsende hunderte von Toten beklagen, die antisemitischer Hetze und Pogromen zum Opfer gefallen waren, allein in Kielce wurden am 4. Juli über 40 Juden ermordet und mehr als 80 verletzt. So waren unter erbärmlichen Umständen in etwa 60 Lagern mehrere hunderttausend Überlebende untergebracht, die ein eingeschränktes, aber doch reges jüdisches Leben in osteuropäischer Tradition, meist in jiddischer Sprache etablierten, doch nichts sehnlichster wünschten, als das Land der Richter und Henker zu verlassen und eine neue, eine eigene Heimat zu finden, die für die allermeisten nur Palästina, Eretz Israel, heißen konnte. Nur wenige, meist alte und gebrechliche Personen, doch auch manche, die es als ihre Aufgabe sahen, am Aufbau eines neuen Deutschlands mitzuwirken, blieben im Land – weniger als 3000. Für alle überlebenden Juden galt: Ihre Toten und Ermordeten befahlen ihnen zu leben und Zeugnis abzulegen, damit das Ungeheuerliche sich nicht wiederhole. Zwei `Exodus – Romane´ Im Jahre 1958 erschien das Buch „Exodus“, ein Roman, der die Entstehung des Staates Israel und die Geschichte der Juden im 20. Jahrhundert erzählt. Der Autor war der 1924 in Baltimore geborene jüdische Schriftsteller Leon Uris, der mit diesem Werk – und später mit weiteren97 – und Verordnungen der Sieger gegen den besiegten Feind auch auf sie anzuwenden waren – Täter also den Opfern gleichgestellt wurden. Damit waren die deutschen Juden schlechter gestellt als die nicht-deutschen Juden. Dazu differenziert Ursula Büttner, Not nach der Befreiung (s. Anm. 93), S. 9ff. 97 So mit dem Roman „Topas“ (1967), der von Hitchcock 1969 verfilmt wurde; so auch mit „Mila 18“ (1961), der die Geschichte des jüdischen Aufstands im Warschauer Ghetto und dessen grauenhafte Niederschlagung durch die deutsche Besatzung schildert; so auch mit „Mitla Pass“ (1988), dem Roman über den israelischen Sinaifeldzug 1956. 160
Weltruhm erlangte: Der Roman wurde in mehr als 50 Sprachen übersetzt und bleibt bis heute mit dem Namen Uris aufs Engste verbunden. Die Anregungen für dieses Buch erhielt Uris durch seinen Einsatz als Korrespondent in Israel. Einen Höhepunkt des Romans bildet die Geschichte des Schiffes „Exodus“, mit dem jüdische Flüchtlinge versuchten, Eretz Israel zu erreichen, Palästina also, das seit dem Ersten Weltkrieg unter britischer Mandatsherrschaft stand. Ausdrücklich betont Uris in einer Vorbemerkung seines Romans: „Die meisten der darin geschilderten Ereignisse sind verbürgte Geschichte, wenn auch die einzelnen Szenen großenteils vom Autor frei erfunden wurden. […] Ich möchte deshalb betonen, dass es sich bei sämtlichen Gestalten um Geschöpfe des Autors und frei erfundene Romanfiguren handelt. Eine Ausnahme bilden natürlich namentlich erwähnte Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, wie Churchill, Truman, Pearson und andere, die in dem hier behandelten Zeitabschnitt eine bestimmte Rolle gespielt haben.“98 Doch kann man bei genauerer Kenntnis der Geschehnisse einige Hauptakteure des Romans mit Personen der realen Geschichte assoziieren: So weist etwa der mit brutalen Anschlägen agierende Akiva Ben Kanaan Züge von Menachim Begin auf, der später Ministerpräsident Israels wurde, und so ist die Hauptfigur Ari Ben Kanaan mit Charakteristika des realen Kommandeurs des Exodus, Yossi Harel, ausgestattet. Kritisch anzumerken bleibt, dass Uris entgegen den tatsächlichen Ereignissen die Vorgänge mehr als nur verzerrt: Erstens lässt er die `Exodus´ von einem reichen griechischen Zyprioten anschaffen, mit rund 800 Juden aus einem britischen Lager belegen und von Zypern aus in See stechen. Zweitens lässt er die Überfahrt nach Palästina wie eine ungestörte Seereise erscheinen: „Die alte Schiffsmaschine ächzte, als die Exodus rückwärts in die Mitte des Hafens von Kyrenia glitt, wendete und Kurs hinaus auf das Meer nahm, in Richtung Palästina. Am Morgen des zweiten Tages kam Land in Sicht. `Palästina!´ `Eretz Israel!´ Die Kinder rie98
Der Roman wurde erfolgreich 1960 mit Paul Newman in der Hauptrolle von Otto Preminger verfilmt. 161
fen aufgeregt durcheinander, jauchzten, lachten und sangen.“99 Drittens aber und völlig aus der Luft gegriffen: Uris lässt die `Exodus´ in den Hafen von Haifa einlaufen, wo sie begeistert empfangen wird: „Fünfundzwanzigtausend Juden strömten zum Hafen, um das altersschwache kleine Fahrzeug zu begrüßen. Das jüdische Philharmonische Orchester spielte die Nationalhymne – `Hatikwa´, die Hoffnung. […] Die Exodus war heimgekehrt!“100 Und alle Passagiere, überwiegend Kinder und Jugendliche, kommen an Land und werden auf einige Kibbuzim verteilt. Mit der Realität hat diese Erzählung über die `Exodus´ nichts zu tun. Der eben erwähnte Yossi Harel steht nun im Mittelpunkt eines ganz anders gearteten Romans von Yoram Kaniuk: „Und das Meer teilte sich – Der Kommandant der Exodus“, dem im Folgenden einige Passagen entnommen sind. Kaniuk wurde am 2. Mai 1930 in Tel Aviv geboren und starb am gleichen Ort am 8. Juni 2013. Er gehört zu den bedeutendsten israelischen Schriftstellern, galt jedoch eine Zeitlang als umstritten, da er mit seinen Arbeiten auch vehemente Kritik an der Politik seines Landes übte. Mit 17 Jahren verließ er das Gymnasium, um in der jüdischen Eliteeinheit der Palmach101 unter Jitzchak Rabin zu kämpfen und Überlebenden der Shoah auf einem Schiff die Einreise nach Palästina zu ermöglichen. Nach dem Unabhängigkeitskrieg 1948 arbeitete er fast ein Jahr lang als Matrose auf der `Pan York´, einem Schiff, das auch nach der Staatsgründung weiterhin Juden nach Israel brachte – nun aber auf legale Weise.102 Kurz danach übersiedelte Kaniuk nach New York, 99
Leon Uris, Exodus, München 1958, zit. nach 28. Auflage 1984, S. 283. 100 Ebd. 101 Palmach: (Abkürzung für Pelugot Machatz. Stoßtruppen) Linkssozialistisch orientierte Eliteeinheit der Haganah (Selbstschutztruppe. Vorläufer der israelischen Armee). 102 Yoram Kaniuk, Und das Meer teilte sich – Der Kommandant der Exodus, München 1999. Im Folgenden abgekürzt: Kaniuk. Über die dramatische Fahrt der beiden ehemaligen Bananendampfer, der `Pan York´ und der `Pan Crescent´, die Ende 1947, Anfang 1948 unter dem 162
kehrte aber 1961 nach Israel zurück und veröffentlichte im Laufe der Zeit viele Romane, Erzählungen und Kurzgeschichten, Kinderbücher und zeitkritische Essays und Stellungnahmen. Sein international bekanntester Roman ist „Adam Hundesohn“ von 1968, der 1989 in Deutschland erschien und 2008 von Paul Schrader als „Adam Resurrected“ verfilmt wurde. Mit seinem letzten Werk, dem autobiographischen Roman „1948“, das in seinem Todesjahr publiziert wurde, schuf Kaniuk sein literarisches Vermächtnis: Er schildert Israels Unabhängigkeitskrieg aus der Sicht eines 17jährigen und versieht den Mythos, mit dem dieser Kampf bis heute umhüllt wird, mit manchen Fragezeichen. Sein Roman „Und das Meer teilte sich“ erschien 1999 unter dem Titel „Exodus: Commander´s Odyssey“ („Exodus: Odyssiya shel mafaked“) in Tel Aviv und im gleichen Jahr in deutscher Übersetzung. Im Unterschied zu Leon Uris ist bei Kaniuk die Thematik konzentriert auf die Geschichte der illegalen jüdischen Einwanderer von 1945 bis 1948 und greift nur partiell auf die Zeit des Zweiten Weltkrieges zurück, in der die Versuche, auf Schiffen nach Palästina zu gelangen, häufig gescheitert sind, sei es, dass britischen Kriegsschiffe die Einreise verhinderten, sei es, dass nur notdürftigst hergerichtete und überstrapazierte Schiffe im Meer versanken und tausende Flüchtlinge in den Tod rissen. Wichtiger jedoch ist, dass Kaniuk keine Liebesgeschichten strickt, keine Szenen und Figuren erfindet; die Personen erhalten keine fiktiven Namen und Charaktere, sondern sind – gut alttestamentlich-jüdisch gesprochen: – „bei ihren Namen gerufen“ (Jes. 43,1). Doch wird aus dem Buch damit noch kein historisches Sachbuch. Es bleibt ein Roman, ein Tatsachenroman, der anhand der Biographie Yossi Harels die tatsächlichen Geschehnisse um die `Exodus´ mit den Worten des Autors erzählt – denn Kommando von Yossi Harel über 15 000 Juden aus Rumänien und Ungarn nach Palästina transportieren sollten, berichtet Kaniuk auf den Seiten 251-305: Auch dieses Mal verhinderten die Briten mit einer Flotte von zehn Kriegsschiffen die `Einreise´ und verfrachteten die `Passagiere´ in die Flüchtlingslager auf Zypern. 163
Yoram Kaniuk ist es gelungen, den legendären Kommandanten aus seinem 50 Jahre andauernden Schweigen heraus zu holen und ihm ein literarisches Denkmal zu setzen. Im Prolog des Romans erzählt Kaniuk, wie er Yossi Harel kennenlernte und wie der Plan zum Buch entstand. Da es hier nun nicht um die ausführliche Nachzeichnung des Lebens von Harel gehen kann, nur das Wichtigste in Kürze: Yossi Harel wurde als Josef Hamburger 1919 in Jerusalem geboren. Seine Vorfahren waren bereits in fünfter Generation in dieser Stadt ansässig. Bereits mit 15 Jahren trat er in die Haganah ein, die offizielle Untergrundarmee der jüdischen Bevölkerung im britischen Mandatsgebiet Palästina, Vorläufer der israelischen Armee. Seine Verlässlichkeit und realistische Einschätzung von Gefahren und Chancen, sein Wagemut und Urteilsvermögen, seine Fähigkeit zur Empathie und seine Bereitschaft zu entschlossenem Handeln, gepaart mit einem trainierten Misstrauen gegenüber politischen Phrasen und Vereinbarungen veranlasste die Führung des Yischuw103 und der Haganah, ihn mit Führungsaufgaben zu betrauen. So wurde ihm das Kommando über illegale Einwanderer-schiffe anvertraut. Im Alter von erst 27 Jahren erhielt er den Befehl über die Flüchtlingsschiffe Knesset Israel, Atzma´ut und Kibbutz Galuiot. Besonders die Erfahrung auf der Knesset Israel, mit den von KZ-Leid und Hunger, Flucht und Entbehrung, Trauer und Schmerz gezeichneten Menschen, die getrieben waren vom Überlebenswillen, mit den Hindernissen und erzwungenen Verzögerungen, mit den Attacken und zynischen Handlungen des britischen Militärs auf See, prägten Yossi Harel, der schon als Jugendlicher seinen Namen aufgegeben und den Namen seiner Palmach-Brigade `Harel´ (Gottesberg) angenommen hatte. In späteren Jahren studierte Yossi Harel in den USA und wirkte als hochrangiger Offizier unter Moshe Dajan für den israelischen Geheimdienst Mossad, bevor er sich als Unternehmer betätigte und neben Aktivitäten im Ausland auch ein Unternehmen in Israel betrieb – ein 103
Bezeichnung der Gesamtheit der jüdischen Siedlungen und Einwohner in Palästina von etwa 1882 bis 1948. 164
großes Freibad in Tel Aviv. Yossi Harel starb am 26. April 2008 in Tel Aviv. Der Staat Israel entstand nicht am 15. Mai 1948, als man ihn im TelAviv-Museum offiziell ausrief. Er wurde bereits ein knappes Jahr zuvor geboren, am 18. Juli 1947, als ein verwundetes, schwer angeschlagenes amerikanisches Schiff namens President Warfield, umbenannt in Exodus, in den Hafen von Haifa einlief, während aus seinen Lautsprechern die Klänge der HaTikwa drangen. Der Staat Israel entstand, noch bevor er einen Namen hatte, als die Tore Palästinas den Juden verschlossen waren und die Engländer Krieg führten gegen die Überlebenden der Shoah […] – mit Hilfe Zehntausender von Soldaten, Tausender von Polizisten und Agenten des britischen Geheimdienstes in den Häfen Europas und durch Internierungslager auf Zypern und im südlich von Haifa gelegenen Athlit.104 Mit diesen Worten beginnt Kaniuk seinen Roman und immer wieder berichtet er von der Abschottungspolitik der Briten gegenüber den Juden, die nichts anderes wollten, als in die ihnen schon lange vom britischen Empire zugesagte Heimstatt zu gelangen – denn in der nach Lord Arthur James Balfour benannten Balfour-Deklaration vom 2. November 1917 hatte Großbritannien gegenüber der Zionistischen Weltorganisation der Errichtung einer „nationalen Heimstätte für das jüdische Volk in Palästina“ zugestimmt. Doch von den Briten und Franzosen waren damals, im Ersten Weltkrieg, nach der Zerschlagung des Osmanischen Reiches, mit dem Sykes-Picot-Abkommen vom Mai 1916 ihre künftigen Einflusszonen und Herrschaftsgebiete im Nahen Osten festgelegt worden. Damit war zugleich die Absichtserklärung verbunden, die Gründung unabhängiger arabischer Staaten zuzulassen und die Autonomie der in Palästina lebenden Araber zu befördern. Nachdem die Briten jedoch ab 1920 die Mandatsherrschaft in Palästina ausübten und von den 104
Kaniuk, S. 5. 165
Arabern als Besatzungsmacht wahrgenommen wurden, waren sie in der Folgezeit immer wieder mit Aufständen der Araber konfrontiert. Daher hatten sie vor allem Interesse an der Stabilisierung ihrer Administration und einer militärisch garantierten Sicherheit im Mandatsgebiet. Das nun wurde schon durch die jüdischen Flüchtlinge nach Beginn der NSHerrschaft 1933 in Frage gestellt, zumal die Araber die Vermehrung des jüdischen Bevölkerungsanteils in Palästina nicht kampflos hinzunehmen bereit waren. Die Briten sahen sich also gezwungen, die Zahl der jüdischen Einwanderer zu begrenzen. Diese Zahl ließ sich aber de facto nicht begrenzen, da den vor Verfolgung und Terror aus Deutschland und Europa fliehenden Juden immer mehr Türen in anderen Ländern verschlossen wurden. Wohin denn sich wenden, wenn nicht in das ihnen – nicht allein seit biblischen Urzeiten zugesprochene und verheißene –, sondern vom britischen Empire versprochene `gelobte Land´? In diesem Zusammenhang zitiert Kaniuk niemand anderen als den Chefpropagandisten des `Dritten Reichs´, Joseph Goebbels, der im Mai 1943 formulierte: „Wie man die Judenfrage im Einzelnen löst, ob man später zur Schaffung eines Judenstaates irgendwo auf einem Territorium der Erde schreiten wird, das mag dahingestellt sein. Aber es ist sonderbar, dass all die Staaten, die in ihrer öffentlichen Meinung für die Juden eintreten, sich doch immer weigern, die Juden von uns in Empfang zu nehmen. Sie sagen, es seien großartige Kulturpioniere, Genies der Wirtschaft, Genies des Staatsdenkens, Genies der Philosophie und Dichtung, aber wenn man ihnen diese Genies dann anvertrauen will, dann schließen sie die Grenzen ab: `Nein, Nein! Haben wollen wir sie nicht!´ Das ist, glaube ich, ein einzigartiges Beispiel in der Weltgeschichte, dass man Genies ablehnt.“105
105
Kaniuk, S. 231f, zum Kontext S. 229-236.
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Die Juden in Palästina, in Amerika und anderswo bemühten sich nach Kräften, vor allem durch die Jewish Agency – das 1922 gebildete Exekutivorgan der Zionistischen Weltorganisation in Kooperation mit der Selbstverwaltung des Yischuw in Palästina –, die Einwanderung der Flüchtlinge nach Eretz Israel zu unterstützen. Mit der Organisation und Durchführung der Operationen auf See und Übersee befasste sich vor allem der Mossad le Alija Beth, die Abteilung für die Zweite Einwanderung – nicht zu verwechseln mit dem späteren Geheimdienst des israelischen Staates: Mossad. Zu den Aufgaben dieser Abteilung gehörte auch der Ankauf von Schiffen. Durch die Zunahme des jüdischen Bevölkerungsanteils in Palästina verschärften sich die Spannungen zwischen Arabern und Juden und von beiden Gruppen gegenüber der britischen Herrschaft. Doch nach dem Ende des Krieges „verhielten sich die Engländer so, als habe es nie eine `Balfour-Declaration´ gegeben. […] Die Labourregierung bremste die Einwanderung. Am 5. September 1945 setzte sie die Quoten auf monatlich 1500 jüdische Siedler fest, die nach Palästina hineindurften.“106 Da die meisten überlebenden Juden sich mühsam und entbehrungsreich ans Mittelmeer oder Schwarze Meer durchschlugen, um nach Eretz Israel zu kommen, wurde versucht, sie mit Schiffen illegal ans Land zu bringen. Die meisten der insgesamt 64 illegalen Transporte wurden von britischen Kriegsschiffen aufgebracht, und da die Lager für die Flüchtlinge in Palästina rasch überfüllt waren, sorgten die Engländer dafür, dass neue Zwangslager auf Zypern, damals britische Kolonie, errichtet wurden, in denen tausende Juden völlig unzureichend zusammengepfercht waren.
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Günther Schwarberg, Die letzte Fahrt der Exodus. Das Schiff, das nicht ankommen sollte, Göttingen 1988, 1997, S. 26. Das Buch enthält Ausschnitte aus Zeitzeugenberichten sowie eine große Anzahl bemerkenswerter historischer Aufnahmen von der Exodus und von zahlreichen Passagieren. 167
Vorbereitung, Fahrt und Ende der Operation `Exodus 1947´ Die Exodus 1947 war ein 1928 unter dem Namen President Warfield fertiggestellter Vergnügungsdampfer, der für 400 Passagiere mit Restaurants, Tanzsälen und Bars Luxus pur bot und bis 1940 an der Ostküste der USA kreuzte. 1942 für den Kriegseinsatz bei der britischen Armee eingezogen, wurde sie zum Truppentransporter mit vier Decks umgebaut. Nach mehreren Feindkontakten übernahm die US-Navy das Schiff und setzte die President Warfield bei der Landung der Alliierten in der Normandie im Juni 1944 ein. Ende 1945 wurde das stark beanspruchte Schiff ausgemustert. Der Mossad le Alija Beth wurde auf die President Warfield aufmerksam, da sie durch die Zurichtung auf Truppentransporte für Flüchtlingstransporte geeignet schien und über einen nur geringen Tiefgang verfügte, der eine Fahrt in Küstennähe gestattete. Am 9. November (!) 1946 erwarb ein Mittelsmann das Schiff für 60.000 USD und ließ es unter der Flagge von Honduras registrieren. Der britische Geheimdienst mit seinen tausend Augen überall nahm das Schiff ins Visier, da es nach einem schweren Sturm nach Norfolk geschleppt und instand gesetzt werden musste. Denn da der Geheimdienst den Zweck der President Warfield erkennen konnte, wurde das Schiff in der Folge systematisch überwacht. Unter der Führung von Kapitän Yitzchak (Ike) Aronowicz107 verlief die Überfahrt nach Marseille ohne Zwischenfälle. Nach mehreren Zwischenstopps in verschiedenen Häfen, ausgelöst durch die ständige Überwachung, konnte die President Warfield nach bestandener Prüfung der Seetauglichkeit in den Hafen von Sète einlaufen. Die Umbauten waren erfolgt, Bordwände mit Stahlplatten verstärkt, Netze ausgespannt, um das Entern englischer Matrosen zu verhindern, die Aufbauten mit Stacheldraht gesichert, alle Kojen für über 4.500 Passagiere vorbereitet – jede Koje maß 45 cm in der Breite und 60 cm in der
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Ike Aronowicz wurde 1923 in Danzig geboren und gelangte mit seiner Familie 1932 nach Palästina. Er starb nach längerer Krankheit am 23. Dezember 2009 in Israel. 168
Höhe. Die Ausfahrt stand bevor und der Kommandant Yossi Harel kam an Bord. AUSZUG I Die Standhaftigkeit, die die Juden bei der Erstürmung der Knesset Israel und auch später auf dem Deportationsschiff bewiesen hatten, als sie mit Yossi gemeinsam jiddische Lieder sangen, stärkte ihm den Rücken für diese neue Reise. Er hatte wie sie die Enge ertragen, war wie sie erniedrigt worden. […] Yossi erklärte, er sei bereit, einfach alles für diese Menschen zu tun. „Als ich sie sah, wusste ich, dass uns nichts aufhalten würde. Ich kehrte zum Schiff zurück und hatte nur eines vor Augen: die Blicke der Kinder.“ […] Mitten in den Vorbereitungen für die Einschiffung verlangten die Franzosen plötzlich Visa. Nach einigen Mühen erklärte sich der kolumbianische Konsul schließlich bereit, die nötigen Visa gegen eine erkleckliche Geldsumme auszustellen. Als er hörte, um wie viele Menschen es sich handelte, meinte er: „Es ist wohl besser, ihr stempelt die Dokumente selbst ab.“ Für diese Aufgabe wurden all jene mobilisiert, die – um zu überleben – in den deutschen Lagern Dollar- und Pfundnoten gefälscht hatten; Falschgeld, das die Deutschen als Teil ihres Handelskrieges gegen die Alliierten eingesetzt hatten. Für die Visa benötigte man von jedem Flüchtling umgehend ein Foto. Also wurden alle Straßenfotografen von Marseille angeheuert und in die Durchgangslager gebracht, um die Flüchtlinge, die an Bord gehen sollten, abzulichten, bevor Tausende von Ausweispapieren in Druck gingen. […] Die Mannschaft stand nun vor einem komplizierten logistischen Problem: Wie konnte man 4515 Menschen aus den Durchgangslagern bei Marseille zum Hafen von Sète bringen? Die sich abzeichnende Lösung bestand aus 178 gemieteten Lastwagen, doch in genau dem Augenblick schlossen sich die LKW-Fahrer der großen Streikwelle an, die Frankreich in jenen Wochen lahmlegte. Die Kommunisten zeigten sich geneigt, der Bitte der Eretz-Israelis zu entsprechen und den Streik zu brechen.
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Eine Spende in die Streikkasse von rund einer Million Francs war beiden Seiten von Nutzen. So fanden sich also hundertfünfzig Lastwagenfahrer der „britischen Armee“ ein, um die Flüchtlinge zu transportieren. Die übrigen standen für den Fall bereit, dass Reparaturen anfielen. Exakte Planung und ausgeklügelte logistische Berechnungen waren unumgänglich. Die Fahrzeuge, die irgendwann tatsächlich von der britischen Armee „ausgeliehen“ worden waren, hatten bereits unzählige Kilometer auf Europas Straßen hinter sich. Immer wieder gab es Pannen. Außerdem stellten sich unterwegs unzählige Male Probleme mit geldgierigen Polizisten ein. Die endlose Kolonne musste sich zeitweise auf unterschiedliche Routen aufteilen, um nicht aufzufallen. Doch gab es neben diesen Hindernissen noch ein weiteres: Die ganze Aktion musste auch noch im Schutz der Dunkelheit durchgeführt werden. […] Wieder einmal musste der Tag mit Hilfe der Nacht besiegt werden. Für einen Moment hätte man meinen können, das ganze jüdische Volk ströme zum Mittelmeer. Auf seinem Weg zum Schiff sah Yossi Wagen, aus deren Fenstern offensichtlich handgefärbte, blauweiße Fahnen in kindlich-euphorischem Stolz geschwenkt wurden. Die Passagiere wussten sehr wohl, welch schwerer Weg ihnen bevorstand. Doch die Jahre hatten sie zu Überlebenskünstlern gemacht, die Wege fanden, zugefrorenen Flüssen, morastigen Feldern, steilen Abhängen, der feindlich gesonnenen Bevölkerung, einem grausamen Feind, Krankheiten, Verwaisung und dem Verlust der eigenen Kinder zu trotzen, und so zogen sie voller Stolz, Freude und Hoffnung gen Eretz Israel. […] In der Nähe des Schiffs stellten sich die Flüchtlinge in Gruppen auf. Die Schiffsführung musterte sie wie bei einem Appell, schritt langsam die Menge ab und betrachtete sie. Dies waren die Überreste jener Menschen, von denen die Deutschen stolz behauptet hatten, sie in exakt 45 Minuten aus den Güterwaggons in die Krematorien schaffen zu können. […] Um an Bord zu gelangen, teilten sich die Menschen in Gruppen zu je dreißig auf. Eigentlich sollten um acht Uhr morgens die Anker gelichtet
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werden. Doch die vielen Pannen unterwegs, die eingeschränkte Sicht bei Nacht, die zum Teil mit erheblicher Verspätung eintreffenden LKWs, die Kojen, die auf einem der vier Decks zusammenbrachen, und der britische Aufklärer, der zu allem Überfluss bereits um zehn Uhr über dem Schiff kreiste, sorgten für eine beunruhigende Verschiebung im ursprünglichen Zeitplan, und für große allgemeine Enttäuschung. Um übermäßiges Gedränge zu vermeiden, brachte man die Menschen in Etappen an Bord. Immer noch trafen Lastwagen ein, so dass erst gegen Mittag alle Flüchtlinge eingeschifft waren. Die Hafenpolizei kontrollierte gewissenhaft jeden Passagier. Unter dem nicht nachlassenden Druck der Briten kam es zu einigen Problemen mit der französischen Polizei, die mit völlig untypischer Sorgfalt Unstimmigkeiten zwischen den Dokumenten und ihren Trägern beanstandete. Jeder Flüchtling bekam seinen Schlafplatz zugewiesen, dazu Wasser und Verpflegung für den ersten Tag an Bord. […] Pro Kopf war nur ein Bündel mit persönlicher Habe zugelassen. Viele waren gezwungen, sich von Dingen zu trennen, die alles waren, was sie auf dieser Welt besaßen. Einige weinten still vor sich hin, andere waren wütend. Unterdessen verlieh Mordechai Rossmann, der Sprecher der Flüchtlinge, durch eine bewegte Rede seinem Gefühl, an einer persönlichen wie nationalen Mission teilzunehmen, Ausdruck: „Wir besteigen heute ein Schiff, das Kriegsschiff des jüdischen Volkes im Kampf um seine Existenz“. Über dem Schiff kreisten erneut britische Bomber. Die französischen Behörden änderten mit einem Mal ihre Haltung und teilten mit, es läge keine Erlaubnis zum Auslaufen vor. Die President Warfield blieb – der Willkür der großen Politik ausgeliefert – mit 4515 Menschen und der Besatzung an Bord im Hafen von Sète vor Anker. Irgendwann gab Yossi Order, alle Ausweispapiere, auch die kolumbianischen Visa, zu verbrennen, und teilte in seiner gewohnt ruhigen und direkten Art mit: „Diese Menschen haben keine Staatsangehörigkeit, keine Papiere und kein Herkunftsland. Niemand wird das Schiff verlassen.“ […]
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Yossi […] verlangte, umgehend mit dem Präfekten zu sprechen. Gemeinsam mit Rossmann und Ike Aronowicz begab er sich zu ihm und machte ihm klar, dass sie unverzüglich auslaufen müssten und die Franzosen sie nicht länger daran hindern sollten, da andern falls „Blut fließen werde“. Sie sprachen über die Kleinkinder an Bord, machten auf die begrenzte Menge Treibstoff aufmerksam und ergingen sich in Schilderungen der Epidemien, die schon bald auf dem Schiff auszubrechen drohten.. […] Der Präfekt wirkte verstört, befürchtete ganz offensichtlich ein Blutbad und sicherte seine Hilfe zu. Gleichzeitig insistierte der Hafenkommandant jedoch erneut auf seinem Standpunkt, das Schiff habe keine Auslauferlaubnis, weshalb er die Kesselbrenner demontieren lassen wollte, um das Schiff endgültig stillzulegen. Auf dem Rückweg zur President Warfield sagte sich Yossi immer wieder, dass er zwar keine Waffen hatte, dass aber die Augen der Kinder so gut wie Kanonen wirkten. Dabei war er sich der Tatsache sehr wohl bewusst, dass zwei britische Zerstörer bereits an der Hafenausfahrt warteten, um ihnen „Geleit“ zu geben. Kaum zurück an Bord, teilte ihm Shmarjahu Zameret mit, er solle umgehend in ein kleines Café am Hafen kommen. Yossi betrat das Café und wartete neben dem Telefon, bis es klingelte. Am anderen Ende der Leitung war Shaul Avigur 108, der ihn darüber informierte, dass der britische Außenminister Ernest Bevin im Laufe des Tages zu einem Treffen mit seinem französischen Amtskollegen nach Paris kommen werde, um Druck auszuüben und die Masseneinwanderung von Juden nach Palästina um jeden Preis zu unterbinden. […] Bevin habe es sich zur Aufgabe gemacht, die Einwanderung zu stoppen und 108
Shaul Avigur, ursprünglich Saul Meyeroff, 1899-1978, war ab 1939 Kommandeur des Mossad le Alija Bet und organisierte von Tel Aviv oder Paris aus die illegale Alija nach Palästina. Nach dem Tod seines 17jährigen Sohnes Gur durch einen arabischen Scharfschützen im Unabhängigkeitskrieg ersetzte Shaul seinen Nachnamen durch Avigur: Vater des Gur. Unter Ben Gurion arbeitete Avigur als stellvertretender Verteidigungsminister. 172
den Juden eine Lektion zu erteilen. Er betrachte dies inzwischen als eine Angelegenheit von höchstem nationalem und sicherheitspolitischem Stellenwert. Avigur berichtete weiter, Bevin habe eine frei erfundene Version in die Welt gesetzt, nach der die Masseneinwanderung nach Palästina eine Verschwörung reicher New Yorker Juden sei, ein teuflischer amerikanisch-jüdischer Plan, um Profit zu machen. „Aber“, fügte Avigur hinzu, „Venia Pomeranz109 kommt gerade von einem Treffen mit dem französischen Arbeitsminister Daniel Meyer und hat sich mit ihm auf eine endgültige Abmachung geeinigt: Ihr müsst bis zum Morgen aus dem Hafen verschwunden sein, koste es, was es wolle. Wenn nicht, wird man euch festnehmen, und die ganze Aktion ist ein für allemal gescheitert.“110 Es gelang, einen Lotsen aufzutreiben, der für einen hohen Preis bereit war, das Schiff in der Nacht durch den Hafen mit seinen zahlreichen Molen und Windungen bis zum Hafenausgang zu leiten. Nachdem man auf den Lotsen, der um 23 Uhr eintreffen sollte, bis nach zwei Uhr vergebens gewartet hatte, traf Yossi eine gewagte Entscheidung, indem er Ike anwies, bis spätestens zur Dämmerung auch ohne Lotsen auszulaufen. Doch da sich das Schiff durch das Gewicht der viereinhalb tausend Flüchtlinge abgesenkt hatte, verwickelte sich die Heckleine in die Schraube. Indem die Maschinisten das Schiff mit aller Kraft vor und zurück bewegen und stampfen ließen, konnte die President Warfield das Hindernis zerreißen und sich auf den Weg durch den Hafen machen. Allerdings stieß das Schiff mit jeder Mole zusammen – durch die Erschütterungen wurden die Flüchtlinge aus dem Schlaf gerissen; sie behielten jedoch, ohne zu wissen, was vor sich ging, Gelassenheit und Disziplin. Damit nicht genug: Um zwischen den die Hafenausfahrt begrenzenden Wellenbrechern durchzukommen, musste die President Warfield eine weite Linkskurve ausführen. Doch statt den Befehl „Ruder hart 109 110
Avigurs Adjutant. Kaniuk, 181-189. 173
Backbord“ umzusetzen, drehte der Steuermann in der allgemeinen Aufregung und Anspannung das Ruder nach rechts und das Schiff lief auf Grund. Es schien sich alles gegen die Flüchtlinge verschworen zu haben. Doch obwohl er sich des hohen Risikos bewusst war, resignierte Yossi nicht und gab die Anweisung, das Schiff bis ans Limit erneut in eine Vorwärts- und Rückwärtsbewegung zu versetzen, „als bahne es sich seinen Weg durch ein Meer von Beton.“111 Und das kaum für möglich Gehaltene gelang: „die Sandbank ganz allmählich, Zentimeter für Zentimeter, abzutragen. Bei 115 Umdrehungen in der Minute führten sie einen rabiaten und verzweifelten Kampf gegen die Gesetze der Mechanik. Es ging um Leben und Tod, denn jeden Augenblick konnte das Schiff seinen Dienst verweigern und 4515 Menschen ihrem Schicksal ausliefern. Nach eineinhalb Stunden kam die President Warfield endlich frei und glitt aus dem Hafen.“112 Die Untersuchung ergab, dass die Schäden und Schrammen an Kiel und Rumpf einer Weiterfahrt auf offener See nicht entgegen standen, wo die beiden britischen Zerstörer schon warteten, um das Flüchtlingsschiff in Empfang zu nehmen und feindlich zu begleiten. AUSZUG II Die President Warfield war mit guten Funkgeräten und Kurzwellenempfängern ausgestattet. Es war Sommer und die See spiegelglatt. Unter der Führung von Mordechai Rossmann, der auch bei der Ausrüstung des Schiffes geholfen hatte, begann sich das Komitee der Flüchtlinge gleich nach dem Auslaufen nützlich zu machen: Es gab Hebräischunterricht, und es fanden Gesangsabende statt. Musiker spielten abwechselnd auf einem der beiden Oberdecks. Jugendliche führten Theaterstücke auf und übten sich in Disziplin. Kaum hatte das Schiff die offene See erreicht, machten bereits Meldungen über ein breitgefächertes kulturelles Angebot die Runde, sogar Vorträge über Schopenhauer gab es. […] 111 112
Kaniuk, 192. Ebd.
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Es gelang ihnen, die Nachrichten der BBC zu empfangen, die sogleich in ein halbes Dutzend Sprachen übersetzt und in Form improvisierter Zeitungen, die die Flüchtlinge selbst erstellten, an Bord verbreitet wurden. Bei Malta wurde die britische Eskorte um weitere zwei Zerstörer verstärkt. Jeden Tag kam ein Zerstörer hinzu. Auf dem Schiff verlief das Leben in geordneten Bahnen. So geordnet, dass einige gläubige Juden begannen, Forderungen zu stellen. Selbstverständlich hielt Yossi sie nicht davon ab, an Deck zu beten, doch den Forderungen nach koscherer Küche und Kochverbot am Schabbat konnte er nicht nachkommen. Er hatte gedacht, sie würden alle gemeinsam beten. Doch nein, sie bildeten getrennte Grüppchen. […] Yossi fragte die Betenden, ob jede Gruppe einen eigenen Gott habe, worauf sie ihn mit einer Mischung aus Erstaunen und Mitleid ansahen. So blieb es bei dem getrennten, zuweilen in feindseliger Atmosphäre vollzogenen Gebet: Nicht einmal an Bord ruhte er Kampf zwischen den einzelnen chassidischen Höfen, zwischen den Chassiden und ihren orthodoxen Widersachern, zwischen ganz gewöhnlichen Gläubigen und den Orthodoxen. Es gab Menschen, die, wenn sie an Deck kamen, um frische Luft zu schöpfen, Schwindelanfälle erlitten und sich unwohl fühlten. Die einen weinten, andere versuchten, fröhlich zu sein. Der Reihe nach kamen sie nach oben auf das oberste Deck, duschten, aßen und tranken etwas Wasser. In endlosen Schlangen standen sie für die Latrinen an. Kranke wurden von Ärzten versorgt, die sich zuhauf unter den Flüchtlingen befanden. […] Politische und literarische Debatten wurden ausgetragen, die nicht selten in Geschrei und hitzigen Wortwechseln endeten. Eine Gruppe junger Frauen und Männer setzte sich scharfzüngig und erregt mit dem „Zynismus als Wert“ auseinander. Sie diskutierten über Rebellion ohne eigentlichen Anlass, wie sie in Turgenjews Werk `Rudin´ beschrieben wird; über Selbstmord als Ideal. An Bord der „Auschwitz auf dem Meer“ wurde der Nihilismus als höchster Wert diskutiert. Das berühmte „für das Dagegensein“, das allem Nihilismus entgegensteht. Leiden-
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schaftlich wurde über den Unterschied zwischen allgemeinen moralischen und ethischen Werten gestritten, die – so erklärten eifrige verschwitzte Redner – persönlicher Entscheidung unterlägen, während Moral als die Grundlage menschlichen Zusammenlebens betrachtet werden müsse. […] es war sonderbar, dieses Schiff mit seinen dahinsiechenden und doch vor Lebenslust sprühenden Menschen zu betrachten.113 Die President Warfield wurde von fünf Zerstörern unter der Führung des Kreuzers Ajax begleitet und geradezu umzingelt – wie ein stählener Goliath hoch fünf wirkten die HMS Charity, Chequers, Chieftain, Childers und Cardigan neben einem ramponierten David. Um von möglichst vielen Schiffen gesichtet zu werden, steuerte Kapitän Aronowicz einen südlichen Kurs in die vielbefahrenen Gewässer vor Ägypten und dem Suezkanal, um dann entlang der Sinai-Küste vorbei an El Arish die Richtung nach Gaza und Tel Aviv einzuschlagen. Verschiedene Überlegungen Yossi Harels, den Briten bei Dunkelheit zu entkommen, wurden wegen der vielen `Begleitschiffe´ und des Risikos nicht weiter verfolgt. Stattdessen wurden, je näher man dem Gebiet Palästinas – Eretz Israel – kam und eine direkte Auseinandersetzung mit den Briten bevorstand, weitere Maßnahmen ergriffen, um dem britischen Militär das Entern des Schiffes zu erschweren: Die Zugänge zum Schiff wurden mit Gittern ausgestattet, Holzbarrieren über Bord befestigt, Wurfgegenstände zur Verteidigung bereitgestellt: Konservendosen, Flaschen, Rohre, Stöcke und Kartoffeln. Yossi Harel stand ständig in Verbindung mit der Führung des Yischuw und der Haganah und wusste daher, dass man in Palästina von dem Flüchtlingsunternehmen Kenntnis hatte und ahnte, dass eine überaus bedenkliche Konfrontation zu erwarten war. Für die Briten war es zudem ein Leichtes, die Funksprüche abzuhören und sich auf die Situation einzustellen. Am 17. Juli wurde von der Führung des Yischuw – gegen den Einspruch von Yossi und anderen – autoritativ durchgesetzt, dass die President Warfield in Haganah Ship Exodus 1947 umzubenen113
Kaniuk, S. 195-199.
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nen sei: In Anlehnung an den Auszug aus dem Sklavenhaus Mizrajim, d. i. Ägypten, wie er im biblischen Buch Exodus, dem 2. Buch Mose, beschrieben wird, hieß das Schiff fortan „Exodus from Europe 1947“ und gelangte in abgekürzter Form als Symbol des jüdischen Überlebens- und Widerstandswillens ins Bewusstsein der Weltöffentlichkeit. Mit der feierlichen Umbenennung wurde die Flagge von Honduras eingeholt und die weißblaue mit dem Davidsstern – die spätere Nationalflagge Israels – gehisst; per Funkübertragung konnte die Bevölkerung in Palästina die Zeremonie im Radio verfolgen und die Rede des protestantischen amerikanischen Pastors John Grauel an die Mitglieder des UNSCOP114, die gerade in Haifa tagten, mit anhören. Yoram Kaniuk schildert ausführlich, was in der Nacht zum 18. Juli geschah und was hier nur in geraffter Form wiedergegeben werden kann. Die Funksprüche konnten, verstärkt durch die Sendestation der Haganah, an allen Radiogeräten im ganzen Land empfangen werden. AUSZUG III Für die Dauer der Sendung kam an diesem 18. Juli 1947 der Verkehr in Tel Aviv und allen anderen Städten im Land, in den Kibbuzim und Moshawim zum Erliegen. Das Volk Israel lauschte Yossi. An jenem Freitag, weit außerhalb der palästinensischen Hoheitsgewässer, näherte sich einer der Zerstörer der nach Norden laufenden Exodus, tauchte das Schiff in gleißendes Scheinwerferlicht und gab Anweisung, die Maschinen zu stoppen. Wie vorgesehen flüchteten sich die Menschen unter Deck. Jeder an Bord wusste nach zahlreichen Übungen, wo sein Platz war und welche Aufgabe ihm zufiel. Sie stoppten nicht. Im Gegenteil. Die Matrosen warfen das Steuer herum und lenkten das Schiff zurück aufs offene Meer. […] Als der Enterbefehl board now erging, schoss einer der Zerstörer plötzlich vor und kam 114
United Nations Special Committee on Palestine: Sonderausschuss, den eine außerordentliche Vollversammlung der Vereinten Nationen am 15. Mai 1947 eingesetzt hatte. 177
längsseits. Mithilfe von Seilen und Enterleitern versuchten die Marineinfanteristen, die Exodus zu überrumpeln, auf die Kommandobrücke zu gelangen und das Schiff so unter ihre Kontrolle zu bringen. […] Fünf Zerstörer der C-Klasse und ein Kreuzer, allesamt Kriegsschiffe modernster Bauart und gerade erst in Dienst gestellt, umkreisten und rammten mit voller Kraft einen maroden Seelenverkäufer. Das Schiff erbebte, Paneele fielen herab, Kombüsen brachen auseinander, mehrstöckige Pritschen stürzten ein, Menschen kauerten dicht gedrängt in den Ecken, und die Marinesoldaten Seiner Majestät unternahmen einen Enterversuch nach dem anderen. […] Die drei Engländer, die als erste bis auf die Kommandobrücke vorgedrungen waren, wurden allerdings dort eingeschlossen und von jungen Leuten, die darauf trainiert worden waren, mit Schrauben, Konservenbüchsen und faulen Kartoffeln bombardiert. Die frische Luft an Deck verlieh ihnen Mut. Sie sahen den Himmel. Die Exodus stampfte weiter Richtung Norden. […] Ike wechselte schnell zum Behelfsruder im Heck des Schiffes, setzte die Hydraulik des Hauptruders außer Kraft und steuerte von dort aus die Exodus. […] Das Schiff taumelte. Die Rammversuche nahmen kein Ende. […] Die Exodus verlor zunehmend an Fahrt. Die Rammstöße hinterließen ihre Spuren. Noch immer wechselten sich die Zerstörer ab, einer rammte, während der andere abdrehte. Dabei unternahmen die Marineinfanteristen erneute Versuche, das Schiff zu entern, und sprangen von Plattformen, die an Drehkränen frei in der Luft hingen, auf die Decks der Exodus. Die meisten dieser Angriffe konnten abgewehrt werden. Wer nicht auf sein Schiff zurückgestoßen oder ins Meer geworfen wurde, wurde entwaffnet. [..] Über dem Maschinenraum wurden Netze gespannt, um das Eindringen von Gasgranaten zu verhindern. Mit Hilfe eines einfachen Armeekompasses änderte Ike den Kurs auf Nord-Ost. Er und Yossi wollten nun um jeden Preis die Küste mit voller Geschwindigkeit erreichen. Die Briten ließen sich nicht aus dem Konzept bringen. Inzwischen gab es bereits zahlreiche Verletzte auf der Exodus, und es herrschte allgemei-
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nes Durcheinander. Kinder wurden verwundet und stürzten, Öl ergoss sich über das Deck, und Menschen rutschten aus. Viele der Verletzten bluteten. Die hölzernen Außenbordwände des Schiffs begannen auseinanderzubrechen. Einige britische Soldaten gelangten aufs Oberdeck, außer sich vor Wut, dreckstarrend von Abfällen und rußigem Dampf, feuerten sie in alle Richtungen und droschen auf die jungen Kämpfer und die ihnen zur Hilfe eilenden Mädchen ein. Drei Stunden dauerte die Schlacht nun schon. Das Schiff schlingerte wie betrunken. Soldaten mussten sich übergeben. Wasser drang durch die zersplitterten Außenbordwände ins Schiff. […] Gegen fünf Uhr morgens suchten die Briten die Entscheidung. […] Von beiden Seiten des Schiffes rammten nun zwei Zerstörer gleichzeitig ihren Bug in die hölzernen Aufbauten der Exodus. Das Schiff erbebte und bekam Schlagseite. Einheiten von Marineinfanteristen nutzten die Situation und ließen sich zu Dutzenden wie Affen an Seilen von ihren prachtvollen Kriegsschiffen auf die Decks des alten Flussdampfers herab. Yossi gab Anweisung und die Exodus nahm mit Volldampf Kurs auf Haifa. […] Am Horizont tauchte Tel Aviv auf und dahinter Netanya. Die Schlacht befand sich auf ihrem Höhepunkt. Einige schrien, man solle eine Neunziggradwende machen und auf die Küste zuhalten. Doch Yossi hatte bereits begriffen, dass nicht die Palmach, sondern Tausende britischer Soldaten die Exodus am Ufer erwarteten. […] Yossi Harel kämpfte also an zwei Fronten: Gegen einige seiner eigenen Kameraden unter der Besatzung, die weiterkämpfen wollten, egal, wie groß die Zahl der Opfer wäre. Und gegen die Briten, deren Druck sich zusehends verstärkte, die scharf schossen und Gasgranaten schleuderten, das Schiff enterten, zurückgeworfen wurden und erneut enterten.115 Während der Kämpfe gab es zahlreiche Verletzte – verschiedene Berichte und Quellen nennen 146 oder über 200 – und auch vier Todesopfer zu beklagen: Einen britischen Marineinfanteristen und auf der Seite der Exodus den Bootsmann William Bernstein, den Flüchtling Mordechai 115
Kaniuk S. 209-216. 179
Boimsteing und den 15jährigen Zwi Jakubowitz. Nachdem der leitende Schiffsarzt Yehoshua Cohen Yossi gegenüber erklärt hatte, dass viele Verletzte sterben würden, wenn sie kein Plasma für Bluttransfusionen bekämen, gab Yossi den Befehl, die Maschinen zu stoppen, nahm Kontakt mit dem Flottenkommandeur auf und bat um ausreichende Plasmakonserven. Wenig später traf ein britischer Arzt mit dem Verlangten ein und versorgte die verletzten Flüchtlinge. Unter der `fürsorglichen Belagerung´ der Kriegsschiffe lief bald darauf die Exodus gegen 16 Uhr in den Hafen von Haifa ein, erwartet von mehreren Tausend Juden, die durch den Rundfunk informiert und mobilisiert worden waren und die HaTikwa, die spätere Nationalhymne Israels, anstimmten. Es darf nicht unterschlagen werden, dass Yossi Harel scharf von der Führung der Palmach, vor allem von deren Befehlshaber Yigal Alon kritisiert wurde, weil er sich in ihrer Sicht unverhältnismäßig nachgiebig den Briten gegenüber verhalten hätte – das Motto Alons war: „Ungeachtet aller Verluste muss Widerstand geleistet werden.“ Den Scharfmachern hielt Yossi bei jeder Gelegenheit entgegen, sein Befehl habe nicht gelautet, ein Schiff voller Leichen in Eretz Israel anzulanden. […] Später, im Zuge der durchgeführten Untersuchungen, stellte Yossi unmissverständlich klar: „Meine Überlegung war ganz einfach. Widerstand – ja. Und wir haben Widerstand geleistet. Ich habe den Befehl über das Schiff übernommen, um Überlebende nach Eretz Israel zu bringen, und nicht, um Flüchtlinge zu Kämpfern zu machen, geschweige denn, um Verwundete, die die Shoah überlebt haben, auf dem Weg von Netanya nach Haifa an Bord sterben zu lassen. Es wäre sinnlos gewesen, das Leben dieser Menschen für etwas zu riskieren, das wir bereits bewiesen hatten: Der Widerstand lag im bloßen Auszug aus Europa und dem physischen Aufbegehren an Bord der Exodus.116 Yossi Harel, der sich mit einigen Kameraden auf der Exodus versteckt hatte, konnte am nächsten Tag, als schon keine Flüchtlinge mehr an 116
Kaniuk S. 220.
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Bord waren, das Schiff unbemerkt verlassen und eine neue Aufgabe übernehmen: die Überführung der beiden größten Schiffe in der Geschichte der illegalen Einwanderung – der Pan York und der Pan Crescent – mit insgesamt 15 236 Menschen durch das Meer. Pöppendorf statt Palästina117 Das Elend der Flüchtlinge war jedoch nicht vorbei. Vor ihren Augen Eretz Israel, das `Gelobte Land´, Sehnsuchtsort vieler Jahrhunderte, altneue Heimat, altneue Verheißung, das Versprechen einer Erlösung von Verfolgung und Vergewaltigung, Demütigung und Entmündigung – vor ihren Augen Haifa und der Karmel, wo in uralter Zeit Eliah die Priester und Propheten des Baal niederwarf und Gott den erlösenden 117
So der Titel einer Ausstellung, die von fünf Schülern der Geschwister-Prenski-Schule in Lübeck erarbeitet wurde. Die Bilder und Texte dieser ausgezeichneten und informativen Ausstellung sind dokumentiert in: Jan Henrik Fahlbusch, Sarah Haake, Felix Hurlin, Paul Kononow, Lars Krobitsch (Hrsg.), Pöppendorf statt Palästina. Zwangsaufenthalt der Passagiere der „Exodus 1947“ in Lübeck, Hamburg 1999. Die Ausstellungsdokumentation bietet eine große Anzahl von Fotos sowohl von der Exodus als auch von dem erzwungenen Aufenthalt in Pöppendorf. Die Anzahl der ExodusFlüchtlinge wird mit 4554 angegeben, die sich auch in der einen und anderen Quelle findet. Die Mehrheit der Zeugnisse allerdings stimmt mit der bei Kaniuk angegebenen Personenzahl überein. Eine Fotoserie bietet auch Gerhard Paul, Zwischenstation auf ihrer Odyssee nach Palästina. Die Internierung der jüdischen `Exodus´Flüchtlinge in den Lagern `Pöppendorf´ und `Am Stau´ bei Lübeck 1947, in: Menora und Hakenkreuz. Zur Geschichte der Juden in und aus Schleswig-Holstein, Lübeck und Altona 1918-1998, hrsg. von Gerhard Paul/Miriam Gillis-Carlebach, Neumünster 1998, S. 673-678. Von Gerhard Paul stammt im gleichen Band – neben manch anderen – auch der Aufsatz: „We have been liberated but we are not free.“ Jüdische `Displaced Persons´ und andere Holocaust-Überlebende (1945-1951), S. 657-672. 181
Regen auf die Felder rauschen ließ – dies vor Augen und im Kopf löste sich die Hoffnung, die HaTikwa auf und verwandelte sich in Enttäuschung, Trauer, Resignation, Wut, Verzweiflung. Denn nur die 28 verletzten Juden wurden in Krankenhäuser in Haifa gebracht, die anderen 4.500 Flüchtlinge wurden direkt von der Exodus in die drei bereitliegenden Deportationsschiffe Ocean Vigour, Empire Rival und Runnymede Park gezwungen. In panischer Angst sprangen Menschen ins Meer. Von Polizeibooten aus, die die Exodus umkreisten, schlugen die Briten mit Knüppeln nach den Flüchtlingen. […] Die Briten konzentrierten sich jetzt darauf, die Flüchtlinge auf die Deportationsschiffe zu bringen, trieben sie vor sich her. Frauen, Kinder, Männer, alle schrien. Doch vergebens. Ohne Erbarmen holte man die Menschen von der Exodus, [..] trieb sie wie Vieh zwischen zwei Reihen britischer Soldaten mit aufgepflanztem Bajonett hindurch. Und das alles unter den Augen der UNSCOP-Delegation, die durch einen Funkspruch der Exodus in den Hafen von Haifa bestellt worden war, um das Schiff zu besichtigen.118 Und was riefen die Soldaten, während sie die Juden zu den drei Schiffen trieben?: `HEP, HEP, HEP´ riefen, schrien, brüllten sie. „Hep, hep, hep, haben fast zweitausend Jahre zuvor schon die Römer gerufen, als sie Jerusalem erstürmten und den Tempel niederbrannten. Hierosolyma est perdita. Jerusalem ist verloren. Das kürzten sie ab zu HEP, HEP, HEP. Seither ist es der antisemitische Schlachtruf der Judenverfolger. In Worms, in Kiew, in Warschau: Wenn die Juden um ihr Leben rennen müssen, hören sie hinter sich hep, hep, hep. Nun hören sie es in Haifa. Die Überlebenden der Konzentrationslager. In Palästina, im gelobten Land, in ihrer biblischen Heimat.“119 Doch nicht in die Lager auf Zypern, wo schon seit Jahren die Masse der illegalen Flüchtlinge untergebracht war, wurden die Exodus-Passagiere transportiert, sondern zurück in den Ausfahrtshafen in Frankreich, wo 118 119
Kaniuk S. 221f. Schwarberg, S. 74f (s. Anm. 106).
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sie am 29. Juli eintrafen. Damit wollte Bevin der französischen Regierung, die die Exodus hatte auslaufen lassen, eine Lektion erteilen, zugleich sollten aber auch, wie später zugegeben wurde, Zusagen gegenüber den Arabern eingehalten werden. Nur 74 entkräftete Flüchtlinge nahmen das Asylangebot der französischen Regierung an, alle anderen weigerten sich, die Schiffe zu verlassen und nahmen die menschenunwürdigen Zustände an Bord in Kauf. Auf der Empire Rival und den beiden anderen Deportationsschiffen sangen und randalierten die geprügelten Menschen. Die fluchenden Soldaten wagten sich nur noch mit entsicherter Waffe zu den Juden. […] Unterernährt, krank und von Wut und Rachegelüsten erfüllt vegetierten die Menschen in den schwimmenden Konzentrationslagern die meiste Zeit dahin, litten vor der französischen Küste tief im Innern der Schiffe unter der glühenden Hitze des Sommers. In einer für niemanden vorstellbaren Aktion […] wurden die Flüchtlinge auf Anordnung Bevins nach Deutschland geschafft und nach erbittertem, mehrere Tage währenden Widerstand im Hafen von Hamburg von Bord gebracht. Doch das Schlimmste wartete noch auf sie: Nach monatelanger Irrfahrt unter unerträglichen Bedingungen, hin- und hergerissen zwischen Hoffnung und Verzweiflung, sahen sich die unglücklichen, völlig erschöpften Flüchtlinge erneut deutschen Polizisten mit Schlagstöcken und Schusswaffen ausgeliefert.120 Es war nicht allein die Fahrt der Exodus, sondern auch und vor allem die anschließende Deportation der Flüchtlinge nach Deutschland, was zur weltweiten Berichterstattung und Empörung über die britische Politik führte. Nach langen und qualvollen Wochen der Überfahrt und des Aufenthaltes vor der französischen Küste wurden vom 8. bis zum 10. September 1947 die Überlebenden der Shoah vor den Augen einer internationalen Presse in Hamburg von Deck gebracht und in die Lager `Pöppendorf´ und `Am Stau´ bei Lübeck transportiert. 120
Kaniuk S. 227. 183
„Bereits knapp drei Wochen vor der Ankunft der Exodus-Passagiere begannen die Vorbereitungen für die Aufnahme in den Lagern. Am 19. August werden die lokalen britischen Militärbehörden in Lübeck von ihrem Hauptquartier über die zu erwartende Unterbringung der jüdischen Menschen […] informiert und mit der Koordination der Vorbereitungen beauftragt. Zwei Tage später errichten englische Pioniere zusammen mit mehreren hundert jugoslawischen Displaced Persons um die Lager Pöppendorf und Am Stau einen zwei Meter hohen und vier Meter breiten Stacheldrahtzaun. […] Während um die Lager Wachtürme mit Scheinwerfern errichtet und neben den Baracken und Nissenhütten über 125 Zelte aufgebaut werden, müssen die bisherigen Bewohner das Lager verlassen.“121 In den beiden letzten Nummern der jiddischen Zeitschrift `UNZER SZTYME´ sind einige Berichte über die Exodus und die Lage in Pöppendorf nachzulesen. Die Zeitschrift mit dem Untertitel `Jiddische Quellen zur Geschichte der jüdischen Gemeinden in der Britischen Zone 1945-1947´ erschien zum ersten Mal, noch handschriftlich verfasst, am 12. Juli 1945 nach der Befreiung des Lagers Bergen-Belsen122 bei Celle, ein einzigartiges Unternehmen von zunächst drei Juden polnischer Herkunft. Die Adressaten der insgesamt 24 Nummern bis zum 30. Oktober 1947 waren jiddisch sprechende Überlebende aus deutschen Konzentrationslagern, die in Norddeutschland untergebracht waren. Politisches Ziel der Publikation war, die Auswanderung nach Palästina und nur nach Palästina zu befördern. Die Berichte bezogen sich zumeist auf die Situation in den verschiedenen jüdischen Gemeinden und Lagern mit DPs, 121
Pöppendorf statt Palästina, S. 56 (s. Anm. 117). „In der britischen Zone entwickelte sich das Lager Bergen-Belsen D. P. Hohne Camp zum Zentrum jüdischen Lebens. In dieses Lager waren die befreiten Häftlinge des in der Nähe gelegenen KZs Bergen-Belsen gebracht worden. Ein größeres DP-Lager mit anfänglich über 600 jüdischen DPs gab es auch an der schleswig-holsteinischen Ostseeküste in Neustadt in Holstein.“ Pöppendorf statt Palästina, S. 28 (s. Anm. 117). 122
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auf die Lebensverhältnisse in Heimen mit jüdischen Kindern sowie auf Schändungen jüdischer Friedhöfe, Beschädigungen von Synagogen und antijüdische Hetze.123 Im Heft 23 vom 14. September 47 war folgendes zu lesen: Seit Wochen waren Gerüchte im Umlauf, dass die englische Regierung sich doch für die unmenschliche Aktion entschieden hatte, die gestrandeten Einwanderer nach Deutschland zurückzuschicken. Diese brutale Aktion rief in der ganzen jüdischen Bevölkerung die größte Empörung hervor. Noch mehr wuchs die Aufregung an, als die Vorbereitung zur Räumung der Schiffe wie auch die Bedingungen, unter denen die Flüchtlinge in den zwei Lagern bei Lübeck untergebracht werden sollen, bekannt wurden. Auf der Pressekonferenz, die am 4. September d. J. in Hamburg durch die Engländer einberufen wurde, gaben die Regionalkommandanten Beri und Bischof wie auch andere hochrangige englische Militärpersonen folgende Erklärung ab: Die Ankunft der Schiffe wird im Laufe der Nacht oder für den morgigen Vormittag erwartet. Laut eines früher beschlossenen Planes wird die Räumung am Sonntag um 6 Uhr beginnen. Das bedeutet: Man wird die Flüchtlinge mit Megaphonen in verschiedenen Sprachen auffordern, ruhig und friedlich die Schiffe zu verlassen. Sollte die erwähnte Aufforderung nicht befolgt werden, wird eine Zwangsaktion mit Tränengas und Wasser durchgeführt werden. Für die Aktion in Hamburg sind 1400 Soldaten mobilisiert worden. Gewehre wird man nur dann benutzen, wenn englisches Leben bedroht sein sollte. Beim Verlassen der Schiffe wird man die Flüchtlinge nach Waffen 123
UNZER SZTYME - Jiddische Quellen zur Geschichte der jüdischen Gemeinden in der Britischen Zone 1945-1947. Übersetzt und bearbeitet von Hildegard Harck unter Mitwirkung von Andreas Brämer, Ole Harck, Ina Lorenz, Gerda Steinfeld und Nicholas Yantien. Herausgegeben von der Landeszentrale für politische Bildung Schleswig-Holstein in Kooperation mit dem Institut für die Geschichte der deutschen Juden, Kiel 2004. 185
durchsuchen. Die Flüchtlinge werden in Holzbaracken – eine Anzahl von 750 Mann aber in Zelten – untergebracht. In den Küchen und den Baracken werden bis zu 200 Deutsche unter der Aufsicht von Engländern arbeiten. Das englische Militär wird die Lager 2 Wochen lang bewachen. Diese Zeit wird man für die Befragung der Flüchtlinge benötigen. […]124 Das Zentralkomitee der Juden in der Britischen Zone mit den Vorsitzenden Josef Rosensaft und Norbert Wollheim lud ebenfalls am 4. September zu einer Pressekonferenz ein, an der die in Hamburg akkreditierten ausländischen und deutschen Journalisten beteiligt waren. Dabei wurde – wie im soeben zitierten Artikel weiter beschrieben wird – von der zunehmenden Erregung unter den Juden berichtet, wurde der Protest gegen die britischen Maßnahmen artikuliert, wurden Bilder von den Lagern gezeigt: „Die Lager – erklärten die ZK-Vorsitzenden – würden sich überhaupt nicht von den schlimmsten Lagern des hitleristischen Deutschlands unterscheiden. Sie seien mit Stacheldraht eingezäunt, besäßen Wachtürme und bewaffnete Soldaten.“125 Und der Artikel endet mit dem Hinweis auf die Protestversammlung, die am 7. September auf dem `Freiheitsplatz´ in Belsen, an der auch Dr. Barou vom Jüdischen Weltkongress teilnahm, stattgefunden hatte, und schließt: „Am Dienstag126 um 5 Uhr in der Früh sind Hunderte von Juden von Belsen nach Hamburg gefahren, um im Hafen, am Ort der schändlichen Deportation unsere Schicksalsgemeinschaft mit den Flüchtlingen zu manifestieren. Die Demonstration wurde durch die englische und deutsche Polizei aufgelöst.“127 124
UNZER SZTYME, Heft 23, S. 115. UNZER SZTYME, Heft 23, S. 116. 126 D. h. am 9. September. 127 UNZER SZTYME, Heft 23, S. 117. Zur Demonstration am 7. 9. schreibt Günther Schwarberg: „In diesem Ort Bergen-Belsen versammeln sich am 7. September 1947, einem Sonntag, fünftausend Menschen auf dem `Platz der Freiheit´. Das war früher einmal der Platz der Unfreiheit gewesen, ein Appellplatz zwischen den Wohnblocks der 125
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Über die Entladung der drangsalierten Juden im Hamburger Hafen am 8. und 9. September, zu der die Briten keine Fotographen zugelassen hatten, berichteten etwa die `Lübecker Nachrichten´ am 10. September unter den Überschriften „Exodus-Juden in Lübeck. Schwere Unruhen während der Ausschiffung – Britische Truppen mit Wasser und Knüppeln – Verzweifelter Widerstand gebrochen“.128 Die Berichterstattung ist noch zurückhaltend formuliert, da die deutsche Presse britischer Kontrolle unterliegt – so ist auch nichts davon zu lesen, dass während der Entladung englische Soldaten wie in Haifa den antisemitischen Schlachtruf `Hep, hep, hep´ brüllten. Die Zugfahrt mit den Deportierten nach Lübeck-Kücknitz, in die Lager Pöppendorf und Am Stau verlief nicht ohne Verletzungen und endete mit einem von Soldaten bewachten Gang der Flüchtlinge zwischen zwei Stacheldrahtreihen wieder in ein Lager.129 Im letzten, 24. Heft vom 30. Oktober 47 wird in UNZER SZTYME eine Erklärung der Exodus-Flüchtlinge abgedruckt, die folgenden Inhalt hat: Montag, den 13. Oktober, fand [im Gebäude] der Lagerleitung von Pöppendorf eine Pressekonferenz statt, auf der die Presse über die Lage KZ-Wächter. Die Menschenmenge dampft vor Wut über die Engländer. An einem Galgen hängt eine Puppe aus Stroh. Auf der Brust ein Schild mit dem Namen des britischen Außenministers: `Bevin´. Die Redner flammen vor Protest: Jossel Rosensaft, der Leiter des Zentralkomitees der Befreiten Juden, spricht von einer Schande für England. […] Am Galgen geht die `Bevin´-Puppe in Flammen auf.“ Schwarberg, S. 103f. (s. Anm. 106). 128 Im Text heißt es: „Die Flüchtlinge werden mit Gewehren heraus getrieben, und bei manchen ist eine ganze Reihe britischer Soldaten nötig, um sie von Bord zu bringen. Schreie ertönen, man sieht an den Köpfen Spuren von Hieben. Auch Frauen müssen mit Gewalt an Deck gebracht werden, selbst Jugendliche haben verweinte und verquollene Gesichter. Die Stimmung ist verzweifelt und auch bei uns bedrückt. Man sieht Bilder, die man nicht sehen möchte.“ 129 Ausführlich dazu und zur Presseberichterstattung Schwarberg, S. 107-115 (s. Anm. 106), und `Pöppendorf statt Palästina´, S. 64f. (s. Anm. 117). 187
und die Forderungen der illegalen Einwanderer informiert wurde. Dabei wurde den Journalisten im Namen aller illegalen Einwanderer folgende Deklaration übergeben: Die illegalen Einwanderer der „Exodus“, die mit Gewalt nach Deutschland verschleppt worden sind, verkörpern eine eigene neue Kategorie verfolgter Menschen. Wir können sie einfach als DPs bezeichnen, aber mit einem kleinen Unterschied: Bis heute hat man die Welt mit den Personen konfrontiert, die durch Deutschland verschleppt wurden, jetzt ist eine neue Kategorie hinzugekommen – nämlich die durch England verschleppten Personen. Wir meinen, dass die ganze Welt die einzig mögliche menschliche Lösung [des Problems] mit den neuen jüdischen DPs genau wie mit den übrigen jüdischen DPs und Heimatlosen kennt [:] Erez Israel. Wenn man die Empfehlungen der UNO-Kommission130 in Bezug auf Erez Israel in Betracht zieht, wird die Angelegenheit noch klarer und verständlicher. Anders denken aber die offiziellen englischen Politiker. Jeder Plan, den sie vorlegen, und jede ihrer Handlungen hat ein einziges Ziel – die Eintracht des Exodus zu zerstören, sie – [die Juden] – von Erez Israel fernzuhalten und wenn möglich, den nicht gewünschten und unerfreulichen Ballast einfach loszuwerden. […] Jetzt hat man uns angeblich die Freiheit geschenkt. Vor kurzem ist die Bewachung eingestellt worden. Das hat man nur getan, um die öffentliche Meinung in der Welt zu täuschen, denn unsere tatsächliche Lage hat sich dadurch nicht verändert. Erstens kann keiner [aus dem Lager] hinausgehen, ohne Gefahr zu laufen, von der deutschen Polizei verhaftet zu werden. Und zweitens – macht es keinen Unterschied, ob das Gefängnis Pöppendorf oder Am Stau heißt oder morgen ganz Deutschland sein wird. Keiner kann uns die Freiheit auf deutschem Boden geben. Deutschland bedeutet für uns unter allen Umständen – Versklavung. […] 130
Im August 47 hatte der von der UN-Vollversammlung beauftragte Ausschuss einen ersten Teilungsplan für Palästina vorgelegt. 188
Bis heute haben sich die illegalen Einwanderer in dem Glauben und der Hoffnung, dass die Engländer noch zu der richtigen Erkenntnis gelangen werden, ruhig verhalten. Vielleicht können wir doch an ihr menschliches Gewissen appellieren. Wir wissen nicht, ob es möglich sein wird, eine Reaktion der in Zorn geratenen Gepeinigten und Leidenden zu verhindern, wenn sich die Lage nicht ändern sollte. Der Winter nähert sich. Die Wohn- und Lebensbedingungen sind kaum für eine kurze Übergangszeit von zehn bis fünfzehn Tagen zu ertragen. Es ist aber unter jeder Kritik, wenn Menschen gezwungen werden – besonders angesichts des kommenden Winters – unter diesen Umständen eine längere Zeit zu leben. Und wieder tragen diejenigen die Verantwortung, die uns hierher gebracht haben. Es wäre auch kein Wunder gewesen, wenn die Welt, angesichts des tragischen Schicksals der 4.500 jüdischen Hitler-Opfer, die abermals Opfer von Verrat und Heuchelei auf dem Wege in ihre Heimat geworden sind, ruhig geblieben wäre. Doch es ist anders verlaufen. Die Welt ist der Länge und der Breite nach wachgerüttelt worden und wir meinen, dass das nicht die Sensation der Sache bewirkt hat, sondern dass nur das Menschliche, die Lauterkeit und die Gerechtigkeit unserer Sache das ganze verstreut lebende jüdische Volk auf die Beine gebracht hat. Es hat die französischen Massen, die Öffentlichkeit in Amerika und in allen europäischen Ländern erschaudern lassen. – Und doch ist kein Wunder geschehen. Es zeigt sich, dass das Menschliche für die englische Politik nur wenig zählt, sogar wenn es durch Länder und Kontinente zur Sprache kommt. Für sie gelten andere Maßstäbe. Das ist ein Armutszeugnis nicht nur für England. Die „Exodus“ ist nicht nur ein Symbol des jüdischen Leidens und ein Ausdruck unseres starken Überlebenswillens. Sie ist auch ein Symbol des allgemeinen Verfalls und der moralischen Schwäche der ganzen progressiven Welt. Wir stehen nicht mehr in den ersten Spalten der Zeitungen, wir sind keine Sensation mehr. Aber all das Menschliche ist in Pöppendorf und Am
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Stau noch eine offene Wunde, die noch die Aufmerksamkeit der Welt – um ihrer eigenen Rehabilitierung willen – verdient. Wir wenden uns mit unserem Appell an die Welt und an die UNO – b e e n d e t u n s e r L e i d e n !!!131 Erst nach einigen Wochen konnte der Yischuw in Verbindung mit dem international zunehmenden politischen und medialen Druck erreichen, dass die Briten beide Lager räumten und die Internierten vom 2. bis zum 5. November nach Ostfriesland verbrachten. Die 2342 Personen aus Pöppendorf werden in ehemaligen Kasernen in Emden und die Flüchtlinge aus dem Lager `Am Stau´ ebenfalls in geräumten Militärgebäuden in Sengwarden bei Wilhelmshaven untergebracht.132 Von dort aus ver131
UNZER SZTYME, Heft 24, S. 123-125. Über die Verhältnisse und das drangvolle Leben in den beiden Lagern berichtet, versehen mit Aussagen jüdischen `Bewohner´ die Ausstellungsdokumentation `Pöppendorf statt Palästina´ (s. Anm. 117) auf den Seiten 60-73. Auf den legendären Dolmetscher und für Kontakte außerordentlich wichtigen, mit Chuzpe agierenden polnischen Juden Benjamin Gruszka, genannt `Bolek´ verweist prononciert Günther Schwarberg (s. Anm.106) auf den Seiten 116- 126, gefolgt von dem Lebensbericht von Bolek selbst S. 126-131. Bolek, geboren 1925 in Warschau, arbeitete für die Brycha, die jüdische Fluchtorganisation, lebte noch bis 2012 in Lübeck und lebt heute in Netanja in Israel. Über ihn wird man bestens belehrt durch Gerhard Paul, „Ich bin ja hier nur hängengeblieben.“ Wie Benjamin Gruszka alias `Bolek´ von Warschau nach Lübeck kam, dort heimisch wurde und es im hohen Alter wieder verließ, in: Rainer Hering (Hrsg.), Die „Reichskristallnacht“ in Schleswig-Holstein. Das Novemberpogrom im historischen Kontext. (Veröffentlichungen des Landesarchivs Schleswig-Holstein, Band 109), Hamburg 2016, S. 279-293. 132 „Die Einwanderungsbeschränkungen werden infolgedessen aufgehoben. Mitte Juli 1948 wird das Emdener Lager nach fast achtmonatiger Belegung geräumt. Die noch in Emden weilenden Flüchtlinge werden in andere Lager überführt, von wo aus sie die Reise nach Palästina antreten. Frauen und Kranke werden in das DP-Lager Belsen-Hohne gebracht. Auch das Lager in Sengwarden wird in jenen Tagen geräumt. Mit Lastkraftwagen fahren etwa 500 Juden zum Lager Belsen-Hohne, 190
lassen viele, mit legalen oder auch gefälschten Papieren das Land der Täter und Mörder und versuchen, eine neue Existenz, bei Bekannten in den USA und anderen europäischen Ländern, vor allem aber in Eretz Israel aufzubauen und somit in einem Staat leben zu können, der von Juden errichtet für Juden steht und einsteht – denn die Geschichte der Exodus und die zynische Politik der Briten gegenüber den jüdischen Menschen beschleunigte den denkwürdigen Beschluss der UN am 29. November 1947, der es ermöglichte, dass die Mandatsherrschaft der Briten in Palästina ein unrühmliches und früheres Ende als vorgesehen finden und David Ben Gurion am 14. Mai 1948 die Gründung des Staates Israel vor aller Welt ausrufen konnte.133 von wo aus sie mit der Bahn am 15. August in Marseille eintreffen. Dort treten die einstigen Passagiere der Exodus 1947 erneut die Überfahrt in das Land ihrer Hoffnungen an.“ Zit. nach Pöppendorf statt Palästina, S. 80 (vgl. Anm. 117). 133 Und die Exodus – was geschah mit dem verlassenen Schiff? Es blieb im Hafen von Haifa liegen, auch nach der Unabhängigkeitserklärung und dem sofort ausbrechenden Kampf um die Unabhängigkeit im Krieg mit den angreifenden Truppen der umliegenden arabischen Staaten. Eine 1950 in Gang gesetzte Restaurierung der Exodus wurde durch ein Feuer beendet, das das Schiff bis auf die Wasserlinie ausbrannte und dessen Ursache nie geklärt werden konnte. Man versenkte das Wrack nördlich der Mündung des Kischon, versuchte aber, den Rumpf 1964 zu heben, wobei er in zwei Teile auseinander brach und erneut versank. Ein weiterer Versuch der `Rettung´ schlug fehlt und dreißig Jahre lang waren unter Wasser ruhende Schiffsreste zu sehen. Später, nach 2000, wurden die Wrackteile aufgrund der Erweiterung des Hafens von Haifa überbaut. Anstelle der Exodus wurde ein anderes Schiff zum Kernstück des 1969 in Haifa eröffneten `Museums der illegalen Einwanderung´: das 1946 vom Mossad le Alija Beth erworbene und als `Farida´ registrierte Schiff, das als erstes nach der Exodus im September 1947 mit 434 jüdischen Flüchtlingen Palästina ansteuerte und deshalb die Bezeichnung `Af-Al-Pi-Chen´, auf Deutsch: `Trotzdem´ erhielt. Die Briten griffen auch dieses Schiff an und verschleppten die Juden in die Lager auf Zypern. Die `Trotzdem´ kam zu den anderen beschlagnahmten 191
Seit 1995 erinnert an den St. Pauli-Landungsbrücken in Hamburg am Eingang der Brücke 3 eine Gedenktafel an das Schicksal der jüdischen Flüchtlinge der Exodus: „Im Sommer 1947 versuchten über 4500 jüdische HolocaustÜberlebende von Frankreich aus mit dem Haganah-Schiff `Exodus´ in das damalige britische Mandatsgebiet Palästina zu gelangen. In internationalen Gewässern vor der Küste von Haifa wurde das Schiff von britischen Kriegsschiffen gerammt und nach schweren Kämpfen an Bord in den Hafen von Haifa geschleppt. Die Briten brachten die Flüchtlinge gewaltsam auf drei Schiffe und schickten sie nach Frankreich zurück. Dort weigerten sie sich, von Bord zu gehen. Auf Befehl der britischen Regierung fuhren die Schiffe weiter nach Hamburg, von wo die Menschen gegen ihren Willen zwischen dem 8. und 10. September 1947 von der britischen Besatzungsmacht in zwei Lagern bei Lübeck interniert wurden. `Exodus 1947´ weckte die Welt auf und war ein Anstoß zur U. N. Abstimmung, die zur Gründung des Staates Israel führte.“ Die evangelische Kirche stand abseits Die Presseorgane und veröffentlichte Meinung – die im Bereich der Besatzungszone in Norddeutschland unter britischer Aufsicht standen, hatten nach den Aufsehen erregenden Tagen der Ankunft der ExodusFlüchtlinge rasch anderes zu berichten und kaum einen Blick mehr für das Schicksal der Juden in den beiden Lagern.134 Die Trümmer und MüFlüchtlingsschiffen im Hafen von Haifa und konnte generalüberholt noch bis 1959 im Dienst der Israel Navy eingesetzt werden. 134 In seinem Grußwort zur Ausstellung `Pöppendorf statt Palästina´ (s. Anm. 117) schreibt S. 9 der Bürgermeister der Hansestadt Lübeck, Michael Bouteiller: „Es hätte doch die Möglichkeit bestanden, sich ihnen freundlich zuzuwenden. Ihnen in ihrer schwierigen Lage zu helfen. Sich durch eigenes Verhalten zu entschuldigen. Um Vergebung zu bitten für das, was wir ihnen Jahre zuvor angetan hatten. Aber all 192
hen des Wiederaufbaus und die Schicksale der nach Westdeutschland, in die Besatzungszonen der Amerikaner und Briten strömenden deutschen Flüchtlinge aus dem Osten verlangten alle Aufmerksamkeit. Gleicherweise sahen sich auch die evangelisch-lutherischen Landeskirchen in Lübeck, Schleswig-Holstein und Hamburg vor riesige Herausforderungen gestellt: Es galt, die Flüchtlinge aus dem Osten, die zumeist evangelischen Bekenntnisses waren, eben nicht nur sozial und materiell, sondern auch geistlich zu integrieren. Im Vergleich mit den anderen Bundesländern im Westen hatte gerade Schleswig-Holstein eine überproportional hohe `Einwanderungsquote´ zu verkraften – die Einwohnerzahl hatte sich für eine wenn auch absehbare Zeit um mehr als 70% erhöht. Man darf sich zudem nicht wundern, dass gerade die Situation der Juden im Bewusstsein der Kirchenrepräsentanten und Kirchenmitglieder keine Rolle spielte – nicht nur wegen der geringen Anzahl der jüdischen Menschen, sondern auch wegen der jahrhundertelangen antijüdisch geprägten Tradition in Theologie und Kirche, durch die schließlich auch ein Nährboden geschaffen war zur Durchsetzung antisemitischer Politik und Barbarei der NS-Terrorherrschaft. Verdrängung der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik gegenüber den Juden in Europa war bei der Wiederaufbauarbeit angesagt. Kritische Selbstbesinnung hätte dabei nur stören können und die `Unfähigkeit zu trauern´ (Mitscherlich) in Frage stellen müssen. „Juden im Lager – immer noch oder schon wieder? Warum gibt’s sie überhaupt noch? Und warum wollen sie uns durch ihre bloße physische Existenz ein schlechtes Gewissen machen? Das können wir jetzt gerade nicht brauchen, das fehlt uns gerade noch. Wo es uns doch schon dreckig genug geht. Und wir zuerst auf das Eigene setzen müssen, wenn wir dieses geschah nicht. Die Lübecker haben weggesehen, wie schon die tausend Jahre zuvor. Man war vielmehr erleichtert darüber, dass die Lager `Am Stau´ und `Pöppendorf´ weit außerhalb der Stadt lagen. Das Elend hatte man nicht unmittelbar vor Augen. Da fiel das Wegsehen leichter.“ 193
durchkommen wollen. Drum, wenn schon, dann also ‚immer weg mit ihnen‘, denn ‚ertragen können wir sie nicht‘ – wie es schon Luther in seinen späten antijüdischen Schriften ausgedrückt hatte –, wir brauchen den Platz und haben ihn nötiger“: So oder ähnlich mögen die Menschen, die Christen in Lübeck und Schleswig-Holstein gedacht haben. Auch wenn sie es wohl kaum laut gesagt haben. Dafür zumindest spricht, dass es von Amts wegen, also von Seiten der Kirchenleitungen als auch von Seiten der Kirchengemeinden damals keine Reaktionen auf die Situation der Exodus-Flüchtlinge gab; keine Kundgebungen, Stellungnahmen, Meldungen, Voten, Berichte sind zu vermelden – jedenfalls sind bislang keine Dokumente aufgetaucht. Eine bemerkenswerte Notiz allerdings soll an dieser Stelle verzeichnet sein. Walter Jacob Theodor Auerbach (1882 – 1954), ein evangelischer Pastor jüdischer Herkunft, der 1935 aufgrund der Nürnberger Rassegesetze in den Ruhestand versetzt worden war und ab 1942 halb offiziell beauftragt wurde, die aus den Kirchen Schleswig-Holsteins und Lübecks ausgeschlossenen `nichtarischen Christen´ seelsorgerlich zu betreuen – Auerbach also erhielt 1945 den Auftrag, nunmehr offiziell und hauptamtlich als Seelsorger für Christen jüdischer Herkunft tätig zu werden. Daher wurde Auerbach gebeten, „sich mithilfe seines VerfolgtenAusweises Zutritt zum Internierungslager zu verschaffen, um Mission zu betreiben. Soweit ersichtlich war dieses Vorgehen vorrangig von ausländischen Judenmissionsvereinigungen initiiert.“135 Ob daraus etwas geworden ist? Am 13. Oktober 1947 schrieb Pastor Helmut Weber an Prof. Karl Heinrich Rengstorf: „Pastor Auerbach, mit dem ich gestern auf einer Veranstaltung eines `Freundeskreises rasseverfolgter Christen´ zusammen war, hat bis jetzt in der Frage, ob man in die Lager der Exodusflüchtlinge hineinkommen kann, aus Lübeck noch keine Antwort
135
Stephan Linck, Neue Anfänge? Der Umgang der Evangelischen Kirche mit der NS-Vergangenheit und ihr Verhältnis zum Judentum. Die Landeskirchen in Nordelbien, Band I, Kiel 2013, S. 192. 194
erhalten.“136 Man mag sich gar nicht vorstellen, was aus dem Ansinnen `um Mission zu betreiben´ geworden wäre, was die hin- und her gehetzten Juden in Pöppendorf und Am Stau, die nur weg, weg, weg von hier wollten, nach Eretz Israel, von einer solchen Begegnung, einer solchen `Vergegnung´ (Buber) hätten halten müssen. Lernprozesse dauern ihre Zeit, vor allem, wenn sie mit eingreifenden Erkenntnissen verbunden sind. Wenn auch spät, können wir doch dankbar sein, dass die 12. Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland auf ihrer 3. Tagung am 9. November 2016 – am Tag, als während der Reichspogromnacht 1938 nicht nur die Synagogen in Deutschland brannten – eine Erklärung verabschiedete, in der es heißt: „Wir bekräftigen: Die Erwählung der Kirche ist nicht an die Stelle der Erwählung des Volkes Israel getreten. Gott steht in Treue zu seinem Volk“; und daraus folgt nun eindeutig eine Absage an die Mission unter Juden: „Christen sind – ungeachtet ihrer Sendung in die Welt – nicht berufen, Israel den Weg zu Gott und seinem Heil zu weisen. Alle Bemühungen, Juden zum Religionswechsel zu bewegen, widersprechen dem Bekenntnis zur Treue Gottes und der Erwählung Israels.“ Diese Erklärung ist als klares Zeichen gegen die christliche Missionierung von Juden vom Zentralrat der Juden in Deutschland wahrgenommen, begrüßt und gewürdigt worden – gerade auch im Kontext `500 Jahre Reformation´, in dessen Vorfeld sich die EKD 2015 bereits in eindeutiger Weise von den antijüdischen Schriften und bösartigen Ausfällen Luthers distanziert hatte. Die `Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit´ (GCJZ) in Deutschland haben sich schon früher verschiedentlich von jedweder christlichen Mission unter Juden verabschiedet; so erklärte die GCJZ Hamburg 1995 die `Absage an die Judenmission´, der sich die GCJZ in Schleswig-Holstein im gleichen Jahr anschloss, damals noch verbunden mit der Forderung an die zuständige Landeskirche, „sich eindeutig neben die in unserer Mitte lebenden Juden und jüdischen Gemeinden zu stellen und öffentlich 136
Stephan Linck, Neue Anfänge?, S. 193, Anm. 599. 195
zu erklären, dass eine `Mission unter Israel´ mit dem christlichen Glauben nicht zu vereinbaren ist.“ Joachim Liß-Walther, Pastor emer. und Sozialwissenschaftler, ist evangelischer Vorsitzender der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit in Schleswig-Holstein e.V.
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Statt eines Nachwortes:
Was wäre, wenn der Geist wieder wehte? Friedemann Magaard Heute, am Pfingstmontag, durchfährt es mich. Ein Bild, in dem die Jahrhunderte verwischen. Und die Frage: Was wäre, wenn der Geist wieder wehte? Noch vor wenigen Wochen stand ich auf dem großen Platz vor der großen Hurva-Synagoge in Jerusalem. Wild wuselt es durcheinander, ein internationales und ein interreligiöses Potpourri. Jugendliche aus Argentinien von links, zwei Schulklassen von rechts, mehrere Familien dazwischen, die sich munter um ihre stolzen Jungen scharen, am Tag der Bar Mizwa. Die acht jungen Männer in Wanderklamotten erzählen, nachdem ich für sie das Gruppenfoto geknipst habe, dass sie jüdische Studenten aus Kalifornien sind. Wenige Meter entfernt haben sie an der Westmauer des alten Tempels gebetet, während über ihnen der Ruf des Muezzins aus der Al-Aqsa-Moschee auf dem Tempelberg erklang. Ein paar Schritte weiter schleppen christliche Pilger von den Philippinen ein Holzkreuz auf dem Leidensweg Jesu, der Via Dolorosa. Menschen aus aller Herren Länder. Und ich mitten drin: Arabisch, Englisch, Hebräisch, Spanisch, auch Deutsch – Wortfetzen höre ich, verstehen kann ich nichts, und freue mich dabei am prallen Leben, das ich nicht kapiere und doch genieße. Pfingsten. In der Bibel lese ich, wie bunt es damals, vor zweitausend Jahren, in Jerusalem zuging. Aus der ganzen antiken Welt rund um das Mittelmeer kommen Menschen nach Jerusalem, um Schawuot zu feiern, den ersten Ertrag der Ernte, und um zu erinnern, dass nach Gottes Weisung zu leben gute Früchte bringt. Und dazu reisen sie aus allen Him-
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melsrichtungen in die heilige Stadt. Ein Gewimmel und Gewirr an Sprachen, an Düften und Farben. Der Internationale Markt auf der Kieler Woche ist mal gar nichts dagegen. Babylonisches Sprachgemisch. Interkulturelles Feuerwerk. Was dann geschieht, ist in der Apostelgeschichte nach Lukas gut belegt. Petrus, vom Gottesgeist bewegt, stellt sich mitten auf einen Platz. Und zwei Wunder geschehen. Das erste: Die Menschen können Petrus alle verstehen, woher sie auch kommen, wie fremd ihre Heimatsprache den Worten des Petrus auch ist. Dabei hat keiner übersetzt oder irgendwie sonst geholfen: Sie hören seine Predigt sozusagen im Original. Parther, Meder, Elamiter. In Pfingstgottesdiensten gilt diese Aufzählung als gefürchteter Zungenbrecher. Menschen aus Mesopotamien, Judäa, Kappadozien, Pontius und aus der Provinz Asia. Aus Phrygien, Pamphylien, Ägypten und Libyen. Römer, die vor Ort wohnen, Juden und Proselyten, Kreter und Araber. Aus aller Herren Länder, aus der gesamten bekannten Welt der Spätantike. Sie hören Petrus von Gottes großen Taten reden, als käme er aus je ihrer Heimat. Muttersprachlich. Das zweite Wunder schließt sich folgerichtig, geradezu nahtlos an: Die Worte des Petrus berühren sie zutiefst. Sie treffen in das Herz, ohne Umweg, eins zu eins. Gottes Geist erreicht die Menschen, so unterschiedlich sie auch sind. Heute, am Pfingstmontag, sitze ich im nordfriesischen Husum und denke an Jerusalem. Es geht mir, wohl gemerkt, nicht um die Dreitausend, die sich spontan taufen ließen, wie Lukas schreibt. Was mich antreibt: Ein verbindender Geist täte dieser Stadt so gut. Im Kleinen steht sie für das Ganze dieses verwirrten Planeten. Das heilige-unheilige Jerusalem, zerrissen von absoluten Wahrheitsansprüchen, unvereinbar in ihrer Widersprüchlichkeit. Gestresst von Heißspornen, deren Fundamentalismus mich zwischen Knesset und Ölberg stets unentspannt sein lässt. Heili-
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ges-unheiliges Jerusalem, in dem sich schon Christen mit Christen nicht grün sind, Juden mit Juden, Muslime mit Muslimen. Wie sollen sie dann miteinander zurechtkommen, wo Leben und Glauben untereinander schon so anstrengend ist? Ich träume: Die Sehnsucht, dass Frieden wird, entflammt Menschen. Was trennt an Sprache, Kultur oder Religion, ist nicht mehr wichtig. Wie eine ansteckende Gesundheit breitet sich Versöhnung aus. Was wäre, wenn die Geistkraft wieder wehte? Das wäre wunderbar. Und: Es wäre nicht das erste Wunder in Jerusalem. Pastor Friedemann Magaard ist Theologischer Leiter und Geschäftsführer des Christian Jensen Kollegs in Breklum.
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Jerusalemer Texte
Schriften aus der Arbeit der Jerusalem-Akademie herausgegeben von Hans-Christoph Goßmann Band 1:
Peter Maser, Facetten des Judentums. Aufsätze zur Begegnung von Christen und Juden sowie zur jüdischen Geschichte und Kunst, 2009, 667 S.
Band 2:
Hans-Christoph Goßmann; Reinhold Liebers (Hrsg.), Hebräische Sprache und Altes Testament. Festschrift für Georg Warmuth zum 65. Geburtstag, 2010, 233 S.
Band 3:
Hans-Christoph Goßmann (Hrsg.), Reformatio viva. Festschrift für Bischof em. Dr. Hans Christian Knuth zum 70. Geburtstag, 2010, 300 S.
Band 4:
Ephraim Meir, Identity Dialogically Constructed, 2011, 157 S.
Band 5:
Wilhelm Kaltenstadler, Antijudaismus, Antisemitismus, Antizionismus, Philosemitismus – wie steht es um die Toleranz der Religionen und Kulturen?, 2011, 109 S.
Band 6:
Hans-Christoph Goßmann; Joachim Liß-Walther (Hrsg.), Gestalten und Geschichten der Hebräischen Bibel in der Literatur des 20. Jahrhunderts, 2011, 294 S.
Band 7:
Hans-Christoph Goßmann (Hrsg.), Geschichte des Christentums, 2011, 123 S.
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Band 8:
Jonathan Magonet, Schabbat Schalom. Jüdische Theologie – in Predigten entfaltet, 2011, 185 S.
Band 9:
Clemens Groth; Sophie Höffer; Laura Sophie Plath (Hrsg.), „... das habe ich nie vergessen, bis heute ...“. Jugendliche befragen Menschen, die die Zeit des Nationalsozialismus erlebt haben, 2011, 200 S.
Band 10:
Hans-Christoph Goßmann, Altes Testament und christliche Gemeinde. Christliche Zugänge zum ersten Testament der Bibel, 2012, 198 S.
Band 11:
Bernd Gaertner; Hans-Christoph Goßmann (Hrsg.), Der Glaube an den Gott Israels. Festschrift für Joachim LißWalther, 2012, 254 S.
Band 12:
Wilhelm Kaltenstadler, Maqāla fī al-rabw. Die Abhandlung des Maimonides über das Asthma, 2013, 171 S.
Band 13:
Hans-Christoph Goßmann; Joachim Liß-Walther (Hrsg.), Gestalten und Geschichten der Hebräischen Bibel im Spiegel der Literatur des 20. Jahrhunderts, 2015, 434 S.
Band 14:
Wilhelm Kaltenstadler, Ernährung im medizinischen Werk des Moses Maimonides, 2015, 132 S.
Band 15:
Yee Wan SO, „And Jesus Replied...” – But what issues did Jesus address in his replies?! The Reception of the Conflict Narratives in the Gospel of Matthew, 2015, 377 S.
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Band 16:
Salomon Almekias-Siegl; Sabine Münch, Gehen wohl zwei miteinander. Jüdisch – christliche Lernwege durch die Bibel, 2016, 288 S.
Band 17:
Michaela Will, Rabbinat bei Franz Rosenzweig, 2017, 102 S.
Band 18:
Hans-Christoph Goßmann; Michaela Will (Hrsg.), „Siehe, wie gut und schön es ist, wenn Geschwister beieinander wohnen“. Festschrift für Wolfgang Seibert, 2017, 202 S.
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