"In Spuren gehen ...": Festschrift für Helmut Koopmann [Reprint 2015 ed.] 9783110923506, 9783484107762

The festschrift for Helmut Koopmann assembles contributions from renowned friends and colleagues reflecting the wide ran

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German Pages 523 [528] Year 1998

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Table of contents :
Vorwort
I. Literarische Texte
Stadtbilder Tokyo September 1990
Vom Schlafen und Wachen. Zehn Abgrenzungen
Woman. Erzählung
Der doppelte Boden
Die rote Blume und der Stock
Tallhover – ein weites Feld. Autobiographische Notiz
Von der Wirkung der Landschaft auf den Menschen. Abschlußansprache anläßlich des 23. Deutschen Naturschutztages vom 6. bis 10. Mai 1996 in Hamburg
II. Edition und Editionswissenschaft
Mittelalterliche Texte als Entstehungsvarianten
Zwei Frauen reisen nach Scheveningen. Eine Episode aus dem Umkreis Schillers
III. Klassik
„Ilmenau den 3. September 1783“. Über Goethes Verhältnis zur Politik
Spiegelberg und sein Judenstaatsprojekt
Palastrevolution: Kant, Schiller und die Geburt einer Ästhetik aus dem Geist der Politik
Weimar im Wilden Westen. Schiller auf der Bühne der Vereinigten Staaten
IV. Romantik
Von Tieck zu Eichendorff – oder: Zur Kunst des Weglassens
E.T.A. Hoffmann und Walter Scott, die „Coryphäen der jetzigen Romandichter“ – Romanmodelle um 1820
Politik und Heilsgeschichte im Spiegel der historischen Dramen und Dramenfragmente Eichendorffs
V. Heinrich und Thomas
„...wo ich Deine Zuständigkeit leugnen muß...“. Die bislang unbekannte Antwort Heinrich Manns auf Thomas Manns Abrechnungsbrief vom 5. Dezember 1903
Heinrich und Thomas Mann: Brüderlicher Austausch in der frühesten Prosa
Glück und Unglück der Alleinreisenden. Zu den frühen Geschichten Thomas Manns
Detlev Spinell und die „Kunst“ der Projektion. Bilder der Verzweiflung in Thomas Manns Tristan
Die frühe Rezeption von Thomas Manns Buddenbrooks
Davos, Ort des Heils
Das Prinzip der Verantwortlichkeit in Thomas Manns Doktor Faustus
VI. Exil und Innere Emigration
Im imaginären Exil. Anmerkungen zu Tradition, Moderne und Postmoderne im historischen Roman
Judentum – Kirche – Habsburg. Joseph Roths antinationalistische Vorstellungen der dreißiger Jahre
Das Exil als geistige Lebensform. Über den Emigranten Hans Sahl – mit einer vergleichenden Abschweifung zu Thomas Mann
Hermann Hesse, der Nationalsozialismus und die Juden
Die aristokratische Form der Emigration Ernst Jüngers
VII. Poetik im 20. Jahrhundert
„Ich habe den Schädel voll Neuem!“ – Der frühe Brecht
Das literarische Interview
Ambivalenz und Ironie in der Moderne. Zu Adolf Muschg und anderen. Eine Skizze
Schriftenverzeichnis Helmut Koopmann
Tabula gratulatoria
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"In Spuren gehen ...": Festschrift für Helmut Koopmann [Reprint 2015 ed.]
 9783110923506, 9783484107762

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»In Spuren gehen...«

»In Spuren gehen...« Festschrift für Helmut Koopmann Herausgegeben von Andrea Bartl, Jürgen Eder, Harry Fröhlich, Klaus Dieter Post und Ursula Regener

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1998

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme „In Spuren gehen ..." : Festschrift für Helmut Koopmann / hrsg. von Andrea Bartl .... - Tübingen : Niemeyer, 1998 ISBN 3-484-10776-6 © Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1998 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Druck: A Z Druck und Datentechnik GmbH, Kempten Einband: Industriebuchbinderei Nobert Klotz, Jettingen-Scheppach

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

IX

I. Literarische Texte Gino Chiellino Stadtbilder Tokyo September 1990

3

Richard Exner Vom Schlafen und Wachen. Zehn Abgrenzungen

11

Gabriele Wohmann Woman. Erzählung

23

Gerhard Köpf Der doppelte Boden

33

Herta Müller Die rote Blume und der Stock

35

Hans Joachim Schädlich Tallhover - ein weites Feld. Autobiographische Notiz

41

Siegfried Lenz Von der Wirkung der Landschaft auf den Menschen. Abschlußansprache anläßlich des 23. Deutschen Naturschutztages vom 6. bis 10. Mai 1996 in Hamburg

51

Π. Edition und Editionswissenschaft Johannes Janota Mittelalterliche Texte als Entstehungsvarianten

65

Peter Boerner Zwei Frauen reisen nach Scheveningen. Eine Episode aus dem Umkreis Schillers

81

ΠΙ. Klassik Theo Stammen „Ilmenau den 3. September 1783". Uber Goethes Verhältnis zur Politik... 93 Manfred Misch Spiegelberg und sein Judenstaatsprojekt

127

Terence James Reed Palastrevolution: Kant, Schiller und die Geburt einer Ästhetik aus dem Geist der Politik

139

Karl S. Guthke Weimar im Wilden Westen. Schiller auf der Bühne der Vereinigten Staaten

157

IV. Romantik Wolfgang Nehring Von Tieck zu Eichendorff - oder: Zur Kunst des Weglassens

181

Hartmut Steinecke E.T. A. Hoffmann und Walter Scott, die „Coryphäen der jetzigen Romandichter" - Romanmodelle um 1820

193

Klaus Köhnke Politik und Heilsgeschichte im Spiegel der historischen Dramen und Dramenfragmente Eichendorffs

211

V. Heinrich und Thomas Mann Peter-Paul Schneider „...wo ich Deine Zuständigkeit leugnen muß...". Die bislang unbekannte Antwort Heinrich Manns auf Thomas Manns Abrechnungsbrief vom 5. Dezember 1903

231

Herbert Lehnert Heinrich und Thomas Mann: Brüderlicher Austausch in der frühesten Prosa

255

Marcel Reich-Ranicki Glück und Unglück der Alleinreisenden. Zu den frühen Geschichten Thomas Manns

273

Winder McConnell Detlev Spinell und die „Kunst" der Projektion. Bilder der Verzweiflung in Thomas Manns Tristan

279

Hans Wißkirchen Die frühe Rezeption von Thomas Manns Buddenbrooks

301

Thomas Sprecher Davos, Ort des Heils,

323

Jörg Tenckhoff Das Prinzip der Verantwortlichkeit in Thomas Manns Doktor Faustus

339

VI. Exil und Innere Emigration Hans Vilmar Geppert Im imaginären Exil. Anmerkungen zu Tradition, Moderne und Postmoderne im historischen Roman

359

Alfred Riemen Judentum - Kirche - Habsburg. Joseph Roths antinationalistische Vorstellungen der dreißiger Jahre

375

Lothar Pikulik Das Exil als geistige Lebensform. Uber den Emigranten Hans Sahl - mit einer vergleichenden Abschweifung zu Thomas Mann... 399 Egon Schwarz Hermann Hesse, der Nationalsozialismus und die Juden

413

Marino Freschi Die aristokratische Form der Emigration Ernst Jüngers

433

v n . Poetik im 20. Jahrhundert Hans-Jörg

Knobloch

„Ich habe den Schädel voll Neuem!" - Der frühe Brecht Volkmar

445

Hansen

Das literarische Interview

461

Manfred Dierks Ambivalenz und Ironie in der Moderne. Zu Adolf Muschg und anderen. Eine Skizze

475

Schriftenverzeichnis Helmut Koopmann

489

Tabula gratulatoria

Vorwort

„In Spuren gehen..." - eine Formel, die nicht nur Thomas Manns spezifisches Traditionsverständnis umfaßt, sondern letztlich wohl ins Zentrum jeder literaturwissenschaftlichen Bemühung weist. Ohne je den Sinn des vorausgegangenen, wegweisenden Werkes gänzlich einzuholen, sind ihr Annäherungen immer wieder möglich, die den Blick auf das Gesichtete lenken, freigeben, vielleicht allererst öffnen. Und was wäre eine solche Bemühung anderes als Dienst an einer nie zu beendenden, stets fortzuschreibenden Aufklärung? Die Herausgeber der vorliegenden Festschrift sind der Ansicht, daß in diesem Sinne die titelgebende Formulierung besonders geeignet ist, Helmut Koopmanns Umgang mit Literatur, seine wissenschaftliche Arbeit und seine universitäre Lehre zu beschreiben. Es gehört zum charakteristischen Profil von Helmut Koopmann, daß er sich stets mitten in der Arbeit befindet. Insofern ist es nicht die Aufgabe des vorliegenden Bandes, ein Resümee zu ziehen, und schon gar nicht, dem Genre gemäß, etwas .festzuschreiben'. Die sich anschließenden Beiträge wollen die Verbundenheit und Anerkennung von Freunden und Kollegen aus Anlaß seines 65. Geburtstags zum Ausdruck bringen und dabei Anregung geben zu neuen Plänen und Projekten, die Helmut Koopmann in den kommenden Jahren zweifelsohne mit unverminderter Intensität verfolgen wird. Sucht man nach dem Leitfaden, der die große Fülle seiner literarischen Interessen bündeln könnte, so ist man als Leser seiner Bücher und Aufsätze auf keine leichte Probe gestellt. Natürlich fällt zunächst ein äußeres Moment auf: die Leichtigkeit und Mühelosigkeit, die Brillanz und Präzision seines Schreibund Redestils, in dem noch die schwierigsten Kontexte, die als unvereinbar gedachten Gegensätze auf einen überzeugenden Nenner gebracht werden. Das hermetische Fachsprachen-Idiom, welches die Germanistik der letzten Jahrzehnte gekennzeichnet hat - Helmut Koopmann vermeidet es bewußt, ohne damit zeitgemäßen Fragen auszuweichen. Er geht, nicht nur in dieser Hinsicht, „in den Spuren" seiner Lehrer. Von ihnen ist Benno von Wiese in besonderer Weise hervorzuheben. Helmut Koopmann hat in einer Zeit studiert, in der die Lehrstühle von mächtigen Patriarchen verwaltet wurden, und er teilt die Erfahrung einer ganzen Studentengeneration, die einerseits unter dem Einfluß prägender Lehrergestalten stand und andererseits die Notwendigkeit verspürte, auf neue Herausforderungen mit neuen und eigenen Thesen zu antworten.

χ

Vorwort

Die Betonung geschichtlicher Prozesse, das hermeneutische Verfahren, den geistesgeschichtlichen Ansatz, den Einbezug der Philosophie und, darüber hinaus, die Fähigkeit, Wesentliches von Unwesentlichem zu trennen, Literatur in Kontexten zu sehen, Traditionen zu berücksichtigen, Voraussetzungen von Texten zu erkunden und deren Wirkungen in den Blick zu nehmen: Helmut Koopmanns methodischer Ansatz ist geprägt von diesen Akzenten. Die großen Worte und Themen jedoch, wie sie die Germanistik der 50er Jahre bestimmt hatten, sind seine Sache nicht. Er optiert für die Frage, für den Zweifel, für das Unbehagen, für den Widerspruch. Darin folgt er der Tradition einer dialektisch zu verstehenden Aufklärung. Die Literatur und Philosophie dieser bürgerlichen Kulturepoche sind Ausgangspunkt und steter Bezugspunkt seiner sonst sehr breit gefächerten Forschungsinteressen. Schiller gehört in diesen Kreis wie Heinrich Heine, Heinrich Mann und Thomas Mann genauso wie Bertolt Brecht, Alfred Döblin nicht weniger als Hermann Broch oder Günter Grass. Auch thematische Bereiche wie etwa die Exilliteratur oder gattungsmäßige Schwerpunkte wie der Roman sind auf diesen Hintergrund bezogen. Und wenn er Eichendorff in den Blick bringt, Mörike oder C. F. Meyer, so geschieht dies letztlich in Zuordnung zur Aufklärung oder in Abgrenzung zu ihr. Für Helmut Koopmann ist diese Epoche in ihrem emanzipatorischen Impetus, in ihren antithetischen Strukturen der Schlüssel zur Moderne. „Schreiben in Gegensätzen" nennt er einen seiner Aufsätze über Bertolt Brecht. Dieser Titel schlägt den Grundton an, der immer wieder in seinen Publikationen hörbar ist, sowohl in bezug auf seine literarischen Themen als auch in Hinblick auf das eigene Schreiben. In diesem Sinne geht er, wie der Titel der Festschrift andeuten will, „in den Spuren" etwa Lessings, Schillers, Heines oder Heinrich Manns. Es ist ein skeptisch-ironischer Grundton, der seine Ausführungen zur Literatur begleitet. Gerhard Köpf hat in seinem literarischen Beitrag zur Festschrift von Helmut Koopmanns „hanseatischer Ironie" gesprochen und damit die geistige Physiognomie des Jubilars treffend skizziert. Trotz der Fülle von wissenschaftlichen Projekten, die Helmut Koopmann leitet oder mitgestaltet, sind die mit dem Lehrstuhl verbundenen Aktivitäten für ihn selbstverständlich. Ob es sich um die Sorge für seine Studenten, seine Stipendiaten oder Mitarbeiter handelt, ob es um die Ausrichtung von Kongressen oder Tagungen geht, um die Arbeit in literarischen und außerliterarischen Gremien, um die Organisation interdisziplinärer Projekte und Lesungen oder um die Pflege von Partnerschaften mit Hochschulen auf fast allen Kontinenten: Helmut Koopmann weiß, Rat zu geben, Ideen zu entwickeln, Pläne in die Tat umzusetzen. Daß er sich dabei nicht schont, wollen Freunde und Kollegen oftmals nicht akzeptieren. Doch ist das Werk von Helmut

Vorwort

XI

Koopmann nicht zu verstehen ohne die Verpflichtung zur Leistung. Das Besondere an ihm ist, daß sich zu dieser Verpflichtung die Freude an der Arbeit gesellt. Die Reihe der Aufsätze von Freunden und Kollegen, die im vorliegenden Band gesammelt sind, mögen als Echo verstanden werden auf die vielen Themen und Aspekte, die im wissenschaftlichen Werk Helmut Koopmanns Behandlung finden. Daß diese Festschrift zustande kommen konnte, ist dabei in erster Linie dem Entgegenkommen und der Generosität des Max Niemeyer Verlags zuzuschreiben. Nach Tübingen geht deshalb unser besonderer Dank. Auch den Augsburger Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern Gisela Barth, Birgit Böhm, Thomas Brand, Andrea Fischer und Barbara Metzger möchten wir an dieser Stelle für ihre Mitwirkung danken. Die Herausgeber

I. Literarische Texte

Gino Chiellino

Stadtbilder Tokyo September 1990

Stadtbilder Tokyo September 1990

I. Der Zen-Garten Höchstens vierzehn Steine zählt das Auge Mindestens einer wird stets abwesend sein Der Abwesende beweist daß Leben vorhanden ist

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Gino Chiellino

II. Die Quelle: Ich * weiß * nur * zufrieden Das Wasser fließt mitten in die Sprache Der Stein nimmt es auf unbeteiligt Das Wasser verläuft sich durch die Sprachränder Unter dem Kiesel bleibt die Erde stets moosfeucht Das Wasser fließt mitten in die Sprache

Stadtbilder Tokyo September 1990

III. Der fremde Dichter an der Wasseda In einer Frage lebten auf die japanischen Lieder eines Koreaners mit dem schwierigen Namen Sie hatten die Jugend des Fragenden begleitet und waren an keinem Ort zu finden Den Schweigenden war der schwierige Name unbekannt und die Frage erhellt das Schweigen um die Lieder Mein Wunsch ging auf

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Gino Chiellino

IV. Schreinbesuch Der Rauch um mich getragen von fremden Lauten zweimal die klingenden Hände bei gesenkter Stime Gott aus dem Schlaf zu wecken kostet keine größere Mühe

Stadtbilder Tokyo September 1990

V. Die Sängerin Mit den Lotusfeldern im Rücken steht eine Frau am Ufer unter dem regnerischen Abendhimmel sie singt über das Wasser gegen die flache Kehle der Stadt vor dem Regen in der Dunkelheit

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Gino Chiellino

VI. Abschied Auf dem Weg in die Fremde verlasse ich die Stadt mit den gewagten Schatten Nichts nehme ich mit Nur der Schlaf aus der U-Bahn und das singende Lächeln aus den Kaufhäusern an der Ginza werden mich als Geschenk aus dem Land der Götter begleiten

Richard Exner

Vom Schlafen und Wachen Zehn Abgrenzungen

Vom Schlafen und Wachen

„Wach auf, wach auf, Zion; zieh an deine Stärke! / Schmücke dich herrlich, Jerusalem, du heilige Stadt!" Diesen Vers des Propheten Jesaja sollten wir jeden Morgen wie ein Gewand anlegen. Als ob wir das nicht wären: eine Stadt mit Mauern und Menschen und mit einem Türmer, der uns warnt, wenn Gefahr droht. Nicht alle Städte werden geschleift. Aber das Wunder unseres Verschontseins wird immer unglaubhafter. Was hätten wir dagegen noch einzusetzen als unser Wachsein? Jeder sein eigener Türmer und ein die Mauern berennendes Heer.

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Richard Exner

"Wie unachtsam wir mit dem Schlaf umgehen. Als gehöre er nicht zum Wachen. Wer schläft, stiehlt ja Gott die Zeit nicht, denn der hat genug davon. Wie unachtsam wir mit dem Schlaf umgehen! So wird das Bett ein weiterer Ort der Qual, anstatt, auf ein paar Stunden, zur Stätte, die mitunter ein Engel bewacht.

Vom Schlafen und Wachen

Manche stellen ihr Bett so, daß das erste Licht des Morgens sie trifft. So haben sie an der kleinen alltäglichen Schöpfung teil. Andere versuchen, die nächtliche Dunkelheit nicht nur zu verlängern, sondern auch zu vertiefen. Ich hatte einen Freund, dem war alles dies nicht genug: Er legte eine schwarze Augenmaske an und dichtete die Seiten eines lichtundurchlässigen Rouleaus mit Klebestreifen ab. Dies auch nur hinzuschreiben, verursacht mir Atemnot. Als wäre Licht Sauerstoff. Einmal schlief er im Nebenzimmer, gleichsam im verschlossenen Sarg. Übte er nachts den Vortod? Kann man den üben? Ich wollte ihn oft fragen, was er nachts sieht. Aus Angst vor der Antwort tat ich es nie. Jetzt ist er tot.

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Richard Exner

Was immer sie verhüllt, die schwarze Seide der Nacht ist durchlässig, und die Lautlosigkeit nimmt zu; wenn dir die Lider zufallen wie ein Tor ins Schloß, fahren sie im Nebenzimmer in entsetzlicher Angst hoch. Unerträglich schlägt das Herz in solchen Nächten, und verborgene Gedanken, huschende Ratten, werden hörbar, das Zimmer höhlt sich aus, ein jäher, kalter Wind fegt herein. Wer schlaflos liegt, unter dem öffnen sich Falltüren. Und das Herz geht auf vom heftigen Schlagen. Ein Flüstern hebt an, du hörst Wörter, die kein Lexikon verzeichnet, weil sie durch Auge und Ohr in den Körper einschießen.

Vom Schlafen und Wachen

Das Bett. Der Schlaf. Der Tod. Die Auferstehung. Wir liegen, und ehe wir uns ein letztes Mal aufrichten können, fährt unser Schiff übers schwarze Wasser. Wir liegen, die Arme von uns gestreckt, in der finsteren Nässe, oder aber mit verlängerten ausgekugelten Schultern. Wie wir abgenommen wurden von Starken und Mitleidenden, ohne viel zurückzulassen, nur Getrocknetes, auf dem Sand, auf dem Holz, auf dem Stein. Ja, und dann?

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Richard Exner

Dabei geht doch alles auf Gethsemane zurück. Du stehst ein wenig außerhalb der Mauern von Jerusalem, in einem alten Garten und schaust auf Olbäume, die so versteinert sind, als hätten sie alles das noch mit angesehen. Hier wurde, spürst du, nicht nur aus Erschöpfung oder aus Angst vor dem Wachsein geschlafen, sondern aus barer Unachtsamkeit. Ein Mensch wird im Stich gelassen. Nein, sie konnten keine einzige Stunde mit ihm wachen. Und hatten ihn doch geweckt, damals, auf dem See, als sie meinten, er verschlafe ihren Untergang· Dieser Schlaf im Garten ist der größere Verrat, der dem eigentlichen vorangeht.

Vom Schlafen und Wachen

Als wir geschaffen wurden, war es bereits hell. Wir sind Kinder des Tages. Die vielen Wege aber, auf denen wir den Schlaf herbeiziehen. Dabei sollten wir doch an der Wissenschaft des Wachseins arbeiten und uns vor Trunkenheit und Finsternis fürchten. Wir liegen im Rausch, und der Messias kommt. Wir hören nicht, wenn er uns beim Namen ruft. Auch im Finstern sind wir Schöpfung. Vielleicht hätte er uns ins Licht geführt!

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Richard Exner

In den Strafkolonien dieser Welt fällt der Schläfer immer dem Gericht anheim. Wer könnte sich auch im Schlaf verteidigen? Glaubt der Schläfer, mangels ihn überzeugender Beweise, keiner wache über ihm, blitzt schon das Henkersbeil. Dann freilich nützt auch das Wachbleiben nicht mehr. Das Wachen ist völlig sinnlos geworden. Der Schlaf flieht uns, wo und wann er kann. Ohne ihn gibt es kein Wachen.

Vom Schlafen und Wachen

Also wachend ins Ende, wachend vor das Gericht, wachend ins Verderben, wachend, womöglich, ins Paradies? Wundert es uns wirklich, wie viele Menschen kurz vor Sonnenaufgang sterben? Das Erwachen ist der Fingerzeig, ist die Frist. Und wir fürchten uns im Dunkeln!

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Richard Exner

Tut die Augen auf! Wachen heißt Entzücken, heißt Entsetzen. Wie armselig ist die Sprache, die nur eingrenzt. Wir wachen im Schlaf, als Geschaffenes. Wir sollen so leben, daß unser Nächster in unserem Beisein ebenso gut wachen wie schlafen kann. So könnte eine Beschreibung des Paradieses beginnen. Und enden könnte sie, nach langem Schlafen und Wachen, mit dem morgendlichen Ausruf: Gepriesen sei der Schlaf, gepriesen sei das Licht!

Gabriele Wohmann

Woman Erzählung

„When lovely woman stoops to folly / And finds too late that men betray..." - Oh, sagt er's nicht unübertrefflich? Uberhaupt, Goldsmith, ich greife ihn jetzt erst wieder so richtig auf... Ihre Stimme blieb oben, er fand sie etwas krächzend, und sie selber sah doch aus wie eine Melodie, die Gestalt angenommen hatte. Er unterbrach sie: Men, da gebraucht er den Plural, aber woman} Warum nimmt er da den Singular? Um zu beweisen, daß auch er Oliver Goldsmiths „Woman" auswendig konnte, fuhr er mit der dritten Zeile fort: „What charm can soothe her melancholy? What..." Nun wußte er aber nicht genau, wie es weiterging, mit einem einsilbigen Substantiv, aber mit welchem, und deshalb (das schätzte sie ja höher ein als jedes andere von seinen Talenten) lächelte er sie an (ziemlich verkrampft, neuralgisch), und dann traf es sich gut, daß sie einfiel, sie sprachen im Chor: „What art can wash her tears away?" Ah ja, das fehlende Wort war art. Sie sagte: Es ist das Exemplarische. Die Frau. Und Männer sind Männer. Das ist ja gerade das Geniale. Die Frau, die sich zur Torheit mit Männern erniedrigt hat, runtergebeugt... Ein Mann ist wie der andere, sie fing an, ihn ein wenig bedrohlich zu fixieren, er fühlte sich geradezu durchbohrt, und das war kurz bevor es passierte. Vorsichtshalber streckte er den Arm aus, um nach seiner Zigarettenpackung auf dem niedrigen Tisch zu langen, wie sich gleich erweisen würde, war's ein dummer Zufall zu seinem Nachteil, daß der Tisch nicht zwischen ihr und ihm, sondern etwas abgerückt stand. Plötzlich glitt sie, seine junge Kollegin, von ihrem Platz auf dem kleinen gelben Sofa und ließ sich wie ein sehr großer, freundlicher heller Hund (Golden Retriever, Spezialausführung) am Boden vor seinen Beinen nieder, schmiegte ihren Lockenkopf gegen seine Knie - und da lastete es nun, dieses körperwarme Frachtgut weiblicher Liebe, mitten in seinem Arbeitszimmer. Falsche Adresse. Natürlich wußte er, wie er sich jetzt den Spielregeln der Lieferanten zu unterwerfen hätte, ihre Erwartung drückte ihn wie ein Schwergewicht (tonnenschwere Fracht: ihre vielleicht sechzig Kilogramm), unter dem er aufgeregt und empört zum bewegungsunfähigen Klumpen erstarrte. Okay, okay, greif in ihr Haar, mach schon, streiche ein bißchen drin

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Gabriele Wobmann

rum, das ist das Mindeste und leider bloß der Anfang. Wer weiß, vielleicht genügt ihr für heute der Anfang. Ihr Haar faßte sich nicht schlecht an, es war fest und doch auch weich. Er fühlte sich von ihr reingelegt, doch er konnte sich nicht vormachen, er sei unschuldig. Daran, sich in ihn zu verlieben, hatte er sie nicht gehindert. Statt dessen immer wieder durchblicken lassen, seine Gefühle für sie seien schwer zu bremsen, was er aber versuchen müsse (ich liebe meine Frau, meine Kinder, mein Familienleben ist mir unentbehrlicher background für meine Arbeit), doch wenn er ihr das bruchstückhaft vortrug, machte er gleichwohl beim gehaltvollen verliebten Blick-zu-BlickKontakt mit und gab sich Mühe, so inhaltstriefend zu lächeln wie sie, alle Signale gleich schmalzig-schmachtend bei ihm wie bei ihr, bloß war's bei ihm rein reaktiv (um sie nicht zu kränken... „and finds too late that men betray...": oh Verlogenheit!); sie glänzte in der Rolle der Anführerin. Nun beweg schon deine Hand, spornte er sich an, und wieder rührte er ein bißchen in der dichten angenehmen Materie herum, erlahmte, erinnerte sich, ließ es zu der nächsten kurzen Bewegung kommen (verdammt, wann steht sie auf?). Es fiel ihm ein, daß sie einander manchmal Arbeitskiller nannten, und deshalb brummelte er jetzt: Arbeitskillerin! Komm, laß uns reden. Arbeitskiller, flüsterte sie verzückt und kuschelte sich enger an seine Beine in der Cordsamthose. Wie wär's mit Oliver Goldsmith? fragte er sie leise (muß ja nicht sein, daß ich sie verletze). Sie flüsterte wie vorher und rieb ihr Köpfchen hin und her und stöhnte ein wenig: Oder die Zusammensetzung des Prüfungsausschusses für die C-4-Professur-Kandidatenliste. Die Romantheorien des Kollegen Minder? Steh besser auf, oder? Sie grunzte wie ein Kind, das nicht geweckt werden will. Im Grunde verflucht mutig von ihr, wie sie da auf den Boden gesunken ist und dort für die Ewigkeit selber auszuharren gedenkt. Mutig, mutig. Er dachte es und gab sich den Befehl, seinerseits Mut zu zeigen. Christopher Smarts Gedichte gehen über Seiten, „A Song to David" beispielsweise... er wußte nichts mehr, was dazu vorzubringen wäre, aber immerhin hatte er etwas quasi Berufliches und das auch diesmal nicht sentimental gedämpft gesagt. Er hatte mit normaler Lautstärke und sachbezogen gesprochen. Laß uns lieber bei „Woman" bleiben, sagte sie piepsig in den Cordsamt auf seinen Beinen hinein. Noch mehr „Women" geht ja kaum, sagte er. Oh doch, noch viel mehr, wenn du wüßtest! Sie hob ihr erhitztes Gesicht zu ihm, es sah auf einmal kugelrund aus.

Woman

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Als vorhin seine Frau Ich geh ein bißchen in den Garten gerufen hatte, fand er das beruhigend. Er rechnete damit, daß sich seine junge Kollegin komisch benehmen würde. Sein Arbeitszimmer lag im Souterrain, aber weil das Haus an den Hang gebaut war, nur im Bibliotheksteil nach Norden zu unterirdisch in einem ausgebaggerten, mit klobigen Backsteinen gegen abrutschende Erde geländesicher befestigt; zum Süden hin war das Zimmer ebenerdig, und zwischen seinem Schreibtisch und dem Sitzplatz mit ihm im Sessel und ihr zu seinen Füßen führte eine Glastür in den Garten, und es gab auf dieser hellen Südseite, von der aus er gern bei der Arbeit in die dunkleren Tiefen des Zimmers blickte, außerdem noch zwei Fenster. Mit dem Rücken zu einem dieser Fenster stand der Sessel, auf dem er saß, unter sich das liebeheischende Geschöpf, die Riesenhündin, golden und gewiß freundlich und ebenso gewiß eine verteufelte Landplage, eine Zumutung. Er fand, sie gäben ein barockes Kunstwerk ab, in dieser Positur Mutter und Kind, vielleicht auch ein Biedermeiergenrebild oder als Skulptur das Werk eines jungen Neuerers, der das ganze schreckliche Gebilde Madonna mit dem Kind 2000 betitelt hätte. Ein Homo in Cordhosen, und der Gottessohn eine junge Feministin, ertappt bei einem ihrer unemanzipierten Schwächeanfälle. Reg dich ab, ruhig Blut, alter Junge: Er wollte wieder so beruhigt sein wie vorhin, als seine Frau angekündigt hatte, sie mache sich im Garten zu schaffen. Aber schließlich: Da draußen, das war der Garten. Wenn auch nicht der Teil, in dem sie zur Zeit gegen die Wildnis der wuchernden Brombeerhecken, der Disteln und Brennesseln kämpfte. Also gut, sie wird da vorne im Nordteil wirtschaften. Diese kleine Szene bleibt zwischen mir und dieser verrückten, liebreizenden goldenen Retrieverin geheim. Und nun los, mach das Beste draus. Das Beste war in diesem Moment die Assoziation zur Wildnis (in der sich die arme, fleißige, moralisch einwandfreie andere woman zerstechen und verbrennen läßt, Schande über mich!), und weil er wußte, er biete der jungen Kollegin damit genau das Richtige, obwohl es für sie einen anderen Sinn ergäbe (weil es einen anderen Sinn ergäbe!), sagte er: Tips für die Wildnis. Damit, so nähme sie an, meinte er garantiert was Dunkles, Geheimnisvolles zwischen ihm und ihr, und außerdem war's der Buchtitel einer ihrer favorisierten Schriftstellerinnen. Und prompt griff sie nach seiner rechten Hand, die sich davongestohlen hatte, führte sie auf ihren Schöpf zurück, die stumme Maßgabe: Streichle mich. Sie sind nicht frisch gewaschen, tuschelte sie, als böte sie ihm mit dieser Information einen erhöhten Reiz an Intimität, etwas für Spezialisten und Bevorzugte. Die ganze Frau duftete so unglaublich stark! Er kannte den Geruch, seine Studentinnen zogen ihn wie unsichtbare Schweife als Botschaften hinter sich her. Sie mußte in diesem Zeug geschwommen sein, und das könnte ein Problem werden. Er würde, weil sie so gründlich auf ihm seßhaft war, noch lang

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Gabriele Wohmann

nach ihr riechen. Wieder erlahmten seine Finger auf ihrem Kopf, und sie blickte zum zweiten Mal in sein zum Glück vom Tageslicht abgekehrtes, schlecht beleuchtetes Gesicht hinauf, glühte wie eine Pfingstrose und sah noch gerundeter aus als vor ein paar Minuten. Wie weiter, wie weiter, steht sie denn niemals von selbst wieder auf, fragte er sich geplagt (steh doch du selber auf, Schwachkopf, ergib dich nicht in dieser Pose, von der sie will, daß sie niemals endet, oh doch, verdammt, sie will die Eskalation! Sei endlich einmal du derjenige, der einen Anfang macht, den Anfang, der ein Abschluß ist, Schluß mit dem Geschmuse, mit dem Betteln ums Schmusen, du siehst ja, sie führt sich wie eine große liebe Hündin auf). Schmusen war, wenn schon Verliebtheit sein mußte, nicht sein Fall, er fühlte sich in diesem Land des Lächelns nicht am Platz, wenn schon, dann Sex, und den bestimmt nicht in seinem Arbeitszimmer und überhaupt nicht in seinem Haus; nun hörte er auch aus dem Parterre im Zimmer über dem Arbeitssouterrain die Kinder, die mit ihrem Fernsehpensum fertig waren, nachdem sie wie immer alle fünfundzwanzig Programme durchprobiert und jeden Werbespot bis zu viermal angeschaut hatten. Seine Hand bewegte sich bleiern in ihren Locken, über die er mittlerweile, wie er die Sache sah, so ziemlich alles wußte, sie hatte zwei Farben drin, Silbriges und Goldenes, und die Konsistenz war nicht nur fest und weich zugleich, an manchen Stellen glitt er auch über ein seidenes Material. Er mußte an einen Romantext denken, an dem die Handlung auf der Stelle trat. Weil er fürchtete, die zärtlichkeitsbegierige Person da unter ihm und mit ihrem Oberkörper gegen seine Schienbeine gepreßt anzuöden, suchte er nochmals bei Oliver Goldsmiths „Woman" Beistand: „When lovely woman stoops to folly / And finds too late that men b e t r a y . . H e , ich bin einer von diesen Männern, für die sich kein Singular lohnt. (Blöde Anbiederung.) Mißfallen wollte er ihr auch wieder nicht, immer noch nicht. Nicht zum ersten Mal machte er die häßliche Erfahrung von sich als einem Feigling mit. (Feiger Hund. Wir bleiben bei diesem Haustier. Hund und Hündin. The woman and the men. Singular für die herausragende Frau, aber wie hebt sie sich eigentlich vom Massenprodukt, from the men ab? Pah: hündisch alle miteinander.) Er war stumm, sie war es auch, seit sie mit Du bist kein Plural-Mann widersprochen hatte, so leise dahingeflüstert, als lägen sie nach einem anständigen Sex nebeneinander im Bett. Dann schwärmte sie: Du hast so wundervolle Hände. Das erinnerte ihn ans Streicheln, ihr zuliebe, eine Spur auch aus Neugier, hob er ihr Haar im Nacken hoch und kraulte den, und sie gab ein schnurrendes Glucksen von sich.

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Wie herrlich warm du bist. Und so weich, so weich! Weder warm noch weich zu sein paßte ihm. Es gefiel ihm ganz und gar nicht. Sie schaute wieder zu ihm auf, sah beduselt aus und wie angedickt von einem ausgiebigen Mittagsschlaf. Da plötzlich - ungefähr so plötzlich, wie sie (wie lang war das her, bloß Minuten oder schon fast eine Stunde?) vorhin von ihrem Sofaplatz zu ihm hingeglitten war, verwandelte sich ihr Ausdruck. Sie hatte an ihm vorbei aus dem Fenster gesehen, sicher um den grandiosen heißen Sommertag einzubeziehen, und nicht einmal erschrocken (zu erschrecken, das war das wenigste, das man von ihr hätte verlangen können!) raunte sie ihm zu, sogar amüsiert klang sie, ein verschmitztes kleines Lachen schien sie sich gerade noch zu verkneifen: Whow! Da draußen auf dem kleinen Abhang kommt jetzt gerade deine Frau um die Ecke. Sie wird uns so sehen! Und das sollte sie wohl besser nicht, wie ich dich einschätze. Immerhin, unaufgefordert stand sie sofort auf und setzte sich brav aufs gelbe Sofa. Aber sie sah nicht korrekt wie eine Kollegin im fachlichen Austausch mit einem Kollegen über Erzählperspektiven oder Immortal Poems of the English Language from Chaucer's Time to the Present Day aus. Sie sah rosig liebesrund aus, eine junge Mädchenblüte, aber nicht in Prousts Schatten, und auch wie ein verschmitztes Kind, auf frischer Tat - vielleicht nur! Wie spannend! - erwischt. Sauerei! Ein Schock! Adrenalinbeschuß, Hormone, die verrückt spielten, und war nicht auch was mit Cortisol, wenn der Organismus auf Streß seine unbekömmliche Antwort gab? Übel, übel. Und verheerend für seine Herzkranzgefäße, die der fröhliche Doktor Matzerath so höllisch gern mit dem Ballonkatheter dilatieren wollte, ganz scharf war er drauf, doch aus Feigheit, die ihn schon bei der Vorstellung dieses Netzwerks hinter seinen Rippen mit Ekel und Bangen heimsuchte, schob er diese Manipulation schaudernd immer noch vor sich her. In diesem Moment hätte er allerdings liebend gern auf einer Intensivstation gelegen, in der schönen Legalität eines korrekten, ruhiggestellten Patienten, einen Monitor über dem Kopfende seines klinisch-braven Bettes, dessen Bildschirm den Herzschlag eines unaufgeregten, selbstverständlich bis ins Mark treuen Ehemanns ohne Abstechergelüste bewies, auf dem Kontrollgerät liefen rechts sanfte Hügel und weiche Täler im stechenden Computergrün aus dem schwarzen Schirm und kamen links wieder hereinspaziert. Mehr an Zuverlässigkeit und gutem Gewissen konnte ein Herzbenehmen nicht bieten als das, was der Monitor jedem, der bisher noch an ihm gezweifelt hatte, vorführte. Jetzt hingegen würde die raffinierte Technik die Berg- und Talfahrten seines hochtourig aufgeregten, zornigen Herzens abbilden, Felsvorsprünge und Krater, die unwegsame un-

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wirtliche Hochgebirgslandschaft seiner verwüsteten, elenden, schuldigen Psychosomatik. Vorsichtig drehte er sich nach dem Fenster um, spähte über die Sessellehne hinaus. In der Gegend der Terrassentür zupfte seine Frau bald da, bald dort im Immergrün nach kleinen Halmen, die wahrscheinlich hier nicht hingehörten (ich verstehe nichts vom Garten, der Ganen ist dein Revier), in der linken Handfläche hinter hochgebogenen Fingern hielt sie irgendwas, vermutlich die winzige Ernte ihrer drei Walderdbeerpflänzchen. Schritt für Schritt in gebückter Haltung das Immergrün absuchend, rückte sie dem Fenster näher. Wüßte ich nur, ob sie was gesehen hat. Diese alles entscheidende Frage bohrte in seinem Kopf, der ihm in Schmerzerwartung wie beim Zahnarzt prophylaktisch weh tat, während seine junge Kollegin es für eine gute Idee hielt, wieder mit „Woman" loszulegen, und vielleicht war's wirklich gewitzt von ihr: Ihr Englisch zu hören, erweckte in seiner Frau den Eindruck von gemeinsamer wissenschaftlicher Betätigung, immer vorausgesetzt (verdammte Ungewißheit!), sie hatte nicht kurz vorher diese aberwitzige Skulptur erblickt, dieses groteske Heiligenbildchen, die Kniefall-SchmuselockenkopfStatuette. „What charm can soothe her melancholy / What art can wash her tears away? / The only art her guilt to cover...": der etwas krächzende Singsang der jungen Kollegin wurde ziemlich laut (stimmt leider, in der Konversation ist ihr Englisch besser als meins, aber sie kräht, bei mir haut trotz Defekten im Wortschatz die Musikalität hin, ist einfach besseres Englisch), und jetzt war seine Frau am Fenster hinter seinem Sessel angekommen. Sie ging dort in die Hocke. Übereifrig beugte er sich, wie aus dem Sessel gescheucht, hinaus, und dann war sein Kopf ungefähr auf der gleichen Höhe wie der runtergebeugte Kopf seiner Frau. Was habt ihr denn da gemacht? fragte ihr Gesicht, aber die Antwort gab sie, nicht er, dem sogar Eingebung die ideale Ausflucht beschert hatte (du, willst du dir das mal ansehen, wir zwei haben geprobt, wollen ein Gedicht von Oliver Goldsmith inszenieren, du könntest uns als kritische Zuschauerin helfen, und so weiter, er fand das wirklich nicht übel). Seine Frau rief ins Zimmer: War nicht schlecht, aber neulich sah's doch dramatischer aus. Er wagte nicht Was denn zu fragen. Seine Frau blickte die junge Kollegin an. Gestern, oder war's vorgestern, Schatz... na egal, da haben wir die Szene auch schon mal nachgestellt, er hat's mit mir gemacht, aber mit der eigenen Frau ist's was anderes.

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Nun warf sie einen Blick auf ihn, und er versuchte schnell, nicht wie ein Idiot auszusehen, nicht genauso trottelhaft (völlig von den Socken, was redet sie da bloß), wie er sich fühlte. Lächeln mißglückte, mißglückte anders als das Lächeln mit der jungen Kollegin, diesmal war's, zu seiner Frau hin (sie ist die Ruhe selbst, was führt sie im Schilde?), ein erbärmliches Feixen (sieht ganz so aus, als sei ich fürs Lächeln nicht talentiert). Seine Frau sagte zur jungen Kollegin, die mit einem plötzlich schiefen Gesicht und einem zusammengeschnurrten Mund unintelligent aussah, aber in Wahrheit zu ihm: Und als Realität hat es sich in seinem Uni-Arbeitszimmer abgespielt. Als eine seiner Studentinnen durchgedreht hat und ein paar Minuten später jemand an der Tür klopfte... er hat überhaupt nicht gewußt, was er mit ihrem Kopf auf seinen Beinen anfangen sollte. Seine Frau, schmal und in ihren schmutzigen Jeans hundertmal sauberer als die beiden Akademiker im Zimmer, die souveräne Herrin der Lage, sie setzte sich mit gespreizten, übereinandergeschlagenen Beinen ins Bodendekkerimmergrün auf dem leichten Abhang vor dem offenen Fenster. Inmitten des Wusts seiner Befürchtungen und ratlos genoß er den Blick, den sie an die junge Kollegin adressierte, und er fand, sie, die um etliche Jahre Altere, sah jünger aus als die Jüngere dort wie festgepinnt ans gelbe Sofa. Im Wettstreit mit dem gutmütigen, aber trickreichen Charme und der raffinierten Phantasie der älteren Ehefrau unterlag die junge Kollegin, und wie eine schlechte Verliererin, etwas verkniffen und verschwitzt, saß sie steif da, während die Frau da draußen trotz ihres Gewuseis im heißen Garten unter den Feuerstößen der Sonnenstrahlen sich angenehm kühl und blaß und wie ein Topmodel in seiner Freizeit ausnahm. Aber er hatte verdammt keine Zeit für solche Vergleiche seines weiblichen Anschauungsmaterials, vielmehr mußte er jetzt mit seiner Idee von der Goldsmith-Inszenierung herausrücken. Wie ging die noch gleich? Er sagte: Du irrst dich, wir hatten hier eine Stellprobe. Oliver Goldsmith, „Woman", szenisch. Es ist ein Gedicht. Endlich bekam auch die junge Kollegin den Mund wieder auf: „When lovely woman stoops to folly / And finds too late that men betray.. Im Seminar sind sie ganz scharf auf Variationen, ich meine, wenn's mal was anderes ist. Es ein bißchen experimentell wird. Bringt Leben rein, sagte er, zwar immer noch Allegro vivace und fortissimo, aber beinah vergnügt, seiner Sache um einige losgewordene Gewichte sicherer. Ah ja, gute Idee, sagte seine Frau, von der er hoffte, sie würde nachher nicht irgendwann bitten: Zeig mir doch mal dieses „Woman"-Gedicht. Sie stemmte sich vom Boden hoch. Besser, ihr übt noch weiter dran. Wie gesagt, es war noch nicht das Wahre. Er kam mir ziemlich steif dabei vor.

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Mehr Mumm, mein Guter. Okay, ich werd' mir noch ein paar Disteln schnappen. Bis dann. See you, lispelte die junge Kollegin, die sich auf Englisch elegant von der kleinen gärtnernden Hausfrau abzuheben versuchte. Sie geht jetzt, rief er seiner Frau nach, die ohne sich umzudrehen einen gleichmütigen lässigen Gruß winkte. Er sah, wie die Kinder auf sie zutrabten und wie sie sich zu ihnen herabbeugte, wahrscheinlich brauchten sie einen Tip für die Fortsetzung ihres Tages. Ich gehe jetzt? fragte die junge Kollegin. Ihr Ausdruck war schwer zu interpretieren. Ich hab's gesagt, weil jetzt auch noch die Kinder aus dem Haus gequollen sind. (Will ich denn immer noch nicht realistisch mit ihr verfahren, ja klar gehst du jetzt, ich schaff's nicht, diese paar Wörter loszuwerden, zu feige für Gefäßdilatationen und für Frauen, und sie, kapiert sie nicht, daß ihre Besuchszeit um ist, will sie warten, bis sie wie ein faulender Fisch stinkt Himmel: ihr Parfum! Meine Hose!) Seine Stimme war nüchtern, fast streng, aber sein Satz war's nicht, nicht genug, eher mit einem Anflug von all dem sentimentalen Quatsch, den er der jungen Person gegenüber einfach nicht aus seinen Reaktionen herausrütteln konnte, das müßte doch so zugehen wie beim Kater FitzWilliam, der sich, nachdem er sich ausgiebig drin herumgewälzt hatte, ebenso ausgiebig nach einem Hin- und Hergeräkel im Gras den ganzen Sand und Dreck aus dem Fell schüttelte, worauf er gereinigt und stolz einen Buckel machte und wie ein Postament hoheitsvolles Desinteresse demonstrierte. Ihn erinnerte der Kater an die eine von den beiden Buchstützen, die ihm die Frau des Dekans beim letzten Mal mitgebracht und die er im dämmrigsten Nordteil der Bibliothek aufgestellt hatte. Zum Abschied von der jungen Kollegin, der doch ziemlich bald und ohne allzu langwieriges Anschmachten über die Bühne ging, erschien seine Frau an der Haustür, noch ein bißchen schmutziger vom Garten, schmutzig wurde sie auch im Gesicht, als sie sich nachlässig eine braune Haarsträhne hinters Ohr klemmte, und er fand sie sehr anziehend, doch nicht davon hatte er jetzt schon wieder dieses tückische Herzhämmern. Warum mußten sie denn noch so lang miteinander quasseln, rumstehen - ach! Frauen! Women! Lieber Goldsmith, auch Frauen sind Pluralwesen. Seine Frau sagte soeben zur jungen Kollegin: Da war diese kleine mannstolle Rebecca, die Studentin mit dem Kniefall vor ihm, und es war nicht ihr erster Annäherungsversuch. Ist diese Rebecca auch Ihre Studentin? Ich habe nie zuvor von ihr gehört, antwortete die junge Kollegin, die endlich in ihre offizielle Fassung zurückgefunden hatte und kühl, gepflegt, höflich wirkte. Nie gehört von ihr.

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Kein Wunder! Er fing an, seiner Frau zu zürnen. Sie weidete die Lage aus, schien sie zu genießen, kleine Sadistin, aber mit dem Recht auf ihrer Seite. Diese Rebecca ist noch eine Generation unter Ihrer, plauderte seine Frau. Sie setzte sich auf eine von den drei Sandsteintreppenstufen vor der Haustür. Ihre Augen blitzten. Und diese ganz Jungen können's entschieden besser. Sie scheinen sich überhaupt nicht mehr zu genieren. Manchmal tun mir die dazugehörenden Burschen leid. Respekt! Immer noch mit dem furchterregenden Herzgetöse staunte er: diese geistesgegenwärtige Person, die er da kennenlernte wie eine Fremde, war seine Frau. Eine neue Frau. Verräterisch stark roch er nach dem verdammten Parfum, und er ging ein paar Schritte von den Treppenstufen weg, gleichzeitig könnte das auch als Zeichen zum endgültigen Verabschieden gedeutet werden. Goldsmith lebte von 1730 bis 1774, sagte die junge Kollegin. Auch nicht schlecht. Sie hatte sich wieder im Griff. Dazu paßt die heutige Anmache nicht, das Ranschmeißen, erklärte sie. Das muß man weicher, vorsichtiger darstellen, zärtlicher. Seine Frau sah das sofort auch so. Du lieber Himmel, anscheinend war er hier der einzige Holzkopf, der allmählich überhaupt kein Wort mehr verstand, die eine Frau wie die andere redete surreal, jede in ihr Hirngespinst und in ihre Trickgeschichte versponnen. Wahrscheinlich verwechselten sie ihre Märchen mittlerweile schon mit der Wirklichkeit. - Später sagte seine Frau nichts mehr, was mit dem Vorfall zusammenhing. Sie sagte auch nichts zu seinem gegen die Cordsamthose gewetzten Duft. Und er schätzte sich glücklich, als sie beim Imbiß - wegen der Hitze gab es Tacos mit bean dip, hot, und tomato dip, hot, die Kinder wollten nur Eis - im Alltagston verkündete, sie habe eine Verabredung zum Tennis. Ob das nicht zu heiß sei, fragte er scheinheilig, als wolle er sie lieber in seiner Nähe wissen. Tennis, bei der Hitze? Oder spielt ihr in der Halle? Wenn wir spielen, ja. Sie lachte. Ich sehe uns allerdings die meiste Zeit in der Cafeteria sitzen. Und die Kinder waren auch verabredet oder hatten irgendwelche Termine, auf die er wie immer nicht achtete. Allein allein allein, murmelte er vor sich hin. Guter Henri Michaux. „Allein allein allein, mit meinen zehn Fingern allein." Keine Frauen. No woman, not the one and not the other. Insgeheim rechnete er mit einem Telefonat. Die junge Kollegin wäre dran. Aber es geschah nichts. Was soll die Warterei, ruf selber an: Er mußte wissen, wie sie die Taktik seiner Frau und im Gegenzug seine, bei der sie gut mitgewirkt hatte, einschätzte. Wer ist sie, diese Rebecca? Ich hab' eine Konkurrentin! Und sogar unter den Studentinnen, hörte er die junge Kollegin krähen.

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Hast du! Und er hörte sich mutig sagen: Meine Frau. Gib zu, sie hat eine Glanzleistung aufs Parkett gelegt. Dieses Telefonat fand nicht statt. Aber als er ihre Nummer wählte, hoffte er, es würde ungefähr so ablaufen. Schwerer Irrtum! Weil sie ihn mit Oh bist du süß! Ich hab' so gehofft, daß du dich heute noch meldest sofort nach seinem Ich bin's umsäuselte, sank er in ihre Empfindung ein, und während er in seinen Fingerspitzen ein Kribbeln spürte, als walteten sie wieder wie an diesem vertrackten Vormittag in den vielschichtig konsistenten Locken ihres Amtes, aber diesmal ungequält, sondern mit Genuß, zitierte er die zweite Strophe von „Woman", und bald fiel sie ein, bald lauschte sie: „The only art her guilt to cover / To hide her shame from ev'ry eye / To give repentance to her lover / And wring his bosom is - to die." Das war flüssig, lobte sie ihn, der das Buch mit der bei „Woman" aufgeschlagenen Seite ablegte. Woman, sagte sie nachdenklich. Wer ist diese woman, deine Frau, oder bin ich's? Betrügen - mache ich das nicht irgendwie mit euch beiden? (Ehrlich wie nie, trotzdem nicht kränkend. Er gab sich eine gute Zensur.) Aber reuig bin ich auch ohne Tote. Ha ha. Bleib doch ernst, so wie eben noch, bat sie, womit sie ihm schon wieder penetrant zu gefühlvoll war. Sterben müßt ihr beide nicht... to wring my bosom. Ich schätze, dafür seid ihr beide nicht der Typ. Dann schon eher Rebecca. Darauf kannst du wetten, sagte sie. Seine Frau hätte auch so reagieren können. Aber Rebecca? Er sah sie mittlerweile deutlich in hübscher Mädchengestalt vor sich, ganz so, als gäbe es sie wirklich, sie nahm immer mehr Leben an, diese geniale Erfindung seiner Frau. Rebeccal Begierig auf Rebecca... Hauptsache, sie war noch keine Frau. Not yet a woman, little Rebecca, sagte er. Dein Englisch ist manchmal etwas eigenwillig, aber ich find's süß, flötete sie. Ein kleines, für sie typisches Krächzen war trotzdem nicht zu überhören.

Gerhard Köpf Der doppelte Boden

Wer von Helmut Koopmann nach einer Lesung zum letzten Zug gebracht wird, der hat es gut. Noch auf dem Bahnsteig kann er von diesem Gelehrten etwas lernen. Besonders beeindruckt hat mich immer Koopmanns hanseatische Ironie, die jedem Satz einen doppelten Boden gibt. Das ist selten bei Germanisten und muß wohl etwas mit ihrem spezifischen Umgang mit Literatur zu tun haben. Koopmanns Ironie weht einen an wie ein frische Brise von See. Sie ist nicht deutsch und nicht eng, sondern welthaltig und reich. Sitzt man dann nach einem letzten Händedruck im Abteil, hat man Zeit genug, den doppelten Boden von Koopmanns Sätzen zu öffnen. Und wenn dann da schon einer im Coupé hockt, ärgert man sich zuerst ein wenig, weil man Koopmanns Sätze allein auspacken und die versteckten Spitzen mit keinem anderen teilen will. Aber schon gleitet man hinüber ins Gespräch. Pier Morgan heißt der junge Mann, der mir barfuß in Sandalen gegenübersitzt und auf dem Weg nach Amsterdam sei, wie er mehrfach stolz betont, Amsterdam, weil er dort Freunde habe, und ob er in Köln umsteigen müsse, was ich bejahe, und schon reißt er sich die Stöpsel seines Walkmans aus den Ohren, ein Französischkurs, ob ich mal reinhören wolle, also Pier Morgan, ja, Pier, sein Vater habe die Schauspielerin Pier Angeli geliebt, jaja, East of Eden mit James Dean, abgöttisch, deshalb der Name, geboren aber sei er in Nashville, Tennessee, seine große Leidenschaft sei ebenfalls das Kino, wohl vom Alten geerbt, kann gut sein, und eines Tages habe er, damals sei er schon aufs College gegangen, an einem verregneten Nachmittag den Film Mord im Orientexpreß gesehen, und der habe ihn derart gepackt, daß er auf der Stelle beschlossen habe, nach dem College sofort nach Europa zu gehen: Venice, Simplón, Paris, um Cabin Steward im Orientexpreß zu werden, ja, so habe er das gemacht, kurzentschlossen, ohne Wenn und Aber, ach, die nächste Station sei schon Köln, wo er umsteigen müsse, ja, gut, nach Amsterdam, um kurz mal Freunde zu sehen, und während er seinen Rucksack aus dem Gepäcknetz angelt und den Walkman verstaut, drückt er mir einen Stift in die Hand, keine Ursache, er habe Dutzende davon, Orientexpreß lese ich da, Bienvenu, Welcome, Venice, Simplón, Paris und darunter gut lesbar in

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Schreibschrift Pier Morgan, Cabin Steward, klar, lacht er, zwölf Minuten sei sein Rekord, eine Kabine zu bauen, fix und fertig schlafbereit, der einzige Nachteil sei, daß es in seinem Kabuff, in dem er auf das Klingelzeichen der Fahrgäste warte, um ein Gläschen Schampus zu servieren oder einsamen Ladies gefällig zu sein, daß es also in seinem Kabuff keine Klimaanlage gebe, denn schließlich starte der Zug in der Hitze Venedigs, erklimme die eisigen Alpen, und bei der Ankunft in Paris sei ja auch nicht gerade ständig Frühling, zwölf Minuten, gut, was, also in Köln umsteigen, und have a nice trip! Und dann ist man wieder allein mit Koopmanns doppelbödigen Sätzen und freut sich über Spitzen, Haken und Ösen...

Herta Müller Die rote Blume und der Stock

Auf den Sitzungen, mit denen die Leute in der Diktatur einen großen Teil ihrer Zeit zubrachten, zeigte sich das klarste Bild des Sprechens in der überwachten Gesellschaft Rumäniens. Wahrscheinlich nicht nur dieser Diktatur. Alles Halbauthentische, jeder persönliche Hauch, jedes individuelle Fingerzucken waren bei den Rednern aus der Welt geschafft. Ich sah und hörte austauschbaren Figuren zu, die sich vom einzelnen Menschen weg in die glatte Mechanik einer politischen Position begeben hatten, um der Karriere zu entsprechen. In Rumänien wurde alle Ideologie des Regimes durch den Personenkult Ceausescus gebündelt. Mit der gleichen Methode, wie mir im Kindesalter der Dorfpfarrer die Angst vor Gott in den Kopf setzen wollte, verbreiteten die Funktionäre ihre sozialistische Religion: Was du auch tust, Gott sieht dich, er ist endlos und überall. Das zigtausend Mal ins Land gestellte Porträt des Diktators wurde unterstützt durch die Berieselung mit seiner Stimme. Durch stundenlange Übertragungen seiner Reden im Rundfunk und Fernsehen sollte diese Stimme als Kontrolle jeden Tag in der Luft liegen. Diese Stimme war jedem im Land so bekannt wie das Rauschen von Wind oder fallendem Regen. Ihr Sprachduktus, ihre begleitende Gestik so bekannt wie die Stirnlocke, die Augen, die Nase, der Mund des Diktators. Und das Wiederkäuen der immerselben, gestanzten Fertigteile war so bekannt wie die Geräusche alltäglicher Gegenstände. Die Wiederholung der Fertigteile garantierte die Anerkennung beim Reden nicht mehr ganz. Daher gaben sich die Funktionäre bei ihren öffentlichen Auftritten Mühe, die Gestik Ceausescus nachzuahmen. Der oberste Sprecher des Regimes hatte vier Schulklassen absolviert und nicht nur Probleme mit komplexeren Inhalten und der einfachsten Grammatik. Er hatte zusätzlich eine Sprachstörung. Beim Wechsel von Vokalen und schnellen Aufeinanderfolgungen von Konsonanten blieb ihm die Zunge hängen, er nuschelte. Von dieser Sprachstörung versuchte er durch kleingehacktes, gebellartiges Silbensprechen und ständiges Händeflattern abzulenken. Deshalb brachte die Nachahmung seiner Sprechweise eine besonders auffällige, tragisch-lächerliche Verzerrung der rumänischen Sprache mit sich.

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Ich sagte damals oft, die jüngsten Funktionäre im Land seien die ältesten. Denn sie schafften die Imitation des Diktators ohne Anstrengung, wie es schien, und perfekter als die älteren. Natürlich hatten sie diese auch nötiger, ihre Karriere hatte erst angefangen. Aber nachdem ich mit Kindergartenkindern zu tun hatte, blieb mir die Meinung nicht erspart, daß die Jungfunktionäre gar nicht imitierten. Sie waren es selber, sie hatten gar keine eigene Gestik. Ich war zwei Wochen Kindergärtnerin und merkte, daß die Imitation Ceausescus schon bei Fünfjährigen unübersehbar war. Die Kinder waren versessen auf Parteigedichte und patriotische Lieder und die Landeshymne. Ich kam an diesen Kindergarten nach längerer Arbeitslosigkeit infolge der Entlassungen aus der Fabrik und einigen Schulen, die mich alle nicht mehr nahmen wegen: „Individualismus, Nichtanpassung ans Kollektiv und Fehlen sozialistischen Bewußtseins." Das Unterrichtsjahr hatte längst angefangen, ich sollte eine an Gelbsucht erkrankte Kindergärtnerin, mit deren Genesung nicht so schnell zu rechnen war, vertreten. Ich dachte mir, als ich die Stellung annahm, so schlimm wie in den Schulen könne es nicht sein. Ein bißchen Kindheit wird es in diesem Staat ja noch geben, die leere gleichmäßige Zerstörung durch Ideologie könne man bei so Kleinen nicht anwenden, da gäbe es noch Bausteine, Puppen oder Tänze. Auch hatte ich überhaupt kein Geld, aber Schulden und Wohnungsraten, die jeden Monat bezahlt werden mußten. Ich wußte, in die Abhängigkeit einer Mieterin sollte man in meinem Fall nicht gelangen. Denn jeder Vermieter hätte mich bei der ersten Drohung durch den Geheimdienst auf die Straße gesetzt. Ich hing am Tropf meiner Mutter, einer LPG-Bäuerin, die viel schuften mußte, um mich über Wasser zu halten. Die Kindergartendirektorin führte mich an meinem ersten Arbeitstag zu meiner Gruppe. Als wir die Klasse betraten, sagte sie fast kryptisch: „Die Hymne." Automatisch stellten sich die Kinder in einen Halbkreis, preßten die Hände kerzengerade an die Schenkel, streckten die Hälse lang, richteten die Augen nach oben. Es waren Kinder von ihren Tischen aufgesprungen, aber im Halbkreis standen und sangen Soldaten. Es wurde mehr geschrieen und gebellt als gesungen. Auf die Lautstärke und Körperhaltung schien es anzukommen. Die Hymne war sehr lang, hatte in den letzten Jahren etliche Strophen hinzugewonnen. Ich glaube, sie hatte zu der Zeit ihre Sieben-Strophen-Länge erreicht. Ich war nach längerer Arbeitslosigkeit nicht auf dem laufenden, den Text der neuen Strophen kannte ich gar nicht. Nach der letzten Strophe löste sich der Halbkreis auf, tobend, kreischend wurden aus den Strammstehern wieder Unbändige. Die Direktorin nahm den Stock aus dem Regal: „Ohne den geht es nicht", sagte sie. Dann flüsterte sie mir ins Ohr und rief vier Kinder zu sich. Ich solle sie mir ansehen, sagte sie, und schickte die

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vier auf ihre Plätze zurück. Dann weihte sie mich in die Funktion ihrer Eltern oder Großeltern ein. Ein Junge war sogar der Enkel des Parteisekretärs, da müsse man besonders aufpassen, meinte sie. Er dulde keine Widerrede, und man müsse ihn auch in Schutz nehmen vor den anderen, was immer er anstelle. Dann überließ sie mich der Gruppe. Im Regal lagen an die zehn Stöcke, bleistiftdicke, lineallange Baumzweige. Drei davon waren zerbrochen. Draußen schneite es an diesem Tag die ersten großen zerzausten Flocken, die liegenblieben in diesem Jahr. Ich fragte die Gruppe, welches Winterlied sie gerne singen möchten. Winterlied, sie kannten keines. Dann fragte ich nach einem Sommerlied. Sie schüttelten die Köpfe. Dann nach einem Frühlings- oder Herbstlied. Endlich schlug ein Junge ein Lied übers Blumenpflükken vor. Sie sangen von Gras und Wiese. Also doch ein Sommerlied, dachte ich, auch wenn es diese Einteilung hier nicht gibt. Kurz darauf war es soweit: Nach der ersten Sommerstrophe steuerte das Lied in der zweiten auf den Personenkult zu. Die schönste, rote Blume wurde dem geliebten Führer geschenkt. In der dritten Strophe freute der Führer sich und lächelte, weil er zu allen Kindern im Land der Beste war. Die Einzelheiten der ersten Strophe, die Wiese, das Gras, das Blumenpflücken, wurden in den Köpfen gar nicht nachvollzogen. Das ganze Singen, vom ersten Wort an, klang fiebrig, es trieb die Kinder in Eile. Sie sangen immer lauter, bellender, schneller, je näher das Schenken der Blume und das Lächeln des Führers im Text kamen. Dieses Lied, das dem Sommer eine Strophe gönnte, verbot das Nachvollziehen der Landschaft, in der es seinen Anlauf nahm. Aber genauso verbot es das Nachvollziehen des Schenkens. Ceausescu hielt zwar oft Kinder auf dem Arm, doch wurden diese vorher tagelang in ärztlicher Quarantäne gehalten, um eine Krankheitsübertragung auszuschließen. Das Lied forderte geistige Abwesenheit beim Singen. Sie hatte alles, was im Kindergarten geschah, im Griff. Ich kannte einige Winterlieder aus meiner eigenen Kinderzeit. Das einfachste war: „Schneeflöckchen, Weißröckchen". Ich sang, erklärte die Wörter, und daß jeder mal zusehen solle, wie der Schnee aus dem Himmel auf die Stadt fällt. Die kleinen Gesichter sahen mich verschlossen an. Das Staunen, das behütet, auch wenn es verängstigt, das durch poetische Bilder zusammengefaßte Hören und Sehen, das auch dort noch Halt gibt, wo es sentimental macht - es wurde mit Absicht von ihnen ferngehalten. Die Schönheit fallenden Schnees, die sich seit Menschengedenken individuell betrachten läßt, war kein Thema. Auch in diesem Bereich war das Land ausgestiegen aus der Geschichte der Gefühle. Es wurde verhindert, daß Sprachbilder wie „Weißröckchen" oder „du wohnst in den Wolken" die Kinderköpfe besetzten. Auch war das Schneelied diesen so früh Verführten zu still. Ihre Ge-

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fühlsregungen begannen erst beim Strammstehen und Bellen. Sich als Einzelner zu begreifen und von diesem Punkt aus die Details an sich und den Dingen auszuhalten, wie es zu einer zivilen Sozialisation gehört, das wurde nicht zugelassen. Diese Verhinderung an Persönlichem brachte es später in jedem einzelnen Leben soweit, daß man ihm in keiner Hinsicht gewachsen war. Und genau das wollte der Staat: Die Schwäche sollte an der Stelle beginnen, wo die eigene, zu dünne Haut sitzt. Die vom Regime angebotene Flucht aus der Schwäche war Anbiederung an die Stärke der Macht, Selbstverleugnung und Unterwürfigkeit als Chance zum Weiterkommen. Ein Sensorium, das sich selbst aufrichtet, das ohne diese Flucht zurechtkommt, sollte nicht entstehen können. Ich sagte an diesem ersten Arbeitstag im Kindergarten, die Kinder sollen Mäntel, Mützen, Schuhe anziehen, wir gehen hinaus in den Hof, in den Schnee. Die Direktorin hörte den Lärm im Kleiderraum. Sie riß die Bürotür auf. Es gehe um ein Schneelied, sagte ich, und warum solle ich den Kindern drinnen erzählen, wie die Flocken fallen. In einer halben Stunde seien wir wieder in der Klasse. „Was stellen Sie sich vor", schrie sie, „dieses Lied steht in keinem Programm." Wir mußten zurück in die Klasse. Spiele und Pause und Essen, dann wieder das Lied. Am nächsten Morgen fragte ich als erstes, ob jemand den Flocken, die „in den Wolken wohnen", zugesehen habe. Da war ich das Kind, ich hatte es getan. Um mir Mut zu machen für den Tag, hatte ich mir auf dem Weg zur Arbeit das Lied sogar stumm in den Kopf gesungen. Verlegen fragte ich, ob sie sich an das Lied von gestern noch erinnern. Da sagte ein Junge: „Genossin, wir müssen zuerst die Hymne singen." Ich fragte: „Wollt ihr oder müßt ihr." Die Kinder riefen im Chor: „Ja, wir wollen." Ich fügte mich und ließ die Kinder die Hymne singen. Und wie am Vortag standen sie im Nu in ihrem Halbkreis, preßten die Hände an die Schenkel, streckten die Hälse, hoben die Blicke und sangen und sangen. Bis ich sagte: „Gut, jetzt versuchen wir das Schneelied zu singen." Da sagte ein Mädchen: „Genossin, wir müssen die Hymne ganz singen." Es wäre zwecklos gewesen, wieder nach dem Wollen zu fragen, ich sagte nur: „Dann singt sie ganz." Sie sangen die restlichen Strophen. Der Halbkreis löste sich auf. Alle, außer einem Jungen, setzten sich an die Tischchen zurück. Der Junge kam auf mich zu, sah mir ins Gesicht und fragte: „Genossin, warum haben Sie nicht mitgesungen. Unsere andere Genossin hat immer mitgesungen." Ich lächelte und sagte: „Wenn ich mitsinge, dann höre ich nicht, ob ihr richtig oder falsch singt." Ich hatte Glück, der kleine Wächter war auf meine Antwort nicht gefaßt. Ich auch nicht. Er lief an sein Tischchen. Er gehörte nicht zu den vier höheren Wesen der Gruppe. Für den Moment war ich auf meine Lüge stolz. Aber die Um-

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stände, wie es zu dieser Lüge kommen mußte und gekommen war, nahmen mir den ganzen Tag die Ruhe. Ich ging jeden Morgen mit größerem Widerwillen in den Kindergarten. Die pausenlose Bewachung durch Kinderaugen lahmte mich. Mir war schon klar, eine bewußte Entscheidung für das Schneelied gegen die Parteilieder war bei Fünfjährigen nicht zu erwarten. Aber sie hätten ja ohne Komplizenschaft, unbewußt, instinktiv an dem Schneelied mehr Gefallen finden können als am Bellen und Strammstehen ihrer Lieder. Objektiv war es verboten, den Kleinsten, Dreijährigen etwas Persönliches mitzugeben, aber subjektiv wäre es bei ihnen noch möglich gewesen. Bei den Fünfjährigen war es auch subjektiv unmöglich, es war zu spät. Das stand mir von Tag zu Tag kategorischer vor Augen. Der Mißbrauch menschlicher Substanz war verinnerlicht, er hatte süchtig auf seine Fortsetzung gemacht. Die Zerstörung war bei Fünfjährigen fertig geschehen. Dies war die eine Hälfte der Tatsachen. Die andere Hälfte war der Stock. Alle Kinder, außer den höheren Wesen, in deren Herkunft ich zwecks Schonung eingeweiht worden war, zogen, egal wie und wann ich mich ihnen näherte, automatisch den Nacken ein. Ich hatte den Stock nicht in der Hand, aber sie waren so an Prügel gewöhnt, daß sie mit angstverzerrten Gesichtern zu mir schielten und bettelten: „Nicht schlagen, bitte nicht schlagen." Und jene, die nicht in Reichweite waren, riefen: „Jetzt kriegst du, jetzt kriegst du." Ich benützte den Stock kein einziges Mal. Die Folge davon: Ich konnte mir, um Aufmerksamkeit bittend, erklärend, auch schreiend, keine fünf Minuten am Stück Gehör verschaffen. Auch dafür war es zu spät. Der gewöhnlich gesprochene Wortlaut, egal in welcher Tonlage, war kein Verständigungsmittel. Der Trance des Phrasendreschens entsprach nur der Stock. Diese Kinder versuchten mich zu zwingen, ihr Bedürfnis nach Prügel zu stillen. Sie fühlten sich im Stich gelassen, hingen in hysterischer Leere, weil die Prügel nicht kamen. Das Weinen unterm Stock war das einzige, wodurch sie sich als Person spürten. Es hob sie heraus aus dem Kollektiv. Im Vorbeigehen an halboffenen Türen der anderen Klassen hörte ich die Stöcke schlagen und krachen und die Kinder weinen. Für Direktorin und Kolleginnen, die prügelten, und vielleicht noch mehr bei den Kindern, die weinen wollten, war ich aus demselben Grund unfähig. Für die einen nicht gewillt, für die anderen nicht imstande, den Stock zu benutzen. Aber auch mir selber war ich immer weniger gewachsen. Nicht so werden wie die anderen und nicht so bleiben können, wie ich war - dieser Zwiespalt war nicht zu lösen. Ich kündigte nach zwei Wochen. Der gesprochene Wortlaut, der intuitiv im Kopf entsteht, durch den wir uns wie selbstverständlich aufeinander beziehen, ist nicht angeboren. Er kann gelernt oder verhindert werden. In der Diktatur wurde er bei den Kindern

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durch Erziehung verhindert. Und bei Erwachsenen, wo er in Reminiszenzen vorhanden war, getilgt.

Hans Joachim

Schädlich

Tallbover - ein weites Feld Autobiographische Notiz

1986 ist Tallhover erschienen - die fiktive Biographie eines deutschen Spitzels der Politischen Polizei, dessen Laufbahn in den 40er Jahren des 19. Jahrhunderts beginnt und in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts nur scheinbar endet. Im August 1986 gab ich Grass - in der Erinnerung an literarische Diskussionen, die wir von 1974 bis 1977 in Ostberlin geführt hatten - ein Umbruchexemplar von Tallhover. In einem Brief aus Kalkutta vom 26. November 1986 schrieb Grass, erst der Schluß des Buches („Tallhovers Ausscheiden aus dem Dienst, seine Selbstbestrafung und sein absehbares Ende") hätte ihn kritisch werden lassen. Selten habe ihn ein Buch wegen seines Schlusses so angeregt, ihm eine Erweiterung zu erfinden. Natürlich wisse er, schrieb Grass, daß sein Weiterspinnen meines Fadens kaum erlaubt und allenfalls unter Freunden verzeihlich sei. Ahnlich hat Grass seine Ansicht über Tallhover in seinem Indien-Tagebuch Zunge zeigen1 dargestellt: Ich werde Schädlich schreiben: nein, Tallhover kann nicht sterben.2 In Gedanken, nicht abzustellen, bin ich bei Schädlichs „Tallhover". Immer wieder das Romanende variiert: Tallhover, unsterblich, lebt nun im Westen, führt neue Erkennungsmethoden ein, wird Rasterfahnder.. .3 In meiner Antwort vom 16. Januar 1987 habe ich mich auf die Sätze beschränkt: Uber unsere unterschiedlichen Ansichten, den Schluß des Buches betreffend, würde ich gerne noch mit Dir reden. Es gibt auch in der Kritik, die übrigens überwiegend höchst positiv reagiert hat, differente Beurteilungen oder Bewertungen des Schlusses. 1

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Zunge zeigen, Darmstadt 1988, S.26f. und S. 38. - Noch einmal in Günter Grass: Die Deutschen und ihre Dichter, hg. v. Daniela Harms, München 1995, S. 239 ff.: „Tallhover kann nicht sterben." Grass, Zunge zeigen (s. Anm. 1), S.27. Ebd., S. 38.

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Nach meiner Erinnerung haben wir dann doch nicht mehr über den Schluß von Tallhover geredet. Ich war zu der Ansicht gelangt, Grass habe den Schluß des Buches einseitig interpretiert. Mein Text legt zwar das individuelle Ende Tallhovers nahe, aber explizit beschrieben ist es nicht, weil ich zugleich zum Ausdruck bringen wollte, daß Tallhover als Typus fortlebt. Im Frühjahr 1991 war ich als ein Bewohner der Villa Massimo zu einem Abendessen bei Wolfgang Marschall von Bieberstein, dem Direktor des Goethe-Instituts Rom, geladen. Das Essen wurde anläßlich einer Lesung von Grass im Goethe-Institut Rom gegeben. Am Ende des Abends, mitten im Aufbruch, zwischen Tür und Angel, fragte mich Grass unvermittelt: „Hättest du etwas dagegen, wenn ich deinen Tallhover fortschreibe?" Ich war überrascht, ja ratlos, und ich sagte etwas Dummes wie: „Das kannst du wahrscheinlich auch tun, ohne mich zu fragen." Grass bestand darauf, daß er mich um Erlaubnis bitten müsse, und jetzt sagte ich: „Ich habe nichts dagegen." Das Gespräch hat nicht länger als drei Minuten gedauert. Uber die Tragweite meiner Erwiderung war ich mir gar nicht im klaren. Als ich mich später fragte, warum ich so reagiert hatte, kam ich immer wieder darauf, daß ich ein Bedürfnis gehabt haben muß, mich bei Grass zu bedanken für vielfache praktische Hilfe: Grass hatte mir 1977, als ich noch in der D D R lebte und nach der Entlassung aus der Akademie der Wissenschaften mittellos war, Geld geliehen. (Ich konnte ihm das Geld nach meiner Ubersiedlung in die Bundesrepublik zurückgeben). Er hatte das Manuskript von Versuchte Nähe (nachdem es die in Ostberlin akkreditierte Korrespondentin der Frankfurter Rundschau, Christel Sudau, von Ost- nach Westberlin geschmuggelt hatte) zuerst zum Luchterhand Verlag, später zum Rowohlt Verlag gebracht. (Der Luchterhand Verlag wollte seine DDR-Lizenzgeschäfte nicht verderben und hat die Veröffentlichung deshalb abgelehnt). Grass hatte für die Rowohlt-Ausgabe von Versuchte Nähe eine Schutzumschlagzeichnung gemacht. Als ich in der DDR nach der Veröffentlichung von Versuchte Nähe in eine politisch haltlose Lage geraten und mein Ausreiseantrag von Erich Honecker abgelehnt worden war, hatte ich durch Grass und mit Hilfe seiner Frau Ute Zugang zu dem Ständigen Vertreter der Bundesrepublik in der DDR, Günter Gaus, gefunden, der meine Ausreise durch die Einschaltung des Rechtsanwalts Wolfgang Vogel entscheidend beförderte. Zur gleichen Zeit, im Herbst 1977, wies Grass in Rundfunk- und Fernsehinterviews auf Versuchte Nähe hin und las bei seinen Lesungen in der Bundesrepublik auch einen Text (Unter den achtzehn Türmen der Maria vor dem Teyn) aus meinem Buch. Nach der Genehmigung meiner Ausreise aus der DDR Anfang Dezember 1977 hatte Grass mir für die erste Zeit sein Haus in Wewelsfleth angeboten. Dort habe ich mit meiner Familie 14 Tage lang gewohnt.

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Vom Herbst 1993 bis zum Sommer 1994 hielt ich mich in den USA auf. A m 20. Januar 1994 schrieb mir Grass nach New York, ich könne nicht ahnen, wie oft er mit seinen Gedanken bei mir und meinen literarischen Produkten sei. Ich werde mich sicher erinnern, daß ihn Tallhover von Anfang an angezogen und daß ihn Tallhovers Ende zum Widerspruch gereizt habe. Grass bezog sich auf das kurze Gespräch 1991 in Rom und teilte mit, daß es ihn nach wie vor reize, die Unsterblichkeit Tallhovers auf seine Schreibweise fortzusetzen. Und: Nun sei es geschehen - seit Jahr und Tag geschehe es tagtäglich, und es werde ihn noch ein weiteres Jahr beschäftigen. Aus Tallhover sei „im gewendeten Zustand" ein Hoftaller geworden, der sich allerdings gelegentlich an seine Tallhover-Zeiten erinnere. Noch ganz im Verständnis meiner Begründung für die in Rom geäußerte Erwiderung schrieb ich an Grass am 23. Februar 1994 aus Carlisle, Pennsylvania, es erfülle mich mit großem Vergnügen und wachstem Interesse, von ihm zu hören, daß er mitten in dieser Beschäftigung stecke. Ich freue mich über die Tragfähigkeit dieser Figur, und ich sei neugierig darauf, wie er seine Arbeit anlege. Immerhin hatte mich Grass' Formulierung vom „gewendeten Zustand" Tallhovers hellhörig gemacht. Ich bezog diese Formulierung nicht allein auf die Silbenvertauschung im Namen, sondern schrieb in meinem Brief vom 23. Februar 1994 vorsorglich auch dies: Es war mir bei der Arbeit an „Tallhover" immer bewusst, dass eine Verkoerperung der personellen Kontinuitaet auf dem Gebiet der politischen Polizei zwar etwas ueber menschliche Bereitschaft und Faehigkeit aussagt, jeder Ordnung zu dienen, dass aber damit noch nichts ausgesagt ist ueber den Charakter der jeweiligen gesellschaftlichen Ordnung und ueber den Charakter der entsprechenden politischen Polizeien. Ich habe immer das Missverstaendnis gefuerchtet, aus der Darstellung einer solch dienlichen Figur koennte geschlossen werden, es bestehe letztlich kein Unterschied zwischen den durchlaufenen Ordnungen und ihren politischen Polizeiapparaten. Diese Befuerchtung war es auch, die mich gehindert hat, der Figur ein Fortleben in der (demokratischen Ordnung der) Bundesrepublik zuzuschreiben (ganz abgesehen von meinem damaligen Mangel an Kenntnissen ueber die Bundesrepublik). Unterdessen weiss man zwar von der Taetigkeit ehemaliger Stasi-Leute zum Beispiel in der bundesdeutschen Kriminalpolizei. (Ich habe das bei einem Besuch der neu-bundesdeutschen Landespolizeischule Brandenburg in Basdorf erfahren koennen). Aber das rechtfertigt mir natuerlich nicht den Schluss, die bundesdeutsche Institution sei mit der Stasi identisch. Es bleibt mir wichtig, den - eben gesellschaftlich bedingten - himmelweiten Unterschied zwischen der politischen Polizei einer diktatorischen und einer demokratischen Ordnung im Auge zu behalten. (Natuerlich - miese Gestalten gibt es ueberall). Ich erinnere mich, dass ich diese Ueberlegungen viel ausführlicher und klarer in einem Text namens

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„Polizeigeschichten" von 1986 ausgedrueckt habe. Vielleicht interessiert er Dich; ich lege ihn bei.4 In seiner Antwort vom 9. März 1994 schrieb Grass, er wünschte, meinen hohen Glauben an die Vortrefflichkeit des westlichen demokratischen Systems teilen zu können. Da er jedoch radikal-demokratische Züge habe, werte er die üblen Machenschaften westlicher Geheimdienste besonders kritisch. Demokratie müsse höhere Maßstäbe anlegen, und nach diesem Maßstab urteilend, sei für ihn bald zu erkennen gewesen, daß die Ubergänge zwischen Berlin-Ost und München-Pullach fließend seien. Meine Erwiderung vom 3. Mai 1994 fiel ein wenig gequält aus: ... vielleicht kommt meine Antwort auf Deinen Brief vom 9. Maerz so spaet, weil ich keine grosse Neigung verspuere, ueber - wie Du schreibst - meinen „hohen Glauben an die Vortrefflichkeit des westlichen demokratischen Systems" zu rechten. Dennoch - trotz der Verbindungen zwischen westlichen und oestlichen Geheimdiensten, trotz der Tatsache, dass sich westliche Geheimdienste der demokratischen Kontrolle entziehen (das alles ist mir ja nicht neu), wehre ich mich gegen die Tendenz, beide Seiten gleichzusetzen, denn es will mir nicht einleuchten, dass die Verwendung gleicher Mittel es nahelegen soll, die grundsaetzlich verschiedenen Motive der beiden Seiten - zum Beispiel der Stasi und des Verfassungsschutzes - geringzuschaetzen. Grass beharrte in seinem Brief vom 31. Mai 1994 auf seinem Standpunkt: Was die Geheimdienste in Ost und West und deren Vergleichbarkeit angehe, so sehe er das nach wie vor anders als ich. Er verwies mich u. a. auf polizeiliche Datensammlungen über Frisch und Dürrenmatt in der Schweiz, auf Hausdurchsuchungen bei Heinrich Boll und empfahl mir die Lektüre des Buches von Herbert Mitgang Dangerous Dossiers.5 Aber Mitgangs Buch über die Observierung von Schriftstellern und Künstlern durch amerikanische Geheimdienste ist nicht dazu geeignet, die Tätigkeit kommunistischer Staatssicherheitsdienste zu relativieren. Bei Mitgang heißt es: Amerikanische Autoren wurden nicht, wie in der Sowjetunion, unter psychologischen Druck gesetzt, sich entweder anzupassen oder ausgewiesen zu werden... 6 ...nicht einer oder eine ..., deren Namen in den Dossiers auftauchen, ist jemals we·

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Polizeigeschichten, in: Über Dreck, Politik und Literatur, Berlin 1992, S. 41-47. New York 1988. Deutsch unter dem Titel: Überwacht. Große Autoren in den Dossiers amerikanischer Geheimdienste, Düsseldorf 1992. Ebd., S. 35.

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gen eines der Vergehen verurteilt worden, das ihm oder ihr vom FBI oder anderen Ermittlungsbehörden angelastet wurde.7 Niemand erhielt Arbeits- oder Publikationsverbot, niemandem wurde die Staatsbürgerschaft entzogen. Es ist also irreführend, aus der Observierung von Schriftstellern und Künstlern durch amerikanische Geheimdienste den Schluß zu ziehen, die Unterschiede der gesellschaftlichen Ordnungen in demokratischen und totalitären Staaten seien sekundär. Am 15. Februar 1995 traf ich mit Grass zu einem Gespräch zusammen, an dem auch seine Frau Ute teilnahm. Grass teilte mir mit, daß das Manuskript seines neuen Romans abgeschlossen sei und dieser Tage in den Satz gehe. Er erläuterte mir, welche Gestalt die Figur Tallhover angenommen habe und welche Rolle sie in seinem Buch Ein weites Feld spiele. Grass fragte, ob ich zur Frankfurter Buchmesse reisen werde. Ja, sagte ich; von mir erscheine ein Büchlein mit dem Titel Mal hören, was noch kommt. Was er mit seiner Frage bezwecke. Grass meinte, wir könnten gemeinsam vor die Presse treten. Warum? Er würde über sein neues Buch sprechen, ich könnte über Tallhover sprechen - das würde Effekt machen. Ich lehnte diese Idee ab. Grass gab kund, er habe meinem Verlag nahegelegt, sich in der Werbung für Tallhover an sein neues Buch „dranzuhängen". Ich sagte, zwar könne ich nicht für den Rowohlt Verlag sprechen, aber ich persönlich lehnte diesen Einfall ab. Im übrigen sei noch zu erörtern, wer, Tallhover betreffend, an wem „dranhänge". Grass meinte daraufhin, ich sei eben geschäftsuntüchtig. Ich sei noch immer derselbe blöde Ossi wie die anderen Ossis alle auch. Uberhaupt, er habe in letzter Zeit öfter denken müssen, es sei besser für mich gewesen, wenn ich im Osten geblieben wäre. Ich fragte, wie er das meine; ob er etwa wünschte, ich wäre dort zugrunde gegangen. Nein, meinte Grass; ich hätte auch im Osten weiterschreiben, aber im Westen publizieren können. Dann wäre ich bekannter und hätte mehr Erfolg gehabt. Nach allem, was Grass über die Bedeutung der Figur Tallhover für seinen Roman Ein weites Feld gesagt hatte, äußerte ich den Wunsch, er möge in einer Notiz auf mein Buch und auf meinen Verlag verweisen. Grass hielt eine solche Notiz für überflüssig, da Autor und Titel innerhalb seines Textes mehrfach direkt erwähnt seien. Am 18. Februar 1995, drei Tage nach diesem Gespräch, schrieb ich Grass, ich sei zu dem Schluß gekommen, daß ich ihm meinen Wunsch noch einmal - womöglich unmißverständlicher - nahebringen müsse: Du solltest die Tatsache, daß „Tallhover" die Vorlage für Dein Buch darstellt, in einer editorischen Vorbemerkung direkt zur Kenntnis geben. Das wäre fair und

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Ebd., S. 42.

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Hans Joachim Schädlich angemessen. Anders kann ein unbelasteter Kontakt zwischen uns nicht mehr möglich sein.

In seiner Antwort vom 28. April 1995 schrieb Grass, mein Brief vom 18. Februar habe auf ihn eine befremdende Wirkung, da er doch versichert zu haben glaubte, daß im Erzählverlauf seines Romans die Figur Tallhover und deren Autor überall dort kenntlich gemacht seien, wo sich aus der Erzählung dieser Zusammenhang ergebe; allerdings nicht als Leitmotiv, denn Tallhover sei nicht die Vorlage für sein Buch, wohl aber Ursache für weiterführende Reflexionen. Bisher habe er geglaubt, daß mir die Praxis unserer Freundschaft Beleg für Vertrauen sein könnte. Mein letzter Brief bediene sich hingegen einer vom Mißtrauen geprägten Sprache. Ich stelle Bedingungen und drohe bei Nichteinlösung. Dies empfinde er als Belastung. A m 15. Mai 1995 teilte mir der Rowohlt Verlag mit, die Bemerkung am Ende des Buches Ein weites Feld von Günter Grass laute: Die Gestalt des Tallhover, die in dem vorliegenden Roman als Hoftaller fortlebt, entstammt dem 1986 bei Rowohlt/Reinbek erschienenen Roman „Tallhover" von Hans Joachim Schädlich. Das Leseexemplar von Ein weites Feld, das Grass mir am 13. Juni 1995 schickte, war von einem Brief begleitet, der mit dem Satz endete, er überlasse es mir nun, mein ihn verletzendes Mißtrauen zu überprüfen. Zu dieser Bemerkung schrieb ich Grass am 20. Juni u. a.: ... ich hielt es schlichtweg für ein Gebot der Redlichkeit (auch aus Gründen des Rowohlt Verlages), daß Du außerhalb des Textes auf „Tallhover" verweist. Du hast das in unserem Gespräch am 15.2. abgelehnt. Wenn ich in meinem Brief vom 18.2. darauf bestanden habe, so war das kein Ausdruck von Mißtrauen, sondern eine ganz normale Erwartung. Wie Du weißt, hat es danach sehr lange gedauert, bis Rowohlt mir mitteilen konnte, daß Steidl einen Hinweis auf „Tallhover" außerhalb des Textes bringen werde. (Übrigens habe ich den Eindruck, als sei dieser Hinweis verschämt versteckt worden - nach dem Inhaltsverzeichnis. Aber das ist ein anderes „weites Feld"). In Deinem Brief vom 13. Juni gehst Du mit keinem Wort auf dieses Gezerre um den Hinweis ein; statt dessen tust Du so, als hätte es damit gar kein Problem gegeben, und Du setzt mich obendrein - wider Dein besseres Wissen noch ins Unrecht mit Deiner Bemerkung, ich könne nunmehr mein „Mißtrauen überprüfen". - Ich hatte es einfach für selbstverständlich gehalten, daß außerhalb Deines Textes auf „Tallhover" verwiesen wird, und ich kann Deine Haltung in dieser Sache (erstens: Weigerung; zweitens: Vorwürfe gegen mich - „befremdende Wirkimg", „Belastung"; drittens: nachträgliche Bagatellisierung) nur als Deiner unwürdig, ja sogar als schwach empfinden. In diese Zeit fiel die Debatte über die Vereinigung der deutschen P.E.N.Zentren, die für mich eng mit Grass' Auffassung der Tallhover-Figur zu-

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sammenhing. Auf der Jahrestagung des P.E.N.-Zentrums der Bundesrepublik vom 18.-20. Mai in Mainz war ein Beschluß gegen die schnelle Vereinigung des West-P.E.N. mit dem Ost-P.E.N. gefaßt worden, dessen Kernsatz lautet: Solange sich das Deutsche P.E.N.-Zentrum (Ost) nicht unzweideutig und konsequent von der Staatsverstrickung des DDR-Zentrums (die nach jüngsten Aktenfunden nicht nur Stasi-, sondern auch KGB-Kontakte einschloß) distanziert, kann es keine Gemeinsamkeit geben.8

Mit diesem Beschluß wollten sich die Befürworter einer schnellen Vereinigung nicht abfinden; sie richteten an den Ost-P.E.N. den Antrag, als Doppelmitglieder aufgenommen zu werden. Unter den Doppelmitgliedern befand sich Grass, der zwar nicht an der Mainzer Tagung teilgenommen hatte, aber in einem Interview mit der Woche vom 2. Juni verlautbarte, er empfinde den Mainzer Beschluß „als ein Verdikt von Selbstgerechten", als „eine Art Hallstein-Doktrin." Der Beschluß entspreche „einer Siegerattitüde, die ich ablehne und die mich, als ich davon hörte, spontan entscheiden ließ: Ich trete dem Ost-PEN bei." Die Doppelmitgliedschaft solle „zur praktischen Vereinigung der beiden PEN-Zentren führen." Schriftsteller, die die DDR hatten verlassen müssen und die sich gegen die schnelle Vereinigung der deutschen P.E.N.-Zentren gewandt hatten, bezeichnete Grass als „Betonfraktion". Er äußerte, daß ihn der Ton einiger Offener Briefe abstoße, „gleich, ob von Sarah Kirsch oder Günter Kunert oder Hans Joachim Schädlich geschrieben." Dieser Ton habe etwas Inquisitorisches. Grass' große Worte gegen die „Siegerattitüde", gegen das „Verdikt der Selbstgerechten" im Westen paßten so gar nicht zu seinem Satz vom 15. Februar 1995, ich sei noch immer derselbe blöde Ossi wie die anderen Ossis alle auch. Zu Grass' P.E.N.-Politik, speziell zu seinem Übertritt (als Doppelmitglied) in den Ost-P.E.N., schrieb ich in meinem Brief vom 20. Juni 1995: Unterdessen ist mir Dein Interview mit Manfred Bissinger in der Woche vom 2. Juni untergekommen. Dein Ubertritt in den Ost-P.E.N. ist in meinen Augen ein erbärmliches Theater, das jedes politische Verständnis (von Solidarität, die Du so gerne beschwörst, ganz zu schweigen) für Günter Kunert, Sarah Kirsch, mich und andere vermissen läßt. Und Du redest davon, daß Du Dich mit uns befreundet glaubst! Hast Du die 70er Jahre in der DDR, während der Du ganz anderer Meinung warst, vollkommen vergessen? - Ich nehme an, daß Dein Ubertritt in den Ost-P.E.N. Deinem Marketing-Konzept für „Ein weites Feld" günstig ist. Ich habe

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Der vollständige Beschlußtext bei J. P. Wallmann: Die geteilte Erinnerung. Zur Jahrestagung des P.E.N.-Zentrums Bundesrepublik in Mainz, in: Deutschland Archiv, Jg. 28, H. 6 0uni 1995), S. 566-568, speziell S. 567.

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Hans Joachim Schädlich mich am 16. Juni anläßlich der Entgegennahme des Hans-Sahl-Preises zu diesem Übertritt geäußert und lege Dir meine Rede bei.

D i e entsprechenden Stellen in meiner Sahl-Preis-Rede lauten: Prediger gegen die Vereinigung Deutschlands oder - etwas später - gegen die schnelle Vereinigimg Deutschlands sind plötzlich Fürsprecher einer schnellen Vereinigung des P.E.N.-Zentrums der Bundesrepublik mit dem Ost-P.E.N. Hurtig auf den letzten Wagen des Einheits-Schnellzuges gesprungen!, heißt jetzt die Devise. Es wird die Einheit der deutschen Schriftsteller beschworen, als habe es eine solche Einheit je gegeben. Die Einheit wird zu einer mystischen Größe stilisiert, als ginge es tatsächlich um die Einheit. Es geht aber um das Verhältnis zur Geschichte. Eine Erklärung des Verhältnisses zur Geschichte soll wohl vermieden werden. So wird der Einheits-Mantel übergeworfen, unter dem die Geschichte verborgen werden kann. Einheits-P.E.N.-Verfechter haben sich nicht gescheut, die Gegner einer schnellen, verhüllenden Vereinigung mit dem Kalte-Kriegs-Vokabular unseliger Zeit zu überziehen. Da ist zum Beispiel bei Günter Grass, der es besser weiß, von selbstgerechter, inquisitorischer Siegerattitüde einer Betonfraktion und von Hallstein-Doktrin die Rede ... Aber: Die Selbstgerechtigkeit derer, die die Erklärung der Geschichte vermeiden möchten, ist einem betonierten Denken verhaftet, das den Zusammenbruch der kommunistischen Diktatur nicht verwinden kann ... Die Methoden der kommunistischen Diktatur und die Vorgänge im ehemals kommunistisch beherrschten Teil Deutschlands zur Diskussion zu stellen, und zwar auch im besonderen Fall des Ost-P.E.N. - das meint Erklärung der Geschichte. Mit Siegerattitüde hat es nichts zu tun. Der Ubertritt vieler Mitglieder des P.E.N.Zentrums der Bundesrepublik in den Ost-P.E.N. aber trägt peinliche Züge, denn so heißt es ja auch - man wolle nun im Ost-P.E.N. - allerdings ohne Stimmrecht sorgen helfen, daß dort aufgeräumt werde. Als wäre die Aufräumungsarbeit nicht Sache des Ost-P.E.N. Nun ja: der Ubertritt wurde von den Übertretern als symbolischer Akt bezeichnet. Symbolisch ist der Übertritt in der Tat. War es doch einer der Übertreter, der Adenauers Politik der Amnestierung von Nazis als förderlich für den Aufbau der Bundesrepublik beschrieben hat und als Vorbild für das Verhältnis zu den Stasis empfahl.. A m 10. J u l i 1995, einige Zeit vor d e m Erscheinen v o n Ein weites Feld, ich Grass nach der L e k t ü r e eines Leseexemplars u. a. folgendes mit:

teilte

Als ziemlich peinlich empfinde ich die Bewertung meines Buches (z. B. „ist schwierig, aber lesenswert..." (S.240)) und die häufige Korrektur meiner Tallhover-Figur (z.B. „Bedauerlich nur, daß mein Biograph, der ja sonst alles offengelegt hat, ne gewisse Hemmung hatte, meiner in Beichtstühlen erfahrenen Prägung Beachtimg '

Hans Joachim Schädlich: Entscheidung für die demokratische Welt. Rede anläßlich der Entgegennahme des Hans-Sahl-Preises, in: europäische ideen, H. 95 (1995), S. 25-27.

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zu schenken" (S.274); „Übrigens ist Hoftaller besser als Tallhover" (S.544)). Meines Erachtens ist die betonte Korrektur des Schlusses von „Tallhover" überflüssig (in „Zunge zeigen" schreibst Du schon: „...nein, Tallhover kann nicht sterben"). Der Schluß von „Tallhover" legt zwar ein individuelles Ende der Person Tallhover nahe, vollzieht es aber nicht. So ist bereits im „Tallhover" ausgedrückt, daß der Typus weiterlebt. Zu inhaltlichen Aussagen seines Buches schrieb ich: Erstens: Deine Abneigung gegen die Einheit Deutschlands, die dem Publikum aus früheren Äußerungen von Dir bekannt ist. Du stellst Deine Abneigung unter dem Aspekt des Systemgegensatzes Kapitalismus vs. Sozialismus dar, aber ich erfahre aus Deinem Buch nicht, warum eigentlich die DDR zusammengebrochen ist. Das führt dazu, daß Du zum Beispiel die Treuhandgesellschaft als Vernichterin des sogenannten Volkseigentums darstellst (etwa auf S.750 aus dem Munde Fontys: „All das soll... auf Geheiß der Treuhand verscherbelt werden und darf nicht mehr des Volkes Eigentum sein..."); aber wo erfährt man, daß es ein „Volkseigentum" im Staatssozialismus nie gegeben hat? Mit anderen Worten: Die Tatsache, daß der Untergang der DDR ein Untergang der kommunistischen Diktatur war und daß mit der Einheit Deutschlands die Entwicklung der parlamentarischen Demokratie auch im östlichen Landesteil möglich wurde, fällt unter Deinem Blickwinkel aus der Betrachtung heraus. - Du wirst sagen, Deine Ansicht sei unter sozialdemokratischem Aspekt legitim und stehe Dir subjektiv zu. Sicher, aber Dein Blick auf die Entwicklung nach 1989 leugnet historische Notwendigkeiten und die - ihrerseits legitimen - Ansprüche einer Mehrheit der ostdeutschen Bevölkerung. Vollends unakzeptabel ist es für mich, daß Du in Deinem Kapitalismus-Sozialismus-Schema sogar so weit zu gehen scheinst, das diktatorische System (das man bloß aus Gründen der Propaganda sozialistisch genannt hat) zu favorisieren. An diesem Punkt schlägt Dein Anti-Einheits-Ressentiment ungewollt in eine antidemokratische Position um. Da ist es kein Wunder mehr, daß Du das gesamte Stasi-System regelrecht verharmlost. S. 324-325 läßt Du Fonty sagen: „Was heißt hier Unrechtsstaat! Innerhalb dieser Welt der Mängel lebten wir in einer kommoden Diktatur." - Kommod heißt für mich .bequem, angenehm'. Wie angenehm diese Diktatur war, hättest Du von Leuten wissen können, die Erfahrungen mit der Stasi gemacht haben. Nach meinem Eindruck beruht diese Verharmlosung auf einem Mangel an Kenntnis von System und Praxis des Stasi-Apparates. (Übrigens ist es nicht zu erklären, wieso es auf S.275 über den Prenzlauer Berg heißt: „In einem Stadtteil wie diesem war jeder des anderen Informant..." Das stimmt genau nicht. Dein Satz setzt die Stasi-Spitzel mit ihren Opfern gleich, obwohl Dir bekannt sein müßte, daß es - gerade am Prenzlauer Berg - eine Mehrheit von Leuten gab, die nicht mit der Stasi zusammengearbeitet hat). Aus Deinem Anti-Einheits- oder Anti-Kapitalismus-Ressentiment, das sich für mich - wie gesagt - als antidemokratische Position darstellt, ergeben sich weitere fatale Schlüsse: Die quasi-Gleichsetzung des Treuhand-Chefs mit Hermann Göring (S. 566-567); die quasi-Legitimierung der Ermordung von Rohwedder (die auch

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Hans Joachim Schädlich gleich noch mit einer Diskriminierung ostdeutscher Bürgerrechtlerinnen verbunden wird: „...eine von diesen protestantischen Kirchenmäusen..." (S.635)); die Charakterisierung von „Zensur nach westlicher Maßgabe" (S.638); die (entschuldige mein hartes charakterisierendes Beiwort) aberwitzige Bemerkung (natürlich aus Figurenmund): „Für Juden ist hier kein Platz"; „Nicht nur für Juden ist hier kein Platz" (beides S. 662). Zweitens: Du bist dem Irrtum erlegen, die Verwendung gleicher oder ähnlicher Mittel und Methoden durch die Geheimpolizeien verschiedener Gesellschaftssysteme lasse den Schluß zu, diese Geheimpolizeien seien gleichzusetzen. (Daß wir in diesem Punkt völlig unterschiedlicher Meinung sind, weißt Du aus meinen New Yorker Briefen. Du hast meinen .naiven Glauben an die Demokratie' belächelt). Ich will an dieser Stelle die politischen Unterschiede der Geheimpolizeien verschiedener Gesellschaftssysteme (Motive, Zielsetzungen) nicht wiederholen. Es gibt genügend wissenschaftliche, literarische und persönliche Zeugnisse dafür. Nur eines noch einmal: Die Geheimpolizeien diktatorischer Staaten dienen in der Regel der Machtsicherung alleinherrschender Parteien. Man kann wohl schwerlich behaupten, der Verfassungsschutz diene der Alleinherrschaft einer Partei.

Die Reaktion von Grass ließ bis zum 5. September auf sich warten. Er verband seine Replik mit der Gelegenheit, mir endlich auch auf meinen Brief vom 20. Juni 1995 zu antworten, in welchem ich seine (Doppel-)Mitgliedschaft im Ost-P.E.N. heftig kritisiert hatte. Grass schrieb, auf meine Beurteilung seines Buches wolle er nicht näher eingehen; offenbar beruhe sie auf flüchtiger Lektüre, denn sie stecke voller Fehler und sei vom Vorurteil geprägt. Mit meinem Schluß aber, sein Ubertritt in den Ost-P.E.N. sei seinem Marketing-Konzept für Ein weites Feld günstig, sei das Maß der Zumutungen voll. Sich von mir in diesen Verdacht gesetzt zu sehen, sei ihm unerträglich und nehme ihm die Möglichkeit, unseren Briefwechsel fortzusetzen. Dieser Abschied beende zwar eine Freundschaft, hindere ihn aber nicht, den Autor der Bücher Versuchte Nähe und Tallhover weiterhin hochzuschätzen. Nach der Lektüre von Ein weites Feld war es endgültig klar, daß Grass meine Tallhover-Figur populistisch verkehrt, also verfälscht hatte durch die Verharmlosung des Stasi-Systems und die Gleichsetzung des Spitzels mit dessen Objekt (der Spitzel ist bei Grass zugleich Freund und Gönner des Opfers). Ich habe 1991 in Rom nicht wissen können, daß Grass die Tallhover-Figur solcherart mißbrauchen würde. März 1997

Siegfried Lenz

Von der Wirkung der Landschaft auf den Menschen Abschlußansprache anläßlich des 23. Deutschen Naturschutztages vom 6. bis 10. Mai 1996 in Hamburg

Landschaft gibt es nicht ohne den Menschen. Ohne unsern Blick, unsere Empfindungen, ohne unsere Unruhe und unsere Sehnsucht wäre das, was Landschaft genannt wird, nur ein charakteristischer Ausschnitt der Erdoberfläche. Diese ernste Zypressenlandschaft, diese von Felsen eingeschlossene Bucht, diese bewaldete Insel im See: hätte ein suchendes Auge sie nie erblickt, sie wären lediglich das Resultat entwicklungsgeschichtlicher Prozesse, oder, in lapidarer Abstraktheit: eine Ansammlung biotischer Geofaktoren. Unter schöpferischem Aspekt entsteht Landschaft also zweimal: bestimmt von Zufall und Notwendigkeit, formt sie sich anfänglich als autonomes Gebilde, das nur für sich ist, und sie wird von neuem erschaffen durch die Erlebnisfähigkeit des Menschen. Ob wir ihr gegenüberstehen oder aus ihr herausgucken: Landschaft entsteht durch uns; indem wir ihre Wirkungen registrieren, erkennen wir ihr einen Wert zu, eine auf uns bezogene Bedeutung. Diese Wirkungen spürt jeder, der offenen Sinnes ist, spürt sie als Echo, als Gleichnis, oder, wie der Maler Horst Janssen, als „panisches Mirakel". Dadurch, daß wir sie auf vielfältige Weise erleben, bringen wir Landschaft noch einmal hervor, - besänftigt oder verängstigt, in ekstatischer Stummheit oder beglückt von Harmoniegefühl. Landschaft - und ich meine zunächst Naturlandschaft - hat dem Menschen seit je das Angebot gemacht, in ihr die Chiffren seines Daseins zu sehen. Viele Zeugnisse der Literatur und der bildenden Kunst bestätigen es; sie belegen außerdem, daß von der Landschaft eine erweckende Kraft ausgeht, die sich sowohl an das Gefühl als auch an den Geist wendet. Wozu sie schon früh inspirierte, war vor allem dies: sie bot sich an als Ort wesentlicher Ereignisse. Sie taugte zum erwählten Illusionsraum mythischer, göttlicher, historischer Begebenheiten. Hier, in diesem Talkessel, in zitternder Mittagsglut, ist Pans Flöte zu hören; hier, in erwartungsvoller Bodenseelandschaft, geschieht „Petri Fischzug", und hier, die beiden Felsen im Wasser, diese gigantischen Wurfgeschosse bezeugen den Herrschaftszwist nordischer Gottheiten. Dem legendären Geschehen wurde ein Handlungsort gefunden bzw.

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Siegfried Lenz

zugewiesen, - in einer Landschaft, die das Geschehen möglich sein ließ. Auch wenn sie auf frühen Darstellungen oft nur als dekorative Staffage erscheint: der erweckende Charakter der Landschaft ist unübersehbar. U m Landschaft erleben, um ihre Wirkung erfahren zu können, bedarf es offenbar gewisser Voraussetzungen. Damit sie etwas in uns hervorruft - eine Stimmung, ein Gefühl oder gar eine Erkenntnis - , müssen wir uns in sie versetzen; wir müssen etwas hinzusehen, - uns selbst mit unserer Befindlichkeit, mit unserer Geschichte. So nur können wir sie als unser Komplement erfahren; Landschaft wird - nach Goethe - „der eigentliche Ort, wo wir hingehö« ren . Die Wirkung beginnt bereits, wenn wir unwillkürlich versucht sind, das Erscheinungsbild der Landschaft zu bezeichnen, wenn wir z.B., auf Kenntnis und Erfahrung zurückgreifend, eine Landschaft idyllisch nennen, archaisch oder unheimlich. Landschaft erinnert uns dann an etwas, was wir schon einmal wahrgenommen haben oder was in unserer Vorstellung bereitliegt. Sie löst den Wunsch aus zu vergleichen, und es wundert nicht, daß, wenn wir einen Namen für eine Landschaft suchen, diesen oft im Vergleich finden. Seltsam, daß wir uns nicht damit abfinden können, eine Landschaft namenlos zu lassen; das Bedürfnis, sie zu bezeichnen, ist aufschlußreich genug. In jedem Fall verrät es etwas über unser Verlangen, Welt kenntlich zu machen, um auf diese Weise Sicherheit zu gewinnen, Orientierung, oder sogar heimisch zu werden. Mitunter sind es naheliegende Vergleiche, die zu einer Namensgebung führen. Der Hunsrück etwa - Uwe Förster hat nicht nur dies belegt hat seinen Namen bekommen, weil er tatsächlich einem Hunderücken gleicht; desgleichen hat man den Höhenzug Finne so genannt, weil er an die Rückenflosse eines Fisches erinnert. So, wie durch den Vergleich, so werden Landschaftsnamen aber auch angepaßt, indem eine Eigenschaft hervorgehoben wird oder ein signalhaftes Kennzeichen. Die Krümmungen eines Flusses; gebückte, schwer durchdringliche Hecken; steinige Ödnis; Schilf, M o o r und charakteristische Pflanzen: alles, was eine Landschaft näher bestimmt, kann namengebend sein. W i r lassen das Vorgefundene auf uns wirken und schreiben seine Eigenart fest - im angepaßten Namen. Dies allerdings, so scheint es, stellt lediglich einen A k t äußerer Inbesitznahme dar. Die wesentlichen Wirkungen der Landschaft erfahren wir als inneres Erlebnis. Mit jedem Versuch, Landschaft zu beschreiben, decken wir bereits den Zusammenhang von Mensch und Natur auf. Überlieferte epische Dokumente und Bekenntnisse öffnen uns die Augen dafür, wie erstaunlich die Echos sein können, die von erlebter Landschaft auf uns zurückkommen, und wie reich und verschiedenartig das Spektrum unserer Empfindungen sein kann. Es läuft ja nicht nur auf Ergriffenheit und Bewunderung hinaus. Der Philosoph Ludwig Feuerbach hat z . B . bekannt, auf welche Weise Landschaft ihn zu

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einer Selbstbestimmung führte. „Meine Reise ins Fichtelgebirge", so schrieb er in einem Brief, „war das notwendige Antidotum zur Heidelberger. Auf dem Ochsenkopf habe ich meinen Kopf wieder zurechtgesetzt... Ja, dorthin gehöre ich, in dieses düstere, arme, aber doch großartige Gebirge, nicht in das reiche, schöne, vornehme Rheintal. Mir gebührt die Preiselbeere, nicht die üppige Aprikose, die saure Schlehe, nicht die süße Traube am Rhein, die traurige Fichte des Fichtelgebirges, nicht die fröhliche Buche, noch weniger die schmackhafte Kastanie des Odenwaldes." Hier, im freien Urgebirge, wird dem Reisenden bewußt, wohin er gehört; er glaubt, heimgekehrt zu sein, und nennt die zurückliegenden Jahre ein Scheinleben. Dieselbe Landschaft, die in Feuerbach den Wunsch weckte, sich selbst zu bestimmen, diente dem Schriftsteller Immermann dazu, sich einen bedeutenden Charakter zu erklären, - den Charakter seines Kollegen Jean Paul. Immermann erlebt „ein großes bizarres, mit den wunderbarsten Naturschauspielen ausgestattetes Gebirge", er begegnet sonderbaren Leuten - Vogelfängern, Bergleuten, Holzarbeitern -, die ihm ihre Launen und Seltsamkeiten nicht vorenthalten, und je mehr er mit der Landschaft und ihren Leuten vertraut wird, desto erklärlicher wird ihm der Charakter des Autors Jean Paul und desto entschuldbarer erscheinen ihm dessen bizarrer Humor, dessen unterhaltsame Verstiegenheit. Auch darin kann die Wirkung einer Landschaft liegen, daß sie einem vor Augen führt, was dem eigenen Wesen entspricht. Wir werden angeregt, uns selbst zu definieren, und nicht nur dies: in Zusammensicht mit der Landschaft wird uns die Eigenart von Menschen verständlich. Der wortkarge Mann, krummgeweht vom Wind, sparsam mit gezeigtem Gefühl, wird uns sogleich als hingehörig zu seiner Küstenlandschaft erscheinen; desgleichen werden wir aber auch den Menschen als hingehörig empfinden, der uns in seinem Weinberg über dem Fluß anspricht, uns zu einer Weinprobe einlädt und mit verblüffender Offenheit in sein Leben einweiht. Zum Spektrum der Wirkungen, die von einer Landschaft ausgehen, gehört aber nicht nur die Empfindung, heimisch zu sein. Adalbert Stifter, einer der genauesten und geduldigsten Landschaftsschilderer, verweist in seinem Hochwald auf andere Erfahrungen. Er schrieb: „Dichte Waldbestände der eintönigen Fichte und Föhre führen stundenlang vorerst aus dem Moldautale empor, dann folgt, dem Seebache sanft entgegensteigend, offenes Land - aber es ist eine wilde Lagerung zerrissener Gründe, aus nichts bestehend als tiefschwarzer Erde, dem dunklen Totenbette tausendjähriger Vegetation, worauf viele einzelne Granitkugeln liegen, wie bleiche Schädel von ihrer Unterlage sich abhebend, da sie vom Regen bloßgelegt, gewaschen, und rundgerieben sind. Ferner liegt noch da und dort das weiße Gerippe eines gestürzten Bau-

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mes und angeschwemmte Klötze... Keine Spur von Menschenhand, jungfräuliches Schweigen." Stifter bekannte, daß ihn hier ein Gefühl der tiefsten Einsamkeit überkam, ein unbegreifliches Gefühl, wie er sagte, und beim Anblick des kleinen Sees glaubte er, von einem „unheimlichen Naturauge" beobachtet zu werden. Was das Panorama in ihm hervorruft, sind Staunen und Verwirrung, - eine Wirkung, die wohl vielen vertraut ist. Es spricht für sich, daß jeder einen gewissen Vorrat an Landschaftsbildern besitzt, - erlebten, nachempfundenen, imaginierten Bildern. Wir können sie auf Abruf oder auf Stichwort hervorbringen so charakteristisch, daß ein anderer sie unmittelbar wiedererkennt. Ich denke mir zum Beispiel eine braune Ebene, in der ein paar Tümpel blinken, ich lasse Riedgras aufwachsen, besetze den Horizont mit einzelnen Kopfweiden - lauschend dastehenden Gespensterbäumen - , im Vordergrund lasse ich einen mageren, vom Wind durchgewalkten Schilfgürtel entstehen, und dann werfe ich noch einen einsamen Vogel in die Luft und: sehe mich vor einer Moorlandschaft. Zu meiner Verwunderung jedoch befinde ich mich nicht nur vor der Landschaft, sondern kann auch die Gefühle benennen, die sie offenbar erweckt und die ihr zu entsprechen scheinen. Einsamkeit, Ausgesetztsein, ein vages Erschauern vor dem Unheimlichen, in dem etwas Bedrohliches liegt. Daß bestimmte Landschaften identische, und das heißt wiederholbare Gefühle und Stimmungen hervorrufen: die beschreibende Literatur bestätigt es zur Genüge. Wie übereinstimmend das Erlebnis einer Meerlandschaft quittiert werden kann, zeigen die Schilderungen zweier Autoren, deren Empfänglichkeit für Naturschauspiele wir seit langem bewundern. So lesen wir bei Theodor Storm: „In diese heimlichen Laute der Nacht drang plötzlich von der Gegend des Deiches her der gellende Ruf eines Seevogels, der hoch durch die Luft dahinfuhr. Da mein Ohr einmal geweckt war, so vernahm ich nun auch aus der Ferne das Branden der Wellen, die in der hellen Nacht sich draußen über der wüsten geheimnisvollen Tiefe wälzten und von der kommenden Flut dem Strand zugeworfen wurden. Ein Gefühl der Ode und Verlorenheit überfiel mich." Als schreckliches, wenn auch großes Schauspiel erlebt Wilhelm von Humboldt eine nächtliche Stunde am Strand der Nehrung. Er schreibt: „Ein schmaler Strich toten Sandes, an dem das Meer unaufhörlich an einer Seite anwütet, und den an der anderen eine ruhige große Wasserfläche, das Haff, bespült. Die ödesten Sandhügel, die schrecklichsten traurigen Kiefern, die ganze Stunden lang, so weit man sehen kann, bloß aus dem Sande, ohne einen einzigen Grashalm emporwachsen, und nur oben durch die Luft zu leben scheinen, eine Stille und Leere selbst von Vögeln auf dem Lande, die dem Brausen des Meeres nichts zu übertäuben gibt, nur einzelne große Möwen, die am Ufer hinschweben."

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Es ist klar: Identische Landschaftserlebnisse sind nur möglich bei gleicher Gestimmtheit, bei gleicher Empfänglichkeit. Wir müssen disponiert sein, uns von einer Einsicht unterwandern, von einer Erkenntnis überwältigen zu lassen. Was Landschaft uns echohaft beweist: unsere Vergänglichkeit, unser Harmonieverlangen, unsere Sehnsucht nach Dauer - wir müssen offen genug sein, diese Beweise anzuerkennen. Wer die verschiedenartigen Wirkungen der Landschaft erörtert, darf ihre inspirierende Eigenschaft nicht übersehen. Die Malerei, die Dichtung, die Musik: wir wissen, wieviel sie der Landschaft verdanken: Naturlyrik, Landschaftsmalerei, Liedkomposition - sie bezeugen, wie selbstverständlich der Wunsch aufkommt, bestimmten Empfindungen eine ästhetische Fassung zu geben. Es ist mehr als Anregung, mehr als Stimulierung; in dem Bedürfnis, dem Landschaftserlebnis einen eigenen Ausdruck zu verleihen, liegt wohl auch eine gewisse Dankbarkeit: wir möchten mit eigener Sprache der Natur zurückgeben, was sie uns geschenkt hat, - ein Weltgefühl, ein sinnbildliches Begreifen. Der Dichter Johannes Bobrowski hat das ausgedrückt: „Als sie über die Memel hinfuhren, auf der hohen Brücke, als der Strom rechterhand herzog, breit und dunkel, mit schwerem Atem, einen fliegenden Schleier weißer Spitzen, Licht und kleine kippende Wasserkämme über sich, da hatte ihn noch eine andere Tonfolge beschäftigt, noch gar keine Melodie oder keine Melodie mehr, ein paar ungewöhnliche Intervalle, bei ständigem Taktwechsel, fortwährendes Modulieren... - ein Erzählton vielleicht, aber doch wieder auch nicht, ein Parlando, schwerer, genauer, ein Rhythmus noch, aber kein geschlagener, einer aus schwingenden Bögen, ein geatmeter über einem stark strömenden Wasser." Der Landschaft einen eigenen Ausdruck geben, sie in ihrem Einfluß auf das Gefühl wiederholen: für den Künstler war es seit je eine selbstgewählte Aufgabe. Ein eigener Ausdruck bedingt, daß man sich ins Spiel bringt, daß man seine Befindlichkeit ebensowenig verschweigt wie seine Hoffnung. Paul Cézanne bekannte: „Ich will mich an die Natur verlieren, will mit ihr wie sie keimen, die eigensinnigen Töne der Felsen haben, die vernünftige Hartnäckigkeit des Gebirges, die Flüssigkeit der Luft, die Wärme des Gebirges." Und Horst Janssen sagt: „Die Landschaft ist das Bild reiner und einziger Leidenschaft: Drama aus Akten der Stille, der Stürme, der Luft und Wasserfurien... ich gehe ein in die Landschaft und die Bilder, die ich aus der Landschaft ziehe, Sepia und Wasser... zurück in meiner Burg, zieht die Landschaft durch den Schlaf." Wir können sie also mitnehmen, können den Sinneseindruck, den wir von einer Landschaft gewonnen haben, im Gedächtnis aufbewahren. Doch seltsam genug: was im Gedächtnis liegt, bleibt sich nicht gleich, es verändert sich mit der Zeit; mitunter büßt es Kontur und Schärfe ein, verliert seine Eindeu-

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tigkeit, reduziert sich; oft genug aber wächst es sich aus, nimmt an Größe und Bedeutung zu und läßt uns erkennen, in welchem Maß unsere Eindrücke angereichert werden können. Eine erinnerte Landschaft ist häufig genug eine angereicherte Landschaft; indem wir sie beschwören, sehen und denken wir ihr zu, was bei der ersten Wahrnehmung kaum zählte. Was bei dem Versuch, die Weichsel-Landschaft aus der Erinnerung zu beschreiben, zutage tritt, zeigt Günter Grass in den Hundejahren. Zunächst stellt er fest: „Die Weichsel ist ein breiter, in der Erinnerung immer breiter werdender, trotz der vielen Sandbänke schiffbarer Strom...". Und dann - je länger Erinnerung tätig ist hebt sich immer mehr herauf, Wiesen und Dörfer und Deiche, das Panorama der immer breiter werdenden Weichsel schließt Sonnenuntergänge und Fährbetriebe ein, aber auch das genügt nicht, denn die suchende Erinnerung steigt tiefer und tiefer und bringt alles zum Vorschein, was einst zu dieser Landschaft gehört hat: heidnische Götter und Hochwasser, legendäre Deichgrafen und Napoleon auf dem Durchzug. Geweckt durch einen forschenden Erinnerungszwang, wird der Landschaft ein historisches Schicksal zuerkannt. Wir werden gewahr, „was alles der Weichsel gut zu Gesicht steht, was einen Fluß wie die Weichsel färbt: Sonnenuntergänge, Blut, Lehm und Asche." Es steht außer Zweifel: die Wirkung, die die Landschaft auf den Menschen ausübt, hat vielfältige Ausdrucksformen: Andacht und Angstigung, Staunen und Schwermut, Glücksempfinden und Ewigkeitsschauer - wir kennen den Widerhall aus eigenem Erleben. Und solange sich unsere Erlebnisfähigkeit erhält, können wir der auslösenden Echos sicher sein. Doch wir müssen uns eingestehen, daß sich unsere Erlebnisweisen, unsere Haltungen und Anschauungen ändern; unser Verhältnis zur Natur hat sich gewandelt. Wir sind aus der pantheistischen Behausung ausgezogen, die Zeit, in der die Natur als magna mater kultische Verehrung genoß, ist vorbei. Kant schrieb bereits, die Vernunft müsse an die Natur herangehen nicht wie ein Schüler, der sich alles vorsagen läßt, sondern wie ein bestallter Richter, der die Zeugen nötigt, auf die Fragen zu antworten, die er ihnen vorlegt. Aber nicht allein unsere Haltungen und Erlebnisweisen haben sich geändert; wir haben erfahren müssen, daß die Naturlandschaft, in der wir so lange wie in einem Zauberspiegel ein Lebensabbild sahen, auf dem Rückzug ist. Zwar läßt sie sich noch hier und da auffinden, doch mehr und mehr umgeben und durchschnitten von einer anderen Landschaft, die den planerischen Eingriff des Menschen verrät. Schon Fontane, der wunderbare Landschaftsschilderer, sprach in diesem Zusammenhang von Kulturlandschaft. Der Chronist der Mark nimmt die Veränderung so wahr: „An diesem frostigen Dezembertag aber liegt das schöne Havelland brachfeldartig vor uns ausgebreitet, eine graubraune, heideartige Fläche, durch welche sich in breiten blanken Spiegeln, wie Seeflächen, die Grundwasser und übergetretenen Gräben dieser

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Niederung ziehen... Ein grauer Himmel über grauem Land, nur ein Krähenvolk aufsteigend aus dem Weidenwege, der sich an den Wasserlachen entlangzieht, so war das Land von Anfang an: öde, still, Wasser, Weide, Wald... Dort, zwischen Wasser und Weiden hin, läuft ein Damm, im ersten Augenblicke nur wie eine braune Linie von unserm T u r m aus bemerkbar; aber jetzt gewinnt die Linie mehr und mehr Gestalt; denn zischend, brausend, dampfend, dazwischen einen Funkenregen ausstreuend, rasseln jetzt von zwei Seiten her die langen Wagenreihen zweier Züge heran und fliegen an derselben Stelle vielleicht, wo einst Jakzo und Albrecht der Bär sich trafen - aneinander vorüber. Das Ganze wie ein Blitz!... Das Havelland träumt wieder von alter Zeit." Es kann nur ein Traum von Unberührtheit und Unschuld sein - ein vergeblicher Traum, denn längst ist die Kulturlandschaft eine vollendete Tatsache. Fontane selbst zählte zusammen, was zu ihrem Bild gehört, und erwähnte Raps- und Weizenfelder, üppige Wiesen, er sah die roten Dächer eines Dorfes hinzu und Flöße und Kähne auf den Seen und Kanälen. W i r können das Bild von uns aus erweitern, lassen Wege durch die Weidelandschaft laufen, spannen eine Brücke über den Fluß, legen Hecken und Garten an, schaffen einen von Bäumen eingeschlossenen Platz. Kulturlandschaft läßt die gestaltende und pflegerische Tätigkeit des Menschen erkennen, sie stellt uns vors Auge, mit welchen Absichten der Mensch die selbstgenügsame Eigenart der Natur veränderte. U m leichter zu leben, um effizienter zu leben, hat er planend eingegriffen, hat reguliert, bereinigt, gegliedert, und mitunter glückte ihm das Organisationswunder einer Stadt, die wir selbstverständlich als Kulturlandschaft ansehen. Wolfgang Koeppen beschrieb, welch eine Wirkung eine Stadt auf ihn ausübte, die, während des Krieges zerstört, phantasievoll wiedererbaut wurde. „Die Stadt ist weit, klar, hoch, sie ist sachlich, aber nicht formenarm errichtet worden. Der Gang durch die neuen Geschäftsstraßen stimmt fröhlich. Die Architektur unserer Zeit weckt ein neues Lebensgefühl, das bisher nur der Süden schenkte. Läden, Cafés, Restaurants öffnen sich bereitwillig der Straße, schließen sich nicht ab, bilden mit der Gehbahn ein Forum, das demokratisch und gute Politik ist... Die Hochhäuser wirken leicht und freundlich, zeigen ein schwebendes, ein verspieltes Wohnen... moderne, gar abstrakte Standbilder schmücken die Straßen, und Erasmus steht, ein freundlicher Weiser, vor der kühn konstruierten Front eines Geschäftshauses und ist allein." Die Stadt - es ist Rotterdam - begeistert den Besucher, weckt in ihm ein neues Lebensgefühl. U n d so, wie dieser Stadtbesucher ein neues Lebensgefühl empfand, mag ein früher Betrachter der Chinesischen Mauer ein Gefühl der Existenzsicherheit und ein Besucher eines Tempels Gottesnähe empfunden

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haben; Mauer und Tempel: auch sie sind Kulturlandschaft, die ihre eigene Wirkung ausübt. Gewiß, die Umgestaltung einer Landschaft kann sehr verschiedenartige Gründe haben, sie kann ästhetisch und ökonomisch, strategisch und kultisch bedingt sein, aber jenseits aller Gründe wird die übergreifende Tatsache offenbar, daß der Mensch sich mit der vorgefundenen Eigenwilligkeit der Natur nicht abfinden wollte. Er gestaltete sie nach seinen Bedürfnissen, mit seinen Möglichkeiten um - immer darauf aus, ihr etwas abzugewinnen. Oft war sein Ziel: besseres Befinden. Doch es hat auch nicht an Versuchen gefehlt, Landschaft zu benutzen, um den Menschen aus dem Gleichgewicht zu bringen, ihn klein und gefügig zu machen. Erdrückt von monströsen Dimensionen, eingeschüchtert von kalter Leere, sollte der Mensch nach dem Willen von Mächtigen zu einer einzigen Funktion hingelenkt werden, zur Funktion der Brauchbarkeit. Gewaltige Aufmarschgelände, Achsen, eintönige endlose Straßen, riesenhafte Bauwerke: Adolf Arndt hat belegt, wie der Mensch auf den ungeheuren Reiz des Raumes, auf diese negative Kulturlandschaft reagiert. Die beabsichtigte Wirkung zeigt sich in einem Verlust des Selbstbewußtseins, in einer Bereitschaft zur Unterwerfung. Arndt sagt: „Der Mensch, der sich so verliert, ist nicht frei, sondern nur losgelöst und sich seiner nicht mehr bewußt und darum ideologisierbar." Welch eine Erlebnisferne zu Goethe, der die Wirkung thüringischer Kulturlandschaft, in der sich alles anbietet, was den Bedürfnissen des Menschen entspricht, zusammenfassend als „gesteigertes Wohlsein" bezeichnet hat. Wohlsein, dies sehr allgemeine Gefühl: wir können es heute empfinden angesichts eines Springbrunnens auf einer Paradestraße, vor einer StrohdachKate, die, unter windgezausten Bäumen, Geborgenheit verspricht, und schließlich auch beim Anblick des winzigen Rechtecks neben der Bushaltestelle, das wildes Gras und Kräuter sich erobert haben. Selbst das geordnete Gebirge der Container, das das Bild einer Hafenlandschaft prägt, kann mit seiner Vielfarbigkeit wenn nicht gleich Wohlsein, so doch Freude hervorrufen, die Stimmung beeinflussen. Doch nicht immer läßt sich die Wirkung der Landschaft auf den Menschen präzise bezeichnen. Wir haben es mitunter selbst erlebt, daß es unnennbare Gefühle waren, die uns erfüllten, daß uns Stimmungen ergriffen, die wir kaum beschreiben konnten. Es blieb ein Rest von Unsagbarem. Heinrich Boll porträtierte einmal eine Landschaft, die, ohne daß es ausgesprochen wird, eine sonderbare Melancholie hinterläßt. „Es war an einem Abend", so schrieb er, „von den Feldern kam der Geruch des abgeernteten Lauchs, und am Horizont qualmten die Kamine schwarz in den rötlichen Himmel hinein. Schnell fiel die Dunkelheit herunter, das Rot des Himmels wurde violett, schwarz, und den kräftigen breiten Pinselstrich der qualmenden Kamine

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konnten wir nicht mehr sehen. Heftiger wurde der Lauchgeruch, untermischt mit zwiebeliger Bitternis. Sehr weit hinter der Mulde einer Sandgrube brannten Lichter, und vorne, wo der Weg verlief, fuhr ein Mann auf einem Fahrrad vorbei, der Lichtkegel taumelte über den holprigen Weg und schnitt ein kleines dunkles Dreieck aus dem Himmel heraus, dessen eine Seite offen « war. Man zögert, man weiß nicht, wie man das Gefühl präzis benennen kann, das die Landschaft entstehen läßt, und man findet auch nicht die Gründe für die aufkommende undeutliche Melancholie. Vielleicht liegt es daran, daß eine Kulturlandschaft andere Empfindungen weckt als eine Naturlandschaft einfach, weil uns die Deutungsmuster weniger vertraut sind. Nicolas Born stellte bei der subtilen Beschreibung eines Platzes ein „langes Trauergefühl" bei sich fest und „nur noch ein vages Empfinden von Anwesenheit, von geisterhaftem Dasein". Die Bewegungen - Leute, Busse, S-Bahnen - erschienen ihm, als „geschähen sie nur vorläufig". Die Unsicherheit der Wahrnehmung zeigte sich auch darin, daß der Betrachter den Wohnhausfassaden hinter dem Bahngelände das Bewohntwerden nicht ansehen konnte. Diese Unsicherheit hebt sich allerdings auf, wenn der Betrachter zu den vertrauten Deutungsmustern zurückfindet, und die Vagheit der Empfindungen läßt nach, sobald alte Erlebnisinhalte sich zum Vergleich anbieten, also Wald und Wiese, Fluß und Feld. Da erscheinen Kurven der Subway wie Fußwege im Wald, und die roten Busse Londons wie Elefanten im Zauberwald. Wie genau die Kunstlandschaft Manhattan erlebt werden kann: Uwe Johnson hat dafür ein Beispiel gegeben. „Gesine war... den Riverside Drive hinuntergefahren, dem inneren Rand einer ausgedehnten Kunstlandschaft, die mit einer Promenade am Fluß beginnt, landeinwärts geht mit einer Schnellstraße aus getrennten Fahrbahnen und nahezu gärtnerischen Zufahrtschleifen, mit einem geräumigen, hügeligen Park fünfzig Blocks lang, mit Denkmälern, Spielplätzen, Sportplätzen, Liegewiesen und bankgesäumten Spazierwegen. Erst dann rahmt der Park die eigentliche Straße, die an vielen Stellen gekrümmt ist, über zierliche Bodenbuckel schwingt, schmale Abfahrtsfinger hinter wiederum Grüninseln zu den Häusern ausstreckt..., eine Veranstaltung von Gartenkunst, eine Straße mit Aussicht auf Bäume, auf Wasser, auf Landschaft." Bei aller ergiebigen Planung und Gliederung: auch hier, in diesem Bild, wird deutlich genug, daß die einst allem übergeordnete Einheit von Mensch und Natur nicht mehr so existiert, daß wir uns als Komplement betrachten können. Etwas ist wohl verlorengegangen: das Unvermittelte, die spontane Erfahrung eines Zusammenhangs, einer schicksalhaften Beziehung. Landschaft, zum zweckmäßigen Produkt, zur vermessenen Staffage geworden, kann heute wohl kaum noch zwanghaft auf uns wirken. Die höhere Ord-

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nung, die innere Gesetzmäßigkeit: das, was Humboldt als geheimnisvollen Daseins-Spiegel empfand - wir werden ihrer nicht mehr auf selbstverständliche Weise inne. Charakteristisch genug: eine Gruppe von darstellenden Künstlern, die sich einst ganz unbefangen als Landschaftsmaler bezeichnet hätte, nennt sich heute „Landvermesser". Sie vermessen, was von Landschaft Übriggeblieben ist, das Fragment, den Erlebnisrest: entzauberte Natur im Kleinformat, künstlerisch kartographiert, um daran zu erinnern, was uns abhanden gekommen ist. Vieles muß Landschaft über sich ergehen lassen; Heide und Wattenmeer, Flußtal und Moor: sie sind einem Planungswillen ausgesetzt, dessen Wirken nicht folgenlos bleiben kann. Und immer deutlicher hebt sich eine Erscheinung in unser Blickfeld, die es nur noch verdient, Stadtschaft genannt zu werden: rostende Industrieanlagen, schmauchender wandernder Müll, zum Abbruch freigegebene Wohnsiedlungen, verödete Plätze, über die der Wind Plastikfetzen treibt, hinüber zur Kleingarten-Kolonie. Es liegt auf der Hand: auch diese Stadtschaft übt eine Wirkung auf den Menschen aus; wir haben sie als Trauer und Erbitterung erlebt, haben sie auch in allen Formen der Selbstbezichtigung wahrgenommen. Das Mitleid mit der gefährdeten Landschaft wächst, es wächst mit zunehmendem Wohlstand. Schon gibt es mannigfache Rettungskonzepte, Vorschläge zur Hege und Konservierung; wie Bedrohtes bewahrt werden kann: wir haben es in besorgten Entwürfen vorgeschlagen. Allerdings läßt sich auch fragen, ob nicht alles, was lebt, dauerhaft gefährdet ist und ob nicht ein Prinzip der Natur darin zu erkennen ist, sich durch Veränderung ins Zeitlose zu retten. Veränderung - sie ist ein bewährtes Mittel der Selbstbehauptung, die überlieferte Geschichte des Lebens beweist es zur Genüge. Natur - und das finden wir mannigfach bestätigt - hat ihre eigene robuste Dynamik. Werfen wir Natur mit der Forke zur Tür hinaus, sagte Horaz, so kommt sie durch die Hintertür wieder herein. Sie nimmt wie selbstverständlich wieder in Besitz, was man ihr durch Planung und unbarmherzige Landschaftsgestaltung genommen hat. Sie kehrt zurück in das Dickicht der Städte, in denen wir leben, und führt uns ihre Möglichkeiten vor an Bahndämmen, an verödetem Bauland, zwischen rostenden IndustrieAnlagen. Und die Tierwelt - unbekümmert um Ästhetik und Landschaftsarchitektur - nimmt an der Eroberung erfolgreich teil. Nein, die Landschaftsidylle vergangener Jahrhunderte wird sich nicht wiederherstellen lassen. Die sogenannte heile Welt bleibt eine Illusion. Was uns in dieser Zeit Anlaß zu Hoffnung geben kann, das ist in der Tat die wunderbare Selbstbehauptung der Natur. Lassen wir sie darin gewähren, zumindest hier und da die Landschaft hervorzubringen, die ihr entspricht: die Naturlandschaft. Man kann sie auch Wildnis nennen. Wildnis: die kann sich auf freiem Feld zeigen und in der Stadt. Kleine Wildnisse, die könnten eine Ant-

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wort sein auf die Anmutungen gewaltsamer Landschaftsgeometrie. Und welche Wirkungen selbst begrenzte Wildnis auf den Menschen hat, das hat offener Sinn überall registriert: wir staunen und beunruhigen uns, wir sind begeistert und erschauern, wir empfinden Sehnsucht und ein rätselhaftes Gefühl von Dauer. Wir nehmen Bild und Zeichen auf, spüren das Echo, das Wildnis in uns auslöst, es wird uns bewußt, daß wir der Landschaft zugehörig sind. Und vielleicht ist das die tröstliche Erkenntnis, die Landschaft uns vermitteln kann: die Erkenntnis, heimisch zu sein.

π. Edition und Editionswissenschaft

Johannes Janota

Mittelalterliche Texte als Entstellungsvarianten

Seit Friedrich Beißner unterscheidet man in der neugermanistischen Editionsphilologie terminologisch zwischen „Entstehungsvarianten" und „Uberlieferungsvarianten". Dabei gilt: „Die Arbeit des Autors am Text führt zu Entstehungsvarianten; wo diese Arbeit beendet ist, beginnt das Stadium der bloßen Uberlieferung, und Textveränderungen, die dann noch eintreten, sind Uberlieferungsvarianten."1 Prinzipiell haben diese Unterscheidung bereits Bodmer und Breitinger in ihrer Opitz-Edition, der ersten historisch-kritischen Ausgabe auf dem Gebiet der neueren deutschen Literatur, getroffen, wenn sie im Vorwort zur Apparatgestaltung feststellen: „Man muß diese so beschaffenen Lesarten mit den Variantibus der Classischen Ausleger nicht vermischen; denn dieselben sind würckliche Schreibarten des Verfassers, welche er aus besondern Ursachen von Zeit zu Zeit verändert hat: Die Classischen Variantes sind bloß Fehler der Abschreiber, oder gelehrte Muthmassungen der Ausgeber."2 Hinter diese editionsmethodologische Position fiel der renommierte Altphilologe und Mittelaltergermanist Karl Lachmann zurück, der mit der Übertragung altphilologischer Verfahrensweisen bei der Konstitution von Texten die kritische Editionstechnik nicht nur mittelalterlicher, sondern - ausgehend von seiner Lessing-Ausgabe (1838-1840) - auch neuzeitlicher deutscher Literatur begründet hat.3 Erst nachdem es dem Neugermanisten Friedrich Beißner gelungen war, die „Textkritik der Lachmann1

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Herben Kraft: Editionsphilologie, mit Beiträgen von Jürgen Gregolin, Wilhelm Ott und Gert Vonhoff, unter Mitarbeit von Michael Billmann, Darmstadt 1990, S.41 (vgl. auch S. 42); dort auch die Nachweise für F. Beißners hierfür grundlegende Beiträge. Martin Opitzens Von Boberfeld Gedichte, von J.[ohann] J.[acob] B.fodmer] und J.fohann] J.facob] B.freitinger] besorget, 1. Theil, Zürich 1745, S.XI; vgl. Kraft (s. Anm. 1), S.40f. und 125 f. Vgl. Rolf Tarot: Editionsprinzipien für deutsche Texte der Neuzeit, in: Werner Besch/Oskar Reichmann/Stefan Sonderegger (Hg.): Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung, 1. Halbbd., Berlin/New York 1984 ( - Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 2.1), S.703-711, hierzu S.703. Für das Mittelalter und die Frühe Neuzeit vgl. auch Werner Schröder: Editionsprinzipien für deutsche Texte des Früh- und Hochmittelalters, ebd., S. 682-692 und Oskar Reichmann: Editionsprinzipien für deutsche Texte des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit, ebd., S. 693-703.

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Zeit" zu überwinden4, konnte man editionsmethodologisch zwischen den beiden germanistischen Teildisziplinen grundsätzlich unterscheiden: die neuere Literaturwissenschaft kennt Entstehungs- und Uberlieferungsvarianten, die Mittelaltergermanistik nur Uberlieferungsvarianten. Diese Differenz gehört heute zum Proseminarwissen, obschon in der Zwischenzeit natürlich zahlreiche Differenzierungen und auch Problematisierungen vorgebracht worden sind. So ist etwa für die neuere Literaturwissenschaft darauf hinzuweisen, daß sie editionsphilologisch auf die „typischen Überlieferungsverhältnisse der neueren Literatur [...] seit etwa 1750" 5 fixiert ist; für die frühere Zeit fällt dagegen die Autorisation von Texten schwer: „Was die älteren und neueren Editionsweisen von der mittleren unterscheidet, ist das Problem der Varianten; man kann in Texten des 17. Jahrhunderts nur schwer zwischen Autor- bzw. Entstehungsvarianten einerseits und Uberlieferungsoder Fremdvarianten andererseits unterscheiden."6 Und in der Mittelaltergermanistik schließlich verbirgt sich unter dem Begriff der Überlieferungsvarianten ein außerordentlich komplexer Sachverhalt, von dem zur Illustration nur einige wenige Aspekte beispielhaft genannt seien.7 So zeichnen sich in der handschriftlichen Überlieferung durchaus auch Doppelfassungen eines Autors ab8, für einzelne Dichter sind sie sogar autograph belegt.' In deutschen Übersetzungen aus dem Latein lassen sich auf einer .Mikroebene' sinnvolle 4

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Vgl. Hans Werner Seiffert: Edition, in: Werner Kohlschmidt/Wolfgang Mohr (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte, Bd. 1, 2. Aufl., Berlin 1958, S. 313-320, hierzu S. 320. Hans Zeller: Struktur und Genese in der Editorik. Zur germanistischen und anglistischen Editionsforschung, in: LiLi, Heft 19/20 (1975), S. 105-126, hierzu S. 123. Hans-Georg Roloff: Probleme der Edition barocker Texte, in: Jahrbuch für Internationale Germanistik, 4 (1972), Heft 2, S. 24-69, hierzu S.30. Die Auswirkungen auf die Editionsphilologie dokumentiert der Sammelband von Thomas Bein (Hg.): Altgermanistische Editionswissenschaft, Frankfurt/M. 1995 ( - Dokumentation germanistischer Forschung 1). Vgl. für den Minnesang etwa Günther Schweikle: Doppelfassungen bei Heinrich von Morungen, in: Kathryn Smits/Werner Besch/Victor Lange (Hg.): Interpretation und Edition deutscher Texte des Mittelalters. Festschrift für John Asher, Berlin 1981, S. 58-70. Für die Reimpaardichtung Des Stricker werden sie etwa in den Versionen der Handschriften A und H vermutet; vgl. Der Stricker. Verserzählungen I, hg. v. Hanns Fischer, 4., revidierte Aufl., besorgt von Johannes Janota, Tübingen 1979 ( - Altdeutsche Textbibliothek 53), S.XV. Etwa die unterschiedlichen Textfassungen von Liedern Michel Beheims (gest. um 1474/78) in seinen (Teil-)Autographen A und C; vgl. Ulrich Müller: Beheim, Michel, in: Kurt Ruh (Hg.): Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, Bd. 1, 2., völlig neu bearbeitete Aufl., Berlin/New York 1978, Sp. 672-680, hierzu Sp.674f. Autographe und auf eigener Presse gedruckte Doppelfassungen von Meisterliedern und Reimpaargedichten finden sich bei Hans Folz (gest. 1513); vgl. Johannes Janota: Hans Folz, ebd., Bd. 2, Sp. 769-793 (passim).

Mittelalterliche Texte als

Entstehungsvarianten

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Übersetzungsvarianten feststellen, die in Abschriften z.T. nicht mehr als Alternativen, sondern als Synonymenpaare verstanden wurden.10 Zumindest dort, wo autographe Uberlieferung vorliegt, zeigen sich also durchaus Berührungspunkte zur Editionsphilologie der neueren Literaturwissenschaft, gibt es Autor- bzw. Entstehungsvarianten neben den für die mittelalterliche Uberlieferung deutscher Literatur allgemein angenommenen Uberlieferungsvarianten. Diese Affinitäten bleiben jedoch - so bemerkenswert sie im einzelnen auch sind - für die generelle Überlieferungssituation deutscher Literatur im Mittelalter marginal. Vor allem aber verstellt das Insistieren auf Parallelen zwischen den mittelalterlichen und neuzeitlichen Befunden den Blick auf die Spezifik der älteren Literaturtradition einzelner Werke, für die es - geradezu postmodern anmutend11 - eine Autorisation im neuzeitlichen Verständnis nicht gibt. Dies trifft etwa im Minnesang zu bei bewußten „Adoptionen von Texten .verwandter' Dichterkollegen, welche entweder unverändert oder mit Abwandlungen ins jeweils eigene Repertoire übernommen werden"12, das gilt aber bis hin zum großepischen Bereich, wo neben einer insgesamt stabilen vielfach eine sehr variable Textüberlieferung vorliegt.13 Man pflegt hier von

10

Vgl. die Hinweise von Werner Höver: Zum Stand der Methodenreflexion im Bereich der altgermanistischen Editionen, in: Ludwig Hödl/Dieter Wuttke (Hg.): probleme der edition mittel- und neulateinischer texte. Kolloquium der Deutschen Forschungsgemeinschaft, hg. v. Ludwig Hödl und Dieter Wuttke, Boppard 1978, S. 131-142; Wiederabdruck bei Bein (s. Anm. 7), S. 126-137, hierzu S. 128 f.

11

Vgl. Michel Foucault: Qu'est-ce qu'un auteur?, in: Bulletin de la Société française de Philosophie, Bd. 63 (1969), S. 71-104; deutsch: Was ist ein Autor?, in: Michel Foucault: Schriften zur Literatur, aus dem Französischen von Karin Hofer und Anneliese Botond, Frankfurt/M. 1988 u.ö., S. 7—31; vor diesem Hintergrund auch Helmut Tervooren: Die Frage nach dem Autor. Authentizitätsprobleme in mittelhochdeutscher Lyrik, in: Rüdiger Krohn (Hg.) in Zusammenarbeit mit Wulf-Otto Dreeßen: „Da hoeret ouch geloube zuo". Uberlieferungs- und Echtheitsfragen zum Minnesang. Beiträge zum Festcolloquium für Günther Schweikle anläßüch seines 65. Geburtstages, Stuttgart/Leipzig 1995, S. 195-204. Vgl. die Hinweise bei Günther Schweikle: Zur Edition mittelhochdeutscher Lyrik. Grundlagen und Perspektiven, in: Zeitschrift für deutsche Philologie, Jg. 104 (1985), Sonderheft, S. 2—18; Wiederabdruck bei Bein (s. Anm. 7), S. 224-240, hierzu S.234. Zu diesem Zusammenhang u.a. auch Max Schiendorfer: Handschriftliche Mehrfachzuweisungen: Zeugen sängerischer Interaktion? Zu einigen Tönen namentlich aus der Hohenburg-, Rotenburgund Walther-Uberlieferung, in: Euphorion, Jg. 79 (1985), S. 66-94 oder Johannes Janota: „Der vogt von Rotenburch" im Budapester Fragment, in: Ulrich Mehler/Anton H. Touber (Hg.): Mittelalterliches Schauspiel. Festschrift für Hansjürgen Linke zum 65. Geburtstag, Amsterdam 1994 ( - Amsterdamer Beiträge zur älteren Germanistik 38/39), S.213-222.

12

13

Vgl. insbesondere Joachim Bumke: Untersuchungen zur Überlieferungsgeschichte der höfischen Epik im 13. Jahrhundert. Die-Herbort-Fragmente aus Skokloster. Mit einem Exkurs zur Textkritik der höfischen Romane, in: Zeitschrift für deutsches Altertum und

Johannes Janota

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R e d a k t i o n e n eines W e r k e s zu sprechen, die nach dessen .Publikation' d u r c h d e n A u t o r in unterschiedlichen Rezeptionssituationen entstanden sind u n d daher - v o n A u s n a h m e n abgesehen - keine Autorfassungen darstellen. Diese Vorstellung scheint m i r zu sehr an einem neuzeitlichen W e r k - u n d A u t o r v e r ständnis orientiert zu sein. F ü r mittelalterliche T e x t e gilt vielmehr, daß die A r b e i t an ihnen solange währt, solange die tradition

vivante14

dauert; dies

schließt ein, daß an ihr mehrere A u t o r e n beteiligt sein k o n n t e n , deren A r b e i t an einem vorliegenden T e x t t r o t z aller qualitativen Unterschiede d e m n a c h als .Entstehungsvarianten' zu werten sind, w e n n m a n den Blickwinkel nicht auf den .Ursprungsautor' verengt, sondern die Werkgeschichte bis z u m A b s c h l u ß der tradition Dieser

vivante i m A u g e behält. 1 5

dem

mittelalterlichen

Befund

angemessenen

grundsätzlich auch der überlieferungsgeschichtlich

Perspektive

folgte

orientierte A n s a t z

der

W ü r z b u r g e r F o r s c h e r g r u p p e Kurt Ruhs, o b s c h o n m a n dort auf d e m Gebiet der

Prosaforschung

noch

zwischen

Autor,

Bearbeitern,

vermittelnden

Schreibern und D r u c k e r n sowie d e m rezipierenden P u b l i k u m unterschied. 1 6 Diese auf den einen

A u t o r bezogene Differenzierung auf der textverändern-

den E b e n e zeigt, wie sehr die Mittelaltergermanistik auch nach U b e r w i n d u n g

deutsche Literatur, Jg. 120 (1991), S. 257-304 (Exkurs: S. 285-304); ders.: Der unfeste Text. Überlegungen zur Uberlieferungsgeschichte und Textkritik der höfischen Epik im 13. Jahrhundert, in: Jan-Dirk Müller (Hg.): .Aufführung' und .Schrift' in Mittelalter und Früher Neuzeit, Stuttgart/Weimar 1996 ( - Germanistische Symposien. Berichtsbände 17), S. 118-129; ders.: Die vier Fassungen der .Nibelungenklage'. Untersuchungen und Textkritik der höfischen Epik im 13. Jahrhundert, Berlin/New York 1996 ( - Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 8 [242]); Peter Strohschneider: Höfische Romane in Kurzfassungen. Stichworte zu einem unbeachteten Aufgabenfeld, in: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur, Jg. 120 (1991), S. 419-439; Nikolaus Henkel: Kurzfassungen höfischer Erzähldichtung im 13./14. Jahrhundert. Überlegungen zum Verhältnis von Textgeschichte und literarischer Interessenbildung, in: Joachim Heinzle (Hg.): Literarische Interessenbildung im Mittelalter, Stuttgart/Weimar 1993 (~ Germanistische Symposien. Berichtsbände 14), S. 39-59. 14

15

16

Vgl· J e a n Rychner: Contribution à l'étude des fabliaux. Variantes, remaniements, dégradations, I. Observations, Neuchatel/Genève 1960 ( - Université de Neuchatel. Recueil de travaux publiés par la Faculté des Lettres 28), S. 43. Natürlich kann es im Verlaufe der tradition vivante immer wieder auch zu reinen Abschriften kommen, bei denen sich die Textvarianz weitestgehend auf graphematische und iterierende Varianten beschränkt. Entsprechendes gilt für Überlieferung im Buchdruck; unterschiedliche Druckfassungen dagegen gehören weiterhin zur tradition vivante. Vgl. Klaus Grubmüller u.a.: Spätmittelalterliche Prosaforschung. DFG-ForschergruppeProgramm am Seminar für deutsche Philologie der Universität Würzburg, in: Jahrbuch für Internationale Germanistik, Jg. 5 (1973), Heft 1, S. 156-176, hierzu S. 171 f. und die Ergebnisse im Sammelband: Kurt Ruh (Hg.): Überlieferungsgeschichtliche Prosaforschung. Beiträge der Würzburger Forschergruppe zur Methode und Auswertung, Tübingen 1985 ( Texte und Textgeschichte 19).

Mittelalterliche Texte als Entstehungsvarianten

69

der Lachmann-Philologie im Banne des konventionellen, neuzeitlich geprägten Autorbegriffs steht, wie schwer es fällt, die gesamte Dauer der traditori vivante eines Werks unter den Begriff der Autorschaft zu stellen.17 Daher soll nachfolgend an einem Beispiel gezeigt werden, daß es für das Mittelalter editorisch sinnvoll ist, mit einem erweiterten, nicht auf eine Person eingeengten Autorbegriff zu arbeiten. Für die vorgestellte Thematik besonders aufschlußreich scheint mir die Hessische Passionsspielgruppe und hier vor allem das Alsfelder Passionsspiel zu sein. Das Textkorpus reicht von der Frankfurter Dirigierrolle über das Frankfurter Passionsspiel, das Alsfelder Passionsspiel bis zum Heidelberger Passionsspiel als Hauptzeugen, zu denen sich noch das Frankfurter Osterspielfragment, das Fritzlarer Passionsspielfragment, die verschollene Friedberger Dirigierrolle, die Alsfelder Dirigierrolle, das Alsfelder Spielerverzeichnis sowie fünf Einzelrollenauszüge aus dem Umkreis des Alsfelder Passionsspiels stellen.18 Dieser umfangreiche Textkomplex reicht von der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts {Frankfurter Dirigierrolle) bis ins frühe 16. Jahrhundert (Alsfelder Passionsspiel, Heidelberger Passionsspiel) innerhalb eines (sprach-) geographisch begrenzten Bereichs (rheinfränkisch). Obwohl jeder der Hauptzeugen eine eigene Spielrealisation dokumentiert, stellen sie mit ihren Parallelen in Handlungsverlauf und Szenengestaltung, mit ihren manifesten textlichen Bezügen eine in der Forschung anerkannte Einheit dar, die eine Edition im Paralleldruck ermöglicht. Die tradtion vivante dieser anonym überlieferten Passionsspielgruppe ist in nuce anhand des Alsfelder Passionsspiels zu verfolgen; die dabei erzielten Befunde lassen sich auf das Gesamtkorpus der Hessischen Passionsspielgruppe übertragen. Damit können in einem kleineren wie in einem größeren Bereich die Aspekte einer erweiterten Autorschaft und von Entstehungsvarianten bei Texten des (Spät-)Mittelalters und der Frühen Neuzeit diskutiert werden.

17

18

Unbestritten dabei bleibt, daß es unterschiedliche Grade der Textveränderungen gibt (vgl. auch Anm. 15). Die editorische Aufgabe liegt in der Differenzierung zwischen Varianten, die zu eigenen Fassungen führen, und Varianten, die das Fortleben dieser Fassungen in weiteren Handschriften bzw. Drucken bezeugen. In vorbildlicher Form hat dies Joachim Bumke für die vier Fassungen der „Klage" (s. Anm. 13) herausgearbeitet. Vgl. dazu die Einleitung zur Ausgabe: Johannes Janota (Hg.): Frankfurter Dirigierrolle. Frankfurter Passionsspiel, mit den Paralleltexten der „Frankfurter Dirigierrolle", des „Alsfelder Passionsspiels", des „Heidelberger Passionsspiels", des „Frankfurter Osterspielfragments" und des „Fritzlarer Passionsspielfragments", Tübingen 1997 (= Die Hessische Passionsspielgruppe, Edition im Paralleldruck 1), S.IX f.; dort weitere Hinweise auf angrenzende Texttraditionen. - Das nach dem heutigen Aufbewahrungsort benannte „Heidelberger Passionsspiel" geht vermutlich auf ein Mainzer Passionsspiel zurück.

70

Johannes Janota

Der Grundstock19 des Alsfelder Passionsspiels wurde von einem Schreiber A nach einer unbekannten, wohl in Friedberg zu lokalisierenden Vorlage geschrieben. Vor allem das Überspringen von Zeilen, die dann mit Einfügungszeichen nachgetragen sind, belegt den Charakter einer Abschrift, mit der A die Textvorlage für sich autorisiert. Wo die Abschrift vorgenommen wurde, ist unsicher; sie diente aber augenscheinlich der Alsfelder Aufführung des Jahres 1501, die auf dem ehemaligen Titelblatt der Spielhandschrift bezeugt wird, als Grundlage. Ob mit der Aufteilung der von A zusammenhängend geschriebenen Disputation zwischen Synagoga und Ecclesia auf den zweiten und dritten Spieltag mittels der Beischrift Post crucifixionem (nach V.4918) ebenfalls eine vorlagenbezogene Korrektur vorliegt oder ob hier ein inszenatorischer Eingriff des Schreibers gegenüber der Vorlage vorgenommen wurde, muß offenbleiben. Gleichwohl hat man im Schreiber A mehr als einen bloßen Kopisten zu sehen: Beim Erstellen des Spieltextes lag ihm offensichtlich der Textauszug einer sonst unbekannten Hand für die Luziferrolle vor, wie die Schriftproben der Hand A auf dieser Alsfelder Luziferrolle20 zeigen. Da Spieltext und Einzelrolle aber zum Teil nicht unerheblich voneinander abweichen, muß Schreiber A zumindest bei der Rolle des Luzifer während der Anlage des Volltextes zwischen zwei Textfassungen entschieden haben. Die Varianten zwischen den beiden Textpassagen sind demnach als Entstehungsvarianten zu werten. Bis 1517 - dies ist das Datum der letzten Spielnachricht auf dem ehemaligen Titelblatt der Handschrift - wurde der ohnehin schon umfangreiche Text des dreitägigen Spiels um ein Viertel (bezogen auf die Schlußfassung) erweitert. Daran beteiligt waren drei .Redaktoren' (B, C und D), die sehr eng zusammengearbeitet haben müssen. In ihrem Mittelpunkt stand der Schreiber B, der anhand von Schriftvergleichen im Archivgut mit dem Alsfelder Kaplan an der Walpurgiskirche und kirchlichen Notar Henrich Hültscher (fl547) 21 identifiziert werden konnte. Hültscher hat den Grundstock des Spiels für die - gleichfalls auf dem ehemaligen Titelblatt genannte - Aufführung des Jahres 1511 grundlegend durchgearbeitet und erweitert. Er kündigt durch zahlreiche Beischriften den Beginn einer ,Szene'an (z.B. vor V.464 Fiat hic notificado baptismatis Christi a Iohanne), stellt durch solche Randnotizen Texte um (etwa nach V.4387 Post lotionem manuum, womit eine Rede des 19

20

21

Zu den Nachweisen hierzu und nachfolgend vgl. die Einleitung von Bd. 2 (im Druck) der Hessischen Passionsspielgruppe (s. Anm. 18). Deren Entstehung in Alsfeld ist ebenso ungesichert wie beim Grundstock (A) des „Alsfelder Passionsspiels". Zu ihm vgl. Hansjürgen Linke im Verfasserlexikon (s. Anm. 9), Bd. 4 (1983), Sp.293f. Hültscher, der seit 1496 Theologie in Erfurt studierte, ist ab 1506 als Schreiber in Alsfelder Archivalien nachweisbar.

Mittelalterliche Texte als Entstehungsvarianten

71

Pilatus an eine Stelle nach seiner Handwaschung verwiesen wird), und er markiert mit Beischriften Texteinfügungen (etwa nach V. 7632 Nota hic insere emptionem ungentorum zum Einschub eines später verfaßten C-Textes in eine B-Erweiterung). Vor allem erweiterte Hültscher die Beratung der Teufel über Jesus im Grundtext (nach V. 351-459) auf einem eingeklebten Doppelblatt, fügte auf einer eingehefteten Lage von drei Doppelblättern die zwölf Standartenträger (vor V. 3718-3983) bei und ergänzte die Szenenreihe von den Frauen am Grab bis zur Ausgießung des Heiligen Geistes (vor V. 7632-7997) auf einer eingehefteten Lage von vier Doppelblättern - alles Novitäten, die (mit Ausnahme des nunmehr aufwendiger gestalteten Teufelsspiels) in der Spielnachricht für 1511 explizit genannt werden. Diese bedeutenden Ausund Weiterformungen führten gemeinsam mit den Textumstellungen auf der Grundlage des Ausgangstexts (A) zu einem neuen Spiel, für das der Begriff .Redaktion' letztlich zu kurz greift. Denn, verglichen mit der Arbeit eines neuzeitlichen Autors an seinem Text, nehmen sich die Spieltexte A und Β wie die Fassungen von erster und späterer Hand aus, die Zusätze und Erweiterungen von Β sind demnach als Entstehungs- und nicht als Uberlieferungsvarianten zu werten, wobei Β den A-Text - auch sichtbar gemacht durch seine Beischriften - für sich autorisiert hat. Der textgenetische Prozeß wird in enger Verbindung mit Henrich Hültscher (Hand B) durch den Schreiber D fortgesetzt. Von seiner Hand geschrieben ist die Aussendung der Apostel (vor V.7998- nach V.8059), die gleichfalls in der Spielnachricht für das Jahr 1511 genannt wird. Die zweite größere D-Ergänzung, die Klage des Mondes und der Sterne über den Tod Jesu (vor V. 6320-6351), steht auf einem Blatt innerhalb der eingehefteten Lage von vier Doppelblättern, auf denen vom Schreiber Β zuvor die Szenenreihe von den Frauen am Grab bis zur Ausgießung des Heiligen Geistes (vor V. 7632-7997) eingetragen wurde. Außerdem ergänzt D nochmals die B-Erweiterung des Teufelsspiels nach V.459 um 4 Verse (diesmal im Kreuz- statt im sonst üblichen Paarreim) samt dem zugehörenden Regietext. Schließlich greift D auch mehrmals durch kurze Zusätze in den Α-Text ein (mit einer Passage nach V. 5739-5747 und mit drei Einschüben nach V. 6620-6652, die auf einem eingehefteten Zettel stehen). Damit autorisiert D für sich sowohl den A- wie den B-Text und qualifiziert seine Zusätze zu Entstehungsvarianten. Schließlich erweitert der Schreiber C das Alsfelder Passionsspiel nochmals um den Salbenkauf (nach V.7482- nach 7631), der in der Spielnachricht für 1511 noch nicht genannt wird und der daher offenkundig für die Aufführung von 1517 (letzte Spielnachricht auf dem ehemaligen Titelblatt) gedacht war. Auf diese Ergänzung, die auf einer in die Spielhandschrift eingehefteten Lage von zwei Doppelblättern steht, verweist wiederum der B-Schreiber zu Beginn

72

Johannes Janota

seines schon früher eingefügten Erweiterungstextes (vor V. 7632-7997) in einer Beischrift. Die enge Zusammenarbeit von Β und C zeigt sich darüber hinaus auch daran, daß beide C-Ergänzungen auf der Alsfelder Kaufmannsrolle und der Alsfelder Synagogarolle basieren, die von der Hand Β noch ohne Regieangaben zusammenhängend auf einem Blatt als Textvorlage für C geschrieben worden sind. D.h. die Schreiber Β und C autorisieren ihre Texte wechselseitig. Daneben beabsichtigte der C-Schreiber noch, die B-Erweiterung des Teufelsspiels (nach V. 351-459) - wie die Namen Machdancz, Zegenbart, Leuiatan als Beischrift zeigen - um drei Teufelsrollen zu ergänzen, für die im Alsfelder Spielerverzeichnis auch Namen genannt sind.22 Mit seinem kurzen Einschub nach V. 7454-7472 in den Α-Text autorisiert schließlich der C-Schreiber auch für sich den Grundstock (A) des Spiels. Zusammenfassend lassen sich also drei Wachstumsringe erkennen, die sich um den Kern des Grundtextes A legen. Gesichert ist auch, daß bis zum schriftlichen Abschluß des skizzierten textgenetischen Prozesses Henrich Hültscher beteiligt war. Da wir keine Nachrichten über die Schreiber C und D außerhalb des Spiels besitzen, bleibt fraglich, ob sie Henrich Hültscher bei der Ausformung des Spieltextes als Schreiber von Erweiterungen nur assistierten oder ob sie selbst produktiv bei der Formulierung der Textergänzungen tätig waren. Editorisch ist dies freilich unerheblich, wenn die einzelnen Textteile den entsprechenden Händen zugewiesen werden (wofür ich mich in meiner Edition entschieden habe). Dies entspricht de facto einer ,Ausgabe letzter Hand', in der jedoch die Stufen der Textgenese gekennzeichnet sind. Die Texterweiterungen erhalten damit den Status von textgenetischen Autorvarianten. 23 Dies ist die Konsequenz aus der Beobachtung, daß Henrich Hültscher (Hand B) zusammen mit den Schreibern C und D den Grundtext A, daß Β aber auch die Erweiterungen zumindest des Schreibers C autorisiert. Dennoch kann nicht gesagt werden, daß Henrich Hültscher dabei der einzige textproduktive Autor gewesen ist. Für den Grundstock A des Alsfelder Spiels scheidet er ohnehin aus, und für die C- bzw. D-Zusätze ist nicht ausgemacht, daß deren Texte allein auf Henrich Hültscher als Autor zurückgehen. Die Quantität und vor allem die Qualität der neuen Textaus- und -Weiterformungen, die zu distinkten Spielrealisationen in den Jahren 1501,

22

23

V o n der Hand C sind neben dem „Alsfelder Spielerverzeichnis" auch die „Alsfelder Dirigierrolle" (besser: „Dirigierbuch"), die „Alsfelder Johannesrolle" und - auf einem in die Spielhandschrift eingehefteten Zettel - die „Alsfelder Barrabasrolle" geschrieben. Im vorgegebenen Rahmen bleiben diese Textderivate ausgespart, obwohl sie den textgenetischen Prozeß noch weiter verdeutlichten. Dazu kommen im eigenen Apparat als Entstehungsvarianten die Abweichungen in den Rollenauszügen und in der Dirigierrolle.

Mittelalterliche

Texte als

Entstehungsvarianten

73

1511 und 1517 führten, verbieten es m.E. aber auch, nur von .Bearbeitungen' oder .Redaktionen' zu sprechen. Eine solche Einschätzung unterstellte ein .Original', das uns im Grundstock (A) des Spiels vorliegt. Dieses führt sich aber über zahlreiche genetische Stufen, die wir wegen der Uberlieferungsverluste nicht mehr genau rekonstruieren können, letztlich auf den zeitlich ersten Zeugen der Hessischen Passionsspielgruppe zurück, auf die Frankfurter Dirigierrolle, die selbst das Ergebnis von Bearbeitungen ist und die andererseits neben den lateinischen Regieanweisungen nur mit Text- und Gesangsinzipits aufwartet. Wollte man bei den einzelnen Ausformungen des Alsfelder Passionsspiels von Bearbeitungen sprechen, dann träfe dies letztlich auch für das Frankfurter Passionsspiel und das Heidelberger Passionsspiel zu, die ebenfalls über Zwischenstufen aus der Frankfurter Dirigierrolle abgeleitet sind. Einem solchen Verständnis von Bearbeitung eignete ein so großes Maß an Unschärfe, daß es für das adäquate Erfassen der unterschiedlichen Textbefunde untauglich wäre. Statt von Bearbeitungen oder Redaktionen sollte man bei Textgenesen, an denen mehrere Personen beteiligt sind, von erweiterter Autorschaft sprechen. Gerade das aufschlußreiche Beispiel des Alsfelder Passionsspiels als eines textgenetisch für diese Zeit außerordentlich gut belegten Komplexes spricht für eine solche Einschätzung. Was wir paläographisch als drei Hände (B, C, D) unterscheiden, scheint Henrich Hültscher mit den beiden Helfern C und D oder aber ein Team von drei Textproduzenten mit Henrich Hültscher als Mittelpunkt gewesen zu sein. Dieses (Autoren-)Team hat zwischen 1501 und 1517 - den Grundstock (A) fortschreibend - distinkte Spielrealisationen geschaffen. Wäre nur eine von ihnen - von einer einzigen Hand geschrieben - überliefert, würde sie jeder als ein eigenes Spiel in der Tradition der Hessischen Passionsspiele sehen, mit dem gleichen Status der Selbständigkeit wie -

bislang - das Frankfurter Passionsspiel und das Heidelberger Passionsspiel. Es ist

nur der Glücksfall der Uberlieferung, der uns einen differenzierten Einblick in die Werkstätte bietet, in der die stufenweise Ausformung des Alsfelder Passionsspiels entstanden ist. Es hängt daher nur an einer vorgefaßten, neuzeitlich geprägten Auffassung von einem Autor, wenn man hier nicht eine Autor(en)werkstätte erkennen möchte, die innerhalb einer Generation und an einem Ort tätig war. Die Textveränderungen, die dabei erarbeitet wurden, sind nicht von Autor- bzw. Entstehungsvarianten eines neuzeitlichen Autors zwischen einer Ausgabe erster und letzter Hand zu unterscheiden. Überlieferungsvarianten und unterschiedliche Lesarten entstehen erst ab 1843, als aus

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Johannes

J,anota

der Alsfelder Spielhandschrift erstmals Auszüge im Druck veröffentlicht wurden.24 Die Textgenese der Alsfelder Passionsspiel-F assungen kann man anhand der Spielhandschrift — ähnlich einem Autormanuskript - nachzeichnen. Sieht man von den überschriebenen Rasuren in der Frankfurter Dirigierrolle ab25, so fehlen für die anderen Zeugen der Hessischen Passionsspielgruppe vergleichbare .Arbeitsmanuskripte'. Die einzelnen Spiele präsentieren sich daher als selbständige Werkgrößen, aber dies ist nur die Folge einer lückenhaften Überlieferung, denn die Textbezüge zwischen den überlieferten Spielen sind so eng, daß sie - wie bereits erwähnt - eine Paralleledition ermöglichen. Eine solche Parallelität läßt sich m.E. einsichtig nur erklären, wenn man zwischen den erhaltenen Spielen textgenetische Schritte analog zum Befund beim Alsfelder Passionsspiel annimmt. Innerhalb dieses textgenetischen Prozesses stellen die vorliegenden Spiele der Hessischen Passionsspielgruppe distinkte Fassungen dar, an deren Ausformung eine uns heute unbekannte Zahl von Autoren beteiligt war. Sie autorisierten teilweise die ihnen vorliegende Texttradition, sie formten sie um, und sie erweiterten sie, aber immer blieb der Zusammenhang mit der Hessischen Passionsspielgruppe strukturell und textlich gewahrt. Faßt man auf dieser Grundlage die einzelnen Spieltexte der Hessischen Passionsspielgruppe als je eigene Autorfassungen, dann sind die Divergenzen zwischen ihnen nicht als Uberlieferungsvarianten, sondern als Entstehungsvarianten zu verstehen, in denen die Textgenese der Spielgruppe auszugsweise sichtbar wird. Da die Textgenese überlieferungsbedingt nur mehr ausschnitthaft in einzelnen Stationen, die distinkte Fassungen repräsentieren, sichtbar wird, kann sie editorisch nicht in Textstufen dokumentiert werden. Bereits ein Blick in die Paralleledition zeigt, daß sich das Alter der Uberlieferungsträger, ja nicht einmal die örtliche Ubereinstimmung (Frankfurter Dirigierrolle vs. Frankfurter Passionsspiel) zur Darstellung textgenetischer Stufen eignet. Die editorische Konsequenz aus diesem Sachverhalt ist die Paralleledition der einzelnen Autorfassungen, wobei jeder der vier Haupttexte einmal die Funktion eines Leittextes einzunehmen hat, um von ihm aus jeweils die aufgenommene

24

25

A.[ugust Christian Friedrich] Vilmar: Alsfelder Passionsspiel, in: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur, Jg. 3 (1843), S. 477-518. Implizite Lesarten gab es natürlich bei Verlesungen während der zeitgenössischen Arbeit am Textkomplex des „Alsfelder Passionsspiels", so wenn etwa C in der „Alsfelder Dirigierrolle" ich enkenne (259) statt richtigem ich erkenne (V. 1672) im „Alsfelder Passionsspiel" (A) schreibt. Sie sind daher in meinem diplomatischen Abdruck der Dirigierrolle genau - bis hin (soweit erkennbar) zum Wechsel der Tintenfarbe - dokumentiert; vgl. die Ausgabe (s. Anm. 18), S.1-33.

Mittelalterliche Texte als Entstehungsvarianten

75

Tradition und zugleich - im Rahmen des im Druck technisch Möglichen das Neue in den parallelisierten Texten sichtbar zu machen.26 Editorisch nicht mehr dokumentierbar sind textliche Anleihen oder die Ubernahmen von Textpassagen aus anderen Uberlieferungszusammenhängen; so etwa bei der Frankfurter Spieltexttradition aus der Erlösung7, beim Alsfelder Passionsspiel bereits im Grundstock die weitgehende Übernahme der Trierer Marienklagé* oder für die Alsfelder Tradition (Dirigierbuch) die Nennung der allegorischen Sprechrolle Tempus, die sich auch im Marburger Weltgerichtsspiel findet.29 Solche zitathaften Zusammenhänge können adäquat nur in einem Kommentar erläutert und dargestellt werden. Gleiches gilt - als Zeugnisse der Wirkungsgeschichte - für textliche und gegebenenfalls auch für strukturelle Parallelen und Affinitäten außerhalb der textgenetisch unmittelbar zusammenhängenden Textgruppe.30 Alle diese Zusammenhänge, die oft genug in .Grauzonen' führen, bedürfen der diskursiven Darlegung im Rahmen eines Kommentars, um nicht - wie dies bei einer Aufnahme zitathafter Versatzstücke in die Edition der Fall wäre — unangemessene oder falsche Abhängigkeiten zu insinuieren. Eine kommentierende Textpräsentation zitathafter Übernahmen in den bzw. aus dem textgenetischen Überlieferungskomplex innerhalb der Paralleledition führte zu einer nur mehr schwer handhabbaren Ausgabe; bei der Dokumentation struktureller Parallelen zu

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Nur die unmittelbaren Derivate (Dirigierrolle, Rollenauszüge, Spielerverzeichnis) des „Alsfelder Passionsspiels" finden in einem echten Variantenapparat (nicht im Lesartenapparat) Aufnahme. Aus drucktechnischen Gründen haben hier auch die Textvarianten des „Fritzlarer Passionsspielfragments" und der „Friedberger Dirigierrolle" ihren systematisch bedingten Ort. Vgl. Ursula Hennig: „Erlösung", in: Verfasserlexikon (s. Anm. 9), Bd. 2 (1980), Sp. 599-602, hierzu Sp. 601. Vgl. Ulrich Mehler: „Trierer Marienklage", in: Verfasserlexikon (s. Anm. 9), Bd. 9 (1995), Sp. 1050-1052, hierzu Sp. 601. Zu diesem bislang unedierten Spiel vgl. Helmut Lomnitzer: „Marburger Weltgerichtsspiel", in: Verfasserlexikon (s. Anm. 9), Bd. 5 (1985), Sp. 1229 f.; Rolf Bergmann: Katalog der deutschsprachigen geistlichen Spiele und Marienklagen des Mittelalters, München 1986, S.248f. (Nr. 110). Aus den Magdalenenszenen des „Frankfurter Passionsspiels" sind mehrfach Textzitate ins „Marburger Weltgerichtsspiel" übernommen worden; auch diese Zusammenhänge auf der Ebene der Wirkungsgeschichte lassen sich sinnvoll nur im Rahmen eines Kommentars dokumentieren. Vgl. zu Kernszenen zwischen Abendmahl und Auferstehung die Textvergleiche von Barbara Thoran: Studien zu den österlichen Spielen des deutschen Mittelalters. Ein Beitrag zur Klärung ihrer Abhängigkeit voneinander, Bd. 2, durchgesehene und ergänzte Aufl., Göppingen 1976 ( - Göppinger Arbeiten zur Germanistik 199). Zu Ubernahmen in einen anderen Spieltyp vgl. Anm. 29.

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anderen Überlieferungskomplexen würde die Grenze des drucktechnisch noch Leistbaren ohnehin überschritten.31 Die Überlegungen leiten schließlich zur Frage, ob die an der Hessischen Passionsspielgruppe dargelegten Befunde nicht allgemein für mittelalterliche Texte mit größerer Textvarianz Gültigkeit haben. Dies bedeutete, daß die Textvarianten (abgesehen selbstredend von objektiven Abschreibefehlern) im Rahmen der tradition vivante als Entstehungs- und nicht als Überlieferungsvarianten anzusehen und zu bewerten wären. Editorisch hätte dies zur Konsequenz, bei geringer Textvarianz zwischen Lesartenapparat (mit Emendationen) und Variantenapparat zu unterscheiden. Dabei sind komplexere Textvarianten zusammenhängend und nicht als Einzelvarianten wiederzugeben.32 Umfangreiche Textvarianzen verlangen - wie etwa in den neueren Minnesangeditionen - einen Paralleldruck, der jedoch parallel und nicht - wie bislang meist üblich - in einem Nacheinander der unterschiedlichen Textfassungen erfolgen muß.33 Ausgaben dieser Art sind erheblich aufwendiger als

31

Hier eröffnet eine EDV-Edition gegenüber der herkömmlichen Printausgabe ungeahnte Möglichkeiten, die sicherlich zunehmend auch genutzt werden. Ob man freilich dabei nicht mit der Auffassungskraft des Benutzers und im kommunikativen Austausch mit anderen Lesern und Interpreten an neue Grenzen stößt, muß sich noch zeigen; vgl. Bernard Cerquiglini: Eloge de la variante. Histoire critique de la philologie, Paris 1989 und die kritischen Bemerkungen hierzu und zu entsprechenden Ansätzen der ,New Philology' von Karl Stackmann: Die Edition - Königsweg der Philologie?, in: Rolf Bergmann/Kurt Gärtner (Hg.): Methoden und Probleme der Edition mittelalterlicher deutscher Texte, Tübingen 1993 ( - editio. Beiheft 4), S. 1-18; ders.: Neue Philologie?, in: Joachim Heinzle (Hg.): Modernes Mittelalter. Neue Bilder einer populären Epoche, Frankfurt/M./Leipzig, S. 398427.

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So vorbildlich Günther Schweikle; vgl. etwa seine Ausgabe: Mittelhochdeutsche Minnelyrik, Bd. 1: Frühe Minnelyrik. Texte und Übertragungen, Einführung und Kommentar, Stuttgart/Weimar 1993. Vgl. als Beispiel unter vielen die Edition des Liedes „Langez swîgen hêt ich mir gedâht" bei Günther Schweikle (Hg.): Reinmar-Lieder. Nach der Weingartner Liederhandschrift (B). Mittelhochdeutsch/neuhochdeutsch, Stuttgart 1986, S.282/284 (Nr. XXXQ, S.286/288/ 290 (Nr. XXXIa) und S.292 (Nr. XXXIb). Natürlich ist klar, daß der Rahmen einer Taschenbuchausgabe mit Ubersetzungen (im eben zitierten Fall auf den übersprungenen Seiten) einer echten Paralleledition deutliche Grenzen setzt; aber auch in der neuen Walther-Ausgabe wird ebenso verfahren: Walther von der Vogelweide: Leich, Lieder, Sangsprüche. 14., völlig neubearbeitete Aufl. der Ausgabe Karl Lachmanns, mit Beiträgen von Thomas Bein und Horst Brunner, hg. v. Christoph Cormeau, Berlin/New York 1996, S. 161 f. (Nr. 49), S. 163 (Nr. 49a), S. 164 (die beiden Strophen aus der Ballade „Der edle Moringer"). Für eine sinnvolle Textarbeit muß man sich in Fällen dieser Art durch Kopien selbst eine provisorische .Parallelausgabe' herstellen. Ansätze zur echten Parallelisierung finden sich bei Hubert Heinen (Hg.): Mutabilität im Minnesang. Mehrfach überlieferte Lieder des 12. und 13. Jahrhunderts, Göppingen 1989 (= Göppinger Arbeiten zur Germanistik 515).

33

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die bisherigen Editionen34, und sie werden sich deswegen auf Werke und Textkorpora beschränken, die im Mittelalter durch ein Weiterarbeiten an den Texten, aber auch in der heutigen Forschung ein besonderes Interesse auf sich zogen bzw. ziehen. Gerade dieses Interesse verlangt jedoch ein Editionsverfahren, das der tradition vivante von Texten im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit angemessen ist. Dazu ist es prinzipiell notwendig, die Textvarianten auch editorisch als Entstehungsvarianten im Verlaufe eines textgenetischen Prozesses aufzufassen. Je nach Uberlieferungslage wird sich daraus ein ihr adäquates Editionsmodell ergeben. In jedem Falle erweist sich dann die eingangs skizzierte Bewertung von prinzipiell anderweitigen Textvarianten im Mittelalter und in der Neuzeit als hinfällig. Trotz unterschiedlicher Uberlieferungssituationen im Mittelalter bzw. in der Frühen Neuzeit einerseits35 und der Neuzeit andererseits verbindet die Literaturwissenschaft bei der Arbeit an Texten von den Anfängen bis zur Gegenwart interpretatorisch das Interesse an der Geschichtlichkeit literarischer Texte.36 Der vorgelegte Vorschlag versucht dem auch editionsmethodologisch Rechnung zu tragen. Die Frage nach der Geschichtlichkeit literarischer Texte führt unweigerlich zur Historisierung des Autors. Dies gilt für die Neuzeit ebenso wie für das Mittelalter. Für das Mittelalter spezifisch ist jedoch, daß sich das literarische Oeuvre eines Autors überhaupt nur aus der Textgeschichte erkennen läßt. Daraus ergab sich ja für die Editionsphilologie in der Nachfolge Karl Lachmanns die Herausforderung, aus den ,Verunklärungen' der meist erst postum einsetzenden Überlieferung nach den Regeln der Textkritik einen möglichst autornahen Text zu konstituieren. Trotz aller editorischen Meisterleistungen hat sich dieses hochgesteckte Ziel als illusionär herausgestellt. Man bescheidet sich heute mit der Edition textkritisch und textgeschichtlich abgesicherter Leittexte, gegebenenfalls mit Paralleldrucken distinkter .Bearbeitungen'. Mit diesem neuen Ansatz erfolgt zwar ein Schritt in die richtige Richtung, um die Spezifik der Textgeschichte im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit zu erfassen, aber die tradition vivante eines literarischen

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35

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Einen Eindruck von den geforderten editorischen Vorarbeiten vermittelt besonders eindrucksvoll Joachim Bumkes (ohne Register, Literaturverzeichnis etc.) 613 Seiten umfassende Monographie, die auf S. 616-657 als Probe einer Parallelausgabe höfischer Epik die stark variierende Anfangspartie der „Nibelungenklage" bringt. Vgl. den Überblick von Klaus Grubmüller: Gegebenheiten deutschsprachiger Textüberlieferung bis zum Ausgang des Mittelalters, in: Besch/Reichmann/Sonderegger, Sprachgeschichte (s. Anm. 3), S. 214-223. Vgl. Herbert Kraft: Die Geschichtlichkeit literarischer Texte. Eine Theorie der Edition, Bebenhausen 1973 (als Vorläufer des in Anm. 1 genannten Buches).

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Werks, die im Mittelalter bereits beim .Ursprungsautor' einsetzt, kommt auf diese Weise bestenfalls ansatzweise in den Blick. Literarische Texte im Mittelalter entfalteten ihre Wirkung nicht dadurch, daß sie von ,Ursprungsautoren' autorisiert und vom Publikum kanonisiert wurden, sondern daß die Rezipienten ihr Fasziniertsein an diesen Texten textverändernd in die rezipierten Werke einschrieben. In diesen Textveränderungen nur Zeugnisse der Wirkungsgeschichte zu sehen, scheint mir den Sachverhalt über Gebühr zu verkürzen. Walther von der Vogelweide - um nur ein Beispiel zur Illustration zu nennen - lebt in allen 31 uns z.Zt. bekannten Handschriften und Fragmenten37, aus denen sich Walthers lyrisches Oeuvre für uns konstituiert, aber in keinem dieser Zeugen ist Walthers Werk allein präsent, alle sind zugleich textgewordene Zeugnisse einer Faszination eines wie auch immer gelagerten Interesses an seiner Dichtung (selbst wenn sie anonymisiert überliefert ist). Die Überlieferungszeugnisse mit ihren vielfältigen Textvarianzen sind Dokumente eines .aktualisierenden Vollzugs'. Mit diesem Begriff charakterisiert Walter Haug m.E. zutreffend das Spezifikum mittelalterlicher Ästhetik: „Die mittelalterliche Literatur würde ich [...] nicht einfach als Bestätigung des Gültigen und ihre Ästhetik nicht schlicht als affirmativ bezeichnen, ich möchte vielmehr von einer aktualistischen Kunst und Kunsttheorie sprechen. Aktualistisch meint, daß hier die ästhetische Erfahrung, indem sie sich selbst problematisiert, über sich hinauszielt, hinzielt auf den aktualisierenden Vollzug."38 Was Walter Haug hier in Abhebung zur neuzeitlichen Ästhetik am Beispiel des mittelalterlichen Romans konstatiert, beschreibt zugleich die mittelalterliche Uberlieferungssituation literarischer Texte. Sie tritt uns im Wechselspiel der Texte zwischen Genese, Gebrauch und Uberlieferung entgegen.39 Um dieses Wechselspiel interpretatorisch erschließen zu können, bedarf es - wie Joachim Bumke am Beispiel der Nibelungenklage gezeigt hat — editorischer Modelle, in denen die Textproduktivität als Moment des aktualisierenden Vollzugs von vorbildhaften Texten sichtbar wird. Ihre Vorbildhaftigkeit dokumentiert sich durch eine je aktuelle Autorisierung in einem weiten 37 38

39

Dazu die Übersicht bei Cormeau, Walther-Ausgabe (s. Anm. 33), S.XXTV-XLH. Walter Haug: Weisheit, Reichtum und Glück. Über mittelalterliche und neuzeitliche Ästhetik, in: Ludger Grenzmann/Hubert Herkommer/Dieter Wuttke (Hg.): Philologie als Kulturwissenschaft. Studien zur Literatur und Geschichte des Mittelalters. Festschrift für Karl Stackmann zum 65. Geburtstag, Göttingen 1987, S. 21-37 (hierzu S.33); Wiederabdruck bei Walter Haug: Brechungen auf dem Weg zur Individualität. Kleine Schriften zur Literatur des Mittelalters, Tübingen 1995, S. 17-30, hierzu S.27. Für die Lyrik vgl. Christoph Cormeau: Das höfische Lied. Text zwischen Genese, Gebrauch und Überlieferung. A m Beispiel von Walther von der Vogelweide L. 63,32, in: Axel Gellhaus (Hg.): Die Genese literarischer Texte. Modelle und Analysen, Würzburg 1994, S.25-42.

Mittelalterliche Texte als Entstehungsvarianten

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Spannungsfeld zwischen bloßer Abschrift (mit den üblichen Schreibvarianten) und textverändernder Adaptation, die im mittelalterlichen Traditionsverständnis m.E. ein weit stärkerer Erweis für die vorbildhafte Autorität eines literarischen Autor-Oeuvres ist als eine Schreiberkopie. Dieser Sachverhalt verbietet es, im Anschluß an Bernard Cerquiglini und der ,New Philology' 40 den Autor aus der Textüberlieferung zu eliminieren und mittelalterliche Literatur nur mehr als eine „écriture de la variance"41 aufzufassen. Im Gegenteil: gerade die textverändernde Autorisation eines Werks bestätigt - durch alle Verwerfungen der Überlieferung hindurch bis hin zu Mißverständnissen und objektiven Fehlern - in der aktualisierenden Adaptation die Autorität des Autors (auch wenn er anonym bleibt). Es sind also nicht nur die mittelalterlichen Autorbezeugungen42 oder ausgesprochene Autorsammlungen, die verlangen, auch für das Mittelalter am Autorbegriff festzuhalten. Es mag, aus neuzeitlicher Perspektive betrachtet, mißlich erscheinen, daß uns das Oeuvre eines mittelalterlichen Autors in der Regel lediglich in einer textverändernden Überlieferung vorliegt, aber aus mittelalterlicher Sicht ist dieses Weiterformen am Text m.E. eine Anerkennung des Autors, die textverändernde Autorisierung des Textes ein Zeugnis seiner Aktualität. Die literarische Individualität und Typik eines mittelalterlichen Autors läßt sich nur in der Überlieferung seines Werks greifen. Ein Editionsmodell, das diesem für das Mittelalter charakteristischen Sachverhalt Rechnung tragen

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Vgl. dazu die programmatischen Beiträge in Speculum, Jg. 10 (1990) und die Kritik Stackmanns (s. Anm. 31). Kritisch auch Jens Haustein: Marner-Studien, Tübingen 1995 (= Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 109), S. 249. Obwohl sich das Ergebnis seiner einläßlichen Studien „mit der Forderung von Vertretern der New Philology" (S. 248) berührt, geht er zu Recht vom „Autor als historischer Größe" aus und plädiert dabei für eine (Marner-)Edition „im Dienste eines - wenn nötig in seiner Varianz darzustellenden - Autor-Textes" (S.249). - Vgl. zur Gesamtthematik den wahrend der Drucklegung des vorliegenden Beitrags erschienenen - Sammelband: Helmut Tervooren/Horst Wenzel (Hg.): Philologie und Textwissenschaft. Alte und neue Horizonte, Berlin 1997 (Zeitschrift für deutsche Philologie, Jg. 116, Sonderheft), mit zahlreichen weiterführenden Literaturhinweisen; angekündigt ist: Autor und Autorschaft im Mittelalter. Meißener Colloquium 1995, Tübingen 1997.

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Cerquiglini (s. Anm. 31) konstatiert programmatisch: „l'écriture médiévale ne produit pas des variantes, elle est variance" (S. 111). Vgl. dazu den grundlegenden Überblick von Burghart Wachinger: Autorschaft und Uberlieferung, in: Walter Haug/Burghart Wachinger (Hg.): Autorentypen, Tübingen 1991 ( Fortuna vitrea 6), S. 1-28. Natürlich ist Wachinger zuzustimmen, daß „bis über die Schwelle des Buchdrucks hinweg auch das Verbrauchen von Texten ohne Interesse für ihren Autor eine wichtige Möglichkeit" (S.23) darstellt, aber hinter der Auswahl für den Verbrauch steht ein aktualistisches Interesse an Texten, auch wenn die .Verbraucher' den Autor nicht mehr kennen oder an ihm als Textautorität nicht mehr interessiert sind.

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will, kann sich weder mit dem Konstrukt eines möglichst .autornahen' Texts, noch mit der Fixierung auf einen überlieferungsnahen Leittext zufriedengeben. In beiden Fällen kommt die Textgenese im Rahmen der tradition vivante nur ausschnitthaft und statuarisch in den Blick. Das Werk eines mittelalterlichen Autors liegt uns in der Regel weder in einer nach neuzeitlichem Verständnis autorisierten Form (autornahe Edition), noch in einzelnen Rezeptionsstufen (Leittextedition) vor, sondern in den je neuen Autorisationen der textverändernden Uberlieferung, in die sich die Anerkennung für das Werk eines Autors - auch wenn dessen Name nicht (mehr) bekannt ist — aktualisierend eingeschrieben hat. Das eine ist ohne das andere nicht zu haben. Wenn man die mittelalterliche tradition vivante eines Werks als eine Bestätigung des Autors in seiner Aktualisierung versteht, stellt sich die Uberlieferung des Werks als ein Prozeß dar, der über den ,Ursprungsautor' hinausreicht und der nur mit einer erweiterten Autorschaft - wie am Beispiel des Alsfelder Passionsspiels gezeigt - adäquat erfaßt werden kann. Editionsmethodologisch bedeutet dies, die textverändernden Überlieferungsvarianten als Entstehungsvarianten zu werten. Ein darauf gegründetes Editionsmodell schließt das Werk eines Autors in der Uberlieferung ebenso ein wie dessen Anerkennung durch die textverändernde Überlieferung. Die literarhistorische Bedeutung eines Werks wird auf diese Weise in seinen Konstanten und in seinen Varianten gleichermaßen editorisch herausgestellt und für die differenzierte Interpretation im Sinne einer erweiterten Autorschaft erschlossen.

Peter Boerner Zwei Frauen reisen nach Scheveningen Eine Episode aus dem Umkreis Schillers

Als das Ehepaar Schiller im Dezember 1799 daran war, von Jena nach Weimar umzuziehen, berichtete Schiller, schon aus Weimar schreibend, seiner Frau über den Fortgang der Vorbereitungen: „Die Schwenkin hat ihre Sache ordentlich gemacht und es fängt nun an recht freundlich und bewohnlich im Haus zu werden."1 Von der hier erwähnten „Schwenkin" hören wir auch aus dem Munde Christophine Reinwalds, Schillers Schwester, daß sie den Dichter in seinen letzten Stunden „pflegte und wartete".2 Äußerungen wie diese, die sich in einzelnen Briefen finden, haben dafür gesorgt, daß die „Schwenkin", mit ihrem eigentlichen Namen Wilhelmine Schwenke, gelegentlich in der Literatur der Schillerzeit genannt wird. Uber sie selbst erfährt man jedoch nicht mehr, als daß sie die „langjährige Hausgehilfin"3 oder „treue Pflegerin"4 Caroline von Wolzogens, der Schwägerin Schillers, war. Um diese Informationslücke zu schließen, sei hier berichtet, daß Wilhelmine Schwenke, 1780 geboren, als Tochter des Ortspfarrers in dem südlich von Jena gelegenen Walddorf Langendembach aufwuchs. Noch siebzehnjährig folgte sie dem Beispiel anderer Mädchen ihres Standes, die sich als Mägde bei vornehmen Bürger- oder Adelsfamilien der Umgebung verdingten. In ihrem Fall nun wollte es ein gutes Geschick, daß sie nach Weimar, der größten Stadt weit und breit, und in das Haus von Wilhelm und Caroline von Wolzogen kam. Offenbar war ihre Herrin mit ihr zufrieden, wie auch sie sich bei ihrer Herrschaft wohl versorgt fühlte. Und über die Jahre entwikkelte sich zwischen den beiden Frauen, soweit es das Dekorum zuließ, ein Gefühl des Zusammengehörens. Daraus ergab sich, daß Wilhelmine für im-

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Schillers Werke. Nationalausgabe, Bd. 30: Briefwechsel. Schillers Briefe 1.11.179831.12.1800, hg. v. Lieselotte Blumenthal, Weimar 1961, S. 127. Zitiert nach Paul Schwenke: Aus Karoline von Wolzogens Nachlaß, in: Zeitschrift für Bücherfreunde, Jg. 9 (1905), S. 60. Schillers Werke. Nationalausgabe, Bd. 30 (s. Anm. 1), S. 337. Rudolf Abeken: Leben der Frau Caroline von Wolzogen, in: Literarischer Nachlaß der Frau Caroline von Wolzogen, Erster Band, Leipzig 1848, S. 59.

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mer bei Caroline von Wolzogen blieb, über den Tod von deren Mann und deren einzigem Sohn hinaus. Als ihre Herrin starb, kehrte sie in ihr Heimatdorf zurück, wo sie bis in ihr zweiundneunzigstes Jahr lebte. Einiges Gewicht für die Schillerforschung hat Wilhelmine Schwenke dadurch, daß ihr nach dem Tod Caroline von Wolzogens ein großer Teil von deren literarischem Nachlaß zufiel, ein Konglomerat von über fünftausend Manuskriptseiten. Diese Papiere, zusammen mit einigen von Wilhelmine selbst stammenden Aufzeichnungen, haben sich nun bis heute unveröffentlicht im Besitz ihrer Nachkommen erhalten.5 Eine Ubersicht darüber legte der Verfasser dieses Beitrags der Versammlung des Weimarer Schillervereins im November 1997 vor. An dieser Stelle soll allein von einem einzelnen Stück dieses Erbes gesprochen werden, einem von Wilhelmine Schwenke verfaßten, Holland betitelten Text von acht Manuskriptseiten. Er beschreibt eine im Herbst 1835 unternommene Reise Caroline von Wolzogens von Jena nach Scheveningen, bei der Wilhelmine sie, so wie es bei vielen früheren Fahrten geschah, begleitete. Besonderes Gewicht gewinnt dieser Text nun dadurch, daß ihm Aufzeichnungen Caroline von Wolzogens über dieselbe Reise entsprechen. Sie finden sich, auf insgesamt neun Blättern, in einem der von ihr über viele Jahre hinweg geführten Gedankenbücher oder Livres de pensées, die zu ihrem Nachlaß gehören. Obwohl sie es gewöhnlich vermied, dort von konkreten Erfahrungen zu sprechen, Schloß sie die holländischen Notizen ein, wohl ahnend, daß es für sie, die Dreiundsechzigjährige, die letzte große Reise war. Ihre Absicht war es, das ihr noch unbekannte Meer zu sehen. Und als Ziel hatte sie das durch seine Seebäder attraktive Scheveningen bestimmt. Die Fahrt führte, mit dem Postwagen, von Jena über Erfurt, Göttingen und Kassel nach Köln; von dort auf dem Dampfschiff nach Rotterdam. In Holland benutzten die Reisenden wieder den Wagen. Ohne weitere Erklärungen vorwegzunehmen, werden im folgenden die Bemerkungen der beiden Frauen, den Stationen der Reise nach, abschnittweise wiedergegeben, vom Aufbruch in Jena am 21. August 1835 bis zur Rückkehr dorthin am 27. Oktober. A m Anfang steht, von der Hand Wilhelmines, eine kursorische Aufzählung der Poststationen zwischen Erfurt und dem an der thüringischen Grenze gelegenen Mühlhausen. In Göttingen setzen beide Reisende dann mit den eigentlichen Notizen ein. Wilhelmine schreibt: „Den 26ten über Heiligenstadt nach Göttingen, wo wir den anderen Tag blieben. Göttingen hat mich sehr angesprochen vorzüglich die schöne Bibliothek. Es war die erste grosse Bibliothek die ich sähe und so 5

Den Nachlaß bewahrt zur Zeit der Verfasser, der mütterlicherseits aus der Familie Schwenke stammt.

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ist mir der Eindruck interessant. Auch erfreuten mich die Büsten der Männer die ich, den Nahmen nach, kannte. Das Lebensgrosse Bild des Herrn von Münchhausen des Stifters der Universität so wie das Bild von den ehemaligen Könige in Krönungs Ornate interessierten mich. Den 28ten kamen wir nach Cassel und bliben den 29ten da. Des Morgens gingen wir in die Catholische Kirche welche viel Sehenswerthes enthält, und des Nachmittages nach Wilhelmshöe, wo es mir, da der Tag sehr heiß war, unter den grossen frischen Bäumen recht wohl wurde." Caroline schreibt: „In Göttingen brachte ich einige angenehme Stunden bei Rehbergs zu. Er ist einer der politisch bedeutenden Menschen - versöhnend wünscht er zu wirken - findet selbst den Zustand so verworren daß es ihm lieb ist nicht im Fall zu sein, rathen zu müssen. Die Bibliothek imposant wie alle Anstalten in G. Münchhausens edles Bildnis. Dahlmann Professor der Geschichte gefiel mir nicht, hat ein unangenehmes Gesicht. Nacht in Cassel, anderen Tag auch. Im König von Preußen bekamen wir schlechtes Quartier. Wilhelmshöh der schönen Vegetation wegen angenehm. In der Catholischen Kirche sind vier gute Statuen der Apostel u. eine Madonna. Das Museum sah ich nicht der Ermüdung u. des kalten Wetters wegen. Die Aussicht auf die Aue ist schön, wie ich vor 46 Jahren sah."

Über Fritzlar reisen die Frauen weiter nach Marburg und Wetzlar. Wilhelmine schreibt: „Die Gegend um Marburg ist freundlich, indessen habe ich sie nicht so schön gefunden wie man mir davon gesagt hatte. Die Stadt selbst ist abscheulig. In Dom sahen wir das Grab der Heiligen Elisabet und andere Merkwürdigkeiten mehr, den lten Sept. waren wir Mittag in Giesen, die Stadt ist etwas besser als Marburg, doch auch nicht schön und die Gegend hat nichts erfreulichs. Abends waren wir in Wetzlar, welches einen traurigen Eindruck macht da die Spuren vergangener besserer Tage nur noch in Ruinen sichtbar sind." Caroline schreibt: „Marburg schöne Gegend. In einem Wirthshaus vor der Stadt angenehm gelegen fand ich einen ehemaligen Bundesgesandten aus Frankfurth der sich dahin zurückgezogen Meirung. Die Tochter schickte mir die Schrift über die Heilige Elisabeth. Der Vater ein gescheiter vernünftig liberal gesinnter Mann. Sprachen mir von meinem Schillers Leben. Der Dom u. das Grab der Elisabeth merkwürdig. Die bergichte Stadt sehr widrig. Weg bis Giesen angenehm, die Stadt häslich. Abends nach Wezlar, giengen nach Garbenheim zu, die Felsen über der Lahn riefen mir Werthers letzten Gang lebhaft zurück, in Göthens Empfindung. Alles zeigt Spuren der Verödung.

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Die ehemaligen Gebäude Kammergerichts sind verödet u. die Leute traurig über das erloschne Leben, noch der Höflichkeit u. Formen sehr gewohnt."

Über Weilburg und Limburg erreichen die Reisenden den Rhein. Wilhelmine schreibt: „Den 2ten waren wir Mittag in Weilburg welches ausgezeichnet schön liegt. Abends nach Limpburg an der Lahn, den andern Morgen vor der Abreise gingen wir in den sehr merkwürdigen Dom. Den 4ten von Limpburg über Mondabauer nach Thal Ehrenbreitstein wo wir den 4ten blieben, den 5ten auf den linken Rhein Ufer nach Bon. In Bon besuchten wir das Grab der Frau von Schiller." Caroline schreibt: „In Limburg, ein schöner wohl erhaltener Dom von großer einfacher Bauart. Dachte an Hohenfeld der da Domherr war. Kalt daß wir einheitzen ließen. In Montabauer Mittags, ganz angenehme Lage. Abends in Coblenz angekommen. Einen Tag ausgeruht, mit schmerzlichem Gefühl sah ich den schönen Strohm wieder, wo ich im Jahr 15 meinen Adolph aus Frankreich zurück erwartete. Im Jahre 19 gieng ich mit meiner Freundin Humbolt über die Rhein Brücke - Alle sind dahin für dieses Leben für mich. In Bonn besuchte ich das Grab meiner guten Schwester. Adele S. gab mir Blumen es zu schmücken."

Beide berichten über ihren Aufenthalt in Köln. Wilhelmine schreibt: „Den 6ten kamen wir nach Kölen wo wir 3 Tage blieben, welche mir, ein Unwohlseyen der F.v.W. ausgenommen recht angenehm waren da wir nicht allein den Dom, in welchen das eine mal sehr schön Musik war, einige mal besuchten sondern auch viele Bilder und andere Kunstsachen sahen. Auch dadurch daß mein Vetter Wilhelm in Kölen wohnt wurde mir der Aufenthalt recht angenehm, und in seiner Begleitung bin ich oft in der Umgegend von Kölen gewesen. Auch Herr von Schiller und seine Familie hatten viele Güte für mich." Caroline schreibt: „In Cölln sah ich das Museum. Von Marmor eine Medusa frappierte mich sie gleicht der die bei Göthen steht. In der von Düßeldorf gesandten Ausstellung Bendmanns Bild von Hildebrand. Landschaft von Lessing. Von Schulte Christus mit den Jüngern vor Emaus. Schöne Landschaften von Schirmer. B. Diefenbach kennen gelernt eine gute liebe sinnige Frau. Im Dom sprach ich mit ihr von unserem verstorbenen Freund."

Es folgt die Schiffsfahrt von Köln nach Rotterdam. Wilhelmine schreibt: „Den lOten Sept. gingen wir in Kölen auf das Dampfschiff, die Stadt Antwerpen genannt, und kamen des Abends sehr spät in

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Nimwegen an. Die Fahrt auf den Dampfschife war mir neu und recht interessant, man kömt mit so vielen ausgezeichneten, und oft recht lieben, Menschen zusammen, man ist so bequem eingerichtet wie in einem guten Hause. Hat man nun vollendes daß Glück gutes Wetter zu haben so bleibt einen nichts zu wünschen übrig, denn es ist ein einziges Gefühl, in guter Gesellschaft auf den prächtigen Strohm, mit den großartigen Umgebungen, fortgetriben zu werden. Leider hatten wir recht schlechtes Wetter auf der Fahrt hinunter, die Rückfahrt war günstiger. In Nimwegen blib das Schif bis Mittag ligen und wir benutzten die Zeit uns etwas in der Stadt umzusehen. Des Abends kamen wir ebenfalls spät in Rotterdam an, und den andern Morgen fuhren wir in Wagen nach den Hag." Caroline schreibt: „Auf dem Dampfboot eingeschifft - schlechtes Wetter das das Anschauen der Gegend stöhrte. Nimwegen eine freundliche Stadt. Geheimerath Diedemann u. eine Engländerin u. Maj. Jackson Campbell sehr liebenswürdige Holländerin machten die Reise angenehm, Regen umhüllte die Aussicht. In Rotterdam gute Ansicht der Wassermassen u. Schiffarth. Unangenehme Holländische Prellerei. In am Haag das freundlich liegt u. schön angebaut ist wie die Fahrt dahin durch frische Wiesen mit schönem Vieh."

Die Reisenden sehen das Meer bei Scheveningen. Wilhelmine schreibt: „In Delft stigen wir aus und um in die schöne Kirchen zu gehen wo daß Grabmahl des Prinzen von Oranien Wilhelm und das Denkmahl von Hugo Grotius sich befindet. Den 12ten Mittags kamen wir nach den Hag der mir einen recht freundlichen Eindruck machte. Des Nachmittags fuhren wir nach Scheveningen um dort das Meer zu sehen was mir nicht den großartigen Eindruck machte den ich erwartet hatte, woran wohl eben meine Erwartung, und auch die Jahreszeit schuld waren, denn wir sahen keinen grossen Wellenschlag und auch keine vollkommene Ruhe. Den 13ten bliben wir den ganzen Tag in Scheveningen um auch die Fluth zu sehen. Auf den Strande wurde eine kleine Flotte zu Fischfang zurechte gemacht und so wie die Fluth kam holte sie alle diese Schife ins Meere, daß sähe prächtig aus. den 14ten sahen wir das Museum in Hag wo die schönsten Bilder der größten Niderländischen Meister sind." Caroline schreibt: „Den 12ten erste Fahrt zum Meer, es war trübe u. stürmisch. Sonntags früh ins Museum voll bedeutender Bilder. Die Kirche in Delft wo der erste Oranien sein Grabmal hat u. Hugo Grotius ein Monument. Potters Bild mit dem Vieh u. Hirten das ich in Paris gesehen interessierte mich besonders. Von Van Dyk schöne Bilder Buckingham u. seine Frau. Zwei Kinder nach DaVinci. Den 13ten den Tag am Meer zugebracht.

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Abends die Fluth die sich langsam nähert u. in der die Herrings Schiffe abgiengen. Das Meer den ganzen Tag vom Wind bewegt." Die Rückfahrt von Rotterdam nach Düsseldorf. Wilhelmine schreibt: „Den 15ten reisten wir mit den Eilwagen nach Rotterdam, bliben die Nacht da, gingen den 16ten mit den Dampfschife bis Nimwegen. Auf diesen Schife war ein so wackerer Capitan der sich unserer recht freundschaftlig annahm. Auch ein Zollbeamter aus Emrich, Hr Horn erwies sich uns sehr freundlich. Von Nimwegen fuhren wir noch bis Wesel wo wir ausstigen und des Nachts bliben. den 18ten Morgens reisten wir, in Wagen, von Wesel ab über Duisburg nach Düsseldorf wo wir die Nacht bliben, des Morgens einiges sahen, und dann den 19ten Abends in Köln wieder ankamen." Caroline schreibt: „Auf der Rückfahrth von Rotterdam auf dem Dampfboot hatten wir heiteres Wetter u. sahen die Ufer schön. Eine Baronin in Rotterdam verheirathet u. in Haag lebend erzählte viel von der Revolution in Brüssel. Von Nimwegen aus den Nachmittag an Xanten u. Cleve vorbei. Ersteres hat einen schönen Dom. In Emrich Preußische Douane. Aufenthalt von einigen Stunden wo wir durch die Güte des Pr. Douanen Horn untersucht durchkamen. Unsere Bekanntschaft mit dem Capitain u. der Gräfin Maindoyl. Es war ein schöner Abend vor Wesel die Gegend glühte im Abendroth des Sonnenuntergangs. Man konnte es auf dem Vordeck wegen des Windes nicht lang aushalten. In Wesel durch die Stadt. Von Wesel Mittags in Duisburg zu Wagen. Der Abschied vom Capitain. Er sagte ,Trennung ist unser Loos, Wiedersehen unsere Hoffnung'. Bis Düsseldorf Nichts merkwürdiges." Wieder nach Jena. Mit der Bemerkung „Düsseldorf sehr freundlicher Ort" enden die Aufzeichnungen Carolines. Und auch Wilhelmine zählt von nun an nur noch die Reisestationen auf: Bonn, Koblenz, Würzburg und Erfurt, unterbrochen durch längere Aufenthalte in Wiesbaden und Bauerbach. Ihr letzter Eintrag lautet: „den 27ten [Oktober] Gott lob, gesund wieder nach Jena." Soweit die beiden Berichte, über die zunächst eine formelle Beobachtung zu machen ist: sie wurden nicht im Verlauf der Reise, sondern aus der Retrospektive verfaßt. Bei Wilhelmine läßt sich das daran erkennen, daß sie dazu neigte, zeitlich auseinander liegende Eindrücke zu raffen, so wenn sie über die Schiffsverbindung zwischen Köln und Nimwegen bemerkte: „Leider hatten wir recht schlechtes Wetter auf der Fahrt hinunter, die Rückfahrt war günstiger." Daß die Aufzeichnungen Carolines im Rückblick entstanden,

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zeigt ihre zügig durchgehende, mit den einzelnen Tagesabschnitten nicht neu ansetzende Handschrift. Unverkennbar ist die Kongruenz der von beiden Frauen gemachten Erlebnisse. Sie teilten alle Schritte der Reise, von den Fahrten im Postwagen oder auf dem Schiff, von angenehmen oder schlechten Quartieren bis zu dem Besuch beim Grab Lotte von Schillers. Die Begegnung mit dem Meer war offenbar für beide eine Enttäuschung. Caroline, die den Sonnenuntergang am Rhein bei Wesel ausdrucksvoll zu beschreiben wußte, widmete der Nordsee nur wenige Worte. Wilhelmine sagte ausdrücklich, daß ihre Erwartung nicht erfüllt wurde, „woran wohl eben meine Erwartung, und auch die Jahreszeit schuld waren." Innerhalb des verbindenden Erlebnisrahmens gibt es allerdings feine Unterschiede in der Art, wie Caroline und Wilhelmine auf einzelne Dinge reagierten. Bei Wilhelmine, das fällt immer wieder auf, ist alles handfest, beruht auf dem, was sie mit eigenem Auge erkannte, manchmal in ehrlichem Erstaunen. So konstatierte sie in Göttingen, daß sie zum ersten Mal eine „grosse Bibliothek" sehe; zu dem Dampfschiff, das die Reisenden von Köln nach Rotterdam brachte, bemerkte sie, man sei dort „so bequem eingerichtet wie in einem guten Hause. " Caroline neigte dazu, ihre Gedanken, von dem Gesehenen oder Gehörten ausgehend, schweifen zu lassen. Vornehmlich geschah das, wenn ein Ort ihr Gelegenheit gab, sich „mit schmerzlichem Gefühl" an Verstorbene zu erinnern, wie in Koblenz, wo sie zwanzig Jahre zuvor ihren aus dem französischen Feldzug zurückgekehrten Sohn Adolph getroffen hatte und einige Jahre später mit ihrer „Freundin Humbolt über die Rhein Brücke" geschritten war. Vielfach hielt sie Konversationen mit Reisegenossen fest und tat es mit besonderer Genugtuung, wenn diese auf ihr Leben Schillers eingingen. Gleicherweise inspirierten sie literarisch-historische Bezüge, etwa als sie sich in Wetzlar angesichts der Lahnfelsen „Werthers letzten Gang lebhaft" vorstellte und später bemerkte, wie sehr die „ehemaligen Gebäude Kammergerichts" veröden. Wilhelmine, für die Werther und das Reichskammergericht wohl weniger lebendige Begriffe waren, stellte lediglich fest, daß „die Spuren vergangener besserer Tage" kaum noch sichtbar seien. Aus beiden Berichten gewinnen wir den Eindruck, daß zwischen den Verfasserinnen, der Prinzipalin und ihrer Begleiterin, ein höchst freundliches Einvernehmen, ja geradezu eine aus ihren persönlichen Erfahrungen erwachsene Symbiose bestand. Charakteristisch dafür ist, daß Wilhelmine weitgehend in der Wir-Form sprach: „Den 12ten Mittags kamen wir nach den Hag [...] fuhren wir nach Scheveningen [...] wir sahen keinen grossen Wellenschlag." Wenn Caroline ihre Erfahrungen, dem Stil ihrer Gedankenbücher entsprechend, in eher unpersönlichen Formulierungen festhielt, heißt das

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nicht, daß sie den Gebrauch des „Wir" aus herrschaftlicher Arroganz vermied. In Kassel notierte sie, „bekamen wir schlechtes Quartier"; in Limburg, schrieb sie, sei es so kalt gewesen, „daß wir einheitzen" ließen. Daß Wilhelmine mit dem Gebrauch des „Wir" nicht die Grenzen ihrer dienenden Stellung überschritt, wird daraus deutlich, wie sie ein „Unwohlseyen der F.v.W." registrierte. In die Ich-Form fielen beide Reisende nur, wenn sie physisch getrennt waren. Wilhelmine tat es, wo sie persönliche Dinge verfolgte: „dadurch daß mein Vetter Wilhelm in Kölen wohnt wurde mir der Aufenthalt recht angenehm." Bei Caroline war es der Fall, wenn sie Gespräche verzeichnete, an denen Wilhelmine wohl nicht teilnahm, so als sie sich im Kölner Dom mit einer Frau Diefenbach über Schiller unterhielt: „sprach ich mit ihr von unserem verstorbenen Freund." Auch Urteile über bestimmte Menschen formulierte sie in eigener Verantwortung: „Dahlmann Professor der Geschichte gefiel mir nicht." Durchaus möglich ist es, daß sich die beiden Frauen bei der Niederschrift ihrer Berichte verständigten, vielleicht sogar, daß Caroline Gelegenheit hatte, die bereits vorliegenden Aufzeichnungen Wilhelmines einzusehen. Darauf deuten die von ihr gelegentlich festgehaltenen Daten, - solche Präzision paßt kaum zu der in ihren Gedankenbücbern erkennbaren Aversion gegenüber detaillierten Angaben. Für ihre Einsicht in Wilhelmines Aufzeichnungen sprechen auch Überschneidungen in der Wortwahl, etwa: „In Bon besuchten wir das Grab der Frau von Schiller" hier und: „In Bonn besuchte ich das Grab meiner guten Schwester" dort. Ergab sich die in den Berichten der beiden Frauen evidente Harmonie wohl aus den besonderen Gegebenheiten der Reise? Daß dies kaum der Fall war, erhellt aus nicht wenigen Stücken der Wolzogen-Schwenkeschen Papiere, die auf eine Ubereinstimmung des Umgangs auch für andere Umstände schließen lassen. Drei dieser Zeugnisse, die von Wilhelmine selbst, von Caroline und von Außenstehenden stammen, sollen hier herangezogen werden. Bezeichnende Aussagen Wilhelmines über sich selbst finden sich in einem schmalen, Notizen überschriebenen Heft, das sie 1834, nach sechsunddreißig Jahren im Dienste Caroline von Wolzogens, anlegte. Faktisch-chronologisch zählte sie darin die von ihr als Begleiterin Carolines unternommenen Reisen und sonstigen Aufenthalte außerhalb Weimars auf, so etwa: „in Sommer [1803] lebten wir einige Zeit in Jena, weil Frau von Schiller ihre Niederkunft da halten wollte"; oder: „das Frühjahr 21 und einen Theil des Sommers brachten wir in Bauerbach zu, gingen dann nach Bösleben und den Winter lebden wir in Weimar. " Das „Wir" klingt hier durchaus ähnlich wie in Wilhelmines holländischen Aufzeichnungen, und wohl auch hier darf man darin ein Zeichen der Verbundenheit der beiden Frauen erkennen.

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Von dem lakonischen Stil der Notizen trennt Wilhelmine sich lediglich in einer kurzen Einleitung, in der sie über ihr Leben im allgemeinen spricht. Als sie 1798 in den Dienst Caroline von Wolzogens eintrat, habe sie, die „in einer zwar armen und zahlreichen aber sich liebenden Familie erzogen war", einen großen Unterschied gespürt zwischen ihrer bisherigen Existenz und der Rolle, die sie nun als .dienende Person' zu spielen hatte. Domestiken, so hält sie fest, würden von niemandem beachtet, und „wenn sie ihre Arbeit gehörig verrichten", sei es ihnen überlassen, zu leben wie sie wollen. Daß Wilhelmine sich aus dieser Situation lösen konnte, war zum Teil wohl der Atmosphäre des Wolzogenschen Hauses zuzuschreiben, ging zu einem guten Teil aber auch auf sie selbst zurück. Was ihr geholfen habe, schreibt sie, sei, daß Gott ihr „einen gewißen Stolz und eine Neigung zur Zurückgezogenheit" gegeben habe, wodurch sie „vor Gemeinheit geschützt wurde." Der Gedanke, daß eine andere Herrschaft sie möglicherweise „ganz anders behandelt" hätte, habe nicht dazu beigetragen, sie glücklicher zu machen; doch habe ihr Verstand sie vor Bitterkeit geschützt: „ich nahm meine Lage wie sie eben zu nehmen war." Man möchte hinzufügen, daß solche Einstellung Wilhelmines wohl einer der Faktoren war, die zu dem Einvernehmen mit ihrer Prinzipalin beitrugen. Sie vergaß nicht, daß sie letzten Endes eine subalterne Stellung einnahm. Von Caroline von Wolzogen finden sich relevante Aussagen in ihren schon mehrfach zitierten Gedankenbüchern. Wilhelmine war einige der wenigen Personen, die sie dort namentlich erwähnte. So verzeichnete sie die Worte, die ihr Sohn Adolph vor seinem Tod an Wilhelmine gerichtet hatte, und aus ihrem fünfundsiebzigsten Jahr stammt die Notiz, sie habe einen „sehr lebendigen Morgen Traum" gehabt, in dem „die Schwenken auf einem rings mit Wasser umspülten Hügel stand; wobei ihr ein weißer Schleier" über den Kopf wehte. Caroline selbst habe auf dem Wasser gelegen und „nichts als Wasser" um sich gesehen, „die Schwenken streckte die Arme nach mir aus. Ich wollte schwimmen, da erwachte ich." Der Traumdeutung Kundige mögen sagen, inwieweit die in diesen Bildern offenbare Vertrautheit reale Bedingungen reflektiert. Wie Außenstehende über das zwischen den beiden Frauen bestehende Verhältnis urteilten, verdeutlich ein Stammbuch, das Wilhelmines Jenaer Freunde für sie anlegten, ehe sie nach dem Tod ihrer Herrin die Stadt verließ. Die Eintragungen stammen aus dem gleichen Kreis, der sich in den vorausgegangenen Jahren um Caroline versammelt hatte: lauter Kiesers, Ziegesars, Göttlings, Scheidlers und Frommanns, den Kennern von Schillers Leben durchaus vertraute Namen. In dem Stammbuch nun bezeugen Poesien, gepreßte Efeublätter, ein Aquarell der „Tell's Capelle", Zeichnungen von Carolines Jenaer Wohnung und ihrem Grab auf dem Alten Friedhof, vor allem

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aber ein Strauß von Schillerzitaten, wie sehr Wilhelmine als Glied dieses Kreises geschätzt wurde. Ein besonders liebenswürdiger Eintrag stammt von Carl Göttling, dem Bibliothekar der Universität, der lange als philologischer Berater Goethes fungierte. Auf Schillers Gang nach dem Eisenhammer anspielend, apostrophierte er Wilhelmine als einen „weiblichen Fridolin". Vielleicht, wenn eines Tages die große, längst überfällige Biographie Caroline von Wolzogens geschrieben wird, mag Wilhelmine Schwenke darin einen bescheidenen Platz erhalten. U n d ein paar Worte mögen dann auch der Reise nach Scheveningen gelten.

ΠΙ. Klassik

Theo Stammen „Ilmenau den 3. September 1783" Uber Goethes Verhältnis zur Politik

I. Das Ereignis des 250. Geburtstags Goethes am 28. August 1999 wirft seinen Schein voraus: Die ehemalige Residenzstadt Weimar bemüht sich - nach dem Braun der NS-Zeit und dem Grau in Grau der DDR-Epoche - , als „Weltkulturstadt 1999" neuen Glanz anzulegen; neue repräsentative GoetheEditionen - die „Münchner" und die „Frankfurter" Ausgabe (nach der „Hamburger" und der „Berliner") - stehen kurz vor ihrer Vollendung; neue bedeutende Goethe-Biographien wie die des britischen Germanisten Nicholas Boyle erscheinen, und das grundlegend neu konzipierte Goethe-Handbuch, auf vier respektable Bände ausgelegt, dürfte bald abgeschlossen vorliegen. Es bedarf keiner großen Prophetengabe vorauszusagen, daß die ohnehin schon längst unübersehbar angewachsene Goethe-Literatur aus diesem Anlaß einen weiteren Aufschwung erfahren wird. Ob es dessen im ganzen wie im einzelnen noch bedarf, mag freilich manchem fragwürdig bleiben; ist nicht längst - wenn auch nicht von allen - alles über Goethe, den jungen, mittleren, alten, gesagt und geschrieben worden? Sind wir nicht durch das Werk Goethes Leben von Tag zu Tag von Robert Steiger umfassender über Goethe informiert als über irgendeinen Menschen der Weltgeschichte? Kann angesichts dessen überhaupt noch wirklich Neues und Beachtliches, bisher Unbekanntes oder Unbedachtes über sein Leben und Werk erwartet werden? Und dann: wird es einem heutigen Publikum, das von den Ereignissen der neuen Medien überflutet - wohl nur mit sehr geteilter Aufmerksamkeit seinen größten ,Klassiker' zuzuhören bereit ist, lesensund hörenswert erscheinen? Fragen über Fragen, doch so unwahrscheinlich es klingen mag: diese Fragen sind zu bejahen \ Es kündigen sich für 1999 bereits bedeutsame neue Quellenfunde und entsprechende -editionen an, die sicher unser Goethe-Bild erfreulich erweitern und bereichern werden; es wird sicher auch neue Sichtweisen und Deutungen einzelner Werke und Epochen in Goethes Leben geben.

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D e n n - bei aller individueller Kreativität einzelner Forscher - die philologisch-historische und interpretative Arbeit auch an den klassischen Autoren und ihren Werken war und ist doch stets gewissen Strömungen, um nicht zu sagen: Moden, verpflichtet, denen zufolge zu bestimmten Zeiten bestimmte Themen und Aspekte - und dann fast ausschließlich nur diese - in erstaunlicher Häufung und Repetition auftreten, während andere gänzlich oder doch weitgehend außer Betracht bleiben. Insofern gibt es auch heute noch durchaus Desiderata in der Goethe-Forschung, die zu bearbeiten und zu beheben sich lohnt - nicht nur im Hinblick auf das Jubiläumsjahr 1999, das aber immerhin dazu den nötigen Impuls zu geben vermag.

II. Z u diesen Forschungs-Desiderata gehört meiner Uberzeugung nach auch immer noch - so seltsam es scheinen mag - der Themenbereich .Goethe und die politische Welt'. Nachdem zum 200. Geburtstag 1949 zu diesem unmittelbar nach dem Kriegsende und dem deutschen Zusammenbruch besonders aktuellen Problemfeld zwei große Monographien erschienen waren - Arnold Bergstraesser: Goethe - the Image of Man and Society, Chicago 1949 - , und Wilhelm Mommsen: Die politischen Anschauungen Goethes, Stuttgart 1949, war es zwischenzeitlich eher still geworden und geblieben um dieses Thema der Goethe-Forschung, sieht man einmal ab von den stärker historisch-biographischen Schriften von Hans Tümmler: Goethe in Staat und Politik, Köln 1964, Goethe

als Staatsmann, Göttingen 1976, Das klassische Weimar und das große Zeitgeschehen,

Köln 1975 1 , und neuerdings auch Friedrich Sengle: Das Genie

und

sein Fürst - Die Geschichte der Lebensgemeinschaft Goethes mit dem Herzog Carl August, Stuttgart 1993. A m ehesten wäre hier noch das schmale, aber hervorragend-gehaltvolle Bändchen des Politikwissenschaftlers Ekkehart Krippendorff Wie die Großen mit den Menschen spielen, Frankfurt 1990, zu nennen, das allerdings nur mit seinem Untertitel Versuch über Goethes Politik versteckt sein eigentliches T h e m a anzeigt und daher leider kaum rezipiert worden ist. Ü b e r die Gründe für dieses Desiderat wird man wohl nur Vermutungen anstellen können; wahrscheinlich stimmen Goethe-Freunde und GoetheGegner stillschweigend darin überein, Goethe sei im Grunde seines Wesens 1

Vgl. dazu auch: Peter Berglar (Hg.): Staat und Gesellschaft im Zeitalter Goethes. Festschrift für Hans Tümmler, Köln 1977.

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und Werkes stets ein unpolitischer Dichter gewesen, eine Fragestellung .Goethe und die Politik' mithin von vornherein eher abwegig und unergiebig und könnte daher am besten mit Stillschweigen übergangen werden. Daß diese weitverbreitete Einschätzung nichts anderes als ein unzutreffendes, unbegründetes Vor-Urteil ist, werden wir im folgenden an einem ziemlich begrenzten Ausschnitt aus Goethes Leben und Schaffen zu zeigen versuchen. Dazu bedarf es indes einiger Vorüberlegungen.

III. .Goethe und die Politik', .Goethe und die politische Welt', diese formelhaft verkürzten Themen- und Fragestellungen erweisen sich bei einem ersten näheren Hinsehen bald als ziemlich weitläufig und vielschichtig, so daß einige Abgrenzungen und Verdeutlichungen geboten sind. Diese wollen wir auf doppelte Weise gewinnen: Einmal dadurch, daß wir zuerst sagen, was im Kontext unserer Überlegungen nicht untersucht werden soll: So geht es im folgenden nicht um .Goethe als Staatsmann', d.h. um Goethes praktisch-politische Tätigkeit im Staatsdienst des Herzogtums Weimar. Dieses Thema hat ja Hans Tümmler in seinen zahlreichen historisch-biographischen Studien, zumal in seinem gleichnamigen Büchlein, kenntnisreich und quellennah weitgehend erschöpfend behandelt. Auch nicht um .Goethes politische Anschauungen', wie sie Wilhelm Mommsen in seiner Monographie - allerdings unter weitgehendem Verzicht auf Einbeziehung der dichterischen Werke auch heute noch lesenswert dargestellt hat. Ferner geht es auch nicht um die Bearbeitung der polemischen Konfrontation .Goethe und die Deutschen', über die sich anhand reichen Materials aus Goethes Schriften trefflich und unterhaltsam abendfüllend sprechen ließe. Demgegenüber interessiert uns vornehmlich die konkrete dichterische, d.h. sprachlich-symbolische Gestaltung politischer Erfahrungen oder, wie Goethe zu sagen pflegte, die „dichterische Gewältigung" der politischen Wirklichkeit seiner Zeit in seinen Werken. In dieser „dichterischen Gewältigung" politischer Wirklichkeit liegt eine Bemühung um zeitkritische Erfahrungsverarbeitung vor, wie sie auch als Entstehungsgrund politischer Theorien von Rang in der europäischen Ideengeschichte bekannt ist, weswegen sie auch für den politischen Ideenhistoriker als ein genuiner Forschungsgegenstand gelten kann. Das so konkretisierte Thema „dichterische Gewältigung" erfahrener politischer Wirklichkeit in symbolischen Texten bedarf indes noch einer weiteren wichtigen Konkretisierung: Vergegenwärtigen wir uns dazu einmal den Le-

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benslauf Goethes im Kontext seiner Zeit: er reicht vom Geburtsjahr 1749 bis zum Todesjahr 1832 und umfaßt so mehr als acht Jahrzehnte, von denen fünf noch dem 18. und drei bereits dem 19. Jahrhundert angehören. Diese Feststellung ist für unser Thema von weittragender Bedeutung. Denn: man braucht kein großer Geschichtskenner zu sein, um sich auch nur die markantesten historisch-politischen Epochenereignisse und Wendepunkte ins Gedächtnis zu rufen, die in diese über acht Jahrzehnte währende Lebenszeit Goethes hineinfallen und sie oft höchst dramatisch akzentuieren und strukturieren: der Siebenjährige Krieg in Europa und Nordamerika (1756-63); der amerikanische Unabhängigkeitskampf gegen Großbritannien und die Gründung der Vereinigten Staaten von Amerika (USA) (1776-87); Ausbruch und Siegeszug der Französischen Revolution (1789-1795); der unaufhaltsame Aufstieg Napoleons und seine kontinentale Hegemonie (1795-1812); das Ende des alten Römischen Reiches Deutscher Nation (1806); die nationalen Befreiungskämpfe gegen Napoleon überall in Europa, die aufkommenden bürgerlichen National- und Verfassungsbewegungen, der Wiener Kongreß mit dem Versuch der europäischen und deutschen Neuordnung durch die traditionalen Mächte (1812-15); die Ära der politischen Restauration in Europa unter der Heiligen Allianz, besonders in Mitteleuropa unter Metternichs Führung, und schließlich die bürgerliche Revolution in Frankreich (1830) und deren europäische Auswirkungen. Dies alles zugleich verwoben mit und verstärkt durch tiefgreifende soziale und ökonomische epochale Wandlungsprozesse (.industrielle Revolution') und sie intensiv vorbereitende und begleitende kulturelle und ideologische Bewegungen des frühen 19. Jahrhunderts.2 Diese Aufzählung mag schon genügen, darüber Aufschluß zu geben, in welcher äußerst bewegten Epoche der europäischen Geschichte Goethe lebte und welche umfassenden und tiefgreifenden Transformationsprozesse er in seinem Leben mit entsprechend weitreichenden direkten und indirekten Folgen erlebte, die unausweichlich auch seine politischen Erfahrungen und Wissensbestände nachhaltig bestimmten und als solche der „dichterischen Gewältigung" bedurften. Schließlich ist auch noch der Tatsache zu gedenken, daß Goethe durch diese historisch-politischen, sozial-ökonomischen und kulturell-ideologischen Erfahrungsmassen selbst als Person mehrere grundlegende .Metamorphosen', d.h. Gestaltwandlungen durchmachte, die mit den Epochen seiner Lebensund Werkgeschichte eng korrespondieren. So bekannte er einmal in einem

2

Vgl. dazu für Deutschland (und Europa) die klassische Darstellung von Franz Schnabel: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert, 4 Bde., Freiburg 1929 ff.; für den aktuellen Forschungsstand repräsentativ: Thomas Nipperdey: Deutsche Geschichte, 3 Bde., München 1996; und Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte, 3 Bde., München 1996.

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Brief an Friedrich Jacobi: „Daß die französische Revolution auch für mich eine Revolution war kannst du denken" (3.3.1790). Sein über achtzig Jahre währendes Leben kennt eine Reihe solcher Gestaltwandlungen, die sich auch in seinem dichterischen Werk auf markante, durchaus unterschiedliche Weise produktiv niedergeschlagen und ihre tieferen Spuren hinterlassen haben. Insofern - d.h. aufgrund dieser geschichtlichen Welt- und Persönlichkeitswandlungen - empfiehlt es sich unbedingt, Goethes Verhältnis zur Politik nicht im ganzen (auf die gesamte Lebenszeit bezogen) als Einheit, sondern auf einzelne Phasen oder Epochen differenziert zu untersuchen, in denen wir es entsprechend mit je spezifischen und konkreten politischen Herausforderungen und Erfahrungen und deren literarischer Verarbeitung zu tun haben. Unter dem Gesichtspunkt der dichterischen Bewältigung und symbolischen Gestaltung politischer Wirklichkeiten und Wirklichkeitserfahrungen lassen sich so fünf größere Epochen in Goethes Verhältnis zur politischen Welt unterscheiden, die sich zwar zu seinem Lebenslauf zusammenfügen, die aber auch durchaus einzeln zum Untersuchungsgegenstand gemacht werden können: (1) Zuerst die frühe Frankfurter Epoche (1749-1775), in der Goethe als Kind und junger Mann das Politische noch überwiegend in der vergehenden Gestalt des alten Deutschen Reiches wahrnimmt, wie es sich ihm in der Lebenswelt der Freien Reichsstadt Frankfurt als Wahl- und Krönungsstadt des Alten Reiches geschichtlich präsentierte und erlebbar machte. Man erinnere sich an die Darstellung der Kaiserkrönung von 1764 im 5. Buch von Dichtung und Wahrheit. In dieser Epoche, zu der man auch die Studienjahre in Leipzig und Straßburg sowie die Referendarzeit am Reichskammergericht in Wetzlar wird rechnen dürfen, ist das Politische durchaus noch keine existenzbestimmende Erfahrung für den jungen Goethe; es prägt indes nachhaltig die Atmosphäre an den verschiedenen Lebensplätzen und seinen konkret-geschichtlichen Erfahrungshintergrund, seine politische Bildung und Erziehung und schlägt sich auch in seinem ersten literarischen Erfolg (Götz von Berlichingen, 1773) spürbar nieder. Goethe hat uns später in Dichtung und Wahrheit (I. Teil, Buch 1-5) eingehend, wenngleich aus der reflektierenden Perspektive des Alters, von diesem untergehenden Mikro- und Makrokosmos und seiner Bedeutung für seine frühe Weltorientierung und Bildungsgeschichte ausführlich und dicht Auskunft gegeben. (2) Sodann das erste Weimarer Jahrzehnt von der Ankunft in Weimar als Fürstenerzieher bis zum fluchtartigen Antritt der Italienischen Reise (17751786). Diese relativ kurze, aber an neuen gesellschaftlichen und politischen Erfahrungen reiche Epoche ist für die Konstituierung und Ausbildung eines

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spezifischen, an den damaligen politischen Verhältnissen und Theorien des aufgeklärten Absolutismus und der politischen Ökonomie orientierten politischen Bewußtseins und Wissens Goethes von herausragender Bedeutung nicht zuletzt deswegen, weil sich hier konkrete politische Erfahrungen und Wissensgewinnung mit intensiver politischer Praxis im Weimarer Kleinstaat verbanden. Diese Zeit ist durch den letztlich gescheiterten Versuch Goethes geprägt, seine dichterische Existenz mit einer politischen Existenz zu einer Lebenseinheit zu verbinden, ja zu verschmelzen. Dieses intensive Bemühen spiegelt sich vielfach in den damals projektierten und begonnenen, meist zunächst jedoch Fragment gebliebenen dichterischen Werksentwürfen z . B .

zu Wilhelm Meisters theatralischer Sendung, zu Tasso und Iphigenie, aber auch in vielen der kleineren dramatischen Gelegenheitsarbeiten. Mit der .Flucht' nach Italien endet diese politische Formierungsphase; sie schließt mit dem Eingeständnis des Scheiterns dieses existentiellen Integrationsversuches und der Suche nach einem neuen Lebenskonzept in Italien, ist aber gleichwohl als eine der wichtigsten Phasen in Goethes lebenslangem Prozeß der dichterischen Bewältigung historisch-politischer Erfahrungen zu sehen, eine Epoche, deren schwer zu begreifende Komplexität Goethe selbst im Alter mehrfach hervorgehoben hat. (3) Ferner die Epoche der Französischen Revolution (1789-1795). Viele Selbstaussagen belegen, wie sehr Goethe, aus Italien nach Weimar zurückgekehrt, die Französische Revolution als ein auch seine persönliche Existenz aufs höchste gefährdendes Ereignis erfahren und begriffen hat; so heißt es in den Tag- und Jahreshefien für 1789: „Kaum war ich in das Weimarische Leben und die dortigen Geschäfte, Studien und literarischen Arbeiten wieder eingerichtet, als sich die französische Revolution entwickelte und die Aufmerksamkeit aller Welt auf sich zog". In der kleinen autobiographischen Schrift Bedeutende Fordernis durch ein einziges geistreiches Wort ist von der „vieljährigen Richtung [s]eines Geistes gegen die Französische Revolution" die Rede und von der „grenzenlosen Bemühung, dieses schrecklichste aller Ereignisse in seinen Ursachen und Folgen dichterisch zu bewältigen". Von dieser Bemühung sprechen die verschiedenen dramatischen und epischen ,Revolutionsdichtungen' Goethes sowie die autobiographischen Schriften dieser Epoche (Campagne in Frankreich und Belagerung von Mainz); sie dokumentieren, eine jede auf besondere Weise, die Tendenz zur umfassenden Auseinandersetzung mit der Revolution in Frankreich und ihren mannigfaltigen ideellen und praktischen Auswirkungen auf Deutschland in jener unmittelbaren Zeit. (4) Daran schließt sich die Napoleonische Epoche an (1795-1814), in der das jetzt kaiserliche Frankreich eine den ganzen europäischen Kontinent umfas-

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sende Hegemonie errichtet, die das traditionelle Gleichgewicht der Mächte in Europa aufhebt und gegen die sich alsbald die nationalen Bewegungen in den einzelnen Ländern überall in Europa erheben. Goethe, der 1808 in Erfurt mit Napoleon zusammentrifft 3 , verehrt das dämonische Genie des Korsen und gerät darüber immer stärker in Streit mit den aufkommenden nationalen Kräften in Deutschland. Nach Schillers (1805) und Wielands Tod (1813) findet Goethe auch gerade durch seine zeitkritischen Dichtungen zunehmend Distanz zu den vorherrschenden politischen und kulturellen Zeittendenzen. (5) Schließlich die späte Epoche (1815-1832) nach dem Wiener Kongreß und der Neuordnung der europäischen und deutschen Verhältnisse, mit dem sich verstärkenden Aufkommen politischer, sozialer und vor allem ökonomischer Transformationen, die den Einstieg des 19. Jahrhunderts in die Moderne signalisieren, die Goethe in seinen großen Alterswerken Wilhelm Meisters Wanderjahre und Faust, der Tragödie zweiter Teil auf ganz neue und ungewöhnliche und daher von seinen Zeitgenossen kaum verstandene Weise dichterisch zu bewältigen versucht. In einer jeden dieser skizzierten fünf Epochen erfährt Goethe eine gründlich veränderte, ja revolutionierte politische Weltwirklichkeit; und es bedarf jedesmal eines neuen, in seinen Absichten und Leistungen durchreflektierten dichterischen Erkenntnisprogramms, diese wechselnden politischen Wirklichkeiten mit ihren Wissensbeständen zu durchdringen und angemessen nach ihren Grundkräften und Entwicklungstendenzen zu deuten. Durchaus in dem Sinn des bekannten Satzes aus der Einleitung von Alexis de Tocquevilles Über die Demokratie in Amerika: „Eine völlig neue Welt bedarf einer neuen politischen Wissenschaft"4. Goethe hat in Briefen und Gesprächen der Spätzeit immer wieder darauf hingewiesen, wie ernst es ihm war, diese ihm von der Zeit als „Forderung des Tages" gestellte Aufgabe anzunehmen und angemessen zu erfüllen. In den nachfolgenden spezielleren Erörterungen können nicht alle fünf Epochen einzeln in gebührender Ausführlichkeit und Genauigkeit anhand der einschlägigen Texte und auf ihre je eigentümliche Art der dichterischen Bewältigung politischer Wirklichkeitserfahrung hin analysiert werden. Es wird vielmehr - allein aus Platzgründen - darauf ankommen, eine dieser 3

4

Vgl. dazu Goethes Bericht: Unterredung mit Napoleon, 1808, September, in: Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, Bd. 10: Autobiographische Schriften. Zweiter Band, textkritisch durchgesehen von Lieselotte Blumenthal und Waltraud Loos, mit Anmerkungen versehen von Erich Trunz und Waltraud Loos, 7., neubearbeitete Aufl., München 1981, S. 543-547. Alexis C. de Tocqueville: Uber die Demokratie in Amerika, München 1984, S. 9.

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Epochen herauszugreifen und anhand eines repräsentativen dichterischen Textes, in dem sich die besondere politische Problematik der Epoche exemplarisch verdichtet, zu interpretieren, um auf diese Weise an einem konkreten Beispiel den eigenartigen dichterischen Zugriff Goethes auf die von ihm als kritisch erfahrene politische Wirklichkeit sowie das damit verbundene Erkenntnisziel und Erkenntnisverfahren vorzustellen. Unsere Wahl fiel dabei aus zwei Gründen auf die zweite Epoche, auf das erste Weimarer Jahrzehnt: einmal weil es in der biographischen und werkinterpretierenden Literatur häufig eine eher geringschätzige Bewertung erfährt; gilt es doch als „das Jahrzehnt der Fragmente", die „Weimarer Krise", in der „der Lauf und Ablauf Goethescher Mißerfolge" beginnt; „damit zugleich die Prägung zum Günstling und Hofmann, die er, einstmals als Sprecher einer jungen Generation und einer jungen deutschen bürgerlichen Gesellschaft, vom Urteil der Mitwelt, dann der Nachwelt hinnehmen muß"5. Veranlassung zu einer solch kritischen Einschätzung gab sicher Goethe selbst dadurch, daß er diesen Lebensabschnitt in seinen autobiographischen Schriften - sieht man einmal von den wenigen Sätzen in den Tag- und Jahresheften ab - aussparte. Dichtung und Wahrheit endet bekanntlich 1775 mit dem Aufbruch nach Weimar; der nächstfolgende autobiographische Text ist Die italienische Reise, die mit 1789 einsetzt; für die Jahre 1775 bis 1786 fehlen mithin eine autobiographische Bearbeitung und Darstellung, deren verhindernde Schwierigkeiten Goethe später in einem Gespräch mit dem Kanzler Friedrich von Müller so erklärt: „Die wahre Geschichte der ersten zehn Jahre meines weimarischen Lebens könnte ich nur im Gewände der Fabel oder eines Märchens darstellen, als wirkliche Tatsache würde die Welt es nimmermehr glauben [...] Kommt doch jener Kreis [...] mir selbst, der das alles erlebt hat, schon als ein mythologischer vor. Ich würde vielen weh, vielleicht nur wenigen wohl, mir selbst niemals Genüge tun."6 Gleichwohl oder gerade deswegen wird man - bei näherem und genauerem Wahrnehmen der politischen Wirklichkeit jener Jahre - eine solche Bewertung kaum angemessen finden; im Gegenteil (und das ist der zweite Grund für unsere Entscheidung für diese Epoche): man wird die Zeit zwischen 1775 und 1786 aufgrund der sehr intensiven tätigen Erfahrungen der politischen Wirklichkeit durch Goethe auch unter den beschränkten kleinstaatlichen

5 6

Hans Mayer: Goethe. Ein Versuch über den Erfolg, Frankfurt/M. 1992, S. 15 ff., hier S. 24. Zitiert nach Johann Wolfgang Goethe: Das erste Weimarer Jahrzehnt. Briefe, Tagebücher und Gespräche 1775-1786, Frankfurter Ausgabe, Π. Abt., Bd. 2, Frankfun/M. 1997, S. 655 f.

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Verhältnissen des Herzogtums Weimar7 als die eigentlich prägende, formative und konstituierende Phase Goetheschen politischen Wissens und Bewußtseins ansehen dürfen. Im Zentrum dieser Epoche steht das Gedicht Ilmenau am 3. September 1783, das Goethe dem Herzog zu dessen 26. Geburtstag widmete und in dem er eine „dichterische Gewältigung" der Essenz dieser politisch so bedeutungsvollen Erfahrungswelt versucht hat, als Höhe- und Wendepunkt. Daher soll dieses Gedicht auch im Mittelpunkt der nachfolgenden Interpretation ste" hen.8

IV. Obwohl dieses Gedicht nach einem Wort Max Kommerells zu den großen „Lebenslaufgedichten" Goethes gehört9 und obwohl Goethe ihm in einem Gespräch mit Eckermann im Oktober 1828 eine ungewöhnlich ausführliche und eindringende Interpretation gewidmet hat10, gilt bis heute, daß dieses Gedicht noch keine seinem Rang und seiner lebensgeschichtlichen und zugleich politischen Bedeutung angemessene Deutung erfahren hat. Auch die jüngste Analyse des Gedichts von Christian Schärf im neuen Goethe-Handbuch" scheint noch keineswegs hinreichend und vollgültig den bestehenden Mangel behoben zu haben.12 Der Hauptgrund dafür liegt wohl in dem unzureichend wahrgenommenen und für die Deutung nicht genügend berücksichtigten Doppelcharakter des Gedichts: Es ist einerseits gewiß - wie Max Kommereil hervorhebt - ein „Lebenslaufgedicht", in dem Goethe eine Selbstdeutung seiner Existenz vorlegt, indem er Vergangenheit und Gegenwart seines Lebens ineinanderspiegelt - in durchaus kritischer Erkenntnisabsicht in einer 7

8

9 10

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12

Vgl. dazu die präzisen Beschreibungen der politischen, sozialen, ökonomischen und bevölkerungsstatistischen Gegebenheiten Weimars um 1800, in: Walter H. Bruford: Kultur und Gesellschaft im klassischen Weimar, 1775-1806, Göttingen 1966, bes. Kap. Π. Das Gedicht „Ilmenau am 3. September 1783" wird im folgenden nach dem Separatdruck der Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen Literatur in Weimar (3. Aufl., Weimar 1989) zitiert, der der Handschrift im Goethe- und Schiller-Archiv folgt. Max Kommerell: Gedanken über Gedichte, Frankfun/M. 1950, S. 166. Johann Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens, München 1976, 23. Oktober 1828. Bernd Witte u.a. (Hg.): Goethe-Handbuch, 4 Bde., Bd.I: Gedichte, Stuttgart 1996, S. 163169. Am nächsten kommt diesem Erfordernis Manfred Lauffs in seiner Abhandlung: „Er war mir August und Mäcen". Annäherung an ein Gedicht über soziale Verhältnisse und ein freundschaftliches Verhältnis, in: Heinz Ludwig Arnold (Hg.): Johann Wolfgang von Goethe, München 1982 ( - Text und Kritik. Sonderband), S. 54 ff.

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entscheidenden Lebensphase. Es gehört andererseits ebenso gewiß älteren literarischen Traditionen an: einmal dem alteuropäischen „Huldigungsgedicht" und „Herrscherlob", dem Ernst Robert Curtius in seinem großen Werk Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter (1948) ein ganzes Kapitel widmete13, zum anderen dem der europäischen Lehrdichtung verpflichteten „Fürstenspiegel".14 Dabei kommt es besonders darauf an, die Verbindung, ja Integration dieser beiden älteren literarischen Traditionen mit dem „Lebenslaufgedicht" zu der erwähnten Doppelstruktur angemessen zu bedenken, die das eigentümliche Wesen dieses Gedichts und auch die besondere Motivation des Dichters dazu ausmacht. Der Ursprung dieser eigentümlichen Doppelstruktur verdankt sich wohl dem verbindlichen Vorbild des humanistischen Fürstenspiegels, wie es Erasmus von Rotterdam in seiner Institutio Principis Christiani (1516) geschaffen hat.15 Zu Beginn seines ersten Kapitels argumentiert Erasmus nachdrücklich dafür, daß dort, wo der Herrscher (Fürst) nicht durch Wahl (was das eigentlich beste Verfahren wäre), sondern durch Geburts- und Erbrecht bestimmt wird, alles auf eine gute Erziehung des Prinzen ankommt; damit rücken Suche und Auswahl eines kompetenten Fürstenerziebers in den Vordergrund der Textformation des Fürstenspiegels. Bekanntlich war Goethe 1775 (wie wenige Jahre vorher schon sein Schriftstellerkollege Christoph M. Wieland16) für eben diese Aufgabe der Fürstenerziehung von Frankfurt nach Weimar berufen worden; seither hatte er die Rolle des Erziehers von Carl August mit Ernst und Engagement wahrgenommen und sich auch bald als Mitglied des Geheimen Consiliums, des obersten Leitungsorgans des Herzogtums, vielfältig in der praktischen Politik betätigt und verschiedene Ämter übernommen, zugleich aber auch als nahezu gleichaltriger Freund des jungen Herzogs an dessen notorisch ,wildem Leben' 13

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15

16

Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Tübingen 1993, S. 176 ff. Vgl. Hans-Otto Mühleisen/Theo Stammen (Hg.): Regierungskunst und Tugendlehre, Tübingen 1992; H.-O. Mühleisen/Th. Stammen in Verbindung mit Michael Philipp (Hg.): Deutsche Fürstenspiegel der Neuzeit, Frankfurt/M. 1997; M. Philipp/Th. Stammen: Artikel „Fürstenspiegel", in: Gert Ueding (Hg.): Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. ΠΙ, Tübingen 1996, Sp. 495ff.; vgl. auch: Hans Gerd Rötzer u.a.: Europäische Lehrdichtung. Festschrift für Walter Naumann, Darmstadt 1981. Erasmus von Rotterdam: Ausgewählte Schriften, lateinisch-deutsch, 8 Bde., hg. v. Werner Welzig, Bd. V, Darmstadt 1968, S. 112 ff. Vgl. dazu: Friedrich Sengle: Wieland, Stuttgart 1949, S. 259 ff.; ferner: Ludwig Fertig: Christoph Martin Wieland als Weisheitslehrer, Darmstadt 1991, S. 117ff. Vgl. auch Helmut J. Schneider: Staatsroman und Fürstenspiegel, in: Horst A. Glaser (Hg.): Deutsche Literatur eine Sozialgeschichte, Bd. 4, Reinbek 1980, S. 170 ff.

„Ilmenau" - Über Goethes Verhältnis zur Politik

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partizipiert. In dem Gedicht Ilmenau reflektiert er diese verschiedenen Rollenwahrnehmungen und ihre Erfüllung kritisch im Lichte der aktuellen Gegenwart von 1783 ebenso wie die Entwicklung des Herzogs, eben erst 26 Jahre alt geworden, zur vollen Regierungsfähigkeit. Dieser Doppelblick auf den Herzog und zugleich auf seine eigene Person in Hinblick auf die Erfüllung der je spezifischen Aufgaben eines Fürsten und eines Fürstenerziehers aus Anlaß des Geburtstags des Fürsten - dies macht den eigentlichen Grund für die eigentümliche, weitgehend durchgehaltene Doppelstruktur des Gedichts aus. Es wird hier nicht möglich sein, auch nur skizzenhaft die konkreten politischen, sozialen und ökonomischen Rahmenbedingungen im Herzogtum Weimar einzubeziehen und zu bedenken, wie sie gerade um das Jahr 1783 in mehr als einer Hinsicht das politische Leben Goethes bestimmten; alles in allem war es ein politisch hoch bedeutsames Jahr; fallen doch in diesen Zeitraum eine Reihe von bemerkenswerten politischen Ereignissen, Entscheidungen und Handlungen: so z.B. das vertiefte Engagement Goethes für die Wiederaufnahme des Ilmenauer Bergbaus aus ökonomischen und haushaltspolitischen Gründen; die Neuordnung der Fiskal- und Steuerpolitik speziell in der Region des Amtes Ilmenau; aber auch der in der neueren Forschung noch diskutierte Beitritt Goethes (und Herzog Carl Augusts) zum Illuminatenorden. Lange verschollen und daher oft umstritten, ist erst im letzten Jahr Goethes eigenhändige handschriftliche Beitrittserklärung (vom 11. Februar 1783) aufgefunden und gleich an mehreren Stellen publiziert worden.17 Uber Gründe und Absichten Goethes für seinen Beitritt besteht nach wie vor weder Klarheit noch Ubereinstimmung. Man wird aber wohl nicht fehlgehen, sie in engem, integralem Zusammenhang mit Goethes politisch-theoretischen und politisch-praktischen Ambitionen jenes Jahres zu verstehen. Handelt es sich doch bei der .politischen Theorie' der Illuminaten - in deutlichem Unterschied zum allgemeinen Freimaurertum - um eine Theorie politischer Reformen im absolutistischen Staat18, wie sie Goethes politische Praxis im Herzogtum Weimar durchaus kennzeichnet.

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18

Vgl. die vor allem durch den amerikanischen Germanisten William Daniel Wilson mit seinem Buch „Geheimräte gegen Geheimbünde. Ein unbekanntes Kapitel der klassisch-romantischen Geschichte Weimars", Stuttgart 1991, in Gang gesetzte und in den drei letzten Bänden des Goethe-Jahrbuchs (1994-96) fortgeführte kontroverse Diskussion. Vgl. dazu allgemein: Richard von Dülmen: Der Geheimbund der Illuminaten. Darstellung, Analyse, Dokumentation, Stuttgart/Bad Cannstadt 1975; Johann Joachim Christoph Bode: Journal von einer Reise von Weimar nach Frankreich im Jahr 1787, hg. v. Hermann Schüttler, Neuried 1994, vor allem die einführenden Abschnitte S. 7-152; Eberhard Weis: Der Illuminatenorden (1776-1786). Unter besonderer Berücksichtigung der Fragen seiner sozialen Zusammensetzung, seiner politischen Ziele und seiner Fortexistenz nach 1786,

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V. „Wenn es möglich ist, schreibe ich dem Herzog ein Gedicht auf seinen Geburtstag", schrieb Goethe am 30. August 1783 an Charlotte von Stein. Am 3. September war Carl Augusts Geburtstag; Goethe hat diese genaue Zeitangabe in den Titel des Gedichts als integrales Element aufgenommen. Goethe muß das Gedicht mithin zwischen dem 30. August und dem 3. September 1783 verfaßt und dem Herzog gleich anschließend überreicht oder zugestellt haben. Goethe war in diesen Tagen in Ilmenau; es ging um die Wiederaufnahme des dortigen Silber- und Kupferbergbaus; das Tagebuch gibt an, daß Goethe am 4. September von Ilmenau nach Weimar zurückkam. Damit sind Ort, Zeitpunkt und Anlaß des Gedichts auf selten präzise Weise bekannt.19 Entstanden 1783, wurde das Gedicht merkwürdigerweise erst 1815 im Rahmen der Neuausgabe der Werke gedruckt. Warum eine Publikation des großen Gedichts fast drei Jahrzehnte unterblieb, ist ebenfalls bisher ungeklärt geblieben; die Kommentare - auch zu den neuesten Goethe-Editionen in München und Frankfurt - schweigen dazu; ebenso das neue Goethe-Handbuch. Auch Goethes eingehende Erläuterungen gegenüber Eckermann am 23. Oktober 1828, kurze Zeit nach dem Tod des Herzogs entstanden, geben darüber keinen Aufschluß. Die Ortsangabe „Ilmenau" im Titel ist nicht nur topographisch wichtig, sie stellt deutlich kontrastierende autobiographische Bezüge her: Einerseits bildete die Region um Ilmenau in den frühen Weimarer Jahren den lokalen Hintergrund ungezügelter Aktionen des jungen Herzogs und seines Gefolges, durch die Goethe bei einigen alten Freunden (wie Klopstock und Stolberg) ziemlich in Verruf geriet; andererseits konzentrierte sich Goethes staats- und wirtschaftspolitisches Engagement in der Regierung des Herzogtums zu Beginn der 80er Jahre, d.h. zum Zeitpunkt der Abfassung des Gedichts, auf die Ilmenauer Region, speziell auf die Wiederbelebung des Ilmenauer Bergbaus.20 Es kostete viele Jahre intensivster Anstrengungen und beträchtlicher finanzieller Aufwendungen, aber auch diplomatischer Verhandlungen, den Ilmenauer Bergbau wieder in Gang zu bringen - allerdings ohne anhaltenden Erfolg; denn bereits im Oktober 1796 mußte, nach einem erneuten Wassereinbruch in den Stollen, der Betrieb definitiv eingestellt werden. So blieb Goethe als Staatsminister letztlich der Erfolg versagt, sein wirtschaftspolitiMünchen 1987 ( - Bayerische Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse, Sitzungsberichte, Jg. 1987, H. 4). 19

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Vgl. Robert Steiger.· Goethes Leben von Tag zu Tag. Eine dokumentarische Chronik, 8 Bde., Bd.II: 1776-1788, Zürich/München 1983, S.482 f. Vgl. dazu Julius Voigt: Goethe und Ilmenau, Leipzig 1912, Neudruck 1990.

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sches Hauptziel zu verwirklichen: durch den Ilmenauer Silber- und Kupferbergbau die notorisch prekäre Finanzlage des Herzogtums nennenswert zu verbessern und dadurch den Staatshaushalt dauerhaft zu sanieren. Beide Erfahrungen mit Ilmenau - die frühe der siebziger und die spätere der achtziger Jahre - spiegeln sich im Geschehen des Gedichts, das entsprechend auf zwei Zeitebenen spielt. Sie machen u.a. die grundlegende und durchlaufende Spannung des Textes aus. Insofern bietet das Gedicht, neben der selbstkritisch reflektierten Geschichte der Entwicklung und Bildung des Werther-Dichters am Hof des Herzogtums Weimar zu einem politisch verantwortlich denkenden und handelnden Staatsdiener im ersten Weimarer Jahrzehnt, auch die Analyse der politischen Praxis und der Erziehungsarbeit am Fürsten. Der spontane Hinweis Goethes in dem zitierten Brief an Charlotte von Stein: „Wenn es möglich ist, schreibe ich dem Herzog ein Gedicht auf seinen Geburtstag", hat vielfach dazu Veranlassung gegeben, das Gedicht Ilmenau zu Goethes „Gelegenheitsgedichten" zu rechnen. So etwa Erich Trunz in der Hamburger Ausgabe, wo es unter der Rubrik „Gelegenheitsgedichte aus dem Weimarer Kreise" (Bd.I, S. 107) aufgenommen worden ist. Dies mag mit Bezug auf die äußere Veranlassung als Geburtstagsgedicht an Carl August durchaus angemessen erscheinen - weniger allerdings im Hinblick auf den komplexen Inhalt und die weitreichende lebensgeschichtliche und politische Bedeutung des Gedichts im Kontext dieser Lebensepoche Goethes. Da trifft die Charakterisierung als „Lebenslaufgedicht", wie sie Max Kommereil verwendet, weit besser zu - zumal wenn man Kommereils Erklärung zum Verständnis dieses Gedichtstyps mit heranzieht. „Man muß [so Kommerell] sich an die lebensgeschichtliche Betrachtungsweise halten, die Früheres und Späteres vergleicht, eine Summe zieht, das Schwankende einer Krise zur Entschiedenheit einer neuen Wendung verdeutlicht."21 Im speziellen Hinblick auf Goethes Gedichte differenziert Kommereil die „Lebenslaufgedichte" in zwei Varianten: in eine, die den eigenen Lebenslauf gewissermaßen in einem autobiographischen Verfahren - gestaltet (wie Zueignung, und in eine andere, die einen fremden Lebenslauf thematisiert (wie Auf Miedings Tod). Kommerell nennt sie beide - im Hinblick auf ihre eigentümliche Zeitstruktur - auch „Rückblicksgedichte".22 Wie angemessen diese Charakterisierung gerade auch für Ilmenau ist, geht bereits aus unserem vorläufigen Vorblick auf den Gehalt des Gedichts klar hervor.

21 22

Kommereil (s. Anm. 9), S. 166 (Hervorhebungen von mir, Th. St.). Ebd., S. 172.

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Nimmt man diese Differenzierung auf, so kann man an dem Gedicht Ilmenau, über das man sich Kommereil zufolge „nicht genug wundern kann"23, das Besondere darin erblicken, daß hier zwei Lebensläufe, der eigene und ein fremder, aufs engste und untrennbarste untereinander verwoben und verschlungen sind und sich - Goethes eigentümlichen Verfahren des Dichtens entsprechend - wechselseitig ineinander spiegeln: „der [Lebenslauf] eines jungen Fürsten, der Brotherr und Gönner des Dichters ist, und der [Lebenslauf] des Dichters, der diesen Fürsten erzog." Daraus ergibt sich die wesentliche Einsicht, daß sich diese beiden Lebensläufe nicht erst vom Dichter in seinem Gedicht, gewissermaßen künstlich und im nachhinein verbinden, „sie sind vom Schicksal selbst durcheinandergeschlungen und aufeinander bezogen worden; die Rettung des einen folgte schnell auf die Rettung des anderen, und die Krisen glichen sich durchaus; erst als ein selbst Geretteter wurde der Dichter zum Retter und vollführte im Retten des anderen den letzten Akt seiner Selbstrettung".24 Damit erschließt sich gewissermaßen die Mitte dieses Gedichts, und wir können von hier dazu fortschreiten, die eigentümliche Bewegung der Gedanken, Begriffe und Bilder um dieses Zentrum näher in Augenschein nehmen, um die sich das doppelstrukturierte Geschehen abspielt.

VI. Der aufgewiesenen Doppelstruktur dieses großen „Lebenslaufgedichts" entspricht ein immens verdichteter Geschehnisablauf, der auf zwei alternierenden und ineinander verwobenen Zeitebenen spielt. Das Gedicht setzt mit dem ersten Vers „Anmutig Thal, du immergrüner Hain" auf der Zeitebene der erlebten Gegenwart ein; es ist die unmittelbare Gegenwart des Jahrs 1783, Ende August, als Goethe das Gedicht zum bevorstehenden Geburtstag des Herzogs schrieb. Er ist wegen Bergwerksangelegenheiten in diesen Tagen in Ilmenau, dessen Umgebung mit Tal, Hain und Höhn die zunächst idyllisch anmutende Naturinszenierung topographischkonkret bestimmt. Die Begegnung mit dieser aktuellen Gegenwart setzt indes - durch den Anlaß eines Geburtstagsgedichts mit bedingt - im Bewußtsein des Dichters alsbald einen Prozeß des Erinnerns und Heraufholens von vergangenem Erlebten in Gang: 23 24

Ebd., S. 170. Ebd., S. 168.

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Mein Herz begrüst euch wieder auf das Beste

So wird das Erkennen einer Gegenwart von Tal, Hain und Höhn zum Wiedererkennen, zum Wiederbegegnen mit früheren Begegnungen mit und in dieser Natur und Landschaft: Wie kehrt ich offt mit wechselndem Geschicke Erhabner Berg an deinen Fus zurücke

Die wiederholte Begegnung, die das Bleibende, Dauerhafte der Natur mit dem Wechsel des individuellen, menschlichen Lebens konfrontiert, soll [...] heut an deinen sachten Höhn Ein jugendlich ein neues Eden [...]

erscheinen und entstehen lassen. Nicht einfach ohne Grund, sondern als Lohn für anhaltende Bemühungen und Leistungen um dieses Land: Ich hab es wohl auch mit um euch verdienet Ich sorge still indeß ihr ruhig grünet.

Damit fällt ein erstes Licht auf die sorgende Tätigkeit des sich im Staats- und Verwaltungsdienst des Herzogtums auf mehreren verschiedenen Politikfeldern (Bergbauwesen, Wegebau, Militärwesen, Finanzverfassung etc.) hart engagierenden und redlich abmühenden Dichters, wobei das Wort .sorgen' hier durchaus im doppelten Verständnis zu nehmen ist: als sich ,um etwas kümmern' wie als ,in Sorge sein'. Es ist aus zeitgenössischen Briefen, Tagebuch- und Gesprächszeugnissen Goethes hinlänglich bekannt, mit welcher Intensität und Hingebung, Konzentration und welchem Einsatz der Kräfte er sich fast unmittelbar vom ersten Augenblick seiner Ankunft in Weimar an auf die politische Praxis in dem kleinen Gemeinwesen geworfen hat. Ende April 1780 notiert er ins Tagebuch: „Ich trinke fast keinen Wein. Und gewinne täglich mehr Blick und Geschick zum tätigen Leben." Der seine Entwicklung in dieser frühen Phase wohlwollend beobachtende Christoph M. Wieland beschreibt in einem Brief Goethes absorbierendes Engagement so: „Unsern Goethe habe ich seit acht Tagen nicht sehen können. Er ist nun Geheimer Legionsrat und sitzt im Ministerio unseres Herzogs, ist Favorit-Minister, Faktotum und trägt die Sünden der Welt. Er wird viel Gutes schaffen, viel Böses hindern, und das muß, wenns möglich ist, uns dafür trösten, daß er als Dichter wenigstens auf viele Jahre für die Welt verloren ist. Denn Goethe tut nichts halb. Da er nun einmal in diese neue Lauf-

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bahn getreten ist, so wird er nicht ruhen, bis er am Ziel ist; wird als Minister so groß sein, wie er als Autor war." Einerseits bestimmt ihn offensichtlich Ehrgeiz und Wissensdrang, diese neue praktisch-politische Welt und seine Fähigkeit, darin verantwortlichhandelnd tätig zu sein, kennenzulernen und darin zu bestehen. „Den Hof hab ich nun probiert, nun will ich auch das Regiment probieren, und so immer fort" (8. März 1776). Diesem Antrieb entspricht, wenn er ein Jahr später emphatisch ins Tagebuch notiert: „Regieren//" und „Ich will doch herr werden!" Und er ist sich dabei durchaus bewußt, daß „niemand als wer sich ganz verläugnet [...] wert [ist] zu herrschen und herrschen [kann]" (Tagebuch, 13. Mai 1780). Andererseits erfüllt ihn Sorge angesichts der vielfach miserablen sozialen und ökonomischen Zustände und Verhältnisse des einfachen Volkes im Lande. Er kann nicht übersehen, daß „auch hier die Welt so manch Geschöpf in Erdefesseln hält." Der Wunsch („laßt mich vergessen"), sich dieser schlimmen Realität zu entziehen, ist vergebens. Es bleibt im Bewußtsein das Bild der Wirklichkeit, daß Der Landmann leichtem Sand den Saamen anvertraut Und seinen Kohl dem frechen Wilde baut, Der Knappe karges Brod in Klüfften sucht, Der Köhler zittert wenn der Jäger flucht Dem Wunsche, die Welt in „ein jugendlich, ein neues Eden" zu verwandeln, steht eine Welt der Arbeit und Mühen, der Entbehrung und Not einfacher Menschen unmittelbar entgegen, mit deren Lage sich Goethe in den ersten Weimarer Jahren auf seinen Reisen und Ritten kreuz und quer durch das politisch zerrissene Fürstentum überall aufs härteste konfrontiert sieht. Briefe und Tagebücher der Zeit registrieren diese Befunde; sie geben zudem Auskunft darüber, wie sehr Goethe von dieser Realität sich betroffen zeigt; wie er diese Wirklichkeit nicht als unabweisbar verhängtes Schicksal, sondern als von Menschen an Menschen verursachtes Unrecht erfährt, das ihn empört und das abzuändern sein Bemühen auf Jahre wird. In einem Brief an den Freund Knebel heißt es: „So steig ich durch alle Stände aufwärts, sehe den Bauersmann der Erde das Notdürftige abfordern, das doch auch ein behaglich auskommen wäre, wenn er nur für sich schwitzte. Du weißt aber wenn die Blattläuse auf den Rosenzweigen sitzen und sich hübsch dick und grün gezogen haben, dann kommen die Ameisen und saugen ihnen den filtrierten Saft aus den Leibern. Und so geht es weiter, und wir habens so weit gebracht, daß oben immer in einem Tage mehr verzehrt wird, als unten in einem organisiert/beigebracht werden kann" (17. April 1782). Das Gleichnis von den

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Blattläusen und den Ameisen faßt die als schlimm erfahrene politisch-soziale Realität ins passende Bild. Den privilegierten Hof- und Staatsdiener belastet diese Erfahrung: „Man ist beschämt wie man vor so vielen tausenden begünstigt ist. Man hört immer sagen wie arm ein Land ist, und ärmer wird, teils denkt man sich es nicht richtig, teils schlägt man es sich aus dem Sinn, wenn man denn einmal die Sache mit offenen Augen sieht, und wie doch immer gepfuscht wird!!" (5. April 1782) Diese Erfahrung führt ihn zu der Einsicht: „Die Verdammnis, daß wir des Landes Mark verzehren, läßt keinen Segen der Behaglichkeit grünen" (2. April 1782). Dieser kritischen Erfahrung sozialer und ökonomischer Realität steht in den ersten Gedichtstrophen die Erfahrung der Natur entgegen, mit der Goethe sich im ersten Weimarer Jahrzehnt zunehmend stärker auch wissenschaftlich unter den verschiedenen Perspektiven der Geologie, Mineralogie, Osteologie und Botanik zu beschäftigen beginnt. Die Naturerfahrung auf der Schweizer Reise 1779 hat hier starke Impulse vermittelt. In dem bedeutenden Brief an Ernst II., Herzog von Sachsen-Gotha und Altenburg (27.12.1780), gibt Goethe ein Bekenntnis der Motive und Zwecksetzungen seiner viel Zeit okkupierenden und vielseitigen, vor allem geologischen und mineralogischen Naturstudien. 25 Dabei bilden diese Studien einerseits die unmittelbare wissenschaftliche Grundlage für politisch-verwaltungsmäßige Handlungsakte, insofern sie die Praxis anzuleiten vermögen; zugleich wird aber - wie in den ersten Strophen des Ilmenau-Gedichts - offenbar, daß die Naturanschauung Goethes eine stark sittliche Dimension besitzt, indem sie ihm ein heilendes Gegengewicht gegen die Erfahrung desolater politisch-sozial-ökonomischer Zustände verschafft. Hier, in der Naturbetrachtung, gewinnt Goethe so die ihm für die Praxis erforderliche Einsicht in „die Folge der Dinge"26, die die notwendige Voraussetzung für ein verantwortungsethisches politisches Handeln ist. So wird verständlich, „daß es eine Krisenerfahrung ist, die ihn [Goethe] dazu treibt, in der Beschäftigung mit der Natur, Lösung und Heilung zu suchen". 27 Diese versittlichende Tendenz der Naturbetrachtung wird in einigen wichtigen Abhandlungen dieser Zeit besonders evident: so in dem Granit-Aufsatz (1784) und vor allem in dem Fragment Die Natur (1782/83), von dem Goethe später bekannte, er könne nicht mehr feststellen, ob das Fragment von ihm

25 26 27

Goethe, Das erste Weimarer Jahrzehnt (s. Anm. 6), S. 316-321. Ebd., S. 184. Ebd., S. 684.

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stamme, die darin geäußerten Gedanken stimmten jedoch mit seiner Naturanschauung jener Epoche überein.28 Diese Natursicht liegt auch der vierten Strophe des Ilmenau-Gedichts zugrunde: Wie bad ich mich in euren Düften gern! Melodisch rauscht die hohe Tanne wieder, Melodisch eilt der Wasserfall hernieder Die Wolcke sinkt, der Nebel drückt ins Thal Und es ist Nacht und Dämmerung auf einmal.

Damit gewinnt das Geschehen des Gedichts den entscheidenden Übergang von der einen, gegenwartsbezogenen auf die andere, vergangenheitsbezogene Zeitebene und tritt in die bewegte Lebensatmosphäre der frühen weimarerischen Gesellschaft um Carl August und Goethe in den Jahren 1775/76 ein. In einer Art Traumvision erlebt der Dichter diese frühere Epoche erneut; er sucht sich im finstren Walde beim „Liebesblick der Sterne" zu orientieren: „Wo ist mein Pfad den sorglos ich verlor; [...] Wo bin ich?", um sich dann in jene vergangene Zeit zurückversetzt zu finden. Hier kommt es dann zu der entscheidenden Wiederentdeckung und -begegnung mit der eigenen problematischen Vergangenheit; dies geschieht jedoch nicht auf direktem Wege; vielmehr bietet der Suchende eine Reihe von märchenhaften, mythologischen und poetischen Entsprechungen auf, um die imaginierte Inszenierung der Vergangenheit personell, situationsmäßig und sozial zu identifizieren. W o bin ich ists ein Zaubermährchen Land [...] Sagt wem vergleich ich diese muntre Schaar Von wannen kommt sie? um wohin zu ziehen? Wie ist an ihr doch alles wunderbar!

Das „wilde Geister Heer" der Jäger wird ebenso beschworen wie „Gnomen die hier Zauberkünste treiben". Ein „verdächtiger Aufenthalt" der „Egyptier" (Zigeuner) wird ebenso in die Vermutungen einbezogen wie der „Ardenner Wald" aus Shakespeares Wie es euch gefällt. Daraus erwächst schließlich die Einsicht, „sie sind es selbst wo nicht ein gleich Geschlecht". Und auf der Basis dieser vergleichenden Erkenntnisse kommt es zur folgenden Identifizierung der einzelnen, an den frühen Weimarer Unternehmungen beteiligten 28

Vgl. Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens, Münchner Ausgabe, hg. v. Karl Richter u.a., Bd. 2,2: Erstes Weimarer Jahrzehnt 1775-1786, München 1987, S. 872, und die „Studie nach Spinoza" (1784; ebd., S. 479-482), die auf dem Studium der „Ethik" des Spinoza beruht.

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Gestalten: „Wie nennt ihr ihn? W e r ists der dort gebückt / Nachlässig starck die breiten Schultern drückt?" In dem bereits mehrfach erwähnten Gespräch mit Eckermann hat Goethe einige der Namen der hier in charakteristischen Posen portraitierten Personen preisgegeben: „Es ist darin [in dem Gedicht], wie Sie wissen, eine nächtliche Szene vorgeführt [...] wir hatten uns am F u ß e eines Felsen kleine Hütten gebaut [...] V o r den Hütten brannten mehrere Feuer [...] Knebel, dem schon damals die Tabakpfeife nicht kalt wurde, saß dem Feuer zunächst [...] Seckendorf, der schlanke, mit den langen feinen Gliedern, hatte sich behaglich am Stamm eines Baumes hingestreckt." 29 Entsprechend lauten die Verse im Gedicht: Wer ist der andre der sich nieder An einem Sturz des alten Baumes lehnt, Und seine langen fein gestalten Glieder Eckstatisch faul nach allen Seiten dehnt [...]. Bemerkenswert und von vielen Interpreten (je nachdem, welche Edition ihnen vorliegt) übersehen ist die Tatsache, daß die Handschrift des Gedichts an dieser Stelle offensichtlich eine Lücke zeigt, die hätte ergänzt werden sollen. Daran schließt sich die Fortsetzung an: Indeß ein Alter äußre Weisheit zeigt Bedächtig lächelt und bescheiden schweigt. In der Hamburger Ausgabe, die den Text nach der „Ausgabe letzter Hand" bietet, fehlen diese beiden Verse ohne Angabe von Gründen 30 ; auch Goethe gibt gegenüber Eckermann keinen Hinweis auf weitere Mitglieder des Kreises oder darauf, wer der „Alte" sei. Die neue Frankfurter Ausgabe druckt die Verse ab; im Kommentar steht an dieser Stelle: „nicht identifiziert" und mit Bezug auf die vorangehende Textlücke: „Offenbar sollten hier noch weitere Jagdgenossen aufgeführt werden." 31 Das ist vermutlich zutreffend. Zugleich indes stellt sich die Frage, warum die ergänzende Aufführung später unterblieben ist, was vielleicht mit dem um mehrere Jahrzehnte verzögerten D r u c k des Gedichtes zusammenhängen mag; und weiter, welche Personen aus der Schar der Gefährten aus frühen Weimarer Tagen wohl von Goethe - aus welchen Gründen auch immer -

29 30

31

Eckermann, Gespräche mit Goethe (s. Anm. 10), S.700. Goethe, Hamburger Ausgabe (s. Anm. 3), Bd.I: Gedichte und Epen, Erster Band, textkritisch durchgesehen und mit Anmerkungen versehen von Erich Trunz, 13. Aufl., München 1982, S. 109. Goethe, Sämtliche Werke, Frankfurter Ausgabe (s. Anm. 6), Bd.I, S.993.

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absichtsvoll von der Erwähnung im Gedicht, vielleicht in eben dieser Textlücke, ausgeschlossen wurden. Es kommen sofort jene ,Sturm und Drang'Gefährten Klinger und Lenz in den Sinn, die Goethe aus Frankfurt nach Weimar nachgefolgt waren - wohl in der Hoffnung, durch seine Patronage eine Anstellung am Weimarer Hof zu finden. Goethe erfuhr bekanntlich beide schon bald als lästige Störenfriede, die sein Avancement und Engagement in der politischen Leitung des Herzogtums beeinträchtigten. Klinger verließ bald darauf nach Abschluß seines Stücks Sturm und Drang Weimar wieder, ohne eine Anstellung am Hof gefunden zu haben. Und Lenz gar, der (wie Goethe in einem Brief vom September 1776 feststellt) „unter uns wie ein krankes Kind" lebte, wurde schließlich - nachdem er im November des gleichen Jahres mit einer „Eselei" gegen die Hofetikette sich um alle Reputation in Weimar gebracht hatte - ziemlich harsch des Landes und damit wohl auch aus Goethes Gedächtnis verwiesen, so daß dieser ihn auch noch acht Jahre später (1783) nicht mehr in die erinnerte Schar seiner früheren Gefährten ins Gedicht aufzunehmen bereit war. Die Welt des ,Sturm und Drang' liegt definitiv hinter ihm; eine Erinnerung daran ist ihm nicht länger zuträglich. Bedeutsamer indes als diese Vermutungen ist, daß sich die poetische Vergangenheitsvision nach dieser Personenvergegenwärtigung jetzt entschieden auf die doppelte Wiederbegegnung mit dem jungen Herzog und mit Goethe selbst konzentriert und sich zu einem skrupulösen Rechenschaftsbericht über die damalige Vergangenheit zuspitzt. Doch scheinet allen etwas zu gebrechen Ich höre sie auf einmal leise sprechen, Des Jünglings Ruhe nicht zu unterbrechen Der dort am Ende wo das Thal sich schliest In einer Hütte leicht gezimmert Vor der ein letzter Blick des kleinen Feuers schimmert Vom Wasserfall umrauscht des milden Schlafs geniest. Mit dem „Jüngling" ist natürlich der junge Herzog Carl August gemeint; mit dem, „der hier in später Nacht / Gedanckenvoll an dieser Schwelle wacht", Goethes alter ego selbst, mit dem es im folgenden zu einer für den autobiographischen wie für den politischen Gehalt des Gedichts gleichermaßen aufschluß- und beziehungsreichen (Selbst)-Begegnung kommt, „so daß ich mich selber darin als eine historische Figur zeichnen und mit meinem eigenen Ich früherer Jahre eine Unterhaltung führen konnte".32 Ein Zwiegespräch aller-

32

Eckermann, Gespräche mit Goethe (s. Anm. 10), S.700.

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dings, das - um in Gang zu kommen - erhebliche (innere) Hemmnisse und Widerstände zu überwinden hat. Denn auf die Anfrage: Du scheinst mir auf was wichtiges bedacht, Was ists daß du in Sinnen dich verlierest Und nicht einmal dein kleines Feuer schürest.

erfolgt zunächst entschiedene, ja barsche Abwehr, die verdrängte Vergangenheit in Frage stellen zu lassen und im erinnernden Bewußtsein erneut zuzulassen: O frage nicht denn ich bin nicht bereit Des Fremden Neugier leicht zu stillen, Sogar verbitt ich deinen guten Willen Hier ist zu schweigen und zu leiden Zeit.

Gegen diesen Widerstand muß sich die sich offenbarende Selbstreflexion erst durchsetzen - gegen die Selbstzweifel, das erfüllende Gelingen seiner Doppelrolle als Fürstenerzieher und zugleich Freund des (schlafenden) Herzogs betreffend. Ich bin dir nicht im Stande selbst zu sagen Woher ich sey wer mich hierher gesandt Von fremden Zonen bin ich herverschlagen Und durch die Freundschaft festgebannt.

Die Metapher vom verschlagenen Schiff, ein Bild nicht nur mißlingenden individuellen Lebenslaufs, sondern zugleich auch der politischen Gubematio, offenbart die prekäre existentielle Befindlichkeit des Dichters, der als Fürstenerzieher und politischer Praktiker seiner Sache nicht mehr sicher zu sein scheint. Die Generalisierung „Wer kennt sich selbst? wer weis was er vermag?" ist außerstande, den Selbstzweifel an dem bisher geleisteten Erziehungswerk relativierend zu verscheuchen. Ich brachte Feuer vom Altar. Was ich entzündet ist nicht reine Flamme Der Sturm vermehrt die Glut und die Gefahr Ich schwancke nicht indem ich mich verdamme.

Der Zwiespalt zwischen der praktisch-politischen und -didaktischen Tätigkeit, mit der Goethe sich „der Menschen schöne Gunst" zu erwerben suchte, und dem höfischen Leben mit seinen glatten Formen und Verstellungen

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vertieft sich in der Erinnerung eher. Ein Gott versagte ihm die arme Kunst, sich künstlich zu betragen. Das sittlich-moralische Resultat dieses Zwiespalts ist: Nun sitz ich hier zugleich erhoben und gedrückt Unschuldig und gestraft, und schuldig und beglückt. Diese kritische rückblickende Selbstreflexion und Bilanz von Existenz und Aufgabe wird indes an dieser Stelle nicht weitergeführt, sondern transformiert auf eine andere Ebene durch die Einbeziehung des jungen Herzogs, der „unter diesem Dach" als des Dichters „Wohl" und „Ungemach" schläft und der im Grunde von einem ähnlichen Widerspruch beherrscht wird. Das Gedicht bietet eine erhellende Analyse auch der Befindlichkeit des Herzogs, der sich „bald mit sich selbst und bald mit Zauberschatten streitet." Legitimation durch adlige Geburt wie durch konstruktive Leistung scheinen sich auszuschließen: Und was ihm das Geschick durch die Geburt geschenkt Mit Müh und Schweis erst zu erringen denkt. I n dem bereits zitierten späten Eckermann-Gespräch hat Goethe ein Charakterbild des jungen Fürsten für die Zeit von 1776 entworfen, das dessen Portrait im Gedicht exakt entspricht: „Er war damals sehr jung; [...] doch ging es mit uns freilich etwas toll her. Er war wie ein edler Wein, aber noch in gewaltiger Gärung. E r wußte mit seinen Kräften nicht wo hinaus, und wir waren oft sehr nahe am Halsbrechen [...] Ein Herzogtum geerbt zu haben, war ihm nichts, aber hätte er sich eins erringen, erjagen und erstürmen können, das wäre ihm etwas gewesen." E r (der junge Herzog) habe ihm (dem Fürstenerzieher Goethe) anfänglich manche N o t und Sorge gemacht; „doch seine tüchtige Natur reinigte sich bald zum besten, so daß es eine Freude wurde, mit ihm zu leben und zu wirken." 3 3 N u r wenn man berücksichtigt, welchen hohen Stellenwert das Wort ,rein', .Reinheit' in jener Zeit in Goethes sittlich-moralischem Wortschatz besaß, kann man die Bedeutung dieses .reinigen' voll verstehen. Das Gedicht bringt diesen Entwicklungsprozeß des jungen Herzogs in dichterische Form und Gestalt. Gewiß ihm geben auch die Jahre Die rechte Richtung seiner Krafft! Noch ist bey tiefer Neigung für das Wahre Ihm Irrthum eine Leidenschafft. 33

Eckermann, Gespräche mit Goethe (s. Anm. 10), S.701.

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Damit hebt Goethe auf das „Dämonische" in Carl August ab, das ihn sicher leitet und letztlich nicht in die Irre gehen läßt - trotz aller Überspanntheit und Gewaltsamkeit, trotz aller Düsterkeit und Unbändigkeit. Und düster will an heitren Tagen Unbändig ohne froh zu seyn, Schläft er an Seel und Leib verwundet und zerschlagen Auf einem harten Lager ein

während sein Erzieher Goethe - „halb erwacht und halb im schweeren Traum" - vor seiner Hütte wacht und sich des schweren Traums kaum erwehren kann. Mit einem abrupten und heftigen „Verschwinde Traum!" zerbricht in diesem Moment die Traumvision, und das Gedichtsgeschehen kehrt auf die Zeitebene der Gegenwart zurück - alles Zwiespältige und Sorgenvolle hinter sich zurücklassend: Die Wolcke flieht der Nebel fällt Die Schatten sind hinweg [...] Es lebt mir eine schönre Welt. Das ängstliche Gesicht ist in die Lufft zerronnen. Ein neues Leben ists, es ist schon lang begonnen.

Daß mit dem „neuen Leben" kein privater Zustand gemeint ist, geht aus dem Folgenden eindeutig hervor: Ich sehe hier, wie man nach langer Reise Im Vaterland sich wiederkennt, Ein ruhig Volck im stillen Fleise Benutzen was Natur an Gaben ihm gegönnt.

Damit tritt Goethe aus der Perspektive des späten Jahres 1783 in die Würdigung der politischen Leistungen ein, die unter dem (von ihm erzogenen) Herzog im Herzogtum Weimar inzwischen erreicht sind; Goethe kommt dabei zu einer durchaus positiven Einschätzung dieser Leistungen, wenn er die Politikbereiche aufzählt, in denen auch gerade seine politisch-administrative Tätigkeit Fortschritte herbeigeführt hat: Der Faden eilet von dem Rocken Des Webers raschem Stuhle zu, Und Seil und Kübel wird in längrer Ruh Nicht am verbrochnen Schachte stocken.

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Gewerbe und Bergbau sind erneuert. Und auch Korruption wird beseitigt, die politisch-administrative Ordnung neu befestigt. „Es wird der Trug entdeckt". Damit ist die Aufdeckung von Manipulationen des Steuereinnehmers im Amt Ilmenau durch Goethes Verwaltungskontrolle gemeint, deren Beseitigung zur Folge hatte: [...] die Ordnung kehrt zurück Es folgt Gedeihn und festes irdsches Glück.

Der folgenreiche Zusammenhang von politischer Ordnungsstiftung und bürgerlichem Gedeihen und Glücksgewinn, ein Grundthema der älteren Staatslehre, wird gerade an der Region Ilmenau konstatiert, die - ursprünglich das besondere Sorgenkind Goethes - jetzt so zur vorbildlichen Reformregion des Herzogtums proklamiert wird: So mög o Fürst der Winckel deines Landes Ein Vorbild deiner Tage seyn!

Und diese erfolg- und segensreiche Regionalpolitik in und um Ilmenau gibt abschließend günstige Gelegenheit, auf die gelungene Erziehung des Fürsten zur vollen Regierungsfähigkeit hinzuweisen und zugleich einige der wichtigsten Maximen fürstlicher Regimentslehre anzuführen: Du kennest lang die Pflichten deines Standes Und schränckest nach und nach die freyre Seele ein. Der kann sich manchen Wunsch gewähren Der kalt sich selbst und seinem Willen lebt Allein wer andre wohl zu leiten strebt Muß fähig seyn viel zu entbehren.

So tritt zum Schluß die spezifische Goethesche Tugend der (nicht resignativen, sondern produktiv wirkenden) „Entsagung"34 als entscheidende Bedingung der Möglichkeit des Regierens als Kunst in Erscheinung. So besehen ist es - aus der Tradition des normativ-didaktischen Fürstenspiegels - kein Zufall, daß das Gedicht mit einem deutlichen „Herrscherlob" ausklingt, in dem nochmals auch der nicht immer leichte, sondern auch von Zweifel und Irrtum gekennzeichnete Weg der von Goethe vollzogenen Fürstenerziehung anklingt:

34

Vgl. zu diesem zentralen Thema der Goetheschen Dichtung: Arthur Henkel: Entsagung eine Studie zu Goethes Altersroman, 2. Aufl., Tübingen 1964.

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So wandle du, der Lohn ist nicht gering, Nicht schwankend hin wie iener Sämann ging Daß bald ein Korn des Zufalls leichtes Spiel Hier auf den Weeg, dort zwischen Dornen fiel Nein streue klug wie reich mit männlich steeter Hand Den Seegen aus auf ein geackert Land, Dann laß es ruhn die Erndte wird erscheinen Und dich beglücken und die Deinen. Die besondere Qualität der gelungenen und an ihr Handlungsziel gekommenen Fürstenerziehung offenbart sich in diesen Schlußversen darin, daß sie nicht private Persönlichkeitsbildung ist, sondern daß sie ihre erfolgreiche Wirkung im Reflex in den gelingenden Lebensformen und -umständen der in diesem Gemeinwesen lebenden Menschen und ihrer frohen Zustimmung findet: Dann laß es ruhn die Erndte wird erscheinen, Und dich beglücken und die Deinen.

VII. Wenigstens skizzen- und umrißhaft, doch ohne die eigentlich erforderliche genauere Ausführung und Vertiefung ins einzelne sei an dieser Stelle noch auf eine im Ilmenau-Gedicht wiederholt andeutungsweise und verborgen wirksame Dimension politisch-theoretischer Reflexion aufmerksam gemacht, die für Goethes auf Praxis gerichtetes politisches Denken in dieser Epoche besonders charakteristisch ist; der Text enthält dafür einige überraschende und erhellende Hinweise. Es war bereits darauf hingewiesen worden, wie in den Einleitungspassagen des Gedichts neben dem Natur-Idyllischen zugleich auch einige manifeste Aspekte der Mühsal der Arbeit, der sozialen Not, Ungleichheit und Ungerechtigkeit aufscheinen, die offensichtlich mit den ursprünglichen kulturschaffenden Tätigkeiten der Menschen wie Ackerbau (Agrikultur), Bergbau und Jagd immer schon verbunden sind und sich aus den Abhängigkeits- und Herrschaftsverhältnissen des konkreten Lebens ergeben und die auch die konkrete politisch-soziale Wirklichkeit des Herzogtums Weimar ausmachen. In zeitgenössischen Briefen hatte Goethe wiederholt seinen Ärger und seine

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Wut über Verhältnisse dieser Art und ihre Folgen offen in drastischer Sprache zum Ausdruck gebracht.35 Die eigentliche Wahrnehmung dieser unerfreulichen Aspekte der Lebensverhältnisse im kleinstaatlichen Weimarer Herzogtum wie ihre kritische Einschätzung und moralische Verurteilung, aber auch die Entwicklung dagegen gerichteter Reformpläne machen überaus deutlich, daß Goethe in dem ersten Weimarer Jahrzehnt - bei aller Unbekanntheit und Fremdheit mit der Fülle dieser auf den Nägeln brennenden Probleme - sich alsbald um ein fundiertes theoretisches und praktisch anwendbares politisches Wissen bemühte, das er offensichtlich durch gründliches Studium zeitgenössischer Schriften zur Staatstheorie und Staatspraxis zu erwerben trachtete. Diese Bemühung weist darauf hin, daß Goethe sein politisches Handeln auf den verschiedensten Politikfeldern der inneren Verwaltung, mit denen er es (als Mitglied des Geheimen Consiliums und etlicher Regierungskommissionen) zu tun bekommt, nicht spontan-dilettantisch, sondern nach rascher und gründlicher Vorbereitung nach dem aktuellen Stand der damaligen theoretischen und praktischen Staatswissenschaften zu vollziehen gedenkt und sich entsprechend darum bemüht, diese Wissensbestände zu rezipieren und auf die konkreten Probleme des Herzogtums selbst anzuwenden bzw. sich mit in diesem Wissen kundigen Männern zu umgeben, die ihm bei der praktischen Umsetzung dieses Wissens behilflich sein konnten. Dafür hier ein Beispiel aus dem Gedicht: Wenn es am Ende der zweiten Strophe heißt: „Ich hab es wohl auch mit um euch verdienet / Ich sorge still indeß ihr ruhig grünet", so ist hier sicher auch an die von Goethe im Weimarer Staat an verschiedenen Stellen inaugurierten und in Zusammenarbeit mit dem aus England stammenden John Batty in die Praxis umgesetzten Be- und Entwässerungsprojekte zu denken. John Batty, auf Empfehlung von Knebel seit 1779 als Landkommissar in weimarischen Diensten, war Experte für Wiesenbewässerung und Bodenverbesserung und von Goethe wegen seiner praktischen Fähigkeiten hochgeschätzt: „Batty hat seine Sachen trefflich gemacht" (An Charlotte von Stein, 12.-14.9.1780). „Batty treibt seit einem halben Jahre dort seine Anstalten und ich habe mit dem größten Vergnügen auch endlich einmal etwas getan gesehen und eine befohlene Einrichtung ordentlicher, geschwinder und ausführlicher vollbracht, als es das gnädigste Reskript nicht besorgen konnte." (An Merck, 11.10.1780) Am augenfälligsten und bemerkenswertesten ist aber wohl der enge Zusammenhang von Goethes naturwissenschaftlichen Studien (in der Geologie, Mineralogie und Botanik vor allem) mit seinem praktisch-politischen Engagement in den verschiedenen Zweigen der 35

Vgl. dazu: Egon Freitag: Goethes Alltags-Entdeckungen. Das Volk interessiert mich unendlich, Leipzig 1994.

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Weimarer Staatsverwaltung. Das Studium der geologischen Grundlagen des Landes war ein unbedingt notwendiges Erfordernis im Kontext von Goethes maßgeblich betriebener Wiederaufnahme des Ilmenauer Silber- und Kupferbergbaus, auf den das Gedicht an mehreren Stellen teils kritisch, teils hoffnungsvoll hinweist. Aus seinen Schriften gibt seine Studie über den Granit36 darüber ebenso Auskunft wie seine verschiedenen, sein geologisches Wissen ins Praktisch-Ökonomische vermittelnden Denkschriften zum Ilmenauischen

Bergwesen,v In einer bedeutend späteren Schrift mit dem Titel Der Verfasser teilt die Ge-

schichte seiner botanischen

Studien mit (1831) gibt Goethe selbst interessante

Auskunft über den inneren Zusammenhang zwischen der Aufnahme seiner naturwissenschaftlichen Studien und seinem Eintritt in den Weimarer Staatsdienst. Für den gebürtigen Großstädter, der auch seine weitere Ausbildung gleichfalls größeren Städten (Leipzig und Straßburg) verdankte, ergab sich, daß seine „Geistestätigkeit sich auf das gesellig Sittliche beziehen mußte und in Gefolg dessen auf das Angenehme, was man damals schöne Literatur nannte. Von dem hingegen was eigentlich äußere Natur heißt, hatte ich keinen Begriff, und von ihren sogenannten drei Reichen nicht die geringste Kenntnis [...] In das tätige Leben jedoch sowohl als in die Sphäre der Wissenschaft trat ich eigentlich zuerst, als der edle weimarische Kreis mich günstig aufnahm; wo außer andern unschätzbaren Vorteilen mich der Gewinn beglückte, Stuben- und Stadtluft mit Land-, Wald- und Gartenatmosphäre zu vertauschen." 38 Zwischen naturwissenschaftlichen Studien und praktischpolitischer Tätigkeit wird von Goethe selbst ein integraler Zusammenhang hergestellt. Diese wissenschaftlichen Studien und Erfahrungen dienten durchaus unmittelbar dem .Nutzbaren, Anwendbaren' und dem ,Bedarf'. Wenn diese enge Verbindung von Theorie und Praxis bereits für die Geologie, Mineralogie und Botanik gilt, wieviel mehr dann für die eigentlichen Staatswissenschaften! Hatten doch hier bereits früh Justus Mosers Patriotische Phantasien (ab 1774), die nicht ganz zufällig den Gesprächsgegenstand bei der ersten Begegnung mit Carl August in Frankfurt (1774) gebildet hatten, mit über Goethes Einladung nach Weimar entschieden, indem sie ihn für die politische Dignität der kleinstaatlichen Wirklichkeit des Herzogtums Weimar eingenommen hatten. Doch damit nicht genug: In einem langen Brief an Mosers 36 37 38

Goethe, Münchner Ausgabe, Bd.2,2 (s. A n m . 28), S.503. Ebd., S. 715-772. Johann Wolfgang Goethe: Der Verfasser teilt die Geschichte seiner botanischen Studien mit, in: ders.: Gedenkausgabe der Werke, Briefe und Gespräche, 24 Bde., hg. v. Ernst Beutler, Bd. 17: Naturwissenschaftliche Schriften, Zweiter Teil, 2. Aufl., Zürich/Stuttgart 1966, S. 63 f.

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Tochter Jenny von Voigts hat Goethe (21.6.1780) bekannt, wie stark ihn Mosers Gedanken in seiner praktischen politischen Arbeit stimuliert und orientiert haben: „Wie oft hab ich bei meinen Versuchen gedacht, was möchte wohl dabei Moser denken oder sagen. Sein richtiges Gefühl hat ihm nicht erlaubt, bei diesem Anlaß zu schweigen, denn wer aufs Publikum wirken will, muß ihm gewisse Sachen wiederholen, und verrückte Gesichtspunkte wieder zurecht stellen." Diese Maxime, die ein bestimmtes belehrendes Einwirken auf das Bewußtsein der Menschen verlangt, hat Goethe sich nicht nur zu eigen gemacht, sondern sie zugleich auch Carl August als Maxime seines Regierens anempfohlen: „Man muß Hindernisse wegnehmen, Begriffe aufklären, Beispiele geben, alle Teilnehmer zu interessieren suchen. Das ist freulich beschwerlicher als befehlen, indessen die einzige Art, in einer so wichtigen Sache zum Zwecke zu gelangen und nicht verändern wollen, sondern verändern" (26.11.1784).39 Der Geist dieser Maxime prägt auch die Passagen am Ende des IlmenauGedichts, die sich direkt an den Herzog wenden und ihm seine Regierungsaufgaben und -pflichten für die Zukunft vor Augen stellen. Doch dies ist nur ein Strang politisch-theoretischer Ideen, der das Gedicht prägt; hinzu tritt ein vielfältiges praxisbezogenes politökonomisches Wissen, das Goethe sich vor allem in den ersten Weimarer Jahren im Hinblick auf seine Regierungs- und Verwaltungstätigkeit zu erwerben bemüht hat. Dieses Wissen ist nicht nur aus dogmengeschichtlicher Perspektive interessant, sondern gibt einen lebendigen Einblick in die sukzessive Konstituierung politisch und ökonomisch-theoretischer Wissensbestände bei Goethe. 40 Daß auch dieses politökonomische Wissen der Zeit in das Gedicht eingegangen ist, ist naheliegend: sowohl in den zeitkritischen Eingangspassagen als auch in den prognostischen Schlußpassagen. Die Gedankenfolge in den Versen „die Ord-

39

Goethe hat sich noch im hohen Alter zu Mosers bedeutender Wirkung auf sein Denken u n d Handeln bekannt; so in „Dichtung und Wahrheit" (15. Buch), w o i h m der Mösersche Standpunkt, „die Menge kleiner Staaten [in Deutschland] als höchst erwünscht zu Ausbreitung der Kultur im einzelnen, nach den Bedürfnissen, welche aus der Lage und Beschaffenheit der verschiedenen Provinzen hervorgehn", unmittelbar einleuchtet (in: H a m b u r g e r Ausgabe, Bd. 10 [s. A n m . 3], S.52). N o c h 1823 hat Goethe in einem Aufsatz J u s t u s M o s e r " (vgl. Hamburger Ausgabe, Bd. 12, S. 320-322) dessen Leistungen als advocatus patriae gewürdigt.

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Bernd Mahl hat die H e r k u n f t und Genese dieser politökonomischen Wissensbestände Goethes in seiner leider von der germanistischen Goethephilologie weitgehend unbeachtet gebliebenen Dissertation „Goethes ökonomisches Wissen. Grundlagen z u m Verständnis der ökonomischen Passagen im dichterischen Gesamtwerk und in den .Amtlichen Schriften' " ( F r a n k f u r t / M . 1982) ebenso gründlich wie umfassend quellenmäßig erschlossen und ideengeschichtlich interpretiert, ohne allerdings auf die dichterischen Werke genauer einzugehen.

„Ilmenau" - Über Goethes Verhältnis zur Politik

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nung kehrt zurück / Es folgt Gedeihen und festes irdsches Glück" ist nur eine allgemeine Bestätigung dafür; konkreter sind diese Lehren in den Schlußversen „Dann laß es ruhn die Erndte wird erscheinen / Und dich beglücken und die Deinen", die exakt physiokratischen Gedankengängen eines „Ordre naturel" entsprechen, wie sie damals die wirtschaftspolitische Diskussion im Spätabsolutismus teilweise bestimmten. In Goethes Briefen und Tagebüchern ist immer wieder die Rede davon, wie sehr er sich um die Regierungspraxis bemüht und um derentwillen sich um entsprechendes theoretisches Wissen bekümmert hat. Die Tagebucheintragung vom 25.7.1779 mag dafür als repräsentativ hier zitiert werden: „Es weiß kein Mensch was ich tue und mit wieviel Feinden ich kämpfte, um das wenige hervorzubringen. Bei meinem Streben und Streiten und Bemühen bitt ich euch nicht zu lachen, zuschauende Götter. Allenfalls lächeln mögt ihr, und mir beistehen".41

VIII. In einem späten Gespräch mit Eckermann (am 23. Oktober 1828) ist Goethe noch einmal ausführlich und eindringlich auf das Gedicht Ilmenau zurückgekommen. Es scheint erlaubt, dieses Gespräch als eine genuine Fortsetzung des Gedichts - freilich in einem anderen literarischen Genre - aufzufassen und nicht lediglich als eine interpretierende Erläuterung dazu; enthält doch das Gespräch eine umfassende Wiederaufnahme der gesamten komplexen Thematik des Gedichts - im Kontext einer erneuten Wiederbegegnung des Dichters mit der Vergangenheit der frühen Weimarer Zeit, eine Wiederbegegnung, wie sie bei Goethe ja auch sonst nicht selten vorkommt; man denke an die Trilogie der Leidenschaften, in der Jahrzehnte danach Werthers Schatten beschworen wird: „Noch einmal wagst du, vielbeweinter Schatten / Hervor dich an des Tages Licht". Dementsprechend stellt auch das Eckermann-Gespräch die Verbindung mit dem Gedicht und seinem vergangenen Erfahrungshintergrund wieder her und konstituiert somit im Bewußtsein des Lesers gleichsam eine dritte Zeitebene in einer Folge wiederholter Spiegelungen. Den Anlaß dazu bildet der überraschende Tod des Großherzogs Carl August am 14.6.1828 auf der Rückreise von Berlin nach Weimar. Auf dieses Ereignis bezogen sich Würdigungen des Toten durch zwei vertraute Freunde: durch den Kanzler Friedrich von Müller und durch Alexander von Humboldt, die Goethe in jenen Oktobertagen erreichten und die ihn, indem sie in ihm die Erinnerung an den Toten neu belebten, nachhaltig beschäftigten. Ihre Lek41

Goethe, Das erste Weimarer Jahrzehnt (s. Anm. 6), S. 178.

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tiire mit Eckermann gab Goethe Anlaß dazu, nun auch seinerseits eine erfahrungs- und erinnerungsgesättigte Deutung von Person und Wirken Carl Augusts gesprächsweise zu entwickeln; daß er in diesem Zusammenhang auf das Ilmenau-Geâichx zu sprechen kam, lag nahe, insofern ihm die gesamte, gemeinsam mit Carl August verbrachte Lebenszeit von der ersten Begegnung in Frankfurt (1774) bis zu dessen Tod (1828) vors Auge trat, in der das Gedicht ja eine besonders markante Episode gestaltet. Dabei ist zu bedenken, wie ungern Goethe, der „den Tod nicht statuieren" wollte, sich mit der Realität des Todes konfrontieren ließ und selbst das Wort, wo immer es anging, vermied. Als er die Nachricht vom Tode Carl Augusts erhielt, zog er sich für Wochen auf die Dornburger Schlösser oberhalb der Saale zurück, von wo er an Zelter schrieb: „Bei dem schmerzlichsten Zustand des Innern mußte ich wenigstens meine äußeren Sinne schonen, und ich begab mich nach Dornburg, um jenen düstern Funktionen zu entgehen, wodurch man, wie billig und schicklich, der Menge symbolisch darstellt, was sie im Augenblick verloren hat und was sie diesmal gewiß auch in jedem Sinne mitempfindet" (10. Juli 1828). Zum Zeitpunkt des Gesprächs mit Eckermann (23. Oktober 1828) lag dieses Geschehen bereits einige Monate zurück, und Goethe war wieder in der Lage, aus dieser zeitlichen Distanz heraus ruhig und gelassen ein abgewogenes Urteil über Carl August als Person und Staatsmann zu fällen. Dieses Urteil bezog sich vorab auf die Würdigungen von Kanzler Müller und von Humboldt, denen er höchstes Lob zollte, vor allem Humboldt dafür, „daß er diese wenigen letzten Züge aufgefaßt, die wirklich als Symbol gelten können, worin die ganze Natur des vorzüglichen Fürsten sich spiegelt".42 Und damit leitet er über zu seiner eigenen Würdigung Carl Augusts, die er beginnen läßt mit dem Hinweis auf ihre jahrzehntelange Lebensgemeinschaft, aus der sich seine Kompetenz der Würdigung ergibt: „Ich kann es am besten sagen, denn es kannte ihn im Grunde niemand so durch und durch wie ich selber." Diese Bemerkung gibt Anlaß, auf die früheste Zeit ihrer Bekanntschaft und werdenden engen Freundschaft zurückzukommen: „Er war achtzehn Jahre alt, als ich nach Weimar kam; aber schon damals zeigten seine Keime und Knospen, was einst der Baum sein würde [...] Fünfzig Jahre lang haben wir es miteinander fortgetrieben, und es wäre kein Wunder, wenn wir es endlich zu etwas gebracht hätten." Doch zunächst geht Goethe weiter auf Carl Augusts Persönlichkeit ein, deren Natur und gründliche Bildung verhindert habe, daß er von den „entsetzlichen Zerstreuungen und Zerstückelungen" Schaden genommen habe, „die das Hofleben mit sich führt und denen ein junger Fürst ausgesetzt ist. Von allem soll er Notiz nehmen. Er soll ein bißchen das 42

Eckermann, Gespräche mit Goethe (s. Anm. 10), S. 696.

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kennen und ein bißchen das, und dann ein bißchen das und wieder ein bißchen das. Dabei kann sich aber nichts setzen und nichts Wurzeln schlagen, und es gehört der Fonds einer gewaltigen Natur dazu, um bei solchen Anforderungen nicht in Rauch aufzugehen." Dies habe der Großherzog geschafft; denn er „war freilich ein geborener großer Mensch, womit alles gesagt und alles getan ist." Dies sei dem Großherzog auch für die Führung seiner politischen Geschäfte zugute gekommen: „Übrigens kamen ihm zur Führung des Regiments besonders drei Dinge zustatten. Er hatte die Gabe, Geister und Charaktere zu unterscheiden und jeden an seinen Platz zu stellen. Das war sehr viel. Dann hatte er noch etwas, was ebensoviel war, wo nicht noch mehr: Er war beseelt von dem edelsten Wohlwollen, von der reinsten Menschenliebe, und wollte mit ganzer Seele nur das Beste. Er dachte immer zuerst an das Glück des Landes und ganz zuletzt erst ein wenig an sich selber. Edlen Menschen entgegen zu kommen, gute Zwecke befördern zu helfen, war seine Hand immer bereit und offen. Es war in ihm viel Göttliches. Er hätte die ganze Menschheit beglücken mögen. Liebe aber erzeugt Liebe. Wer aber geliebt ist, hat leicht regieren. Und drittens: Er war größer als seine Umgebung. Neben zehn Stimmen, die ihm über einen gewissen Fall zu Ohren kamen, vernahm er die elfte bessere, in sich selber [...] Er sah überall selber, urteilte selber und hatte in allen Fällen in sich selber die sicherste Basis". Wer nur ein wenig die Tradition des alteuropäischen Fürstenspiegels als politisch-literarische Gattung kennt, weiß, wie stark er durch diese sehr persönliche Würdigung die zentralen Topoi dieser Gattung aufgreift und zu einem Gesamtbild der Persönlichkeit des Fürsten gestaltet. Als Eckermann dann bemerkt: „Spuren davon [...] sieht man schon in Ihrem Gedicht Ilmenau, wo Sie ihn nach dem Leben gezeichnet zu haben scheinen", geht Goethe eingehend und eindringlich auf dieses Gedicht ein, die dort dargestellten Erlebnisse von 1776 und 1783 jetzt aus der Perspektive von 1828 reflektierend: „Das Ilmenauer Gedicht [führt er aus] enthält als Episode eine Epoche, die im Jahre 1783, als ich es schrieb, bereits mehrere Jahre hinter uns lag, so daß ich mich selber darin als eine historische Figur zeichnen und mit meinem eigenen Ich früher Jahre eine Unterhaltung führen konnte." Fortfahrend identifiziert er die im Gedicht auftretenden Figuren als Knebel und Seckendorf; abseits von denen, „in einer [...] kleinen Hütte, der Herzog im Schlaf [lag]. Ich selber saß davor, bei glimmenden Kohlen, in allerlei schweren Gedanken, auch in Anwandlungen von Bedauern über mancherlei Unheil, das meine Schriften angerichtet." Damit verwies er auf die Wirkungen von Götz und Werther im deutschen zeitgenössischen Publikum.

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Das dort im Gedicht gezeichnete Portrait des Herzogs findet der alte Goethe angemessen: „So war er ganz und gar. Es ist darin nicht der kleinste Zug übertrieben." Um dann darüber hinausgehend hervorzuheben: „Doch aus dieser Sturm- und Drangperiode hatte sich der Herzog bald zu wohltätiger Klarheit durchgearbeitet, so daß ich ihn zu seinem Geburtstag im Jahre 1783 an diese Gestalt seiner früheren Jahre sehr wohl erinnern mochte." Mit dem Wort .Durcharbeiten' macht Goethe auf die eigentümliche Leistung Carl Augusts aufmerksam, an der er (Goethe) als Fürstenerzieher natürlich entscheidenden Anteil gehabt hatte. Dabei leugnet er nicht, daß der Herzog ihm „anfänglich manche Not und Sorge gemacht" hat. „Doch seine tüchtige Natur reinigte sich bald und bildete sich bald zum besten, so daß es eine Freude wurde, mit ihm zu leben und zu wirken." In diesen Kontext fällt auch die gemeinsame Reise in die Schweiz (1779), die bekanntlich auch für Goethes Wahrnehmung von Welt und Wirklichkeit eine höchst bedeutsame, sich in seinem Stil deutlich einprägende Epoche darstellt43 und die Goethes Urteil zufolge auch für Carl Augusts politisches Wissen und Handeln bedeutsame Auswirkungen hatte: Er liebe die Reisen, „um überall die Augen und Ohren offen zu haben und auf allerlei Gutes und Nützliches zu achten, das er in seinem Lande einführen könnte. Ackerbau, Viehzucht und Industrie sind ihm auf diese Weise unendlich viel schuldig geworden. Überhaupt waren seine Tendenzen nicht persönlich, egoistisch, sondern rein produktiver Art, und zwar produktiv für das allgemeine Beste. Dadurch hat er sich denn auch einen Namen gemacht, der über dieses kleine Land weit hinausgeht." Indem Goethe diese Richtung der Politik - des politischen Urteilens wie des politischen Handelns - an Carl August positiv-wohlwollend hervorhebt, stellt er sich ihm unausgesprochen selbst an die Seite; denn daß Carl August in seiner persönlichen und politischen Entwicklung eben diesen Weg einschlug und verfolgte, war nicht zuletzt auch Wirkung und Erfolg des fürstenerzieherischen Engagements Goethes im ersten Weimarer Jahrzehnt. Hier tritt das Eckermann-Gespräch von 1828 voll als den Horizont erweiternde und die späteren Erfahrungen berücksichtigende dritte Zeitebene zu dem IlmenauGedicht hinzu und bildet mit ihm letztlich eine gedankliche Einheit, indem es die Aussagen des Gedichts aus der Erfahrung des späten Alters bestätigt und legitimiert. Es ist - so besehen - sicher kein Zufall, sondern liegt in der Konsequenz der hier angesprochenen vorbildlichen politischen Leistungsfähigkeit eines deutschen Kleinstaats um 1800, wenn Goethe unmittelbar daran anschlie43

Vgl. dazu: Johann Wolfgang Goethe: Die Schweizer Reisen 1775/1779/1797, Zürich 1979; und Wolfgang Binder: Das Ungeheure und das Geordnete. Die Schweiz in Goethes Werk, Zürich 1979.

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ßend auf das damals im Kontext der aufgekommenen nationalen Bewegung aktuelle Thema der deutschen Einheit als Nationalstaat eingeht. Mit „Wir sprachen sodann über die Einheit Deutschlands und in welchem Sinne sie möglich und wünschenswert" leitet Eckermann das Gespräch zu diesem neuen, weitergespannten Thema über. Goethe ist nicht bange, „daß Deutschland nicht eins werde; unsere guten Chausseen und künftigen Eisenbahnen [!] werden schon das ihre tun. Vor allem aber sei es eins in Liebe untereinander! und immer sei es eins gegen den auswärtigen Feind. Es sei eins, daß der deutsche Taler im ganzen Reich gleichen Wert habe; eins, daß mein Reisekoffer durch alle sechsunddreissig Staaten ungeöffnet passieren könne [...] Deutschland sei ferner eins in Maß und Gewicht, in Handel und Wandel und hundert ähnlichen Dingen, die ich nicht alle nennen kann und mag." Von diesen Formen der deutschen Einheit in verschiedenen Alltagslebensbereichen sondert Goethe aber die politische Einheit im Verständnis nationalstaatlicher Zentralität deutlich ab: „Wenn man aber denkt, die Einheit Deutschlands bestehe darin, daß das sehr große Reiche eine einzige große Residenz habe und daß diese eine große Residenz wie zum Wohl der Entwicklung einzelner großer Talente, so auch zum Wohl der großen Masse des Volkes gereiche, so ist man im Irrtum." Gerade aus kulturellen Gründen favorisiert Goethe die politische Vielfalt und setzt zu einem „Lob des Kleinstaates" an, das sich für ihn wie natürlich aus dem von Carl August und ihm gestalteten ,Projekt Weimar' entwickelt. „Wodurch ist Deutschland groß, als durch eine bewundernswürdige Volkskultur, die alle Teile des Reiches gleichmäßig durchdrungen hat. Sind es aber nicht die einzelnen Fürstensitze, von denen sie ausgeht und welche ihre Träger und Pfleger sind? [...] Deutschland hat über zwanzig im ganzen Reich verteilte Universitäten und über hundert ebenso verbreitete öffentliche Bibliotheken. An Kunstsammlungen und Sammlungen von Gegenständen aller Naturreiche gleichfalls eine große Zahl [...] und wiederum die Menge deutscher Theater, deren Zahl über siebenzig hinausgeht und die doch auch als Träger und Beförderer höherer Volksbildung keineswegs zu verachten. Der Sinn für Musik und Gesang und ihre Ausübung ist in keinem Lande verbreitet wie in Deutschland, und das ist auch etwas!" Diese kulturelle Vielfalt ist ihm direkte Folge der Kleinstaaterei und des damit verbundenen politischen Polyzentrismus. Dessen Aufhebung in einem nationalstaatlichen Zentralismus, wie er im Vormärz auf dem Programm bürgerlicher Bewegung stand, ist ihm daher aufs äußerste problematisch. Das gilt ihm vor allem im Hinblick auf die Reichsstädte Frankfurt, Bremen, Hamburg, Lübeck mit ihren Wirkungen auf den Wohlstand von Deutschland. „Würden sie [die Städte in ihrer Leistung für Wohlstand und Kultur] aber bleiben was sie sind, wenn sie ihre eigene Souveränität verlieren und irgendeinem Deutschen Reich als Provinzialstädte einverleibt werden sollten? - Ich habe Ursache,

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daran zu zweifeln." In einem geschichtlichen Augenblick, wo die öffentliche Meinung deutlich mehrheitlich die nationale Einheit gegen föderale Vielfalt favorisierte, ist dies eine durchaus mutige Einstellung. Diese Verteidigung des Kleinstaates schien Goethe dem Andenken Carl Augusts schuldig zu sein. Das so explizierte Thema von deutscher Einheit und Vielheit, so antiquiert und anachronistisch es uns heute auch scheinen mag, gibt einen deutlichen Begriff vom Verständnis des Politischen des alten Goethe in der Zeit aufkommenden deutschen Nationalismus und Nationalstaatsdenkens. Es geht ihm im wesentlichen nicht um „nationale Größe" (was immer darunter zu verstehen war), sondern um die Förderung des gemeinen Besten, und daran maß er auch die bleibende Leistung seines verstorbenen Freundes Carl August als Großherzog von Weimar.

IX. Max Kommereil schreibt in seinen Gedanken über Gedichte: „Man kann sich übrigens über dies 'Ilmenau' nicht genug wundern".44 Wieso eigentlich? Wohl vor allem deswegen, weil dieses große epochale Lebenslaufgedicht es vermag, in seltener Intensität und Klarheit den lebensgeschichtlichen wie den epochalen Problemgehalt dieser ersten zehn Weimarer Jahre Goethes zu verdichten und seine gerade unter politischem Aspekt vielfältige Komplexität mit ihren Höhe- und Tiefpunkten, ihren Spannungen und Widerständen, ihren Erfolgen und Mißerfolgen, ihren Plänen und problematischen Ausführungen dichterisch zu bewältigen und zur einheitlichen Gestalt zu formen. Anlaß zum Wundern, ja Staunen gibt diese abwägende, selbstkritische Bilanz, in der sich „im Gegenwärtigen Vergangenes" spiegelt, nicht zuletzt dadurch, daß sie trotz mancher Enttäuschung und schmerzhaften Verzichts schließlich doch zu einer für die nahe Zukunft seines und des Herzogs Schicksal positiven und zuversichtlichen Einschätzung seiner staatspolitischen und erzieherischen Leistung kommt.

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Kommerell (s. Anm. 9), S. 170.

Manfred Misch Spiegelberg und sein Judenstaatsprojekt

Die zweite Szene der Räuber setzt mit Karl Moors Kritik an seiner Epoche ein, „diesem Tintengleksenden Sekulum", das des Menschen „gesunde Natur mit abgeschmakten Konvenzionen" 1 korrumpiert habe. Der Vorwurf der .Unnatur', seit Lessings Angriff auf das „furchtsame französische Trauerspiel" 2 ein der Zeit geläufiger Gemeinplatz 3 , ist ein Rundumschlag. Er richtet sich gegen die höfisch-absolutistische Gesellschaftsordnung und ihre durch den französischen Klassizismus geprägten Kunstvorstellungen, aber auch gegen die bürgerliche Welt: ihren Krämergeist, ihre Gehässigkeit, ihr schwachbrüstig-schulfüchsiges Bildungswesen. Die Zeit, meint Karl, sei wurmstichig. Das „schlappe Kastraten-Jahrhundert", in dem Schwächlinge, Krämerseelen, Despoten und ihre Kreaturen den Ton angäben, bedürfe grundlegender Neuordnung, und er, Karl Moor, wäre - gäbe es nur genügend Männer seinesgleichen - der geeignete Nothelfer, diese Veränderung durchzusetzen: „Ah! daß der Geist Herrmanns noch in der Asche glimmte! - Stelle mich vor ein Heer Kerls wie ich, und aus Deutschland soll eine Republik werden, gegen die R o m und Sparta Nonnenklöster seyn sollen." (21) U n d hier nun, beim Stichwort „Republik", hakt sein bislang kaum zu Wort gekommener Gefährte Moritz Spiegelberg ein, reißt die Gesprächsführung an sich, um für ein eigenes Projekt zu plädieren: SPIEGELBERG aufspringend. Bravo! Bravissimo! du bringst mich eben recht auf das Chapitre. Ich will dir was ins Ohr sagen Moor, das schon lang mit mir umgeht, und du bist der Mann dazu - sauf Bruder sauf - wie wärs wenn wir Juden würden, und das Königreich wieder aufs Tapet brächten?

1

2

3

Friedrich Schiller: Die Räuber. Ein Schauspiel von fünf Akten, in: Schillers Werke. Nationalausgabe, Bd.3: Die Räuber, hg. v. Herbert Stubenrauch, Weimar 1953, S.20. Seitenbelege füge ich künftig, um die Zahl der Fußnoten zu begrenzen, den zitierten Passagen in runden Klammern unmittelbar an. Gotthold Ephraim Lessing: Briefe, die neueste Literatur betreffend. Siebzehnter Brief, in: ders.: Werke, Bd.5, hg. v. Herbert G. Göpfert u.a., Darmstadt 1996, S.71. Vgl. dazu Norbert Eüas: Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, Bd. 1: Wandlungen des Verhaltens in den weltlichen Oberschichten des Abendlandes, Frankfurt/M. 1976, vgl. S. 18-31.

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MOOR lacht aus vollem Halse. Ah! Nun merk ich - nun merk ich - du willst die Vorhaut aus der Mode bringen, weil der Barbier die deinige schon hat? SPIEGELBERG. Daß dich Bärenhäuter! Ich bin freylich wunderbarerweiß schon voraus beschnitten. Aber sag, ist das nicht ein schlauer und herzhafter Plan? Wir lassen ein Manifest ausgehen in alle vier Enden der Welt und zitiren nach Palästina, was kein Schweinefleisch ißt. Da beweiß ich nun durch triftige Dokumente, Herodes der Vierfürst sei mein Großahnherr gewesen, und so ferner. Das wird ein Viktoria abgeben, Kerl, wenn sie wieder ins Trockene kommen, und Jerusalem wieder aufbauen dörfen. Izt frisch mit den Türken aus Asien, weil's Eisen noch warm ist, und Zedern gehauen aus dem Libanon, und Schiffe gebaut, und geschachert mit alten Borden und Schnallen das ganze Volk. Mittlerweile Aber weiter kommt er nicht. Mit den „Narrenstreichen" sei es „nun am Ende" (22), unterbricht ihn Karl und würgt das „Chapitre" kurzerhand ab, womit er gleichzeitig zu erkennen gibt, daß das Bramarbasieren über seine Bereitschaft, als Vorkämpfer und Stifter einer deutschen Republik aufzutreten, nicht mehr als eine Machtphantasie, kein von ihm ernsthaft erwogener politischer Gegenentwurf zu der in seinen Augen moribunden Gesellschaftsordnung war. Spiegelbergs Projekt, in der ursprünglichen Fassung dieser Szene, wie sie der in diese Untersuchung einbezogene Unterdrückte Bogen Β (247-256) überliefert, etwa doppelten Raum einnehmend und entsprechend reicher mit alttestamentlichen Farben ausgemalt, ist damit erledigt. Daß Karl Moor von dem gewaltsam wiederherzustellenden Königreich nichts wissen will, erklärt sich aus seinen allem Halsbrecherischen ungeneigten Um- und Heimkehrgedanken. Er will den verlorenen Sohn spielen (250) und kann ein offenes Ohr für Fahrten ins Abenteuerliche deshalb nicht haben, weil sie seiner gegenwärtigen Gemütslage zuwiderlaufen. Spiegelbergs „schlauer und herzhafter Plan", der hier so unwirsch abgefertigt und über den im weiteren Handlungsverlauf kein Wort verloren wird, hat auch in der Räuber-Vorsehung wenig oder keine Beachtung gefunden.4 Auf größeres, wenn auch kein großes Interesse hingegen stieß der Charakter seines Propagators, den zu verdammen man selten5 unterlassen hat. Ist von

4

Nur wenige Ausnahmen bestätigen die Regel. Eine davon ist die Studie von Philipp F. Veit: Moritz Spiegelberg. Eine Charakterstudie zu Schillers „Räubern", in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft, Jg. 17 (1973), S. 273-290. Zuerst erschienen unter dem Titel: The Strange Case of Moritz Spiegelberg, in: The Germanic Review, Jg. 44 (1969), S. 171-185. Eine andere ist der Aufsatz von Hans Mayer: Der weise Nathan und der Räuber Spiegelberg, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft, Jg. 17 (1973), S. 253-272. Auch in: ders.: Außenseiter, Frankfurt/M. 1975, S. 327-349.

5

Neben den in Anm. 4 genannten Aufsätzen bildet eine Ausnahme die Untersuchung von Otto F. Best: Gerechtigkeit für Spiegelberg, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft, Jg. 22 (1978), S. 277-302.

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Judenstaatsprojekt

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Spiegelberg die Rede, hagelt es Verurteilungsvokabeln. „Ein Beispiel der niedrigsten Art [des Komischen] ist Spiegelberg in den Räubern [...] Karl Moor ist der ideale Räuber, Spiegelberg der gemeine [...] Seine [Spiegelbergs] Phantasie lebt in schlechten Streichen, die gräulichste Wirthschaft ist ihm die liebste, Zerstörung, Plünderung und Völlerei sind seine Ideale." So schrieb z.B. Kuno Fischer 6 vor über hundert Jahren, und ähnlich klingen jüngere Urteile: Spiegelberg sei die „widerwärtigste Gestalt in Karls Gefolgschaft" 7 , der „schäbige Bösewicht, dem Größe und Mut" abgingen 8 , ein „Ausbund windiger Niedertracht" und eine „monströse Figur" 9 , das „Schreckbild des verbrecherischen Räubers" 10 - Charakterisierungen, die zwar nicht ganz von der Hand zu weisen, aber ungenau sind, übersehen sie doch das Vielschillernde dieser Gestalt. Nur auf den ersten Blick erscheint Spiegelberg als eine geschlossene und eindeutige Figur. Auf den zweiten aber wird er mehrgesichtig und spiegelt dabei Gedankengänge, die Schiller in der Zeit, in der er die Räuber schrieb, bewegt haben müssen. Daß der entlaufene Student und Libertiner, in dem die Forschung doch ganz überwiegend den dritten der „drei außerordentlichen Menschen" vermutet, von denen Schiller in seiner Vorrede zur ersten Auflage spricht (5), eine vieldeutig glitzernde Gestalt ist, hat Gerhard Storz bemerkt und auf ihre Mischung aus bizarrer Komik und tückischer Gefährlichkeit, gerissenem Intriganten- und pikarischem Schelmentum hingewiesen. 11 Die Vielgesichtigkeit, durch die er sich vom Ensemble der jeweils eindeutig gezeichneten Razmann, Schufterle, Grimm, Schwarz, Roller und Schweizer abhebt, zeigt sich insbesondere in seinem Umgang mit dem Wort. Spiegelbergs Gesprächsbeiträge zeichnen sich im Gegensatz zu denen der mehr als Antworter und Stichwortgeber Karls fungierenden Kumpane durch Originalität und Überzeugungskraft aus - Roller nennt ihn einen „Meister-Redner", wenn es darum gehe, „aus einem ehrlichen Mann einen Hollunken zu machen" (28) - , und deutlich buntscheckiger als die aller anderen Figuren des Stücks ist auch seine Sprechweise, die ihre Farbigkeit nicht zuletzt einer Reihe von jüdischen Zügen verdankt. Der Projektemacher will ein Manifest „in alle vier Enden der Welt" (22) hinausgehen lassen. Damit gebraucht er eine Wendung, die „oft in der jüdischen Liturgie vor[kommt],

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K u n o Fischer: Schiller als Komiker, 2., neubearbeitete und vermehrte Aufl., Heidelberg 1891, S.52. Reinhard Buchwald: Schiller. Leben und Werk, Wiesbaden 1959, S.253. Benno von Wiese: Friedrich Schiller, 3., durchgesehene Aufl., Stuttgart 1963, S. 148. Emil Staiger: Friedrich Schiller, Zürich 1967, S.249. Klaus R. Scherpe: Die Räuber, in: Walter Hinderer (Hg.): Schillers Dramen. Neue Interpretationen, Stuttgart 1979, S.9-36, hier S.27. Gerhard Storz: Der Dichter Friedrich Schiller, 3., um einen Anhang erweiterte Aufl., Stuttgart 1963, S. 59.

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besonders an Stellen, die von der Hoffnung auf eine Rückkehr der Verbannten im messianischen Zeitalter handeln".12 Und wenn Spiegelberg in der Stunde der Gefahr - die Räuberbande sieht sich in den böhmischen Wäldern von einer gewaltigen soldatischen Ubermacht umzingelt - ausruft: „Oh! Warum bin ich nicht geblieben in Jerusalem?" (66), dann liegt mit dieser von der sprachlichen N o r m abweichenden Stellung des Partizips Perfekt ein charakteristisches Merkmal des Jüdisch-Deutschen vor, das sich „noch heute im modernen Jiddischen beobachten 1 aßt". 13 In der vor allem in Momenten der Spannung und Erregung sich äußernden Neigung, ins jüdisch-deutsche Idiom zu verfallen, in dem Geständnis, er sei „wunderbarerweiß schon voraus beschnitten" (22), und in der Tatsache, daß er eine stupende Kenntnis nicht nur des Alten Testaments, sondern auch des Neuen hat, aus dem er wörtlich zitiert14, liegt die Antwort auf die umstrittene Frage15 nach Spiegelbergs Religionszugehörigkeit. Er ist ein Christ jüdischer Herkunft, ein getaufter und assimilierter Jude, dessen vorzügliches Deutsch einer grundlegenden Assimilationsbedingung gerecht wird, die die Aufklärung im Zuge ihres Bemühens um Integration der jüdischen Minderheit in die Gesamtgesellschaft den Juden gestellt hatte: dem Erlernen der deutschen Sprache16 und der damit einhergehenden Vermeidung des Jüdisch-Deutschen. Diese Voraussetzung erfüllt Spiegelberg, wenn er auch - bezeichnenderweise - in Augenblicken des

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Veit, Moritz Spiegelberg (s. Anm. 4), S. 276 f. Ebd., S. 277. Im „Unterdrückten Bogen B" sagt Spiegelberg zu Karl: „Wie zum Teufel! - du wirst doch nicht gar den verlornen Sohn spielen wollen? ,Ich habe gesündigt im Himmel und vor dir bin nicht werth' - Pfuy!" (250) Recht gut zitiert, wenn man Lukas 15,21 zum Vergleich heranzieht: „.Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir; ich bin hinfort nicht mehr wert, daß ich dein Sohn heiße.' " In der Frage, ob Spiegelberg als Jude gekennzeichnet werden sollte oder nicht, gibt es zwei Richtungen. Die erste läßt die Sache in der Schwebe: „Für die Ansicht, daß Spiegelberg Jude sei, lassen sich aus dem Text Gründe wie Gegengründe anführen." So heißt es im Kommentar der Hanser-Ausgabe. Friedrich Schiller: Sämtliche Werke, Bd. 1, auf Grund der Originaldrucke hg. v. Gerhard Fricke u. Herbert G. Göpfert in Verbindung mit Herbert Stubenrauch, München 1958, S.917. Schon Stubenrauch, der „Räuber-Herausgeber in der Nationalausgabe, hatte diese Position vertreten (400), und sie findet sich z.B. auch noch bei Norbert Oellers, der meint, es gebe „gute Gründe", die Frage, ob Spiegelberg Jude sei, negativ zu beantworten. Norbert Oellers: Goethe und Schiller in ihrem Verhältnis zum Judentum, in: Hans Otto Horch/Horst Denkler (Hg.): Conditio Judaica. Judentum, Antisemitismus und deutschsprachige Literatur vom 18. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg, Teil 1, Tübingen 1988, S. 108-130, hier S. 116. Das Gegenlager, zu dessen Vertretern z.B. Philipp F. Veit (s. Anm. 4), Hans Mayer (s. Anm. 4) und Otto F. Best (s. Anm. 5) gehören, sieht in Spiegelberg den Juden. Vgl. z.B. Arno Herzig: Das Assimilationsproblem aus jüdischer Sicht (1780-1880), in: Horch/Denkler (Hg.), Conditio Judaica (s. Anm. 15), S. 10-28, hier S.22.

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Überschwangs und der Angst .rückfällig' wird und seine Sprache dann die jüdische Tingierung annimmt, die seine Ursprungssphäre verrät. Dem Konvertiten hat der Schritt aus dem Ghetto ein Stück Befreiung gebracht. Zugleich aber bedeutet die Lösung aus den Bindungen seiner Glaubens-, Rechts- und Kulturgemeinschaft, seiner ,Nation', auch einen fundamentalen Traditionsbruch, der ihn in eine Krise gestürzt hat. Seinem ursprünglichen Kollektiv entfremdet, fremd aber auch seiner neuen Lebenswelt, die ihn mit Ausnahme Karls argwöhnisch als Außenseiter beäugt, im allgemeinen wenig freundlich zu dem Proselyten ist - Schweizer nennt ihn einmal eine „Drekseele" und droht ihm an, ihn in „eine Sauhaut nähen" und „durch Hunde verhetzen [zu] lassen" (66) - , ist Spiegelbergs Lage problematisch. Er ist der Fremdling überall, der familiär, sozial und religiös Entwurzelte, der seinen „Vater" verloren, einen neuen nicht gefunden hat und der deshalb, weil er nirgendwo Anerkennung findet, sein Heil in der Selbsthilfe sucht: im Schmieden teils hybrider, teils verbrecherischer Pläne und in wüsten Tagträumen. Ihre Verwirklichung, meint er, trüge ihm die ersehnte Achtung „in Osten und Westen" ein, würde ihn am Ende gar „mit ausgespreiteten Flügeln zum Tempel des Nachruhms" emporfliegen lassen (24). Zu verstehen ist die verzweifelte Suche nach Macht, Ruhm, gesellschaftlicher Position nur aus Spiegelbergs geistlicher und sozialer Unbehaustheit. Ihre Problematik, Reflex eines zeitgenössischen Phänomens - der Judenmission im Umkreis des Pietismus - muß Schiller wenn nicht zur Darstellung so doch zur Andeutung wenigstens gereizt haben, als er diese Figur mit jüdischen wie christlichen Zügen ausstattete: die für viele Konvertiten charakteristische Heimatlosigkeit, die Zerrissenheit zwischen jüdischer und christlicher Identität, das Vagieren zwischen den Religionen, dieses Schweben zwischen dem Nicht-mehr- und dem Noch-nicht-(oder vielleicht auch Niemals-wieder-) zu-Hause-Sein.17 Dieser Dauerkrise will Spiegelberg ein Ende bereiten. Und da der Weg zum neuen „Vater" sich für ihn als Irrweg erwies und ihm die Taufe kein „Entréebillet zur europäischen Kultur" 18 und Gesellschaft war, ist Spiegelberg zur Rückkehr zu seinen Ursprüngen geneigt und bereit, sich vom Christentum wieder zu verabschieden. „Wie wärs wenn wir Juden würden, und das Königreich wieder aufs Tapet brächten?" (22), fragt er Karl und deutet damit seine Bereitschaft zur erneuten Konversion an, um im Schoß des

17

18

Zur problematischen Situation von Konvertiten in der christlichen Umwelt vgl. Johannes Graf (Hg.): Judaeus conversus. Christlich-jüdische Konvertitenautobiographien des 18. Jahrhunderts. Im Anschluß an Vorarbeiten von Michael Schmidt und unter Mitwirkung von Elisabeth Emter, Frankfurt/M. 1997. Heinrich Heine: Aphorismen und Fragmente, in: ders.: Gesammelte Werke, Bd. 6, hg. v. Wolfgang Harich, Berlin 1955, S.558.

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Judaismus den Respekt zu finden, den ihm die christliche Umwelt vorenthält. Das Königreich. Mit dem Staatsgründungsprojekt versucht Spiegelberg, den unterbrochenen Kontakt zum Judentum wiederherzustellen, um seiner Existenz als verlorener Sohn bzw. der „Tragödie vom verlorenen Vater" 19 auf seine Weise ein Ende zu setzen. Und zwar zu seinen Bedingungen. Reumütig zum „Vater" zurückzukehren, liegt Spiegelberg fern. „Pfui, du wirst doch nicht gar den verlorenen Sohn spielen wollen!" (22), sagt er zu Karl und setzt anschließend auf die eigene Kraft. Die „Kräfte wachsen in der Noth", meint er. „Der Muth wächst mit der Gefahr; die Kraft erhebt sich im Drang." (23) In maßloser Überschätzung der eigenen Fähigkeiten denkt Spiegelberg nicht daran, sich als bußfertiger Sünder auf den Heimweg zum „Vater" zu begeben. Ganz im Gegenteil. Er hat vor, diesen zu sich zu zitieren, will durch die Gründung eines Judenstaats, den Wiederaufbau Jerusalems, die Reaktivierung aller „alten Gebräuche", die Restaurierung der „Bundslade", durch „Brandopfer die schwere Meng" und Hinausvotierung des Neuen Testaments (249) in alter jüdischer Tradition dem „Vater" eine Wohnung schaffen, mit allen Mitteln für dessen ständige Anwesenheit darin sorgen und ihn dadurch zwingen, sich ihm und den verlassenen und heimatlosen Juden aus aller Welt wieder zuzuwenden, sein ihnen einst gegebenes Erlösungsversprechen zu erfüllen. Bei aller Hybris, die diese Art der Vatersuche kennzeichnet und die frommen Juden wie Christen schrill in den Ohren geklungen haben und jetzt noch klingen muß, ist doch der geistliche Antrieb in Spiegelbergs Aufstand gegen religiösen Konservatismus erkennbar noch. Schon der Name, den Schiller ihm gibt, weist Spiegelberg als eine ursprünglich zu Frömmigkeit und religiöser Spekulation neigende Existenz aus. „Spiegelberg", heißt es im Wörterbuch der Grimms, ist ein berg, der eine warte trägt, mit rücksicht auf die befestigte, die Sicherheit des wohnens mehrende läge auch übertragen auf die wohnstätte der auserwählten im jenseits, wobei wol die Vorstellung des himmlischen Jerusalems u. ä. von einflusz war [...] zu beachten aber bleibt die färbung durch den Sprachgebrauch der mystiker: speculieren ist min were, davon heiz ich von Spiegelberc [...]

19

So der Titel eines Aufsatzes von Dieter Borchmeyer: Die Tragödie vom verlorenen Vater. Der Dramatiker Schiller und die Aufklärung. Das Beispiel der „Räuber", in: Helmut Brandt (Hg.): Friedrich Schiller: Angebot und Diskurs. Zugänge, Dichtung, Zeitgenossenschaft, Berlin/Weimar 1987, S. 160-184.

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wo die möglichkeit, die göttliche Wahrheit zu schauen, hervorgehoben werden

soll.20 Spiegelberg ein spekulativer Mystiker mit Beziehungen zur transmundanen Wirklichkeit? Davon kann bei dem späteren Spiegelberg, dem Räuberbandenstifter, Menschenverführer, Klosterräuber und Nonnenschänder die Rede nicht sein. Wohl aber bei dem frühen, dessen Vorgeschichte sein Name andeutet und den religiöse Disponiertheit ins christliche Lager geführt haben muß. Ohne diese einmal vorhanden gewesene spekulative Geneigtheit, in Spuren erkennbar noch bei dem Spiegelberg, der Karl das „Königreich" versucht schmackhaft zu machen, hätte der in geistlichem Denken wurzelnde Plan nämlich gar nicht ausgeheckt werden können. Mit der „lang" gehegten Absicht, die Juden aus aller Welt in Palästina wieder „ins Trockene kommen" zu lassen (22), greift Spiegelberg Denkansätze auf, die in jüdischen und pietistischen Kreisen des 17. und 18. Jahrhunderts gleichermaßen virulent waren: die Verheißungen über die Ankunft des Messias und das Anbrechen des endzeiteröffnenden Tausendjährigen Reiches, in dem Gott sein auserwähltes Volk nach langanhaltender qualvoller Zerstreuung wieder vereinen würde. Die eschatologischen Hoffnungen, in denen pietistische und jüdische Spiritualität konvergierten, riefen ein lebhaftes Interesse vieler Pietisten an der jüdischen Theologie hervor und führten zu pietistischen Kontaktaufnahmen mit gelehrten Juden. 21 Es scheint ein Reflex dieser historischen Begegnung zu sein, daß Schiller seinen Proselyten Anschluß gerade an eine Gruppe mit pietistischem Hintergrund finden ließ. Keineswegs zufällig nämlich gebraucht der „Meister-Redner", der die Gefährten von den Vorzügen des Brigantentums überzeugen will, zum Grundbestand eschatologischen Denkens gehörende Vokabeln. Mord und Raub, verkündet Spiegelberg, würden den „lieben Gott von manchem lästigen Kostgänger" befreien, „ihm Krieg, Pestilenz, theure Zeit und Dokters ersparen", „mit einem Wort, das goldne Alter wieder zurückrufen" (28). Und nach vollbrachtem Überredungswerk fügt er hinzu: [...] was liegt daran, wohin auch die Seele fährt? Wenn Schaaren vorausgesprengter Kuriere unsere Niederfahrt melden, daß sich die Satane festtäglich herauspuzen, sich den tausendjährigen Ruß aus den Wimpern stäuben, und myriaden gehörnter Köpfe aus der rauchenden Mündung ihrer Schwefel-Kamine hervorwachsen, unsern Einzug zu sehen? (30)

20 21

Jacob u. Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch, Bd. 16, München 1984, Sp. 2242. Vgl. Hans-Jürgen Schräder: Sulamiths verheißene Wiederkehr. Hinweise zu Programm und Praxis der pietistischen Begegnung mit dem Judentum, in: Horch/Denkler (Hg.), Conditio Judaica (s. Anm. 15), S. 71-107.

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Das „goldne Alter", die .güldene Zeit' der Pietisten, und die Allusion auf die tausend Jahre währende Gebundenheit Satans, von der die Offenbarung des Johannes (20,1) spricht, diese Sprache verstehen die prospektiven Räuber. Und mühelos fügt Roller den einschlägigen Schlüsselwörtern gleich ein weiteres hinzu, wenn er, den Ball zurückwerfend, erwidert: „Sachte nur! Sachte! wohin? das Thier muß auch einen Kopf haben, Kinder" (30) - eine Anspielung auf das in der Offenbarung (17,3) erwähnte scharlachfarbene Tier mit seinen sieben Häuptern, auf dem die Hure Babylon reitet, und zugleich ein witziger Hinweis auf die sieben Gründungsmitglieder der Bande, deren Haupt Karl Moor dann sein wird. Daß auch dieser durch die Schule des Pietismus gegangen ist, signalisiert seine vom Pathos eschatologischer Endzeitstimmung befeuerte Epochenkritik. Die .Zeichen der Zeit', auf die die Pietisten so sorgfältig achteten, von denen sie ständig aufs neue in ihrer Erfahrung des apokalyptischen Charakters ihrer Gegenwart bestätigt wurden und in ihrer Uberzeugung, daß der Kampf zwischen Gott und Satan aufs heftigste entbrannt sei, diese Zeichen hat auch Karl registriert, wie er zu erkennen gibt, wenn er seinem Jahrhundert „Unnatur" in jeder Beziehung vorwirft und auf Miltons Satan anspielt, der „sich anmaßte den Allmächtigen vor seine Klinge zu fordern", dabei „immer neue Versuche bis auf diesen Tag" macht (248). Und den Spuren schwäbisch-pietistischen Denkens folgend, mündet auch Karls endzeitliche Grundeinstellung in eine neue Konzeption der menschlichen Gesellschaft ein. Da in der güldenen Zeit der irdische Absolutismus beseitigt, Freiheit und Gleichheit aller Menschen wiederhergestellt sein würden, sahen fromme Pietisten wie Friedrich Christoph Oetinger ihre Aufgabe darin, die gegenwärtige moralisch entgleiste Gesellschaftsordnung zu demokratisieren, um sie auf das bevorstehende Gottesreich vorzubereiten, dessen Anbrechen den Berechnungen Johann Albrecht Bengels zufolge im Jahr 1836 schon erwartet wurde. Bei Oetinger führte das zu ganz konkreten ethischen, sozialen, politischen und pädagogischen Reformprogrammen, deren Verwirklichung eine den Fürsten seiner Zeit gestellte Aufgabe war.22 Den ins Auge gefaßten Reformen von oben mußte dabei zugleich von unten durch eine .praxis pietatis' entgegengearbeitet werden, jenes dem einzelnen Christen abverlangte „bußfertige Ringen um Heiligung und Zurüstung zur Seligkeit".23 Karl Moors Vorstellungen scheinen in ähnliche Richtung wie die Oetingers zu zielen. Auch er will „die verfluchte Ungleichheit in der Welt" (248) beseitigen und

22

23

Ernst Benz: Johann Albrecht Bengel und die Philosophie des deutschen Idealismus, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, Jg. 27 (1953), H. 4, S. 528-554, hier S. 550. Schräder, Sulamiths verheißene Wiederkehr (s. Anm. 21), S.75.

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republikanische Zustände einführen. Dabei setzt er freilich nicht wie Oetinger auf Reformen, evolutionäre Veränderungen, sondern, ganz unpietistisch und unberührt von Sorge um seine Seelenseligkeit, auf Gewalt, die Terror und Mord nicht scheut. Ob in seinem Demokratieverständnis Raum für den Gedanken ist, alle Menschen hätten gleiche Pflichten, Rechte und Freiheiten, ist deshalb sehr zu bezweifeln. Und das um so mehr, als sich später nicht einmal in der Räuberbande Ansätze einer republikanischen Ordnung finden lassen. Ichbesessen und arrogant, wie er ist, behandelt Karl seine Leute nur als Werkzeuge und führt sie an kurzer Leine. Da sein .republikanisches' Deutschland kaum demokratischer verfaßt wäre, als die Brigantenhorde es später sein wird, und als neue Tyrannei das Gottesreich zweifellos nicht vorbereiten würde, ist die Idee einer deutschen Republik, ihres ursprünglichen eschatologischen Elements entkleidet, ein bloßer Machttraum. Sie würde, in die Tat umgesetzt, Gottes Heilsplan zuwiderlaufen, wäre Sand im Getriebe der göttlichen Ökonomie. Spiegelbergs feinem Ohr sind diese unfrommen Töne Karls, der zudem „lieber im Backofen Belials braten mit Borgia und Katilina als mit jedem Alltags-Esel dort droben zu Tische sitzen" will (249), nicht entgangen. Sie sind der Grund für das begeisterte „Bravo! Bravissimo!" (22), mit dem er nun das Wort ergreift, um der säkularisierten pietistischen Republik-Idee das Jerusalem-Projekt, die jüdische Kehrseite der Medaille, entgegenzuhalten. In Karl, dem gestrauchelten Pietisten, glaubt der verirrte Messianist einen Gleichgesinnten erkannt zu haben. Denn das geplante .Königreich' liefe ja Gottes Heilshandeln ebenfalls zuwider, weil es der Ankunft des Messias Vorgriffe und die allein durch Gott herbeizuführende Erfüllung der Geschichte eigenmächtig erzwänge. Genau das hat Spiegelberg vor, und da ihm der Zweck die Mittel heiligt, schließt er weder Gewalt noch Betrug aus, um sein Ziel zu erreichen. Der „Würgengel" soll die Feinde „wie Spizgras" niedermähen (250), durch „triftige Dokumente" will Spiegelberg beweisen, „Herodes der Vierfürst sei [sein] Großahnherr gewesen" (22), und: „Auf den Messias wird noch gewartet, oder du, oder ich, oder einer von beyden — " (249), meint er. Um den - aus dem Blickwinkel jüdisch-pietistischer Frömmigkeit her gesehen - monströsen Palästinaplan durchzusetzen, ist Spiegelberg, der eine möglichst große Machtbasis sucht, sogar bereit, in die Fußstapfen messianischer Hochstapler wie Sabbatai Zwi (1626-1676) und Jacob Frank (1726-1791) zu treten. Aber nun geschieht das Unerwartete. Karl schreckt zurück. Zwar hatte er eben noch ganz ähnliche Töne angeschlagen wie der Gesprächspartner, doch war, wie sich nun erweist, das Lied von der deutschen Republik nur sein Schwanengesang, mit dem er sich vom Libertinertum zu verabschieden gedachte, bereit, den Weg moralischer Heimarbeit zu beschreiten. Das Spiegelberg abschmetternde „Narrenstreiche" ist aus der

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Einsicht heraus gesagt, daß der Mensch, „das unseelige Mittelding von Vieh und Engel", wie Schiller im Versuch über den Zusammenhang der thierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen (1780) schreibt24, ein Mittelwesen ist, das der väterlichen Autorität bedarf. Von Heimkehrhoffnungen erfüllt, will Karl innerhalb der dem Menschen gesetzten Grenzen bleiben, will seinen „Vater ehre[n] - es ist die Schwäche eines Menschen, und wer sie nicht hat, muß entweder ein Gott oder - ein Vieh seyn. Laß mich immer mitten inne bleiben" (250). Spiegelberg ist dieses Maßhalten fremd. Aus seiner Schwäche und Hilflosigkeit heraus neigt er zu Absolutheit, Allmacht und Terror. Hier tendiert er noch - später wird er ins andere Extrem der „überhandnehmenden thierischen Fühlungen" 25 abgleiten - zur luziferischen Grenzüberschreitung. Sein Staatsgründungsprojekt, mit dem er Gott vorzugreifen, ihn unter Druck zu setzen beabsichtigt, verbietet es deshalb, Spiegelberg als literarische Gestaltung der ¿Antithese des jüdischen Messianismus zur Emanzipationsforderung der bürgerlichen Aufklärung" zu deuten, wie Hans Mayer das getan hat.26 Denn das Konzept des jüdischen Messianismus - die Idee der Versöhnung Gottes mit seinem auserwählten Volk, die Aufhebung des diesem einst als Strafe für seinen Abfall auferlegten Exils und die Wiederherstellung der jüdischen Nation in einem palästinensischen Staat - machte es den Juden zwar zur Pflicht, die messianische Erlösung zu erhoffen und zu erwarten, gab ihnen aber nicht das Recht, ungeduldig auf diese hinzuarbeiten, sie auf eigene Faust in die Wege zu leiten.27 In der Anmaßung eben dieses Rechts erweist sich Spiegelberg nicht als Messianist, sondern als zionistischer Vorläufer, der mit seinem „Auf den Messias wird noch gewartet" einen entscheidenden Grundgedanken des modernen Zionismus anklingen läßt: die selbsthelferische, Gottes Erlösungsbereitschaft nicht abwartende Etablierung eines jüdischen Staates mit innerweltlichen Mitteln. In der Figur Spiegelbergs haben Lebenssituation und Stimmungslage jüdischer Proselyten einen literarischen Sprecher gefunden, der mehr Aufmerksamkeit verdient, als sie ihm gewöhnlich zuteil wird. Schiller brauchte nur

24

25 26 27

Schillers Werke. Nationalausgabe, Bd. 20: Philosophische Schriften. Erster Teil, unter Mitwirkung von Helmut Koopmann hg. v. Benno von Wiese, Weimar 1962, S. 47. Ebd. Hans Mayer, Der weise Nathan und der Jude Spiegelberg (s. Anm. 4.), S.269. „[...] the Jews had every right to anticipate a messianic Redemption, which is to say, an ending to their Exile. Yet that did not entitle them to press, even to pray excessively, for their Return, let alone set themselves to bring it about. Their exceptional condition was no less a consequence of divine intention than the natural order. They must therefore be patient. They must not venture to hasten the end." David Vital: The Origins of Zionism, Oxford 1975, S.4.

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sein engeres pietistisches Umfeld zu durchmustern, um auf das Phänomen des unglücklichen, hilflosen und aus Hilflosigkeit zwischen ,Vieh und Engel' schwankenden Konvertiten zu stoßen. Dem zeitgeschichtlichen Ambiente könnte er auch das Judenstaatsprojekt zu verdanken haben. Vor- und frühzionistische Pläne zur Wiederherstellung des jüdischen Staates gab es seit dem Mittelalter. 28 Aber erst gegen Ende des 17. und in den ersten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts gaben Männer wie der Däne Öliger Paulli (1644-1714/15), der französische Pfarrer Pierre Jurieux (1637-1713) und Hermann Moritz von Sachsen (1696-1750), Sohn des Kurfürsten von Sachsen und Königs von Polen Friedrich August und der Gräfin Königsmarck, solchen Plänen etwas deutlichere, wenn auch z.T. abenteuerliche Konturen. 29 In Schillers Zeit führen die 1781 gemachten Tagebucheintragungen eines unbekannten Italienreisenden, die 1782 in der Zeitschrift Litteratur und Völkerkunde erschienen und u.a. eine Episode wiedergeben, von der der Gewährsmann in Livorno gehört hatte: Ein sehr sonderbares Projekt verdient erzählt zu werden, um so viel mehr, da an dessen Ausführung wirklich gearbeitet worden ist. Einige deutsche Offiziers, die sich auf der Russischen Flotte im letzten Türkenkriege befanden, und den berüchtigten Ali Bey persönlich kennen gelernt hatten, kamen mit verschiedenen hiesigen Juden überein, diesem damals glücklichen Rebellen den Antrag zu thun, für einen gewissen Preis Jerusalem der jüdischen Nation zu überlassen. Diese Stadt war zu der Zeit in seiner Gewalt, und seine Begierde nach Reichthümern war unersättlich. AU Bey willigte ein, allein er forderte sehr grosse Summen, und Unterstützung von Rußland zu seinen weitern Unternehmungen. Da dem Interesse dieses Staats die Schwächung seines mächtigen Feindes, von welcher Seite sie auch geschah, nicht anders als vortheilhaft seyn konnte, so ward ihm auch unter der Hand Beystand versprochen, und die Juden in Livorno, die bereits glänzende Entwürfe machten, sich mit der Garantie großer Höfe schmeichelten, und vielleicht gar von Aufbauung des Tempels träumten, schrieben an ihre Glaubensgenosssen in England und Holland. Die verlangten Summen machten die geringsten Schwierigkeiten aus, und wer weis, wie weit es noch mit diesem seltsamen Plan gekommen wäre, wenn nicht ein unerwarteter Feind dieser Unterhandlung auf einmal ein Ende gemacht hätte.30 In seiner Vorgeschichte des Zionismus brachte N. M. Gelber die in dem zitierten Bericht erwähnten Ereignisse in Zusammenhang mit den Räubern und meinte, die Szene zwischen Karl und Spiegelberg sei „vielleicht unter dem 28

29 30

Dazu Nathan M. Gelber: Zur Vorgeschichte des Zionismus. Judenstaatsprojekte in den Jahren 1695-1845, hg. im Auftrage der Exekutive der zionistischen Weltorganisation London, Wien 1927, S. 9 f. Ebd., S. 13-26. [Anonym]: Auszüge aus dem ungedruckten Tagebuch eines Reisenden. Toskana, im Jahr 1781, in: Litteratur und Völkerkunde, Jg. 1 (1782), Nr. 5, S. 398-415, hier S.412f.

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Eindruck dieser Episode entstanden".31 Auszuschließen ist das nicht. Denn die Livorneser Begebenheiten, die Gelber allerdings irrtümlich im Jahr 1781 ansiedelt - viel zu spät also, als daß sie Spuren in den Räubern hätten hinterlassen können - , müssen sich schon zu Beginn der siebziger Jahre abgespielt haben. Ali Bey, der ägyptische Mameluckenherrscher und Empörer gegen die ottomanische Fremdherrschaft, wurde 1772 im Zuge einer Palastrevolte aus Ägypten vertrieben und ging, immer noch auf eine beträchtliche Machtbasis gestützt, ins palästinensische Exil. Dort knüpfte er zur Wiedergewinnung seiner Kairoer Machtposition Verhandlungen mit der russischen Mittelmeerflotte an, die allerdings trotz des Interesses der Russen, denen an einem Verbündeten im Kampf gegen die Türken durchaus gelegen sein mußte, ergebnislos blieben. Ali Bey, verwundet im Kampf gegen seinen Nachfolger, starb 177332 - wenige Jahre bevor Schiller mit der Arbeit an den Räubern begann. Da der Jerusalemplan der jüdischen Gemeinde von Livorno schwerlich lange geheimgehalten worden sein konnte - die Juden hatten ja bereits Kontakte zu einigen politischen Machtzentren und zu ihren „Glaubensgenossen in England und Holland" hergestellt -, ist es nicht unwahrscheinlich, daß das Projekt, nach Ali Beys Tod im Sande verlaufend, was Geheimhaltung ohnehin überflüssig machte, publik wurde und Schiller auf dem einen oder anderen Wege, vielleicht aus der Zeitung, davon erfuhr. Besonders wichtig, so interessant sie sein mag, ist die Quellenfrage indes nicht. Entscheidend ist, daß Schillers poetischer Jerusalemplan eine zeitgeschichtliche Tendenz widerspiegelt: die, wie die Livorno-Episode belegt, in jüdischen Kreisen offenbar vorhandene Bereitschaft, aus den traditionellen Bahnen des Messianismus auszuscheren und die Judenfrage selbständig zu lösen. Den Finger am Puls der Zeit, bemerkte Schiller, daß das ehrwürdige Gebäude des Judaismus damit einen Riß bekommen hatte. Dieser wurde im Lauf des 19. Jahrhunderts breiter33, bis er schließlich - mit dem Auftreten Theodor Herzls und Max Nordaus das Haus in zwei Teile trennte. Die zionistische Idee der Selbsterlösung, eine Alternative nicht nur zur aufklärerischen Emanzipationsforderung, sondern auch zum Messianismus konservativer jüdischer Theologie, wird in dem „Chapitre" unüberhörbar präludiert, was Spiegelberg zu einer außerordentlich modernen, weit über seine Zeit hinausweisenden Gestalt macht.

31

Gelber, Zur Vorgeschichte des Zionismus (s. Anm. 28), S.32.

32

Vgl. J o h n W . Livingston: Ali Bey Al-Kabir and the Mamluk Resurgence in Ottoman Egypt, 1760-1772, Diss. Princeton 1968. Und zwar durch zionistische Wegbereiter wie Yehuda Alkalin (1798-1878), Zwi Hirsch Kalischer (1795-1874) und Moses Hess (1812-1875). Vgl. Arthur Herzberg (Hg.): The Zionist Idea. A Historical Analysis and Reader. With an Introduction and biographical Notes, New Y o r k 1977.

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Terence James Reed Palastrevolution: Kant, Schiller und die Geburt einer Ästhetik aus dem Geist der Politik

.. .siehst Paläste Stets mit andern Augen an. (Goethe, Dauer im Wechsel)

I. Als allererstes Beispiel für die Möglichkeit eines „Wohlgefallens ohne Interesse", dieses Grundbegriffs seiner Ästhetik, bietet Kant in §2 der Kritik der Urteilskraft von 1790 einen Palast.1 Das ist schon darum verwunderlich, weil die Baukunst offensichtlich, und auch für Kant, keine zweckfrei reine Kunst ist. In §16 (S.300) heißt es: „die Schönheit [...] eines Gebäudes (als Kirche, Palast, Arsenal, oder Gartenhaus) setzt einen Begriff vom Zwecke voraus, welcher bestimmt, was das Ding sein soll". Das ästhetische Urteil darf folglich allenfalls auf „anhängende" oder „adhärierende Schönheit" lauten (ebd.).2 Nun ist bei Kant .Zweck' nicht gleich .Interesse'. Die beiden Begriffe werden in der Kritik der Urteilskraft eigentümlicherweise nicht einmal zueinander in Verbindung gesetzt, sie sind aber offensichtlich an sich zu eng benachbart, als daß eine zweckbedingte Gebrauchskunst das ideale Beispiel für ein Wohlgefallen bieten könnte, das in der „bloßen Betrachtung (Anschauung oder Reflexion)" bestehen soll (§2). Oder ist es vielleicht so, daß Kant das 1

2

Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft § 2, in: Immanuel Kants Werke, hg. v. Ernst Cassirer, Bd. 5, Berlin 1922, S.272Í. (Weitere Verweise im Text mit Abschnittsziffer und Seitenzahl.) Insoweit ist Kant kaum anderer Meinung als Hume, auf dessen flüchtige Erwähnung eines Palasts seine breite Ausführung nicht unbedingt eine Antwort bildet. Vgl. David Hume: A Treatise of Human Nature, Book Π, Section VIE, hg. v. L. A. Selby-Bigge, Oxford 1888 u. ö., S.299. Dort wird mit einem einzigen Satz der Punkt abgetan, daß „The order and convenience of a palace are no less essential to its beauty, than its mere figure and appearance", was Kant ja schließlich im wesentlichen zugibt.

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Brett bohren will, wo es am dicksten ist, indem er zeigt, daß auch bei der zweckgerichtetsten der Künste die Möglichkeit besteht, von Zweck und Interesse völlig abzusehen? Denn bei den .freien' Künsten hätte der Betrachter die viel leichtere Pflicht, sich davor zu hüten, der durch Kunst vermittelten Wirklichkeit eines bearbeiteten Originalgegenstands ein unästhetisches Interesse entgegenzubringen. Klassisches Beispiel dafür, worüber später Nietzsche in seiner Interesselosigkeitskritik spottet, wäre ein weiblicher Akt. 3 (Auf die weibliche F o r m wird später zurückzukommen sein.) Die Palast-Passage steckt aber auch sonst voller Probleme, ja sie stellt bei näherem Zusehen ein kleines Labyrinth an wechselnden Gesichtspunkten, wenn nicht gar widersprüchlichen Implikationen dar. Diese treten besonders hervor, wenn man der Frage nachgeht, was für ein Interesse vorausgesetzt wird, das der Betrachter eines Palasts ausschalten soll. Wenn mich jemand fragt, ob ich den Palast, den ich vor mir sehe, schön finde; so mag ich zwar sagen: ich liebe dergleichen Dinge nicht, die bloß für das Angaffen gemacht sind, oder, wie jener irokesische Sachem, ihm gefalle in Paris nichts besser als die Garküchen; ich kann noch überdem auf die Eitelkeit der Großen auf gut Rousseauisch schmälen, welche den Schweiß des Volks auf so entbehrliche Dinge verwenden; ich kann mich endlich gar leicht überzeugen, daß, wenn ich mich auf einem unbewohnten Eilande, ohne Hoffnung, jemals wieder zu Menschen zu kommen, befände, und ich durch meinen bloßen Wunsch ein solches Prachtgebäude hinzaubern könnte, ich mir auch nicht einmal diese Mühe darum geben würde, wenn ich schon eine Hütte hätte, die mir bequem genug wäre. Man kann mir all dieses einräumen und gutheißen; nur davon ist jetzt nicht die Rede. Man will nur wissen, ob die bloße Vorstellung des Gegenstandes in mir mit Wohlgefallen begleitet sei, so gleichgültig ich auch immer in Ansehimg der Existenz des Gegenstandes dieser Vorstellung sein mag. Man sieht leicht, daß es auf dem, was ich aus dieser Vorstellung in mir selbst mache, nicht auf dem, worin ich von der Existenz des Gegenstandes abhänge, ankomme, um zu sagen, er sei schön, und zu beweisen, ich habe Geschmack. Ein jeder muß eingestehen, daß dasjenige Urteil über Schönheit, worin sich das mindeste Interesse mengt, sehr parteilich und kein reines Geschmacksurteil sei. Man muß nicht im mindesten für die Existenz der Sache eingenommen, sondern in diesem Betracht ganz gleichgültig sein, um in Sachen des Geschmacks den Richter zu spielen. Wie paßt das zum Kantschen Verständnis von .Interesse' und zur Forderung, dieses in der ästhetischen Betrachtung auszuschalten? „Interesse", so lautet Kants Definition, „wird das Wohlgefallen genannt, was wir mit der Vorstellung der Existenz eines Gegenstandes verbinden. Ein solches hat daher immer 3

Friedrich Nietzsche: Zur Genealogie der Moral, ΠΙ, §6, in: ders.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Einzelbänden, hg. v. Giorgio Colli, Bd.5, München u.a. 1980, S. 347.

Palastrevolution: Kant, Schiller und die Geburt einer Ästhetik

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zugleich Beziehung auf das Begehrungsvermögen". Demnach muß die verpönte Erwägung, „ob uns oder irgend jemand an der Existenz der Sache irgend etwas gelegen ist", im Sinn eines positiven Interesses verstanden werden. „Mißfallen" ist als ästhetisches Urteil möglich (§5, S.279), wird aber nicht als Form des Interesses genannt. Dem „Begehrungsvermögen" entspricht eben nur ein an sich Begehrenswertes. Beim Palast hingegen fehlt in Kants Darstellung von vornherein das Moment des Begehrens, das positive Interesse muß also nicht erst ausgeschaltet werden. In dreifachem Ansatz stellt Kant jedes derartige Interesse an diesem Gegenstand in Abrede. Erst beim dritten rhetorischen Ansatz wird auch nur flüchtig an die Möglichkeit gedacht, er könnte sich - auf ein „unbewohntes Eiland" verschlagen - einen Palast wünschen. So scheint die Voraussetzung für die ästhetische Betrachtung bereits gegeben, bei der jedwedes .Interesse' ja fehlen soll. Aber der Schein trügt. Denn die Formel „ich liebe nicht" bedeutet keine wertneutrale Abwesenheit von Neigung, sondern die Anwesenheit von Abneigung. Auch sonst ist in Kants Formulierungen ein negativer Affekt mit Händen zu greifen, etwa beim Wort „gleichgültig". Das Wort fällt zweimal. Nur beim zweiten Vorkommen aber ist das erforderte Fehlen von Interesse gemeint, das darin besteht, „nicht im mindesten für die Existenz der Sache eingenommen" zu sein. Das erste Mal bedeutet „gleichgültig" im Gegenteil - so sehr sind Kant die Begriffe durcheinandergekommen - ein förmliches Hindernis für die ästhetische Betrachtungsweise. Daher die anschließende Insistenz auf der reinen „Vorstellung des Gegenstandes", an die man sich einzig zu halten habe, „so gleichgültig [man] auch immer [...] sein mag". Durch die Konzessivform wird diese Art Gleichgültigkeit als unzulässig herausgestellt, sie bildet paradoxerweise ein starkes Interesse - an der Nicht-Existenz der Sache. Begehrt wird implizit deren Abschaffung. Eine solche negative Einstellung ist als Variante des Interessebegriffs logisch keineswegs ausgeschlossen, man müßte diesen nur breit genug fassen. Allein weder Kant noch seine maßgeblichen Kommentatoren scheinen sich dessen bewußt geworden zu sein, daß eine solche Variante hier vorliegt, und zwar an exponierter Stelle gleich am Anfang der Argumentation. Die Interpreten scheinen ausschließlich an ein verpöntes positives Interesse zu denken, wie es etwa Ernst Cassirer im Vorspann zu seiner Behandlung der PalastStelle als „dasjenige an dem Dasein des Dinges, an der Hervorbringung oder Existenz der betrachteten Sache" glossiert. Der (von mir hervorgehobene) Zusatz zu Kants Darstellung zeigt, daß Cassirer an dem negativen Affekt vorbeigelesen hat.4 Das dürfte am Sog der Kantschen Sittenlehre liegen, bei 4

Ernst Cassirer: Kants Leben und Lehre (Ergänzungsband zu der in Anm. 1 genannten Werkausgabe), Berlin 1923, S. 332. Daß ein so maßgeblicher Kenner die Unstimmigkeiten

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der es der positive Affekt „Neigung" ist, der die Reinheit moralischer Handlungen in Frage stellt. Die Parallele drängt sich allzu leicht auf, weil es sich in beiden Fällen um die Verleugnung natürlicher Impulse handelt, die in Kants Denken schlechthin tiefe Wurzeln hat. Der negative Affekt der Palast-Passage ist auch an einer Reihe von abschätzigen Einzelformulierungen unübersehbar - „bloß für das Angaffen gemacht", „Eitelkeit der Großen", „entbehrliche Dinge"- nebst dem pathetischen Wort vom „Schweiß des Volkes". So führt der Eingang zu Kants ästhetischer Theorie in starkem Kontrast zur strengen Abstraktion, die sonst in der Kritik der Urteilskraft vorwiegt, mitten in die gesellschaftliche Wirklichkeit des 18. Jahrhunderts hinein und zeichnet diesen Hintergrund - wiederum im Kontrast zu Kants sonstiger Praxis - in breiter Ausführung ein. Die vertrauten Embleme und Doktrinen der Zeit lassen sich nicht vermissen: der edle Wilde, der die Werte der europäischen Großstadt in Frage stellt; dessen Verfechter Rousseau mit seiner Zivilisationskritik; die Hütte als Ursitz von präsozialer Unschuld und Bescheidenheit, hier im Fahrwasser der Robinson-Romantik auf eine wüste Insel verpflanzt. Der Abschnitt bietet eine Vignette der Zeit und ihres schwelenden subversiven sozialpolitischen Empfindens. Von solchen starken Ressentiments aber - daran ist Kant gelegen - darf beim ästhetischen Urteil keine Spur sein. So kann der in dieser Passage Sprechende entweder als ein rein hypothetisches Ich aufgefaßt werden, das bei dem ihm abverlangten Urteil die Klischees der Zeit von sich gibt und dafür auch leicht ironisiert wird („auf gut Rousseauisch schmälen"); oder aber als ein anderes Ich von Kant selber, der auch politischer Denker und engagierter Aufklärer war. Hatte er doch ausgerechnet in seinem erkenntniskritischen H a u p t w e r k , der Kritik der reinen Vernunft,

zur umfassenden K r i t i k an den

Institutionen der Gesellschaft aufgerufen: Unser Zeitalter ist das eigentliche Zeitalter der Kritik, der sich alles unterwerfen muß. Religion, durch ihre Heiligkeit, und Gesetzgebung, durch ihre Majestät, wollen sich gemeiniglich derselben entziehen. Aber alsdenn erregen sie gerechten Verdacht wider sich und können auf unverstellte Achtung nicht Anspruch machen, die die

an der Palast-Passage nicht merkt, die hier zur Frage stehen, läßt glauben, daß sie in der Diskussion generell keine Rolle gespielt haben. Freilich: daß dem so ist, kann der NichtPhilosoph bei der unübersehbaren Kantliteratur höchstens vermuten. Die Vermutung wird aber verstärkt, wenn eine heutige Autorität ebenfalls nicht zu merken scheint, daß an der Palast-Stelle etwas Fragwürdiges ist. Vgl. Paul Guyer: Kant and the Claims of Taste, Harvard University Press 1979, S. 176.

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Vernunft nur demjenigen bewilligt, was ihre freie und öffentliche Prüfung hat aushalten können.5 Wie dieses Programm - allerdings sehr behutsam, Schritt für Schritt - durchzuführen sei, war dann in Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? skizziert worden. Ob nun als hypothetisches oder als eigenes Alternativ-Ich: Kant mußte wissen, daß das Phänomen Palast die dem deutschen bürgerlichen Publikum zugemutete interesselose Betrachtung auf eine harte Probe stellte. Denn einmal die Zweckbedingtheit der Baukunst konzediert, lag für jedermann der spezifische Zweck eines Palasts auf der Hand, der nicht nur darin bestand, auch Fürsten ein Obdach zu bieten, sondern darin, die Gegenwart absolutistischer Macht zur Schau zu stellen. Und zwar führten im zerstückelten Deutschland die vielen Paläste, Schlösser und Residenzen dem Untertanen eine sehr viel konkretere Lokalmacht vor Augen, als etwa in England, wo die ländlichen Prunkbauten des Adels im Verhältnis zur monarchischen Zentralherrschaft eines vereinigten Königreichs keine solchen Machtballungen, sondern höchstens eine untergeordnete, diffuse gesellschaftlich-wirtschaftliche Macht bildeten. Die im vollen Wortsinn naheliegende Signifikanz der deutschen Machtparzellen wird bei Kant ja auch angedeutet, als er von dem Bezug spricht, „worin [er] von der Existenz des Gegenstands abhänge". Wie richtig Kants Vignette war, und wie ein mündiger Bürger im breiten gesellschaftlichen Zusammenhang auf den Palast reagierte, zeigt ein Text des jungen Schiller, der wie nur einer „von der Existenz des Gegenstands" Palast hatte „abhängen" müssen. Der Brief eines reisenden Dänen, fünf Jahre vor Erscheinen der Kritik der Urteilskraft geschrieben, handelt hauptsächlich vom Mannheimer Antikensaal. Vorausgeschickt aber wird eine Seite über Natur und Kunst in Süddeutschland, die nach idyllischem Anfang bald grell ins 5

Vorrede zur „Kritik der reinen Vernunft", in: Kants Werke (s. Anm. 1), Bd. 3, S.7. Wie sehr Kant auch und gerade seine (Gegen-)Metaphysik als grundlegend für das praktische Projekt der Aufklärung verstand, erhellt aus zwei durch zwanzig Jahre getrennte Briefstellen. Vgl. an Moses Mendelssohn, 8. April 1766: J c h bin so weit entfernet die Methaphysik selbst, obiectiv erwogen, vor gring [sie!] oder entbehrlich zu halten daß ich vornehmlich seit einiger Zeit nachdem ich glaube ihre Natur und die unter den Menschlichen Erkenntnissen eigenthümliche Stelle einzusehen überzeugt bin daß so gar das wahre und dauerhafte Wohl des Menschlichen Geschlechts auf ihr ankomme, eine Anpreisung die einem jeden andern als Ihnen phantastisch und verwegen vorkommen wird". Und an Johann Bering, 7. April 1786: „Fahren Sie fort, teuerster Mann, Ihre jugendliche Kraft und das schöne Talent, das Ihnen anvertraut ist, auf die Berichtigung der Ansprüche der ihre Grenzen so gern überschreitenden spekulativen Vernunft anzuwenden [...] Sein Vermögen und doch zugleich die Grenzen seines Gebrauchs bestimmt erkennen, macht sicher, wacker und entschlossen, zu allem, was gut und nützlich ist...", Kants Werke (s. Anm. 1), Bd.9, S.57 und 295.

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andere Extrem umschlägt. Schillers fiktiver Däne hat „die herrliche Schöpfung im glücklichen Süden genossen", die neben den Naturfriichten auch „die göttlichen Früchte des Genies und der Begeisterung" zeitige. Diese Werke der Kunst machten auf ihn aber einen höchst zwiespältigen Eindruck: Ich habe vielleicht das höchste der Pracht und des Reichthums gesehen. Der Triumph einer Menschenhand über die hartnäckige Gegenwehr der Natur überraschte mich öfters - aber das nahe wohnende Elend steckte bald meine wollüstige Verwunderung an. Eine hohläugige Hungerfigur, die mich in den blumigten Promenaden eines fürstlichen Lustgartens anbettelt - eine sturzdrohende Schindelhütte, die einem pralerischen Pallast gegenüber steht - wie schnell schlägt sie meinen auffliegenden Stolz zu Boden! Meine Einbildung vollendet das Gemähide. Ich sehe jezt die Flüche von Tausenden gleich einer gefräßigen Würmerwelt in dieser großsprechenden Verwesung wimmeln - Das große und reizende wird mir abscheulich. Ich entdecke nichts mehr als einen siechen hinschwindenden Menschenkörper, dessen Augen und Wangen von fiebrischer Rothe brennen, und blühendes Leben heucheln, während daß Brand und Fäulung in den röchelnden Lungen wüthen. Diß, mein Bester, sind so oft meine Empfindungen bei den Merkwürdigkeiten, die man in jedem Land einem Reisenden zu bewundern gibt. Ich habe nun einmal das Unglück, mir jede in die Augen fallende Anstalt in Beziehung auf die Glückseligkeit des Ganzen zu denken, und wie viele Größen werden in diesem Spiegel so klein - wie viele Schimmer erlöschen!6 Ein Jahr später findet sich derselbe Kontrast von Größe und Gemeinwohl auch bei Goethe, diesmal gepaart mit dem Kontrast Neuzeit-Antike. An den Resten R o m s sehe man die „Sorge" der Alten „fürs Volk, fürs Allgemeine [...] Wasserleitungen, Bäder, Theater, Amphitheater, Rennbahn, Tempel! U n d dann die Paläste der Kaiser" - an denen anscheinend nichts auszusetzen ist. Daß aber das neuzeitliche Rom mit den Steinen des alten gebaut wurde, erlaubt einen doppelbödigen Kommentar: „Alle neue Paläste sind auch nur geraubte und geplünderte Teilgen der Welt - ich mag meinen Worten keine weitere Ausdehnung geben" 7 - was Goethe durch diese Verwahrung eben doch tut, freilich nur im Privatbrief an den engsten Freund und als diskret unauffällige Implikation. Hier spricht der resignierte Hof- und Geschäftsmann, der nach zehn Jahren Weimarer Verwaltungserfahrung sich nicht

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Friedrich Schiller: Brief eines reisenden Dänen. (Der Antikensaal in Mannheim), in: Schillers Werke. Nationalausgabe, Bd. 20: Philosophische Schriften. Erster Teil, unter Mitwirkung v o n H e l m u t K o o p m a n n hg. v. Benno von Wiese, Weimar 1962, S. 101. Weitere Verweise auf diese Ausgabe im Text mit N A , Band und Seitenzahl; im Original Gesperrtes wird kursiv wiedergegeben.

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A n Knebel, 17. N o v e m b e r 1786, in: Goethes Briefe. Hamburger Ausgabe in 4 Bänden, Bd.II: Briefe der Jahre 1786-1805, textkritisch durchgesehen und mit Anmerkungen versehen von Karl R o b e r t Mandelkow, H a m b u r g 1964, S. 22 f.

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mehr wie in der Jugend zutraut, „den Menschen Palläste [sic!] zu bauen", man habe ja „alle Hände voll zu tun, um ihren Mist beiseite bringen zu können."8 Durch die Figur des fiktiven Dänen hingegen spricht der noch ungebrochene Protestwille eines radikalen Kulturkritikers und politischen Moralisten, der bereits die ökonomischen (Anti-)Thesen eines Karl Marx vorwegnimmt.9 Es spricht übrigens auch der gelernte Mediziner, dem die Motive Krankheit und Diagnose als apokalyptische Metaphern in die Feder fließen. Zwar wird im weiteren Verlauf des Textes ein Machthaber, der Sammlungsgründer Karl Theodor von der Pfalz, als der „kluge und patriotische Kurfürst" gelobt, aber eben nur als Kontrastfigur mit Seltenheitswert. Dadurch wird der Eingang des Schillerschen Textes nicht abgeschwächt, der vielmehr in gedrängter Vehemenz auf den Begriff bringt, was in der Literatur der Zeit auf Schritt und Tritt anzutreffen ist.10 Denn neben dem ungenannten aber unschwer zu erratenden süddeutschen Exemplar steht eine Reihe bekannterer literarischer Paläste, in deren Sälen und Antichambren Laster, Intrige, Unrecht und Verrat zu Hause sind: Guastalla-Dorsalo in Lessings Emilia Galotti, der namenlose Ort der Kosinsky-Handlung in Schillers Räubern, der „Hof eines deutschen Fürsten" in Kabale und Liebe, Aranjuez und der Escorial in Don Karlos, der Culenburgische Palast in Goethes Egmont, der Hof der Schahs von Scheschian, wo Danischmend in Wielands Goldenem Spiegel sein immer bedrohtes Philosophendasein führt: alles imaginierte oder historische Stätten, die dem deutschen Publikum weder bloß imaginär noch bloß historisch vorgekommen sein dürften, weil sie für die Wirklichkeiten seiner Gegenwart transparent waren.11 Hinzu kamen Texte, die diese Gegenwart un8

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An Lavater, 5. März 1780, in: Goethes Briefe. Hamburger Ausgabe in 4 Bänden, Bd.I: Briefe der Jahre 1764-1786, textkritisch durchgesehen und mit Anmerkungen versehen von Karl Robert Mandelkow unter Mitarbeit von Bodo Morawe, Hamburg 1962, S. 297. „Allerdings, die Arbeit produziert Wunderwerke für die Reichen, aber sie produziert Entblößung für den Arbeiter. Sie produziert Paläste, aber Höhlen für den Arbeiter. Sie produziert Schönheit, aber Verkrüppelung für den Arbeiter. [...] Sie produziert Geist, aber sie produziert Blödsinn, Kretinismus für den Arbeiter." Karl Marx: Ökonomisch-philosophische Manuskripte, in: ders./Friedrich Engels: Gesamtausgabe (MEGA), 89 Bde., Berlin 1975-1991, Bd. 3, S. 84. Der Dänenbrief gehört zu den in der Kritik vernachlässigten Texten Schillers. Als Stichprobe: in Emil Staigers Schiller-Studie kommt er überhaupt nicht vor. Er fehlt ebenfalls im interessanten Essay-Band Schiller und die höfische Welt, hg. v. Achim Auernhammer u. a., Tübingen 1990. Die kurze Erwähnung bei Benno von Wiese gilt nur der Schilderung der Mannheimer Antikensammlung. Was im Motto zum „Goldenen Spiegel" explizit wird: „Inspicere tanquam in speculum jubeo". Der vollständige Wortlaut der Verse 414 f. der Terenz-Komödie „Adelphi" fordert dazu auf, an fremden Leben ein Beispiel zu nehmen - „inspicere [...] in vitas omnium atque ex aliis sumere exemplum sibi."

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mittelbar aufs Korn nahmen: Bürgers Der Bauer an seinen durchlauchtigen Tyrannen, Schubarts Fürstengruft, Schillers Die schlimmen Monarchen und der wortwörtlich apokalyptische Schlußteil des achtzehnten Gesangs von Klopstocks Messias, ein Jüngstes Gericht der „bösen Könige" (Vers 682), das der große Barde den Großen dieser Erde, angefangen mit Friedrich Π., bekanntlich gern vorzulesen pflegte.12 So waren deutsche Schriftsteller zum Zeitpunkt, da Kants ästhetische Reflexionen erschienen, längst dabei, die Machtverhältnisse ihrer Gesellschaft darzustellen und das von Kant 1781 angekündigte bzw. geforderte „Zeitalter der Kritik" mit anderen Mitteln fortzusetzen. Ja eigentlich hat auch Kant selber dem Gesamtbild einen kleinen Tupfen hinzugefügt, denn in der Kritik der praktischen Vernunft von 1788 setzt er als ethische Nagelprobe den Fall, jemandem würde sein Fürst, „unter Androhung der [...] unverzögerten Todesstrafe" zumuten, „ein falsches Zeugnis wider einen ehrlichen Mann, den er [d. h. der Fürst] gern unter scheinbaren Vorwänden verderben möchte, abzulegen".13 Bei aller Fiktivität des Beispiels ist es aufschlußreich genug, daß dem Philosophen ein derartiges, nicht einmal historisch distanziertes Szenario beikommen konnte. (Übrigens wird ironischerweise erst der politische Heine Kants Unterscheidung von Macht und Schönheit machen.)14 Was Kant übrigens von den genannten literarischen Werken gehalten, ja ob er sie überhaupt zur Kenntnis genommen hat, ist schwer auszumachen, denn in seinem Exkurs über Dichtkunst - der er übrigens „den höchsten Rang" unter den Künsten zuweist (§53, S.402) - nennt er keine Werktitel, sondern nur Werktypen. Er spricht sich zwar prinzipiell für Affekte „von der wackern Art" aus, die „das Bewußtsein unserer Kräfte, jeden Widerstand zu überwinden [...] rege macht", verwirft dagegen Affekte „von der schmelzenden Art", wie sie „Romane" und „weinerliche Schauspiele" hervorbringen. Aber die erwünschte „rüstige Entschlossenheit" soll sich offenbar nur nach innen wenden und der „Uberwindung der Neigungen" dienen. Man befindet sich noch immer auf rein innerpsychisch-moralischem Boden. Als 12

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14

Friedrich Gottlieb Klopstock: Ausgewählte Werke, hg. v. Karl August Schleiden, München 1962, S. 697 f. Kritik der praktischen Vernunft, Erster Teil, I. Buch, 1. Hauptstück §6, in: Kants Werke (s. Anm. 1), Bd. 5, S.35. Vgl. Heinrich Heine: Deutschland. Ein Wintermärchen, im Hannover-Caput XIX, gegen den Schluß zu: „Besonders gefiel mir ein großer Platz / Umgeben von stattlichen Häusern; / Dort wohnt der König, dort steht sein Palast, / Er ist von schönem Aeußern. / (Nemlich der Palast.)", in: ders.: Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke, Bd. 4: Atta Troll. Ein Sommernachtstraum. Deutschland. Ein Wintermärchen, bearbeitet v. Winfried Woesler, Hamburg 1985, S. 134. - Daß Georg Büchner mit dem Motto seines Hessischen Landboten: „Friede den Hütten! Krieg den Palästen!" voll und ganz im politischen Bereich steht, muß nicht erst gesagt werden.

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Kant sich dann doch nach außen wendet und auf „stürmische Gemütsbewegungen" zu sprechen kommt, die „mit Ideen, die ein gesellschaftliches Interesse enthalten, verbunden" sind, heißt es kritisch, sie könnten „keinesweges auf die Ehre einer erhabenen Darstellung Anspruch machen", es sei denn, sie wiesen für den Zuschauer moralisch über sich hinaus (§29, S.344-46). Ohne Klarheit darüber, welche Werke Kant im Auge hatte, läßt sich nicht sagen, ob er hier die zeitgenössische politische Dramatik im Auge hat, und wenn schon, ob es sich um eine pauschale Verurteilung oder eine differenzierte Beurteilung dieses Korpus handelt. So oder so wird aber die Kluft deutlich sichtbar, die zwischen Werken mit .gesellschaftlichen' Themen und einer Ästhetik des „Wohlgefallens ohne Interesse" klaffen mußte und muß. Mithin wirkt Kants Ästhetik im Gegenkurs zu seinen der Aufklärung verpflichteten politischen Schriften - doch wohl ohne alle bewußt konservative Absicht zeitabgewandt, ja fast reaktionär; inwiefern sich diese Ästhetik auch so ausgewirkt haben mag, läßt sich so genau nicht ermessen. Zumindest Schopenhauer wird sich später überzeugen lassen, daß die „ästhetische Betrachtungsweise" alle Standesunterschiede aufhebt, indem sie uns „aus dem endlosen Strohme des Wollens heraushebt", in einen Zustand „ohne Interesse" versetzt und so eine „reine Kontemplation" herbeiführt. Es sei dann „einerlei, ob man aus dem Kerker oder aus dem Palast die Sonne untergehn sieht."15 Freilich hatte sich in diesen Jahren die künstlerische Reaktion auf jene deutschen Verhältnisse, deren Brennpunkt und Emblem der Palast war, zusehends über ein bloßes „Rousseauisch schmälen" hinaus entwickelt, mit dem es gewiß weder künstlerisch noch politisch getan gewesen war. Schiller selber, der in seinen dichterischen Anfängen eher halbgroteske Satiren auf die Macht schrieb, hatte allmählich zu einer Darstellungsweise gefunden, bei der auch Bösewichter wie Alba oder Domingo, anstatt nur Karikaturen zu sein wie seinerzeit Wurm und von Kalb, als glaubwürdige Menschen auftraten. Selbst der historische Erztyrann Philipp von Spanien wurde unter Schillers Händen anscheinend ungewollt zum Objekt des Mitleids, avancierte zeitweise sogar zur Zentralfigur der Tragödie: die Moral von der Geschichte heißt, am Ende ist auch der Statthalter der Tyrannei deren Opfer.16 Karlos und Posa, die Märtyrer einer verfrühten Aufklärung, werden darum nicht preisgegeben. Vielmehr wird eine Ausgewogenheit erreicht, die das soziale Drama zum möglichen Gegenstand eines nicht unbedingt nur „parteilichen" 15

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Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung. Drittes Buch, §38, in: ders.: Sämtliche Werke, Bd. 2, hg. v. Arthur Hübscher, Wiesbaden 1965, S. 230 ff. „Wenn dieses Trauerspiel schmelzen soll, so muß es - wie mich däucht - durch die Situation und den Karakter König Philipps geschehen. Auf der Wendung, die man diesem gibt, ruht vielleicht das ganze Gewicht der Tragödie." Vorwort in der Rheinischen Thalia (NA 6, 345).

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(§2) Urteils macht - immerhin eine gewisse Konvergenz von dichterischer Praxis und ästhetischer Theorie der Zeit. Reichte diese Konvergenz, um Kant und Schiller - unbekannterweise - miteinander zu versöhnen? Denn schließlich sollte Schiller bald Kantianer werden...

II. Mit Maßen aber. Zwar sind Schillers Engagement als Kant-Leser und seine Bewunderung für Kants denkerische Leistung unübersehbar. Aber an Schillers erstem größeren ästhetischen Versuch, den Rallias-Briefen, fällt zweierlei auf: einmal die Uneinigkeit mit Kant, die wiederholt zum Vorschein kommt, zum anderen das untergründige Fortbestehen eines politischen Modells der Freiheit und Gleichberechtigung. Gemeinhin heißt es, Schiller habe seine Ästhetik auf Kantschen Grundlagen aufgebaut. Gewiß, er ist von Kants Argumenten ausgegangen, er verhält sich jedoch immer kritisch zu dessen Schlüssen. Das Kallias-Projekt ankündigend, glaubte Schiller, „den objectiven Begriff des Schönen", mithin auch den des Geschmacks, „an welchem Kant verzweifelt [...] gefunden zu haben" (an Körner, 21. Dezember 1792). Im Text selbst wird entsprechend gleich eingangs der Gedanke abgelehnt, daß „der Geschmack immer empirisch bleiben" müsse, „so wie Kant es für unvermeidlich hält" (NA 26, 175). Wichtiger noch: Kants grundsätzliche Unterscheidung von „freier" und „adhärierender" Schönheit, die zur Folge hat, daß abstrakten Formen vor Naturformen, der Arabeske vor dem menschlichen Körper der Vorzug gegeben wird, scheint Schiller „eigentlich [...] doch den Begriff der Schönheit völlig zu verfehlen". Denn diese besteht für ihn darin, die Natur des Objekts zu „überwinden", um zur Schönheit zu gelangen „und wie kann sie überwinden, wo kein Widerstand ist?" (NA 26, 176). Das heißt, ein in der Lebenswirklichkeit stehender Gegenstand muß zunächst einmal seinen Zweck erfüllen und dann noch obendrein ästhetisch gefallen; eine Arabeske dagegen hat sozusagen nichts anderes zu tun, als schön zu sein. Die .freie' Schönheit hat es allzu leicht. Hier spricht der Realist, der Schiller zutiefst war. Schiller lehnt jedoch alle Härte ab, die „das Gegenteil des Freien" ist und oft an moralischen Handlungen sichtbar wird, bei denen die „Sinnlichkeit des Menschen [...] unter dem Zwang des Gesetzes" steht. So sind in diesem Bereich der Wünschbarkeit von „Uberwindung" Grenzen gesetzt. Schiller sind sogar „ a f f e c t i o n i e r t e Handlungen" (also: Handlungen aus Neigung) lieber als solche, die „die Sinnlichkeit des Menschen [...] unter dem Zwang des Gesetzes zeigen" (NA 26, 217). Hier wird der Kontroverse mit dem Kantschen

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Moralrigorismus in Über Anmut und Würde präludiert. Ja Schiller geht so weit, „das Interesse [!] der Natur" gegen „die gebieterische Vernunft" zu verteidigen (NA 26, 217), und zwar unter der Rubrik „Freiheit in der Erscheinung ist eins mit der Schönheit".17 Was keineswegs nur abstrakt-formal gemeint ist. Hier kommt das zweite an den Rallias-Briefen auffallende Moment ins Spiel. Es wird deutlich, wie sehr sich für Schiller - für „uns, denen Freiheit das höchste ist" (NA 26, 198) - die ästhetische und die politische Bedeutung dieses Begriffs überschneiden bzw. unterstützen. Daß „jedes Wesen in der ästhetischen Beurteilung ein Selbstzweck" sei, dem „Zwang" oder „Gewalt" nicht angetan werden dürfen (ebd.), gibt dem Ästhetischen bereits eine ethische und fast schon eine gesellschaftlich-politische Färbung. Was dann vollends durch die Metapher erreicht wird, der gemäß „in der aesthetischen Welt [...] jedes Naturwesen ein freier Bürger [ist], der mit dem Edelsten gleiche Rechte hat, und nicht einmal um des Ganzen willen darf gezwungen werden sondern zu allem schlechterdings consentiren muß" (NA 26, 212). Hier wird zugleich - man schreibt ja 1793! an das ancien régime („mit dem Edelsten") und an das revolutionäre Frankreich gedacht, wo sich das Rousseausche Prinzip der volonté générale bereits tyrannisch auszuwirken begonnen hat. Freilich kann es bei Schiller ebenso politisch-metaphorisch auch heißen: „An jeder großen Composition ist es nöthig, daß sich das einzelne einschränke, um das Ganze zum Effekt kommen zu laßen." Gerade eine solche Einschränkung des Einzelnen, wenn es „eine Wirkung seiner Freiheit" ist, mache die Komposition schön (NA 26, 213). Es liegt nahe, das politische Modell, das in den Rallias-Briefen immer deutlicher herausgestellt wird, auf die Umstände vom Frühjahr 1793 zurückzuführen, in denen sie geschrieben wurden. Schillers geplantem Plädoyer für Ludwig XVI. waren die französischen Revolutionäre mit der Hinrichtung des Königs zuvorgekommen. Aus Ekel hatte sich Schiller bewußt von der Politik ab- und dem scheinbar ganz anderen Bereich der ästhetischen Theorie zugewendet, jedoch ohne daß die politischen und staatstheoretischen Gedankenfäden abgerissen wären. Sie haben sich vielmehr mit den ästhetischen verquickt, und zwar so eng, daß man fragen darf, ob überhaupt von Metaphorik zu sprechen ist oder ob wir es nicht vielmehr mit einer allumfassenden Anschauung zu tun haben, bei der kein Einzelbereich bildlich für den anderen gesetzt wird, sondern in allen Bereichen dasselbe Prinzip waltet.

17

Schillers positivste Äußerung zu Kant in den „Kallias"-Briefen gilt dem Doppelsatz, Natur sei schön, wenn sie aussehe wie Kunst und umgekehrt. Aber auch dieser Satz, „der von ungemeiner Fruchtbarkeit ist", könne, „wie ich denke, erst aus meiner Theorie seine Erklärung erhalten" (NA 26, 209).

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Einmal die allem zugrundeliegende Entsprechung vorausgesetzt, „die schöne Sinnenwelt" schlechthin sei „das glücklichste Symbol, wie die moralische seyn soll" (NA 26, 216), läßt sich an den ganzen Kreis der Erscheinungen Natur, Kunst, Sitten, Staatsformen - die eine Universalforderung stellen, sie sollen frei sein: Darum stört uns jede sich aufdringende Spur der despotischen Menschenhand in einer freyen Naturgegend, darum jeder Tanzmeisterzwang im Gange und in den Stellungen, darum jede Künsteley in den Sitten und Manieren, darum alles Eckige im Umgang, darum jede Beleidigung der Naturfreiheit in Verfassungen, Gewohnheiten und Gesetzen (NA 26, 216). In den Ä