"Es ist schwer einzuschätzen, wo man steht" - Jugend und Bibel: Jahrbuch für Kinder- und Jugendtheologie Band 2 9783766844644, 3766844644

Die Bibel gilt in der Arbeit mit Jugendlichen nach wie vor als »schwieriges Thema«: zu weit weg von der Lebenswelt Jugen

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German Pages 168 Year 2018

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Table of contents :
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»Es ist schwer einzuschätzen,wo man steht«
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Inhalt
Einleitung
Thomas Schlag
Gudrun Guttenberger
Christina Hoegen-Rohls
Heidrun Dierk
Nele Spiering-Schomborg
Anika Loose
Christian Butt
Henning Hupe
Nadja Troi-Boeck
Jeroen Hendrickx / Armin Kummer / Annemie Dillen
Michael Fricke
Frank M. Lütze
Axel Wiemer
Thomas Weiß
Gerhard Büttner
Die Autorinnen und Autoren
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"Es ist schwer einzuschätzen, wo man steht" - Jugend und Bibel: Jahrbuch für Kinder- und Jugendtheologie Band 2
 9783766844644, 3766844644

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Theologisieren mit Kindern und Jugendlichen Herausgegeben von Anton A. Bucher, Gerhard Büttner, Veit-Jakobus Dieterich, Petra Freudenberger-Lötz, Christina Kalloch, Friedhelm Kraft, Oliver Reis, Bert Roebben, Hanna Roose, Martin Rothgangel, Thomas Schlag und Martin Schreiner

»Es ist schwer einzuschätzen, wo man steht« Jugend und Bibel

Jahrbuch für Kinder- und Jugendtheologie Band 2 Herausgegeben von Hanna Roose, Gerhard Büttner und Thomas Schlag

Calwer Verlag Stuttgart

eBook (pdf): ISBN 978–3–7668–4466–8 © 2018 by Calwer Verlag GmbH Bücher und Medien, Stuttgart – Alle Inhalte, insbesondere Texte, Fotografien und Grafiken sind urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Wiedergabe, Kopieren und Bearbeiten der Datei, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung des Verlags.

ISBN 978–3–7668–4464–4 © 2018 by Calwer Verlag GmbH Bücher und Medien, Stuttgart Alle Rechte vorbehalten. Wiedergabe, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung des Verlags. Umschlaggestaltung: Karin Sauerbier, Stuttgart Satz und Herstellung: Karin Class, Calwer Verlag Druck und Verarbeitung: Mazowieckie Centrum Poligrafii – 05-270 Marki (Polen) – ul. Słoneczna 3C – www.buecherdrucken24.de E-Mail: [email protected] Internet: www.calwer.com

Öhler Jugend und Schöpfung – historische und neutestamentliche Anmerkungen

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Inhalt

Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 I. Hermeneutische Grundlagen

Thomas Schlag Jugendtheologie und die Bibel – hermeneutische Zwischenüberlegungen im Horizont digitaler Lebens- und Kommunikationskulturen junger Menschen. . . . . 12 Gudrun Guttenberger Neuere hermeneutische Tendenzen in der neutestamentlichen Fachwissenschaft und ihre Relevanz für die Bibeldidaktik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 II. Fächervergleichende Perspektiven

Christina Hoegen-Rohls Literarisches Lernen im Deutschunterricht und Biblisches Lernen im jugendtheologisch ausgerichteten Religionsunterricht – grundsätzliche Erwägungen zur Textarbeit im Fächervergleich . . . . . . . . . . . . . . . . 38 Heidrun Dierk »Wo Bibel draufsteht, muss auch Bibel drin sein«: Die Apostelgeschichte als Quelle historischen und / oder religiösen Lernens oder die Frage, wie der hermeneutische Zirkel die Textarbeit präjudiziert und leitet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 III. Unterschiedliche Zugänge zu biblischen Texten mit Jugendlichen

Nele Spiering-Schomborg Zwischen den Zeilen. Jugendliche lesen Exodus 1: Theoretische Zugänge, bibeldidaktische Impulse und empirische Ausschnitte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 Anika Loose »(…) wenn man sich da an den anderen orientiert, dann findet man immer jemanden, der sich schlechter als man selbst benimmt und der es wahrscheinlich eher verdient hätte, in die Hölle zu kommen (…)« – Theologisieren als Einübung in einen nicht-fundamentalistischen Umgang mit der Bibel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70

6 Christian Butt Ist an Gottes Segen allen gelegen? – Hamburger Jugendliche interpretieren »Segen«. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 Henning Hupe Szenen des Unverfügens – geöffnete Räume, erschütterte Ordnung Theologisieren mit Jugendlichen als Impro-Tanz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 Nadja Troi-Boeck »Dann kann man das Gesicht wieder anschauen, ich leb wieder!« Jugendliche Kommunikation über die Auferstehungsgeschichte und bibeldidaktische Konsequenzen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 Jeroen Hendrickx / Armin Kummer / Annemie Dillen Godly Play und die Bibelmüdigkeit flämischer Jugendlicher. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 IV. Bekannte und unbekannte biblische Texte mit Jugendlichen erschließen

Michael Fricke Jugendliche auf dem Weg zu Hiob. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 Frank M. Lütze Die Lichterkrippe als Bekenntnis Beobachtung zu Weihnachtswissen und -deutungen ostdeutscher Jugendlicher. . . . . .132 Axel Wiemer »Meistens glauben wir in Ruhe an Gott oder Jesus.« – Eine siebte Realschulklasse begegnet dem Galaterbrief. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 Thomas Weiß Die Frage nach Auferstehung. Theoretische Voraussetzungen und unterrichtspraktische Modellierungen zu Markus 12,18–27. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 V. Rückblick

Gerhard Büttner Jugendlicher Umgang mit der Bibel – eine Matrix für die Jugendtheologie?. . . . . 163 Die Autorinnen und Autoren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168

Einleitung

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Einleitung

Das Thema »Bibel« in den Kontext von Jugendtheologie zu stellen bedeutet, den Rezeptionsweisen Jugendlicher im Sinne einer »Theologie von Jugendlichen« einen hohen Stellenwert einzuräumen, ohne sie absolut zu setzen. Um produktive Lernprozesse anzuregen, bedarf es einer »Theologie für Jugendliche«, die sich im Fall der Bibel wesentlich aus den Bibelwissenschaften speist. Ziel ist dann nicht die Übernahme einer bestimmten (fachexegetischen) Position, sondern eine begründete Positionalität im Gespräch (Theologie mit Jugendlichen). Aus bibelwissenschaftlicher Sicht haben sich die Chancen für ein derartiges Gespräch in den letzten Jahrzehnten insofern verbessert, als synchrone, narrative Zugänge gegenüber den klassischen rein diachronen, historischen an Bedeutung gewonnen haben. Außerdem werden in den Bibelwissenschaften zunehmend (zumindest programmatisch) offenere Textmodelle vertreten, die mit einer gewissen Bedeutungsvielfalt von (auch biblischen) Texten rechnen. Auf Seiten der Jugendlichen ist weniger klar, wie die Chancen für einen fruchtbaren Dialog mit biblischen Texten stehen: Die Bibel gilt nach wie vor mit Blick auf Jugendliche als »schwieriges Thema«: zu weit weg von der Lebenswelt Jugendlicher, zu sperrig, zu antiquiert. Die »Jahrbücher für Kindertheologie« haben zum Thema »Kinder und Bibel« bisher drei Schwerpunktbände hervorgebracht (JaBuKi 2/2003; Sonderbände »Man hat immer ein Stück Gott in sich« AT 2004

und NT 2006). Die beiden Sonderbände nahmen bekannte und weniger bekannte Texte aus dem Alten und dem Neuen Testament als Ausgangspunkt. In den einzelnen Beiträgen wurde dann explorativ erhoben, welche Gedanken Kinder zu den jeweiligen Texten äußern. Gerhard Büttner und Martin Schreiner formulierten im Vorwort zum ersten Sonderband programmatische Weichenstellungen: Es gehe um das Anknüpfen an der Letztgestalt des (biblischen) Textes, eine stärkere Gewichtung rezeptionsästhetischer Ansätze, einen konstruktivistischen Zugriff, der Interesse an den Konstruktionswegen der RezipientInnen entwickelt, und eine dekonstruktive Perspektive, die damit rechnet, dass kindliche Zugriffe auf biblische Texte neue Deutungen hervorbringen. Im Vorwort zum zweiten Sonderband benannten Büttner und Schreiner das »Transduzieren«, also den Schluss vom Einzelfall auf den Einzelfall, als eine wesentliche Regel kindlicher Bibeldeutung. Bei der Unterstützung kindlicher Zugriffe gehe es darum, einen Prozess der Ko-Konstruktion von Erwachsenem und Kind zu initiieren, die Vernetzung von biblischen Erzählungen zu fördern und bestimmte Methodenschritte der historischen Bibelforschung nochmals zu gehen (z.B. im Hinblick auf Dubletten). Bei diesen Überlegungen war eine leitende Überzeugung, dass Kinder nicht einfach frei und unberechenbar assoziieren, sondern dass ihre »Alltagsexegesen« (vgl. C. Schramm) bestimmten methodischen Regeln folgen.

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Einleitung

Die Tagung »Jugend und Bibel«, die im März 2017 in Bochum stattfand, schloss an diese kindertheologischen Beobachtungen an und führte sie mit Blick auf Jugendliche weiter. Den Ausgangspunkt der in diesem Band veröffentlichten Tagungsbeiträge bilden dabei zwei Beobachtungen, die in einer gewissen Spannung zueinander stehen: Einerseits zeigen erste Untersuchungen aus dem Bereich der Christologie, dass viele Jugendliche die Unbefangenheit, mit der Kinder oftmals an gerade narrative biblische Texte herangehen, verloren haben (vgl. die Beiträge von Kraft und Roose im JaBuKi Sonderband: »Jesus würde sagen: Nicht schlecht!« 2011). Ihnen stehen aber offenbar noch kaum alternative Strategien des produktiven Umgangs mit biblischen Texten zur Verfügung. So erklärt sich eine gewisse Sprachlosigkeit, nicht selten gepaart ist mit einem Unbehagen im Umgang mit der Bibel, die dann als »überholtes«, »unglaubwürdiges« Buch abgestempelt wird. Andererseits ist aufgrund des Deutsch- und des Geschichtsunterrichts zu erwarten, dass Jugendliche im Vergleich zu Kindern stärker ausgeprägte Kompetenzen im Umgang mit literarischen Texten und historischen Quellentexten mitbringen. Aber wir wissen wenig darüber, wie bzw. ob sie diese in den Umgang mit biblischen Texten im Religionsunterricht einbringen. Gegenüber den drei Bänden der Jahrbücher für Kindertheologie gibt der vorliegende Band den hermeneutisch-methodischen Fragen deutlich mehr Raum. Er folgt im Aufbau nicht der klassischen Einteilung in Theologie von Jugendlichen, Theologie mit Jugendlichen und Theologie für Jugendliche, sondern diskutiert in einem ersten theoretischen Kapitel hermeneutische Grundlagen. Das zweite Kapitel wirft unter fächervergleichender Perspektive einen Blick auf den Deutsch- und den Geschichts-

unterricht. Die Kapitel drei und vier sind empirisch ausgerichtet. Im dritten Kapitel Block geht es um unterschiedliche Zugänge mit Jugendlichen zu biblischen Texten. Im vierten Kapitel leitet die Auswahl der (bekannten und unbekannten) biblischen Texte die Themenstellung. Ein Rückblick auf die Beiträge beschließt das Jahrbuch.

Kapitel 1: Hermeneutische Grundlagen

Thomas Schlag betont die Kontextualität aller Verstehensprozesse und skizziert diese auf einer mikroskopisch-individuellen, einer mesoskopisch-institutionellen und einer makroskopisch-gesellschaftlichen Ebene. Biblische Überlieferungen dürfen in unterrichtlichen Kontexten nicht unhinterfragt zum selbstverständlichen Bezugspunkt werden. Thomas Schlag differenziert die Verstehensbedingungen weitergehend nach Sprache, Raum und Autorität aus. Hier zeigt sich ein blinder Fleck in den bisherigen jugendtheologischen Überlegungen: die Auswirkungen der Digitalisierung. Durch sie verflüssigen sich die Kategorien Sprache, Raum und Autorität. Gudrun Guttenberger stellt vergleichend drei bibelhermeneutische Entwürfe (Oda Wischmeyer, Ulrich Luz und Gerd Theißen) vor und befragt sie auf ihre jeweilige bibeldidaktische Relevanz. Eine bibeldidaktische Hermeneutik müsse u.a. gesamtbiblisch ausgerichtet sein und die biblischen Texte unter dem Vorzeichen sowohl ihrer (historisch gewachsenen) Kanonizität als auch ihrer (modernen) Dekanonisierung lesen. In diesen Punkten erweist sich die Hermeneutik von Theißen als besonders anschlussfähig. Insgesamt sind gerade Hochschullehrende aufgefordert, ihre ei-

Einleitung

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gene Bibelhermeneutik zu entwickeln und immer wieder zu überdenken.

Kapitel 3: Unterschiedliche Zugänge zu biblischen Texten mit Jugendlichen

Kapitel 2: Fächervergleichende Perspektiven

Es folgen mehrere Vorträge zu unterschiedlichen Zugängen Jugendlicher zur Bibel: empirisch (N. Spiering), (nicht-) fundamentalistisch (A. Loose), interreligiös (C. Butt), dekonstruktiv (H. Hupe), konstruktiv (N. Troj-Boeck) oder über GodlyPlay (A. Dillen). Nele Spiering-Schomborg führt mit Jugendlichen Gespräche zu Exodus 1. Sie möchte anhand dieses biblischen Gewalttextes »Differenz-, Macht- und Gewaltverhältnissen gemeinsam mit Schülerinnen und Schülern auf die Spur … kommen«. Eine besondere Chance sieht sie darin, dass der Umweg über die Texte es den Jugendlichen ermöglicht, »persönliche Fragen, Erfahrungen und Einstellungen zur Geltung zu bringen, ohne die eigenen Lebenswelten und -bedingungen (explizit) thematisieren zu müssen.« Bei Exodus 1 betrifft das insbesondere Die Frage der Wahrnehmung von bzw. des Umgangs mit »Fremden« bzw. »Anderen«. Anika Loose zeigt anhand von Unterrichtssequenzen zum Gleichnis vom großen Weltgericht (Mt 25,31–45), dass der beim gemeinsamen Theologisieren eingenommene Habitus einer gebildeten Religion einen hermeneutischen Umgang mit dem biblischen Text unterstützt, der nichtfundamentalistisch ist. Insbesondere der Ausgang des Gesprächs, bei dem die Frage nach der Heilsgewissheit offengehalten wird, spiegelt einen souveränen Umgang mit dem biblischen Text wider. Christian Butt berichtet von einem Unterrichtsprojekt im interreligiösen Kontext des Hamburger Modells zum Thema Segen. Nach der Niederschrift erster Assoziationen

Christina Hoegen-Rohls beschäftigt sich in fächervergleichender Perspektive mit der Frage, ob bzw. inwiefern sich der (angeleitete) Umgang mit biblischen Texten vom Umgang mit literarischen Texten im Deutschunterricht unterscheidet – oder unterscheiden sollte? Sie betrachtet das Biblische Lernen als anschlussfähig an das Literarische Lernen und entwickelt im Anschluss an Kaspar Spinner sieben Aspekte Biblischen Lernens, die den spezifischen, kerygmatisch-religiösen Charakter biblischer Texte berücksichtigen. Heidrun Dierk geht der fächervergleichenden Fragestellung mit Blick auf den Geschichtsunterricht nach: (Wie) unterscheidet sich der Umgang mit biblischen Texten im Religionsunterricht vom Umgang mit historischen Quellentexten im Geschichtsunterricht? Sie wählt als Beispiel die Erzählung vom Aufstand der Silberschmiede aus Apg 19,23–40 und stellt die Frage, wie der hermeneutische Zirkel die Textarbeit präjudiziert und leitet. Dazu wird der Text einigen Schülergruppen als antike Quelle, anderen als biblische Erzählung präsentiert. Aufgrund der Beobachtungen erscheint es Dierck als fraglich, ob Schüler/innen in ihren Umgang mit biblischen Texten Kompetenzen aus dem Geschichtsunterricht einfließen lassen. Eine Konsequenz könnte darin bestehen, dass im Religionsunterricht die Gattungskompetenz der Lernenden im Umgang mit biblischen Texten gefördert werden muss, so dass sie biblische Texte auch als Reflexe auf historische Gegebenheiten wahrnehmen lernen.

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Einleitung

zum Segenswunsch beschäftigen sich die Oberstufenschülerinnen und -schüler mit zwei biblischen Texten zum Segen: dem aaronitischen Segenswunsch und der Jakobsgeschichte um den Segensbetrug. Abschließend sollen sie eigene Geschichten zum Thema Segen formulieren. Butt kommt zu dem Schluss, »dass die Auseinandersetzung mit den biblischen Texten in der Tat bei einigen, längst aber nicht allen Jugendlichen eine Veränderung und Weiterentwicklung des Segensverständnis bewirkt hat, die sie auf die eigene Lebenssituationen beziehen und anwenden konnten«. Henning Hupe problematisiert von Foucault her die (schulische) Subjektproduktion. Adoleszenz beschreibt er als »Situation des Zwischen«. Hier sieht er eine Strukturanalogie zur Jesus­gestalt des Markusevangeliums: »Die Jesus­gestalt des Markusevangeliums lässt sich also genauso zwischen Heilung und Verlust, zwischen Herz und Berührung, zwischen Phantasma und Zittern lesen, wie die Lebensumstände Adoleszenter …« Hupe plädiert dafür, in der unterrichtlichen Auseinandersetzung mit biblischen Texten Räume der Improvisation zu schaffen, bei denen die Lehrperson ihre Kontrollfunktion abgibt. So entstehen Räume des Theologisierens, die keine hierarchische Ordnung mehr kennen. Der Beitrag von Nadja Troi-Boeck widmet sich der Frage: Wie stellen Jugendliche im Umgang mit der Bibel Sinn her? Mithilfe der dokumentarischen Methode analysiert sie Gruppendiskussionen und beschreibt unterschiedliche Deutungsweisen: metaphorisch, rationalisierend und spielerisch. Als Schwierigkeiten beim Deutungsprozess benennt Orientierungsdilemmata und Hierarchisierungen innerhalb der Gruppe. Abschließend stellt Troi-Boeck die Frage, was theologische Kommunikation ist. Sie

stellt die kritische Frage, ob wir ein Reflexionsniveau erwarten, das einige Jugendliche von vornherein ausschließt, und plädiert dafür, »dass die Definition von theologischer Kommunikation Jugendlicher über den zentralen Aspekt der Reflexionsfähigkeit noch einmal überdacht wird«. Annemie Dillen berichtet von einer empirischen Studie zu Godly-Play mit 17–18-jährigen Schülerinnen und Schülern in Flandern. Bibeltexte waren in einer Gruppe die Erzählung von Abraham und Sara, in einer anderen das Gleichnis vom barmherzigen Samariter. Für die empirische Untersuchung waren zwei Fragestellungen leitend: zum einen, »ob Godly Play eine angemessene Methode der Bibeldidaktik im Religionsunterricht der Sekundarstufe darstellt«; zum anderen, »ob es sich dabei auch um ein Mittel handelt, der Bibelmüdigkeit, also dem mangelnden Interesse an der Bibel, unter flämischen Jugendlichen entgegenzuwirken«. Aufgrund der Ergebnisse schlägt Dillen u.a. vor, das »Fest« bei älteren Jugendlichen durch eine Phase der Meta-Reflexion zu ersetzen. Die Schülerinnen und Schüler empfanden Godly Play nicht als »zu katechetisch«. Godly Play konnte bei den Jugendlichen als neuer Zugang zu (alt-)bekannten Geschichten durchaus Interesse wecken.

Kapitel 4: Bekannte und unbekannte biblische Texte mit Jugendlichen erschließen

Dieses Kapitel geht von konkreten biblischen Texten oder Themen aus. Die Auswahl versucht, bekannte und unbekannte Texte und Themen zu mischen. Michael Fricke geht von der Vermutung aus, dass wir vielleicht zu viel voraussetzen,

Einleitung

wenn wir erwarten, dass Jugendliche das Hiobbuch möglichst selbstständig auslegen sollen. Deshalb beschreibt er eine »Vorfeld-Didaktik«, durch die erst mal einen Zugang zum Hiobbuch geschaffen werden soll. Die Hioberzählung wird »wertvoll«. Am Ende sind die Jugendlichen mit der Hiobgeschichte nicht fertig, sondern sie formulieren eigene Fragen, die an die Hiobgeschichte gestellt werden können. Die Fragen betreffen Gott ebenso wie den Umgang mit Scheitern und Schicksalsschlägen. Frank Lütze untersucht im kleinen Rahmen den Wissensstand und die Deutungen ostdeutscher Jugendlicher bezogen auf die christliche Weihnachtsgeschichte. Neben einer anschaulichen Analyse des Materials zeigt er auch religionspädagogische Konsequenzen auf. Lütze stellt fest, dass bei Jugendlichen durchaus Wissensbestände zur Weihnachtserzählung vorhanden sind. Als überraschend stuft er die Beobachtung ein, dass die Krippe mehrheitlich als Bekenntnisgegenstand wahrgenommen wird. Eine wesentliche Aufgabe des Religionsunterrichts sieht Lütze darin, »den religiösen Sitz im Leben von Traditionsstücken (wieder) zu entdecken«. Er geht zentral um die Erschließung der religiösen Relevanz der Weihnachtserzählung. Paulus zählt zu den Figuren, die im Religionsunterricht behandelt werden. Der thematische Fokus liegt dabei meist auf dem Leben des Apostels, die Textgrundlage bildet die Apostelgeschichte. Demgegenüber konzentriert sich der Beitrag von Axel Wiemer auf den Galaterbrief und damit auf zentrale Aspekte paulinischer Theologie. Wiemer berichtet von einem Unterrichtsversuch in einer siebten Realschulklasse zum Thema »Die Selbstfin-

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dung des Christentums«. Der wesentliche didaktische Zugriff liegt in der Fokussierung auf diesen Findungsprozess, der Jugendliche zum Fragen animiert. Streitgespräche gehören bibeldidaktisch einer Gattung an, die klassischerweise im Schatten von Gleichnissen und Wundererzählungen steht. Gerade weil es der Jugendtheologie auch um die Ausprägung eines diskursiven, argumentativen Stils geht, ist ein Blick auf diese Gattung aber lohnend. Thomas Weiß betrachtet unter diesem Aspekt die Sadduzäerfrage zur Auferstehung aus Mk 12,18–27 und entwirft ein Unterrichtsszenario für eine 8. Klasse. Argumentieren umfasst nach seinem Verständnis die Dimensionen des Wissens, des Deutens und der Partizipation.

Kapitel 5: Rückblick

Gerhard Büttner beleuchtet die Beiträge rückblickend unter einem alternativen Gliederungsschema. Er geht von der Einsicht aus, dass Jugendliche – anders als Kinder – keine »geborenen Theisten« seien. Daher sei es kaum möglich, im Bereich der Jugendtheologie inhaltlich strukturierte »Landkarten des Denkens« zu entwerfen. Vielmehr rückt der jeweilige Verstehensrahmen in den Fokus. An dieser Stelle berühren sich die Überlegungen von Gerhard Büttner mit denen von Thomas Schlag in diesem Band. Büttner verortet die Tagungsbeiträge in einer Matrix, die sich zwischen den Polen von produktionsund rezeptionsorientiert sowie von normativ und deskriptiv aufspannt. Hanna Roose, Gerhard Büttner und Thomas Schlag

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Hermeneutische Grundlagen

Thomas Schlag Jugendtheologie und die Bibel – hermeneutische Zwischenüberlegungen im Horizont digitaler Lebensund Kommunikationskulturen junger Menschen Die im Folgenden angestellten hermeneutischen Zwischenüberlegungen zum Verhältnis von Jugendtheologie und Bibel werden zum einen vor dem Hintergrund jugendtheologischer Forschung vorgenommen, die sich in den vergangenen Jahren stetig intensiviert und ausdifferenziert hat. Zum anderen werden diese Überlegungen in den weiterreichenden Horizont digitaler Lebensund Kommunikationskulturen junger Menschen gerückt. Dabei wird keine Gesamtschau der bisherigen Debatten oder Erkenntnisleistungen des jugendtheologischen Forschungsfeldes angestellt. Für einen Gesamtüberblick über den Stand der Jugendtheologie und die damit verbundenen Problemanzeigen sei auf die im JaBuKiJu 1 dokumentierten aufschlussreichen Zwischenbilanzen und religionspädagogischen Einordnungen verwiesen.1 Auch die verschiedentlich geäußerte Kritik am jugendtheologischen Ansatz und die Erwiderungen darauf stehen nicht im Zentrum der vorliegenden Überlegungen.2 Vielmehr sollen durch den thematischen Fokus auf die Bibel und die damit verbundene Kommunikationspraxis Grundeinsichten und Desiderate jugendtheologischer Forschung und Bildung benannt werden.

1. Einführung in die Thematik

Von Anfang an stellt die biblische Überlieferung eine entscheidende Referenzgröße für die Jugendtheologie dar.3 Wie schon auf dem Feld der Kindertheologie ist vielfach analysiert worden, wie sich Jugendliche anhand einzelner Geschichten und Personen, theologischer Themen und Traditionen, Motive und literarischer Gattungen dieser Überlieferungsvielfalt annähern. Es liegen methodisch elaborierte Studien dazu vor, wie Jugendliche an theologischen Gesprächen partizipieren, und welche Deutungskraft von den altersspezifischen Lesarten biblischer Texte ausgeht. Einzelne Untersuchungen zeigen eindrücklich auf, dass Jugendliche sich auf diese in der Regel unvertrauten und fremden biblischen Vorstellungswelten tatsächlich einzulassen und sich 1 Vgl. insbesondere die Beiträge von Thomas Schlag, Bernd Schröder, Friedrich Schweitzer und Hanna Roose in: Thomas Schlag / Hanna Roose / Gerhard Büttner (Hg.), »Was ist für dich der Sinn?« Kommunikation des Evangeliums mit Kindern und Jugendlichen, JaBuKiJu 1, Stuttgart 2018. 2 Vgl. dazu die Beiträge in Thomas Schlag / Jasmine Suhner (Hg.), Theologie als Herausforderung religiöser Bildung. Bildungstheoretische Orientierungen zur Theologizität der Religionspädagogik, Stuttgart 2017. 3 Vgl. Nadja Troi-Boeck / Andreas Kessler / Isabelle Noth (Hg.), Wenn Jugendliche Bibel lesen. Jugendtheologie und Bibeldidaktik, Zürich 2015.

Schlag Jugendtheologie und die Bibel

im Einzelfall engagiert damit auseinanderzusetzen vermögen.4 Dokumentiert sind Unterrichtsdialoge, die sich gerade nicht durch eine jugendliche Fundamentalkritik oder Gesprächsverweigerung auszeichnen.5 Vielmehr zeigt sich, dass Jugendliche die Herausforderungen, die ihnen etwa von Seiten der Lehrkräfte im Blick auf die bewusste Auseinandersetzung mit diesem Medium gestellt werden oder die sich im direkten Gespräch unter ihresgleichen ereignen, als konkrete Anforderungssituationen anzunehmen wissen. Diese Befunde sind angesichts der üblichen Einschätzungen und Vorurteile adoleszenter Bibeldistanz eindrücklich, wonach angeblich in der »kommenden Generation« eine programmatische Abständigkeit zu biblischer Überlieferung zu konstatieren sei, die man selbst durch den attraktivsten Methodeneinsatz kaum zu überwinden vermöge. Die Einsicht in bisherige jugendtheologische Studien erlaubt demgegenüber das Urteil, dass bibeldidaktische Unterrichtsgestaltungen jedenfalls nicht generell oder automatisch scheitern müssen. 2. Bedingungsfaktoren für die jugendtheologische Arbeit mit der Bibel

In diesen Studien zeigt sich aber zugleich, dass die Voraussetzungen und Rahmenbedingungen von entscheidender Bedeutung dafür sind, dass sich Jugendliche in ein aktives Verhältnis zur biblischen Überlieferung stellen können und wollen. Diese Bedingungsfaktoren sind auf einer mikroskopisch-individuellen, mesoskopisch-institutionellen und makroskopisch-gesellschaftlichen Ebene angesiedelt:

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2.1 Mikroskopisch-individuelle Ebene

Auf der mikroskopisch-individuellen Ebene zeigt sich, dass neben dem individuellen Entwicklungsstand insbesondere die religiöse Sozialisation und familiäre Bildung wesentlich für die Bereitschaft und auch für die Fähigkeit junger Menschen sind, sich mit biblischen Texten auseinanderzusetzen bzw. sich überhaupt anfänglich darauf einzulassen. Entwicklungspsychologisch gesehen wird für die Adoleszenzphase von der zunehmend eigenständigen und zugleich kritischen Auseinandersetzung mit vorgegebenen, noch zumal »uralten« und »komplexen« Texten und deren Botschaft ausgegangen. Dass sich Jugendliche im Prozess des Erwachsenwerdens gegenüber vorgegebenen Autoritäten in ein distanziertes Verhältnis zur Bibel setzen, ist so wenig neu wie überraschend. Und doch fallen im Einzelfall die Selbstpositionierungen höchst unterschiedlich aus: Konnten Jugendliche sozusagen von Kindesbeinen an frühe positive Erfahrun4 Vgl. neben den Beiträgen dieses Bandes etwa auch Mirjam Zimmermann, Mit Hiob über das Evangelium kommunizieren – Begriffsarbeit im Kontext der Jugendtheologie in der Sekundarstufe II, in: JaBuKiJu 1 (2018), 162–179; Janine Griese, Was haben »Schmetterlinge im Bauch« mit der biblischen Schöpfungserzählung zu tun? Eine Entdeckungsreise mit Jugendlichen, in: JaBuJu 2 (2013), 105–109; Thomas Weiß, Fachspezifische und fachübergreifende Argumentationen am Beispiel von Schöpfung und Evolution. Theoretische Grundlagen – empirische Analysen – jugendtheologische Konsequenzen, Göttingen 2016. 5 Vgl. etwa Nadja Troi-Boeck, »Es kann ja jeder glauben, was er will«. Diversität in Gruppendiskussionen über die Ostergeschichte, in: JaBuJu 5 (2017), 160–170; Dies., »Das ist weißt du wie geil«. KonfirmandInnen und die Kommunikation des Evangeliums, in: JaBuKiJu 1 (2018), 180–190.

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Hermeneutische Grundlagen

gen mit Religion machen und wurde im Elternhaus überhaupt eine religiöse Praxis gepflegt, so fällt die Auseinandersetzung mit biblischer Überlieferung offenkundig sehr viel leichter als dies bei denjenigen Jugendlichen der Fall ist, die damit in ihrer Kindheit nicht intensiver in Berührung gekommen waren.6 Dies schließt natürlich keineswegs aus, dass sich religiös sozialisierte Jugendliche in ein höchst kritisches Verhältnis zur biblischen Überlieferung begeben können und dies im Einzelfall auch vehement artikulieren. Und doch sind damit immerhin inhaltliche Anknüpfungsmöglichkeiten für das theologische Gespräch vorhanden, weil eben mindestens eine bestimmte, biographisch geprägte Vertrautheit mit diesen Traditionen vorhanden ist. Für diese mikroskopischen Ebene ist als ein zweiter wesentlicher Aspekt auch die Bedeutung personal-relationaler Erfahrungen namhaft zu machen: Das Verhältnis zwischen den einzelnen kommunizierenden Personen, seien es Lehrende und Lernende, sei es die Gruppe der kommunizierenden Peers ist ein ausschlaggebender Faktor für die jugendliche Bereitschaft zur Kommunikation über religiöse Fragen. Gerade im Bereich jugendtheologischer Forschung wird deutlich, wie relevant die Beziehungsebene mit denjenigen Personen ist, die in diesem Bildungskontext als Gesprächs- und DialogpartnerIn zur Verfügung stehen. Es ist eine der wesentlichen Einsichten jugendtheologischer Forschung, dass die Erfahrung stimmiger Beziehungen ein entscheidender Faktor für die gelingende Kommunikation über biblische Inhalte ist. Im Blick auf diesen personalen Aspekt wird in einer Reihe bisheriger jugendtheologischer Studien offenkundig, dass gerade diese Vertraut-

heits- und Vertrauensebene entscheidend dafür ist, wie und ob sich Jugendliche mit biblischen Themen und Inhalten überhaupt auseinanderzusetzen bereit sind. Gerade weil Jugendtheologie – bei aller sachgemäßen pädagogischen Asymmetrie – auf das gemeinsame, sondierende Gespräch »auf Augenhöhe« setzt, ist dieser personale Faktor einer erfahrbaren positiven Vertrauensbildung von entscheidender Bedeutung. Man kann sogar sagen, dass die Plausibilität einzelner biblischer Passagen, Motive oder Leitgedanken für Jugendliche in erheblichem Maß von eben der Grunderfahrung eines authentischen Gegenübers lebt, dem es gelingt, die möglichen Sinngehalte dieser Überlieferung im wahrsten Sinn des Wortes glaubwürdig vor Augen zu führen bzw. darüber den gleichberechtigten Dialog zu initiieren. 2.2 Mesoskopisch-institutionelle Ebene

Die mesoskopisch-institutionelle Ebene kommt in ihrer jugendtheologischen Relevanz dort in den Blick, wo es um die äußeren Rahmenbedingungen für die Beschäftigung mit biblischen Inhalten geht. Hier ist in institutionell-organisatorischer Hinsicht das unterrichtliche Setting, sei es das des schulischen oder des kirchlichen Kontextes angesprochen. Dieses ist, wie ebenfalls 6 Hier sind besonders aufschlussreich die deutschen, schweizerischen und internationalen Studien zur Konfirmationsarbeit, vgl. etwa Friedrich Schweitzer / Kati Tervo-Niemelä / Thomas Schlag / Hendrik Simojoki (Eds.), Youth, Religion and Confirmation Work in Europe. The Second Study, Gütersloh 2015; Thomas Schlag / Muriel Koch / Christoph H. Maaß, Konfirmationsarbeit in der Schweiz. Ergebnisse, Interpretationen, Konsequenzen, Zürich 2016.

Schlag Jugendtheologie und die Bibel

einzelne Studien zeigen, alles andere als unbedeutend. Die Beschäftigung mit biblischen Inhalten spielt sich eben nicht im luftleeren Raum ab. Sondern konkrete institutionelle Gewährleistungen im Kontext des schulischen Religionsunterrichts, der Konfirmationsarbeit oder der kirchlichen Jugendarbeit, stellen überhaupt erst den verlässlichen Boden für die jugendtheologische Arbeit mit der Bibel dar.7 Wie bedeutsam ein verlässlich verantwortetes Bildungsangebot für die Initiierung jugendtheologischer Kommunikation ist, wird von der Tatsache her erkennbar, dass Jugendliche eben von sich aus oder in der Regel nicht in der Bibel lesen.8 Auf dieser mesoskopischen Ebene ist folglich die Situierung jugendtheologischer Kommunikation im Rahmen eines verbindlichen rechtlichen Bildungsauftrags und damit eines professionellen Rahmens wesentlich. Sowohl der schulische Religionsunterricht wie auch die kirchlichen Angebote liefern hier einen kaum zu überschätzenden formalen rechtlichen Rahmen. Mit anderen Worten: Jugendtheologische Praxis lebt von institutionellen, organisatorischen und finanziellen Garantien, durch die eine solche Bildungsarbeit überhaupt erst verlässlich möglich ist. Damit verbindet sich über die angesprochene Vertrauenskompetenz der Bezugspersonen hinaus deren Kompetenz in Sachen theologischer Auskunftsfähigkeit und Auslegungsfähigkeit und damit deren unbedingt zu gewährleistende Aus- und Weiterbildung. Jugendtheologische Arbeit ist eben nicht nur eine Frage persönlicher Glaubwürdigkeit, sondern auch der zu erwerbenden pädagogischen und theologischen Kompetenz. Diese zeichnet sich durch eine hohe Wahrnehmungs- und Analysekompetenz der Lehrenden im Blick auf die

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Lebenslagen wie auch in Hinsicht auf die Erfordernisse der jeweiligen Unterrichtsoder Kommunikationssituation aus. Mit anderen Worten: Die persönliche Ebene allein trägt eben gerade in organisationswie in professionstheoretischer Hinsicht nicht alleine den gelingenden Dialog über biblische Themen. Sondern dieser erfordert zu seinem Gelingen neben der empathischen Gesprächsbereitschaft unbedingt auch die theologisch gelehrte Auskunftsfähigkeit. Authentizität ohne Professionalität wird den Anforderungen an eine bibelorientierte theologische Kommunikation jedenfalls nicht gerecht. Die jugendtheologisch immer wieder und aus guten pädagogischen Gründen betonte Freiheit des individuellen Umgangs mit der biblischen Tradition setzt somit rechtliche und professionelle Strukturgegebenheiten sowie akademische Bildung voraus. Eine verlässlich garantierte akademische Ausbildung an Hochschulen und Universitäten ist somit auch für eine seriöse und professionelle jugendtheologische Bildungsarbeit unverzichtbar. 2.3 Makroskopisch-gesellschaftliche Ebene

Greift man noch weiter auf die Bedingungsfaktoren jugendtheologischer Ar­ beit aus, so kommt die makroskopischgesellschaftliche Ebene in den Blick: Der kulturelle und religiöse Kontext sind 7 Vgl. für das Feld kirchlicher Jugendarbeit Sabrina Müller, Bedingungen eines gelingenden theologischen Diskurses mit jungen Freiwilligen, in: JaBuJu 4 (2016), 160–170. 8 Vgl. die genannten Studien zur Konfirmationsarbeit (Anm. 6).

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Hermeneutische Grundlagen

mitentscheidend dafür, dass bzw. ob Jugendliche sich auf den Dialog über die Bibel überhaupt einlassen. Und hier macht es einen erheblichen Unterschied, ob die Bildungsarbeit etwa im Kontext einer württembergischen Landgemeinde mit nach wie vor hoher Vertrautheit und Selbstverständlichkeit religiöser Kommunikation stattfindet oder ob man sich in ostdeutschen Verhältnissen mit einer in der Fläche und im öffentlichen Bewusstsein nur geringen Präsenz von Kirche und Religion befindet. Die Anknüpfungsmöglichkeiten und Herausforderungen für Lehrende stellen sich überaus unterschiedlich dar, ob deren Bildungsangebot etwa in der urbanen Situation einer zürcherischen reformierten Gemeinde situiert ist, in der Religion möglicherweise ganz grundsätzlich als Privatsache verstanden wird und die kulturelle Gesamtsituation höchst religionsplural und möglicherweise zugleich laizistisch angehaucht ist. Und noch einmal anders stellt sich die Situation dar, wenn man sich im Kontext einer evangelikalen Freikirche befindet, in dem die überzeugte Auskunftsfähigkeit über den Wahrheitsgehalt der Bibel einen wesentlichen Identitätsmarker, einen ganz selbstverständlichen Bestandteil der spezifischen Kommunikationskultur sowie Zeichen des missionarischen Erfolgs der jeweiligen Gruppe darstellt. Werden die Bedingungsfaktoren der mikroskopischen, mesoskopischen und makroskopischen Ebene nicht ausreichend berücksichtigt, haben alle hermeneutischen Überlegungen zu den Möglichkeiten jugendtheologischer Kommunikation von Anfang an einen blinden Fleck. Mit anderen Worten: Die genannten Bedingungsfaktoren sind

nicht lediglich für die Planung jugendtheologischer Unterrichtsprozesse zu berücksichtigen, sondern sie verweisen auch auf den Sachverhalt der unhintergehbaren Kontextualität aller Verstehensprozesse. Jegliche hermeneutische Reflexion in jugendtheologischer Absicht muss folglich diese kontextuellen Verstehensbedingungen unbedingt mitberücksichtigen. Um dies für die Praxis zu konkretisieren: Angesichts der sehr unterschiedlichen Bedingungen individuellen Aufwachsens und der damit verbundenen erheblichen »literacy«-Differenzen Jugendlicher ist die Gefahr nicht von der Hand zu weisen, dass bestimmte vermeintlich eindeutige jugendtheologische Standards sofort Exklusivität erzeugen. So kann, wenn diese Verstehensbedingungen abgeblendet bleiben, durch die Beschäftigung mit der Bibel sogar ein garstiger Graben zwischen den eigenen Verstehensfähigkeiten und dem Text selbst entstehen. Ein bestimmtes kirchliches und schulisches Setting kann die angesprochenen Sozialisationsfaktoren noch verstärken, wenn es nicht gelingt, auf möglichst gerechte Weise gemeinsame Verstehensprozesse zu initiieren. Eine jugendliche Unvertrautheit mit der Kirche in ihrer institutionellen Gestalt mitsamt ihrer spezifischen Sprach-, Ritual- und Symbolisierungsformen kann dann von Beginn an zu deprimierenden Fremdheitserfahrungen und erheblichen Verletzungen führen. Im »worst case« kann die biblische Überlieferung, wenn Lehrende sie unhinterfragt zum vermeintlich selbstverständlichen Bezugspunkt machen, zum segregierenden und exkludierenden Identitätsmarker werden. Und natürlich wäre es fatal, würde

Schlag Jugendtheologie und die Bibel

man den weiterreichenden Bildungskontext ignorieren: Natürlich müssen die Lehrenden immer auch mitreflektieren, von welchen religiösen Voraussetzungen sie bei einer bestimmten Gruppe und in einem bestimmten Setting in der konkreten Situation überhaupt ausgehen können: Württemberg ist eben nicht Sachsen und eine reformierte Kirchgemeinde in Zürich nicht der ICF.9 Die jugendtheologische Reflektion darüber, wie die Bibel als Medium der Bildung von orientierender Bedeutung für die Lebensführung Jugendlicher werden kann, muss folglich querschnitthaft von der differenzierten Berücksichtigung der mikroskopischen, mesoskopischen und makroskopischen Bedingungsfaktoren mitbestimmt und mitgeprägt sein. Die Beweislast der religionspädagogisch immer wieder thematisierten Differenzkompetenz10 liegt jedenfalls nicht in erster Linie auf Seiten der Jugendlichen, sondern primär und wesentlich auf Seiten der arrangierenden BildungsakteurInnen. Deshalb muss eine jugendtheologische Hermeneutik – sei es als Theorie oder als Praxis – als höchst aufmerksame Differenz- und Kontextwahrnehmung beginnen. Ist dies hingegen nicht der Fall, droht der Ursprungssinn und Anspruch der biblischen Botschaft, für alle unabhängig von deren individuellen Hör-, Seh- und Lesefähigkeiten relevant zu sein, fundamental in Frage gestellt und der programmatisch-inklusive Sinn der Kommunikation des Evangeliums11 geradezu in sein Gegenteil verkehrt zu werden. In vertrauter Terminologie ausgedrückt: Die religionsdidaktisch-komplementären Fragerichtungen nach den elementaren Strukturen, Erfahrungen, Zugängen, Wahrheiten, Lernwegen und

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Beziehungen12 konkreter Unterrichtsprozesse lassen sich vom fokussierten Blick auf diese drei Bedingungsfaktoren jugendtheologisch elementarhermeneutisch durchbuchstabieren. Denn sowohl auf der Mikro, der Meso- wie der Makroebene werden in je spezifischer Hinsicht eben Strukturen, Erfahrungen, Zugänge, Wahrheiten, Lernwege und Beziehungen als Verstehensbedingungen zum Thema. Eine solche differenzierende Sicht auf die unterschiedlichen Bildungsvoraussetzungen der Jugendlichen wie der Kontexte, in denen sie sich befinden, hat insofern erhebliche bibeldidaktische Implikationen, die über die Frage geeigneter Materialien, Vermittlungsformen oder Lernarrangements konstitutiv hinausgehen. 3. Verstehensbedingungen jugendtheologischer Arbeit – eine weiterreichende hermeneutische Reflexion

Diese Ausdifferenzierungen unterschiedlicher Bedingungsfaktoren als Verstehensbedingungen lassen sich insofern nicht nur elementarisierungstheoretisch ausdifferenzieren. Sondern diese rufen darüber hinaus auch zu einer weiterreichenden hermeneutischen Reflexion auf. Dies soll im Folgenden anhand der nähe9 Vgl. International Christian Fellowship (ICF), https://www.icf.ch/en/ 10 Vgl. Thomas Klie / Dietrich Korsch /Ulrike Wagner-Rau, Differenz-Kompetenz. Religiöse Bildung in der Zeit, Leipzig 2012. 11 Vgl. Christian Grethlein, Kommunikation des Evangeliums – als Programmbegriff, in: JaBuKiJu 1 (2018), 18–25. 12 Vgl. Reinhold Boschki, Kommunikation des Evangeliums – in religionspädagogischer Perspektive, in: JaBuKiJu 1 (2018), 38–47.

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ren Betrachtung von drei, für die jugendtheologische Arbeit zentralen hermeneutischen Kategorien für die Analyse sowie das Verstehen und die Planung jugendtheologischer Bildungs- und Unterrichtsprozesse geschehen: nämlich im Blick auf Sprache, Raum und Autorität. Um dies zu konkretisieren, sei an dieser Stelle auf den vermutlich größten blinden Fleck hingewiesen, der für die jugendtheologische Forschung bisher zu konstatieren ist: Es ist festzuhalten, dass insbesondere die digitalen Entwicklungen und die damit verbundenen permanenten Neugestaltungen jugendlicher Lebenswelten durch digital induzierte Kommunikations- und Orientierungsprozesse im Bereich jugendtheologischer Reflexion bisher erstaunlicherweise noch kaum näher in den Blick gekommen sind. Die Kultur digitaler Kommunikation und Interaktion sowie der weitreichenden und praktisch von außen kaum noch nachvollziehbaren Nutzung der entsprechenden Medien durch Jugendliche sowie die damit verbundene erhebliche Einfluss- und Prägekraft stellt für die Jugendtheologie im Blick auf ihre Analyseund Verstehenspraxis sozusagen eine terra incognita dar.13 Dieser Befund ist umso erstaunlicher und auch bedauerlicher, als die digitalen Medien für Jugendliche sowohl in inhaltlicher wie in zeitlicher Hinsicht die – neben dem Elternhaus – vermutlich einflussreichsten und nachhaltig prägendsten Sozialisationsagenturen darstellen.14 Dabei soll im Folgenden nicht das immer wieder hörbare Leid und die Klage insbesondere aus kirchlichen Kreisen über den vermeintlich gefährlichen und entmündigenden Einfluss digitaler Medien auf die jugendliche Lebensführung fortgesetzt werden.

Der digitale Mediengebrauch hat gerade für eine jugendtheologische Bildungspraxis, die auf den Dialog Jugendlicher über biblische Themen und Traditionen abzielt, eben nicht nur erhebliche Implikationen für die mikro-, meso- und makroskopische Ebene, sondern auch für das Verständnis der drei für die Jugendtheologie zentralen hermeneutischen Grundkategorien von Sprache, Raum und Autorität. 3.1 Sprache

Die Kategorien Sprache, Raum und Autorität werden durch den Gebrauch sozialer Medien zu flüssigen und individuell ganz neu gestaltbaren Größen: Im Blick auf die Sprache entsteht durch digitale Praxis eine erhebliche kreative Dynamik. Chatrooms und Foren für Jugendliche, in denen religiöse Fragen dezidiert im Zentrum des Angebots stehen, machen dies überdeutlich:15 13 Eine Ausnahme stellt hier die Arbeit von Da­ niel Faßhauer dar: Kirche, Jugend, Internet. Die Landeskirche von Kurhessen Waldeck im Netz. Erreichbarkeit und Einbindung der jungen Generation nach der Konfirmation mittels einer speziellen Homepage, Kassel 2015. 14 Vgl. Internationales Zentralinstitut für das Jugend- und Bildungsfernsehen (IZI) (Hg.), Grunddaten Jugend und Medien 2018. Aktuelle Ergebnisse zur Mediennutzung von Jugendlichen in Deutschland [http://www.bronline.de/jugend/izi/deutsch/Grundddaten_ J ugend_Medien.pdf]. 15 Vgl. dazu etwa exemplarisch die Homepage Jesus.de; weitere eindrückliche Beispiele etwa bei Ilona Nord, Face your fear. Accept your war. Ein Blog einer Jugendlichen und seine Relevanz für die Erforschung von religiösen Sozialisationsprozessen, in: Dies. / Swantje Luthe (Hg.), Social Media, christliche Religiosität und Kirche. Studien zur Praktischen Theologie mit religionspädagogischem Schwerpunkt, Jena 2014, 101–114.

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Es kommt zu freien, überraschenden und unkonventionellen Sprachgestaltungen, zu Narrativen, die in sich selbst theologische Dignität entwickeln.16 Geschrieben wird, wie es für den Moment passt. Die Aussagen sind nicht in Stein gemeisselt. Jugendliche experimentieren mit Sprache und setzen ihre religiösen Selbstpositionierungen dem öffentlichen Gespräch aus. Bei Betrachtung entsprechender Seiten stellt man zudem fest, dass es durchaus überaus emotional werden kann. Das Sprachgeschehen führt zu ganz eigenen Formen des Dialogs. Durch Sprache entstehen Resonanzen, auf die wiederum interaktiv reagiert wird. Faszinierend ist, dass dieses Resonanzgeschehen eben sehr häufig nicht nur dialogisch, sondern sozusagen multilogisch funktioniert. Übrigens müssen dies gar nicht immer eigene Sprachschöpfungen sein – schon die Faszination für einen bestimmten Youtube-Kanal, oder ein bestimmtes Homepageangebot, das Religion thematisiert, stellt ja ein eigenes theologisch höchst anschlussfähige Phänomen digitaler Praxis dar. Die digitalen Möglichkeiten schaffen somit auch für die jugendtheologische Kommunikation ganz neue Verstehensbedingungen und Verstehensoptionen.

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neue kommunikative Frei- und Zwischenräume, die nicht durch die »alten« Institutionen garantiert werden, sondern durch neue Anbieter und Netzwerke, die sich oftmals ganz bewusst jenseits der klassischen Bildungsinstitutionen und -anbieter positionieren. Dabei kann es, wie die erheblichen Teilnahmezahlen und Hinweise auf die entstandenen Netzcommunities zeigen, geradezu zu einem neuen Raumgefühl dadurch kommen, dass sich die Netzwerkakteur/innen zugleich unter einem gemeinsamen Dach fühlen. Zudem verweisen die jeweiligen zeitlichen Angaben der Dialoge darauf, dass offenkundig auch ein gemeinsam geteilter Zeitraum entsteht. Jugendliche machen die Erfahrung, dass sie durch die eigene Aktivität an der Gestaltung eben dieses Raums mitwirken, möglicherweise selbst für dessen »Ausgestaltung« und »Garantie« sogar unverzichtbar sind. Zugleich bleibt aber immer auch die Möglichkeit, die eigene Intimität zu wahren und sich gegebenenfalls aus diesem Raum auch wieder zu verabschieden. So entstehen durch die digitalen Möglichkeitsräume auch neue Verstehensbedingungen und Verstehensoptionen für die jugendtheologische Kommunikation.

3.2 Raum 3.3 Autorität

Durch digitale und vernetzte Kommunikation entstehen nicht nur neue Sprachgebilde, sondern es bildet sich offenkundig auch ein neuer Raum des Austauschs von Erfahrungen mit Menschen, die man sonst nie treffen würde. Die Anzahl der Teilnehmenden sowie die Vielfalt der Meinungen gehen weit über das hinaus, was in einem einzigen »realen« Raum jemals möglich wäre. Es entwickeln sich

Damit zusammenhängend kommt die dritte hermeneutische Kategorie ins Spiel: In der Regel ist für denjenigen, der an dieser digitalen Kommunikation 16 Vgl. Dietrich Ritschl, Zur Logik der Theologie. Kurze Darstellung der Zusammenhänge theologischer Grundgedanken, München 1984.

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partizipieren will, weder eine Prüfung von Qualifikationen noch eine bestimmte Glaubenshaltung notwendig. Es gibt im Netz keine Autoritäten mehr, die bestimmte Aussagen reglementieren oder die autoritativ intervenieren: »In this sense, authority is performative and discursive, involving persuasive claims by leaders to elicit an audience’s attention, respect and trust. Religious authority thus can be approached as an order and quality of communication, which in an electronic age is media-derived and dynamically constructed.«17 Gültigkeit erlangt also, was Plausibilität vermittelt. Abweichende Meinungen sind in vielen Fällen weder verboten noch werden sie untersagt. Abgesehen von der Verpflichtung zur »Netiquette«, stehen Regulierungen nicht an erster Stelle. Es gibt – erst einmal – kein Richtig oder Falsch. Es besteht die Möglichkeit der wechselseitigen Resonanz, natürlich auch der produktiven Gegenmeinung. Man darf auch nachfragen, wenn man etwas nicht verstanden hat – und wird dabei oftmals fast spielerisch auf weitere Informationen hingewiesen. Das theologische Nachdenken und Formulieren Jugendlicher findet diesseits theologischer Professionalität statt – und ist zugleich doch offen für die Orientierung an Traditionellem.18 Damit eröffnen digitale Kommunikationsformen ebenfalls neue Verstehensmöglichkeiten und Verstehensoptionen dessen, was in jugendtheologischer Hinsicht Autorität beansprucht, Authentizität19 ausmacht und Freiheit ermöglicht: »Emancipatory media is decentralized, where each receiver is a potential transmitter, where the masses are mobilized, where production is collective and control is fueled by selforganization.«20

4. Folgerungen für die jugendtheologische Forschung und Praxis

Diese genannten Verstehensbedingungen sind für die jugendtheologische Auseinandersetzung mit der komplexen, voraussetzungsreichen und deutungsbedürftigen biblischen Überlieferung von erheblicher Bedeutung: In digitalen Kommunikationsprozessen gewinnen eine ganze Reihe von jugendtheologischen Zielvorstellungen noch einmal ganz neu Sprache, Raum und Autorität. Es könnte sein, dass die jugendtheologisch immer wieder stark gemachte Zielsetzung individueller Mündigkeit, Kreativität und Freiheit gerade durch die Möglichkeiten digitaler Kommunikationskulturen einen erheblichen Schub erfährt. Zudem können gerade diese digitalen Möglichkeiten im Blick auf die Auseinandersetzung mit biblischen Traditionen und Inhalten Formen freien und multilogischen Denkens eröffnen, die dem Grundsinn biblischer Überlieferung in höchsten Maß entsprechen: einzelne Geschichten als Erfahrungen eines

17 Pauline Hope Cheong, Authority, in: Heidi A. Campbell (Ed.), Digital Religion. Unterstanding Religious Practice in New Media Worlds, London / New York 2013, 74. 18 Vgl. Christina Ernst, Bekenntnisformen des Glaubens in neuen Formaten, die Tradition haben, in: Ilona Nord / Swantje Luthe, Social Media (wie Anm. 15), 143–161. 19 Kerstin Radde-Antweiler, Authenticity, in: Heidi A. Campbell, Digital Religion. Unterstanding Religious Practice in New Media Worlds, London / New York 2013, 88–103. 20 Paul E. Teusner, Imaging Religious Identity. Intertextual Play among Postmodern Chris­ tian Bloggers, in: Online – Heidelberg Journal of Religion on the Internet 4/1 (2010), 116.

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raumschaffenden Erlebnisses, das entsteht, indem mit einzelnen Texten und Motiven experimentiert wird. Biblische Texte können durch eine solche digitale Praxis als ein Sprachraum erfahrbar werden, in dem wesentliche Einsichten erst durch die Resonanzen entstehen, die sich in diesem Raum entwickeln, manifestieren und auch verändern.21 Und digitale Praxis eröffnet durch Erfahrungen gelingender Beziehungen ein räumliches, atmosphärisches, und personales Gesamtsetting, durch das sich nochmals in ganz neuer Weise ein Verstehen biblischer Traditionen ereignen kann. Solche digital induzierten individuellen und wechselseitigen Erschließungsprozesse können Jugendlichen vor Augen führen, dass es sich bei der biblischen Überlieferung weder um Fast-Food- noch um Eins-zu-Eins-übernehmbare Gebrauchsanweisungstexte handelt. Und eine kritische digitale Verstehenskompetenz kann auch die Einsicht befördern, dass Autoritäts- und Glaubwürdigkeitsansprüche bzw. der Wahrheits- und Echtheitsgehalt biblischer Überlieferung und deren Relevanz für die jugendliche Lebensführung eben unbedingt immer wieder neu der Prüfung ausgesetzt werden können und müssen. Die höchst eindrückliche Dynamik digitaler Foren, die sich mit religiösen und eben auch mit biblischen Fragen befassen, stellt zudem eine erhebliche Chance dar, um Jugendlichen deutlich zu machen, dass die Kommunikation über diese Fragen immer noch höchst lebendig ist – und dass sie selbst kompetent dazu sind, sich hier selbst in aller Freiheit einzubringen. Jugendliche können hier auch erkennen, dass andere Menschen sich auf digitalen Plattformen sehr ernst-

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haft mit Glaubensfragen auseinandersetzen und damit der christliche Glaube eben durchaus ein anspruchsvolles Geschäft ist. Von Blogs, Chats und Foren können sie lernen, wie im Einzelfall zu argumentieren ist. Dann zeigt sich ihnen auch, dass digitale Kommunikation über die Bibel und den Glauben anspruchsvoll ist und die Artikulation von Überzeugungen gute Gründe braucht. Und paradoxerweise könnte sich sogar zeigen, dass das vermeintlich schnelle Medium eben noch einmal eine ganz andere Genauigkeit braucht, weil eben geschriebene Texte auch »gut überlegt« werden müssen. In medienpädagogischer und medienkritischer Hinsicht kommt ein Weiteres hinzu: Erkennbar wird durch die digitalen Medien auch, dass die Möglichkeit der Prüfung von Autorität unbedingt notwendig ist: Wem zu glauben und zu vertrauen ist, woran man sich sinnvollerweise orientieren kann und welche Quelle wirklich »glaubwürdig« ist, wird also gerade durch das digitale Freiheitsgeschehen nochmals ganz neu zum Thema.22 Doch diese digitalen Kommunikationskulturen stellen nicht nur für die Jugendlichen eine erhebliche Chance für die jugendtheologische Arbeit dar: Mit dieser Verflüssigung klassischer Sprach-, Raum- und Autoritätsvorstellungen im Sinn der digital induzierten Dauerreflexion kommen zugleich auch für die erwachsenen Bildungsverantwortlichen die klassischen Bedingungsfaktoren der 21 Vgl. Boschki, Kommunikation des Evangeliums (vgl. Anm. 12), v.a. 47. 22 Vgl. Ilona Nord / Hanna Zipernovsky (Hg.), Religionspädagogik in einer mediatisierten Welt, Stuttgart 2017.

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Mikro-, Meso- und Makroebene nochmals höchst herausfordernd ins Spiel: So ist selbstkritisch und sozusagen digital aufgeklärt zu fragen: Was ist von den Sprachschöpfungen und kommunikativen Kompetenzen junger Menschen im Netz zu lernen? Zeigt sich in deren Reformulierungen möglicherweise eine wirklich eigenständige Theologie in höchst eindrücklicher und auch anschaulicher Weise? Wo sind die eigentlich entscheidenden Kommunikationsorte junger Menschen, an denen religiöse Fragen thematisiert werden und wie lassen sich die institutionellen Welten von Kirche und Schule mit deren digitaler Mediennutzung und Lebenspraxis verbinden? Wie steht es zukünftig um die klassische Zielsetzung einer Theologie mit Jugendlichen und für sie, wenn offenbar nun vieles an alternativ organisierten Orten und durch die Individuen selbst ganz kreativ geleistet wird? Was bedeutet dies eigentlich für die bisherigen Bildungsinstitutionen, deren professionelles Personal mitsamt der notwendigen Wahrnehmungskompetenz, aber auch deren professioneller Deutungsautorität? Aus diesen Fragen ergeben sich eine Reihe von Desideraten für die zukünftige jugendtheologische Forschung: Diese digitalen jugendtheologischen Kommunikationsformen und -inhalte müssen zukünftig deutlich stärker – gerade in einer hermeneutischen Perspektive als elementare Verstehensbedingungen – in den Blick genommen werden. Es wird sehr viel intensiver zu erforschen sein, wer hier eigentlich mit wem worüber kommuniziert, wer mit welchen Zielsetzungen Kommunikation initiiert und wieviel Freiheit in diesen Räumen wirklich vorhanden ist. Interessanterweise

nutzen hier bisher eher vor allem evangelikale Kreise dieses Medium, was dann vermutlich wieder zu ganz neuen und nicht unproblematischen Gestaltungsformen von Sprache, Raum und Autorität führt. Es ist insofern auch verstärkt zu untersuchen, welche Erkenntnisgewinne sich eigentlich für Jugendliche durch die Nutzung digitaler Medien ergeben und wodurch möglicherweise Indoktrinationsdynamiken entstehen.23 Für eine solche fokussierte Jugendtheologieforschung bietet sich die Bezugnahme auf biblische Traditionen und Texte hinsichtlich des höchst diversen und kaum noch zu überschauenden Feldes digitaler Kommunikation unbedingt an. Aber nicht nur für die Forschung, sondern auch für die jugendtheologische Praxis sind hier organisatorische, pädagogische und auch hermeneutische Folgerungen zu ziehen: Im Bereich kirchlicher wie schulischer Bildungsarbeit können Jugendliche dazu angeregt werden, ihre eigenen Chatrooms zu organisieren und zu pflegen. Dabei sollten sie dafür sensibilisiert werden, wieviel Freiheit sie durch ihre eigenen Kommunikationsangebote hier anderen Teilnehmenden ermöglichen, wieviel möglicherweise problematische Überzeugungskraft sie an den Tag legen, ob sie wirklich das offene Gespräch pflegen und wie sie sich selbst auf die biblische Tradition und Botschaft beziehen. Und ein weiterer Punkt ist zu nennen: Gerade in religiösen Chats zeigt sich sehr häufig eine Mischung aus Online- und Offline-

23 Vgl. dazu bereits Manuel Castells u.a., Critical education in the new information age, Lanham 1999.

Schlag Jugendtheologie und die Bibel

Kulturen. Menschen beziehen sich in ihren Statements oft auf Erfahrungen mit Kirche, die sie real gemacht haben oder auf Begegnungen, die ihnen positiv oder negativ wichtig geworden sind. Von daher kann jugendtheologische Praxis im Horizont digitaler Lebens- und Kommunikationskulturen gerade dafür sensibilisieren, dass in Online-Kulturen eben nicht alle möglichen Erfahrungen gemacht werden, die von orientierender Bedeu-

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tung sind. Sondern dass gerade der »reale« kirchliche Kommunikationsraum mit echten »Face-to-face-Begegnungen« und die körperlich und atmosphärisch erlebbare Gemeinschaftsbildung ihre ganz eigene Faszination in sich tragen. Von dort her ist die zu Anfang genannte personale Kompetenz der Vertrauens-Bildung und Authentizität der Lehrenden eben doch keineswegs so unbedeutsam, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag.

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Gudrun Guttenberger Neuere hermeneutische Tendenzen in der neutestamentlichen Fachwissenschaft und ihre Relevanz für die Bibeldidaktik 1. Hinführung 1.1 Das unübersichtliche Feld der biblischen Hermeneutik

Der Gegenstandsbereich der Hermeneutik ist nahezu unbegrenzt: Hermeneutik kann die philosophische Erkenntnistheorie funktional ersetzen und damit das Bedingungsgefüge für jede denkbare wahrheitsfähige Aussage beschreiben oder als Schlüsselfrage der Kulturwissenschaften den Rahmen für jedes menschliche Handeln und Deuten bilden. »Verstehen« ist ein so grundlegendes Phänomen – oder Postulat –, dass auch bei begrenzten Fragen, wie denen nach dem angemessenen Verstehen von biblischen Texten, sich der Raum unversehens öffnen kann und Diskurse relevant werden, die in der Philosophie, der Geschichts-, Literatur- oder den Kulturwissenschaften geführt werden. Theorien und Modelle aus diesen Diskursen, die in der Postmoderne breiten, mäandernden und vielarmigen Flussläufen gleichen, werden die eigene Fragestellung modifizieren und mit Komplexität aufladen. In diesem Band wird die Vernetzung der Bibelhermeneutik mit den hermeneutischen Theorien in anderen Fächern damit in den Vordergrund gerückt, dass ausdrücklich nach dem Verhältnis zum Verstehen in der Literatur- und Geschichtswissenschaft gefragt wird. Weiterhin wäre nach der Philosophie- und

Ethikdidaktik, in der ebenfalls mit z.T. antiken Texten gearbeitet wird, und nach deren Verankerung in der philosophischen Hermeneutik zu fragen. Mit dieser Komplexität ist schwer umzugehen. Kann es gelingen, diese hermeneutischen Diskurse tatsächlich zu überblicken? Wie kann es gelingen, Theorien und Theorieelemente in einer Weise auszuwählen und für die bibelhermeneutischen Überlegungen fruchtbar zu machen, die die jeweiligen Verankerungen dieser Theorien und Theorieelemente beachtet, ohne die Anforderungen von Kohärenz und Konsistenz im eigenen Anwendungsfeld auszublenden? Wenn man mit diesen Fragen aktuelle bibelhermeneutische Entwürfe liest, wird deutlich: Die Rezeption von Theorien und Theoriemodellen hat oft beträchtliche arbiträre Anteile. Dies ist vermutlich unvermeidlich. Auswahlkriterium ist die Plausibilität im Denken des Verfassers; diese ist wiederum an die Prozesse der Selbstklärung des Subjekts exegetischen und theologischen Denkens und an dessen biographische Prägung gebunden. Biblische Hermeneutik gewinnt damit etwas Positionelles und ist enger als in den exegetischen Wissenschaften üblich an das individuelle Subjekt hermeneutischen Denkens gebunden. Daraus ergeben sich jedoch zugleich Fragen an die Reichweite und Überzeugungskraft bibelhermeneutischer Entwürfe.

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Zwei Folgen sind zu beachten: (1) Kein vorliegender hermeneutischer Entwurf wird »passen«. Nicht zur Sache: Aufgrund der Komplexität des Gegenstandsfelds sind gegen jeden Entwurf kaum abweisbare Einwände vorzubringen. Und nicht zum Leser oder zur Leserin: Der Plausibilitätsgrad, den ein bibelhermeneutischer Entwurf erreicht, wird davon abhängig sein, wie umfangreich die jeweilige Schnittmenge mit den biographischen Prägungen des Autors, der Autorin und deren Selbstklärungsprozessen sein wird. Das betrifft die geographischen und sprachlichen Prägung, die Generation, die religiöse Sozialisierung, vielleicht auch das Geschlecht. Es ist also nicht möglich, die bibelhermeneutische Diskussion »abzuernten« und für die Bibeldidaktik zu »destillieren«. (2) Hermeneutik lässt sich nicht delegieren. Sie bildet den Rahmen unseres eigenen lebenslangen Bildungsprozesses als Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler und bleibt originäre Aufgabe jeder exegetisch, theologisch und religionspädagogisch arbeitenden Person. 1.2 Die bibeldidaktische Perspektive

Unberührt davon lassen sich aus bibeldidaktischer Perspektive Fragestellungen formulieren, die für die Arbeit mit biblischen Texten in Bildungsprozessen typisch sein könnten. Ich versuche solche gemeinsamen Fragen zu formulieren, ohne den Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben. a) Aus bibeldidaktischer Perspektive benötigen wir eine bibelhermeneutische und nicht eine exklusiv neutestamentliche Hermeneutik. Christozentrische Hermeneutiken, wie z.B. die Bultmanns,

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Weders und Luz, sind aus bibeldidaktischer Perspektive auf komplementäre alttestamentliche Hermeneutiken angewiesen, die zugleich mit den Anforderungen des interreligiösen Lernens, besonders natürlich im Hinblick auf das Judentum, kompatibel sind. b) Der Rahmen für jugendtheologische Arbeit mit der Bibel ist vor allem der Religionsunterricht nach Art. 7 (3) GG. Damit ist eine hermeneutische Reflexion der Bibel als des kanonischen Texts der (konfessionellen) Kirchen erforderlich. Am Lernort Schule steht die Frage nach den Bedingungen für das Verstehen von Bibel im Kontext unserer säkularisierten und multireligiösen Gesellschaft gleichauf. In diesem Kontext unterliegen die Texte der »Dekanonisierung«. Aus der Perspektive der Bibeldidaktik sind also beide Vorzeichen des Verstehens bib­ lischer Texte, als kanonische und als dekanonisierte Texte, zu berücksichtigen und aufeinander zu beziehen. c) Innerhalb der exegetischen Wissenschaften und nur wenig vermindert innerhalb der theologischen Wissenschaft ist die Relevanz biblischer Texte evident. Das ist im gesamtgesellschaftlichen Kontext, besonders in der Schule in der Kommunikation mit jungen Menschen, anders. Aus bibeldidaktischer Perspektive besteht deswegen ein besonderes Interesse daran, wie die Relevanzzuschreibung erfolgt und ob sie anschlussfähig ist für die Motivation von SuS. d) Im Hinblick auf die Verstehensvoraussetzungen unserer SuS sind hermeneutische Entwürfe anregend, wenn sie nicht nur wissenschaftliche, jedenfalls akademisch gebildete Men-

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schen mit hohen intrinsischen Motivationen als Adressaten bedenken, sondern auch Menschen mit einem geringeren Bildungsstand und weniger ausgeprägter intrinsischer Motivation. Die Jugendlichen, um die es hier geht, gehören zu den Millenials. Die Verstehensvoraussetzungen dieser Generation werden in keiner der von exegetisch arbeitenden Personen verfassten Hermeneutiken bedacht.1 e) Für die Kindertheologie habe sich die Anknüpfung bei der kanonischen Letztgestalt des Textes, die »stärkere Gewichtung rezeptionsästhetischer Ansätze« und eine dekonstruktivistische Perspektive bewährt, schreiben Gerhard Büttner und Martin Schreiner.2 Auf den Stellenwert dieser Ansätze achte ich bei der folgenden Darstellung deswegen besonders. 2. Neue Tendenzen im Diskurs der neutestamentlichen Hermeneutik 2.1 Publikationsstand und Akteure

Die Publikationstätigkeit zum Thema ist in der deutschsprachigen neutestamentlichen Wissenschaft rege. Das Thema Hermeneutik ist derzeit ein »hot spot« in der Theologie. Das ist auch daran erkennbar, dass die Zeitschriften »Evangelische Theologie« (2012) und die Zeitschrift »Praktische Theologie« (2014) ein Themenheft aufgelegt haben. Diese jüngste Phase der hermeneutischen Diskussion in der neutestamentlichen Wissenschaft wurde mit dem Erscheinen der Hermeneutik des Neuen Testaments von Oda Wischmeyer 2004 eröffnet. Sie, ihre Schülerin Eve-Marie

Becker und ihr Schüler Stefan Scholz bilden derzeit die wichtigste, kontinuierlich arbeitende Akteursgruppe im Diskurs der deutschsprachigen Theologie. Das Profil der Hermeneutik dieser Gruppe ist textorientiert, berücksichtigt aber auch historische und rezeptionsästhetische Aspekte. Oda Wischmeyer schreibt: »Meine eigene neutestamentliche Hermeneutik ist in diesen Zusammenhängen vor allem eine Texthermeneutik. Als solche will sie die Textualität der Texte bedenken und zugleich hermeneutisch die Sach-Dimension der neutestamentlichen Texte erschließen. Sie will die Aussagen der neutestamentlichen Texte in ihrer Sprachlichkeit, ihrer literarischen Gestalt und ihrer geschichtlichen Dimension neu dem gegenwärtigen Verstehen zuführen und die sachliche Auseinandersetzung über die neutestamentlichen Texte unter den allgemeinen zeitgenössischen wissenschaftlichen Bedingungen des Textverstehens für Theologie und Kulturwissenschaft fruchtbar machen.«3 Eve-Marie Becker hat mit einem programmatischen Aufsatz4 und 1 Vgl. Stefan Scholz, Bibeldidaktik im Zeichen der Neuen Medien. Chancen und Gefahren der digitalen Revolution für den Umgang mit dem Basistext des Christentums, Münster 2011. 2 Vgl. Gerhard Büttner / Martin Schreiner, Im Spannungsfeld exegetischer Wissenschaft und kindlicher Intuition: Mit Kindern biblische Geschichten deuten, in: »Man hat immer ein Stück Gott in sich«. Mit Kindern biblische Geschichten deuten, hg. von Gerhard Büttner und Martin Schreiner, JaBuKi Sonderband, Teil 1: Altes Testament, Stuttgart 2004, 7–16. 3 Oda Wischmeyer, Hermeneutik des Neuen Testaments. Ein Lehrbuch, Tübingen 2004, 17. 4 Eve-Marie Becker, Der Exeget und die Exegese. Überlegungen zu einem vernachlässigten Thema, in: Oda Wischmeyer (Hg.), Herkunft und Zukunft der neutestamentlichen Wissenschaft, Tübingen 2003, 207–244.

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dem kleinen Band Neutestamentliche Wissenschaft5 den Anschluss an die »Autobiographical Bible Reading« genannte »Hermeneutik der Differenz« gesucht, die die Person des Exegeten und der Exegetin als wesentlichen Faktor für die Interpretation von Texten stärker berücksichtigen will. Stefan Scholz, der mit einer Arbeit über die Hermeneutiken der 80er Jahre bei Wischmeyer 2006 promoviert worden war und seine Habilitation einem bibeldidaktischen Thema gewidmet hat6, verknüpft neutestamentliche und bibeldidaktische Diskurse. Als Gegenentwurf versteht sich die 2014 erschienene Theologische Hermeneutik des Neuen Testaments von Ulrich Luz, der seine Hermeneutik als Hilfe zum Reden von Gott konzipiert.7 »Wie kann eine Hermeneutik des Neuen Testaments dazu beitragen, ein neues Verständnis für den zu schaffen, der sein Zentrum ist, nämlich Gott?«8, fragt er einleitend. Anders als die Entwürfe aus dem Wischmeyer-Kreis, die klare sachliche Entscheidungen mit dem Versuch verbinden, andere Zugänge zu integrieren, erfolgt bei Luz eine polemische Abgrenzung gegen textorientierte Hermeneutiken. Der Autor sei nicht tot (so Roland Barthes), neutestamentliche Wissenschaft sei als theologische Disziplin bezogen auf die Kirche zu konzipieren. Luz, dessen Vater Lehrer für Griechisch und Geschichte in Zürich und der selbst Pfarrer war, denkt im Hinblick auf »applikative Kontexte« eher an die Gemeinde als an die Schule. Ebenfalls 2014 ist die Hermeneutik Gerd Theißens unter dem Titel Polyphones Verstehen. Entwürfe zur Bibelhermeneutik erschienen.9 Gerd Theißens Arbeiten sind lebenslang von hermeneutischen Fragestellungen nicht nur begleitet, son-

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dern wesentlich vorangetrieben worden. Das spiegelt sich auf der Ebene der exegetischen Methoden (sozialgeschichtliche Auslegung, psychologische Auslegung), der Aufnahme von Interpretationsmodellen aus anderen Fächern (der Religionswissenschaft, der Soziologie und Psychologie, der Philosophie und der Biologie) und der Beiträge zu anderen Disziplinen, für uns besonders interessant die Predigtlehre10 und die Bibeldidaktik11. Seine hermeneutischen Überlegungen legte er zusammenfassend erstmals 2007 in einem Aufsatz vor.12 Theißen gestaltet seine Hermeneutik bezeichnenderweise als eine Sammlung von »Aufsätzen«, die ein »ziemlich universales« Ganzes bilden, aber stärker gegeneinander verschiebbar sind als die Kapitel einer Monographie. Bei der Hermeneutik geht es ihm um folgendes: »Eben dazu wird ja Hermeneutik getrieben, um über die Vielzahl der Zugangswege zum Text Klarheit zu gewinnen und sie einander zuzuordnen, damit das eine, grundlegende Thema der Theologie in all seinen Variationen, Nebenthemen, Umkehrungen 5 Eve-Marie Becker, Neutestamentliche Wissenschaft. Autobiographische Essays aus der Evangelischen Theologie, Göttingen 2003. 6 Stefan Scholz (wie Anm. 1). 7 Gerd Theißen / Ulrich Luz, Zu diesem Heft, in: EvTh 72 (2012), 243. 8 Ulrich Luz, Theologische Hermeneutik des Neuen Testaments, Neukirchen-Vluyn 2014, 15. 9 Gerd Theißen, Polyphones Verstehen. Entwürfe zur Bibelhermeneutik, Berlin 2014. 10 Gerd Theißen, Zeichensprache des Glaubens. Chancen der Predigt heute, Gütersloh 1994. 11 Gerd Theißen, Zur Bibel motivieren. Aufgaben, Inhalte und Methoden einer offenen Bibeldidaktik, Gütersloh 2003. 12 Gerd Theißen, Die Bibel in der protestantischen Exegese. Plädoyer für einen vierfachen Schriftsinn, Sacra Scripta 5 (2007), 164–191.

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und Durchführungen hörbar wird«.13 Dieses gemeinsame Thema ist der Transzendenzbezug aller biblischen Texte, die im Kern dazu einladen, den Dialog mit Gott aufzunehmen.14 Gerd Theißen und Ulrich Luz haben gemeinsam das Themenheft »Hermeneutik« der »Evangelischen Theologie« gestaltet. Sie sind durch ihr Interesse geeint, die Bibel in ihrem Transzendenzbezug und ihrem Handlungsbezug zum Verstehen zu bringen. »Theologie« und »Ethik« sind ihnen gleichermaßen wichtig. Die weiteren Beiträge in diesem Heft stammen von Philip Esler (London), dessen Arbeiten von sozialwissenschaftlich inspirierten Zugängen geprägt sind, von Thomas Ruster und Oliver Reis, Kollegen aus der katholischen Systematischen Theologie in Dortmund, die systemtheoretische Modelle fruchtbar machen und Elisabeth Parmentier aus Straßburg, die den Anschluss an den französischsprachigen Diskurs vollzieht. Eine dritte Akteursgruppe bilden Ruben und Mirjam Zimmermann. Ruben Zimmermann hat umfangreich zur Gleichnis- und Wunderhermeneutik gearbeitet und veröffentlicht.15 Einen weiteren Schwerpunkt bildet die Hermeneutik des Johannesevangeliums.16 2014 hat er zusammen mit Susanne Luther ein »Studienbuch« vorgelegt17, dessen Anliegen und Anlage dem »Handbuch der Bibelhermeneutiken« von Wischmeyer18 ähnelt. 2015 hat er seine Überlegungen im Artikel »Hermeneutik« zusammenfasst.19 Sein aktuelles Forschungsfeld ist die neutestamentliche Ethik und ihre Hermeneutik. Er und Mirjam Zimmermann haben diese Arbeiten für die Bibeldidaktik fruchtbar gemacht.20 Christof Landmesser arbeitet ebenfalls kontinuierlich am Thema Herme-

neutik. Ihm liegt besonders am Gespräch mit der systematischen Theologie und der Auseinandersetzung mit Bultmanns Hermeneutik.21 Damit ist natürlich nicht das gesamte Spektrum hermeneutisch relevanter Veröffentlichungen selbst in der deutschsprachigen evangelischen neutestamentlichen Wissenschaft abgedeckt. Einzelbeiträge zu nennen und darzustellen, würde aber den Rahmen dieses Beitrags sprengen. Auch die rege anglophone Forschung zur Hermeneutik wird deswegen nicht berücksichtigt. 13 Gerd Theißen (wie Anm. 9), 18. 14 Ebd., 63 passim. 15 Ruben Zimmermann, Hermeneutik der Gleichnisse Jesu. Methodische Neuansätze zum Verstehen urchristlicher Parabeltexte, Tübingen 2008; Ders. / Bernd Kollmann (Hg.), Hermeneutik der frühchristlichen Wundererzählungen. Geschichtliche, literarische und rezeptionsorientierte Perspektiven, Tübingen 2014. 16 Ruben Zimmermann, Wirksame Bilder im Johannesevangelium. Ein Lernfeld für eine praktisch-theologische Bibelhermeneutik, in: PrTh 42 (2007), 107–110. 17 Susanne Luther (Hg.), Studienbuch Hermeneutik. Bibelauslegung durch die Jahrhunderte als Lernfeld der Textinterpretation. Portraits – Modelle – Quellentexte, Gütersloh 2014. 18 Oda Wischmeyer, Handbuch der Bibelhermeneutiken, Berlin 2016. 19 Ruben Zimmermann, Art. »Hermeneutik«, Wissenschaftliches Bibellexikon (wibilex.de), 2015. 20 Mirjam Zimmermann / Ruben Zimmermann, Hermeneutische Kompetenz und Bibeldidaktik, in: Glaube und Lernen 30 (2005), 72–87; Dies., Handbuch Bibeldidaktik, Göttingen 2013; Dies., Skizze einer mimetischen Bibeldidaktik. Schrifthermeneutik im religionspädagogischen Kontext, in: PrTh 49 (2014), 165–172. 21 Unter seinen Arbeiten sind besonders der zusammen mit Andreas Klein herausgegebene Band, Der Text der Bibel. Interpretation zwischen Geist und Methode, Neukirchen-Vluyn 2013 und das zusammen mit Enno Edzard Popkes herausgegebene Buch Verbindlichkeit und Pluralität. Die Schrift in der Praxis des Glaubens, Leipzig 2015 hervorzuheben.

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Bezogen auf das Alte Testament wird der aktuelle Diskurs stark von der Frage nach seiner Kanonizität bestimmt. Das zeigt sich an der Debatte um die Thesen von Notger Slenczka22. Neben den älteren Arbeiten von Antonius H.J. Gunneweg23 und Manfred Oeming24 spielen die neueren Arbeiten von Bernd Janowski25, Frank Crüsemann26, die in einer Reihe von Aufsätzen veröffentlichten Überlegungen von Erich Zenger27 sowie die hermeneutische Dimension des 2008 erschienenen Aufsatzbandes von Otto Kaiser28 eine wichtige Rolle29. Für die Systematische Theologie verweise ich auf den Band Schriftauslegung von Friedrike Nüssel30 und den 2015 erschienenen Band von Ulrich Körtner31. Für den englischsprachigen Bereich ist die Monographie von Anthony Thiselton32 besonders hervorzuheben. Für die Erschließung des praktisch-theologischen Entwurfes habe ich das Themenheft der Praktischen Theologie von 2014 und die Arbeiten von Martina Kumlehn33 als hilfreich empfunden. 2.2 Gesamtentwürfe zur neutestamentlichen Hermeneutik

Detaillierter sollen die drei Monographien von Wischmeyer, Luz und Theißen vorgestellt werden. Oda Wischmeyer bestimmt den Ort ihrer Hermeneutik vor allem in der 22 Notger Slenczka, Die Kirche und das Alte Testament, in: MThZ 25 (2013), 83–119; Ders., Vom Alten Testament und vom Neuen. Beiträge zur Neuvermessung ihres Verhältnisses, Leipzig 2017. Dazu Friedrich Hartenstein, Die Bedeutung des Alten Testaments für die Evangelische Kirche. Eine Auseinandersetzung mit den Thesen von Notger Slenczka, in: ThLZ 140 (2015),



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738–751. Eine Gegenposition, nämlich eine Gleichrangigkeit beider Testamente, vertritt Frank Crüsemann. Zur aktuellen katholischen Diskussion vgl. Karl Lehmann / Ralf Rothenbusch (Hg.), Gottes Wort im Menschenwort. Die eine Bibel als Fundament der Theologie, Freiburg i.Br. 2014. 23 Antonius Gunneweg, Vom Verstehen des Alten Testaments. Eine Hermeneutik, Göttingen 1977. 24 Manfred Oeming, Biblische Hermeneutik, Darmstadt 1998. 25 Bernd Janowski, Kanonhermeneutik. Vom Lesen und Verstehen der christlichen Bibel, Neukirchen-Vluyn 2007. 26 Frank Crüsemann, Das Alte Testament als Wahrheitsraum des Neuen. Die neue Sicht der christlichen Bibel, Gütersloh 2011. 27 Erich Zenger, Was die Kirche von der jüdischen Schriftauslegung lernen kann, in: Christoph Dohmen (Hg.), In Gottes Volk eingebunden. Christlich-jüdische Blickpunkte zum Dokument der Päpstlichen Bibelkommission »Das jüdische Volk und seine Heilige Schrift in der christlichen Bibel« (2003) 109–120; Ders., Die Bibel Israels – Grundlage des christlich-jüdischen Dialogs, in: KuI 24,1 (2009) 25–38. 28 Otto Kaiser, Vom offenbaren zum verborgenen Gott. Studien zur spätbiblischen Weisheit und Hermeneutik, Berlin u.a. 2008. 29 Zur Zeit der Abfassung dieses Beitrags noch nicht erschienen war der von Markus Witte und Jan-Christian Gertz herausgegebene Band »Hermeneutik des Alten Testaments«, Leipzig 2017. 30 Friederike Nüssel (Hg.), Schriftauslegung, Göttingen 2014. 31 Ulrich Körtner, Arbeit am Kanon. Studien zur Bibelhermeneutik, Leipzig 2015. 32 Anthony Thiselton, Hermeneutics. An Introduction, Grand Rapids 2009. 33 Martina Kumlehn, Extravaganz und Grenzausdruck. Ricoeurs Zugänge zur Bibel im Spiegel seiner Hermeneutik, in: Dietrich Korsch (Hg.), Paul Ricoeur und die Evangelische Theologie, Stuttgart 2016, 1–13; Dies., Die Bibel als »Schatzkammer« religiöser Bildungsprozesse. Friedrich Niebergalls Bibeldidaktik im Spiegel seiner Religionspädagogik, in: David Käbisch (Hg.), Friedrich Niebergall. Werk und Wirkung eines liberalen Theologen, Tübingen 2016, 85–96; dies., Geöffnete Augen – gedeutete Zeichen. Historisch-systematische und erzähltheoretischhermeneutische Studien zur Rezeption und Didaktik des Johannesevangeliums in der modernen Religionspädagogik, Berlin/New York 2007.

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Textlinguistik und den Literaturwissenschaften34, nachgeordnet in den Geschichts- und Kulturwissenschaften, nicht jedoch in der Theologie. Ihre Hermeneutik ist dezidiert keine theologische35, gewiss keine hermeneutica sacra, auch keine hermeneutica specialis. Die gesamte Disziplin der neutestamentlichen Wissenschaft wird damit nicht mehr vorrangig der Theologischen Wissenschaft zugeordnet. Sie versteht sich konsequent jenseits des linguistic turn (Rorty) in der Postmoderne und verbindet damit drei Veränderungen im Vergleich zur Moderne und ihren Hermeneutiken: 1. Eine Relativierung des erkennenden Subjekts. Das Subjekt muss sich selbst »historisieren« und »kontextualisieren«; damit geht der Anspruch, »wahre« Aussagen machen zu können, verloren. Gewährsmann ist Foucault. 2. Den Abschied von einem Verständnis von Sprache als Repräsentationsweise außersprachlicher Wirklichkeit und der Übernahme der Bestimmung Derridas, es gäbe nichts außer Text. 3. Die Kritik an »den großen Metaerzählungen der Moderne« zugunsten der Annahme unüberbrückbarer Differenzen in der Gesellschaft, wie sie von Lyotard vorgelegt worden ist.36 Das Profil ihrer Hermeneutik fasst Wischmeyer mit den folgenden Stichworten zusammen: Dekanonisierung, Dehistorisierung, Despiritualisierung, Textualisierung, Kulturalisierung.37 Die Durchführung ist tatsächlich moderater und ausgeglichener als man nun vermuten würde. Sie bestimmt die Aufgabe der Hermeneutik dreifach: Es geht (1) um das Verstehen der Texte, (2) um das kritische Verstehen ihrer kirchlichen Rezeption

und (3) ihre Kommunikation in einer postchristlichen Gesellschaft. Es erfolgt durch die Zugänge der textbezogenen (also nicht der philosophischen oder theologischen) Wissenschaften und vollzieht sich als historisches, rezeptionsgeschichtliches, sachliches und textuelles Verstehen. Das historische Verstehen setzt mit dem Verstehen der Sprache des NT ein, wird über die Kenntnis der Gattungen gelenkt und durch die Rekonstruktion oder Konstruktion des historischen Kontextes im »hermeneutischen Dreieck« von Verfasser, Situation und Adressat in deren Zeit und Umwelt vertieft. Hierdurch wird die Bedeutung des Textes, sein Sinnkern rekonstruiert. Wischmeyer hebt hervor, dass diese (Re-)Konstruktionen immer hypothetisch und der konzeptionelle Zugang an die Paradigmen von Aufklärung und Moderne gebunden bleiben, womit sie grundlegend christentums- und kirchenkritisch sind. Die besondere Leistung der historischkritischen Methoden bestehe darin, das Verständnis vor aufgezwungenen Applikationen und dogmatischer Vereinnahmung zu schützen. Das rezeptionsgeschichtliche Verstehen ist für unser bibeldidaktisches Anliegen besonders wichtig: Wischmeyer thematisiert zunächst die Kanonisierung als Rezeptionsvorgang, wodurch die situativ zu erklärenden Texte einem »reframing« unterzogen werden, das ihnen ein bleibendes und wachsendes Sinnpotenzial zuschreibt, das durch die Auslegungsund Wirkungsgeschichte »ent-wickelt« wird. Die Entstehungsbedingungen werden damit unwichtig, der »historische« 34 35 36 37

Oda Wischmeyer (wie Anm. 3), 3. 196. Ebd., 196. Ebd., 204. Ebd., 204–211.

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Autor stirbt bereits hier und wird durch den häufig fiktiven Apostel ersetzt. Die Texte gewinnen eine normative und sakrale Bedeutung. Wischmeyer arbeitet mit rezeptionsästhetischen Kategorien: Sie bestimmt den Kanonisierungsprozess als Rezeptionsvorgang, durch den der Text zusätzlichen Sinn erhält. In der Postmoderne tritt die Dekanonisierung gleichberechtigt als hermeneutische Kategorie daneben; durch die historisch-kritischen Methoden ist der Dekanonisierungsprozess eingeleitet worden, durch die kontextuellen Hermeneutiken – darunter fasst sie feministische, befreiungstheologische, autochthone, also asiatische, afrikanische etc. Lektüreformen – ist er weitergeführt worden, insofern die hinter kirchlichen Rezeptionsprozessen liegenden Machtverhältnisse offengelegt und Rezeptionen als »fehlerhaft« aufgedeckt werden. Beim sachlichen Verstehen geht es zunächst um den Inhalt, die Aussage und Referentialität, sowie um die Wahrheit der Texte, sodann um ihre Pragmatik und ihre Ästhetik. Methodisch werden die Instrumente der Sprachwissenschaft verwendet, Ziel ist es die Bedeutung des Textes und seine Sinnpotenziale zu erheben38, die Wirklichkeitskonstruktion und den Wahrheitsanspruch39 und ihren Anspruch, menschliches Verhalten zu beeinflussen, zu bestimmen. Auch die Würdigung ihrer ästhetischen Qualität und ‒ da es sich um nicht-fiktionale Texte handelt – ihrer Sache, nämlich dem Lebens- und Todesschicksal Jesu und seiner Anhänger40 sowie der theologischen und anthropologischen Reflexion dieses Geschehens in den Briefen, gehört zum »sachlichen Verstehen«. Das textuelle Verstehen schließlich erarbeitet den Text mit linguistischen Methoden und versteht ihn in seinen intertextuellen Bezügen.

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Für unsere Frageperspektive besonders weiterführend ist die Unterscheidung von Rezeption und Interpretation. Zur Rezeption zählt Wischmeyer u.a. auch das »Lesen in der Schule«41. Die Textlektüre »führt zur persönlichen Aufnahme und Übernahme des Textes«42. Lesende sind an der Textbotschaft, der Antwort darauf und der persönlichen Anwendung«43 interessiert. Der Leser und die Leserin eines Textes generieren Bedeutung, indem sie sich inhaltlich über Syntax und Semantik verständigen, zwischen mitteilenden und appellativen Texten unterscheiden, die außertextlichen Referenzen und den Anspruch der Texte bedenken sowie diesem zustimmen oder ihn in Frage stellen.44 Schwerpunkt ist also das »sachliche Verstehen«. Die Interpretation hingegen ist in der Wissenschaft verortet, erfolgt methodisch und hermeneutisch reflektiert; sie kann ihr Textverständnis kommunizieren. Die Rezeption neutestamentlicher Texte ist ein Gegenstand ihrer Interpretation. Für das Verständnis unserer wissenschaftlichen religionspädagogischen Arbeit ist Wischmeyers Kritik an der »kirchlichen Benutzung«45 und an der unterbestimmten Verhältnisbestimmung der »theologisch-systematischen Schriftnutzung«46 relevant. Die kirchliche Benutzung des NT sieht sie kritisch, insofern diese weder den Anforderungen der Inter38 Ebd., 136. 39 Ebd., 146. 40 Ebd., 170. 41 Ebd., 199. 42 Ebd. 43 Ebd., 200. 44 Ebd., 118. 45 Ebd., 199. 46 Ebd., 200.

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pretation noch der »persönlichen Lektüre« entspricht, da sie präskriptiv und normierend ist. Die für den Protestantismus typische Verbindung von Kirchenleitung und Wissenschaftlicher Theologie sei damit nicht durchgehalten. Diese Kritik betrifft die Orientierung an Lehrplänen, Bildungsstandards und Kompetenzbeschreibungen. Die Verhältnisbestimmung zur dogmatischen Schriftnutzung erfolgt über die rezeptionsästhetische Interpretation der Kanonbildung. Die Interpretation, durch die die Sinnpotenziale eines Textes ausgelotet werden, ermöglicht ein Urteil über die Legitimität von Rezeptionen und damit auch über die Legitimität dogmatischer Rezeption. Das Alte Testament wird bei Wischmeyer in der Dimension des historischen und des textuellen Verstehens (Intertextualtität) zum Gegenstand, spielt aber insgesamt keine große Rolle. Die Differenzierung von Bedeutung und Sinn(potenzial) ist für die spezifischen Anforderungen an eine alttestamentliche Hermeneutik m.E. hinreichend; der hermeneutische Ansatz wäre auf alttestamentliche Texte also anwendbar. Der gesellschaftliche Kontext, in den hinein sie denkt, ist für pädagogische Diskurse insofern anschlussfähig, als sie postmoderne Prägungen ernst nimmt und über die Rezeption spezifische Lektüreformen berücksichtigen kann. Ihr hermeneutischer Entwurf hat aber vor allem wissenschaftliche Adressaten vor Augen. Gesellschaftliche Bedingungen, wie sie sich sozialwissenschaftlich erheben lassen, bedenkt sie nicht. Auch die Beachtung der Medialität fehlt – Wischmeyer denkt ausschließlich und selbstverständlich an Texte und Lesen. Ausgeblendet ist die Frage nach den Möglichkeiten einer Relevanzzuschreibung biblischer Texte

durch die Mitglieder einer postchristlichen Gesellschaft. Die neutestamentliche Wissenschaft mit ihrer reichen Ausstattung an den Universitäten erscheint ihr (erstaunlicherweise) noch fraglos gegeben. Für die bibeldidaktische Frage nach der Motivation von SuS finden wir bei ihr keine Anknüpfungspunkte. Ulrich Luz kennzeichnet seine Hermeneutik ausdrücklich als eine theologische. Methodisch stehen für ihn philologische und historische Methoden im Zentrum, weil diese die Fremdheit der Texte wahrnehmbar machen. Schon sozialgeschichtliche und kulturanthropologische Zugänge ordnet er nach, synchrone Methoden lehnt er völlig ab.47 Programmatisch formuliert er, dass der Autor nicht tot ist, »sondern durch seine Texte lebt«48. Die theologische Relevanz des neutestamentlichen solcherart in seiner Fremdheit wiedergewonnenen Textes konstruiert er vor allem über die Metapher Hans Weders vom »fremden Gast«49. Der Text ziehe, wie ein fremder Gast eben durch seine Fremdheit diejenigen, die ihm Zugang gewähren, ganz ohne Ausübung von Macht, in Frage. Verstanden sei der Text, wenn sein Rezipient sich in einen Dialog mit dessen universalem Wahrheitsanspruch begeben habe, ihn auf sein Leben und seine Lebenswelt anwende und sein Handeln von dort her orientiere.50 Die theologische Qualität seiner Hermeneutik bestimmt Luz durch ihren Kirchenbezug: »Theologische Hermeneutik erweist sich 47 Ulrich Luz (wie Anm. 8), 21. 48 Ebd., 1. 49 Hans Weder, Neutestamentliche Hermeneutik, Zürich 1986, 428–435. 50 Ulrich Luz (wie Anm. 8), 24.

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darin als theologisch, dass sie einen Beitrag zum gegenwärtigen Identitätsdiskurs von Christinnen und Christen in der Kirche leisten will.«51 Kirche versteht er als konfessionsübergreifende Größe, die ihre Einheit im gemeinsamen Bezug auf die Bibel und durch ihre moralische Orientierung an der Liebe findet. Den biblischen Text versteht er deswegen als kanonischen. Die Herausforderung, die er mit seiner Hermeneutik bearbeitet, ist eine dreifache: (1) Die Verständnisschwierigkeiten, die zeitgenössische Personen mit neutestamentlichen Texten haben, liegen seiner Diagnose nach darin begründet, dass diese von Gott reden und Gott aus unserer Lebenswelt verschwunden sei.52 Hermeneutik muss nach Möglichkeiten suchen, Gott wieder zur Sprache zu bringen. (2) Die heutige plurale, in den Augen von Luz beliebige Bibelauslegung führe zu einem Grad an Individualisierung, die Kirche als Gemeinschaft auflöse. Es geht ihm deswegen vor allem darum – dies ist die wichtigste seiner Leitfragen53 – eine Balance zwischen einer konfessionellen Verengung und einer grenzenlosen Beliebigkeit von Bibelauslegung zu finden. Hermeneutik muss dazu geeignet sein, die Bibel als das Fundament einer Kirche zur Geltung zu bringen. Ulrich Körtners Rede vom inspirierten Leser – und damit den rezeptionsästhetischen Ansatz – modifiziert er dadurch, dass er diesen in Abgrenzung vom willkürlichen Interpreten als kirchlichen Leser bestimmt, der den kanonischen Text von seiner (kirchlichen) Auslegungs- und Wirkungsgeschichte her (im Sinn von Hans Georg Gadamer) liest. Während die Eindeutigkeit des Textsinnes durch die Explikation und die philologi-

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schen und historischen Methodenschritte leicht bestimmbar ist (Luz verwendet die Begriffe Sinn und Bedeutung [absichtlich?] genau umgekehrt wie Wischmeyer), müht er sich vor allem um die Beschreibung der Offenheit der Bibelauslegung. Die Notwendigkeit einer solchen Offenheit entsteht durch die Applikation als notwendiger Bestandteil des Verstehens. Um sie methodisch reflektiert zu begrenzen, wählt er die Metapher von Leitlinien oder Leitplanken. Diese Gedanken führt er sehr differenziert weiter: Zunächst knüpft er an die Theorie vom kommunikativen Handeln von Jürgen Habermas an54 und verwendet die Kategorien der Verständlichkeit, Wahrhaftigkeit, Wahrheit und Richtigkeit. Besonderes Gewicht verleiht er dem Kriterium der Wahrhaftigkeit: Eine Leitlinie für Legitimität einer biblischen Interpretation ist damit an den Auslegenden geknüpft. Konkret denkt er an intellektuelle Redlichkeit (das, was dem Auslegenden selbst einleuchtet, auch dann, wenn die Einsicht intuitiv zustande gekommen ist), die Fähigkeit zur Empathie mit dem biblischen Autor (der Interpret muss ähnliche Erfahrungen wie der biblische Autor gemacht haben) und die Bereitschaft zum konsequenten Handeln, zur Parteinahme für die Schwachen und Solidarität mit ihnen.55 Luz vertritt damit nicht nur eine hermeneutica specialis56, sondern de facto eine hermeneutica sacra. Die Wahrheit als Kategorie des kommunikativen Handelns nach Habermas als Kriterium für die Legitimität von Textinterpretationen versucht er über eine inhaltliche 51 52 53 54 55 56

Ebd., 27. Ebd., 15. Ebd., 519. Ebd., 391–393. Ebd., 525–526. Ebd. 17.

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Bestimmung des Kerns der biblischen Botschaft zu gewinnen. Er setzt bei den Evangelien an und greift einen Vorschlag von Eckhart Reinmuth auf, der von der Jesus-Christus-Geschichte – den Jesuserzählungen der Evangelien – gesprochen hat. Diesen Vorschlag vertieft er dann durch zwölf weiterführende Überlegungen57. Der Anknüpfung an die Kategorien von Habermas stellt er eine »pragmatische« Leitlinie zur Seite: die Liebe. »Im Blick auf den erhöhten Christus ist eine Interpretation eines biblischen Textes dann wahr, wenn sie Liebe schenkt oder bewirkt«58. (3) Die dritte Herausforderung sieht er in der Ganzheitlichkeit des Verstehens, die wiederum durch die Notwendigkeit der Applikation gegeben ist: Wenn die Texte erst dann verstanden sind, wenn sie »Glauben und Gehorsam, Frömmigkeit, Leiden und Handeln«59 hervorgebracht haben, erfordert das Verstehen die Beteiligung aller Sinne und eine Erweiterung der Reichweite auf alle Lebens- und Handlungsfelder der Rezipienten. Diese »holistische« Applikationsorientierung sieht er methodisch durch die psychologische, die feministische und befreiungstheologische Auslegung sowie durch die Verwendung von Bildern unterstützt. Insbesondere das MtEv und das JohEv seien diesem Anliegen verbunden, in der Auslegungsgeschichte sei es vor allem durch Augustinus verbürgt. Bei der Besprechung der Verwendung von Bildern erweist er ausdrücklich der Bibeldidaktik Referenz.60 Zusammenfassend formuliert er: »Einen neutestamentlichen Text interpretieren heißt, ihn zur sprachlichen Hülle werden zu lassen, in der Jesus Christus heute wieder lebendig spricht.«61 – denn in der erzählten Geschichte und der Wirkung der Liebe begegne Gott in der Welt:

»Was ich versucht habe, war der Entwurf einer christologischen Hermeneutik, die durch die Zwei-Naturen-Lehre inspiriert ist, aber in einer modernen Gestalt.«62 Die Verhältnisbestimmung der hermeneutischen Aufgabe zwischen Kirche und postchristlicher Gesellschaft ist bei Luz breit thematisiert. Die gesellschaftlichen Bedingungen der Gegenwart nimmt er jedoch stark fokussiert auf theologisch unmittelbar relevante Themen auf. Auch hier sind gesellschaftliche Veränderungen, wie sie sozialwissenschaftlich erhoben werden können, nicht beobachtet und fruchtbar gemacht. Medialität wird unter der Überschrift »Ganzheitlichkeit« thematisiert und wertgeschätzt, wenn auch nicht auf ihre aktuellen Formen bezogen. Die Relevanzzuschreibung erfolgt über Gadamers Konzept der Wirkungsgeschichte. Das ist für die Motivation von Schülerinnen und Schülern m.E. nur schwer anschlussfähig. Das Alte Testament wird nur gestreift; für jede, auch für diese christologische Hermeneutik liegt hier ein Problem.63 57 Ebd., 531–541; vgl. 418–466. 58 Ebd., 547. 59 Ebd., 11. 60 Ebd., 350. 61 Ebd., 555. 62 Ebd. 63 Luz nimmt die These Crüsemanns, das Alte Testament sei der Wahrheitsraum des Neuen und die Position, es gebe im NT keine christliche Wahrheit, die nicht aus dem Alten Testament gewonnen wäre, positiv auf (414f) und lehnt eine christologische Interpretation des Alten Testaments ab (542–544). Die Sinnüberschüsse alttestamentlicher Texte im Vergleich zu neutestamentlichen, bestimmt er ausdrücklich als Bereicherung für Christen und Christinnen. Der Rang dieser Sinnüberschüsse im Verhältnis zur Jesus-Christus-Geschichte bleibt jedoch unbestimmt.

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In Gerd Theißens Entwurf Polyphones Verstehen ist die Pluralität der Bibeldeutungen nicht sorgenvoll konzediert, sondern frei und offen bejaht. In vielen Hinsichten steht Theißens Hermeneutik in der Mitte zwischen den Entwürfen von Luz und Wischmeyer. Aus diesem »ziemlich universalen« Entwurf greife ich Überlegungen heraus, die mir aus bibeldidaktischer Perspektive besonders anregend erscheinend. Theißens Kernanliegen ist es, der Bibel in der Gegenwart Raum für ihre Geltungsansprüche und für ihre Rede von Gott zu verschaffen.64 Hermeneutik weist er ihre grundlegende Aufgabe im Gespräch mit der säkularen Welt zu. Biblische Hermeneutik erscheint deswegen nur im Rahmen einer Religionshermeneutik sinnvoll. Es müsse zunächst geklärt werden, wie angesichts von Religionskritik Religion möglich wird. Sein Gewährsmann ist deswegen nicht Gadamer mit seinem harmonischen Bild einer Wirkungsgeschichte, sondern Ricoeur mit seiner konfliktorientierten Hermeneutik. Die Möglichkeit von Religion – religionsphänomenologisch verstanden ‒ behauptet er in Anknüpfung an den späten Ludwig Wittgenstein als anthropologische Konstante. Das Staunen über das Sein, die Möglichkeit zu vertrauen und die Verantwortlichkeit seien die kritikresistenten religiösen Grunderfahrungen.65 In die Zeichensysteme der Religionen gegossen, wird aus diesen potenziellen Strukturen Religion. Gegenstand des Verstehens sind für Theißen weniger die Buchstaben der Bibel, also ihre Texte, als ihr Geist, den er über die beiden Axiome Monotheismus und Erlöserglaube und eine offene Reihe von Grundmotiven bestimmt. Diese be-

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schreiben die Grammatik der biblischen Zeichensprache, die Baupläne der »semiotischen Kathedrale«. Diese Grundmotive bestimmt er als Suchprogramme, die es ermöglichen, unsere Lebenserfahrungen auf Transzendenzerfahrungen hin zu scannen. Diese sind es also, die die Grundlage für eine Applikation bilden. Theißen konzipiert seine Hermeneutik aus einem Zusammenspiel der eher protestantischen Reduktionshermeneutiken, in denen ein Thema zum Schlüssel für das Verständnis der ganzen Bibel wird, wie das reformatorische »was Christum treibet«, und den eher katholischen polythematischen Ansätzen mit der Tradition des vierfachen Schriftsinns. In der Gliederung seiner Hermeneutik spiegelt sich der »vierfache Schriftsinn« in der kanonischen, der kritischen, der ethischen und der ästhetischen Dimension der Bibelauslegung. Das eine gemeinsame Thema, der Transzendenzbezug, wird als Hauptthema im letzten Kapitel ausdrücklich besprochen und als Querschnittsthema in den vier Dimensionen der Bibelauslegung immer wieder zur Sprache gebracht. Theißen befürwortet einen Methodenpluralismus, und zwar sowohl im Feld der wissenschaftlichen Methoden, deren Verhältnis er als korrelativ bestimmt66, als auch im Feld der engagierten Lektüreformen, deren zuweilen konkurrierende Verschiedenheit er mit der Verschiedenheit gesellschaftlicher Gruppen und ihrer Identitätsdiskurse 64 Gerd Theißen, Bibelhermeneutik als Religionshermeneutik. Der vierdimensionale Sinn der Bibel, in: EvTh 72 (2012), 291‒306, 291. 65 Ebd., 296f. 66 Gerd Theißen (wie Anm. 9), 200–201.

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verbindet. Dem historischen Methodenspektrum räumt er, wann immer die Quellenlage es ermöglicht, den Vorrang ein.67 Das konflikthafte Verhältnis von wissenschaftlichen Methoden und engagierten Lektüreformen erklärt er als einen verdeckten Machtkonflikt. Er weist – augenöffnend – darauf hin, dass Hermeneutiken, eigentlich als Theorien der Exegese konzipiert, den Schwerpunkt darauf legen, wie Texte in der Gegenwart verstanden werden können, worauf Exegese gerade nicht zielt.68 Abschließend zeigt er, wie man konstruktiv mit diesem Konflikt umgehen kann. Für uns relevant ist, dass er die Überprüfung dessen, was zum Sinnpotenzial des Textes gehört, zu den Aufgaben der wissenschaftlichen Exegese zählt. Die engagierten Lektüreformen regen die wissenschaftliche Exegese zu einer solchen Überprüfung an, sind also Innovationsimpulse. Methodenpluralismus führt folglich nicht zu beliebigen Auslegungen, sondern zu einer begrenzten Vielfalt von legitimen Textinterpretationen. Einen eigenen Abschnitt widmet Theißen der Frage nach Motivation zur Bibellektüre. Er macht plausibel, dass der Relevanzverlust der Bibellektüre und der Exegese damit zu tun haben, dass ihnen ein motivierender Rahmen fehlt. Spannend werde Bibellektüre dann, wenn theologische Programme das Wozu und Wie der Bibellektüre klären: Er nennt fünf solche theologischen Programme, die die Exegese »ermächtigen«. Ein Beispiel: Zu den Methodenschritten der klassisch historisch-kritischen Bibellektüre motiviere ein dogmen- und kirchenkritisches theologisches Programm. Am Beispiel der Apostelin Junia in Röm 16,7 zeigt er, wie interessant der für viele als

langweilig geltende Methodenschritt der Textkritik werden kann, wenn man ihn mit einem institutionenkritischen und genderorientierten Programm versieht. Ohne einen solchen Rahmen fehlt die Motivation außerhalb der wissenschaftlichen Gemeinschaft. In Anknüpfung an die Stufenhermeneutik des JohEv und der Gnosis postuliert er, das Verstehen der Bibel für Menschen mit unterschiedlich stark ausgeprägtem Interesse am Gegenstand zu differenzieren69, und wirbt zugleich dafür, religiöse Bilder und metareligiöse Überlegungen, den »einfachen Glaubens« und seine »philosophische Neudeutung« nebeneinander (und auch in demselben Subjekt) zu tolerieren. Die erste Anregung ist für den schulischen Kontext mit seinen heterogenen Lerngruppen weiterführend, die zweite könnte gerade für die Fragestellung dieser Tagung anregend sein, wenn man sie entwicklungspsychologisch »konjugiert«: Können und sollen die religiösen Bilder des Grundschulkindes neben oder unter den kritischen metareligiösen Überlegungen des Jugendalters Bestand haben? Wie könnte das gelingen? 3. Zusammenfassende Überlegungen

In den Theorien zur wissenschaftlichen Exegese lässt sich allenfalls eine Relativierung der Bedeutung historischer Methoden feststellen, in keinem Fall jedoch ein Abschied von ihnen. Synchrone, textbezogene Methoden gewinnen an 67 Ebd., 22. 68 Ebd., 204. 69 Ebd., 24–25.

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Bedeutung, bleiben aber an die Kenntnis der Ursprachen gebunden. In der biblischen Hermeneutik ist der Methodenpluralismus anerkannt. Die Zuordnung der einzelnen Zugangstypen erfolgt jedoch mit sehr verschiedenen Modellen und mit entsprechend verschiedenen Folgen. Das als legitim anerkannte Spektrum variiert dabei stark. Unbestritten ist – auch im Hinblick auf rezeptionsästhetische Ansätze – dass eine »harte« Überprüfung am Text unerlässlich ist. Die Bindung der Exegese und der Hermeneutik an die Kirche und damit die Rezeption der Bibel als kanonischer Text bleibt ein heftig umstrittenes, meiner eigenen Einschätzung nach außerdem durch kaum aufzulösende Dilemmata bestimmtes Feld. Um hier Handlungsfähigkeit zu gewinnen, wäre ein offenes, Misstrauen überwindendes Gespräch, das nach Möglichkeiten sucht, verschiedene Perspektiven miteinander zu vermitteln, ein Desiderat. Das Verhältnis von wissenschaftlicher Exegese, theologischer Wissenschaft, kirchlicher Theologie und kirchlich inspirierter Bibellektüre ist für hermeneutisches Nachdenken relevant und wird, wie zu erwarten, unterschiedlich bestimmt. Vor allem diese Substrukturen stehen einem eklektischen Umgang mit den vorgestellten Entwürfen zur Hermeneutik entgegen. Konsequenter als die Auswahl einzelner als plausibel erscheinender Ele-

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mente der vorliegenden Entwürfe ist der diskurstheoretische Ansatz von Stefan Scholz, den Bibeldiskurs in der Religionspädagogik gleichrangig neben diejenigen in der Biblischen und Systematischen Theologie zu stellen. Eine solche Entscheidung ist jedoch mit hohen Kosten belastet: Das Gespräch zwischen den theologischen Disziplinen wird weiter erschwert; die Wissenschaftliche Theologie als übergreifende Größe wird geschwächt. Wer das nicht will, muss sich einem Gesamtentwurf anschließen oder ‒ das ist der beste Weg ‒ an seiner eigenen Bibelhermeneutik arbeiten und sie immer neu durchdenken. Die hier vorgelegten Fragen betreffen nicht nur das Tagungsthema im engen Sinn. Sie betreffen unsere eigene Praxis als Hochschullehrende. Unsere Studierenden unterscheiden sich im Hinblick auf ihren Entwicklungsstand und ihr Interesse an der Bibel nur graduell von den Jugendlichen, deren Bibelverstehen Gegenstand dieses Bandes ist. In unseren Studiengängen geht es zwar um Professionswissen, Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen wollen unsere Studierenden aber in der Regel nicht werden. Die Fragen, die hier angerissen worden sind, haben einen hohen impact für das, was wir in unserem Berufsalltag tun, und betreffen uns als Forschende und Lehrende. Hermeneutisch wünschenswert wäre es, auch diese Selbstreferenz zu berücksichtigen.

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Fächervergleichende Perspektiven

Christina Hoegen-Rohls Literarisches Lernen im Deutschunterricht und Biblisches Lernen im jugendtheologisch ausgerichteten Religionsunterricht – grundsätzliche Erwägungen zur Textarbeit im Fächervergleich Die im vorliegenden Beitrag angestellten Überlegungen zum Vergleich zwischen der Arbeit am biblischen Text im Religionsunterricht und der Arbeit an literarischen Texten im Deutschunterricht widmen sich auf theoretischer Ebene der Frage, ob und wie das literaturdidaktische Programm des Literarischen Lernens1 auf den Umgang mit der Bibel in einem jugendtheologisch akzentuierten Religionsunterricht übertragen werden kann. Skizziert werden Umrisse eines bibeldidaktischen Programms, das im Anschluss an das Literarische Lernen als »Biblisches Lernen« bezeichnet werden soll. Aus der Skizze lassen sich Folgefragen für die empirische Forschung zur Jugendtheologie, und zwar insbesondere für das gesprächshafte Theologisieren mit Jugendlichen ableiten. Auf diese Weise sollen die folgenden Erwägungen dazu beitragen, das religionspädagogische Konzept »Jugendtheologie« durch den Fächervergleich weiter zu konturieren. 1. Literarisches Lernen in den Koordinaten der Lese-, Schreib- und Gesprächsdidaktik: Zum literarästhetischen, literarhistorischen und persönlichkeitsbildenden Umgang mit literarischen Texten im Deutschunterricht

»Literarisches Lernen« ist ein Konzept, das sich in der Literaturdidaktik der letz-

ten fünfzehn Jahre entwickelt und etabliert hat. Aufbauend auf Untersuchungen von Petra Büker (2002)2, Kathrin Waldt (2003)3, Ulf Abraham und Matthis Kepser (2005)4, verdankt das Konzept dem programmatischen Aufsatz von Kaspar H. Spinner (2006)5 entscheidende Impulse. Spinner benennt elf Aspekte, die das Literarische Lernen im Umgang mit fiktionalen, poetischen Texten im Literaturunterricht bestimmen, angefangen bei dem imaginativ-subjektiven Sicheinlassen auf literarische Texte über kognitiv-objektive Herangehensweisen zu deren Erschließung im Blick auf sprachliche Gestaltung, Figurenzeichnung und Handlungslogik bis hin zur Ausbildung eines Bewusstseins für die gattungsbezogene und literaturgeschichtliche Einord1 Ich verwende den Ausdruck als festen Terminus und schreibe ihn daher groß. Dasselbe gilt für die Ausdrücke »Biblisches Lernen« und »Biblisches Gespräch«. 2 Petra Büker, Literarisches Lernen in der Primar- und Orientierungsstufe, in: Klaus-Michael Bogdal / Hermann Korte (Hg.), Grundzüge der Literaturdidaktik, München 2002, 120–133. 3 Kathrin Waldt, Literarisches Lernen in der Grundschule. Herausforderungen durch ästhetisch-anspruchsvolle Literatur, Baltmannsweiler 2003. 4 Ulf Abraham / Matthis Kepser, Literaturdidaktik Deutsch. Eine Einführung, Berlin 2005. 5 Kaspar H. Spinner, Literarisches Lernen, in: Praxis Deutsch 200 (2006), 6–16.

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nung der Texte. Im Einzelnen nennt er: (1) Beim Lesen und Hören Vorstellungen entwickeln. (2) Subjektive Involviertheit und genaue Wahrnehmung miteinander ins Spiel bringen. (3) Sprachliche Gestaltung aufmerksam wahrnehmen. (4) Perspektiven literarischer Figuren nachvollziehen. (5) Narrative und dramatische Handlungslogik verstehen. (6) Mit Fiktionalität bewusst umgehen. (7) Metaphorische und symbolische Ausdrucksweise verstehen. (8) Sich auf die Unabschließbarkeit des Sinnbildungsprozesses einlassen. (9) Mit dem literarischen Gespräch vertraut werden. (10) Prototypische Vorstellungen von Gattungen/Genres gewinnen. (11) Literaturhistorisches Bewusstsein entwickeln.6 Nicht zu Unrecht haben in der lebhaften Diskussion um Spinners Ansatz Klaus Maiwald, Ulf Abraham und Matthis Kepser eine stärkere Systematisierung der elf Aspekte angeregt. So kann Aspekt (7), der auf das metaphorisch-symbolische Sprachverstehen zielt, in Aspekt (3) integriert werden, dem es um die aufmerksame Wahrnehmung sprachlicher Gestaltungsmittel geht.7 Auch lässt sich Aspekt (8), der darauf abhebt, dass literaturunterrichtliches Arbeiten nicht dazu diene, eine einzige, allein zutreffende und somit für immer feststehende Deutung literarischer Texte zu erheben, mit Aspekt (9) korrelieren, da gerade das »literarische Gespräch« Gelegenheit gibt, die Vielschichtigkeit und Mehrdeutigkeit eines Textes auszuloten und aus ganz unterschiedlichen Perspektiven zur Geltung zu bringen.8 Ferner bietet es sich an, die Aspekte Literarischen Lernens nach den Kategorien individuellen, sozialen und kulturellen Lernens zu sortieren und auszudifferenzieren.9 Kann Spinners Elf-

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Aspekte-Programm durch solche Systematisierungen sicher noch gewinnen, so wäre es gleichwohl missverstanden, wenn es als lückenlos und in der Reihenfolge der genannten Aspekte abzuarbeitender Plan aufgefasst würde. Nicht alle Aspekte werden in jeder literaturunterrichtlichen Situation ausführlich und explizit zu verhandeln sein. Das Programm spiegelt vielmehr eine Haltung, mit der Lehrende einem literarischen Gegenstand in angemessener Sensibilität begegnen können, um diese Haltung auch bei ihren Schülerinnen und Schülern im Umgang mit Literatur anzubahnen und zu fördern. Die Haltung des Literarischen Lernens, die auch das Lernen der Lehrkräfte mit einschließt, ist für den Literaturunterricht aller Schulstufen relevant und anzustreben. Dies mag vielleicht mit Blick auf

6 Ebd., 8–13; vgl. dazu auch Volker Frederking, Modellierung literarischer Rezeptionskompetenz, in: Michael Kämper-van den Boogart / Kaspar H. Spinner, Lese- und Literaturunterricht, Bd. 1: Geschichte und Entwicklung. Konzeptionelle und empirische Grundlagen (Deutschunterricht in Theorie und Praxis 11/I), Baltmannsweiler 22015, 324–380; Charis Goer / Katharina Köller (Hg.), Fachdidaktik Deutsch. Grundzüge der Sprach- und Literaturdidaktik (UTB 4171), Paderborn 22016, 225f. 7 Vgl. Klaus Maiwald, Literarisches Lernen als didaktischer Integrationsbegriff – Spinners »Elf Aspekte« als Struktur- und Denkrahmen für weiterführende Modellierung(en), in: Leseräume. Zeitschrift für Literalität in Schule und Forschung 2 (2015), 92. 8 Anders als Maiwald bin ich daher der Meinung, dass das literarische Gespräch nicht aus den »Elf Aspekten« ausgeschieden werden sollte; vgl. dazu Klaus Maiwald (wie Anm. 7), 92. 9 Vgl. Matthis Kepser / Ulf Abraham, Literaturdidaktik Deutsch. Eine Einführung (Grundlagen der Germanistik 42), Berlin 42016, 116–118.

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die Grundschule zunächst überraschen. Doch können Einwände, die sich etwa auf den Aspekt des literarästhetischen oder literarhistorischen Lernens beziehen, schlüssig entkräftet werden.10 Schon Grundschulkinder begegnen in Bilderbüchern und Kinderliedern literarischen Formen wie Reim, Wiederholung, Parallelismus und Gegensatz und gehen mit diesen rezeptiv und produktiv um, nicht zuletzt im Sinne des Gattungslernens. Auch lernen sie auf selbstverständliche Weise im Umgang mit Märchen und mit Texten, die auf Märchen anspielen, Gegenstände der Literaturgeschichte kennen, die wiederum für das literarische Gattungslernen und für ein implizites intertextuelles Lernen von Bedeutung sind. Literarisches Lernen wird daher als ein didaktisches Konzept ersichtlich, das dem Literaturunterricht von der Primarstufe bis zur Sekundarstufe II ein einheitliches Gepräge zu geben vermag11 und dabei ein Lerngeschehen inszeniert, in dem der Persönlichkeitsbildung Lernender und Lehrender Raum gegeben wird. Literarisches Lernen fördert die Entfaltung individueller, nicht-standardisierter Lernender und individueller, nicht-standardisierter Lehrender, die sich gemeinsam und dynamisch in einem offenen Prozess mit Literatur auseinandersetzen. Ich halte das Konzept des Literarischen Lernens daher im Blick auf die Zielsetzungen jugendtheologischen Arbeitens im Religionsunterricht für hoch anschlussfähig.

bewähren. Drei solcher Aufgabenfelder möchte ich hervorheben: die Lese-, die Schreib- und die Gesprächsdidaktik. Alle drei didaktischen Felder fördern Literarisches Lernen im Sinne der Ausbildung von Imaginationsfähigkeit im Umgang mit Literatur, im Sinne selbständiger Beobachtungen der sprachlichen Gestaltung literarischer Texte, im Sinne der Ausprägung von Urteilskraft im Blick auf die Funktion von Sprache für die ästhetische Wirkung von Literatur sowie im Sinne der Befähigung, über Literatur zu kommunizieren. Für das Literarische Lernen durch Lesen eignet sich Elisabeth K. Paefgens lesedidaktisches Programm des »textnahen Lesens«, das in »genaue[m], langsame[m], gründliche[m] Studieren eines literarischen Textes« besteht, und als »ein Lesen mit Stiften, mit Papier, mit Zeit und Geduld für den Satz, den Absatz, die Seite« beschrieben werden kann, das auch häufiges Zurückblättern einschließt und wiederholtes Lesen ein und derselben Passage nicht scheut.12 Textnahes Lesen erzeugt eigene Fragen zum Text, die nicht von der Lehrkraft vorgegeben sind, und ist daher als eminent emanzipatorische Methode ernst zu nehmen. Zugleich führt textnahes Lesen zur Internalisierung textlicher Gestaltungsmittel und mündet daher organisch in das Schreiben. Christiane Hochstadt, Andreas Krafft und Ralph Olsen sprechen daher in modifiziertem Anschluss an Paefgen von »textnahem Lesen (und

Literarisches Lernen im Sinne eines literarästhetischen, literarhistorischen und persönlichkeitsbildenden Programms muss sich in konkreten literaturdidaktischen Aufgabenfeldern bewegen und

10 Vgl. dazu exemplarisch Kaspar H. Spinner (wie Anm. 5), 9.13. 11 Vgl. Klaus Maiwald (wie Anm. 7), 85. 12 Elisabeth K. Paefgen, Einführung in die Literaturdidaktik (Sammlung Metzler Bd. 317), Stuttgart, Weimar 22014, 105.

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Schreiben)«.13 Dabei werden die Lektüre und Analyse literarischer Texte mit literarischen Schreibversuchen von Schülerinnen und Schülern verknüpft, indem gelesene literarische Texte selbständig poetisch-fiktiv fortgeschrieben bzw. »weitergedichtet« werden. Literarisches Lernen durch Schreiben vertieft somit literarästhetische Kompetenzen und überführt diese in konstruktiv-kreative Produktionsprozesse. Sowohl an die textnah gelesenen literarischen Texte als auch an die neu produzierten Schülertexte kann sich das »literarische Gespräch« anschließen, das in Spinners »elf Aspekten« einen wichtigen Stellenwert einnimmt.14 Es kann aber als texterschließende Methode auch für sich selbst stehen. Literarisches Lernen durch Gespräch geht grundsätzlich davon aus, dass Texte »gesprächsauslösende Medien« darstellen.15 Während in der frühen Gesprächsdidaktik der 70er Jahre das Gespräch als Unterrichtsmethode vor allem dem Lernziel diente, auf kommunikativ korrekte Weise an einem Gespräch teilzunehmen, verstärkte sich in der Gesprächsdidaktik der 80er Jahre das Bewusstsein dafür, dass die auf einen literarischen Text bezogenen Gespräche dazu beitragen, das genuine Textverstehen zu fördern, und zwar nicht nur auf Seiten der Lernenden, sondern auch auf Seiten der Lehrenden.16 Voraussetzung für ein solches gemeinsames Lernen und Verstehen im Gespräch ist, dass von Seiten der Lehrenden das traditionelle Verfahren des fragend-entwickelnden, an Leitaufgaben orientierten Unterrichtsgesprächs zugunsten des freien Gesprächs aufgegeben, somit die »Lehrerdominanz« aufgehoben oder zumindest relativiert und die Rolle der Lernenden gestärkt wird.17 Diese Umwertung klassischer Rol-

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lenmuster in didaktischen Konzepten und im unterrichtlichen Geschehen führte nicht nur zu einer »Demokratisierung der Gesprächsstruktur«18 und zur Schülerorientierung, sondern auch dazu, dass sich der Weg bahnte zu literaturdidaktischen Forschungsansätzen der 90er Jahre und bis in die gegenwärtige Diskussion hineinreichender Modelle, die Literatur, lebensweltliche Erfahrung von Lehrenden und Lernenden und deren biographische Identität zusammenbinden. Die um Christine Garbe im Lüneburger Profilschwerpunkt »Literarische Sozialisation« entwickelte Grundlagenforschung19 und das in dem Kreis um Gerhard Härle, Marcus Steinbrenner und Johannes Mayer profilierte Heidelberger Modell des Literarischen Unterrichtsgesprächs20 spiegeln sol13 Christiane Hochstadt / Andreas Krafft / Ralph Olsen, Deutschdidaktik. Konzeptionen für die Praxis (UTB 4023), Tübingen 22015, 162–169. 14 Vgl. dazu Markus Steinbrenner / Maja Wiprächtiger-Geppert, Literarisches Lernen im Gespräch. Das »Heidelberger Modell« des Literarischen Unterrichtsgesprächs, in: Praxis Deutsch 200 (2006), 14f. 15 Vgl. Elisabeth K. Paefgen (wie Anm. 12), 118. 16 Vgl. ebd., 119f. 17 Vgl. ebd., 121. 18 Ebd., 119. 19 Hartmut Eggert / Christine Garbe, Literarische Sozialisation (1995), Stuttgart 22003; Christine Garbe / Karl Holle / Tatjana Jesch, Texte lesen. Textverstehen – Lesedidaktik – Lesesozialisation, Paderborn 2009. 20 Gerhard Härle / Marcus Steinbrenner (Hg.), Kein endgültiges Wort. Die Wiederentdeckung des Gesprächs im Literaturunterricht, Baltmannsweiler 2004; Marcus Steinbrenner / Johannes Mayer / Bernhard Rank / Felix Heizmann (Hg.), »Seit ein Gespräch wir sind und hören voneinander«. Das Heidelberger Modell des Literarischen Unterrichtsgesprächs in Theorie und Praxis, Baltmannsweiler 22014; Marcus Steinbrenner / Maja Wiprächtiger-Geppert (wie Anm. 14), 14f.

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che ganzheitlich ausgerichteten Ansätze. Während das Lüneburger Konzept der Erforschung literarischer Lesebiographien (im Sinne der Ausbildung und Verankerung stabiler Lesegewohnheiten im persönlichen Lebensalltag von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen) vor allem die Faktoren der Subjektivität und Individualität für das Gelingen von Verstehensprozessen betont, geht es dem von der Gesprächshermeneutik Gadamers beeinflussten Heidelberger Programm unter dem Motto »Kein endgültiges Wort« ganz im Sinne von Spinners Aspekt (8) darum, die Offenheit und Unabgeschlossenheit von Verstehensprozessen hervorzuheben.21 Verstehen vollziehe sich als ein gesprächsförmiger Prozess. »Gespräch« kann dabei das Selbstgespräch, das Gespräch mit einem realen Gegenüber und das Gespräch mit einem Text meinen. Bei literarischen Gesprächen richtet eine Gruppe von Gesprächsteilnehmern gemeinsam ihre Aufmerksamkeit auf einen literarischen Text. In einem Ruhe und Konzentration gewährenden Setting wird dieser zunächst vorgelesen und dann besprochen, wobei nicht die abgeschlossene Interpretation (das »endgültige Wort«), sondern die gemeinsame Suche nach Sinnmöglichkeiten Ziel des Gesprächs ist. Die Besprechung des Textes vollzieht sich nach dem Modell der themenzentrierten Interaktion, in der Sache (Text) und kommunizierende Subjekte (Lernende und Lehrende) in ausgewogenem Bezug zueinander stehen sollen. Eine Gesprächsleitung ist dabei nicht in Form forcierter Lenkung oder neutraler Moderation zu gestalten, sondern im Sinne der »partizipierenden Leitung«, in der sich die Rollenmuster des Vorbilds, des Modells

und des »kompetenten Anderen« mit der Rolle des authentischen Gesprächsteilnehmers verbinden. Was das facettenreiche Feld des Literarischen Lernens im Blick auf gegenwärtige Methoden der Textarbeit im Deutschunterricht deutlich macht, ist, dass die klassische Gegenüberstellung von analytisch-interpretatorischen Methoden, bei denen die Lehrkraft ein festes Interpretationsziel vorgibt, und handlungs- und produktionsorientierten Methoden, die stärker auf die Aktivität der Schüler zielen, aufgebrochen wird. Diese »Brechung« setzt nach Ansicht von Matthis Kepser und Ulf Abraham das Potential frei, der »literarischen Pubertät« Jugendlicher, in der diese sich zwischen ihrem 12. und 19. Lebensjahr befinden, entgegenzuwirken – und zwar, indem sich eine neue Balance zwischen »Leselust« und »Lesearbeit« herstellen lasse.22 Literarisches Lernen, in dem Textarbeit und Textvergnügen keine Gegensätze darstellen, lebt von der Vielfalt der Zugänge und der Varianz der Arbeitsformen, durch die nicht nur ganz unterschiedliche literarische Kompetenzen im Lehr-Lern-Geschehen gefördert und genutzt, sondern auch je persönliche Arbeitsstile im Umgang mit Literatur erprobt und erfahren werden können. So schafft textnahes Lesen und Schreiben mit seiner hohen Affinität zur Einzel-

21 Vgl. dazu Christine Garbe, »Kein endgültiges Wort«. Das Konzept des Literarischen Unterrichtsgesprächs im Diskurs der aktuellen Literaturdidaktik, in: Marcus Steinbrenner / Johannes Mayer / Bernhard Rank / Felix Heizmann (wie Anm. 20), 80f. 22 Matthis Kepser / Ulf Abraham (wie Anm. 9), 105f.

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arbeit phasenweise Oasen der Stille im Unterrichtsalltag, Zeitbudgets für eigenverantwortliche Konzentration und ein hohes Maß an Werkstatt-Atmosphäre. Das literarische Gespräch in kleineren und größeren Gruppen, ob als eigenständige Methode der Texterschließung durchgeführt oder als Anschlusskommunikation an textnahes Lesen und Schreiben vollzogen, bietet Gelegenheit zur Entfaltung von Deutungs-, Sprachund Sozialkompetenz, indem die eigene Deutung konzeptualisiert, mündlich artikuliert und zugleich in Auseinandersetzung mit anderen Deutungen relativiert wird. Der Aufmerksamkeit für andere Lese-, Schreib- und Deutungsversuche kommt in dem theoretisch skizzierten literaturunterrichtlichen Geschehen des Literarischen Lernens in jedem Fall ein hoher Stellenwert zu. Literarischem Lernen wohnt somit eine eminent ethische Dimension inne. 2. Biblisches Lernen in den Koordinaten einer Lese-, Schreib- und Gesprächsdidaktik: Zum Umgang mit der Bibel als Textgrundlage für jugendtheologisches Arbeiten im Religionsunterricht

Das literaturdidaktische Konzept des Literarischen Lernens scheint mir in mehrfacher Hinsicht in ein bibeldidaktisches Konzept für jugendtheologisches Arbeiten im Religionsunterricht überführt werden zu können. Die drei Säulen des Literarischen Lernens (Lese-, Schreibund Gesprächsdidaktik mit Blick auf literarästhetische Bildung, literarhistorische Bildung und Persönlichkeitsbildung) lassen sich auf den Umgang mit

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der Bibel übertragen, und zwar keineswegs nur unter der Voraussetzung, dass man die Bibel ausdrücklich als »Literatur« versteht. Reagiert das Literarische Lernen auf die Lesekrise Jugendlicher in der Pubertät dadurch, dass rezeptions-, produktions- und interaktionsorientierte Arbeitsweisen in der Auseinandersetzung mit Literatur verknüpft werden, so können solche Arbeitsweisen auch einem »Erwachsenwerden ohne Bibel«23 entgegenwirken. Wenn wir fragen, was die Bibel als besondere jugendtheologische Textgrundlage ausmacht und inwiefern Textarbeit an der Bibel im Religionsunterricht mit der Arbeit an literarischen Texten im Deutschunterricht verglichen werden kann, müssen wir uns allerdings zwei grundlegende Rahmenbedingungen vor Augen stellen, die beide Fächer voneinander unterscheiden: Erstens vollzieht sich Textarbeit im Religionsunterricht in der Regel nicht wie Textarbeit im Deutschunterricht im Klassenverband, sondern in konfessionell aufgeteilten Klassengruppen, denn Religionsunterricht ist bekenntnisorientierter Unterricht. Konkret heißt das: Bestimmte Mitschülerinnen und Mitschüler fehlen, die sonst zur Lerndynamik der Klasse beitragen, zum Beispiel auch im Blick auf das Arbeiten an Texten. Zweitens: An Faust muss niemand glauben. Das soll heißen, dass die Arbeit an literarischen Texten im Deutschunterricht nicht unter jenem normativen Anspruch steht, der mit der Bibel als »Heiliger Schrift« verbunden 23 Ich verwende den Ausdruck als Analogiebildung zu Karl Ernst Nipkow, Erwachsenwerden ohne Gott? Gotteserfahrung im Lebenslauf, Gütersloh 51997.

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ist. Arbeit an literarischen Texten im Deutschunterricht erzeugt auch nicht den weltanschaulichen Widerspruch, den Jugendliche zwischen Bibel und Naturwissenschaft sehen. Der Religionsunterricht und sein Gegenstand – Gott, der Glaube, die biblischen Texte, die von beidem sprechen – unterliegen, anders als der Deutschunterricht und dessen literarische Texte, dem »Illusionsverdacht«24: »Wäre es bewiesen, dann könnte ich daran glauben«, lautet eine Schüleräußerung im Religionsunterricht.25 Gott und Glaube erscheinen Jugendlichen vielfach mit dem logischen Denken unvereinbar. Aber geht es um Logik? Oder anders gefragt: Um welche Logik geht es? Der Umgang mit biblischen Texten im Religionsunterricht birgt in der gemeinsamen Arbeit von Lehrenden und Lernenden die Chance, die Logik der Bibel zu entschlüsseln und diese Logik offen zu meiner eigenen Lebenslogik in Beziehung zu setzen. In eben diesem Interesse sollte die Arbeit an biblischen Texten im jugendtheologisch akzentuierten Religionsunterricht ganz im Sinne des Literarischen Lernens durch unterschiedliche Zugänge und Arbeitsweisen gestaltet werden. Literarisches Lernen kann im Religionsunterricht zu Biblischem Lernen werden, wenn aufbauend auf der Trias von Lese-, Schreib- und Gesprächsdidaktik, Schülerinnen und Schülern die Möglichkeit gegeben wird, in rezeptiven wie produktiven Prozessen biblische Sprachfähigkeit und biblische Denkfähigkeit auszubilden. Die Bibel kann beim Biblischen Lernen sowohl als vielgestaltiger literarischer Gegenstand Beachtung finden als auch in der Weise zur Geltung kommen, dass der Hermeneutik des historischen Blicks auf

ein wirkungsgeschichtlich überragendes Glaubenszeugnis Raum gegeben wird. Entscheidend wird dabei sein, das Selbstverständnis der biblischen Texte ernst zu nehmen. Biblische Texte sind keine genuin »fiktionalen Texte« wie Erzählungen, Romane, Dramen, die Geschichten und Handlungszusammenhänge frei erfinden und poetisch entfalten. Sie sind aber auch keine rein »faktualen Texte«, die ein Sachanliegen durch dokumentarische Information zur Darstellung bringen. Die biblischen Texte verbinden vielmehr ihr »Sachanliegen«, von Gott zu sprechen, den Menschen als von Gottes Wirklichkeit Bestimmten zu interpretieren und als zentrale Leitkategorie menschlichen Lebens das geglückte Verhältnis zu Gott zu plausibilisieren, mit dem Anspruch, von der immer schon vorausgesetzten Größe »Gott« aufgrund individueller und überindividueller Erfahrung sinnstiftend erzählen und berichten zu können. Solche Sinnstiftung funktioniert nicht ohne deutendes Bewusstsein, doch versteht sich solches Bewusstsein in biblischen Texten nicht als freie, »fiktionale« Konstruktion menschlicher Wahrheit, sondern als Nachvollzug jener Wahrheit, die Gott selbst den Menschen offenbart. Biblische Texte suchen dem göttlichen Offenbarungsgeschehen und der Wahrheit Gottes zu entsprechen. Sie setzen alles daran, Gott aussagbar zu machen, 24 Petra Freudenberger-Lötz, Theologische Gespräche mit Kindern und Jugendlichen. Konzeptionelle Grundlagen und empirische Befunde, in: Petra Freudenberger-Lötz / Ulrich Riegel (Hg.), »Mir würde das auch gefallen, wenn er mir helfen würde«. Baustelle Gottesbild im Kindes- und Jugendalter (JaBuKi, Sonderband), Stuttgart 2011, 18. 25 Ebd.

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zu verkündigen, zu kommunizieren. Sie sind somit als dezidiert religiöse Texte zu verstehen und als kerygmatische Literatur zu kennzeichnen. Bestimmt von Formen, Gattungen und Denkmustern, die sich in einem traditionsgeschichtlichen Prozess an Vorbilder aus der altorientalischen Welt und der griechisch-römischen Antike angelehnt oder auch innovativ ausgebildet haben, wird die Bibel als ein Dokument verständlich, das einen komplexen Entwicklungsprozess durchlaufen hat, um von dem zu sprechen, was nicht nur aus jugendtheologischer, sondern generell aus anthropologischer Sicht zum Schwersten gehört, wovon wir sprechen können: von Gott. Daher braucht Biblisches Lernen Zeit. Es gelingt nicht nebenher. Wie das Literarische Lernen, so ist auch das Biblische Lernen angewiesen auf das textnahe Lesen der biblischen Texte mit Stift und Papier, mit Zeit für den einzelnen Vers, seine Segmente26 und deren Bezüge zum Kontext. Biblisches Lernen im Modus textnahen Lesens bedarf zugleich des langen Atems für die Ganzschrift, wie Christian Dern es in seiner Dialogischen Bibeldidaktik vorführt.27 Textnahes, das eigene Fragen hervorlockendes Lesen kann auf Seiten von Schülerinnen und Schülern zu Beobachtungen führen, die die exegetisch-theologisch kompetente Lehrkraft in der Anschlusskommunikation an die handwerkliche Lesearbeit als synchron, diachron und hermeneutisch relevante Beobachtungen würdigen und weiter konturieren wird. Biblisches Lernen gelingt sodann durch textnahes Schreiben, also das kreative, textsortenbewusste Weiter-Schreiben biblischer Texte etwa im poetischen Stil der Psalmen mit ihrem charakteristischen parallelismus membrorum, wobei nicht zu fürchten

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ist, dass Jugendliche im textmimetischen Prozess allein auf der ästhetischen Ebene verharren. Die Grundgebärden der Psalmen nachzuahmen – das haben Baldermann und Oberthür im Blick auf den Umgang von Kindern mit Psalmen gezeigt28 –, führt zu der Frage, welche Haltung hinter Klage, Lob und Dank steht. Auch Jugendlichen werden sich dieser Frage nach der Logik der Psalmen stellen, die mit der eigenen Lebenslogik konfrontiert werden kann: Kann ich die Logik des Psalms teilen oder ist sie mir fremd? An wen wende ich mich in meiner Not, wem danke ich, wenn es mir gut geht, wem singe ich meinen Jubel über das Leben? Analoges gilt, wenn textsortenbewusst etwa Prophetenberufungen, Paulusbriefe, Gleichnisse und Wunder, aber auch die apokalyptischen Szenarien der Johannesoffenbarung weitergeschrieben werden. Solches Weiterschreiben setzt nicht nur textsortenspezifisches Gattungswissen

26 Vgl. dazu Christina Hoegen-Rohls, Schritt für Schritt auf dem Weg in den Text – Die Methode der Verssegmentierung am Beispiel von Joh 4,1–15, in: VvAa 1 (2016), 27–59. 27 Christian Dern, Dialogische Bibeldidaktik, Kassel 2013; Ders., Das Lesen von Ganzschriften im Religionsunterricht der Sekundarstufen – konkrete Einblicke in den Unterricht, in: Hanna Roose / Elisabeth E. Schwarz (Hg.), »Da muss ich dann alles machen, was er sagt«. Kindertheologie im Unterricht (JaBuKi 15), Stuttgart 2016, 148–152. 28 Vgl. Ingo Baldermann, Wer hört mein Weinen? Kinder entdecken sich selbst in den Psalmen; Neukirchen-Vluyn 61999; Ders., Einführung in die Biblische Didaktik, Darmstadt 42011; Rainer Oberthür, Kinder und die großen Fragen. Ein Praxisbuch für den Religionsunterricht, München 1995; Ders., Kinder fragen nach Leid und Gott. Lernen mit der Bibel im Religionsunterricht. Ein Praxisbuch, München 72011.

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voraus, sondern auch Einsicht in die biblische Logik: Welche Logik liegt in der Weigerung eines Propheten, seiner Berufung durch Gott zu folgen (vgl. Jona 1–2)? Welcher Logik folgt Paulus, wenn er, der die Gemeinde Christi verfolgte, sich in seinen Briefpräskripten als von Gott und Christus berufener Apostel vorstellt (vgl. etwa 2. Kor 1,1)? Welche Logik spiegeln die Gleichnisse Jesu, wenn sie einmal das Bild eines liebenden und verzeihenden Vaters zeichnen, um von Gott zu sprechen (Lk 15,11–32), ein anderes Mal aber das Lob auf einen ungerechten Verwalter singen (Lk 16,1–13)? Nach welcher Logik funktionieren Wundergeschichten, wenn gerade das, was wunderbare Veränderungen bewirkt – wie die Verwandlung von Wasser in Wein (Joh 2,1–11) oder die Vermehrung von fünf Broten und zwei Fischen zu Lebensmitteln, die Tausende sättigen (Mk 6,30–44; 8,1–9; Mt 14,13–21; 15,32–39; Lk 9,10–17; Joh 6,1–13) – gar nicht erzählt wird? Welche Logik verfolgen bedrohliche Gewaltvisionen, wenn sie schließlich in die Vision von einem neuen Himmel und einer neuen Erde einmünden (Offb 21,1)? Das Wahrnehmen der komplexen biblischen Logik bildet die Basis, auf der es Jugendlichen gelingen kann, präziser über ihre eigene Lebenslogik nachzudenken und begründeter über Fremdheits- und Vertrautheitserfahrungen mit biblischen Texten zu sprechen. Insofern führt der Versuch, mittels des textnahen Lesens und Schreibens die Logik der Bibel zu entschlüsseln, immer wieder zum Gespräch über biblische Texte, das den Grundlinien des literarischen Gesprächs folgt und das Verstehen oder auch das produktive Nicht-Verstehen der biblischen Sprache und des biblischen Denkens fördert. Es

kann analog zum literarischen Gespräch als »Biblisches Gespräch« bezeichnet werden. Als deutungsoffenes Gespräch generiert es eine Vielzahl von Verstehensmöglichkeiten, denen es wertschätzend gegenübertritt. Biblisches Lernen im Biblischen Gespräch demokratisiert biblische Leseweisen und bindet Lehrende und Lernende in einen gemeinsamen Lern- und Entdeckungsprozess ein. Erinnern wir uns dabei an einen Bericht von Petra Freudenberger-Lötz aus ihrer Kasseler Forschungswerkstatt: Die Vielfalt der Deutungen, die bei der Arbeit von Studierenden mit Schülerinnen und Schülern an einem biblischen Text zu Tage traten, wurde von der Lerngruppe als bereichernd erlebt. Im Gespräch über die Deutung von Wundererzählungen meint eine Schülerin: »Ich finde es voll spannend, dass da jeder seine eigene, ja Beziehung zu hat, ich meine, früher war es ja eigentlich so, dass es hieß, das steht so in der Bibel, das ist auch so passiert. Das hat sich ja jetzt komplett gewendet und man sieht ja hier wir hatten total verschiedene Ansichtsweisen, wie wir Jesus sehen, wie wir Gott sehen und wie wir die Bibel verstehen können. Und das ist irgendwie voll interessant geworden.«29 Biblisches Sprechen und Denken kann von Jugendlichen beim Biblischen Lernen ganz unterschiedlich wahrgenommen werden. Die Logik der Bibel muss nicht sofort meine eigene werden – so wenig Goethes Sprache und Denken gleich mein Eigen wird, nur weil ich mich mit Goethes »Heidenröslein« befasse. Aber ich gewinne als Schülerin in der lesenden und schreibenden Arbeit am biblischen 29 Petra Freudenberger-Lötz (wie Anm. 24), 19.

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Text, im Biblischen Gespräch mit meinen Mitschülerinnen und im Biblischen Gespräch mit dem für das Heidelberger Gesprächsmodell so zentralen kompetenten Anderen (nämlich meiner kompetenten Lehrkraft), Anteil an biblischer Kultur, indem ich »biblisch denkfähig« und »biblisch sprachfähig« werde. Wenn auch sekundär, so werden Schülerinnen und Schüler auf diese Weise biblisch sozialisiert und fähig, selbstbewusst und sachlich reflektiert, konstruktiv und kreativ zu »biblisieren«. Solches »Biblisieren mit Jugendlichen« hat eine bibeldidaktisch integrative Dimension. Denn alle Formen des Bibelunterrichts und der ganzheitlichen Bibelarbeit, wie Detlev Dormeyer sie beschreibt,30 können in das Konzept des Biblischen Lernens eingebunden werden: die bibelkundliche, realienkundliche, literarisch-theologische und rezeptionsgeschichtlich reflektierte Texterschließung; das Nach- und Weitererzählen biblischer Geschichten und der Einsatz von audiovisuellen Medien; die gestaltpädagogische und die interaktive Bibelarbeit. Eingedenk der vorigen Überlegungen und unter Aufnahme der Anregung zu stärkerer Systematisierung der elf Aspekte Literarischen Lernens, möchte ich abschließend sieben Aspekte Biblischen Lernens in aufeinander aufbauender Reihung vorschlagen: (1) Beim Lesen und Hören Vorstellungen zu biblischen Texten entwickeln. (2) Sprachliche Gestaltung biblischer Texte aufmerksam wahrnehmen und dabei metaphorische und symbolische Ausdrucksweise beachten und reflektieren. (3) Narrative und dramatische Handlungslogik in narrativen biblischen Texten verstehen und dabei Perspektiven der erzählten Figuren und Figurenkonstella-

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tionen wahrnehmen und beschreiben; poetische und prophetische Sprach- und Denkformen in poetischen und prophetischen Texten der Bibel verstehen; diskursive Gedankenführung in biblischen Reden, Gleichnissen und Briefen beschreiben und nachvollziehen. (4) Prototypische Vorstellungen von biblischen Gattungen / Genres und ein Verständnis für die literarhistorische Entwicklung der biblischen Literatur gewinnen. (5) Im Laufe von (1) – (4) die Logik biblischer Texte entschlüsseln lernen. (6) Im Anschluss an (1) – (5) mit dem kerygmatisch-religiösen Charakter biblischer Texte bewusst umgehen und dabei genaue Textwahrnehmung und subjektive Involviertheit (persönlicher Glaube / Fremdheit gegenüber Glauben) miteinander ins Spiel bringen. (7) Auf dem Wege von (1) – (6) mit dem Biblischen Gespräch vertraut werden und sich dabei auf die Unabschließbarkeit des Sinnbildungsprozesses einlassen. Die sieben Aspekte Biblischen Lernens signalisieren, dass Persönlichkeitsbildung und kulturelle Teilhabe, wie sie auch das Literarische Lernen im Deutschunterricht beim Umgang mit Literatur anstrebt, im Religionsunterricht unter eine spezifische Perspektive gestellt werden, die sich aus seinem besonderen Gegenstand ergibt. Biblisches Lernen im Religionsunterricht fördert die Teilhabe Jugendlicher an biblischer Kultur. Solche Teilhabe ist keineswegs nur fachinternisoliert gültig und relevant, sondern kann 30 Vgl. Detlev Dormeyer, Art. Bibel (in der Religionspädagogik), in: LexRP Bd. 1, Neukirchen-Vluyn 2001, 166–172; Ders. u.a., Art Bibelarbeit, Bibeldidaktik, in: LexRP Bd. 1, Neukirchen-Vluyn 2001, 172–180.

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Fächervergleichende Perspektiven

Jugendliche fächerübergreifend zu kultureller Kompetenz führen. 3. Welche Forschungsfragen für das empirische Feld der Jugendtheologie ergeben sich aus den theoretischen Überlegungen zum Biblischen Lernen?

Bezogen auf das Theorie- und Praxisfeld »Jugendtheologie« und die Frage nach der Bibel als jugendtheologischer Textgrundlage für das »Theologisieren mit Jugendlichen« bzw. für »Theologische Gespräche mit Jugendlichen« lassen sich folgende Fragen für empirische Untersuchungen zum Biblischen Lernen formulieren: a) Der Umgang mit der Bibel als Textgrundlage im Religionsunterricht kann im Sinne des Biblischen Lernens zu spezifisch Biblischen Gesprächen mit Jugendlichen führen. Lässt sich genauer ermitteln und beschreiben, worin der genuine Charakter solcher Biblischen Gespräche besteht? Lässt sich bestimmen, welche Rollen einerseits die Jugendlichen selbst, andererseits die Lehrperson in theologischen Gesprächen, die als Biblische Gespräche geführt werden, einnehmen? Wie kann auf Seiten der Lehrenden die Rolle der aufmerksamen Beobachtung und der wertschätzenden Wahrnehmung im Blick auf die Äußerungen Jugendlicher zu den behandelten Bibeltexten genauer umrissen werden? Worin wird im Umgang mit dem Bibeltext die Rolle der stimulierenden Gesprächspartnerschaft bestehen? In welcher Weise gestaltet sich in Biblischen Gesprächen die Rolle der Lehrenden als glaubendem und/oder am Glauben zweifelndem Gegenüber der Jugendlichen? Welche spe-

zifischen hermeneutischen Kompetenzen verlangt das Biblische Gespräch auf Seiten der Lehrperson? b) (Wie) verändert sich die Theologie der Jugendlichen, die Theologie für Jugendliche und die Theologie mit Jugendlichen, wenn Grundlage des Theologisierens der biblische Text ist? Oder anders gefragt: In welcher Weise konkretisiert sich das theologische Gespräch mit Jugendlichen, wenn es als Biblisches Gespräch geführt wird? c) Lassen sich bei der Arbeit mit biblischen Texten Bereiche identifizieren, an denen deutlich wird, dass die genannten drei Perspektiven von Jugendtheologie ineinandergreifen und durch weitere »fünf Dimensionen« (Thomas Schlag) differenziert bzw. strukturiert werden können?31 Also: An welchen Punkten und auf welche Weise zeigt sich im Biblischen Gespräch mit Jugendlichen, dass Jugendliche eine implizite, explizite und persönliche biblische Theologie in das Gespräch einbringen? Wo und auf welche Weise spiegeln Biblische Gespräche, dass Jugendliche biblische Vorstellungen ggf. mit Hilfe der theologischen Dogmatik interpretieren? Lässt sich erkennen, ob und wie Jugendliche biblisches Denken und biblische Sprache argumentativ nutzen, wenn sie sich an theologisch bestimmten Debatten/Diskursen beteiligen?32

31 Vgl. Thomas Schlag, Von welcher Theologie sprechen wir eigentlich, wenn wir von Jugendtheologie reden?, in: Petra FreudenbergerLötz / Friedhelm Kraft / Thomas Schlag (Hg.), »Wenn man daran noch so glauben kann, ist das gut« (JaBuJu 1), Stuttgart 2013, 9–23. 32 Vgl. dazu die von Thomas Schlag erstellte Tabelle, ebd., 16.

Dierk Die Apostelgeschichte als Quelle historischen und / oder religiösen Lernens …

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Heidrun Dierk »Wo Bibel draufsteht, muss auch Bibel drin sein«: Die Apostelgeschichte als Quelle historischen und / oder religiösen Lernens oder die Frage, wie der hermeneutische Zirkel die Textarbeit präjudiziert und leitet 1. Einleitung

Die Fragestellung bzw. die Anregung der Initiator/innen der Tagung zu eruieren, ob Jugendliche zum Verstehen biblischer Texte (hier: Apostelgeschichte) Kompetenzen aus dem Geschichtsunterricht einfließen lassen, ist ambitioniert, insbesondere in Hinblick auf einen angemessenen empirisch-methodischen Zu­ griff. Angesichts dessen wurde die Idee entwickelt, in einer Klasse 11 (WGE in Baden-Württemberg) im Rahmen der thematischen Einheit »Hermeneutik« ein Lernangebot zu Apg 19, 23–40 (Aufstand der Silberschmiede) zu machen, das Chancen eröffnet, den hermeneutischen Zirkel zu entdecken und kritisch zu hinterfragen. 2. Zur Historizität der Apostelgeschichte

Die exegetische Forschung ist sich einig, dass die Geschichte des frühen Christentums nicht auf die Einblicke, die die Apostelgeschichte gibt, verzichten kann.1 Dazu muss man allerdings den Verfasser der Apostelgeschichte Lukas2 und seine Darstellung im Kontext der antiken Geschichtsschreibung verorten. »Zum Vergleich bietet sich der jüdische Historiker Josephus an, dessen Werk mit dem des Lukas zeitgleich ist. Ein Blick auf Jose-

phus zeigt: Für ihn sind Darstellungsinteressen im Zweifelsfall wichtiger als (aus seiner Sicht) vordergründige Treue in der Wiedergabe von Ereignissen. Genauso ist es für antike Schriftsteller selbstverständlich, frei konzipierte Reden als Darstellungs- und Interpretationsmittel einzusetzen. Analoges gilt auch für Lukas.«3 Fragt man nach den Darstellungszielen des Lukas, so will er zunächst veranschaulichen, dass die Geschichte des Urchristentums eine von Gott gelenkte Geschichte ist: die Ausbreitung des Christentums ist eine Geschichte des Heils. Gleichzeitig präsentiert Lukas die Urgemeinde als eine ideale Gemeinschaft, die »einträchtig« beieinander sitzt, und hält den Zeitgenossen damit einen kritischen Spiegel vor. Schließlich dient die lukanische Darstellung der theologischen Bewältigung der Trennung der Christen vom Judentum, indem er das Christentum als neues Kapitel der Geschichte Gottes mit seinem Volk 1 Vgl. Daniel Marguerat, Lukas, der erste christliche Historiker. Eine Studie zur Apostelgeschichte, Zürich 2011, Vorwort. 2 Zur Diskussion des Verfassers siehe Jens Schröter, Zur Stellung der Apostelgeschichte im Kontext der antiken Historiographie, in: Jörg Frey / Clare K. Rothschild / Jens Schröter (Hg.), Die Apostelgeschichte im Kontext antiker und frühchristlicher Historiographie, Berlin/New York 2009, 27ff. 3 Dietrich-Alex Koch, Geschichte des Urchristentums, Göttingen 2013, 28f.

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Fächervergleichende Perspektiven

präsentiert und so zur Identitätskon­ struktion beiträgt.4 Damit steht Lukas in der Kontinuität jüdischer Historiografie, wie Marguerat betont: »Die Ursachenforschung, die Triebfeder der Suche der griechisch-römischen Historiker, ist bei Lukas theologisch, ausschließlich theologisch, gepaart mit einem totalen Desinteresse an anderen Ursachen; auch über dieses Merkmal stellt sich die lukanische Erzählung unbestreitbar in die Tradition der biblischen Historiographie.«5 Vor diesem Hintergrund erscheint es legitim, im Unterricht eine Episode aus der Apostelgeschichte als Quelle eines (griechisch-römischen) Historikers des 1. Jahrhunderts n.Chr. zu präsentieren. 3. Der Aufstand der Silberschmiede als Beispiel

Als konkreter Text wurde der Aufstand der Silberschmiede (Apg 19,23–40) ausgewählt, da er einen sozialen Konflikt thematisiert, der so auch Gegenstand so genannter profaner Geschichtsschreibung sein könnte. Zumindest sind derartige Handwerkeraufstände (inschriftlich) belegt. Wie beschreibt Lukas den Aufstand? »Der Text berichtet von einem Konflikt, der zwischen den Interessen der in Ephesos ansässigen Silberschmiede und der paulinischen Predigttätigkeit in der kleinasiatischen Metropole entstanden ist. Zugleich kommt als weitere an dem Konflikt beteiligte Ebene die städtische Verwaltung des γραμματεύς hinzu. Als weitere Gruppe, freilich nur am Rande erwähnt, scheint auch die jüdische Gemeinde, zumindest aber ein Jude mit Namen Alexander, involviert zu sein. Sachlich geht es um den Vorwurf des

Anführers der Silberschmiede, dass durch die paulinische Predigt von der Nichtigkeit der Götterbilder Produktion und Absatz der aus Silber gefertigten Devotionalien geschädigt werde und außerdem die über Ephesos hinaus hoch geachtete Göttin Artemis in ihrer Hoheit gering geschätzt würde. Nachdem sich die aufgebrachte Menge im Theater der Stadt versammelt hat, skandiert man den Ruf ›Groß ist die Artemis der Epheser!‹ Man ergreift Gaius und Aristarch, zwei Mitarbeiter des Paulus, welcher selbst auf Anraten des Asiarchen nicht anwesend ist. Nach dem Auftritt eines Juden namens Alexander verstärkt sich der Tumult. Obwohl die meisten gar nicht wissen, warum sie zusammengekommen sind, schreit die Menge noch zwei Stunden: ›Groß ist die Artemis der Epheser!‹ Erst dem γραμματεύς als Vertreter der lokalen Obrigkeit gelingt es, die von ihm indirekt als inoffizielle Versammlung bezeichnete Menge zu beschwichtigen und letztlich aufzulösen.«6 Exegetisch wirft dieser Text eine Vielzahl von Problemen auf, so beispielsweise in literarkritischer Hinsicht (Verhältnis Tradition – Bearbeitung des Lukas) und im Vergleich zu außerbiblischen Quellen. 4 Vgl. Michael Wolter, Das lukanische Doppelwerk als Epochengeschichte, in: Cilliers Breytenbach / Jens Schröter (Hg.), Die Apos­ telgeschichte und die hellenistische Geschichtsschreibung. FS Eckhard Plümacher, Leiden/Boston 2004, 253ff. 5 Vgl. Daniel Marguerat (wie Anm. 1), 55. 6 Dirk Schinkel, »Und sie wussten nicht, warum sie zusammengekommen waren« – Gruppen und Gruppeninteressen in der Demetriosepisode (Apg 19,23–40), in: Andreas Gutsfeld / Alex-Dietrich Koch (Hg.), Vereine, Synagogen und Gemeinden im kaiserzeitlichen Asien, Tübingen 2006, 95ff.

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Diese Fragen können hier nicht im Einzelnen diskutiert werden, vielmehr soll die Exegese vor dem Hintergrund des Unterrichtssettings mögliche Frage- und Problemhorizonte aufzeigen. Folgende Fragestellungen bieten sich an: 3.1 Wer sind die Protagonisten?

Zunächst ist hier Demetrios zu nennen. Vermutlich ist er ein Großunternehmer, der möglicherweise für seine Lieferanten oder die Berufsvereinigung spricht.7 Manche Exegeten vermuten auch, dass er die Funktion eines Zunftmeisters innehatte. Er ist sicher Heide, auch wenn er die paulinische Botschaft mit einer jüdischen Parole charakterisiert.8 Sein eigentlicher Kontrahent ist Paulus, der allerdings in der Szene nicht aktiv in Erscheinung tritt, sondern »am Eingreifen in die Angelegenheit gehindert« wird.9 An seiner Stelle werden Gaius und Aristarchos, vielleicht ein Missionsduo, von der Menschenmenge bedrängt und ins Theater geschleppt. Die Adressaten der Rede des Demetrios sind zunächst die Angehörigen der Handwerksvereinigung. Allerdings breitet sich der Tumult rasch auf die Volksmenge aus. Diese findet sich im Theater ein, was antikem Usus entspricht.10 Der Jude (oder besser: Judenchrist11) Alexander tritt auf, um die Volksmenge zu beruhigen, kann allerdings das Geschehen nicht beeinflussen, sondern wird niedergebrüllt.12 Erst der Sekretär (γραμματεύς) als städtischer Beamter beruhigt die Lage, indem er den Sachverhalt rational und juristisch beurteilt und etwaige Konflikte an eine ordentliche Volksversammlung verweist.

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3.2 Um welchen Konflikt geht es? Welche Interessen treffen aufeinander?

Nach Schinkel entspricht die lukanische Darstellung des Konflikts inschriftlich bezeugten Vereinsunruhen.13 Neben den ökonomischen Vereins- (und Stadt-)interessen geht es vor allem auch um ein »religiös-patriotisches Gefühl«, das zur »Verteidigung von Identifikationsmöglichkeiten« dient und daher bestrebt ist, sich von fremden und damit identitätsbedrohenden Elementen abzugrenzen.14 Von daher ist die Darstellung der Ausweitung des Konflikts zu einem stadtweiten Tumult, in dem die Massen zur Skandierung des Schlachtrufs »Groß ist die Artemis der Epheser!« mobilisiert werden, nicht unrealistisch. Die Göttin Artemis fungiert hier als Symbol der städtischen, auch religiös konnotierten Identität. 3.3 Aus welcher Perspektive wird der Konflikt geschildert?

Neben möglichem historisch verifizierbarem Lokalkolorit ist die Narration der De7 Vgl. Reinhard Selinger, Die Demetriosunruhen (Apg 19,23–40). Eine Fallstudie in rechtshistorischer Perspektive, in: ZNW 88/1997, 242ff. 8 Vgl. Michael Wolter (wie Anm. 4), 276. 9 Vgl. Roland Neubauer, Die Apostelgeschichte. Teilband 2: Apg 13–28, Neukirchen-Vluyn 2015, 121. 10 Vgl. Reinhard Selinger (wie Anm. 7), 248f. 11 So die Position von Peter Lampe, Act 19 im Spiegel ephesinischer Inschriften, in: BZ 36/1992, 59ff. 12 Für den Unterrichtsversuch wird die Alexanderepisode aus dem Text gestrichen, da sie für die Fragestellung eher verwirrend wirken würde. 13 Dirk Schinkel (wie Anm. 6), 99. 14 Vgl. ebd. 100.

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Fächervergleichende Perspektiven

metriosunruhen von historiographischen und theologischen Vorentscheidungen des Autors durchdrungen. Die Episode hat apologetische Funktion, die sich in verschiedenen Hinsichten entfalten lässt. a) Die Botschaft von Jesus Christus provoziert, die Botschafter erregen in der heidnischen Umwelt Anstoß. Dabei geht vom Pöbel die Gefahr für die Missionare und ihre Mission aus, sie selbst agieren gewaltfrei und setzen auf Überzeugungsarbeit. b) Die christlichen Missionare sind keine (politischen) Aufrührer, juristisch bewegen sie sich auf einwandfreiem, legalem Terrain. Vorwürfe gegen die Christen sind daher zurückzuweisen. c) Basis dieser Perspektive ist die der lukanischen Apg inhärente Theologie, dass sich die Botschaft nicht aufhalten lässt. Dass sie dazu auch die Unterstützung politischer Machthaber erhält, kann als Hinweis auf den heilsgeschichtlichen Plan Gottes gelten, der sich in der fortschreitenden Ausbreitung des Christentums offenbart. 3.4 Wie steht es um die Stimmigkeit der Narration?15

Die Episode besteht aus drei Teilen (V. 23–28; 29–34; 35–40), in denen die beiden Reden von zentraler Bedeutung sind.16 Demetrios bringt in seiner Rede Argumente für einen Aufstand der Silberschmiede gegen christliche Mission vor, der Stadtschreiber argumentiert dagegen, indem er den Aufstand für illegal erklärt, während die christliche Bewegung unangreifbar ist. Der Duktus der Szene weist einige Ungereimtheiten auf. So taucht Demetrios im Theater nicht

mehr auf, die Rolle des Juden Alexander ist nicht klar (s.o. FN 12), der Freispruch des Gaius und Aristarch erfolgt ohne vorhergehendes Verhör. Damit wird deutlich, dass der Verfasser der Apostelgeschichte die Reden fokussiert. Demetrios auf der einen Seite verquickt Religion, Patriotismus und Kommerz und macht sich die (in Quellen bezeugte) Fremden- und Judenfeindlichkeit der Ephesiner zu nutze.17 Den Stadtschreiber präsentiert Lukas zunächst als für die öffentliche Ordnung zuständigen Beamten, dann vor allem als Apologeten des Christentums. Auch wenn man den Vorwurf erheben kann, dass es sich bei diesem Text um eine spektakuläre Darstellung handelt, wenn die christliche Minderheitsreligion als Bedrohung des mächtigen Artemiskultes erscheint, so wird die missionarische Konkurrenzsituation nicht jedes Realismus entbehren. Und trotz inkohärenter Einzelfakten ist festzuhalten, dass städtische Unruhen im 1. und 2. nachchristlichen Jahrhundert vielfach belegt sind und dass Interessen von Berufsverbänden in die Öffentlichkeit hineingetragen wurden.18 Dem Verfasser der Apostelgeschichte ist des Weiteren zuzugestehen, dass seine hier präsentierte Vorstellung von der 15 Diese Perspektive wird im Unterricht nur ansatzweise aufgegriffen, indem eine Stellungnahme des Autors erfragt wird. 16 Vgl. zum Aufbau und zur Exegese Michael Fieger, Im Schatten der Artemis. Glaube und Ungehorsam in Ephesus, Bern 1998, 129ff. 17 Vgl. Rainer Metzner, Die Prominenten im Neuen Testament. Ein prosopographischer Kommentar, Göttingen 2008, 462f. 18 Vgl. Dorothea Rohde, Zwischen Individuum und Stadtgemeinde. Die Integration von collegia in Hafenstädten, Mainz 2012, 290.

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Verwaltungsstruktur in Ephesus realistisch ist und dass er die lokalen Gegebenheiten offensichtlich gut kennt. Insgesamt ist die Narration in Hinblick auf die Zielsetzung des Lukas als plausibel und nachvollziehbar zu bezeichnen.19 4. Zum Umgang mit Quellen im Geschichtsunterricht

Prinzipiell gilt Quellenarbeit als die historische Methode schlechthin. Auch die Zielsetzung ist zumindest in fachwissenschaftlicher Perspektive unstrittig. »Wenn Historiker ihre Quellen zusammengestellt und den (…) technischen Untersuchungen unterworfen haben, stellt sich ihnen die Aufgabe, diese Quellen zu erklären und sie zu verbinden zu einer Geschichte über die Vergangenheit.«20 Nicht so eindeutig zu beschreiben (und zu untersuchen) ist, was Quellenarbeit im schulischen Geschichtsunterricht bedeutet, welche Ziele sie verfolgt und welche Kompetenzen angebahnt werden können. Schon für den historisch ausgerichteten Sachunterricht der Grundschule gilt der Aufbau historischer Methodenkompetenz als wichtigstes Ziel. »Historische Methodenkompetenz wird unterschieden in Re- und De-Konstruktionsprozesse, wobei die Re-Konstruktion als synthetischer Akt auf Grundlage historischer Fragestellungen vor allem durch eine Erschließung von Quellen rekonstruiert. De-Konstruktion als analytischer Akt untersucht die Struktur(en) vorliegender Narration(en) durch den Rückgriff auf eigenes Wissen sowie mit Hilfe von Quelleninterpretationen.«21 Auch wenn dies für das Grundschulalter zunächst überfordernd scheint, haben Grundschulkinder durchaus schon

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Vorstellungen darüber, dass Geschichte konstruiert wird.22 Eigentlich wäre daher für die Sekundarstufen 1 und 2 ein höherer Grad an Einsichten in historische Rekonstruktion und Dekonstruktion von Narrationen zu erwarten. Empirische Erhebungen bestätigen dies eher nicht. Eine schon etwas weiter zurückliegende Studie von Langer-Plän hat gezeigt, dass neben grundsätzlichen Schwierigkeiten bei der Texterfassung und -wiedergabe die Schüler/innen kaum in der Lage sind, eigenständige Fragen an eine historische Quelle zu stellen. Auch die Rolle der Quelle im historischen Erkenntnisprozess wird nicht erfasst.23 Christian Spieß ist bei seinen Analysen von Unterrichtsmitschnitten zu der Feststellung gelangt, dass vor allem die Praxis eines fragend-entwickelnden Unterrichts dazu neigt, Quellen im Geschichtsunterricht als reine Informations19 Diese Frageperspektive wird im Unterricht nicht weiter verfolgt. 20 Martha Howell / Walter Prevenier, Werkstatt des Historikers. Eine Einführung in die historischen Methoden, Köln 2004, 87. 21 Eva Gläser / Andrea Becher, Kompetenzorientierung im historischen Lernen – Eine Analyse schriftlicher Lernaufgaben in Schulbüchern, in: Hartmut Giest / Eva Heran-Dörr / Carmen Archie (Hg.), Lernen und Lehren im Sachunterricht. Zum Verhältnis von Konstruktion und Instruktion, Bad Heilbrunn 2012, 143ff. 22 Vgl. Sabine Bietenhader / Markus Kübler, Historisches Denken von 4- bis 10-jährigen Kindern – Ergebnisse einer Pilotstudie, Hartmut Giest / Eva Heran-Dörr / Carmen Archie (Hg.), Lernen und Lehren im Sachunterricht. Zum Verhältnis von Konstruktion und Instruktion, Bad Heilbrunn 2012, 151ff. 23 Vgl. Martina Langer-Plän, Problem Quellenarbeit. Werkstattbericht aus einem empirischen Projekt, in: GWU 5/6 (2003), 319ff, vor allem das Fazit 336.

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Fächervergleichende Perspektiven

lieferanten zu betrachten. »Darüber hinaus ist es wahrscheinlich, dass instruktive Lernformen, die die Vermittlung sicheren Wissens über ›sichere‹, vorher bekannte Antworten implizieren, im Widerspruch zur Natur historischen Wissens und seiner latenten Unsicherheit stehen. Stark asymmetrische Kommunikationsstrukturen suggerieren, dass die Lehrkraft – womit auch immer – Recht hat bzw. die Lösung weiß und am Ende preisgibt. Dieses Phänomen und die darin latent enthaltene Auffassung, dass es die richtige Antwort gibt, untergräbt normativ gewünschte und im Geschichtsunterricht zu vermittelnde moderat konstruktivistische Auffassungen von Geschichte – wenngleich diese mitunter kommunikativ beteuert werden – und kann im Extremfall positivistische Lesarten von Quellen in der Interaktion befördern.«24 Diese Erkenntnis mündet bei Spieß in die Forderung, »dass Quellen in der Tat als Quellen und nicht affirmativ im Sinne von Informationslieferanten genutzt werden sollten«25, was nur funktioniert, wenn bei der Arbeit mit Quellen neben die Instruktion auch die Konstruktion durch entsprechende Lernumgebungen tritt.26 Dies gilt es im Hinblick auf den Unterrichtsversuch zum Umgang mit dem Text aus der Apostelgeschichte zu bedenken. Es sind dabei – in Aufnahme der o.g. exegetischen Perspektiven – Fragestellungen anzubieten, die das konstruktive Element der lukanischen Narration entdecken helfen. Nur in dieser Hinsicht könnte dann auch sichtbar werden, ob sich Unterschiede auf der Basis der hermeneutischen Vorentscheidung (Bibeltext versus antike Quelle) ergeben. Dabei wird vorausgesetzt, dass Schüler/innen der Sekundarstufe 2 eine historische Perspektivenüber-

nahme weitgehend gelingt, d.h. dass sie sich in die historischen Akteure hineinversetzen können, auch wenn ihnen der historische Kontext eher fern liegt.27 Die Geschichtsdidaktik kennt unterschiedliche Nomenklaturen in den Modellen der Quellenerschließung, gemeinsam ist ihnen ein mehrschrittiges Vorgehen, das auch hier zur Anwendung kommt. Schritt 1: Sinnerschließung / Verständnissicherung Der Bibeltext wird in einer modernisierten Textfassung28 geboten, so dass die Sicherung des Begriffsverständnisses unproblematisch erscheint. Die Fragen 1 und 2 nach den Protagonisten und dem Konflikt ermöglichen Textverstehen durch eine strukturierte, problemorientierte Textwiedergabe. 2. Schritt: Problematisierung und Hypothesenbildung Die Frage nach der Perspektive des Autors impliziert, dass der Text eine Kon­ 24 Christian Spieß, Quellenarbeit im Geschichtsunterricht. Die empirische Rekonstruktion von Kompetenzerwerb im Umgang mit Quellen, Göttingen 2014, 221. 25 Vgl. ebd 233. 26 Vgl. ebd 235. 27 Vgl. dazu die Dissertation von Ulrike Hartmann, Perspektivenübernahme als eine Kompetenz historischen Verstehens, Göttingen 2008, verfügbar unter: http://hdl.handle.net/1 1858/00-1735-0000-0006-AD13-2 – Zugriff: 15.2.2017. 28 Textfassung aus den didaktischen Materialien zur Ausstellung »Werbung für die Götter. Heilsbringer aus 4000 Jahren«, Bern 2003, verfügbar unter: http://www.mfk.ch/fileadmin/ user_upload/zzz_Dateiliste_alte_Seite/pdfs/ Bildung_Vermittlung/Materialien/Ausstellun­ gen/Werbung_Goetter/WfdG_did_Mat_Bild schirm.pdf, Download vom 15.2.2017.

Dierk Die Apostelgeschichte als Quelle historischen und / oder religiösen Lernens …

struktion ist, da der Autor seine Sicht des Ereignisses wiedergibt. Hier ist zu vermuten, dass die Schüler/innen zu unterschiedlichen Einschätzungen kommen, je nach dem, ob ihnen der Text als Bibeltext oder als antike Quelle präsentiert wurde. 3. Schritt: Bewertung / Fremdverstehen / Übertragung Mit dem letzten Schritt sollen Einsichten in die Dekonstruktion angebahnt werden. Ein Weg dazu kann das perspektivische Umschreiben sein oder auch (wie im Unterrichtsversuch) die Stellungnahme des Autors / Erzählers sein. 5. Unterrichtliche Umsetzung 5.1 Setting

Der Unterrichtsversuch wurde in einer Doppelstunde als Lernstandsdiagnose (zur Hinführung zum Thema »Bibelhermeneutik«) mit 24 Schüler/innen durchgeführt. Nach einer kurzen Einführung (»Zeitreise nach Ephesus«) wurden sie in Gruppen aufgeteilt. Während drei Gruppen den Text als antike Quelle angeboten bekamen, bearbeiteten zwei Gruppen denselben Text mit der Information, dass der Text aus Apg 19,23–40 stammte. Textfassung: Der Aufstand der Silberschmiede In dieser Zeit kam es wegen der neuen Lehre zu schweren Unruhen in Ephesus. Es gab dort nämlich einen Silberschmied namens Demetrius, der silberne Nachbildungen vom Tempel der Göttin Artemis verkaufte; das brachte ihm und den Handwerkern, die er beschäftigte, einen schönen Gewinn. Dieser Demetrius rief

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alle, die in diesem Gewerbe tätig waren, zusammen und sagte: »Männer, ihr wisst: Unser ganzer Wohlstand hängt davon ab, dass wir diese Nachbildungen herstellen. Und ihr werdet erfahren haben, dass dieser Paulus den Leuten einredet: ›Götter, die man mit Händen macht, sind gar keine Götter.‹ Er hat mit seinen Reden nicht nur hier in Ephesus Erfolg, sondern fast überall in der Provinz Asien. Es besteht aber nicht nur die Gefahr, dass er unseren Geschäftszweig in Verruf bringt, nein, auch die Achtung vor dem Tempel der großen Göttin Artemis wird schwinden! Es wird noch dahin kommen, dass die Göttin ihr Ansehen vollständig einbüßt – sie, die heute in der ganzen Provinz Asien und überall in der Welt verehrt wird!« Als die Männer das hörten, wurden sie wütend und riefen: »Groß ist die Artemis von Ephesus!« Die ganze Stadt geriet in Aufruhr, und die Leute stürmten ins Theater. Gaius und Aristarch, Reisegefährten von Paulus aus Mazedonien, wurden von der Menge gepackt und mit dorthin geschleppt. Paulus selbst wollte sich der Menge stellen, aber die Freunde ließen ihn nicht aus dem Haus. Auch einige hohe Beamte der Provinz, die ihm freundlich gesinnt waren, warnten ihn durch Boten davor, sich im Theater sehen zu lassen. Unter den dort Zusammengeströmten herrschte die größte Verwirrung. Alle schrien durcheinander, und die meisten wussten nicht einmal, worum es ging. (…) Sie riefen zwei Stunden lang im Chor: »Groß ist die Artemis von Ephesus!« Schließlich gelang es dem (römischen) Verwaltungsdirektor der Stadt, die Menge zu beruhigen. »Männer von Ephesus«, rief er, »in der ganzen Welt weiß man doch, dass unsere Stadt den Tempel und das vom Himmel gefallene Standbild der gro-

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Fächervergleichende Perspektiven

ßen Artemis hütet. Das wird kein Mensch bestreiten! Beruhigt euch also und lasst euch zu nichts hinreißen! Ihr habt diese Männer hergeschleppt, obwohl sie weder den Tempel beraubt noch unsere Göttin beleidigt haben. Wenn Demetrius und seine Handwerker Anklage wegen Geschäftsschädigung gegen jemand erheben wollen, dann gibt es dafür Gerichte und Behörden. Dort können sie ihre Sache vorbringen. Wenn ihr aber irgendwelche anderen Forderungen habt, muss das auf einer ordentlich einberufenen Volksversammlung geklärt werden. Was heute geschehen ist, kann uns leicht als Rebellion ausgelegt werden. Es gibt keinen Grund für diesen Aufruhr; wir können ihn durch nichts rechtfertigen.« Mit diesen Worten löste er die Versammlung auf.

war. Daneben konnte ihren Äußerungen entnommen werden, dass sie auf der Suche nach den »richtigen« Antworten auf die Fragen waren. Sie bestätigten damit indirekt die Ergebnisse von Spieß, dass Lehrkräfte im Geschichtsunterricht Quel­len so einsetzen, dass ihnen eindeutige Aussagen entnommen werden können. Erst im Gespräch konnten die Schüler/ innen ermutigt werden, ihre Deutungen zu formulieren, indem sie »die Message« (Sprachgebrauch der Lernenden) benannten. Auch der Arbeitsauftrag, in der Rolle des Autors die Intention der Erzählung zu verteidigen oder zuzuspitzen, wurde nicht von allen Gruppen gelöst.

Arbeitsaufträge zum Text: Die Darstellung umfasst im Wesentlichen zwei Szenen (Demetrius-Unruhen, Volksversammlung im Theater). 1. Stellen Sie die wesentlichen Aussagen des Textes heraus: Wer sind jeweils die Protagonisten? Um welchen Konflikt geht es? Welche Interessen treffen aufeinander? 2. Erläutern Sie die Intention des Autors: Aus welcher Perspektive wird der Konflikt geschildert? Was will der Autor mit der Geschichte sagen? 3. Entwerfen Sie eine Rede oder Stellungnahme des Autors zu seiner Darstellung. Tragen Sie diese ggf. szenisch vor.

Angesichts dieser Schwierigkeiten waren die Resultate, die im Plenum vorgestellt und diskutiert worden, überraschend differenziert und im Hinblick auf die Intention des Lernweges zielführend. Zunächst präsentierten die Gruppen mit dem antiken Text ihre Ergebnisse. Auffällig dabei war, dass alle Gruppen den Konflikt auf ihre Erfahrungswelt bezogen, d.h. dass für sie der Text gleichsam allgemeine Wahrheiten transportiert. So schrieb eine Gruppe: »Der Autor will mit der Geschichte aussagen, dass man sich viel zu schnell aufregt und von anderen Meinungen und Aussagen zu schnell einfach beeinflussen lässt.«, eine andere: »Der Autor möchte sagen, dass es teils nur eine Person braucht, um eine große Bewegung / Aufstand anzuzetteln, aber auch zu beenden.«, die dritte: »Es gibt keinen Grund sich aufzuregen, da es immer eine Lösung gibt.« Die beiden Gruppen, die den Text als Bibeltext bearbeiteten, äußerten sich im

5.2 Arbeitsprozess

Grundsätzlich taten sich die Schüler/in­ nen mit den Arbeitsaufträgen schwer, was sicher auch dem Text selbst geschuldet

5.3 Die Reflexion im Unterrichtsgespräch

Dierk Die Apostelgeschichte als Quelle historischen und / oder religiösen Lernens …

Hinblick auf den Textinhalt relativ identisch, fanden jedoch zu anderen Beurteilungen des Textes. Die erste Gruppe kam zu dem Ergebnis, dass Lukas den Aufstand letztlich als banal darstelle, was in Ansätzen zu der exegetischen Position passt, dass Lukas das Christentum als politisch ungefährlich darstelle. »Der Autor will damit sagen, dass man nicht gleich Gewalt anwenden soll, sondern über die Behörden Konflikte lösen soll.« Die Gruppe erklärte ihre Schwierigkeiten bei der Bearbeitung des Textes damit, dass sie in diesem keine »tiefere« Bedeutung gefunden hätten, da beispielsweise keine Metaphern vorkämen. Ganz offensichtlich empfanden sie den Text als zu profan und damit unbiblisch. Der Wunsch nach einem tieferen Sinn erinnert an die Auslegungstradition des vierfachen Schriftsinns, wodurch der Mehrwert biblischer Texte zum Ausdruck gebracht werden sollte. Die Gruppe konnte im Text nur einen Literalsinn entdecken, keine weiteren Sinnperspektiven. Die andere Gruppe las den Text theologisch, indem sie den »Konflikt zwischen dem Volk und Paulus aufgrund von wirtschaftlichen (Volk) und geistlichen (Paulus) Interessen« beschrieb. Sie brachte den Text produktiv mit dem 2. Gebot in Verbindung. »Was will der Autor sagen: Götter soll man nicht verbildlichen → kein Bild von Gott machen.« Dieser letzte Aspekt war der Aufhänger für das abschließende Reflexionsgespräch. Auf die Frage der Lehrerin, ob die Gruppen mit dem antiken Text keine Assoziationen zum Dekalog hergestellt hätten, erklärte ein Schüler: »Bei unserem Text stand ja nichts von Bibelstellen. Ich habe schon an das Verbot von Götterbildern gedacht, aber ich dachte, es geht um eine andere Message. Hätte ich gewusst, dass der Text

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aus der Bibel ist, hätte ich an die Zehn Gebote gedacht.« Implizit hat er hier auf das Vorverständnis von (biblischen) Texten angespielt. Verallgemeinernd kann man daraus erschließen, dass es für die Jugendlichen dieser Lerngruppe nicht vorstellbar war, dass »profane« Texte auf religiöse bzw. biblische Normen und Werte anspielen können. Im Gegenzug wird von biblischen Texten erwartet, dass sie eine »Message« transportieren, die es zu entschlüsseln gilt. Die Schüler/innen haben im Plenumsgespräch signalisiert, dass sie Bibeltexte grundsätzlich anders lesen als profane Texte. Man könnte es so deuten, dass sie – bei aller Schwierigkeit mit biblischen Texten – diese als autoritative Texte wahrnehmen, deren Botschaft auf religiöse Orientierung zielt. Eine solche Erwartung haben sie an historische Quellen nicht. Diese werden vornehmlich auf politische oder soziale Aussagen hin befragt, zweifelsohne ein Effekt des Geschichtsunterrichts. 6. Schlussbemerkung

Angesichts dieses (wenn auch singulären) Ergebnisses erscheint es fraglich, ob Schüler/innen in ihren Umgang mit biblischen Texten Kompetenzen aus dem Geschichtsunterricht einfließen lassen. Das hier artikulierte Vorverständnis spricht eher gegen eine solche Annahme. Von daher sind auch Anfragen an den Geschichtsunterricht zu stellen. Offensichtlich kommen hier religiöse Perspektiven nicht zur Sprache, Ereignisse und Entwicklungen werden primär politisch, wirtschaftlich und gesellschaftlich eingeordnet. Religiöse Orientierung von

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Fächervergleichende Perspektiven

Menschen wird nicht als historische Kategorie oder gar als Potenzial gesellschaftlicher Veränderung wahrgenommen. Zugleich zeigt sich, dass zumindest in den Augen einiger Schüler/in­nen historische Texte als Fremdkörper in der Bibel erscheinen, da sie der eigenen Erwartungshaltung an die Texte widersprechen. In dieser Hinsicht könnte eine Konsequenz sein, dass im Religionsun-

terricht die Gattungskompetenz der Lernenden im Umgang mit biblischen Texten gefördert werden muss, so dass sie biblische Texte auch als Reflexe auf historische Gegebenheiten wahrnehmen lernen. Gleichzeitig kann damit auch ein bewusster und angemessener Umgang mit historischen Quellen eingeübt werden, indem diese als perspektivisch und von Interessen geleitet dekonstruiert werden.

Spiering-Schomborg Jugendliche lesen Exodus 1: Theoretische Zugänge, bibeldidaktische Impulse …

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Nele Spiering-Schomborg Zwischen den Zeilen. Jugendliche lesen Exodus 1: Theoretische Zugänge, bibeldidaktische Impulse und empirische Ausschnitte 1. Hinführung

Biblische Texte sollen »realistisch klingen und unserer Zeit entsprechen, aber das tun sie halt einfach nicht«, erklärt der 15-jährige Joel in einem Interview und legt eine Perspektive frei, die mutmaßlich erst einmal viele Jugendliche bestätigen können. Während Kinder durchaus großes Interesse an biblischen Erzählungen zeigen, erfährt diese Affirmation im Zuge des Heranwachsens zumeist einen Abbruch: Die vormals positiven Lektüreerfahrungen weichen vielmals zugunsten von Skepsis, Irrelevanz und Desinteresse. Maßgebend sind dabei im Anschluss an empirisch-theoretische Erkenntnisse1 u.a. fehlende Schnittmengen zwischen den biblischen Erzählwelten und den Lebenskontexten der Schülerinnen und Schüler.2 Auch als Antwort auf solche Bestandsaufnahmen sind dialogische, kreative und erfahrungsorientierte (etwa korrelative) Ansätze zunehmend im Mainstream der Bibeldidaktik angekommen. Als Motivation und gleichsam pädagogisch-didaktische Prämisse kommt hier z.B. die Annahme zur Geltung, dass biblische Bildungsprozesse »kulturgeschichtliches, ideologiekritisches, existenzielles und religiöses Potenzial [besitzen], um Schüler/innen zur bildenden Erweiterung ihres Horizonts und ihrer Handlungsfähigkeit zu verhelfen.«3 Ob diese Potenziale im Aus-

tausch mit Bibeltexten tatsächlich wirksam werden, bleibt zwar eine Frage, die hinreichend nur Schülerinnen und Schüler selbst und jeweils situativ beantworten können. Mithilfe bibeldidaktischer Werkzeuge ist es aber möglich, zumindest Brücken zu den Perspektiven der Jugendlichen zu schlagen – einige davon möchte ich in diesem Beitrag skizzieren: Ausgehend von empirischer Lese- und Rezeptionsforschung zur Bibel, die ich mit jugendtheologischen Perspektiven verschränke, wende ich mich zunächst Jugendlichen als Adressatinnen und Adressaten bibeldidaktischer Reflexion zu. Angelehnt an das bibeldidaktische Dreieck stehen in einem weiteren Schritt 1 Siehe dazu z.B. Horst Klaus Berg, Arbeit mit der Bibel / Bibeldidaktik, in: Gottfried Bitter / Rudolf Englert / Gabriele Miller / Karl Ernst Nipkow (Hg.), Neues Handbuch religionspädagogischer Grundbegriffe, München 2002/2013, 336–343, siehe außerdem Andreas Kessler, Verschiebungen. Auf der Suche nach einem Ort, die Bibel ins Spiel zu bringen, in: Nadja Troi-Boeck / Andreas Kessler / Isabelle Noth (Hg.), Wenn Jugendliche Bibel lesen. Jugendtheologie und Bibeldidaktik, Zürich 2015, 35–48. 2 Siehe dazu auch Thomas Schlag, Brauchen Jugendliche die Bibel? Jugendtheologie in bibeldidaktischer Perspektive, in: Nadja TroiBoeck / Andreas Kessler / Isabelle Noth (Hg.), Wenn Jugendliche Bibel lesen. Jugendtheologie und Bibeldidaktik, Zürich 2015, 15f. 3 Burkard Porzelt, Grundlinien biblischer Didaktik, Bad Heilbrunn 2012, 67.

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pädagogisch-didaktische Überlegungen zum Unterrichtsgegenstand im Fokus. Exemplarisch kommt hier Exodus 1 als ein schwieriger und im Speziellen auch kulturell-gewaltvoller Text in den Blick. Auf der Grundlage von ausgewählten jugendlichen Bibellektüren möchte ich dann beispielhaft Prozesse bzw. Möglichkeiten nachzeichnen, die zwischen Text(en) und Rezipientin bzw. Rezipienten vermitteln können. 2. Empirische Bibelforschung und Jugendtheologie

Eine Möglichkeit, um den Sinnkonstruktionen und damit verknüpft z.B. den Haltungen, Fragen und Interessen von Jugendlichen in Bezug auf biblische Texte näherzukommen, bietet auf wissenschaftlicher Ebene die empirische Bibel(lese)forschung. Im Fokus des noch recht jungen Zugangs stehen die Bibellektüren von ordinary readers, die mittels Interviews, Fragebögen oder introspektiven Methoden wie etwa dem Lauten Denken erhoben werden. Der Bedeutungsreichtum biblischer Texte wird also »nicht allein in akademischen, sondern auch in sog. ›Alltagsexegesen‹«4 gesucht. Hiermit geht u.a. das Anliegen einher, die klassische Bibelexegese stärker zu demokratisieren.5 »Neben Rezeptionsästhetik, kognitiver Lese- bzw. Textverstehensforschung und entwicklungspsychologischen Theorien bilden Anleitungen der empirischen Sozialforschung die zentralen Bezugsfelder«6 einer interdisziplinär arbeitenden empirischen Bibel(lese) forschung. Größtenteils nutzen die Forscherinnen und Forscher qualitative Auswertungsverfahren, wie z.B. die do-

kumentarische Methode, die qualitative Inhaltsanalyse oder die Grounded Theory. Als maßgebende Bezugsdisziplin empirischer Bibel(lese)forschung gilt bislang die praktische Theologie (Religionspädagogik u. Pastoraltheologie), die ordinary readers sind daraufhin i.d.R. Kinder und Jugendliche.7 Im Hinblick auf die Exegese steckt der empirical turn indessen »noch deutlich in den ›Kinderschuhen‹«8, wobei zunehmend empirische Schritte eingeleitet werden.9 Grundlegend ist dabei die Einsicht, »dass biblischen Texten nicht

4 Im Anschluss an C. Schramm meint der Begriff Alltagsexegesen in einer Kurzfassung »Bibelauslegung in alltäglichen Kontexten.« Christian Schramm, Alltagsexegesen. Sinnkonstruktion und Textverstehen in alltäglichen Kontexten, Stuttgart 2008, 483. 5 Vgl. Detlef Dieckmann-von Bünau, Art. Empirische Bibelforschung, in: WiBiLex, http:// www.bibelwissenschaft.de/stichwort/28141/, 2013 (Zugriff: 28.08.2017). 6 Nele Spiering-Schomborg, »Man kann sich nicht entscheiden, als was man geboren wird.« Exodus 1 im Horizont von Intersektionalität und empirischer Bibeldidaktik, Stuttgart 2017, 104. 7 Der Ausdruck gewöhnlich mag irreführend sein, insofern gerade Jugendlichen eine zunehmende Bibelabstinenz bescheinigt wird. Ebenso wie in Bezug auf den Ausdruck Alltag, der seinerseits kritisch befragt werden kann, erscheint mir der Ausdruck ordinary im Hinblick auf die speziellen Orte der Lektüre, nämlich alltägliche bzw. gewöhnliche Lebensbereiche wie z.B. die Schule, als zutreffend. 8 Christian Schramm, Im Alltag liest man die Bibel anders als an der Uni!? Von Alltagsexegesen als inspirierendem Lernfeld und den Chancen eines empirical turn in der Exegese, in: Zeitschrift für das Neue Testament 33, 17. Jg. 2014, 2. 9 Vgl. Christian Schramm, Empirisch gepflückt: Alltagsexegesen. Forschungsüberblick und methodologische Erwägungen, in: Protokolle zur Bibel 23. Jg., Heft 1, 3.

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eine richtige und gültige Bedeutung zukommt, sondern dass sie prinzipiell offen sind für mehrere ›zutreffende‹ Deutungen.«10 Das besondere Potenzial von alltäglichen Bibelauslegungen möchte ich kurz, u.a. in Anlehnung an Christian Schramm, begründen. Die Berücksichtigung wissenschaftlicher Standards (Intersubjektivität, reflektierter Methodeneinsatz, Gebrauch von Theorie etc.) im Rahmen der Bibelauslegung ist sinnund wertvoll. Damit einher geht allerdings eine Begrenzung: Wissenschaftliche Bibelauslegungen werden nomen est omen von Akademikerinnen und Akademikern, also einer spezifischen sozialen Gruppe, beigebracht. Diese (zumindest äußerliche) Einschränkung trifft auf Alltagsexegesen erst einmal nicht zu, was eine stärkere Diversität nahelegt. Einerseits bleiben den alltäglichen Leserinnen und Lesern zwar einige (wissenschaftliche) Textzugänge verschlossen bzw. sie stehen ihnen nur begrenzt zur Verfügung. Aus dieser Begrenzung ergeben sich andererseits aber Freiräume für spontane,11 intuitive, emotionale, intime und dezidiert parteiische Modi des Lesens und Auslegens, die innerhalb der Academia selten einen Platz haben und eher Randerscheinungen sind. Alltagsexegesen stellen damit ein breiteres Repertoire von Sinnkonstruktionen in Aussicht.12 Die skizzierten Merkmale veranschaulichen bereits, »in welchem Maße die Empirische Bibelforschung den Untersuchungsbereich der Bibelexegese erweitern und eine Brücke zwischen der Exegese und der Praktischen Theologie schlagen könnte.«13 Die Bibeldidaktik kann dabei eine ideale Vermittlerin sein,

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greift sie doch sowohl auf exegetische als auch religionspädagogische Kenntnisse zurück und verfügt über die Expertise, beide produktiv miteinander zu verschränken. Hilfreich erscheinen mir hier gerade solche Ansätze, die kontextuell-hermeneutisch (z.B. inklusiv) oder handlungs- bzw. gegenstandsorientiert (z.B. dialogisch) vorgehen. Wo nunmehr speziell Jugendliche als Adressierte in den Blick kommen, kann das Einspielen jugendtheologischer Perspektiven den bibeldidaktischen Horizont erweitern. Eine wichtige Frage, die gleichsam eine Fortsetzung bisheriger jugendtheologischer Debatten neu auflegt, bezieht sich zunächst einmal auf das Begriffsverständnis von Exegese: Welche Kennzeichen müssen erfüllt sein, damit Jugendliche als Exegetinnen und Exegeten gelten können? Was bedeutet Exegese also konkret im Hinblick auf Jugendliche? Mit ganz ähnlichen Fragen – allerdings zur Definition von Theologie – hat sich bereits die jugendtheologische Forschung beschäftigt und maßgebende (Vor)Arbeit geleistet. Ohne die entsprechenden Diskussionen detaillierter zu beleuchten, nehme ich hier Anschluss an Nadja TroiBoeck. Die Theologin weist darauf hin, dass »die Anfragen an den Begriff der Jugendtheologie […] durch den Fokus auf die Bibelrezeption von Jugendlichen und die Sichtweise auf Jugendlichen als Ex-

10 Georg Fischer, Wege in die Bibel, Stuttgart 2008, 51. 11 Vgl. Sonja Angelika Strube, Bibelverständnis zwischen Alltag und Wissenschaft. Eine empirisch-exegetische Studie auf der Basis von Joh 11,1–46, Berlin 2009, 13. 12 Siehe dazu Christian Schramm (wie Anm. 4). 13 Detlef Dieckmann-von Bünau (wie Anm. 5).

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eget/innen«14 weiter verschärft werden. Dabei hat Friedrich Schweitzer schon zur Jahrtausendwende von Jugendlichen als Exeget/innen gesprochen. Die exegetischen Kompetenzen von Jugendlichen anzuerkennen und zu fördern, stellt für ihn eine Kernaufgabe biblischer Didaktik dar, die innerhalb der Disziplin auch zunehmend Beachtung findet.15 Gewissermaßen in der Spur jugendtheologischer Ansätze, wird Schülerinnen und Schülern infolgedessen ein selbstreflexiver, innovativer und individueller Umgang mit biblischen Texten zugetraut. Die Jugendlichen spielen »als aktive Rezipienten des biblischen Textes eine konstitutive Rolle.«16 Demnach werden literarische Sinnbildungsprozesse wechselseitig durch Text, Leserin bzw. Leser und Kontexte initiiert. Bedeutung entsteht erst durch ein Miteinander dieser Instanzen. Die Kognitionspsychologie differenziert hierbei zwischen so genannten textgeleiteten (bottomup) und wissensgesteuerten (top-down) Prozessen. Im Zuge von Bottom-upVerarbeitungen dient der Text als Ausgangspunkt von Sinnbildung. Bei der wissens- bzw. kontextgesteuerten Topdown-Bewegung bestimmen dahingegen leserinnenseitige Faktoren (z.B. soziokulturelle Merkmale, Vorwissen, Erfahrungen etc.) die Sinnkonstruktion. Unter dieser Voraussetzung bringen Jugendliche, wenn sie biblische Texte lesen, also ihre (über)individuellen Bedingungen mit in die Lektüre bzw. die Deutung ein. Und: »Keine der unendlich vielen Deutungen der Heiligen Schrift, die in der Geschichte entwickelt wurden, vermag die eigene, die besondere Interpretation des je einzelnen Schülers zu ersetzen.«17

Wo die exegetischen Kompetenzen von Jugendlichen an- und ernstgenommen werden, gibt ihnen ein entsprechend eingerichtetes pädagogisch-didaktisches Setting die Möglichkeit, ihre eigenen Perspektiven frei mitzuteilen, sie zu überprüfen und zur Diskussion zu stellen. Bibelauslegung wird also nicht gleichgesetzt mit grenzenloser Fantasie, sondern im Modus von Intersubjektivität verhandelt. Dies bedeutet zuweilen auch, dass die Jugendlichen gerade »nicht bei der erstbesten Deutung biblischer Texte stehen bleiben, die ihnen naheliegend erscheint.«18 Orientierung bieten dabei häufig die Texte selbst, insofern sie eine »beliebige, gleichgültige Vielfalt der Deutungen [einschränken], indem sie ihre Leserinnen disziplinieren.«19 Sodann können die Bibellektüren von Jugendlichen in exegetischer (hier besonders im Blick auf kontextuelle Zugänge), bibeldidaktischer und schließlich religionspädagogischer Perspektive weiterführend sein. Empirische Untersuchungen von Jugendexegesen geben z.B. 14 Nadja Troi-Boeck, Empirische Zugänge: Lesen Jugendliche die Bibel?, in: Nadja TroiBoeck / Andreas Kessler / Isabelle Noth (Hg.), Wenn Jugendliche Bibel lesen. Jugendtheologie und Bibeldidaktik, Zürich 2015, 29. 15 Vgl. Friedrich Schweitzer, Kinder und Jugendliche als Exegeten? Überlegungen zu einer entwicklungsorientierten Bibeldidaktik, in: Desmond Bell / Heike Lipski-Melchior / Johannes von Lüpke / Birgit Ventur (Hg.), Menschen suchen – Zugänge finden. Auf dem Weg zu einem religionspädagogisch verantworteten Umgang mit der Bibel. Festschrift für Christine Reents, Wuppertal 1999, 242. 16 Burkard Porzelt (wie Anm. 3), 92. 17 Ebd. 18 Ebd. 19 Uta Pohl-Patalong, Religionspädagogik. Ansätze für die Praxis, Göttingen 2013, 41.

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Hinweise darauf, welche Textmerkmale Schülerinnen und Schüler an kognitive, soziale oder emotionale Grenzen führen und deshalb pädagogisch-didaktischer Aufmerksamkeit bedürfen. Auch lebensweltliche Verbindungen, welche die Jugendlichen etwa über die biblischen Figuren oder die Themen der Erzählungen herstellen, können mittels empirischer Analysen gezielt erforscht werden. Grundlegend ist die Frage, ob, wann und welche Texte überhaupt an die Interessen von Schülerinnen und Schülern anknüpfen und mit ihren Erfahrungswelten korrespondieren. Im anschließenden Kapitel möchte ich an diesem Fragehorizont weiterarbeiten und dazu neue Gedanken einspielen. 3. Biblische Gewalttexte als Wachmacher?

Wenn Schülerinnen und Schüler die Arbeit mit der Bibel als ermüdend und langweilig empfinden, können so genannte Wachmacher hilfreich sein. Gemeint sind damit im Anschluss an Iris Bosold bibeldidaktische Zugänge, »die die Erfahrungen, Fragestellungen und die Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler ernst nehmen.«20 Nach wie vor gelten u.a. Liebe, Freundschaft und Partnerschaft als klassische Themen, die für Jugendliche von besonderer Relevanz sind – im Religionsunterricht haben sie einen festen Platz und im Curriculum i.d.R. ebenfalls. Welche Themen und Fragen Jugendliche umtreiben bzw. ihr Interesse wachrufen, wird (wechselseitig) durch subjektbezogene, soziale, strukturelle und darüber hinaus gesellschaftliche Faktoren mitbestimmt.

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Die aktuelle Sinus-Studie (2016) kommt zu dem Ergebnis, dass »[ü]ber alle demografischen Gruppen und Lebenswelten hinweg […] Jugendlichen an dem Thema Flüchtlinge interessiert«21 sind. Für den Bibelunterricht bieten sich hier reichhaltige Anschlussmöglichkeiten: Flucht, Fliehen, Flüchtling oder flüchtig sein markieren zentrale Motive, die in biblischen Texten verarbeitet werden. Sie haben besonderes Gewicht und umfassen ein weites Spektrum.22 Innerhalb der Tora ziehen sich Fragen rund um den Themenkomplex Ausund Einwandern wie ein roter Faden durch die Texte.23 Sarah und Abraham sind alttestamentliche Migrationspioniere, sie setzen ein Startsignal für Israels narrative Flüchtlingsbiographie, die u.a. Jakob, Josef und Mose dann fortschreiben. Im Hintergrund der erzählten Figurenschicksale stehen oftmals reale Fluchterfahrungen und ihre teils traumatischen Verarbeitungen sind in die Texte eingewebt.24 Dass diese »Existenz als Fremde bzw. Fremder im Ausland, sei es ein Kriegs- oder sonstiger Flüchtling«25 vielfältig prekär und be20 Iris Bosold, Zugänge zur Bibel für Schülerinnen und Schüler der Sekundarstufe I, in: Mirjam Zimmermann / Ruben Zimmermann (Hg.), Handbuch Bibeldidaktik, Tübingen 2013, 632. 21 Marc Calmbach / Silke Borgstedt / Inga Borchard / Peter Martin Thomas / Berthold Bodo Flaig, SINUS-Jugendstudie u18. Wie ticken Jugendliche 2016? Lebenswelten von Jugendlichen im Alter von 14 bis 17 Jahren in Deutschland, Berlin / Wiesbaden 2016, 436. 22 Vgl. Andreas Michel, Flucht, in: WiBiLex, http://www.bibelwissenschaft.de/de/stichwort /200066/, 2015 (Zugriff: 29.08.2017). 23 Siehe dazu auch Ruth Ebach, Das Fremde und das Eigene. Die Fremdendarstellungen des Deuteronomiums im Kontext israelitischer Identitätskonstruktionen, Berlin/Boston 2014, 2. 24 Vgl. Andreas Michel (wie Anm. 22). 25 Ebd.

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drohlich ist, kommt in den Erzählungen mitunter deutlich zur Geltung. Migration korrespondiert im Ersten Testament aufs Engste mit Fremdsein bzw. Fremdheit und ferner sowohl mit direkter als auch indirekter Gewalt: »Leicht konnte aus einer flüchtenden, heimatlosen, dem Umkommen nahen Existenz, die zunächst den Schutzstatus des Fremden genoss (Dtn 26,5), Marginalisierung, Unterdrückung und Ausbeutung hervorgehen (Dtn 26,6).«26 Exodus 1 kann hierfür ein Beispiel sein: Fremdheit ist im Rahmen der Erzählung ein zentrales Thema, das jedoch Hand in Hand mit den sozialen Merkmalen der Figuren und schließlich mit Gewalt geht.27 Allerdings betrifft die Gewalt nicht bloß die storyworld, sondern ferner die Präsentationsebene. Während innerhalb der erzählten Welt Fremdheit von Ägypten aus konstruiert und auf Israel übertragen wird, vollzieht sich auf der Präsentationsebene ein Wechsel von Subjekt und Objekt: Die alttestamentlichen Autorinstanzen entwerfen nun Ägypten als fremdes, gefahrverheißendes Gegenüber.28 Auch weil mit Exodus 1 eine Erzählung vorliegt, die erstens das Thema Migration/Asyl aufgreift und es zweitens in den Horizont von Gewalt bzw. Gewaltkritik stellt, kann ein Einsatz der Erzählung im Religionsunterricht korrelative Impulse freisetzen und als didaktischer Wachmacher funktionieren. Inhumanität, wie sie u.a. in Gewaltakten oder Ungerechtigkeit zum Ausdruck kommt, markiert ein Merkmal schwieriger Bibeltexte. In Bezug auf die Schülerinnen und Schüler können Texte, die diesem Label zugeordnet werden, »Reaktionen wie Unverständnis, Verunsicherung, Erschrecken, Abwehr oder Widerspruch«29 auslösen.

Aber: Schwierige Bibeltexte enthalten im Anschluss an Michael Fricke zugleich besondere Lernchancen. Für die Begegnung mit Exodus 1 möchte ich eine davon besonders hervorheben: Biblische Texte sollen Lernende zur Stellungnahme und Gewissenschärfung herausfordern. Weiterführend sind hierbei Erzählungen, »die aufgrund ihrer Ambivalenz das Vermögen in sich tragen, Nachdenken auszulösen und zu Gesprächen anzuregen, in denen die Aporie aushaltend frei diskutiert wird und die Schüler dadurch Reifeschritte machen.«30 Als diasporisch angelegter Gewalttext eröffnet Exodus 1 einen weiten Raum für die genannten Lernchancen und knüpft – wie weiter oben angemerkt – gleichzeitig an die Interessen von Jugendlichen an. Dabei kann die Lehrkraft zwar überwiegend mit Schülerinnen und Schülern rechnen, die »mehr oder weniger empathisch auf das Thema Flucht und Asyl blicken«31, gleichwohl aber müssen auch gegenläufige, also ablehnende Reaktionen angenommen werden. Die Sinus-Studie erklärt dazu: »Vor allem bei Jugendlichen aus der gesellschaftlichen Mitte sowie in bildungsfernen Lebenswelten kann die Angst vor Überfremdung und vor Veränderungen der Lebensbedingungen in Deutschland, die sich gemeinhin aus 26 Ebd. 27 Vgl. Nele Spiering-Schomborg (wie Anm. 6), 156. 28 Vgl. Ebd., 174. 29 Michael Fricke, Was sind (zu) schwierige Bibeltexte?, in: Mirjam Zimmermann / Ruben Zimmermann (Hg.), Handbuch Bibeldidaktik, Tübingen 2013, 671. 30 Ebd., 673. 31 Marc Calmbach / Silke Borgstedt / Inga Borchard / Peter Martin Thomas / Berthold Bodo (wie Anm. 21), 442.

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den gängigen Klischees und Vorurteilen speist, in Fremdenfeindlichkeit umschlagen.«32 Wie ich anschließend zeigen möchte, gibt es daneben freilich noch verschiedene Zwischentöne, die sich einer Zuordnung nach dem EntwederOder-Prinzip entziehen. Die Hermeneutiken von Fremdheit sind divers.33

sich vor Israel. 13Sie ließen die Nachfahren Jakobs immer härtere Sklavenarbeit tun. 14Sie machten ihnen das Leben damit schwer, dass sie ihnen Schwerstarbeit mit Lehm und Ziegeln sowie sonstiger Plackerei auf dem Feld auferlegten. Unter brutalen Bedingungen mussten sie für Ägypten schuften (Ex 1,1–14; nach Bibel in gerechter Sprache).34

4. Jugendliche lesen Exodus 1: Empirische Beispiele und didaktische Überlegungen

Anhand ausgewählter Beispiele möchte ich nun einen kurzen Einblick in meine empirische Bibel(lese)forschung zu Exodus 1 geben. Zu Wort kommen dabei Jugendliche im Alter zwischen 14 und 15 Jahren. Zum Zeitpunkt der Erhebung haben sie die neunte Jahrgangsstufe einer integrierten Gesamtschule (Fach Katholische Religion) besucht.35 Die Lektüre von Exodus 1 bewerteten die Jugendlichen rückblickend überwiegend positiv.36 In der nachfolgenden Zusammenschau fokussiere ich speziell solche Re-

Das sind die Namen der israelitischen Familien, die mit Jakob nach Ägypten kamen. Jeder Sippenchef kam mit seinen Leuten: 2 Ruben, Simoen, Levi und Juda, 3Issachar, Sebulon und Benjamin. 4Dan und Naftali, Gad und Ascher. 5Sie alle stammten von Jakob ab, 70 an der Zahl. Josef war schon vorher in Ägypten. 6Josef und alle seine Brüder starben, wie jene ganze Generation. 7Aber die Israeliten und Israelitinnen waren fruchtbar und breiteten sich aus; sie vermehrten sich und wurden ungeheuer stark. Das Land füllte sich mit ihnen. 8Da kam in Ägypten ein neuer König an die Regierung, der Josef nicht kennengelernt hatte. 9Der sagte seinen Leuten: »Seht doch, das Volk Israel ist zahlreicher und stärker als wir selbst. 10Lasst uns klug gegen sie vorgehen, damit sie nicht weiter wachsen und uns eventuell den Krieg erklären, sich zu unseren Feinden schlagen, gegen uns kämpfen und dann aus diesem Land auswandern.« 11Da setzten sie Aufseher ein, die Israel durch schwere Zwangsarbeit unterdrücken sollten. Das Volk musste die Vorratsstädte Pitom und Ramses für Pharao bauen. 12Trotzdem wuchs es und verbreitete sich immer mehr, so sehr sie es auch schikanierten. Da fürchtete Ägypten 1

32 Ebd., 469. 33 Zur religionspädagogischen Auseinandersetzung mit einer Hermeneutik des Fremden siehe z.B. Claudia Gärtner, Hermeneutik des Fremden, in: WiBilex, http://www.bibelwissenschaft.de/de/stichwort/100078/, 2015 [Zugriff: 30.08.2017]. 34 Diese Übersetzung, die weitgehend mit dem Wortlaut der Bibel in gerechter Sprache übereinstimmt, haben die Schülerinnen und Schüler im Rahmen der Untersuchung erhalten. Im Folgenden bilde ich lediglich Ex 1,1–14 ab, da die Aussagen der Jugendlichen diesen Teil der Erzählung betreffen. 35 Nach eigenen Angaben unterscheiden sich die Jugendlichen hinsichtlich ihres Geschlechtes, des kulturellen Hintergrunds, der Religion, der Bildungsziele etc. 36 Faktoren für die Zustimmung sind u.a. das Figurenhandeln und die Ereignisse innerhalb der storyworld, aber auch die religiösen Einstellungen der Jugendlichen sowie ihre persönlichen Interessen.

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zeptionen, die Bezug nehmen auf die kulturell motivierte Gewalt innerhalb der Erzählung und damit vice versa an die oben skizzierten Überlegungen anknüpfen. Beleuchtet werden hierauf u.a. so genannte Differenz- und VerAnderungskonstruktionen: Die Auseinandersetzung mit dem Fremden bzw. mit Fremdheit, die Exodus 1 thematisiert, hat Prozesse des otherings, also der abwertenden Differenzsetzung zur Folge. Sie fördern die Unterscheidung von Eigenem und Fremdem, bringen sie mit hervor, reproduzieren und stabilisieren sie.37 In der Spur einer Religionspädagogik bzw. Bibeldidaktik der Vielfalt gilt es Differenz- und VerAnderungskonstruktionen in einer differenzsensiblen Weise zu bearbeiten. Dichotome Denkmuster, die ggf. auf exkludierenden Gegenüberstellungen basieren, können infolgedessen hervortreten und zur (selbst)kritischen Reflexion einladen – in der Unterrichtsvorbereitung zunächst auf Seiten der Lehrenden und im Unterrichtsgeschehen dann auf Seiten der Schülerinnen und Schüler. Die Auseinandersetzung bietet die Chance, z.B. kulturelle Gemeinsamkeiten aufzudecken, Unterschiede zu reflektieren und Vorurteile abzubauen.38 Neben der storyworld sollten ferner die jeweiligen Referenzzentren der Rezipientinnen und Rezipienten in den Blick kommen, welche ihrerseits an der VerAnderung partizipieren. In der Begegnung mit dem empirischen Material bemühe ich mich darum, auch die potenziell verdeckten Voraussetzungssysteme (frames of references) der Schülerinnen und Schüler zu erfassen. Sie haben einen wichtigen Anteil an den jeweiligen Sinnkonstruktionen, liegen oftmals jedoch zwischen den Zeilen.

Sodann ist die Einsicht leitend, dass lediglich die nach außen getragenen Rezeptionsprodukte der Schülerinnen und Schüler untersucht werden können.39 Wenn die Sinnbildungen der Jugendlichen nachfolgend zuweilen kritisch hinterfragt werden, sind diese Überlegungen nicht als Widerspruch zu einer wertschätzenden Grundhaltung anzusehen. Da die literarischen Figuren in unterschiedlichen kulturellen Kontexten bzw. Spannungsfeldern verortet sind, gibt Exodus 1 kontroversen Lektüren einen Nährboden, der Aufmerksamkeit bedarf. Der detaillierte Blick soll zu Sensibilität und Selbstreflexion in Bezug auf problematische Rezeptionen einladen. Die Herstellung von Fremdheit ist in Exodus 1 sowohl auf der Ebene des discourse als auch der story – allerdings gegenläufig – angelegt. Pharaos verandernde Rhetorik sowie die daran anschließenden Gewaltmaßnahmen, fordern die Jugendlichen zum Nach- und Mitdenken auf: »[…] das ist ja eigentlich der Super-GAU, den sich die Ägypter so vorstellen, dass sie Krieg führen mit einer überlegenen, in ihrem eigenen Land vertretenen Macht […]«, erklärt der 15-Jährige Finn. Die ausdrucksvolle Bildsprache, die er einsetzt, um seine Gedanken zu illustrieren, macht deutlich, dass Finn die erzählten Zusammen37 Vgl. Julia Reuter, Geschlecht und Körper. Studien zur Materialität und Inszenierung gesellschaftlicher Wirklichkeit, Bielefeld 2011, 24. J. Reuter verwendet den Begriff VerAnderung als deutsche Entsprechung von othering. 38 Vgl. Claudia Gärtner (wie Anm. 33). 39 Vgl. Silvia Arzt, Frauenwiderstand macht Mädchen Mut. Die geschlechtsspezifische Rezeption einer biblischen Erzählung, Innsbruck 1999, 87.

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hänge durchleuchtet. Finn kann sich in die Figurenperspektive(n) hineinversetzen. Der Jugendliche erkennt, dass die vermeintliche Stärke der fremden Israelitinnen und Israeliten eine Bedrohung für den König bzw. die Ägypterinnen und Ägypter darstellt. Als Finn die Erzählung ein weiteres Mal liest und darum gebeten wird, Stellung zur Angst der Ägypterinnen und Ägypter zu beziehen, erklärt er: Wir haben nicht wenig Einwanderer und Ausländer in unserem Land. […] Aber, ich hab jetzt keine Angst, nur weil ich meinen schwarzen Freund Pascal in der Klasse hab, hab ich keine Angst, dass die Schwarzen irgendwie jetzt versuchen Deutschland einzunehmen oder so. Weil normalerweise, wenn man friedlich ist, sind die meisten meist auch friedlich und ich versteh mich super mit ihm und ich hab jetzt keine Angst, dass die irgendetwas Böses tun würden.

»Wir haben nicht wenige Einwanderer und Ausländer in unserem Land«, stellt Finn fest. Vermutlich zieht er einen Vergleich zwischen den israelitischen Figuren in Exodus 1 und »Einwanderer[n] und Ausländer[n]«, die er in seinem Nahbereich verortet. Die Ereignisse innerhalb der erzählten Welt reflektiert Finn auf der Grundlage seiner eigenen Lebenswelt, wobei er »Einwanderer und Ausländer« zumindest sprachlich objektiviert. Die Kontrastierung mit den persönlichen Erfahrungen führt schließlich Finns Unverständnis in Bezug auf Pharaos Vorgehen herbei. Doch obwohl der Schüler infolgedessen beabsichtigt, Ägyptens Furcht und ggf. die ihr eingeschriebenen Ressentiments zurückzuweisen, tritt aus seiner exklusiv-generalisierenden Rede eine persönliche Distanz

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hervor. Diese wird insbesondere im WirDie-Schema sichtbar wird. Im Fortlauf greift Finn das Migrationsschema dann abermals auf. Erneut spielt er eigene Erfahrungen und Einstellungen, also frames of references, in die Auseinandersetzung mit den erzählten Ereignissen ein: »Naja, es wird ja nichts erzählt, ob die Israeliten wirklich Krieg wollen gegen die Ägypter und das Land einnehmen wollen. Aber, ich bin jetzt mal der Meinung/sie sind ja eingewandert, […] da hat man auch ein bestimmtes/zumindest ich hätte so ein gewisses Gefühl oder auch so eine bestimmte Dankbarkeit, überhaupt in dem Land sein zu dürfen. Weil, sie sind ja nicht ohne Grund eingewandert wahrscheinlich und dann würde man keinen Krieg führen.«

Anstoß für die Äußerung des Schülers gibt Pharaos rassistische Rhetorik. Vorübergehend schlüpft Finn daraufhin in die Perspektive eines Zuwanderers und gewährt einen Einblick in seine persönliche emotionale Überzeugung: »Ich hätte so ein gewisses Gefühl oder auch so eine bestimmte Dankbarkeit überhaupt in dem Land sein zu dürfen,« sagt Finn. Einerseits stellt er Nähe zu den eingewanderten Figuren her und zeigt sich empathisch. Andererseits kann Dankbarkeit aufseiten von Gastgeberinnen und Gastgebern aber besondere Erwartungen freisetzen, die infolge des Verbes dürfen auf eine hierarchische Beziehung hindeuten. Dass die Israelitinnen und Israeliten, die »ja nicht ohne Grund eingewandert [sind]«, einen Krieg gegen Ägypten planen, erscheint dem Jugendlichen unter diesen Bedingungen wenig plausibel. Die Demagogie des Königs deutet Finn als Zeichen von Angst, die in der Unterwerfung Israels zum Ausdruck kommt. Er kritisiert Pharaos Handeln scharf, nennt es unsin-

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nig und idiotisch. Joel ist ebenfalls skeptisch angesichts der Reaktion des Königs. Er fragt sich, »warum der Pharao so krass neidisch auf die ist. […] vielleicht wären sie irgendwann ein stärkeres Volk gewesen, vielleicht hätten sie einen Krieg angefangen. Aber, das war ja alles nicht sicher.« Joel beleuchtet das Figurenhandeln kritisch. Er liest den Text gegen den Strich und entlarvt auf diese Weise die simple königliche Rhetorik bzw. Betrachtung, der es offenkundig an Substanz mangelt. Den emotionalen Zustand (Neid) des Königs, den Joel als handlungsanleitend signalisiert, kann er nicht nachvollziehen: Die Demagogie des Königs weist der Jugendliche infolgedessen zurück und verurteilt damit implizit wohl außerdem den anschließenden Frondienst, zu dem sich auch weitere Jugendliche äußern: »Also, das finde ich natürlich jetzt nicht so gut, weil das sind ja immer noch Menschen, die man da unterdrückt«, meint Paul. Das Adverb natürlich weist darauf hin, dass Paul die Zwangsarbeit als repressive und menschenverachtende Maßnahme betrachtet, die er ablehnt. Obwohl der Hinweis »das sind ja immer noch Menschen« das ethische Fehlverhalten hervorheben soll, nimmt Paul mit seiner Bemerkung eine Unterscheidung vor, die Menschsein entlang von Herkunft (Israel/Ägypten) andersartig gewichtet. Abermals motiviert die Erzählung gewissermaßen ein othering. Schließlich durchdenkt Paul verschiedene Alternativen: »Hätte man die, […] wenn man die schon versklavt, nicht einfach in ihr Land sozusagen zurückbringen oder verbannen können.« Paul sucht nach einer Lösung abseits von Unterdrückung und denkt dabei u.a. über eine Rückführung der Zugewanderten nach. Instrumente

wie z.B. das moderne Asyl- und Einwanderungsrecht, Integrationskonzepte oder humanitäre bzw. zivile Unterstützung bringt er (spontan) – womöglich auch aufgrund der speziellen Textsorte – nicht ein. Die potenziellen Einwanderungsursachen klammert Paul aus seinen Überlegungen aus. Obwohl die Schülerinnen und Schüler Pharaos Vorgehen deutlich zurückweisen und als falsch beurteilen, zeigen sie mitunter Verständnis für die Sorgen des Königs: »Ich fände das jetzt auch ein bisschen komisch, wenn jetzt in Deutschland, dann die Deutschen irgendwie, irgendwann in der Unterzahl sind. Also, das ist auch so, die Angst ist vielleicht auch so ein bisschen begründet. Aber wie gesagt, wie er halt immer handelt und versucht, dass es nicht so passiert, ist halt falsch.«

Melina, die sich hier zu Wort meldet, kann sich in die Perspektive des Königs hineinversetzen und dessen Angst vor Überfremdung zumindest in Maßen nachvollziehen. Ein inter- oder gar transkultureller Modus der Wahrnehmung wird dabei nicht erkennbar. Unklar bleibt zwar, wen Melina eigentlich konkret adressiert, wenn sie »die Deutschen« sagt, im Anschluss an den vorgelegten Textausschnitt ist allerdings ein eher exklusives Verständnis zu vermuten, wobei Melina die eigene Zugehörigkeit nicht näher bestimmt. Die Gewaltmaßnahmen, die der König gegen die Israelitinnen und Israeliten einleitet, weist die Schülerin aber entschieden zurück und zeigt sich solidarisch mit den unterdrückten Figuren. Die Arbeit an biblischen Gewalttexten, wie z.B. Exodus 1, stellt die Chance in Aussicht, Differenz-, Macht- und Ge-

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waltverhältnissen gemeinsam mit Schülerinnen und Schülern auf die Spur zu kommen. Dabei erlaubt der Umweg über die Texte den Jugendlichen, persönliche Fragen, Erfahrungen und Einstellungen zur Geltung zu bringen, ohne die eigenen Lebenswelten und -bedingungen (explizit) thematisieren zu müssen. Ein intensives Arbeiten mit und an Exodus 1 kann die Aufmerksamkeit der Jugendlichen für Privilegierung bzw. Diskriminierung z.B. erstens auf persönlich-individueller und zweitens auf gesellschaftlich-politischer Ebene schärfen. Wahrnehmungs-, Entdeckungs- und Dekonstruktionsprozesse, die infolgedessen im Religionsunterricht losgelöst werden, benötigen eine fachwissenschaftliche, pädagogische und didaktische Basis. Im Blick auf interkulturelle Auseinandersetzungen bedarf es so z.B. »einer Hermeneutik des Fremden, die grundlegend danach fragt, wie der oder das Fremde, Andere, Differente wahrgenommen und erschlossen werden kann.«40 Auf einer Metaebene sind die hermeneutisch-methodischen Bezugspunkte u.a. in kontextuellen exegetischen

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Zugängen, wie der feministischen oder postkolonialen Bibelauslegung, in der antidiskriminierenden Bildungsarbeit und schließlich in den Ansätzen einer Religionspädagogik der Vielfalt zu finden. Ihre drei konstitutiven Säulen, erstens der gesellschaftspolitische Auftrag, zweitens der intersektional-analytische Modus sowie drittens die methodisch-interdisziplinäre Herangehensweise, begreife ich als richtungsweisend für eine Begegnung mit biblischen Gewalttexten im Religionsunterricht.41 Untersuchungen z.B. zu den (Bibel)Lesegewohnheiten und -weisen, den Interessen oder Einstellungen von Jugendlichen können dabei als Anknüpfungspunkte dienen.

40 Claudia Gärtner (wie Anm. 33). 41 Vgl. Thorsten Knauth / Maren A. Jochimsen, Vorwort, in: Thorsten Knauth / Maren A. Jochimsen (Hg.), Einschließungen und Ausgrenzungen. Zur Intersektionalität von Religion, Geschlecht und sozialem Status für religiöse Bildung, Münster/New York 2017, 7.

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Unterschiedliche Zugänge zu biblischen Texten mit Jugendlichen

Anika Loose »(…) wenn man sich da an den anderen orientiert, dann findet man immer jemanden, der sich schlechter als man selbst benimmt und der es wahrscheinlich eher verdient hätte, in die Hölle zu kommen (…)« – Theologisieren als Einübung in einen nicht-fundamentalistischen Umgang mit der Bibel 1. Einleitung

Der vorliegende Beitrag geht am Beispiel eines Unterrichtsgesprächs mit Jugendlichen einer neunten Jahrgangsstufe über die matthäische Darstellung vom Weltgericht (Mt 25,31–46) der Frage nach, inwiefern das gemeinsame Theologisieren mit Jugendlichen einen Beitrag zu einem nicht-fundamentalistischen Umgang mit dem biblischen Text leisten kann. »Der beim Theologisieren angeeignete Habitus ist der einer gebildeten Religion, die existenzielles Betroffensein mit argumentativen Mitteln der Kommunikation verbindet.«1 Demgegenüber zeichnet sich ein biblizistischer, fundamentalistischer Umgang mit dem biblischen Text u.a. dadurch aus, dass (1) jedes Wort wörtlich verstanden wird. Charakteristisch für dieses wörtliche Verstehen ist »eine anti-hermeneutische Haltung, bei der die Eigenaktivität beim Lesen und damit auch die Möglichkeit unterschiedlicher (legitimer) Lesarten ausgeblendet werden.«2 (2) Außerdem wird alles als historisch aufgefasst. »Jede Form einer historisch-kritischen Rückfrage an die biblischen Texte wird abgelehnt.«3 (3) »Widersprüche oder Unstimmigkeiten innerhalb der Bibel werden ausgeblen-

det oder ›wegharmonisiert‹.«4 (4) Alles wird unhinterfragt als in die Gegenwart übertragbar aufgefasst. »Wahrheit wird als zeitlose, statische Größe verstanden.«5 (5) Zudem wird von der Irrtumslosigkeit der Bibel ausgegangen, deren Autorität als gesetzt gilt.6 (6) Ferner wird von einem exklusiven Heilsanspruch ausgegangen, nach dem eine klare Abgrenzung gegenüber anderen als nicht dazugehörig vorgenommen wird.7 Mt 25,31–46 wurde als Textgrundlage ausgewählt, da in dieser Perikope zwei Gruppen von Menschen durch den Menschensohn im Gericht voneinander geschieden werden, ohne dass sich diese ihrer Taten, die hierfür ausschlaggebend sind, bewusst sind. Beide Gruppen 1 Gerhard Büttner, Theologisieren: Einübung in einen Habitus, in: KatBl 138 (2013), 138–143, 143. 2 Hanna Roose, Wer kommt (nicht) ins Paradies? Anregungen zur Einübung eines nichtfundamentalistischen Umgangs mit biblischen Texten, in: entwurf 1/2010, 24–30, 24. 3 Ebd. 4 Ebd. 5 Ebd. 6 Vgl. ebd. 7 Vgl. ebd. Hanna Roose beschreibt außerdem eine ablehnende Haltung gegenüber Erkenntnissen der modernen Wissenschaft (vgl. ebd.).

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stellen dem Menschensohn Rückfragen zu seiner Urteilsbegründung. Das Urteil liegt allein beim Menschensohn als Vollstrecker des göttlichen Gerichts. Am Religionsunterricht über Mt 25,31–46 nehmen fünf Schülerinnen und sieben Schüler einer neunten Jahrgangsstufe eines Bochumer Gymnasiums teil, deren Eltern ihr Einverständnis dazu gegeben haben, dass das Unterrichtsgespräch aufgezeichnet wird.8 Dem Unterrichtsgespräch geht eine Unterrichtsreihe über Tod, Trauer und christliche Auferstehungsvorstellungen sowie nichtchristliche Jenseitsvorstellungen voraus. Die Thematisierung des Weltgerichts durch den Menschensohn erweist sich damit als inhaltlich anschlussfähig an den Religionsunterricht der ausgewählten Lerngruppe. Im Hinblick auf die Fragestellung werden im Anschluss an exegetische Vorüberlegungen zur Perikope (2) Gesprächsauszügen aus einer Doppelstunde präsentiert (3), die im Hinblick auf die Fragestellung analysiert werden können. Dabei werden die hermeneutischen Umgangsweisen der Jugendlichen skizziert. Darauf aufbauend können Schlussfolgerungen gezogen werden (4). 2. Exegetische Vorüberlegungen zu Mt 25,31–46

Mt 25,31–46 schildert eine feierliche Szenerie, in der der Menschensohn zusammen mit allen seinen Engeln kommt. Er sitzt auf dem Thron und alle Völker werden vor ihm versammelt (V. 31–32a). Wie ein Hirte scheidet er sodann die Schafe von den Böcken und stellt die Schafe zu seiner Rechten und die Böcke zu seiner

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Linken (V. 32b–33). Der König wendet sich zunächst denen zu, die auf seiner rechten Seite stehen, und spricht sie als die von seinem Vater Gesegneten an, die als Erben das Reich empfangen sollen, das ihnen von Grundlegung der Welt bereitet ist (V. 34). Dieses Urteil wird mit sieben Taten der Barmherzigkeit begründet, die die Gerechten dem König erwiesen haben (V. 34–36). Die Gesegneten zur Rechten, die nun als die Gerechten bezeichnet werden, stellen daraufhin Rückfragen, da sie sich ihrer Taten nicht bewusst sind (V. 37–39). Daraufhin erklärt der König, dass das, was an einem seiner geringsten Brüder erwiesen worden ist, an ihm erwiesen worden ist (V. 40). Dann wendet er sich denen zu, die auf seiner linken Seite stehen und spricht sie als »Verfluchte« an, die er von sich weg weist. Sie erwartet das ewige Feuer, das dem Teufel und seinen Engeln bereitet ist (V. 41). Dieses Urteil wird mit sieben unterlassenen Taten der Barmherzigkeit begründet, die die Verfluchten dem König nicht erwiesen haben (V. 41–43). Auch die Verfluchten zur Linken stellen Rückfragen, da sie sich ihrer unterlassenen Taten nicht bewusst sind (V. 44). Daraufhin erklärt der König, dass das, was an einem seiner geringsten Brüder nicht erwiesen worden ist, an ihm nicht erwiesen worden ist (V. 45). Die Perikope schließt mit dem Hinweis, dass diese eine ewige Strafe erwarten, während die Gerechten das ewige Leben erwartet. Aufgrund der tragenden Begrifflichkeiten und semantischen Felder (Kommen des Menschensohns mit allen Engeln

8 Die Namen der Jugendlichen wurden geändert.

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Unterschiedliche Zugänge zu biblischen Texten mit Jugendlichen

in seiner Herrlichkeit, auf dem Thron in Herrlichkeit sitzend, Versammlung aller Völker (V. 31–32a), Scheidung der Gruppen (V. 32b), Urteilsverkündungen (V. 34; 41) und -begründungen (V. 35–36; 42–43), Rückfrage-Antwort-Muster (V. 37–39 u. 40; V. 44 u. 45) sowie endgültiges Urteil (V. 46) kann als Thema das endgültige Gericht über alle Völker durch den Menschensohn (respektive König) bestimmt werden. In der Perikope lassen sich vier Sprecher identifizieren: Der Evangelist (V. 31–34a; 37a; 40–41a; 44a; 45a; 46), der Menschensohn, der ab V. 34 als König bezeichnet wird (V. 34b–36; 40b; 41b–43; 45b) und die beiden Gruppen zur Rechten (V. 37b–39) und zur Linken des Königs (V. 44b). Die Perikope zeichnet ein Bild vom Menschensohn (V. 31), der als Vollstrecker des Gerichts seines Vaters auftritt (V. 34). Als Maßstab der Gerichtsverhandlung werden Taten der Barmherzigkeit benannt (vgl. Mt 5,7). Der König stellt sich selbst als jemanden dar, der mit Menschen gelebt hat und sich mit den geringsten Brüdern identifiziert. Die V. 31–33, in denen der Hirte die Schafe von den Böcken scheidet, stellt eine kleine Parabel dar, die mit ihrem Kontext vermischt ist.9 Der Grund für die Scheidung der Tiere ist unklar, während die gemeinsame Haltung nicht unüblich war.10 »Der Hirte als handelndes Subjekt wird im Prozess der metaphorischen Interaktion mit dem ›Menschensohn‹ verbunden.«11 Gegenüber der Rede vom Weltgericht, die die christliche Vorstellung vom Gericht stark geprägt hat, spielt die kleine Parabel wirkungsgeschichtlich jedoch eine untergeordnete Rolle.12 Auffällig ist, dass die beiden Gruppen über das jeweilige Urteil überrascht sind, da sie nichts von ihren Taten wissen und Rückfragen stellen. Die Gruppe zur Linken wird nicht

für böse Taten bestraft, sondern für das, was sie zu tun unterlassen haben (V. 24– 30). Aus dem Kontext der Perikope lässt sich erschließen, dass die Vollstreckung des Gerichts über alle Menschen voraussetzt, dass zuvor alle Menschen von der Botschaft Jesu erreicht worden sind (Mt 24,14; 28,19). 3. Theologisieren mit Jugendlichen über Mt 25,31–46

Bereits zu Beginn der Unterrichtsstunde fragt Daniel während der Bearbeitung von texterschließenden Aufgaben: »Also habe ich das jetzt richtig verstanden, dass quasi beide Seiten nicht wissen, dass / was / wann sie mal was Gutes oder was Schlechtes getan haben?«, was von der Lehrkraft bejaht wird. Diese Bemerkung zeigt, dass der kritische Punkt, der u.a. zur Auswahl der Perikope geführt hat, auch von den Jugendlichen als bedeutsam erkannt wird. Nachfolgend werden Gesprächsauszüge präsentiert, anhand derer ein nicht-fundamentalistischer Umgang beim gemeinsamen Theologisieren über den Gerichtstext dargestellt werden kann. Der Schwerpunkt der Darstellung liegt dabei auf den hermeneutischen Umgangsweisen der Jugendlichen. Diese 9 Vgl. Christian Münch, Der Hirt wird sie scheiden (Von den Schafen und Böcken) Mt 25,32f, in: Ruben Zimmermann (Hg.), Kompendium der Gleichnisse Jesu, Gütersloh 2007, 504–509, 504. 10 Vgl. ebd., 506. 11 Ebd., 504. 12 Vgl. ebd., 509; Im Gespräch mit den Jugendlichen wird die Frage, um was für Tiere es sich handelt und warum diese voneinander getrennt werden, nicht thematisiert.

Loose Theologisieren als Einübung in einen nicht-fundamentalistischen Umgang mit der Bibel

werden beispielhaft in Bezug auf die jeweilige Sequenz skizziert, kommen aber auch in anderen Sequenzen vor. Beispiel aus Sequenz 1: Widersprüche werden erkannt und nicht »wegharmonisiert«, sondern erklärt: »… dass in einigen Bibelstellen auch Jesus irgendwelchen Menschen quasi in gewisser Weise eine zweite Chance gibt«. Michael: Ich habe noch eine Frage, weil es ist ja so, dass in einigen Bibelstellen auch Jesus irgendwelchen Menschen quasi in gewisser Weise eine zweite Chance gibt/ L: Ja. Michael: Weil die irgendwie/ ich meine, dass war irgendwie bei dem Steuereintreiber, der gestohlen hat oder sowas. L: Ja. Michael: Da hat Jesus ihm eine zweite Chance gegeben. L: Mhm (bejahend). Michael: Und beim Jüngsten Gericht ist das ja jetzt ja nicht so. L: Mhm (bejahend). Michael: Irgendwie passt das für mich jetzt nicht so ganz zusammen, weil im Jüngsten Gericht ist er ja selber (unverst.) quasi zu denen, die was Falsches gemacht haben. L: Mhm (bejahend). Am Jüngsten Gericht sind so/, wie der Text das hier schildert, die Würfel sozusagen gefallen, ja. Die Entscheidung ist getroffen. Kennt ihr andere biblische Texte, wo das anders ist? Ich meine, du deutest da gerade etwas an. Fallen dir andere Texte ein, die dem vielleicht widersprechen? Michael: Ja, ich glaube es war irgendwie einer/ in einem Text, wo jem/ wo er in eine Stadt kam/ L: Mhm (bejahend). Michael: Und da war halt jemand vom Volk quasi total verachtet, weil irgendwie halt immer zu viel Zoll, glaube ich, irgendwie erhoben hat an Waren/ L: Ja. Mhm (bejahend).

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Michael: Und dann hat Jesus sich aber dem quasi erbarmt und hat dem eine zweite Chance gegeben (unv.)/ L: Mhm (bejahend). Genau, das war zu Lebzeiten, genau. Zachäus war das, den du meinst. Der hat zu Lebzeiten eine zweite Chance erhalten und wurde dann wieder auch Teil der Gemeinschaft, genau. Das ist ein wichtiger Hinweis. Also mhm (bejahend). Was ist hier an dem Text dann anders, als bei der Zachäusgeschichte? Daniel, du hattest dich gemeldet. Daniel: Ich wollte noch was // anderes sagen. // L: // Ja, gerne. Dann // ergänze gerne noch etwas. Daniel: Ich glaube/ ich habe auf jeden Fall mal von so einer Geschichte gehört, von einem Bettler, der blind war / L: Ja. Daniel: Und dem Jesus quasi dann wieder das Sehen geschenkt hat. L: Mhm (bejahend). Daniel: Obwohl den auch alle verachtet haben / L: Mhm (bejahend). Daniel: Als der (unv.) L: Weißt du noch, wie der hieß? Wissen die anderen das? Kleiner Exkurs. Jana. Jana: Bartimäus? L: Genau, prima. Mhm (bejahend). (.) Felix gerne nochmal. Felix: Aber, die Geschichte von dem Bettler, die trifft sich da jetzt ja auch. Denn Jesus hat ja damit einem der Geringsten geholfen und wenn er selbst sagt, was ihr einem dieser / meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan. Dann ist das ja kein Widerspruch dagegen. Er hat ja einem der Geringsten geholfen. Bei diesem Zachäus, der / na gut, das wundert mich jetzt. Man kann das so sehen, dass er, weil er verachtet wird, zu den Geringsten gehört, aber wenn man es jetzt / wenn er so weiter gelebt hätte, wie er gelebt hat, würde er ja wohl eher zu den Verfluchten gehören.

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Unterschiedliche Zugänge zu biblischen Texten mit Jugendlichen

Michael weist darauf hin, dass Jesus in einigen anderen Bibelstellen Menschen eine zweite Chance gibt und führt als Beispiel einen Steuereintreiber an, »der gestohlen hat oder sowas«. Ohne einen Begründungszusammenhang herzustellen, weist Michael sodann darauf hin, dass Jesus ihm eine zweite Chance gegeben hat. Da dies beim Jüngsten Gericht nicht so ist, gibt er zu verstehen, dass dies für ihn nicht zusammenpasst. Die Lehrkraft erklärt mit Hilfe eines Sprichwortes, dass beim Jüngsten Gericht die Würfel gefallen sind. Sie wendet sich mit der Frage nach biblischen Texten, die davon abweichen, an alle Kinder (»Kennt ihr …«) und gibt den Impuls von Michael an die Lerngruppe weiter. Michael erklärt daraufhin selbst, welchen biblischen Text er meint: Es geht um jemanden, der in eine Stadt kam und vom Volk »quasi total verachtet« war, weil er für Waren zu viel Zoll erhoben hat. Jesus hat sich erbarmt und ihm eine zweite Chance gegeben. Die Lehrkraft weist erneut darauf hin, dass dies »zu Lebzeiten« geschieht und erklärt, dass es sich hierbei um Zachäus handelt, der somit »wieder (…) Teil der Gemeinschaft« wurde. Die Lehrkraft bezeichnet diesen Hinweis als wichtig. Anschließend möchte sie den Gedanken fortführen und fragt nach den Unterschieden zwischen dem (vorliegenden) biblischen Text und der Zachäusgeschichte. Daniel erzählt stattdessen von einer Geschichte, in der es um einen blinden Bettler geht, dem Jesus »das Sehen geschenkt hat«. Er weist darauf hin, dass Jesus das getan hat, obwohl er von allen verachtet wurde. Die Lehrkraft fragt daraufhin Daniel, wie dieser Bettler hieß und richtet die Frage an alle, was sie als einen kleinen Exkurs

bezeichnet. Jana äußert fragend »Bartimäus«, was von der Lehrkraft bestätigt und gelobt wird (»Genau, prima.«). Felix erklärt, dass Bartimäus zu den Geringsten gehört und wägt ab, dass dies auch für Zachäus gelten kann. Er weist darauf hin, dass Zachäus zu den Verfluchten gehören würde, wenn er sein Leben nicht geändert hätte. Der Gesprächsauszug zeigt, dass bereits Jugendliche in der Lage sind, von ihnen selbst wahrgenommene Widersprüche und Unstimmigkeiten zu verbalisieren und mit Hilfe von Verweisen auf andere Bibelstellen argumentativ zu begründen. Widersprüche werden damit beim gemeinsamen Theologisieren erkannt und nicht »wegharmonisiert«, sondern zu erklären versucht. Zusammenfassend können folgende hermeneutische Umgangsweisen der Jugendlichen mit dem biblischen Text beschrieben werden. 1. Die Jugendlichen nehmen Widersprüche und Unstimmigkeiten wahr (Chancengeber Jesus vs. Bild vom König / Menschensohn als Richter) und versuchen diese selbst zu entkräften. 2. Die Jugendlichen lesen die Bibelstelle mit Hilfe von bereichsspezifischem Vorwissen und stellen Bezüge her (z.B. zu Zachäus und Bartimäus). 3. Die Jugendlichen argumentieren theo­ logisch, indem sie Bezüge zu biblischen Textstellen herstellen (»er selbst sagt, was ihr einem dieser meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan«). 4. Die Jugendlichen knüpfen an die Beiträge ihrer Mitschüler an, denken weiter und bringen neue Impulse ein. 5. Mit ihren Impulsen bestimmen sie maßgeblich den Gesprächsverlauf.

Loose Theologisieren als Einübung in einen nicht-fundamentalistischen Umgang mit der Bibel

Beispiel aus Sequenz 4: Unterschiedliche Lesarten werden zugelassen: Braucht Gott den Menschen? Gott »wäre also höchstens (…) in seiner Personifikation als Mensch hilfsbedürftig«. Nachdem in der dritten Sequenz über die Werke der Barmherzigkeit nachgedacht worden ist, stellt die Lehrkraft in der vierten Sequenz die Frage, was das Ganze mit Gott zu tun hat und ob durch die guten Werke eine Gottesbegegnung stattfinden kann. Damit greift sie einen Schülerimpuls der dritten Sequenz auf, demzufolge man das, was man an Jesus tut, auch an Gott tut. L: […] Was hat das Ganze mit Gott zu tun? Kann ich Gott begegnen, wenn ich diese guten Werke mache? Wenn / wenn wir Gott mit Jesus identifiziert haben und der sagt, »Das sind meine Geringsten«. Wie stellt ihr euch das vor? Ist ja erst einmal ein abstraktes Konstrukt. Wie würdet ihr das erklären? Jan. Jan: Also ich würde das direkt dann so definieren, dass sobald man jemand anderem hilft halt, dass man Gott hilft, so wie wir es auch schon gesagt haben und damit halt eigentlich immer in der Gegenwart Gott (unv.) Gott ist. Weil halt es / alle anderen als Gott dann teilweise definiert werden. L: Mhm (bejahend). Braucht Gott denn unsere Hilfe? Wie seht ihr das? Wir haben ja jetzt gesagt, dass es Menschen helfen ist, so haben wir es zusammengefasst. Geholfen haben, oder nicht geholfen haben. Inwiefern braucht Gott hier unsere Hilfe, Jan? Jan: Ja, also ich denke mal teilweise, weil, wenn man sagt, Gott ist Jesus und Jesus ist einer der / jeder der zwei Gruppen / also auf jeden Fall einer der Menschen / L: Mhm (bejahend). Jan: Dann definiere ich, dass das / dass halt Gott halt auch beides ist und dass das halt

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/ das halt auf jeden Fall immer hilfsbedürftig ist / L: Mhm (bejahend). Jan: Da ja nicht jeder Mensch komplett zufrieden ist. L: Wer? Der andere Mensch ist nicht zufrieden, oder Gott? Jan: Also ich definiere ja Gott als Mensch / L: Ok. Ok. Also Gott begegnet dir im nächsten Menschen, so? Jan: Ja. L: Ist das richtig? Habe ich richtig / Jan: Ja. L: Lara. Lara: Und Gott braucht uns halt, dass wir überhaupt an ihn glauben und dass wir halt die Religion auch so weiterleben. L: Mhm (bejahend). Felix. Felix: Naja, wenn man Gott jetzt / dass er uns braucht, weil wir an ihn glauben und die Religion weiterleben / L: Mhm (bejahend). Felix: Das muss nicht sein. Er kann sich auch einfach eine neue Welt erschaffen mit neuen Leuten, die an ihn glauben / L: (lacht). Felix: Also, dass er in der Form angewiesen ist, ist jetzt nicht so. Er wäre also höchstens, wie Jan gesagt hat, in seiner Personifikation als Mensch hilfsbedürftig.

Die Lehrkraft weist sie noch einmal darauf hin, dass Gott zuvor mit Jesus identifiziert worden ist. Die Jugendlichen sollen nun erklären, was es bedeutet, wenn sich Jesus mit den Geringsten identifiziert. Sie bezeichnet dies zunächst als ein abstraktes Konstrukt und fragt die Lerngruppe nach einer Erklärung. Die Lehrkraft fasst den bisherigen Gedankengang der Lerngruppe zusammen, demzufolge eine Hilfe für Gott darin bestehen kann, Menschen zu helfen. Jan erklärt schließlich, dass Gott »auf jeden Fall immer hilfsbedürftig ist«. Dies erklärt er damit, dass »nicht

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Unterschiedliche Zugänge zu biblischen Texten mit Jugendlichen

jeder Mensch komplett zufrieden ist«. Die Lehrkraft fragt daraufhin, ob der Mensch oder Gott nicht zufrieden ist. Gott wird daraufhin von Jan als Mensch identifiziert. Die Lehrkraft muss eine erneute Rückfrage stellen und fragt, »Also Gott begegnet dir im nächsten Menschen, so?«, was von Jan bestätigt wird. Da offenbar noch immer eine Unsicherheit zwischen Jans Erklärung und ihrer Zusammenfassung besteht, fragt sie Jan erneut, ob sie ihn richtig verstanden hat, der dies erneut bejaht. Lara erklärt, warum sie davon ausgeht, dass Gott die Menschen (»uns«) braucht und benennt zwei Gründe: den Glauben an Gott und das Weiterleben der Religion. Felix fasst darauf den Beitrag von Lara in eigenen Worten zusammen und kennzeichnet seine Skepsis (»Das muss nicht sein«). Dann führt er als Gegenargument an, dass Gott eine neue Welt mit neuen Menschen erschaffen könne, die auch an ihn glauben. Felix erklärt weiterhin, dass die Angewiesenheit Gottes sich auf seine Personifikation als Mensch bezieht und beruft sich dabei auf den Beitrag von Jan. Der Gesprächsauszug zeigt unterschiedliche Lesarten einer Bibelstelle, die um die Frage kreisen, ob Gott unsere Hilfe benötigt. Diese Fragestellung stammt aus dem Verlauf des gemeinsamen Theologisierens und wird von der Lehrkraft als Impuls eingebracht. »Unterschiedliche Lesarten« werden zugelassen und erweisen sich als fruchtbar. Zusammenfassend können folgende hermeneutische Umgangsweisen der Jugendlichen mit dem biblischen Text beschrieben werden. 1. Die Jugendlichen greifen Impulse auf und knüpfen an diese an. 2. Die Jugendlichen geben unterschiedlichen Sichtweisen Raum (z.B. darü-

ber, ob Gott den Menschen braucht), greifen diese auf und widersprechen diesen, wenn sie etwas zu entgegnen haben (z.B. Felix). 3. Die Jugendlichen bringen eigene, auch »unrichtige«, Erklärungsmuster hervor (z.B. dass Gott immer hilfsbedürftig ist, weil nie alle Menschen komplett zufrieden sind). 4. Die Jugendlichen versuchen ihre Beiträge zu begründen und zu erklären (z.B. dass Gott die Menschen braucht, weil sie an ihn glauben und die Religion weitergeben). 5. Die Theologie der Jugendlichen weist einen spielerischen Umgang mit dem Gottesbild auf, das flexibel gehandhabt wird (»Weil halt es / alle anderen als Gott dann teilweise definiert werden«). Beispiel aus Sequenz 4: Die Frage nach dem Heilsanspruch wird offengehalten: »Es ist schwer einzuschätzen, wo man steht.« Die Lehrkraft richtet sich an die gesamte Lerngruppe, indem sie danach fragt, wie »wir« damit umgehen, dass die beiden Gruppen nicht wissen, auf welcher Seite sie stehen und diesbezüglich eine Rückfrage an den Menschensohn stellen. L: Mhm (bejahend). Und wie gehen wir jetzt damit um, dass ja in bei / in dem ersten Text steht, dass das war ja auch die erste Frage von Daniel heute, zu Beginn der Stunde, dass beide Gruppen ja gar nicht wissen, auf welcher Seite sie stehen. Also sie stellen ja eine Rückfrage an den Menschensohn. Wie erklärt ihr euch das? Eigentlich weiß man doch, was man anstellt, oder? Ist jetzt so meine / wäre meine provokante Frage. Eigentlich weiß ich doch,

Loose Theologisieren als Einübung in einen nicht-fundamentalistischen Umgang mit der Bibel

ob ich betrüge, lüge oder ob ich ein anständiger Mensch bin. Wie / was machen wir hier mit dem Text? Jana. Jana: Also bei vielen ist das so, dass sie gar nicht wirklich sehen, ob sie was Gutes oder Schlechtes machen / L: Mhm (bejahend). Jana: Das einfach aus ihrem Handeln heraus passiert und sie sich eigentlich denken, ist doch ganz normal, was ich gerade mache / L: Mhm (bejahend). Jana: Und ihnen gar nicht / dass sie sich gar nicht im Klaren darüber sind, ob sie jetzt gerade Schlechtes getan haben, oder nicht / L: Mhm (bejahend). Jana: Und es dann / es ihnen dann danach erst / sich dann danach natürlich fragen, warum je / warum ist das jetzt so, ich habe doch gar nichts Schlechtes gemacht, weil ihnen halt klar ist, das ist schlecht, was sie gemacht haben. L: Mhm (bejahend). Daniel. Daniel: Ich denke, dass es schwer einzuschätzen ist, wo man steht, weil wenn man sich da an den anderen orientiert, dann findet man immer jemanden, der sich schlechter als man selbst benimmt und der es wahrscheinlich eher verdient hätte, in die Hölle zu kommen, aber man findet auch immer welche, die es dann viel mehr verdient hätten, zum ewigen Leben zu kommen und so ist das schwierig, also schwer einzuschätzen / L: Mhm (bejahend). Ist ein guter Gedanke. Also in Relation ist man auch immer nur relativ schlecht (lacht). Das ist sehr klug, ja. Felix. Felix: Und dann ist ja auch noch die Frage, ob das, was wir als gut ansehen, wirklich / überhaupt gut ist. L: Ja. Felix: Man kann ja jetzt nur glauben, wenn man überhaupt glaubt / L: Mhm (bejahend). Felix: Dass Gott oder der Richter / L: Mhm (bejahend).

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Felix: Dieser / derselben Meinung ist, wie man selbst, was gut ist. Aber wenn Gott oder der Richter jetzt ein Diktator ist / L: Mhm (bejahend). Felix: Dann nützt es einem nichts, wenn man gut gelebt hat, denn für Gott hat man dann nicht gut gelebt. L: Mhm (bejahend). Das heißt, wer entscheidet am Ende? Felix: Ja, Gott. L: Genau. Dann würde ich sagen machen wir hier einen / schließen wir hier die Doppelstunde ab. Ich möchte mich ganz herzlich bei euch bedanken für eure tollen Beiträge, für euer Mitdenken, für eurer Engagement. […]

Die Lerngruppe soll Erklärungen dafür finden, warum die beiden Gruppen nicht wissen, auf welcher Seite sie stehen. Damit greift die Lehrkraft die Frage von Daniel auf, die er zu Beginn des Unterrichts geäußert hat. Hierzu suggeriert sie provokativ, dass man doch eigentlich wisse, was man anstellt, ermöglicht durch die Formulierung »oder« aber zugleich eine alternative Antwortmöglichkeit. Ihrer Frage verleiht sie Ausdruck, indem sie nochmals mit Hilfe von Beispielen darauf insistiert. Im biblischen Text ist hingegen nicht von schlechten, sondern von unterlassenen Taten die Rede, die ausschlaggebend für das negative Urteil sind. Jana geht davon aus, dass viele Menschen »gar nicht wirklich sehen, ob sie was Gutes oder Schlechtes machen«. Dies begründet sie damit, dass die Tat »aus dem Handeln heraus passiert« sei und von dem Betreffenden als »normal« bewertet wird. Dabei sind sie sich nicht bewusst, ob sie etwas Schlechtes tun, sondern erst danach. Daniel gibt hingegen zu bedenken, »dass es schwer einzuschätzen ist, wo man steht«. Dies begründet er mit der Möglichkeit,

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Unterschiedliche Zugänge zu biblischen Texten mit Jugendlichen

sich an anderen Menschen zu orientieren. Wenn man dies tut, »findet man immer jemanden, der sich schlechter als man selbst benimmt«. Daran anknüpfend wägt er ab, wer es vermutlich eher verdient hat, in die Hölle zu kommen oder das ewige Leben zu erlangen. Abschließend betont er jedoch die Schwierigkeit dies einzuschätzen. Die Lehrkraft bewertet den Gedankengang von Daniel als gut und fasst ihn lachend zusammen, indem sie formuliert, dass man in Relation nur relativ schlecht sei. Den in ihrer Sicht guten Beitrag bezeichnet sie zudem als »sehr klug, ja«. Felix erweitert hingegen den Reflexionsrahmen, indem er grundsätzlich in Frage stellt, ob das, »was wir als gut angesehen, (…) überhaupt gut ist.« Seinen Hinweis, dass man nur glauben könne, dass Gott oder der Richter unsere Ansicht darüber, was gut ist, teilt, schränkt er zugleich ein, indem er auch in Betracht zieht, dass man nicht glaubt (»wenn man überhaupt glaubt«). Felix spitzt seine Einschränkung weiterhin zu, indem er die Möglichkeit in Betracht zieht, dass Gott ein Diktator sein könnte. In diesem Fall »nützt es einem nichts, wenn man gut gelebt hat, denn für Gott hat man dann nicht gut gelebt.« Die Lehrkraft fragt abschließend noch einmal nach, wer am Ende über das Schicksal entscheidet. Felix weist nun darauf hin, dass dies Gott sei. Die Frage nach dem Heilsanspruch wird im gesamten Gesprächsverlauf offengehalten. Daniel bringt dies abschließend auf den Punkt: »Es ist schwer einzuschätzen, wo man steht.« Zusammenfassend können folgende hermeneutische Umgangsweisen der Jugendlichen mit dem biblischen Text beschrieben werden.

1. Die Jugendlichen suchen mit Nachdruck nach Erklärungsversuchen, um Leerstellen des biblischen Textes zu füllen (z.B. Jana). 2. Die Jugendlichen halten die Frage nach dem Heilsanspruch offen (z.B. Daniel). 3. Die Jugendlichen erweitern den Reflexionsrahmen, indem sie als gegeben erscheinende Aspekte in Frage stellen (z.B. Felix, der hinterfragt, ob das »was wir als gut angesehen, (…) überhaupt gut ist«). 4. Die Jugendlichen stellen in Frage, dass Gott unsere Ansichten teilt (Felix). 5. Die Jugendlichen beziehen die Möglichkeit, nicht zu glauben, in Betracht (Felix). 6. Die Jugendlichen weisen bei ihrem Abwägen ein flexibles Gottesbild auf, das die Möglichkeit in Betracht zieht, dass Gott auch ein Diktator sein könnte (Felix). 4. Schlussfolgerungen

Aufgrund des hohen Lern- und Abstraktionsniveaus der Lerngruppe kann gezeigt werden, dass der beim gemeinsamen Theologisieren eingenommene Habitus einer gebildeten Religion einen hermeneutischen Umgang mit dem biblischen Text unterstützt, der nicht-fundamentalistisch ist. Dies zeigt sich vor allem in der Argumentation der Jugendlichen, bei der sie sich (auch) aufeinander beziehen. Die Hermeneutik der Jugendlichen gründet hierbei in den vier Sequenzen, die hier nur auszugsweise zitiert werden konnten, auf einem stabilen HimmelHölle-Schema. Dieses wenden sie auf

Loose Theologisieren als Einübung in einen nicht-fundamentalistischen Umgang mit der Bibel

die Perikope an, indem sie es mit dem Schicksal der beiden Gruppen ewiges Leben und ewige Strafe verknüpfen. Das gemeinsame Theologisieren führt zu Erkenntnisfortschritten, zu denen die Jugendlichen maßgeblich selbst beitragen, indem sie Verständnisschwierigkeiten selbst zu lösen versuchen. Der Ausgang des Gesprächs, bei dem die Frage nach der Heilsgewissheit offengehalten wird, spiegelt diesen souveränen Umgang mit dem biblischen Text wider. Das zeigt das in der Überschrift aufgegriffene Zitat von Daniel, das hierzu bewusst unsachgemäß aus dem Zusammenhang gerissen worden ist. »Ich denke, dass es schwer einzuschätzen ist, wo man steht, weil wenn man sich da an den anderen orientiert, dann findet man immer jemanden, der sich schlechter als man selbst benimmt und der es wahrscheinlich eher verdient hätte, in die Hölle zu kommen, aber man findet auch immer welche, die es dann viel mehr verdient hätten, zum ewigen Leben zu kommen und so ist das schwierig, also schwer einzuschätzen.«

Anders als es die Überschrift vermuten lässt, zielt die Äußerung Daniels auf die Schwierigkeit einer Selbsteinschätzung ab, die auch die Theologie der Erwachsenen anzuregen vermag.

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Zugleich müssen offene Fragen und Unstimmigkeiten (z.B. wenn Gott als Diktator gedacht wird), die im Gesprächsverlauf sichtbar geworden sind, ausgehalten werden, die erst durch die sorgfältige Transkription des Unterrichtsgesprächs greifbar geworden sind. Im zeitlich begrenzten Unterrichtsgespräch, das sich durch spontane und unmittelbare Anschlüsse von Lehrkraft und Jugendlichen auszeichnet, gehen solche Beiträge zumeist unter, da sie sich nicht als unmittelbar anschlussfähig erweisen. Dafür bieten die Gesprächsauszüge zahlreiche Anknüpfungspunkte, um solche Beiträge aufzugreifen und angerissene Fragestellungen in Folgestunden zu vertiefen. Dabei kann sowohl von der Tradition (z.B. Fragen nach der Gnade und Barmherzigkeit Gottes, dem evangelischen Glaubensverständnis und der Rechtfertigung durch den Glauben; die zwei Naturen Jesu, Fragen der Eschatologie) als auch von der Theologie der Jugendlichen ausgegangen werden (z.B. über die Möglichkeit der Neuschöpfung, das Gottesbild im Zusammenhang mit Fragen der Autonomie und Allmacht Gottes), wobei die Frage der Anschlussfähigkeit der Tradition an die (aktuelle) Theologie der Jugendlichen, das zeigen zumindest die vorliegenden Beispiele, offen ist.

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Unterschiedliche Zugänge zu biblischen Texten mit Jugendlichen

Christian Butt Ist an Gottes Segen allen gelegen? – Hamburger Jugendliche interpretieren »Segen«

In Hamburg wird an allen öffentlichen Schulen der Religionsunterricht nach dem sogenannten »Hamburger Modell«1 erteilt. Das bedeutet, dass alle Schülerinnen und Schüler gemeinsam, nicht nach Konfessionen oder Religionen getrennt, unterrichtet werden. Diese Voraussetzung gilt auch für die beiden Kurse, die an der Untersuchung beteiligt waren. Es sind insgesamt 42 Jugendliche eines Religionskurses der 11. sowie der 13. Klasse einer Hamburger Stadtteilschule, die sich in der Mitte Hamburgs in einem der sogenannten ärmeren, von manchen als sozialen Brennpunkt beschriebenen, Stadtteil befindet. Die teilnehmenden Schülerinnen und Schüler sind vereinzelt evangelisch, katholisch, muslimisch, orthodox sowie überwiegend konfessionslos. Zum größten Teil hatten sie zuletzt in der Grundschule, nur sehr sporadisch im weiteren Schulverlauf, Religionsunterricht und haben aus nicht immer klar erkennbaren Gründen den Religionsunterricht in der Oberstufe gewählt. 1. Was ist Segen?

Das Thema Segen bildet die Basis der theologischen Auseinandersetzung der Jugendlichen im folgenden Beitrag. Dass es in beiden christlichen Konfessionen einen Relevanzverlust des Segens2 gibt und Segen und Segnen insbesondere

in der evangelischen Religionspädagogik ein Desiderat darstellt3, das ist nicht zu übersehen. Andererseits bietet das Thema, das in einem weiteren Sinne theologisch auch als »Lebenskraft«4 interpretiert wird, die Möglichkeit für die Jugendlichen, auch alltagssprachlich anzuknüpfen und eigene Assoziationen zu entwickeln. Somit stellt der zu erwartende Mangel an einer vertieften Kenntnis von biblischen Texten oder gar kirchlichen Überlieferungen nicht von vornherein eine Verstehensbarriere dar und die Jugendlichen können sich umso leichter auf das Thema einlassen. Um zunächst überhaupt zu erfahren, was die Jugendlichen unter Segen verstehen, erhalten sie im regulären Religionsunterricht ein Arbeitsblatt, auf dem die erste Frage lautet: »Was ist Segen? Versuche eine konkrete Antwort zu geben.« Man kann die Antworten in zwei Kategorien einordnen: 1 Vgl. Folkert Doedens / Wolfgang Weiße, Religion unterrichten in Hamburg, in: Theo-Web, 6. Jg. 2007, Heft 1, 50–67. 2 Johannes Heger, Art. Segen, in: Gerhard Büttner / Petra Freudenberger-Lötz / Christina Kalloch / Martin Schreiner (Hg.), Handbuch Theologisieren mit Kindern, Stuttgart/München 2014, 440. 3 Dorothea Greiner, Art. Segen/Segnung, Praktisch-theologisch III. Evangelisch, in: RGG 4 Aufl., VII (2004), 1130. 4 Manfred Josuttis, Der Weg in das Leben, München 1991, 314.

Butt Ist an Gottes Segen allen gelegen? – Hamburger Jugendliche interpretieren »Segen«

Zum einen wird der Segen in einem engeren Sinne sehr klar als eine Art Schutz Gottes interpretiert: – »Segen ist eine Art Schutz. Der Segen symbolisiert Sicherheit. Wenn z.B. eine Person gesegnet wird, wird ihr ein gewisser Schutz und eine Verbindung zu Gott gegeben.« (Anton, ev.) – »Ein Segen ist immer ein Segen Gottes. Vor allem in der Kirche wird er gesprochen. Die gesegnete Person bekommt Schutz und fühlt sich besser.« (Nicola, ev.) – »Segen ist eine Art Schutz Gottes oder eine Verleihung von Kraft, Glück etc.« (Nikhil, musl.) – »Gott segne dich würde ich übersetzen mit der Definition Gottes Barmherzigkeit sei mit dir. Ein Segen ist so viel wie der Wunsch einer Bereicherung für jemanden.« (Matin, musl.) Des Weiteren wird Segen in einem weiteren Sinne als zwischenmenschliche Kommunikation im Sinne von Zustimmung und Unterstützung interpretiert oder als guter Wunsch. Hinter dieser Interpretation steht eher, dass »alles Leben empfangenes und geschenktes Leben ist«5: – »Den Segen empfängt ein Christ durch den Pastor von Gott. Segen wird aber auch von Menschen untereinander ausgesprochen und gilt als starke Zustimmung. Du hast meinen Segen!« (Lena, ev.) – »Es gibt auch die Position, wo man jemanden seinen Segen schenkt. Dies bedeutet eine Art Verständnis und Akzeptanz.« (Anton, ev.) – »Ein Segen ist nach meinem Verständnis das Gute, welches man einem Menschen wünscht. Vielleicht gibt es auch einen Unterschied zu guten Wünschen,

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allerdings fällt es mir schwer, den Begriff ›Segen‹ klar zu definieren.« (Adrian, ohne Konfession) – »Ein Segen ist etwas gewünschtes oder auch real passierendes Gutes.« (Torge, ohne Konfession) Ähnliches formuliert die orthodoxe Schülerin: – »Segen ist eine Art Befreiung. Es heißt, dass der Herr im Himmel auf einen aufpasst. Ein Segen kann allerdings auch an Menschen gehen, die einem viel bedeuten.« (Elena, orthod.) Die spontanen Interpretationen des Begriffs »Segen« stimmen also weitgehend mit den beiden Deutungsrichtungen überein. Die engere Interpretation als Gottes Schutz und Begleitung oder die weitere Interpretation als menschliche Zustimmung bzw. Bestärkung finden sich fast in allen Antworten bzw. die beiden Auslegungen werden in den Antworten sogar kombiniert beschrieben. Dabei fällt bei der ersten Durchsicht auf, dass die konfessionslosen Schülerinnen und Schüler die anthropologische Dimension behandeln, die christlichen oder muslimischen Schülerinnen und Schüler den Bezug zu Gottes Schutz formulieren, darüber hinaus aber auch teilweise eine Kombination mit der anthropologischen Dimension herstellen. 2. Aaronitischer Segen (Num 6,24–26)

In einem nächsten Schritt werden die Schülerinnen und Schüler mit dem Text 5 Dietrich Rössler, Grundriss der Praktischen Theologie, 21994, 207.

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Unterschiedliche Zugänge zu biblischen Texten mit Jugendlichen

des Aaronitischen Segens konfrontiert. Der Aaronitische Segen eignet sich als Einstieg insofern, da er relativ eindeutig in der Interpretation ist, indem er Gottes Zuwendung in Schutz und Bewahrung sowie seine bleibende Unterstützung aussagt, die ihren Zielpunkt im Frieden findet.6 Dabei gilt es zu analysieren, ob die Jugendlichen durch das Segenswort in ihren Vorstellungen konkreter werden und inwiefern sich ihre Aussagen erweitern und präziser werden. Ein weiterer Fokus ist, ob beim Interpretieren gewisse Muster in der Vorgehensweise erkennbar sind. Nach der Frage, ob sie folgende Worte kennen, folgt die Aufgabe: »Kannst du mit den Worten etwas anfangen? Erkläre sie, wie du sie verstehst.« Insgesamt finden sich in allen Beiträgen der Schülerinnen und Schüler durchweg adäquate, positive Interpretationen der Segensworte, die den Inhalt als Schutz, Bewahrung und Stärkung deuten. Bei genauerem Hinsehen fällt die unterschiedliche Länge der Auslegungen auf. Eine Reihe von Darstellungen ist eher knapp gehalten: – »Ich denke, dass mit den Worten gemeint ist, dass Gott ein Auge auf dich legt und gute Stücke auf dich hält.« (Jan, ohne Konfession) – »Ich verstehe die Worte dahingehend, dass der Herr (Jesus oder Gott) dafür sorgt, dass es dir gut geht und er über dich wacht.« (Torge, ohne Konfession) – »Ich denke, dass gemeint ist, dass Gott den Menschen beschützt und ihm ein friedvolles Leben ermöglichen soll.« (Adrian, ohne Konfession) – »Man erhält sozusagen den Schutz von dem Herrn und ist von dem Unglück aufbewahrt, es wird das Licht verliehen.« (Nikhil, muslim.)

Andere Antworten sind ausführlicher: – »Es wird um den Schutz Gottes ersucht, darum, dass sich Gott der Person annimmt, nachsichtig mit möglichen Fehlern der Person umgeht und ihr den göttlichen Frieden zuteilwerden lässt. Der göttliche Frieden ist so etwas wie ein perfektes Stadium, frei von Verlangen, Schmerzen und allem anderen Negativem.« (Yannik, ev.) – »Der Herr, also Gott, segnet einen, behütet und beschützt ihn auf allen Wegen, die man geht. Er ist gnädig zu dir und lässt dich Dinge erleben, die du verkraften kannst. Er achtet auf dich und gibt dir deinen Frieden, mit dir selbst zufrieden zu sein.« (Nicola, ev.) – »Die Worte kenne ich aus dem Gottesdienst, wo der Pastor sie immer spricht. Für mich bedeuten sie, dass Gott bei mir ist und mir hilft und mich behütet (beschützt). Gott beachtet (bedenkt) mich und gibt mir mit seinem Frieden innere Ruhe.« (Paula, ev.) – »Es ist ein Segen. Er soll zum Schutz dienen von Gott. Danach muss man Amen sagen, da er zum Absegnen dient. Allerdings muss man dafür gläubig sein, denn damit ist nicht zu spaßen.« (Elena, orthodox.) – »Ich verstehe mit den Worten übersetzt: Gottes Barmherzigkeit sei mit dir, er soll dich beschützen, auf dich aufpassen und der mächtige Gott soll über dich wachen von oben, gnädig, vergibt er dir. Außerdem soll Gott seine Aufmerksamkeit dir schenken und soll dir ein friedliches Leben schenken. Für mich wäre das wie ein Bitt6 Vgl. Reinhold Achenbach, Art. Aaronitischer Segen, in: WiBiLex, Stuttgart 2006ff.

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gebet, welches ich aufsagen würde für andere, um einen Segen zu wünschen und den Jemanden unter Gottes Schutz zu bewahren vor Bösem und Schlechtem.« (Matin, muslim.) Der augenfällige Unterschied in der Länge der Beiträge geht mit inhaltlichen Verschiedenheiten und Schwerpunkten einher. Die eher knappen Aussagen sind weitgehend eine wörtlich variierende, verkürzende Wiedergabe des Segenswortes. Bei der Vorgehensweise der Schülerinnen und Schüler kann man erkennen, dass diese zentrale Worte bzw. Aspekte (Auge/Antlitz, Schutz, Frieden, Licht …) des Segensspruchs aufnehmen und davon die Inhalte ableiten und erklären. Das bedeutet, dass nicht der ganze Segen analysiert und aufgenommen wird oder vertieft betrachtet wird, sondern von – wahrscheinlich bereits vertrauten und bekannten – Schlüsselbegriffen ausgegangen wird, von denen man her etwas über den aaronitischen Segen und seine Bedeutung sagt. Das heißt zugleich, dass keine intensive persönliche Ausein­ andersetzung oder auch Erfahrung mit dem Segen vorhanden sind, sondern mit den Begriffen gearbeitet wird, zu denen bereits ein eigener Zugang besteht und die anderen Aspekte vernachlässigt werden. Diese Beobachtung findet dadurch eine Bestätigung, dass sich keine persönlichen Aussagen und Bezüge in diesen Beiträgen finden lassen. Es überrascht nicht, dass die konfessionslosen Schülerinnen und Schüler Autorinnen und Autoren dieser Antworten sind (und ein muslimischer Schüler). Ihnen fehlt weitgehend der persönliche Bezug zu den Inhalten und Aussagen und daher inter-

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pretieren sie diese auf Basis des ihnen Bekannten. Anders sieht es bei den längeren Antworten aus. Diese entfalten und interpretieren den Segensspruch freier und tragen eigene Gedanken oder persönliche Bezüge ein. Auch hier wird ein Schlüsselbegriff, zumeist Frieden (der muslimische Schüler erwähnt Barmherzigkeit), gewählt, der jedoch ausgelegt und vertieft und im Gesamtzusammenhang des Segensspruchs gesehen wird. Dabei fällt auf, dass sich die Aussagen mit dem Zustand beschäftigen, den man durch den Segen erhält. Dieser wird durch »Frieden« inhaltlich näher bestimmt (perfektes Stadium, frei von Verlangen, Schmerzen und allem anderen Negativen; mit sich selbst zufrieden sein, innere Ruhe). Dass es sich dabei nicht nur um abstrakte Theorien handelt, sondern auch eine innere Nähe zu dem Beschriebenen besteht, ergibt sich aus den Erwähnungen des gottesdienstlichen Zusammenhanges oder dem Hinweis, dass man mit Segen keineswegs zu spaßen habe. Dass die Schülerinnen und Schüler, die diese Antworten geben, zumeist christlich oder muslimisch orientiert sind, scheint plausibel. Es bedarf eines inneren Zugangs, bestimmter gedanklicher und auch sprachlicher Durchdringung, um sich auf diese Art und Weise thematisch zu positionieren. 3. Abraham (Gen 12,1–3) und Jakob (Gen 27)

In einem weiteren Schritt, der in einer Unterrichtsstunde drei Wochen später geschieht, können die Schülerinnen und Schüler zwischen zwei Texten wählen,

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Unterschiedliche Zugänge zu biblischen Texten mit Jugendlichen

der Verheißung an Abraham (Gen 12,1– 3) und »Jakob gewinnt mit List den Erstgeburtssegen« (Gen 27). Die Frage ist, ob diese narrativen Texte die Jugendlichen unterstützen, ihr Segensverständnis zu erweitern und zu konkretisieren. Gibt die narrative Struktur der Texte allen Schülerinnen und Schülern die Möglichkeit, gedanklich Zugang zum Thema Segen zu erhalten? Oder spielt erneut das Vorverständnis eine entscheidende Rolle? Die Jugendlichen dürfen zwischen den beiden Texten wählen. Der Auftrag lautet: »Suche dir einen der beiden Texte aus und lies ihn durch. Erkläre mit Hilfe des Textes: Was ist Segen?« 3.1 Abraham

Der Abrahamtext wird von mehr als der Hälfte der Schülerinnen und Schüler gewählt, was sicher auch auf die Kürze des Textes zurückzuführen ist. Auch dieser Text ist relativ eindeutig zu interpretieren. Er stellt den Übergang der Weitergabe des Schöpfungssegens Gottes als persönliche Zusage an einen Einzelnen dar, wobei dieser Mittler des Segens für die Menschheit wird.7 Der persönliche Segenszuspruch an Abraham steht also im Zentrum. Die entstandenen Antworten der Jugendlichen treffen den Inhalt zumeist genau und enthalten teilweise sogar über den Text hinausgehende folgerichtige Implikationen. Man kann sie allerdings nicht, wie zuvor, durch unterschiedliche Länge auf den ersten Blick unterscheiden, vielmehr bieten sie unterschiedliche Aussageschwerpunkte: – »Einen Segen erhält man immer von einer anderen Person, einer höher gestellten Person. In diesem Fall erhält

Abraham vom Herrn einen Befehl. Er soll in ein anderes Land gehen, das er nicht kennt. Dort soll er ein großes Volk machen, erhält den Segen vom Herrn und soll selbst auch Segen sein. Segen sind Worte, die man empfängt, sie bringen Glück, Zufriedenheit, nehmen Angst und beruhigen. Der Segen macht stärker, er gibt Halt.« (Nicola, ev.) – »In beiden Texten wird klar, dass ein Segen symbolisch für ein Versprechen für ein reich erfülltes Leben steht … Ein Segen wird außerdem in beiden Texten von einer dem Gesegneten höherstehenden Person ausgesprochen. Im Text Abraham von Gott …« (Felix, ohne Konfession) – »Segen ist, so wie ich es verstanden habe, eine Art Schutz und göttliche Begleitung. Sie wird dem Gesegneten in Form eines Gebetes oder einer Art religiöser Rede mitgegeben. Der Gesegnete soll ein Vorbild für alle anderen sein. Diejenigen, die ihn segnen, werden auch gesegnet werden und diejenigen, die ihm Schlechtes wünschen oder verfluchen, werden ebenso verflucht.« (Sahel, muslim.) – »Der Herr ermutigt Abraham, seine Heimat zu verlassen und woanders hin zu gehen, wohin er ihn führen wird. Dieser Weg und auch Abraham sollen gesegnet sein. Der Segen bedeutet hier Schutz auf der Reise und ein Versprechen, dass Abraham von Gott nicht verlassen wird. Der Segen ist quasi ein Glück, dass einem widerfährt, womit man aber verantwortungsvoll umgehen soll. Man 7 Vgl. Thomas Hieke, Art. Abraham, in: WiBiLex, Stuttgart 2006ff.

Butt Ist an Gottes Segen allen gelegen? – Hamburger Jugendliche interpretieren »Segen«

erhält das Versprechen, dass Gott einen nicht verlässt und auch denen wohlgesonnen ist, die einem wohlgesonnen sind und jene verflucht, die einem feindselig gesonnen sind. Auf der anderen Seite hat man dann auch die Pflicht/den Auftrag, diesen Segen weiterzugeben. Ein Segen ist also durchaus etwas Gutes, einem selbst wird etwas Gutes getan/geholfen und man gibt dies weiter an andere, wenn diese gerade jemanden unterstützend benötigen.« (Paula, ev.) – »… und es ist zu verstehen, dass Abraham durch seinen Segen ein Segen für die ganze Bevölkerung ist. In diesem Sinnen beleuchtet oder auch ausgewählt ist.« (Leonie, ohne Konfession) Die verschiedenen Themen der Beiträge unterscheiden sich deutlich von den ersten Antworten zum Segen, neue und andere Ideen werden ausführlich geäußert. Das zeigt, dass sich die Schülerinnen und Schüler von dem Text ansprechen lassen und ihre Gedanken und Vorstellungen zum Segen in Auseinandersetzung mit ihm entwickeln. Dabei geht es in den Ausführungen der Jugendlichen um die persönliche Segenszusage an Abraham. Angesprochen wird der Segnende bzw. die Beziehung zwischen Segnendem und Gesegneten. Der Segnende wird als höher gestellt oder höherstehend bezeichnet. Es herrscht ein Machtgefälle. Es scheint, dass dieses Gefälle eine Voraussetzung für einen wirksamen Segen darstellt. Der Segnende muss Autorität und Stärke besitzen, so dass er segnen kann und der Segen Qualität besitzt und Wirkung zeigt. Dabei irritiert die Aussage von Nicola, dass man Segen immer von einer anderen Person erhält, einer höher

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gestellten Person. Hat sie Gott in dem Text nicht erkannt? Oder qualifiziert sie Gott als Person? Bei der Interpretation bleibt eine gewisse Unsicherheit, denn, wenn es nicht Gott ist, wie kommt sie ansonsten auf die Idee, dass der Herr höher gestellt ist? Gleichwohl zeigen ihre Aussagen im Vergleich zu ihren ersten Einlassungen, dass sie ein neues Thema mit der Beziehung zwischen Segnendem und Gesegnetem aufgreift, die schützende und stärkende Wirkung des Segens wird gleichwohl in ähnlichen Kategorien bereits in ihrer ersten Antwort beschrieben. Mit der Aussage von Sahel, dass der Gesegnete ein Vorbild sein soll, kommt eine ethische Komponente in die Deutung. Diese findet sich auch bei Paula, die davon spricht, dass der Segen ein Glück sei, das Abraham widerfährt, womit er aber verantwortungsvoll umgehen muss. Der Segen verpflichtet zur Weitergabe des Guten, beispielsweise in der Unterstützung anderer Menschen, so ihre Meinung. Auch Leonie kann man ansatzweise in diese Richtung deuten, wenn sie davon spricht, dass der Segen Abrahams der ganzen Bevölkerung gilt, er dafür ausgewählt sei. Diese drei Jugendlichen legen somit das Zentrum ihrer Antwort auf den Gesegneten und seine Wirkung bzw. sein Handeln. Anscheinend von der Abrahamsgeschichte angeregt, nehmen sie den ethischen Aspekt in den Blick und erkennen den Vorbildcharakter und das Verpflichtende des Segens. Es scheint, dass die literarische Basis die Schülerinnen und Schüler anregt, ihre Vorstellung von Segen zu erweitern. Dabei scheint ihr Vorgehen logisch. Der Beziehungsaspekt steht im Zentrum des Textes, der ethische Handlungsaspekt liegt ebenfalls, wenn auch nicht in

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Unterschiedliche Zugänge zu biblischen Texten mit Jugendlichen

direkter Konsequenz des Textes. Beide Aspekte sind vorher allerdings in der Befragung noch nicht aufgetaucht. Insofern hat ein Lernprozess stattgefunden. 3.2 Jakob

Einige Schülerinnen und Schülern setzen sich mit der Jakobsgeschichte auseinander, deutlich weniger, als den Abrahamtext wählen. Ob es sich bei der hier dargestellten Segensvorstellung um eine »archaische Auffassung«8, um eine »Sterbesegenszeremonie«9 und um ein archaisches Ritual10 handelt, muss für das Verstehen der Jugendlichen nicht weiter vertieft werden. Die Einmaligkeit sowie die Differenz zum aaronitische Segen bzw. der gottesdienstlichen Segnung sind leitend. Wiederum werden unterschiedliche Themen aufgenommen: – »Aufgrund des Textes vermute ich, dass es sich bei einem Segen um eine Art Prophezeiung handelt, die eine besondere Bedeutung hat, sodass die dort gesagten Worte auch wirklich so zutreffen werden. Des Weiteren beinhaltet ein Segen meist eine beschützende Wirkung und ist notwendig oder zumindest hilfreich für ein gutes Leben. Darüber hinaus hat es den Anschein, dass sich ein Segen nicht beliebig oft aussprechen lässt. Da Isaak Esau seinen Segen nicht mehr geben kann.« (Adrian, ohne Konfession) – »Der Text beschreibt den Segen als etwas Gutes. Er kann von dem Vater auf den Sohn/Tochter übertragen werden bzw. der Vater kann seinen Sohn/Tochter segnen. Er kann aber nur eines seiner Kinder segnen, was zeigen soll, dass der Segen etwas ein-

zigartiges und besonders ist. Er wird so beschrieben, dass einen alles im Leben gelingt und einem Glück widerfährt.« (Lukas, ohne Konfession) – »In dem Text wird der Segen als etwas Tolles oder auch Seltenes dargestellt. Derjenige, der gesegnet wird, bekommt ein besseres Leben. Die Leute werden gehorchen und sogar dienen. Dass ein Segen etwas Schönes sein muss zeigt die Geschichte mit den beiden Brüdern. Nicht umsonst probiert Jakob mit seiner Mutter, seinen Vater und älteren Bruder zu täuschen.« (Niklas, ohne Konfession) – »Bei der Geschichte ist der Segen zum einen der Schutz und die Liebe und Überzeugung des Vaters an seine Söhne, dass sie ihr Ziel erreichen werden. Dann geht es aber auch darum bei Isaak, dass er seinem ältesten Sohn das Erbe mitgeben möchte. Bei einem Segen sollen alle mit eingebunden werden, die hinter einem stehen und einem auf dem Weg ins Leben helfen. Die, die einem schaden wollen sollen Leiden und Unglück erfahren. Alles in allem ist der Segen die Hilfe der Eltern, die erste Stütze im Leben und die Zusicherung und Zuneigung des Segners.« (Lasse, ev.) Deutlich kann man erkennen, dass die Schülerinnen und Schüler eine Erwei8 Michael Fricke, »Schwierige« Bibeltexte im Religionsunterricht. Theoretische und empirische Elemente einer alttestamentlichen Bibeldidaktik für die Primarstufe, Arbeiten zur Religionspädagogik Bd. 26, Göttingen 2005, 465. 9 Hans Jochen Boecker, 1. Mose 25,12–37,1. Isaak und Jakob, ZBK AT 1.3, 1992, 48. 10 Vgl. Claus Westermann, Genesis, 12–36, BKAT I/2 1981, 536.

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terung ihrer Gedanken erfahren haben. Adrian kann drei Aspekte geltend machen: Segen als Prophezeiung, Schutz und Einmaligkeit. Dies ist gegenüber seiner ersten Antwort eine beeindruckende Veränderung. Hatte er in seiner ersten Antwort nach eigenen Angaben Mühe, die Trennlinie zu guten Wünschen zu markieren, so findet er nun starke Worte, die nicht nur den Zukunftsaspekt betonen, sondern auch den Schutzcharakter und die Hilfe deutlich machen sowie die Einmaligkeit des Segens Isaaks herausarbeiten. Die Nennung der Einmaligkeit des Segens, die aus der Geschichte abgeleitet wird, findet sich in den meisten Antworten. Der Hinweis auf den Erstgeborenensegen fehlt zumeist. Zugleich blieben viele Interpretationen ausschließlich im familiären Rahmen mit der Deutung des Segens. Dies ist von dem Text her möglich, aber nicht zwingend. Dabei nutzt Niklas die Geschichte eher, um das Schöne und Besondere des Segens aufgrund der Betrugsgeschichte herauszustellen, Lasse hingegen erklärt den Segen ausschließlich als ein Familienritual. Hier vermischt sich wohl die vorgelegte Geschichte mit heutigen familiären Vorstellungen und Ritualen. Insofern ist die Perikope der Erlebniswelt der Jugendlichen durchaus nahe, wie man aus den Antworten entnehmen kann. Insgesamt lässt sich festhalten, dass durch beide Texte die Stellungnahmen der Jugendlichen eine Erweiterung und Konkretion erfahren haben. Die Unterschiedlichkeit der gegebenen Antworten zeigt, dass hier nicht nur aus Kenntnis oder Unkenntnis heraus interpretiert wurde, sondern Gedanken weiterentwickelt und in das bisherige Denken eingebaut wurden. Dieses wurde eindrucks-

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voll bei Nicola und Adrian, im Vergleich zu den zuerst gegebenen Antworten, nachgezeichnet. Die narrativen Texte ermöglichen also, im Gegensatz zu dem zuvor zu interpretierenden Segenswort, dass alle Schülerinnen und Schüler voraussetzungslos eine konstruktive Auseinandersetzung mit der Segensthematik leisten. Bestimmte Muster und Rezeptionsformen sind dabei nicht erkennbar. 4. Selbst verfasste Geschichten als Transfer

Inwiefern sind die bisherigen Antworten wirklich Ergebnis persönlicher Auseinandersetzung? Oder sind es nur Produkte von Textanalyse ohne Relevanz für die Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler? Um zu diesem Punkt Aufschluss zu erhalten, sind die Jugendlichen gebeten, sich Geschichten auszudenken. Die Aufgabe lautet: »Fällt dir eine Geschichte zu ›Segen‹ ein, wie sie heute passieren könnte? Schreibe sie kurz auf!« – »Ein Junge namens Brendon lebt in einer kleinen Stadt in Amerika und kriegt von seiner Familie keine Aufmerksamkeit, da die Mutter verstorben ist und der Vater jeden Tag zehn Stunden arbeitet, dann gerade noch Essen kochen kann und danach müde schlafen geht. Brendon hat in der Schule keine Freunde und wird auch ab und zu von den Älteren gehänselt. Brendon ist sehr unglücklich und hat schon mehrmals über Selbstmord nachgedacht. Aber dann kommt ein Segen an Brendons Schule, Mitchell, ein Junge gleichen Alters, dessen Eltern jobbedingt umziehen mussten, zieht mitten im Schuljahr in die Stadt.

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Unterschiedliche Zugänge zu biblischen Texten mit Jugendlichen

Mitchell wird Brendons bester Freund und sie wechseln gemeinsam an eine Highschool, wo sie plötzlich viele Leute mit gleicher Weltanschauung und gleichen Interessen treffen und eine große Freundesgruppe entwickeln können, die auch noch in ihren 40gern befreundet sind.« (Yannik, ev.) – »Da für mich ein Segen auch die Hilfe in der Not und der Beistand in einer schweren Zeit bedeutet, kann es in der heutigen Zeit zum Beispiel ein Segen für einen Flüchtling sein, wenn jemand in dem Land, in das er geflüchtet ist, ihn aufnimmt oder/und ihn unterstützt. Wenn man demjenigen, der Hilfe braucht, hilft, kann das für den ein Segen sein, dass dort jemand ist, der ihn aufnimmt.« (Paula, ev.) – »Eine Familie bekommt einen kleinen Jungen. Der Junge wird getauft und erhält seinen Segen. Dieser Segen begleitet den Jungen auf seinem Weg. Er hat ein erfülltes und zufriedenes Leben, nichts fehlt ihm. Der Segen, den er erhalten hat, hat jetzt nichts direkt an ihm geändert. Doch der Segen, den er zur Taufe erhalten hat und die Liebe, die er von seiner Familie erhalten hat, hat ihn im Herzen berührt und ihm innere Kraft geschenkt, weil er wusste, dass er immer seine Familie und Freunde hat, die ihn überall unterstützen im Leben.« (Lasse, ev.) – »Oft ist es so, dass Eltern zu 100% hinter ihrem Kind stehen. In meinem Fall zumindest, fühle ich und bin ich von meinen Eltern gesegnet. Ich habe die Erlaubnis und komplette Unterstützung bei allem, in einem gewissen Rahmen.« (Lee, ev.) – »Wenn jemand schwer erkrankt ist und keine Heilung aus medizinischer Sicht

zu erwarten ist. Wenn diese Person dann z.B. zu einem Priester geht und gesegnet wird. Das heißt, dieser für ihn betet und göttliche Heilung mit auf den Weg gibt.« (Sahel, muslim.) Insgesamt fällt bei der Durchsicht der Arbeitsblätter auf, dass nicht alle Schülerinnen und Schüler diese Aufgabe bewältigt haben. Die Rückmeldung war teilweise, dass ihnen nichts einfällt und der Auftrag zu schwer sei. Dass diese Reaktion vielfach von Jugendlichen ohne Konfession kommt, ist bemerkenswert. Anscheinend ist es für sie nicht so leicht möglich, einen Transfer in die eigene Lebenswelt herzustellen. Hilfreich hätte für sie sein können, die Aufgabenstellung so zu formulieren, dass sie nicht selbst die christliche Perspektive einnehmen müssen, sondern ihnen eine innere Distanzierung möglich gewesen wäre. Beispielsweise: »Fällt dir eine Geschichte ein, wie ein Christ/ Christin sie heute schreiben könnte.« Dies würde weniger konfrontativ wirken und ermöglichen, fehlende eigene Anknüpfungsmöglichkeiten aus der Umwelt oder aus Beobachtungen zu ergänzen. Die vorliegenden Transfergeschichten nehmen Schwerpunkte der vorherigen Ausarbeitungen auf und vermitteln den Eindruck, dass die Gedanken nicht allein textbezogene Wiedergaben sind, sondern für die Lebenswelt der Jugendlichen von Bedeutung sind. Die Geschichten von Yannik und Paula übertragen den Segensgedanken abstrakt in Form von Hilfe und Unterstützung. Dies entspricht dem zuvor geäußerten ethischen Gedanken von Paula, dass Segen auch Verpflichtung bedeutet. Segen teilt sich in Gutem mit. Bei beiden Beiträgen klingt eine persönliche Durchdringung und Aneignung der

Butt Ist an Gottes Segen allen gelegen? – Hamburger Jugendliche interpretieren »Segen«

Position durch. Lasse und Lee übertragen den Segen in ihren Geschichten im familiären Rahmen und bleiben darin in der Vorstellungswelt der Jakobperikope. Interessant ist die Deutung Lasses, dass der Segen nichts an dem Gesegneten geändert habe, aber die innere Einstellung zum Leben deutlich eine andere ist und somit die familiäre Begleitung als Segen verstanden wird. Auch hier klingt eine persönliche Perspektive und Aneignung durch. Sahel interpretiert, und davon gibt es eine Reihe sehr kurzer Geschichten, den Segen als eher akute Hilfe, die das Leben wendet oder in einer magischen Art das Schicksal beeinflusst. Die Diskussion um den magischen Charakter des Segens, der Gesundheit, individuelles Glück, gelingende Gemeinschaft und Schutz vor lebensfeindlichen Mächten einschließt, begleitet das Segensverständnis seit alters her.11 In den freien Texten bricht sich diese Vorstellung Bahn, da biblische Texte weniger dominieren. Auch diese Aussagen sind als Ergebnis von persönlicher Auseinandersetzung zu verstehen. Zusammenfassend kann man festhalten, dass die Geschichten zeigen, dass die Auseinandersetzung mit den biblischen Texten in der Tat bei einigen, längst aber nicht allen Jugendlichen eine Veränderung und Weiterentwicklung des Segensverständnis bewirkt hat, die sie auf die eigene Lebenssituationen beziehen und anwenden konnten. 5. Fazit

Was kann man über den Lernprozess festhalten, der sich in den unterschiedlichen Schritten dieser Untersuchung dokumentiert?

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– Alle Schülerinnen und Schüler können sich mit engeren oder weiteren Auslegungen spontan zum Thema Segen äußern. – Bei der Vorlage des aaronitischen Segens zeigt sich, dass die konfessionslosen Schülerinnen und Schüler diesen mit Hilfe von Schlüsselbegriffen, zumeist Frieden, interpretieren. Anders sieht dies bei konfessionell gebundenen Jugendlichen aus. Diese Interpretationen sind länger, gehen freier und vertiefter mit dem Segen um und beschreiben den Zustand, den man durch den Segen erreicht. – Die beiden narrativen Texte als Grundlage ermöglichen allen Jugendlichen, sich ausführlicher zum Segen zu äußern. Neue Aspekte werden in den Interpretationen genannt. Bei der Abrahamperikope spielen der Beziehungsaspekt zwischen Segnendem und Gesegneten sowie die ethische Komponente des Handelns eine Rolle, bei der Jakobsgeschichte bleiben viele Auslegungen im familiären Rahmen, Aspekte wie Prophezeiung, Schutz oder Einmaligkeit werden genannt. – Die selbst erdachten Geschichten zeigen am Ende der Untersuchung, dass viele konfessionelle Jugendlichen sich eine eigene Geschichte ausgedacht haben, die ihrer Lebenssituation oder der persönlichen Einstellung Rechnung tragen. Insgesamt kann man hier eine klarere und erweiterte Positionierung im Gegensatz zum Anfang feststellen.

11 Vgl. Jochen Cornelius-Bundschuh, Art. Segen/ Segen und Fluch VI. Praktisch-theologisch, in TRE XXXI, Berlin/New York 2000, 94.

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Unterschiedliche Zugänge zu biblischen Texten mit Jugendlichen

Henning Hupe Szenen des Unverfügens – geöffnete Räume, erschütterte Ordnung Theologisieren mit Jugendlichen als Impro-Tanz 1. Adoleszenz und Subjektproduktion

Soll es darum gehen, wie Jugendliche biblische Texte innerhalb schulischer Lernsituationen produktiv rezipieren können, ist es hilfreich, ein Bild möglicher Dispositionen zu gewinnen, mit denen Jugendliche heute überhaupt in eine Begegnung mit dem biblischen Text treten. Jugendliche befinden sich im Allgemeinen in einer Früh-/In- oder SpätAdoleszenz-Phase. Zur genaueren Charakterisierung von Adoleszenz wird in wissenschaftlichen aber auch literarischen Kontexten immer wieder mit folgenden Punkten gearbeitet: – Jugendliche in der Adoleszenz stecken in einem tiefgreifenden, physiologisch sichtbaren Umbau ihres Hirns – für den Neurowissenschafler Peter Uhlhaas »scheint die Adoleszenz einen tieferen Einschnitt für die Entwicklung und Funktionsweise des Gehirnes zu bedeuten, als wir bisher angenommen hatten«1. Verbreitet beschrieben wird immer wieder die Abnahme der sogenannten grauen Hirnsubstanz ab dem 12. Lebensjahr bei gleichzeitiger Zunahme der weißen Hirnsubstanz, die offenbar eine intensivere Kommunikation im kortikalen Netzwerk ermöglicht; beobachtet wird eine bessere »Ausrichtung von Nervenfasern im adoleszenten Gehirn«2.

– Adoleszente brechen mit Traditionen und den Ansichten ihrer Eltern sowie anderer Autoritätspersonen und handeln sich dabei nicht selten Ärger ein – Vera King beschreibt hier einen »Dreischritt« von: »Trennung, Umgestaltung und Neuschöpfung«3. King betont mit Peter Weiss’ »Abschied von den Eltern« (1964), dass Jugendliche die »Portalfiguren des Lebens« vom Sockel heben und dabei »diejenigen innerlich infrage stellen, auf die sie zugleich noch angewiesen sind, und die damit verbundenen Ängste, Schuldgefühle, Trauer und Einsamkeitsempfindungen ertragen und durchlaufen«4. – Adoleszente erfinden sich immer wieder kreativ und ungewohnt neu, sie sind in ihrer »Subjektwerdung störbar und verletzlich«5. – Dabei probieren sie sich in Rollen aus, nehmen verschiedene Masken an, wie 1 Peter J., Uhlhaas, Das adoleszente Gehirn aus der Perspektive der kognitiven Neurowissenschaften, in: Carsten Gansel / Pawel Zimniak (Hg.), Zwischenzeit, Grenzüberschreitung, Aufstörung, Bilder von Adoleszenz in der deutschsprachigen Literatur, Heidelberg 2011, 63–73, hier 63. 2 Ebd., 68. 3 Vera King, Aufbruch der Jugend? Adoleszenz und Ablösung im Spannungsfeld der Generationen, in: Carsten Gansel / Pawel Zimniak (Hg.), Zwischenzeit, Grenzüberschreitung, Aufstörung. Bilder von Adoleszenz in der deutschsprachigen Literatur, Heidelberg 2011, 49–61, hier 54. 4 Ebd. 5 Ebd., 54.

Hupe Theologisieren mit Jugendlichen als Impro-Tanz

Julia Kristeva in Adoleszenzromanen beobachtet – interessant hier ihre Definition: »Unter dem Begriff ›Heranwachsender‹ verstehe ich weniger eine Altersklasse als vielmehr eine offene psychische Struktur. Ähnlich den ›offenen Systemen‹, von denen die Biologie bei den Lebewesen spricht, die in der Interaktion mit einer anderen ihre eigene erneuern, öffnet sich die adoleszente Struktur dem Verdrängten.«6 – Jugendliche erleben eine emotional herausfordernde und höchst schwierige Phase, in der sie auf dem Weg »zu sich selbst« zu sein scheinen, welcher sie aber krisenhaft immer wieder verlieren und dann anders neu finden. – Jugendliche wirken wie ständige Deund Rekonstrukteure eigener Selbstentwürfe, Wunschvorstellungen und Planungen, ihrer ältesten und wichtigsten Beziehungen sowie der traditio­ nellen Werte und Zielvorstellungen, die sie erleben. Gleichzeitig sind sie sensibel und verletzlich sowie emotional fragil zwischen Trauer und Verlust, Einsamkeit und Angst, Phantasie und Allmachtsideen aufgestellt. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass immer wieder ein quasi-paradoxes Zugleich von Finden und Verlieren, von Euphorie und Trauer, von Phantasie und Einöde beschrieben wird. Es ließe sich auch von einer ›Situation des Zwischen‹ sprechen, in der es Jugendlichen möglich sein kann, den umgebenden Raum phantasievoll zu überschreiten um diesen selbst neu zu entwerfen oder umgekehrt sich von ihm in eine seiner dunklen Ecken schieben zu lassen. Aber wann und wie ist welche Option möglich – wann funktioniert der Ausbruch,

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wann lassen sich Jugendliche fremdbestimmt zuweisen? Ähnlich fragt Vera King: »Woraus ergeben sich die Unterschiede zwischen der adoleszenten Fähigkeit zur Transzendenz auf der einen Seite und einer adoleszenten Verfassung auf der anderen, die sich gerade nicht durch mutige Überschreitung auszeichnet, sondern eher einer Unterwerfung und Anpassung an die gesellschaftliche Innovationsspirale und Erneuerungsrhetorik gleichkommt?«7 Während King das Zugleich von adoleszenter Kritik- und Transzendenzfähigkeit sowie adoleszentem Unterwerfungsverhalten aus kulturwissenschaftlicher Perspektive in der gesellschaftlichen Regulierung der Generationenabfolge zu erfassen sucht und hier zwischen »Zuspruch und Enteignung des adoleszenten Möglichkeitsraumes«8 unterscheidet, schlägt Jenny Lüders eine eher bildungsphilosophische Antwort vor, um das bei ihr im Kontext einer Foucault-Analyse aufgebrachte Unterwerfungsphänomen Adoleszenter zu bestimmen. Lüders unterstreicht mit Foucault9 die Subjekt-Produktion: »Das, was als begründendes und sich selbst verständliches Subjekt auftritt, ist nichts weiter als das

6 Julia Kristeva, Der Roman der Adoleszenz, in: dies., Die neuen Leiden der Seele, Hamburg 1994, 154–174, hier 154. 7 King, Aufbruch, 52. 8 Ebd., 59. 9 Vgl. z.B. Michel Foucault: Überwachen und Strafen, Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a.M. 162016 (11994), 250: »In Wirklichkeit ist die Macht produktiv; und sie produziert Wirkliches. Sie produziert Gegenstandsbereiche und Wahrheitsrituale: das Individuum und seine Erkenntnis sind Ergebnisse dieser Produktion.«

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Unterschiedliche Zugänge zu biblischen Texten mit Jugendlichen

Ergebnis einer diskursiven und technologischen Praxis.«10 Dem so diskursiv formierten und geschlossenen Subjekt selbst sei genau jene Widerstandsfähigkeit, jene EntUnterwerfung nicht mehr zuzutrauen: »Genau so wenig, wie das Subjekt die Normen begründet, denen es selbst unterworfen ist, genau so wenig kann es der Ausgangspunkt für die Möglichkeit sein, diesem Kreislauf der Unterwerfung zu entkommen.« Und Lüders formuliert das Problem neu und deutlich schärfer als King: »Das Problem, das sich hier stellt, besteht in der Frage, wie in diesem unhintergehbaren, scheinbar totalitären System der Machtpraktiken überhaupt noch Veränderungen und Subversionen denkbar sind. Übertragen auf die Frage nach Bildung hieße das Problem: Wie ist ein Bildungsgeschehen möglich, wenn das Subjekt keine Grundlage für Veränderung, Kreativität und Autonomie bildet?«11

Eine mögliche Antwort auf dieses »wie« (und hier lässt sich die Analogie zum Thema dieses Bandes lesen: Wie lassen sich biblische Texte produktiv rezipieren …?) findet sich bei Jacques Rancière, der auf Emanzipation setzt. Rancière versucht, die Auflösung des schulischen Lehr-Lernverhältnisses als die Auflösung eines autoritären (= polizeilichen) Verhältnisses zu denken. Sein Ideal ist ein Lernen ohne die permanente Reproduktion von Überlegenheit und Unterlegenheit. Ein autoritäres Verhältnis nämlich reproduziere eine Logik der Differenz zwischen den Lehrenden, die über Wissen verfügen und den Lernenden, die Wissen erhalten sollen. Rancière sieht hier grundsätzlich pater-

nalistische, entmündigende Strukturen wirksam. Was gemeinhin als »Lernprozess« verstanden wird, produziere nicht nur Wissenszuwachs, sondern auch Ungleichheit, denn Lehrende wissen nicht nur, was den »Unwissenden« noch unbekannt ist, sie wissen auch, wie man es wissen kann; zu welcher Zeit, an welchem Ort und nach welchem Lehr- oder Bildungsplan. Die Praxis des Erklärens ist nach Rancière ein Prozess der Verdummung, denn er reproduziere ein Verhältnis der Zweiteilung: Da wären die Wissenden, die erklären und die Dümmeren, denen etwas erklärt wird: diese Konstellation stabilisiert ein Verhältnis der Unterordnung, der Verdummung nach Rancière, der »Subjektproduktion«, wie Foucault sagen würde. »Man muss die Logik des Erklärsystems umdrehen. Die Erklärung ist nicht nötig, um einer Verständnisunfähigkeit abzuhelfen. Diese Unfähigkeit ist im Gegenteil die strukturierende Fiktion der erklärenden Auffassung der Welt. Der Erklärende braucht den Unfähigen, nicht umgekehrt. Er ist es, der den Unfähigen als solchen schafft. Jemandem etwas erklären heißt, ihm zuerst zu beweisen, dass er nicht von sich aus verstehen kann. Bevor die Erklärung ein Akt des Pädagogen ist, ist sie der Mythos der Pädagogik, das Gleichnis einer Welt, die in Wissende und Unwissende geteilt ist, in reife Geister und unreife Geister, fähige und unfähige, intelligente und dumme.«12 10 Jenny Lüders, Bildung im Diskurs. Bildungstheoretische Anschlüsse an Michel Foucault, in: Ludwig A. Pongratz u.a. (Hg.), Nach Foucault. Diskurs- und Machtanalytische Perspektiven der Pädagogik, Wiesbaden 2004, 50–67, hier 55. 11 Ebd. 12 Jacques Rancière, Der unwissende Lehrmeister, Fünf Lektionen über die intellektuelle Emanzipation, Wien 22009 (12007), 16f.

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Rancières Gegenprogramm zur »Verdummung« ist die Emanzipation: Emanzipation verstanden als Durchkreuzung der Logik der Herrschaft der Lehrenden. Zwar könne der Mensch sehr wohl einen »Lehrmeister« gebrauchen: Dann, wenn der Wille nicht stark genug ist – der Lehrmeister habe aber lediglich die Aufgabe, ihn auf den Weg zu bringen und dort zu halten – Voraussetzung ist hier nicht nur die Idee der Äquivalenz der Intelligenzen, sondern auch die Emanzipation der Lehrenden selbst, denn »um einen Unwissenden zu emanzipieren muss man selbst emanzipiert sein«13. Allerdings und so unmittelbar einleuchtend Rancières Emanzipations-Idee auf den ersten Blick vielleicht auch klingen mag; sie lässt unproblematisiert, dass sie selbst wieder mit einem starken, nun sogar emanzipierten Subjekt-Begriff arbeitet.14 Damit handelt sie sich die Gefahr ein, höchst sublim die Norm der aktuellen Disziplinargesellschaft zu erfüllen, die ja gerade das emanzipierte, freie Subjekt will. Damit aber wäre in Foucaults Perspektive nichts anderes getan, als die etablierte, normierende Macht weiter gefestigt zu haben. Einen solchen Gedankengang legt Pongratz nahe, wenn er zwar nicht explizit über Rancière, aber so über »Selbsttechnologien« und »freiwillige Selbstkontrolle der Individuen« schreibt: »im Rahmen neoliberaler Gouvernementalität signalisieren Selbstbestimmung, Verantwortung und Wahlfreiheit daher nicht die Grenze des Regierungshandelns, sondern sind selbst ein Instrument und Vehikel, um das Verhältnis der Subjekte zu sich selbst und zu den anderen zu verändern.«15

Dieser Kritik sehr vergleichbar lesen sich die Gegenwartsanalysen Byung-Chul

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Hans, der ähnlich die Ambivalenz von Selbstoptimierung und Freiheit in unserer neoliberalen Gegenwart thematisiert: »Das Leistungssubjekt, das sich frei wähnt, ist in Wirklichkeit ein Knecht. Es ist insofern ein absoluter Knecht, als es ohne den Herrn sich freiwillig ausbeutet.«16 Für den Kontext Schule besonders interessant ist in diesem Zuge Hans Kritik des Smartphones als »Subjektivierungsapparat«, das wie ein Rosenkranz funktioniere: »Sie dienen beide zur Selbstprüfung und Selbstkontrolle. Die Herrschaft steigert ihre Effizienz, indem sie die Überwachung an jeden einzelnen delegiert. Like ist digitales Amen. Während wir Like klicken, unterwerfen wir uns dem Herrschaftszusammenhang [Hervorhebungen im Original].«17 Pongratz’ und Hans Analysen lassen sich als Weiterschreibungen bzw. Aktualisierungen der Machtkritik Foucaults verstehen: Konnte Foucault seine Kritik noch in historischer Perspektive direkt an die Disziplinarmaßnahmen der machthabenden und subjektproduzierenden Instanzen adressieren, werden heute Zusammenhänge und Mechanismen benannt, die sublimer und noch effizienter funktionieren als zuvor. 13 Ebd, 47. 14 So lautet z.B. die Fortsetzung von Rancières Emanzipationssatz ebd.: »Man muss sich selbst als Reisenden des Geistes verstehen, ähnlich allen anderen Reisenden, als intellektuelles Subjekt, das an der gemeinsamen Fähigkeit der intellektuellen Wesen teilhat.« 15 Ludwig A. Pongratz, Unterbrechung, Studien zur kritischen Bildungstheorie, Opladen, Berlin/Toronto 2013, 119. 16 Byung-Chul Han, Psychopolitik, Neoliberalismus und die neuen Machttechniken, Frankfurt a.M. 22016 (12015), 10. 17 Ebd., 23.

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Mit Blick auf die bei Adoleszenten hochwirksamen, aber ambivalenten Mit­spieler wie Emanzipation, Freiheit, Selbstbestimmung, und Subjektsein heute18, mit Blick auf die Normierungsund Selbstunterwerfungsmacht des Smartphones (welches in adoleszenten Gruppen einen unausweichlichen Normierungszwang bedeutet), scheint es geradezu notwendig, die Frage nach dem Wie von Bildungsprozessen (bzw. einer »produktiven Begegnung« mit biblischen Texten) heute neu zu stellen. So müsste wie gesehen eingerechnet werden, dass ein scheinbar stabiler Begriff wie Emanzipation, den Rancière noch undiskutiert positiv besetzt, nicht mehr einfach übernommen werden kann, sondern bereits als Strategieinstrument verdächtig geworden ist. Wie aber – oder Wo denn, wäre die Alternative zu suchen? Die immer noch verführerische Idee eines stabilen und geschlossenen Subjektes verliert mit Foucault erst dann ihre Überzeugungskraft, wenn das Subjekt als – subtil steuerbares – Produkt eines Macht- und Disziplinarprozesses wirklich ernst genommen wird. Ziel kann nur Foucaults »Entsubjektivierung« sein, dient doch sein Schreiben dazu, den »selbstidentischen Subjekten« klar werden zu lassen, warum sie überhaupt glauben, solche zu sein.19 Selbst Pongratz erkennt zwar die Brisanz der Situation nach Foucault, hält aber verwunderlicher Weise – mit einem Kunstgriff – an einer selbstidentischen Subjekt-Idee fest: »Um an der Idee der Autonomie – und mit ihr an der Figur der Selbstbildung, an der Vorstellung einer Identität mit sich selbst oder an einem begründbaren Wissen von der Welt – festhalten zu können, muss man

den Riss im Subjekt mit einem riskanten Schritt ins Imaginäre überbrücken.«20 Anders Lüders, die konsequent in der Spur Foucaults bleibt und die Idee eines selbstidentischen Subjektes verabschiedet, dabei aber eine wichtige Perspektive öffnet: »Bildung im Diskurs ist nicht das Geschehen einer Neubildung von Regeln und Bedingungen, die besser, wahrer, gerechter wären. Sondern Bildung meint die zufällige Bewegung der Brechung, Verschiebung und Öffnung – also die Ereignishaftigkeit des Diskurses in sich selbst«.21

Vergleichbar mit Lüders’ Zufälligkeit, der Brechung22 und Öffnung, liest sich Han, der in einem »Jenseits des Subjekts« das Ereignis, die Umkehr, die Erfahrung23 und die Verwandlung betont: »Im Ereignis spricht man plötzlich eine andere Sprache. Es vollbringt einen Bruch der bishe18 Vgl. hier auch Jenny Lüders, Ambivalente Selbstpraktiken, Eine Foucault’sche Perspektive auf Bildungsprozesse in Weblogs, Bielefeld 2007, die eine ähnliche Reihung vorträgt: »Bildungstheoretisch aufgeladene Konzepte wie ›Autonomie‹, ›Identität‹ und ›Emanzipation‹ müssen vor diesem Hintergrund auf ihre Verstrickung in Machtpraktiken hin befragt werden.«, 125. 19 Vgl. hierzu Nora Sternfeld, Das pädagogische Unverhältnis, Lehren und Lernen bei Rancière, Gramsci und Foucault, Wien 2009, v.a. 95–99. 20 Pongratz, Unterbrechung, 164f. 21 Lüders, Bildung, 66. 22 Die auch Pongratz unterstreicht; sein Buch heißt »Unterbrechung«. 23 Vgl. hier auch Pongratz, Unterbrechung, 149, der von »ästhetischer Erfahrung« spricht und den Pädagogen als »Künstler« versteht. Allerdings trägt ihn der Gedanke Kants, ebd., 164, »Erfahrungen in einer Einheit zusammenbringen zu können«, was sich mit den Ideen Lüders’ oder Hans sicherlich so nicht verbinden lässt.

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rigen Gewissheit, indem es eine ganz andere Konstellation des Seins ins Leben ruft. Ereignisse sind Kehren, in denen sich eine Umkehrung, ein Umsturz der Herrschaft vollzieht. Ein Ereignis lässt etwas statt-finden, was im vorherigen Zustand ganz fehlte. Im Gegensatz zum Erlebnis beruht die Erfahrung auf einer Diskontinuität. Erfahrung bedeutet Verwandlung [Hervorhebungen im Original].«24

Auch Jörg Zirfas setzt auf den Erfahrungsbegriff und dabei auf den/das Andere als Ausgangspunkt: »Erfahrungen, die mehr sind als bloße Wiederholungen von gelebten und erlebten Momenten, beginnen mit einem »Anderen«, »Fremden«, das die gewohnte Codierung der Erfahrung in Frage stellt: Etwas ist anders, fällt uns auf, stört uns etc. [Hervorhebung im Original]«25. Zusammenfassend lässt sich thetisch formulieren: In Lernsituationen kann der Anschluss an Dispositionen adoleszenter Jugendlicher dann besonders gut gelingen, wenn der geschlossene Subjektbegriff als Zuschreibungsidee im Sinne eines »Du bist …« aufgegeben wird und der offenen, fragilen und ständig neuen Situation der Jugendlichen Rechnung getragen wird. Schulische Lernsettings, die ereignishafte Erfahrungen des Andersseins, z.B. kultureller wie anthropologischer Inhalte und Verhältnisse, möglich machen, haben hierbei den Vorteil, von Jugendlichen besonders aufmerksam, her­ausgefordert identifizierend rezipiert zu werden. Ähnlich fasst es Zirfas: »Das Andere wird in der ästhetischen Erfahrung zum Ausdruck einer möglichen Welt (Musil); die ästhetische Erfahrung dekonstruiert die ontologische Statik, weil mit ihr ›ästhetische Möglichkeits-

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spielräume‹ [Michael Parmentier] verknüpft sind.«26 Die Bereitstellung und Öffnung von »Möglichkeitsspielräumen« oder besser von »Ermöglichungsräumen«, in denen Jugendliche ihre Ich-Entwürfe angesprochen fühlen und ausprobieren können, kann hier genauso als Ziel unterrichtlichen Handelns verstanden werden wie der Transport unterrichtlicher Inhalte (vgl. hierzu die Unterscheidung von prozess- und inhaltsbezogenen Kompetenzen). 2. Szenen des Unverfügens: Erschütterung, Störung, Improvisation

»Ermöglichungsräume« sind immer auch die Räume, die uns auf der Bühne begegnen, jene atmosphärischen Räume des Kinos, des Theaters oder Balletts, Räume, die unsere Imagination einfangen und phantasmatisch, phantasmasierend mit ihr spielen. Aber ist die Bühnensituation nicht auch eine, die unterrichtlichen Konstellationen vergleichbar ist? SchülerInnen sind RezipientInnen von Inhalten, die mehr oder weniger performativ arrangiert von Lehrpersonen choreographiert und meist vom Lehrerpult aus verwaltet werden. Der Unterschied zur Theaterbühne besteht vielleicht nur darin, dass der Regisseur in der Schule 24 Han, Psychopolitik, 103f. 25 Jörg Zirfas, Kontemplation – Spiel – Phantasie. Ästhetische Erfahrungen in bildungstheoretischer Perspektive, in: Gundel Mattenklott / Constanze Rora (Hg.), Ästhetische Erfahrungen in der Kindheit, Theoretische Grundlagen und empirische Forschung, 77–99, hier 78. 26 Ebd., 79.

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mit auf der Bühne steht und das Publikum direkt auffordert, zu Akteuren des Stückes zu werden, das gerade zur Aufführung kommt – da diese das inhaltlich noch nicht voll kennen können, müssen die Regieanweisungen je aktualisiert werden und möglichst deutlich vernehmbar sein. Gabriele Brandstetter hat – für die Bühnensituationen künstlerischer Praxis – anhand von Gerhard Richters »Acht Grau« und der Tanz-Performance »Three atmospheric studies« von William Forsythe verdeutlicht, dass das Verhältnis von Beobachtung und Ereignis nicht nur als eine »sismologie«, eine »Erschütterung des Beobachterstandpunktes, die unentscheidbar mit der Unschärfe des Blicks selbst auf die Aufführung und auf das Unhaltbare des Geschehens konjugiert ist«27, beschrieben werden kann. Brandstetter sieht eine »Immersion des Beobachters ins Beobachtete«28. Sowohl in Richters Glas-Spiegel-Räumen als auch in Forsythes Choreographie bleibt der Betrachter nicht mehr nur der geleugnete und doch vorausgesetzte »anwesende abwesende Betrachter«, sondern steigt umgekehrt und thematisiert mit auf die Bühne. Brandstetter beobachtet den Betrachter »als Figuration in den Verhandlungen eines »Atmosphärischen«, an dem er immer schon unbeteiligt beteiligt ist – in einem Stimmungsraum, der sich stets nur als Fluidum des Imaginären zwischen Betrachter und Performer herstellt.«29 Betrachten wir nun die Betrachter, die selbst Teil einer Performance wurden, kann es im Sinne Brandstetters passieren, dass sich die Bewegung weiterträgt und auch wir selbst Teil dieser so verlängerten Aufführung werden, uns emo-

tional und atmosphärisch in den Stimmungsraum einschreiben und also selbst eine Rolle im »Fluidum des Imaginären« übernehmen. Brandstetter interessiert sich nun mit William Forsythe für das Fallen im Gehen, die Störung, das Kippen, welches zur »Quelle der Bewegungsfortsetzung«30 wird. Ihr geht es um den »›Limbus‹ zwischen körperlichem Wissen und Nicht-Wissen, zwischen Kontrolle und Aussetzen der Kontrollinstanz. Dieses Intervall birgt das Potential einer ›anderen Bewegung‹, in der das Gewusste und Wiederholbare gleichsam eine Zäsur des Verlernens enthalten – ein Mal, das die Möglichkeit öffnet für unbekannte, ›fremde‹ Bewegungen.«31 Der Impetus, der hier sprachlich erfasst wird, ist der der Improvisation, der unwiederholbaren, spontanen Bewegung, hier geht es um die »Durchlöcherung der geläufigen Bewegungsmuster – ein ›Re-membering‹, das sich gerade im Aus-Setzen einer glatten Bewegungserinnerung zu ereignen vermag.«32 Jener Raum der Improvisation, der sich hier bei Brandstetter zwischen Kontrolle und Aussetzen der Kontrollinstanz aufspannt, jener Limbus zwischen Wissen und Nicht-Wissen, jener Bühnenraum des Imaginären zwischen Betrachter und Performer, ist er nicht genauso der adoleszente Möglichkeitsraum: Der Adoleszente als Performer auf der Büh27 Gabriele Brandstetter, Figurationen der Unschärfe. Der (un)beteiligte Betrachter, in: Texte zur Kunst, 15.58 (Juni 2005), 74–79, hier 76. 28 Ebd. 29 Ebd., 79. 30 Brandstetter, Choreographie, 122. 31 Ebd., 126. 32 Ebd., 128.

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ne seiner Imagination zwischen Durchbruch und Niedergang? Und wäre es die Störung, jenes Kippen, das Andere, was die habitualisierten schulischen Abläufe durchlöchert und so als Bewegung aus der Situation herausträgt? Der Anschluss an die prekäre und paradoxe adoleszente Disposition könnte in diesem Sinne der sein, der ein »Re-membering« möglich macht; m.E. nicht nur der Situation, sondern gerade auch der Inhalte, die zur Aufführung kommen. Dieser schulische Theaterraum zwischen »Kontrolle und Aussetzen der Kontrollinstanz« ist ein Raum des adoleszenten Zwischen, ein unbestimmter Raum, ein Raum der erst noch werden muss, was er sein wird. Und ist er nicht genauso ein paradoxer Raum des Zugleich, so, wie ihn Jan Masschelein für das Erfahrungssubjekt, das paradoxe Subjekt zwischen Ausgesetzt- und Unterworfen-Sein beschreibt: »E-dukative Praktiken sind Praktiken des ›Sich-Aussetzens‹ und dienen der Vorbereitung auf eine Erfahrung. Das ›Subjekt‹ solcher Praktiken, solcher Erfahrungen, das Erfahrungssubjekt, das kein Erkenntnissubjekt ist, kann aber nur ein widersprüchliches, ein paradoxes Subjekt sein; es ist erstens paradox, nicht weil es Subjekt und Objekt (von Erfahrung) zugleich ist, sondern weil es sich aufhält zwischen zwei Logiken, der Logik der Aussetzung (›exposition‹) (Gleichheit) und der des Unterworfenseins (Ungleichheit in einem Regime). Es ist aber auch ein paradoxes Subjekt, weil es aktiv ist, um passiv zu sein.«33

Der Adoleszente als paradoxes, offenes Erfahrungssubjekt zwischen Aussetzung und Unterworfensein, zwischen Kontrolle und ihrer Aufhebung im Fluidum zwischen dem eigenen Betrachter- und

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Performer-Sein – m.E. eine mögliche Beschreibung für eine Reihe schulischer Konstellationen. Wie aber hier als Lehrperson agieren, wie Regie führen oder choreographieren, um das zu erreichen, was wir eine »produktive Auseinandersetzung mit Bibeltexten« nennen? Bei allzu viel fluider Unsicherheit im prekären Zwischenraum der Ent-Subjektivation liegt es einerseits auf der Hand, Stanzen der Stabilität in den Raum zu tragen. Für die Arbeit mit dem Bibeltext heißt das gewöhnlich, ihn mit historischkritischer Methodik auf die Dinge hin zu befragen, die er uns mit Sicherheit zu verraten scheint; beispielsweise über einen synoptischen Vergleich Unterschiede zwischen den Evangelisten zu erheben und diese dann theologisch zu deuten. Andererseits besteht aber auch die Möglichkeit, in den biblischen Texten selbst Anschlüsse an Konstellationen herzustellen, mit denen die Jugendlichen existentiell zu tun haben. Im Markusevangelium ließe sich zum Beispiel darauf verweisen, dass Jesus nicht nur in der Wüste (1,12) nach seiner Taufe durch den außergewöhnlichen (1,6) Johannes und Anrufung durch die Himmelsstimme (1,11), sondern auch später immer wieder einsame Orte (1,35 // 6,32 // 6,46) aufsuchte, dass er allein war. Es ließe sich zeigen, dass er nicht nur selbst von seinen Verwandten als »verrückt« (3,21) wahrgenommen wurde, sondern ja auch augenscheinlich »Verrückte« oder scheinbar Tote heilen konnte, was 33 Jan Masschelein, ›Je viens de voir, je viens d’entendre‹. Erfahrungen im Niemandsland, in: Norbert Ricken / Markus Rieger-Ladich (Hg.), Michel Foucault, Pädagogische Lektüren, Wiesbaden 2004, 95–119, hier 109.

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sonst niemand vermochte (5,2.3 // 9, 17.18 // 5,35.41). Er bzw. seine Jünger brachen etablierte Gesetze (2,23 // 7,2) und bekamen dafür von den gesetzesverbundenen Pharisäern immer wieder Ärger. Diese waren deutlich neidisch auf deren Freiheit bzw. die damit verbundene Exousia (»Vollmacht«; vgl. 11,28.29), jene Kraft also, mit der sie ja auch heilen und andere Wunder vollbringen konnten. Weiterhin scheint ihn eine Art ›Bewegung des Herzens‹ ausgezeichnet zu haben; schließlich verweist er immer wieder positiv auf das Herz (11,23 // 12,30.33), beschwert sich über die verhärteten Herzen der andern (3,5 // 6,52 // 7,6 // 8,17 // 10,5) und lässt sich in seinen Splangchna (Eingeweiden; vgl. 1,41 // 6,34 // 8,2 // 9,22 ) so ansprechen, dass er anfängt zu heilen und zu helfen. Er lässt nicht nur die Jünger ihre Familien verlassen, sondern deklariert seine Familie einfach um und ist zum Schluss selbst der im Garten von seinen Jüngern im Stich und am Kreuz von seinem Vater Verlassene (14,37 // 15,34). Jesus heilt durch Berührung (1,31 // 5,23 // 5,41 // 7,33 // 8,22 // 10,13) und wird immer wieder von anderen berührt (3,10 // 5,27.28 // 7,56), die Jesus-Begegnung führt bei anderen zu einem ex-histemi (2,12 // 5,42 // 6,51 // 16,8); zu einem Verlust aller Stabilitäten und Sicherheiten, zu einem Zittern. Es wird durchgängig und ganz regelmäßig von einem Verwundern, Fürchten, Entsetzen und Zittern (vgl. die mehr als 30! Verbindungen mit ekplesso, phobeo, ektambeomai und taumazo) in der Begegnung mit ihm berichtet, Jesus selbst zittert im Garten (14,33). Der Jesus des Markusevangeliums wirkt in solcher Perspektive wie eine Unverständnis und Kopfschütteln erntende Einzelgänger- und Entzugs-Gestalt, die

die Dinge in vielem anders sieht und gestalten will, damit aber nicht einmal von den eigenen Anhängern voll verstanden wird. Er erhält eine phantasmatische Aura (vgl. 9,3), ist nicht zuletzt ein Gespenst (gr. Phantasma in 6,49) auf dem Wasser und lässt sich so wie die Metapher des »Zwischen« selbst übersetzen: Zwischen Leben und Tod, zwischen Tod und Auferstehung, paradoxe Konstellationen, die er immer wieder ankündigt (in 8,31 // 9,31 // 10,33.34), die sich aber auch als Vorwegnahme finden, wenn er an Bord eines Schiffes auf einem Kissen schläft und dann zur Stillung des Seesturmes geweckt (auf-erweckt wird; vgl. das egeiro in 4,38) wird. Die Jesusgestalt des Markusevangeliums lässt sich also genauso zwischen Heilung und Verlust, zwischen Herz und Berührung, zwischen Phantasma und Zittern lesen, wie die Lebensumstände Adoleszenter oder der Lenz Büchners34. Alternativ und ergänzend zu einem Unterricht, der auf stabile, historischkritisch gewonnene Erkenntnisse setzt, ist es also mE. möglich, den Erfahrungsraum Adoleszenter in der intensiven persönlichen Auseinandersetzung mit Bibeltexten zu erweitern. Dazu bieten sich offene, schüleraktivierende Unterrichtsmethoden an, die zu einem verarbeitenden, poetischen (im Sinne von poiéo – machen), kreativen Umgang mit den Texten aufrufen: Zur Umsetzung in

34 Siehe hier z.B. folgende Passage: »Es war, als ginge ihm was nach, und als müsse ihn was Entsetzliches erreichen, etwas, das Menschen nicht ertragen können, als jage der Wahnsinn auf Rossen hinter ihm.«, Georg Büchner, Werke und Briefe, Karl Pörnbacher u.a. (Hg.), München 1988, 138.

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Standbildern und szenischen Sequenzen, zur Um-Schreibung von Textsequenzen in Gedichte, Reden, Briefe, Appelle, Gebete, Andachten, Dialoge, Rap-Songs, Streitgespräche. Letztere lassen sich auch gut im Stile eines Debattier-Clubs als rednerischer Schlagabtausch zweier Seiten organisieren (zB. Pharisäer vs. Jünger – Thema: Ist das Gesetz für die Menschen gemacht oder sind die Menschen für das Gesetz gemacht? – vgl. Mk 2,27). Auch sind künstlerische Umsetzungen in Karikaturen, Comics, Bildern, Plakaten, selbst Tänzen oder musikalischen Produktionen denkbar. Ermöglichungs- oder Möglichkeitsräume entstehen insgesamt leicht in allen freien Formen der Textverarbeitung, in allem selbst Gemachten und Gestalteten, dort, wo sich das »Fluidum des Imaginären« geschützt entwickeln und bewegen kann, dort, wo Jugendliche letztlich selbst zu Performern und Akteuren auf den Bühnen werden, die sie sich selbst gestalten dürfen: Hier also entstehen m.E. Möglichkeiten der Textbegegnung, die Jugendliche herausfordern und mit dem Text als Inhalt existentiell verbinden: In der aktuellen Jesus-Rede für den Schutz der Umwelt, der Kranken, der Flüchtlinge, im Beschwerdebrief des aktualisierten Paulus über die, die schon alles aufgegessen haben, bevor die, die noch auf den Feldern dieser Welt arbeiten mussten, kommen konnten, im Dankespsalm über das Glück, das gerade passiert ist, in der Trauerrede am offenen Grab des entschwundenen Jesus, in der Rettungs-Szenerie um den aus Langeweile aus dem Fenster gefallenen Jüngling Eutychus, im nächtlichen Ringen mit seinem Gott oder der unsichtbaren Ansprache aus einem heiligen Busch,

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in der Beschwerde über Heuchelei und herzlose Rituale der Gottesleute, die das Wichtigste vergessen haben … . Entscheidende Voraussetzung ist, dass Lehrpersonen die Kontrollfunktion hier abgeben und in einen Zuspruch (Vera King) zu den Werken der Jugendlichen umlenken, die sie nun nicht mehr nach Maßstäben von gut und schlecht oder wahr und falsch bewerten können, sondern für die allein ihre Offenheit und ihr Wohlwollen nötig sind – vielleicht so weit, sich berühren oder erschüttern zu lassen, so wie die Jugendlichen das mitunter selbst erlebt haben. Der Unterricht, der die Möglichkeitsräume schulischer Wirklichkeit als Erfahrungsräume für adoleszente Jugendliche zu nutzen versucht, müsste auf das etablierte Strukturmuster des mehr oder weniger gut choreographierten Nachbuchstabierens bereits gesicherter Wahrheiten verzichten und den Bühnenraum so für die Jugendlichen öffnen, dass sie zu Mitgestaltern der eigenen Aufführung werden. Gelingt dies in den Leerstellen, Anknüpfungspunkten und möglichen Bewegungsimpulsen biblischer Texte, werden diese dadurch zu neu belebten Welten, in denen adoleszente Jugendliche ihre Sprache finden: Zum Beispiel in der Verlassenheit der Jesusfigur, in ihrer scheinbar verrückten Performance, die alles riskiert. In diesem Sinne würde die Bewegung Jesu im Markusevangelium zur Schrift und die Schrift zur Erinnerung, zur Choreographie: »Gehen ist ein Modus des Lesens und Schreibens chrono-topischer Karten, deren Punkte sich in der Bewegung zusammenlesen – eine Schrift, die den Vorgang selbst, der sie ermöglicht hat, unsichtbar macht. Jede Schrift von Bewegung, auch als Schreib-

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Unterschiedliche Zugänge zu biblischen Texten mit Jugendlichen

und Lesebewegung selbst, ersetzt und besetzt, wird zur Spur, die an die Stelle der Praxis tritt.«35 Hier wird deutlich, dass die unterrichtliche Reflexion nach der Performance auch die Reflexion über die Spur, die Choreographie ist, die eigene Choreographie, sowie die, die hier die des Markus war. Choreographie »ein Schreiben an der Grenze von Anwesenheit und Nicht-mehr-da-Sein: eine Schrift der Erinnerung an jenen bewegten Körper, der nicht präsent zu halten ist.«36 Die Reflexion mit den Jugendlichen nach einer solchen Performance findet notwendiger Weise als Reflexion darüber statt, die offene Struktur (Kristeva), ihre Potentialität des Überschreitens (King), ihre eigene Umkehr und Verwandlung als Ereignis (Han) mitunter als Erschütterung und Störung (Brandstetter) erlebt zu haben. Jenseits also der etablierten Praxis des Erklärens und der hierarchi-

schen Überwachung springen so in der Schule andere Räume der Erfahrung auf. Räume, die keine Unterwerfung mehr zulassen, Räume, die m.E. Räume der Improvisation oder auch des »Theologisierens mit Jugendlichen« heißen könnten, da sie im Angesicht des Unverfügbaren keine hierarchische Ordnung mehr kennen. Bibeltexte können auf diese Weise die glattfließende, effiziente und taxonomische Lernmaschinerie stören – und damit gleichzeitig die Subjektproduktion. Sie können zu Orten der Pause, der Erschütterung, des Nichtwissens und des Bruches (vgl. den Riss des Tempelvorhangs in Mk 15,38) werden und damit die siegreichen Ordnungen hinterfragen, die im Schulalltag als so selbstverständlich gelten. 35 Brandstetter, Choreographie, 120. 36 Ebd., 102f.

Troi-Boeck Jugendliche Kommunikation über die Auferstehungsgeschichte …

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Nadja Troi-Boeck »Dann kann man das Gesicht wieder anschauen, ich leb wieder!« – Jugendliche Kommunikation über die Auferstehungsgeschichte und bibeldidaktische Konsequenzen 1. Einleitung

Was machen Jugendliche mit Bibeltexten? Das ist die Leitfrage meiner Studie zur Bibelrezeption Jugendlicher. Mit Jugendlichen aus neun Konfirmationsklassen wurde für dieses Projekt die Auferstehungserzählung aus dem Johannesevangelium (Joh 20,1–18) gelesen. Die Jugendlichen haben anschliessend darüber diskutiert. Die Jugendlichen waren zwischen 15 und 16 Jahren alt, denn in der Schweiz findet die Konfirmation in der 9. Schulstufe statt. Es waren Klassen sowohl aus städtischen, aus Agglomerations- als auch aus Dorfgemeinden aus vier verschiedenen Kantonen der Schweiz. Der Bibeltext diente als themengenerierender Input für die Diskussion. Die Einstiegsfrage in jede Diskussionsrunde war: »Wie kommt der Text bei Euch an?« Die Interviews und die Auswertungen wurden mithilfe der dokumentarischen Methode durchgeführt, weil mich die Handlungspraxis der Jugendlichen interessiert: Wie stellen sie Sinn her im Umgang mit dem Bibeltext? Die dokumentarische Methode, die nach dem dokumentarischen Sinngehalt fragt, ist hier besonders hilfreich.1 Mit dem Beobachtungsinstrumentarium dieser Methode war es mir möglich zu eruieren, wie die Jugendlichen Deutung herstellen, welche Perspektiven und Orientierungen diese Praxis beeinflussen und welche Erfah-

rungen ihren Orientierungen zugrunde liegen.2 Die dokumentarische Methode wurde insbesondere für Gruppendiskussionen entwickelt, da kollektive Erfahrungen und Orientierungen sichtbar werden und vor allem die Alltagskommunikation zur Geltung kommt. Deshalb wird es möglich, anhand des Materials aufzuzeigen, wie Jugendliche über die Auferstehungsgeschichte kommunizieren. 2. Jugendliche Deutungsweisen

In den Gruppendiskussionen nähern sich die Jugendlichen dem Text auf sehr vielfältige Weise. Es kommt auch nicht ausschließlich eine Annäherungsweise vor, sondern meistens finden sich in allen Gruppendiskussionen verschiedene Formen von Deutungsprozessen. Drei dieser Deutungsweisen möchte ich im Folgenden anhand von Diskussionsausschnitten vorstellen. 2.1 Metaphorische Deutung

Die Interviewgruppe B2 besteht aus neun Jugendlichen einer Konfklasse in einer 1 Vgl. Arnd-Michael Nohl, Interview und dokumentarische Methode. Anleitungen für die Forschungspraxis, Wiesbaden 42012, 4. 2 Vgl. ebd., 1.

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Agglomerationsgemeinde im Kanton Zürich. An der Diskussion sind vor allem vier Jugendliche aktiv beteiligt, während die anderen mehrheitlich zuhören und nur wenige Sätze sagen. Der folgende Abschnitt hat das Thema Schweißtuch. Bevor es zum gemeinsamen Deutungsversuch der Jugendlichen kommt, hatte Thomas als Verständnisfrage in die Runde eingebracht, was das überhaupt mit dem Schweißtuch soll. Thomas bezieht sich bei seiner Frage auf die Verse 6 und 7 des Johannestextes: 6Nun kommt auch Simon Petrus, der ihm folgt, und er ging in das Grab hinein. Er sieht die Leinenbinden daliegen 7und das Schweißtuch, das auf seinem Haupt gelegen hatte; es lag nicht bei den Leinenbinden, sondern zusammengerollt an einem Ort für sich. Die Interviewerin gibt einige Erklärungen in die Gruppe. Darauf folgt der sehr beeindruckende Deutungsprozess3: I: Was meint ihr? Was bedeutet das? Livia: Ich denk, weil es auf dem Gesicht liegt Renato: Ich denk, weil es etwas ist, was zum Tod gehört Tania: * °ja voll° Renato: * weils damals zum Tod gehört hat, und weil er jetzt gelebt hat Thomas: * Ja und dann hat er es wie auf die Seite gelegt Renato: Ja, also wie als Zeichen, ich lebe I: mmh Renato: So als Demonstration auch wieder, ja das – Livia: und es deckt ja auch das Gesicht ab und ich meine (.), ohne Gesicht ist man etwas Renato: * man will ja nicht das Gesicht von den Toten sehen (.) eben und damit man jetzt (.) ja damit kann man das Gesicht jetzt wieder anschauen – Thomas: Einfach, dann kann man das Gesicht wieder anschauen, ich leb wieder

Renato: Genau. Tania: * °Ja° Livia: Das Gesicht ist etwas, was man eigentlich immer anschaut und hat und so und etwas, das man (.) etwas vom wichtigsten Thomas: * das Gesicht repräsentiert dich Livia: Ja (.) und ich mein, das zeigt man also (.) ja. °Es ist etwas, was man nicht sehen will, ein totes Gesicht.°

Der Abschnitt ist diskursiv sehr dicht. Das ist an den schnell aufeinander folgenden, teilweise sich überschneidenden Antworten zu erkennen. Die Jugendlichen sprechen vom zusammengerollten Schweißtuch als Metapher für die Auferstehung. Sie bringen eigenständig den Begriff Zeichen ein. Die Jugendlichen befinden sich hier inmitten einer theologischen Diskussion, die auch schon Theologen vor 500 Jahren beschäftigt hat, denn auch Calvin sprach von den Leinenbinden als Zeichen.4 Sie versuchen die Bedeutung des Schweißtuches zu konstruieren, indem sie im Diskurs zwei Sphären einteilen: »tot« und »lebendig«. Das Schweißtuch gehört in die Sphäre »tot«. Es deckt das Gesicht der Toten ab. Ein totes Gesicht wollen sie auch nicht sehen. In die Sphäre »lebendig« gehört das offene Gesicht, das den Menschen repräsentiert und ausmacht. Deshalb gehört für sie das aufgedeckte Gesicht von Jesus und das zusammengerollte Leinentuch in die Sphäre »lebendig«. Aus der Beschreibung des zusammengerollten

3 Zeichenerläuterung: @ Lachen; (.) Pause; nein Betonung/laut; °leise° leise gesprochen; * Überlappung oder direkter Anschluss beim Sprecher/innenwechsel; (?) unverständlich; Ja::: Dehnung, Ab- Abbruch. 4 Vgl. Klaus Wengst, Das Johannesevangelium, 2. Teilband: Kapitel 11–21, Stuttgart 2001, 278.

Troi-Boeck Jugendliche Kommunikation über die Auferstehungsgeschichte …

Tuches lesen sie einen performativen Akt Jesu heraus, der als Zeichen für die Auferstehung das Tuch abnimmt, zusammenrollt und zur Seite legt. Da die Jugendlichen, wenn sie über das lebendige und tote Gesicht sprechen, im Präsens reden, beziehen sie die Deutung nicht nur auf eine Vergangenheit, sondern das Bild des lebendigen und des toten Gesichts ist für sie heute zugänglich, und sie verknüpfen es deutlich mit ihren eigenen Empfindungen. Trotzdem ist die Frage zu stellen: Sind sie wirklich persönlich engagiert in diesem Deutungsdiskurs? Ist es für sie ein existentieller Diskurs? Verändert sich für sie etwas durch diese Deutung. Oder machen sie es, weil es die Interviewerin erwartet? In einem Gespräch außerhalb der Interviewsituation und des Konfirma­ tionsunterrichts würden die Jugendlichen sicherlich nicht über die Bedeutung des Schweißtuches nachdenken. Sie machen es, weil sie wissen, dass die Interviewerin es erwartet. Dies wird an einer Stelle des Interviews sogar explizit geäußert. Sie haben in die Aufgabenstellung eingewilligt und versuchen diese jetzt zu erfüllen. Aber hat sich durch die Deutung für sie etwas verändert? Damit stellt sich die Frage: Was erwarten wir als Theolog/innen / als Lehrpersonen wenn wir mit Jugend­ lichen theologisieren, was ist unsere Zielsetzung? Auf diese Frage wird später noch einmal zurückgekommen. 2.2 Rationalisierende Deutung

Die häufigste Deutungsstrategie, die in allen Diskussionsgruppen vorkam, ist die rationalisierende Deutung. Es kann deshalb von einer Strukturanalogie in den

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Diskursen bezüglich dieser Deutungsweise gesprochen werden. Die Jugendlichen argumentieren in den Diskursabschnitten, in denen sie rationalisierende Deutungen vertreten, in einem Orientierungsrahmen der Rationalität. Das folgende Beispiel zeigt stellvertretend für alle Interviews, was mit rationalisierender Deutung gemeint ist. Die Jugendlichen aus der Gruppe Ue2 sprechen darüber, was sie glauben. Die Gruppe ist eine Konfirmationsklasse aus einem Dorf des Kantons Thurgau, es sind acht Jugendliche. Bis auf ein Mädchen, das Kopfschmerzen hat, beteiligen sich alle aktiv am Diskurs. Cédrick: Generell glaub ich dran, dass es sonen Mensch gegeben hat, der auf das gepasst hat und wo sehr überzeugt gewesen sein muss. Wie heißt das [schnipst mit dem Finger] in seiner, ja, Ideologie war. Dario: Jetzt fängts an. [ironisch über Cédrick, weil er die Erklärerrolle in der Gruppe hat.] Cédrick: * Aber das es Gottes Sohn war und er einfach Leute anfassen konnte und sie sind geheilt gewesen (.) und auferstanden ist (.) bisschen schwer. Dario: * das glaub ich auch nicht (.) Ja, ich glaub 5000 hat er nicht (?) [unverständlich weil M8 sehr laut dazwischen spricht] Melanie: * wahrscheinlich haben halt einfach alle gesagt, joa eben das ist halt (.) der Mensch und dann hat er sie angefasst und dann haben sie selber geglaubt. Dann haben sies selber geglaubt – [hebt ihr Stimmer stark in dem Moment, als Cédrick dazwischenspricht] Cédrick: * dann hats einfach so aus Euphorie so Melanie: dann haben sies selber geglaubt, so hej jetzt bin ich gesund und das haben wir doch schon mal gehabt. Das gibts manchmal. Cédrick: * so Placebo Dario: * genau Placebo

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Unterschiedliche Zugänge zu biblischen Texten mit Jugendlichen

Nach der Frage der Interviewerin, an was sie denn eigentlich glauben, nehmen Cédrick und Dario Stellung zur Jesusgeschichte. Cédrick bringt die Proposition, dass zwischen Jesus als historischer Person und dem göttlichen Jesus zu unterscheiden ist. Er macht eine Trennung zwischen der Sphäre »göttlich/übernatürlich« und »historisch/natürlich«. Dario validiert diese Unterscheidung und setzt an, weitere Bibelerzählungen der Sphäre »göttlicher Jesus« zuzuordnen. Es ist die Sphäre, die für die Jugendlichen nicht glaubhaft ist. Cédrick hatte das in seiner Elaboration impliziert und Dario expliziert dann mit: Das glaub ich auch nicht. Melanie unterbricht Dario lautstark. Sie elaboriert die Proposition in Form einer Erzählung, indem sie versucht, sich vorzustellen, wie es den Menschen mit Jesus ergangen ist. Cédrick expliziert ihre Ausführungen dann mit der Aussage: Es war Euphorie, die die Menschen dazu gebracht hat, an den göttlichen Jesus zu glauben. Damit haben sie das Geschehen um Jesus und seine Jünger rationalisiert und mit dem Begriff Euphorie erklärt. Melanie bringt als weitere Exemplifizierung die Wunderheilungen Jesu. Wiederum expliziert Cédrick die Erzählung mit dem Begriff Placebo. Dadurch rationalisiert er die Wunderheilungen und verknüpft sie außerdem mit seinem Alltagswissen. Dario validiert dieses Beispiel und macht daraus die Konklusion des Diskurses. Es war Placebo, deshalb haben die Heilungen funktioniert und die Leute haben Jesus für göttlich gehalten. Für sie ist es damit geklärt, warum die Menschen zum Glauben an Heilung und Auferstehung gekommen sind. Sie machen aber auch klar, dass die Sphäre »göttlich« auch rational erklärbar und nicht übernatürlich ist, weshalb sie

auch nicht daran glauben. Verhandeln die Jugendlichen die Erzählung im Orientierungsrahmen Rationalität, geht es für sie gar nicht um Glaubensfragen, eine Sphäre des Übernatürlichen lehnen sie ab. In diesem Abschnitt ist ebenso ein Deutungsprozess erkennbar, der strukturanalog in mehreren Interviews zu finden ist: Ein biblisches Motiv, hier eine Heilung, wird rationalisiert und danach mit Alltagswissen verknüpft: Euphorie und Placeboeffekt. Dieses Alltagswissen teilen alle Jugendlichen in der Gruppe, denn die Konklusion beendet den Abschnitt, ohne dass sie in Frage gestellt wird. In anderen Interviewgruppen verknüpfen Jugendliche die Auferstehung mit anderem Erfahrungswissen, wie z.B. Erzählungen über Nahtoderlebnisse. Für die Jugendlichen ist diese Verknüpfung dann kein Argument für die Auferstehung, sondern dafür, dass Jesus eben nicht richtig tot war, sondern z.B. nur bewusstlos oder einen Herzinfarkt hatte o.ä. Auf diese Weise rationalisieren die Jugendlichen die Auferstehung und sie wird für sie erklärbar. Die rationalisierenden Deutungen sind oft die ersten Deutungsversuche in den Diskussionen. Die Jugendlichen nähern sich dem Text auf eine Weise, wie sie es vermögen, auch von ihrem entwicklungspsychologischen Stand her. Das rationale Denken haben sie sich entwicklungspsychologisch gesehen gerade erarbeitet und zeigen nun, dass sie es beherrschen. Außerdem wird das kognitivrationale Verstehen von Texten bei einem Blick in den Lehrplan 215 von der Schule 5 Der Lehrplan 21 wird zur Zeit in der Schweiz implementiert. Vgl. z.B. die Berner Umsetzung von 2016: http://be.lehrplan.ch/index. php?code=a|1|11|6|1|2 [Zugriff: 11.5.2017].

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her gefördert. Obwohl die Interviewsituation kein Schulsetting ist, evoziert auch das Setting des Konfunterrichts diese Deutungsweise. Hier liegt m.E. eine Lernaufgabe sowohl für den schulischen Religionsunterricht als auch für die kirchliche Unterweisung: Jugendliche sollen erfahren, dass es nicht die Erwartungshaltung der Lehrperson ist, nur rationalisierende Deutungszugänge zu suchen, sondern dass es andere, ebenso berechtigte Zugänge und Deutungsweisen gibt. 2.2.1 Deutung durch die Trennung von »früher« und »heute« Die Jugendlichen bemerken in den Diskussionen, dass sie nicht an die Erzählung glauben, vor allem, wenn sie mit dem Orientierungsrahmen Rationalität an die Erzählung herangehen. Aber sie denken, dass früher an die Geschichten geglaubt wurde. Diese Diskrepanz überwinden sie, indem sie eine Sphäre »früher« und eine Sphäre »heute« unterscheiden. Dies ist eine Konsequenz aus der rationalisierenden Deutungsstrategie der Jugendlichen. Sie findet sich in allen Interviews. Zum Beispiel sagt Livia in B2: »[…] weil ich denke sie haben noch nicht so (.) Ich meine wir sind jetzt und das ist voll die Vergangenheit. Und die haben dann noch nicht so (.) eben wir lesen das überall, man sieht in Film und Fernsehen, man hört. ich glaube, die haben das ja alles noch nicht gehabt und die wissen gar nicht alles, was vor ihnen passiert ist und dann können sie gar nicht unterscheiden, was jetzt realistisch ist und was nicht. °das denk ich°« Die Sphäre »früher« ist für die Jugendlichen mit Unwissen verknüpft, aber auch mit der Vermutung, dass es

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den Menschen damals so schlecht ging, dass sie etwas brauchten, woran sie glauben können. Ein Junge sagt: »Die hatten nicht mal fliessend Wasser«. Es ist für sie eine Zeit, in der durch mündliches Weiterzählen vieles hinzugedichtet wurde und manchmal wird auch die Vermutung geäußert, dass früher andere Regeln gegolten haben könnten als heute, also dass damals noch Wunder passierten, heute nicht mehr. Die biblischen Texte gehören für sie generell in die Sphäre »früher«. Die Sphäre »heute« ist die Lebenswelt der Jugendlichen, sie ist verbunden mit Wissen und der Möglichkeit, wissenschaftliche Beweise zu finden. Die Sphären stehen häufig unverbunden neben einander. Die Sphäre »früher« ist für die Jugendlichen mit starken Fremdheitsgefühlen verbunden. Deshalb bleiben ihnen die Bibeltexte auch häufig sehr fremd. Dadurch ist für die Jugendlichen der Zugang zu den Texten schwierig, wenn sie es nicht irgendwie schaffen, eine Verknüpfung zwischen den Sphären zu finden. Eine für die Jugendlichen hilfreiche Verknüpfung ist die Feststellung, dass auch »früher« nicht alle an die Auferstehung geglaubt haben. Immer wieder finden sich indirekte und direkte Hinweise auf die Erzählung vom ungläubigen Thomas. Für mich unerwartet, ist sie bei vielen Jugendlichen noch bekannt. Sie ermöglicht es den Jugendlichen, diese Verbindung von früher und heute herzustellen, denn wie der ungläubige Thomas hätten sie eben auch gerne Beweise. 2.3 Spielerische Deutungsprozesse – »Es muss nicht alles Sinn machen«

Wenn die Jugendlichen in den Gruppendiskussionen merken, dass sie den

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Unterschiedliche Zugänge zu biblischen Texten mit Jugendlichen

Freiraum haben, auch ein wenig neben der Spur zu denken, keine bestimmten Ansprüche erfüllen zu müssen und Raum haben, ihrer Fantasie freien Lauf zu lassen, dann machen sie auch ganz andere Verknüpfungen zwischen Text- und Alltagswelt. Insbesondere Jungen scheinen die Verknüpfungen mit Filmen und Computerspielen hilfreich zu finden. Es ist ihre Erfahrungswelt, in der sie sich auskennen, in der »Wunder« und Fantastisches möglich sind, nicht nur Rationales. Filme, die in den Diskussionen vorkommen, sind Zombiefilme, der Film »Lucy/Limitless«, in dem es um die Erweiterung des Bewusstseins geht, »127 hours«, in dem es um das Überleben eines Verunglückten geht und den sie vermutlich ähnlich blutig finden, wie sie sich die Kreuzigung vorstellen. Implizit werden auch Computerspiele wie »World of Warcraft« (WoW) angesprochen, durch Erwähnungen von Barden, Druiden etc. auch wiederum nur von den Jungen. Für die Jungen scheint die Auferstehung mit dieser Welt der Filme und Computerspiele vermittelbar zu sein. Hier können sie einen Link herstellen zwischen einer Textwelt, die ihnen sehr fremd ist, und der eigenen Erfahrungswelt. Dass hier eine Geschlechtstypik vorliegt, scheint mir vor allem mit den von den Jungen genannten Filmen und den Computerspielen zu tun zu haben, die für die 15und 16-jährigen Mädchen nicht ansprechend sind. Die Mädchen verknüpfen die Texte häufiger nicht konkret mit Filmen, aber mit Motiven aus Film oder Literatur, wie Auferstehung als Erfüllung einer unerfüllten Aufgabe oder auch mit Geistergeschichten. Letzteres bewirkt in der Gruppe H2 bei Johanna sichtlich einen Perspektivenwechsel:

Johanna: Wenn man so an Geister denkt, dass man so‘n Geist sieht, kann es ja wirklich sein, dass Jesus wirklich mal (.) gelebt hat. Alessia: Jetzt sagst du er lebt. Und vorhin hast du gesagt, es hat ihn nicht gegeben. Johanna: Ja ich weiss, aberAlina: Darf man seine Meinung nicht ändern? Johanna: Gell.

3. Schwierigkeiten bei der Annäherung an den Text

Es gibt aber auch Situationen, die den Jugendlichen die Annäherung an den Text nicht nur erschweren, sondern teils verunmöglichen. Eine Schwierigkeit ist der Umgang mit Orientierungsdilemmata. 3.1 Orientierungsdilemmata Dario: nja, und er soll auch glauben ohne zu sehen Cédrick: genau das mit dem fass mich nicht an Melanie: * was dumm ist irgendwie so Dario: * wieso Melanie: * glauben ohne zu sehen. also Kirche erzählt was, dann glaubs auch Cédrick: du musst halt Melanie: *@.@ ist voll unnötig. Cédrick: ich glaub, für die’s echt (?) Melanie: * das ist das gleiche, das ist das gleiche wie früher, wo sie einfach gesagt haben: ja, geht zahlen und dann seid ihr befreit von euren Sünden und nachher haben sie damit einfach schön gelebt Cédrick: auf dem bauen ja die Religionen auf, auf Glauben Melanie: das ist voll scheisse Dario: eh siehst du Gott? ich würd zwar meinen, du glaubst auch dran, sonst wärst ja nicht da [im Konfunti] Melanie: joa Dario: ich glaub nicht, dass du ihn siehst Melanie: @es geht @2@

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Cédrick: also, also (?) wars nicht Dario: also wenn wir ihn sehen würden – Melanie: * nein, aber ich find, ich denke, meine eigenen Sachen denk ich schon, aber man sollte eigentlich mehr oder weniger alles im Leben hinterfragen können [die letzten beiden Wörter etwas zögerlich] Dario: hinterfragen schon Melanie: ja, eben, du glaubst auch nicht einfach alles, wenn ich dir irgendetwas sage Cédrick: aber was ist das jetzt Dario: * ja sicher Melanie: @ja:: mega Cédrick: aber was hat das mit Sehen zu tun? Melanie: was? Cédrick: siehst ihn [Gott] jetzt oder siehst ihn nicht Melanie: nein logisch. ich meine es gibt vielleicht schon Sachen, die man vielleicht einfach glaubt. aber (.) du hinterfragst auch fast alles, Cédric. Cédrick: nja Melanie: eben

In diesem Diskursausschnitt deutet sich ein Orientierungsdilemma an. Während Cédrick und Dario über die Frage, was Glauben ausmacht, nachdenken, argumentiert Melanie gegen einen blinden Glauben/Gehorsam. Für sie ist das ein negativer Horizont, der positive Horizont ist, sich selbst eine Meinung bilden zu können. Sie weiss, dass Cédrick und Dario ihr da auch zustimmen würden. Hier wird eine kollektive Erfahrung sichtbar, dass in der Gruppe darüber Einigkeit herrscht, dass es wichtig ist, sich selbst eine Meinung zu bilden und kritisch sein zu dürfen. Aber die zwei Argumentationsstränge bewegen sich in unterschiedlichen Orientierungsrahmen, weshalb Melanie immer wieder Oppositionen macht. Während Melanie einen Orientierungsgehalt hat, der mit: »Selbständigkeit/selbständigem Denken« bezeichnet werden kann,

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diskutieren Dario und Cédrick in einem Orientierungsrahmen »Vertrauen«, der durch die Geschichte vom ungläubigen Thomas eröffnet wird. Im größeren Interviewzusammenhang wäre hier sichtbar, dass Melanies Argumentation im Orientierungsrahmen »Rationalität« zu verorten ist. Cédrick bemerkt diese unterschiedlichen Rahmungen, denn er hinterfragt, was Melanies Einwand mit seinen Äußerungen zu tun hat. Melanie versucht sogar eine Synthese: Es gibt Dinge an die man einfach glaubt, aber kritisches Hinterfragen muss es auch geben. Das wird von Cédrick auch validiert, allerdings zeigt die ironische rituelle Konklusion der Jungen, die am Schluss folgt (nicht mehr abgedruckt), dass die Synthese für sie noch nicht überzeugend war. Der Abschluss zeigt, dass sie keine andere Ebene als die Ironie finden, um den Diskurs zu beenden. Dadurch ziehen sie ihre Argumentation ins Lächerliche und distanzieren sich davon. Ein Lernthema wäre hier, wie ein vertrauender Glaube und selbstständiges Denken miteinander vereinbar wäre. Wie also dieses Dilemma zwischen Rationalität und Vertrauen verhandelt werden kann bzw. den Jugendlichen zu zeigen, dass es ein sehr berechtigtes Dilemma ist, mit dem sich schon viele TheologInnen auseinandergesetzt haben, wäre hier für die Jugendlichen hilfreich. 3.2 Fremdrahmungen und Machtkommunikation

In den Gruppen, auch in den geschlechtshomogenen, kommt es immer wieder zu Hierarchisierungen. Die Jugendlichen werten untereinander, wer mehr sagt, manchmal auch wer Besseres sagt. Diese

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Unterschiedliche Zugänge zu biblischen Texten mit Jugendlichen

Asymmetrien erschweren die Diskurse, da sich so einige nicht mehr trauen, ihre Meinungen einzubringen. Wenn die Gruppen dann die Diskussionssituation selbst zusätzlich noch asymmetrisch empfinden, dann ist eine Annäherung an den Text kaum noch möglich. I: Ich stelle noch einmal die Frage. Wie kommt der Text bei euch an? Was denkt ihr dazu? Anton: Ich denke nicht viel. Gustav: @ Leo: Wie heisst das: Ich weiss nicht viel, aber davon eine ganze Menge. Anton: Nein, ich glaube, ich habe auch den Bezug von daheim aus nicht zur Bibel, also interessiert es mich auch nicht. Entweder man hört nicht zu oder es interessiert @ einen halt einfach nicht. Aber ich denke, es wäre anders, wenn ich den Zugang von daheim her hätte. Wenn zu Hause jemand sagen würde, am Abend noch zwei, drei Seiten zu lesen. @ Keine Ahnung.

Die Jungengruppe H1 mit fünf Jungen aus einem kleinen Dorf im Kanton Bern empfindet schon die Einstiegsfrage »Was denkt ihr dazu?« als Fremdrahmung. Das zeigt die Proposition von Anton: »Ich denke nicht viel.« Anton fasst die Frage der Interviewerin, die keinen propositionalen Gehalt hat, als solche auf und reagiert im Sinne von: Ich bin ein anderer als Du denkst. Damit macht er deutlich, dass er nicht auf die Frage eingehen will. Die Interviewerin kann also kaum das Gespräch mit den Jungen eröffnen. Es zeigt sich im Verlauf, dass die Jungen alles, was mit Kirche, aber auch mit Schule, teilweise auch mit ihren Familien zu tun hat, als Zwang empfinden und sich dadurch unter Druck fühlen. Sie empfinden die

Aufforderung der Interviewerin als Machtkommunikation und wehren sich dagegen, indem sie versuchen, die Interviewerin in einen Tiefstatus zu bringen. Sie disziplinieren sich im Laufe der Diskussion aber auch immer wieder selbst, wodurch es doch noch zu einem Gespräch kommen kann. Die Jungen besuchen alle die Realschule. Vermutlich steht hier ihre kollektive Erfahrung im Hintergrund, dass ihnen das Denken auch gar nicht sehr zugetraut wird und jetzt will eine Interviewerin, die zudem einem ganz anderen Milieu angehört, dass sie über einen Text nachdenken. Wenn die These, dass unterschiedliche Milieus sich abstoßen, herangezogen wird, ist allein durch die verschiedenen Milieus schon eine Asymmetrie in der Situation deutlich.6 Das Verhalten der Jungen verstärkt diese Asymme­ trie zusätzlich. Die zweite Gruppe aus demselben Dorf, eine Mädchengruppe, ebenfalls alle in der Realschule, reagieren gänzlich anders, obwohl auch sie die Aufgabe der Interviewerin als Fremdrahmung empfinden. Bei den Mädchen wird im Gespräch deutlich, dass sie ein schwaches Selbstbild haben. Sie trauen sich die Deutungen gar nicht zu, sprechen deshalb hypothetisch und verfallen immer wieder in ironische Geplänkel. Indem sie den Text ins Lächerliche ziehen, können sie auf Distanz zur Aufgabe gehen und gewinnen Sicherheit, weil sie zeigen, dass sie immerhin Witze machen können.

6 Vgl. Claudia Schulze / Eberhard Hauschildt / Eike Kohler, Milieus praktisch. Analyse- und Planungshilfen für Kirche und Gemeinde, Göttingen 2011, 256f.

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4. Was ist theologische Kommunikation Jugendlicher?

Die beiden letzten Beispiele werfen noch einmal ganz neu die Frage danach auf, wann ein Diskurs als theologisch bezeichnet werden kann. Der Theologiebegriff, als Reflexion über Glauben und religiöse Vorstellungen verstanden7, muss sich m.E. einer wichtigen Anfrage stellen: Erwarten wir ein bestimmtes Niveau dieser Reflexion von den Jugendlichen, das vielleicht einige Jugendliche von vorn­ herein ausschliesst? Für die Mädchen aus H2 war es ein riesiger Fortschritt, zu einer Deutung zu kommen. Sie ringen ansonsten im Gespräch lange damit, den Text überhaupt zu erschließen und versuchen, Schubladen zu finden, um diesen irgendwie einzuordnen und zugänglich zu machen. Das entspricht der Grundstufe für den Umgang mit Texten nach Lehrplan 21, die sie als Realschülerinnen erreichen müssen: »Die Schülerinnen und Schüler können einzelne Textteile in eine logische Abfolge bringen, um den Aufbau des literarischen Textes zu verstehen.«8 Wenn wir von theologischer Kommunikation Jugendlicher erwarten, dass sie über den Glauben reflektieren, dann müssen wir auch hinterfragen, was Reflexion auf verschiedenen Bildungsniveaus bedeutet. Die Mädchen zeigen zumindest, dass sie die Handlung der Erzählung rekonstruieren, können. Aber sie kommen auch zu Deutungen. Diese sind natürlich nicht vergleichbar mit Deutungen aus Gruppen von Schülern der Sek II oder Gymnasiast/innen. Ich plädiere deshalb dafür, dass die Definition von theologischer Kommunikation Jugendlicher über den zentralen Aspekt

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der Reflexionsfähigkeit noch einmal überdacht wird. Denn diskriminieren wir nicht automatisch immer die Jugendlichen, die von ihrem Bildungs- und Entwicklungsstand nicht das Reflexionsniveau haben, das wir erwarten, damit es ein »theologischer« Diskurs sein kann? Letztlich wäre es hilfreicher, insbesondere in Unterrichtssituationen, zu analysieren, ob wir als Lehrpersonen genug geschützten Rahmen bieten, damit den Jugendlichen ohne Angst, für dumm gehalten zu werden, ein Reflektieren auf ihrem Niveau über Bibel und Glauben möglich ist. Ist der Diskurs der Realschulmädchen nicht dann schon theologisch, wenn sie merken: Wir können, wir dürfen auch etwas zum Bibeltext sagen, wir dürfen Fragen stellen? Theologisieren als »Einüben und Wachhalten von Fragestellungen über Glauben, die Vielgestaltigkeit von Wirklichkeit und christliche Deutungen«9 wie es die konstruktivistische Religionsdidaktik vorschlägt, wäre für die Realschulmädchen ein erreichbares Kompetenzziel. So könnten sie lernen, zumindest eigene Frage-Positionen zu beziehen und die Frage, ob sie wirklich theologisch kommunizieren, erübrigt sich. Dafür muss ein Lernsetting geschaffen werden, das nicht nur einer Beachtung der Gruppendynamik bedarf (also 7 Vgl. Heinz Streib, Jugendtheologie als narrativer Diskurs, in: Thomas Schlag / Friedrich Schweitzer (Hg.), Jugendtheologie. Grundlagen – Beispiele – kritische Diskussion, Neukirchen-Vluyn 2012, 155–164. 8 Vgl. LP21 D.6.A.1 http://be.lehrplan.ch/index. php?code=a|1|11|6|1|1 [Zugriff 02.03.2017] 9 Burkhard Möring-Plath, Bildungsstandards im Religionsunterricht, in: Religion heute 59/2004, 171f.

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Unterschiedliche Zugänge zu biblischen Texten mit Jugendlichen

etwa ob ein Gruppenmitglied abgewertet wird etc.), sondern auch, welche Asymmetrien in der Gesprächssituation durch unterschiedliche Milieus, Lernniveaus, Fremdrahmungen etc. herrschen – oder wie es Kersten Reich als Grundpostulat systemisch-konstruktivistischer Didaktik formuliert: »Es ist besonders wichtig, Machtpositionen, die in jedem pädagogischen System enthalten sind, reflektierbar zu halten.«10 Neben der Frage des Reflexionsniveaus stellt sich die Frage, was theologische Themen sind. Die Themen, die die Jugendlichen diskutieren, finden sich durchwegs auch in den exegetischen Kommentaren zum Johannesevangelium. Qualifiziert nicht allein die Themenwahl die Diskussionen schon als theologisch? Sie bewegen den Gottesgedanken außerdem immer wieder hin und her, egal ob ablehnend, zweifelnd oder fasziniert. Auch die Unverfügbarkeit sowohl endgültiger Deutungen, also auch Gottes selbst, kommt zum Ausdruck und sei es dadurch, dass die Jugendlichen implizit oder explizit äußern, dass sie keine Sprache für Gott zur Verfügung haben. Außerdem habe ich bereits darauf verwiesen, dass die Jugendlichen den Text deuten, weil es ihre Aufgabe, jedoch nicht unbedingt ihr persönliches Interesse war. Dies wirft eine dritte Anfrage an unseren Theologiebegriff auf: Nennen wir jugendliche Kommunikation über den Bibeltext nur dann theologisch, wenn es für die Jugendlichen existentielle Bedeutung hat? Ich denke, selbst in einem Setting des Konfirmationsunterrichts kann es letztlich nicht darum gehen, dass die Jugendlichen durch das Lesen von Bibeltexten zu einem Bekenntnis kommen. Muss sich die Theologizität von

jugendlicher Kommunikation über einen Bibeltext nicht vor allem daran messen lassen, ob wir Theolog/innen / Lehrpersonen ihnen einen Ermöglichungsraum schaffen, um ihr »Eigenes« zum Text zu konstruieren, ohne es gleich einzurastern, zu messen und zu kontrollieren? Geht es nicht vielmehr darum, dass wir als Expert/innen ermöglichen, dass – Jugendliche sich überhaupt auf Bibeltexte einlassen können, – sie merken können: es gibt verschiedene Deutungsmöglichkeiten für die Bibeltexte, nicht nur einen rationalen, – sie lernen können, ihre eigenen Deutungen zu reflektieren und zu hinterfragen, – sie Ungereimtheiten und Ambivalenzen, die sich durch verschiedene Deutungen oder durch Nicht-Verstehen und durch die Unverfügbarkeit Gottes ergeben, aushalten können, – sie sich von den Texten faszinieren lassen können? Das sollten die Kriterien für die Theologizität des jugendlichen Theologisierens sein, nicht das Reflexionsniveau der Jugendlichen. Hier sehe ich die Hauptaufgabe und das Ziel sowohl in einem schulischen, aber ebenso in einem kirchlichen Unterrichtssetting. Wenn Jugendliche in diesem Ermöglichungsraum das Theologisieren als eine Form des theologischen Arbeitens erlernen können, bietet sich vermutlich auch der Raum, dass die Gespräche über Bibeltexte für die Jugendlichen existentiell werden können. 10 Kersten Reich, Systemisch-konstruktivistische Pädagogik. Einführung in die Grundlagen einer interaktionistisch-konstruktivistischen Pädagogik, Weinheim/Basel 62010, 268.

Hendrickx / Kummer / Dillen Godly Play und die Bibelmüdigkeit flämischer Jugendlicher

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Jeroen Hendrickx / Armin Kummer / Annemie Dillen Godly Play und die Bibelmüdigkeit flämischer Jugendlicher1

1. Einleitung

Eine wichtige Frage in der Bibeldidaktik ist der altersgerechte Zugang zu biblischen Texten im Religionsunterricht. Gerade für heranwachsende Jugendliche in der Sekundarstufe besteht hier reges Interesse, geeignete didaktische Modelle zu entwickeln. Gleichzeitig steht diese Suche, zumindest im regionalen Kontext Flanderns, im Schatten einer vermeintlichen »Bibelmüdigkeit«, die Bieringer und Pollefeyt an flämischen Schulen bereits im Jahre 2005 konstatiert und beschrieben haben.2 Damit spitzt sich die bibeldidaktische Frage in Flandern darauf zu, ob bestimmte didaktische Methoden im Religionsunterricht erfrischend genug sind, dass Schülerinnen und Schüler ihre Bibelmüdigkeit überwinden und sich den Inhalten biblischer Texte neu öffnen können. Dieser Beitrag möchte ganz spezifisch nachfragen, ob die aus dem angelsächsischen Kulturraum stammende Godly Play-Methode solch erfrischende Begegnungen mit biblischen Geschichten bei flämischen Schülern ermöglichen kann. Den Ausgangspunkt der Überlegungen bilden die ersten Ergebnisse einer empirischen Studie des Religionslehrers Jeroen Hendrickx, die er an einer katholischen Schule der Sekundarstufe in Flandern durchgeführt hat. Bei Godly Play handelt es sich um eine Methode der Religionspädagogik, die die

Gefühle und die aktive Vorstellungskraft von Kindern ansprechen möchte. Es geht dem Erfinder John Berrymann vor allem darum, die Entwicklung persönlicher Spiritualität im Kindesalter zu fördern und Kinder an den Gebrauch einer christlichen Sprache zu gewöhnen.3 Der ursprüngliche Einsatzort der Methode war die anglikanische Sonntagsschule. Die Methode erfreut sich aber mittlerweile großer internationaler Beliebtheit, auch unter Erwachsenen. Seit 2011 werden zertifizierte Godly Play-Erzähler auch in Flandern – also dem niederländisch-sprachigen Teil Belgiens – ausgebildet. Flandern ist heute geprägt von einer mittlerweile stark säkularisierten Bevölkerung vor dem Hintergrund der jahr1 Dieser Aufsatz ist eine leicht überarbeitete Version von Annemie Dillen & Jeroen Hendrickx, Experiences of Godly Play in Flanders. Research with Secondary School Adolescents, in: Rune Oystese / Martin Steinhäuser (Hg.), Godly Play – European perspectives on practice and research. Gott im Spiel – europäische Perspektiven auf Praxis und Forschung, Münster 2018 (im Druck). 2 Didier Pollefeyt and Reimund Bieringer, »De toekomst van de bijbel. – Bijbelmoeheid: oorzaken en mogelijke remedies«, in: Johan De Tavernier (Hg.), De bijbel en andere heilige boeken: verhalen om van te leven?, Leuven 2004, 19–47. 3 Jerome Berryman, Teaching Godly Play: How to Mentor the Spiritual Development of Children, Denver 2009.

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Unterschiedliche Zugänge zu biblischen Texten mit Jugendlichen

hundertelangen kulturellen Hegemonie der römisch-katholischen Kirche. Dies ist zum einen wichtig, um eine realistische Perspektive auf die Distanz zwischen dem konfessionellen und kulturellen Milieu, in dem Godly Play entstanden ist, und dem Kontext, in welchem es in Flandern eingesetzt werden soll, zu entwickeln. Zum anderen ist zu berücksichtigen, dass das Phänomen der Bibelmüdigkeit vielleicht auch mit den historisch-kulturellen Gegebenheiten in Flandern zu tun hat. Eine Übersättigung mit biblischen Geschichten mag hier durchaus in der noch ziemlich weitverbreiteten Teilnahme flämischer Jugendlicher in den kirchlichen Initiationsriten (Erstkommunion und Firmung) begründet liegen. Bestimmte neutestamentliche Perikopen werden im kirchlichen und schulischen Kontext immer wieder auf Kosten beispielsweise alttestamentlicher Erzählungen wiederholt und oft mit singulären, moralistischen Botschaften belegt.4 Hendrickxs Forschungsprojekt wollte vor allem herausfinden, ob und in welcher Form Bibelmüdigkeit in flämischen Schulen der Sekundarstufe weiterhin nachweisbar ist, und ob die Godly PlayMethode dieser entgegenwirken kann. Aus den empirischen Resultaten dieser einen Fallstudie lassen sich keine belastbaren Schlüsse ziehen oder verallgemeinbare Aussagen treffen. Die zugrundeliegende Auseinandersetzung mit einer ganz spezifischen Gruppe von Schülerinnen und Schülern mag aber dennoch das akademische Nachdenken über die Chancen und Herausforderungen der Godly Play-Methode im Besonderen und der Bibeldidaktik für Jugendliche im Allgemeinen stimulieren.5 Schülerinnen und Schüler wurden hinsichtlich ihrer

Vorstellungen und Erfahrungen mit der Bibel und zu ihrer Erfahrung mit einer Godly Play-Sitzung befragt. Es ging hier vor allem darum, die Aufgeschlossenheit und Begeisterungsfähigkeit der Schülerinnen und Schüler zu messen. Viele andere Variable, die bei der Reflektion über die Angemessenheit der Godly Play-Methode im Schulunterricht auch berücksichtigt werden müssten, konnten in dieser Befragung nicht berücksichtigt werden. 2. Studiendesign

Diese Studie wurde als explorative Fallstudie auf Basis eines gemischten Methodenansatzes konzipiert. Sie bestand aus einer Kombination von Online-Befragung mit quantitativen und qualitativen Fragen, Teilnehmender Beobachtung während der Godly Play-Sitzungen, einer Online-Befragung im Anschluss an diese Erfahrung und aus Diskussionen mit zwei Fokusgruppen. Jeroen Hendrickx, der die Studie durchführte, ist Religionslehrer in einer katholischen Schule in Flandern, wo er die fünfte und sechste Klasse der Sekundarstufe unterrichtet. Die Schüler sind 17–18 Jahre alt.

4 Didier Pollefeyt and Reimund Bieringer, »The Role of the Bible in Religious Education Reconsidered. Risks and Challenges, in: Teaching the Bible,« International Journal of Practical Theology 9, no. 1 (2005), 117–139. 5 Vgl. Nadja Troi-Boeck, »Empirische Zugänge: Lesen Jugendliche Bibel? Vorüberlegungen zu einer empirischen Untersuchung der Bibelrezeption Jugendlicher«, in: Nadja Troi-Boeck / Andreas Kessler / Isabelle Noth (Hg.), Wenn Jugendliche Bibel lesen: Jugendtheologie und Bibeldidaktik, Zürich 2015, 23–34.

Hendrickx / Kummer / Dillen Godly Play und die Bibelmüdigkeit flämischer Jugendlicher

Im Allgemeinen verfolgt die Schule in allen Fächern, einschließlich des Religionsunterichts, eine stark kognitive Didaktik. Im November 2015 hatten 261 Schülerinnen und Schüler von Hendrickx an einer Online-Umfrage mit offenen und geschlossenen Fragen über ihre Haltung gegenüber Bibel und Religion teilgenommen. Nach Teilnahme an einer Godly Play-Sitzung im Januar 2016 wurden die Schülerinnen und Schüler der zwei Klassen, die diese Erfahrung mitgemacht haben, gebeten, in einer weiteren Online-Umfrage ihre Reaktionen zu beschreiben. Die Ergebnisse beider Online-Umfragen wurden zur Vorbereitung der Diskussionen mit den Fokusgruppen herangezogen, die aus jeweils acht zufällig aus den beiden Klassen ausgewählten Schülerinnen und Schülern bestanden und am 16. und 17. März 2016 stattfanden. 3. Ergebnisse

3.1 Religiosität und christliches Selbstverständnis in Flandern

Die Ergebnisse der ersten Online-Umfrage mit den 261 Schülerinnen und Schülern sind vergleichbar mit älteren Umfrageergebnissen unter flämischen Schülerinnen und Schülern.6 31% der Jugendlichen identifizierten sich als katholisch oder christlich. Die meisten anderen gaben an, keiner Religion anzugehören oder Atheisten zu sein. 24% gaben an, dass sie an Gott glaubten. Der Großteil der Schülerinnen und Schüler gab an, über sehr wenig Wissen über die Bibel oder das Christentum

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zu verfügen. Nur eine geringe Zahl gab an, während der Kindheit biblische Geschichten in der Familie gelesen zu haben (insgesamt 9% antworteten mit »manchmal«, »oft« oder »täglich«). Offene Fragen über religiöse Praxis und Interessen erklären einen Teil des Desinteresses an der Bibel: Bei einigen verbindet es sich mit einem Desinteresse an der christlichen Tradition, bei anderen mit einem Mangel an Interesse für Literatur und Lesen. Hierbei ist zudem zu beachten, dass die römisch-katholische Kirche in Flandern, verglichen mit protestantischen Traditionen, der Bibel ohnehin nur eine recht periphere Rolle im religiösen Leben der Gläubigen beimisst. Auch dies mag ein Grund für die geringe Vertrautheit der Schülerinnen und Schüler mit der Bibel sein. Wenn nun also die Hypothese von der Bibelmüdigkeit als ein mangelndes Interesse Jugendlicher an der Bibel verstanden wird, dann bestätigt diese erste Online-Studie diesen Sachverhalt. Die Ergebnisse bestätigen jedoch nicht, dass Jugendliche mit Bibeltexten übersättigt sind oder sich gegen deren Auslegung wehren. Es ist daher zu erwarten, dass alternative Zugänge zur Bibel, die sich von einer reinen Textlektüre abheben, durchaus Möglichkeiten eröffnen, bei Jugendlichen Intresse für biblische Inhalte zu wecken. Ein solcher alternativer Zugang, der mit den Schülerinnen und Schülern in dieser Studie getestet wurde, ist die Godly Play-Methode.

6 Didier Pollefeyt et al., Godsdienstleerkrachten uitgedaagd: jongeren en (inter)levensbeschouwelijke vorming in gezin en onderwijs, Leuven 2003.

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Unterschiedliche Zugänge zu biblischen Texten mit Jugendlichen

3.1 Godly Play als alternativer Zugang zu biblischen Inhalten

Im Januar 2016 hielt ein zertifizierter flämischer Godly Play-Trainer je eine vollständige Godly Play-Sitzung (ca. 100 Minuten) in zwei Klassen. In der fünften Klasse (17-Jährige) widmete man sich dem Barmherzigen Samariter, in der sechsten Klasse (18-Jährige) der Geschichte von Abraham und Sarah. Das Gleichnis vom Barmherzigen Samariter war bewusst gewählt, da die Schülerinnen und Schüler damit bereits aus dem Religionsunterricht vertraut waren. Die Ergebnisse der daran anschließenden Gruppendiskussionen werden im nächsten Absatz vorgestellt. Jede Diskussion dauerte etwa eine Stunde, wurde anschließend transkribiert und mit Hilfe von Nvivo10 ausgewertet. 3.1.1 Inhaltliche Aspekte Im Allgemeinen kann man sagen, dass in der fünften Klasse die Rezeption des Inhalts während des Ergründungsgesprächs (der »Wondering«-Phase) stark von dem Ansatz geprägt war, mit dem der Inhalt zuvor vermittelt worden war. Viele Schüler nahmen aktiv an dieser Phase teil und verwendeten bei ihrer Reflektion der Geschichte vom Barmherzigen Samariter eine auffallend intellektuelle Herangehensweise. Aus dem größeren persönlichen Engagement der Sechstklässler folgerten wir, dass diese die Godly Play-Methode mehr schätzten als die Fünftklässler. Dieser Eindruck wird durch die Ergebnisse der Online-Umfrage im Anschluss an die Sitzung und durch die Kommentare in den Fokusgruppen unterstützt. Auf der anderen Seite beteiligten sich an der

»Wondering«-Phase weniger Sechstklässler als Fünftklässler. In der Fokusgruppe der Fünftklässler unterstrichen die Schülerinnen und Schüler, dass sie die Geschichte vom Barmherzigen Samariter bereits häufiger gehört hatten. Bei einigen führte die Godly Play-Erfahrung zu Verunsicherungen, da die Methode suggerierte, dass alternative Deutungen möglich seien. Für die Sechstklässler war die Geschichte von Abraham und Sarah neu. Beim Versuch, die Geschichte nachzuerzählen, machten einige der Schülerinnen und Schüler Detailfehler. Ein Sechstklässler gab an, dass es das erste Mal sei, dass er bei einer Bibelgeschichte richtig zuhört habe. Dies läge daran, dass die Geschichte in einfachen Begriffen erzählt wurde, unterstützt durch Gesten und Objekte. Auch das eher langsame Erzähltempo hätte seine Aufmerksamkeit gesteigert. Verschiedene Sechstklässler bestätigten, dass sie der Erzählung sehr aufmerksam gefolgt waren. Ein Schüler erklärte, dass ihm die Einfachheit der Sprache erlaubte, den Erzählfluss der Geschichte zu verfolgen, auch wenn er verübergehend abgelenkt war. Insgesamt scheint die Neuheit der Erzählung einen positiven Effekt gehabt zu haben. Die Schülerinnen und Schüler in beiden Fokusgruppen schätzten es, dass die Geschichte für ihre Lebenswirklichkeit Bedeutung habe. Es war zwar nicht immer klar, worin diese Bedeutung bestand, aber zumindest empfanden sie die Geschichte als relevant. Ein Teilnehmer forderte, der Erzähler hätte auf noch mehr Elemente in Bezug zur Lebenswirklichkeit der Schüler hinweisen sollen. Ein Anderer schlug vor, dass Fotos Teil des Materials der Spiel- und Kre-

Hendrickx / Kummer / Dillen Godly Play und die Bibelmüdigkeit flämischer Jugendlicher

ativphase hätten sein können, um den Schülerinnen und Schülern bei der Suche nach Querverbindungen zu aktuellen Themen zu helfen. Die Fünftklässler waren in der Lage, die eher kognitiv-intellektuelle Annäherung an das Gleichnis vom Barmherzigen Samariter, die sie bereits zuvor im Unterricht erlebt hatten, mit der Godly Play-Sitzung zur selben Geschichte zu vergleichen. In der Fokusgruppendiskussion gaben sie an, dass sie durch die Godly Play-Methode stark affektiv an der Geschichte beteiligt wurden und dass dabei ihre eigenen Ansichten und Gefühle gefragt waren. Einige von ihnen fanden es jedoch auch schwierig, sich auf dieser persönlicheren Ebene einzubringen. Die Schülerinnen und Schüler erkannten, dass eine Pluralität von Interpretationen einer Geschichte möglich ist. Ein Fünftklässler benannte dies sogar als die Hauptbotschaft der gesamten Godly Play-Sitzung: Dass verschiedene Deutungen nebeneinander existieren können und es eben nicht nur einen »richtigen« Blick auf die Geschichte gäbe. Einige der Schüler hatten jedoch Schwierigkeiten mit der Vorstellung, dass unterschiedliche Interpretationen möglich sind. Sie hätten es bevorzugt, wenn der Erzähler eine »richtige« Interpretation vorgegeben hätte. Ihnen war die Methode letztendlich »zu offen«, sagten sie. Andere widersprachen dieser Ansicht und hießen es gut, dass der Erzähler keine eigene Deutung vorgegeben hätte. In der Online-Befragung unmittelbar nach der Godly Play-Sitzung, haben nur acht (von 39) Studenten positiv (mit vier, fünf oder sechs auf einer Sechs-PunkteLikert-Skala) die Aussage unterstrichen, »ich hatte das Gefühl, dass der Erzähler

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versucht, mir eine bestimmte Interpretation der biblischen Geschichte aufzuzwingen«. Doch in der Fokusgruppe mit der fünften Klasse drückten einige der Teilnehmer das Gefühl aus, von der Geschichtenerzählerin dazu gedrängt worden zu sein, anders zu denken. Einige der Schülerinnen und Schüler interpretierten dies dahingehend, dass der Erzähler die eigenen Ansichten nicht respektiere oder verstehe. 3.1.2 Experientielle Aspekte Im Hinblick auf die Gesamterfahrung schätzten die Fokusgruppenteilnehmer die Ruhe und die Stille der Godly PlaySitzung. Weiter äußerten sie sich positiv über die freundliche Art des Erzählers und die Atmosphäre des Willkommenseins.7 Einige hätten sich als Geschichtenerzähler den eigenen Lehrer gewünscht. In der Umfrage reagierten alle Teilnehmer positiv (vier, fünf oder sechs auf einer Sechs-Punkte-Likert-Skala) auf die Aussage »ich fühlte mich willkommen und die Stimmung war schön«. Ein häufiger Kommentar in beiden Fokusgruppen war, dass die Methode ein bisschen »kindlich« sei und dass sie für Oberstufenschüler angepasst werden sollte. Am kindlichsten wurde das Material für die kreative »Response«Phase (»Spiel- und Kreativphase«) bewertet. Nach der Geschichte und dem Ergründungsgespräch haben die TeilnehmerInnen immer Gelegenheit, sich auszusuchen, auf welche Weise sie das Gehörte verarbeiten möchten, z.B. bas7 Am Anfang einer Godly Play-Sitzung werden alle Teilnehmer immer einzeln und nacheinander in den Raum eingeladen und dürfen ihren eigenen Platz im Sitzkreis finden.

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Unterschiedliche Zugänge zu biblischen Texten mit Jugendlichen

teln, malen, schreiben, meditieren, oder mit den Objekten, die zur Darstellung der Erzählung dienen, zu spielen. Im Fokusgruppengespäch meinten einige, dass das Malen doch eher für Jüngere wäre. Andere fügten aber hinzu, dass es ihnen Spaß gemacht habe. Einige empfanden die gesamte »Response«-Phase als zu kindlich. Weitere Elemente, die als kindlich betrachtet wurden, waren das Sitzen mit Kissen auf dem Fußboden, das Anhören einer so einfachen Geschichte und die Art, wie der Erzählerin während der Geschichte mit den Objekten »spielte«. Die Schülerinnen und Schüler gaben zu verstehen, dass sie zur Teilnahme an weiteren Godly Play-Sitzungen bereit wären, aber nicht zu häufig. Sie könnten sich eine »abgespeckte« Version vorstellen, die sich aufs Erzählen und »Wondering« konzentriere und dabei auf »Response« und »Fest«8 verzichte. Das »Fest« wurde von einigen als Zeitverschwendung gewertet. Die Zeit für das »Fest«, so schlugen einige vor, könnte man dem reflektierenden Gespräch über das gemeinsam Erlebte widmen. 3.2 Bibelmüdigkeit?

Die Schülerinnen und Schüler der sechsten Klasse wurden gefragt, ob sich ihre Einstellung zur Bibel nach der Godly Play-Erfahrung verändert habe. Ein Junge in der Fokusgruppe antwortete, dass dies für jüngere Kinder wohl so sein könnte. Ein Mädchen antwortete, dass sie auch weiterhin die Bibel nicht lesen würde. Einige erklärten, dass die Godly PlayErfahrung wirklich mal etwas Anderes war, und ihnen »einen positiveren Eindruck von der Bibel« gegeben habe. Die

Erfahrung war »lebhaft und fröhlich«, gab eine Sechstklässlerin an. Anstelle eines Buches »mit veralteten Begriffen und langen Sätzen« könne man so »die Bibel auf eine interessante Weise präsentieren«, die »nicht so langweilig« sei, fügte ein anderes Mädchen hinzu. Ein Junge fand, dass für ihn gewöhnlich die Sprache der Bibel zu schwierig sei, dass Godly Play sie aber verständlicher mache. Ein Mädchen bemerkte, dass viele denken, die Bibel sei einfach »nicht wahr«. Ihre Erfahrung mit Godly Play helfe ihr, positiver über die Bibel zu denken. Einige der Fünftklässler betonten in der Fokusgruppe, es wäre sehr gut gewesen, dass die Geschichte erzählt und nicht gelesen wurde. Ein Mädchen erklärte, sie würde die Bibel zwar auch weiterhin nicht zu Hause lesen, da sie »altmodisch, langweilig und schwierig« sei, aber sie fände es interessant, sich in der Schule eine Geschichte anzuhören und mit anderen darüber zu diskutieren. In der Online-Befragung nach der Godly Play-Sitzung gaben viele Schülerinnen und Schüler an, dass sich ihre Einstellung zur Bibel nicht verändert habe, aber dass sie ein tieferes Verständnis für diese bestimmte Geschichte gewonnen hätten. Einige Schülerinnen und Schüler äußerten sich positiv darüber, einmal etwas Neues mit der Bibel zu machen sowie über die kreativen Elemente und über die Intensität der Erfahrung. Sie schätzten die Gelegenheit, darüber zu sprechen, was eine biblische Geschichte 8 Am Ende einer Godly Play-Sitzung wird nochmal ein Kreis gebildet, um gemeinsam eine Kleinigkeit zu essen oder trinken. Dies wird in liturgischer Analogie zur Eucharistiefeier »Fest« genannt.

Hendrickx / Kummer / Dillen Godly Play und die Bibelmüdigkeit flämischer Jugendlicher

heute bedeuten kann und zu entdecken, dass verschiedene Deutungen möglich sind. Solche Aspekte könnten die Offenheit für die Bibel fördern. 4. Diskussion und Schlussfolgerungen

Angesichts dieser Ergebnisse muss man sich die Eingangsfragen noch einmal kritisch vergegenwärtigen. Zum einen wollten wir wissen, ob Godly Play eine angemessene Methode der Bibeldidaktik im Religionsunterricht der Sekundarstufe darstellt. Zum anderen wollten wir wissen, ob es sich dabei auch um ein Mittel handelt, der Bibelmüdigkeit, also dem mangelnden Interesse an der Bibel, unter flämischen Jugendlichen entgegenzuwirken. Es ist festzuhalten, dass dies zwei ganz unterschiedliche Fragen sind. Was die erste Frage betrifft, mögen uns die australischen Autoren Grajczonek und Truasheim als Gesprächspartner dienen.9 Die beiden warnen, dass Religionslehrer vorsichtig sein müssen, wenn sie Godly Play in der Grund- oder Vorschule einsetzen wollen, da es mit den Lern- und Lehrstilen dieser Schularten nicht kompatibel sei. Wir müssen uns also fragen, ob diese Argumente auch für den Kontext der flämischen Sekundarschule gelten. 4.1 Godly Play im Religionsunterricht

Das zentrale Argument von Grajczonek und Truasheim lautet, dass der Godly Play-Lernprozess zu offen sei. Bei Godly Play kann man zwar durchaus etwas lernen, aber es werden keine klaren Ziele for-

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muliert oder verfolgt. Wenn man streng der Godly Play-Logik folgen würde, wäre die Formulierung von Zielen sogar kontraproduktiv für eine »echte» Godly PlayErfahrung, behaupten die Autoren. Für Grajczonek und Truasheim liegt ein Problem des Godly Play-Prozesses im Fehlen einer klaren Positionierung des Erzählers während der »Wondering«-Phase. Der Erzähler beschränke sich auf ein Protokoll offener Fragen und die Teilnehmer dürften dabei erwidern, was sie wollen. Dieses Alleine-Lassen des Lernenden kann man kaum als eine Form von unterstütztem Lernen als seine dialogische Art der Interaktion betrachten, so Grajczonek und Truasheim. Der Erzähler stellt Fragen, die Teilnehmer antworten (oder bleiben stumm) – doch der Erzähler gibt den Teilnehmenden kein Feedback. Während Grajczonek und Truasheim einen interventionistischeren Geschichtenerzähler in der Rolle des Moderators bevorzugen würden, erklärt der deutsche Religionspädagoge Peter Müller, warum er hingegen die Rolle des Erzählers als zu zentral betrachtet.10 Die Fragen sind bereits vorgegeben und obwohl gut ausgebildete Godly Play-Erzähler diese je nach Gruppe und Kontext anpassen können, besteht die Gefahr, dass ein Geschichtenerzähler zu eng an diesen Fragen haf-

9 Jan Grajczonek and Maureen Truasheim, »Implementing Godly Play in Educational Settings: A Cautionary Tale,« British Journal of Religious Education (2015), 1–15. 10 Peter Müller, »Godly Play – hermeneutisch, exegetisch und religionspädagogisch betrachtet,« in: Anton A. Bucher u.a. (Hg.), »Man kann Gott alles erzählen, auch kleine Geheimnisse«: Kinder erfahren und gestalten Spiritualität, Jahrbuch für Kindertheologie Bd. 6, Stuttgart 2007, 97.

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Unterschiedliche Zugänge zu biblischen Texten mit Jugendlichen

tet, so dass zu wenig Raum für die Fragen der Teilnehmer oder für gegenseitigen Dialog und gemeinsames Suchen bleibt. Sowohl Grajczonek und Truasheim als auch Müller vermissen ein richtiges Gespräch, in dem sich Geschichtenerzähler und Teilnehmer gegenseitig beeinflussen, einander ergänzen und korrigieren, und somit dialogisch das Verständnis des Textes und den Lernprozess vertiefen. Der Kritik am Mangel von Zielen kann man auf der Grundlage der Godly Play-Literatur und auf Basis unserer empirischen Daten begegnen. Godly Play will Menschen dabei helfen, mit biblischen Geschichen vertraut zu werden und christliche Sprache zu gebrauchen.11 Beides sind auch Ziele der Religionspädagogik. Beides wurde auch von den befragten Schülerinnen und Schülern bestätigt. Sie erfuhren vor allem, dass Bibeltexte für ihre Lebenswirklichkeit durchaus relevant sein können. Der Erfinder von Godly Play, Jerome Berryman, erklärt auch, dass die Teilnehmer mit verschiedenen Elementen der spirituellen Erfahrung vertraut gemacht werden sollen, unter anderem mit einer Sprache der Stille.12 Dennoch könnten die kritischen Reaktionen der Schüler auf die Elemente »Wondering« und »Response« im Licht der Bemerkungen von Grajczonek und Truasheim verstanden werden. Die Schüler scheinen eine vertiefte Auslegung der Geschichte zu erwarten. Sie erwarten dabei nicht unbedingt die eine richtige Antwort. Aber die Teilnehmer der Fokusgruppe äußerten durchaus den Wunsch, die Geschichte auch theoretisch zu vertiefen. Dieser Wunsch ist natürlich bedingt durch den schulischen Kontext, die dort normalerweise geforderten

Kompetenzen und die Tatsache, dass es sich um ihre erste Erfahrung mit Godly Play handelte. Gleichaltrige Schülerinnen und Schüler an einer Berufsschule könnten durchaus andere Wünsche haben. Diesem Wunsch des Nachdenkens über das während der »Wondering«-Phase Erlebte oder dem Wunsch nach mehr Vorgaben durch den Erzähler kann in manchen Fällen dadurch entsprochen werden, dass man das »Fest« durch eine Phase der Meta-Reflektion ersetzt. Eine Zeit der Meta-Reflektion könnte auch in der folgenden Unterrichtsstunde im Stil des klassischen Religionsunterrichts erfolgen, möglicherweise als hermeneutisch-kommunikativer Lern- und Lehrprozess13, in dem das, was während der Godly Play-Sitzung passiert ist, kritisch im Licht verschiedener exegetischer, theologischer und gesellschaftlicher Perspektiven diskutiert wird. Auf diese Weise bleiben zum einen die Godly Play-Elemente, insbesondere die Montessori Pädagogik, erhalten, andererseits können weitere didaktische Absichten, wie zum Beispiel eine theoretische Vertiefung, angeschlossen werden. In einer solchen Sequenz würde die Godly PlaySitzung vor allem als mystagogische oder performative Hinführung dienen.14 Godly Play darf sowohl auf Basis der Literatur als auch der empirischen 11 Berryman, Teaching Godly Play, 63. 12 Ebd., 154. 13 Didier Pollefeyt, »Difference Matters. A Hermeneutic-Communicative Concept of Didactics in a European Multi-Religious Context,« Journal of Religious Education 56, no. 1 (2008): 9–17. 14 Vgl. Thomas Klie and Silke Leonhard (Hg.), Performative Religionsdidaktik: Religionsästhetik – Lernorte – Unterrichtspraxis, Stuttgart 2008.

Hendrickx / Kummer / Dillen Godly Play und die Bibelmüdigkeit flämischer Jugendlicher

Erfahrungen als eine Form der spirituellen Bildung gelten.15 Solch spirituelle Bildung könnte durchaus einen Platz in der Religionspädagogik haben, sowohl im Flämischen Lehrplan für Katholischen Religionsunterricht als auch innerhalb allgemeinerer, international anerkannter Bildungsziele. Dabei gelten aber zwei Bedingungen, um Godly Play angemessen in den Religionsunterricht zu integrieren: Erstens, Godly Play sollte nicht zu oft und nur als ein Ansatz unter vielen angeboten werden. Dies sagen auch die Teilnehmer der Fokusgruppen. Auch darf Godly Play nicht als eine Form der Katechese missverstanden werden. Dies soll im Folgenden noch erläutert werden. 4.2 Godly Play und Katechese

Die Kritik, eine bestimmte Methode sei »zu katechetisch«, impliziert, dass sie nur für Gläubige bestimmt sei, um den eigenen Glauben zu vertiefen, aber nicht offen für die Ansichten von NichtGläubigen.16 Diese Wahrnehmung wurde jedoch keineswegs von den mehrheitlich agnostischen Studierenden, die an der Godly Play-Sitzung teilgenommen hatten, zum Ausdruck gebracht. Sie gaben zwar ihre persönliche Distanz zum christlichen Glauben und ihr fehlendes Interesse an Religion als Gründe für das Nicht-Lesen der Bibel an, sahen darin aber keine Hindernisse, an Godly Play teilzunehmen. Die offene Natur der »Wondering« und »Response«-Phasen stellt keinerlei weltanschauliche Vorbedingungen an die Teilnehmer. Solange der Godly Play-Erzähler für eine Pluralität von Deutungen Raum lässt, bleibt

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die Erfahrung für jedermann offen. Für diejenigen, die sich in ihrem christlichen Glauben durch das fantasievolle Eintauchen in die biblische Erzählung stärken lassen wollen, bietet Godly Play diese Möglichkeit – ohne sie aber anderen aufzudrängen. 4.3 Godly Play und Bibelmüdigkeit

Wir haben gesehen, dass Godly Play als religionspädagogische Methode durchaus seinen Platz im schulischen Religionsunterricht finden kann, gerade wo dieser experientiell, performativ oder gar mystagogisch gestaltet werden will und sich nicht auf den reinen Sachunterricht beschränkt. Es bleibt die engere bibeldidaktische Frage, ob Godly Play dem mangelnden Interesse Jugendlicher an der Bibel entgegenwirken kann, oder, um es in eine Metapher zu kleiden, Appetit auf mehr Bibel machen kann. Die ursprüngliche Idee von Bieringer und Pollefeyt, dass Schülerinnen und Schüler »neue Geschichten« brauchen, kann durch die empirischen Erhebungen durchaus als bestätigt betrachtet werden. Die Godly Play-Methode enspricht jedoch keineswegs der in unserer spätkapitalistischen Konsumkultur weitverbreiteten Sucht 15 Martin Steinhäuser, »Godly Play«, in: Mirjam Zimmermann / Ruben Zimmermann (Hg.), Handbuch Bibeldidaktik, Tübingen 2013, 541. 16 Vgl. Friedrich Schweitzer, »Godly Play und Religiöse Bildung – Religiöse Bildung und Godly Play: Überlegungen und Anstöße aus bildungstheoretischer und kindertheologischer Sicht«, in: Martin Steinhäuser (Hg.), Godly Play. Das Konzept Zum Spielerischen Entdecken von Bibel und Glauben, Leipzig 2008, 11–21.

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Unterschiedliche Zugänge zu biblischen Texten mit Jugendlichen

nach dem ewig Neuen. Berrymann baut durchaus auf Wiederholung.17 Godly Play eröffnet immer wieder neue experientielle Horizonte in altvertrauten Geschichten. Wenn die Godly Play-Erfahrung für die Schülerinnen und Schüler auch neu war – die Geschichten selbst sind es nicht. Godly Play bemüht sich um neue Zugänge, nicht aber um neue Geschichten. Wichtig für die Schüler war die Erfahrung der pluralen Deutungen und multiperspektivischen Aneignungsweisen. Die bibelhermeneutische Implikation lautet, dass die biblischen Texte nicht Repositorien zeitlos festgeschriebener Wahrheiten sind, sondern immer wieder zu frischen Begegnungen anregen. Godly Play, so scheint der empirische Befund anzudeuten, kommt bei den Schülerinnen und Schülern deswegen gut an, weil es einige der von Bieringer und Pollefeyt thematisierten Risiken vermeidet. Die Godly Play-Methode eignet sich weder für Moralismus noch Fundamentalismus. Die post-konziliarische Lehre der römisch-katholischen Kirche beschreibt

Offenbarung als den andauernden Dialog zwischen Gott und Menschen, vermittelt durch die Bibel. Diese Begegnung bewirkt persönliche Transformation und immer neue Deutungen. Godly Play als religionspädagogische und spirituelle Methode schafft einen Raum für Begegnung, Deutung und Transformation. Es geht bei Godly Play zuallererst um biblische Inhalte, nicht um biblische Texte. Die Godly Play-Methode unterstützt die Kenntnis, das Verständnis und die Aneignung biblischer Inhalte. Nicht jeder greift danach zur Bibel, um sich gewissermassen nachträglich auch noch den Text zu erarbeiten. Wer also primär um die regelmäßige Lektüre biblischer Texte besorgt ist, der mag in der Godly PlayMethode eher eine Ablenkung vom biblischen Text sehen. Auf der anderen Seite lässt sich aber die Freude an biblischen Inhalten durchaus als Appetitanreger für biblische Texte verstehen. 17 Berryman, Teaching Godly Play, 121.

Fricke Jugendliche auf dem Weg zu Hiob

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Michael Fricke Jugendliche auf dem Weg zu Hiob

Der vorliegende Beitrag berichtet über eine Untersuchung zur Frage, wie sich Jugendliche mit dem Medium »Graphic Novel« zur Hiob-Thematik auseinandersetzen. Das Forschungsdesign bewegt sich bewusst im Vorfeld des biblischen Hiobtextes und fragt zum einen, welche Bedingungen das Interesse der Jugendlichen am biblischen Text fördern könnten, zum anderen, wie die Teilnehmer die Figur Gottes in der Erzählung wahrnehmen. Die Ausführungen schließen mit einem Vorschlag, wie von dort aus die Arbeit am Hiobbuch erfolgen kann. 1. Drei Vorüberlegungen zum Forschungssetting

Von einer Untersuchung im Zeichen jugendtheologischer Studien zum Buch Hiob würde man klassischerweise erwarten, dass sie danach fragt, welche Zugänge Jugendliche zum Hiobbuch haben, welche Fragen sie stellen und wie sie es auslegen. Interessanterweise gibt es eine solche bis jetzt noch nicht.1 Wir verfügen zwar über Forschungen zur globalen Frage, wie Jugendliche sich zum Themenkomplex Leid und Gott verhalten,2 hier ist aber das Buch Hiob nicht eigens thematisiert. Daneben findet sich das Genre der Aufzeichnungen von Schülerproduktionen zu biblischen Ganzschriftlektüren, aber leider nicht zu

Hiob.3 Schließlich gibt es religionspädagogische Entwürfe, die jedoch die Ebene realer Schüleräußerungen nicht berühren.4 Eine Ausnahme ist hier ein Beitrag von M. Zimmermann, der neben einem Unterrichtsentwurf die Dokumentation eines Schülerbeitrags enthält.5 Gemäß 1 Vgl. Eva Stögbauer, Art. Ijob/Hiob, bibeldidaktisch, Sekundarstufe, in: WiReLex, (erstellt: Febr. 2016), http://www.bibelwissenschaft.de/de/stichwort/100145/, Zugriff vom 02.03.2017. 2 Vgl. Werner H. Ritter / Helmut Hanisch / Erich Nestler / Christoph Gramzow, Leid und Gott. Aus der Perspektive von Kindern und Jugendlichen, Göttingen 2006; Eva Stögbauer, Die Frage nach Gott und dem Leid bei Jugendlichen wahrnehmen. Eine qualitativempirische Spurensuche, Bad Heilbrunn 2011. 3 Christian Dern, Dialogische Bibeldidaktik. Biblische Ganzschriften des Alten und Neuen Tes-taments in den Sekundarstufen des Gymnasiums – ein unterrichtspraktischer Entwurf, Kassel 2013. Dort findet sich immerhin der Plan, Hiob in der 9. Klasse als Ganzschrift zu lesen, vgl. 206f. 4 Vgl. Dieter Baltzer (Red.), Lehren und Lernen mit dem Alten Testament. Unterrichtsentwürfe für die Primarstufe und Sekundarstufe I, Münster 2001, 366–393; Horst Klaus Berg, Altes Testament unterrichten. 29 Unterrichtsvorschläge, München 1999; Jeanette Eickmann / Dietmar Peter, Hiob – eine Leidensgestalt, in: dies., Kompetenzorientiert unterrichten. Bausteine zu den niedersächsischen Kerncurricula Evangelische Religion für die Sekundarstufe I, Loccum 2011, 119–122. 5 Mirjam Zimmermann, »Hiob reloaded« – nach Gerechtigkeit fragen. Schülerinnen und Schüler schreiben moderne Hiob-Erzählungen, in: Religion 5–10, 2011, Heft 4, 28–33.

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Bekannte und unbekannte biblische Texte mit Jugendlichen erschließen

der Zielsetzung Zimmermanns nähern sich Schüler/innen der 9./10. Klasse der Gestalt des Hiob und dem Inhalt des Buches Hiob, indem sie ausgehend von einer Leidsituation (Erdbeben, Hungersnot) eine fiktive literarische Gestalt erschaffen, mit der sie weiterarbeiten. Im Dialog mit ausgewählten zentralen Texten des Hiobbuches verfassen sie eine eigene Geschichte. Auf die dokumentierte Schülererzählung möchte ich hier näher eingehen: Sie handelt von »Hanna« aus Haiti, die durch Erdbeben und Epidemien ihre ganze Familie verliert. Sie selbst überlebt schwer verletzt und wird ins Krankenhaus gebracht. Die Erzählung endet mit folgenden Worten: »Am nächsten Tag fand sie neben dem Bett eine Bibel. Aus Langeweile blätterte sie darin, schlug sie auf, mehr zufällig und in Gedanken versunken. Hiob, ja, von dem hatte sie auch schon gehört, der war ihr ja in den letzten Wochen in manchem ähnlich geworden, auch ihm war alles genommen worden. Aber was stand da? Und der Herr wandte das Geschick Hiobs. Und der Herr gab Hiob doppelt so viel, wie er gehabt hatte. Wütend warf sie die Bibel in den Abfalleimer neben dem Bett, über die blutigen Binden, die fauligen Essensreste und das Tagebuch der Nachbarin, die vor einer Stunde gestorben war.«6 Die Hiobserzählung, die hier »zufällig« auf die Bühne kommt, scheint für »Hanna« nur ein zynischer Kommentar zum eigenen Schicksal zu sein, der auf den »Müll« gehört. Ich vermute jedoch, dass die Bibel durch eine solche Inanspruchnahme strukturell überfordert wird und entsprechende Abstoßungsreaktionen unvermeidlich sind. Das führt mich zur ersten meiner drei Vorüberlegungen. Wenn wir danach

fragen, wie Jugendliche das Hiobbuch auslegen, setzen wir vielleicht zu viel voraus und machen den zweiten Schritt vor dem ersten. Vielleicht geht es ja darum, erst mal einen Zugang zum Hiobbuch zu schaffen. Bei Hiob geht es um Leid, Verlust und Scheitern, womit Gefühle wie Schmerz, Trauer und Scham im Spiel sind. Dies impliziert womöglich auch bestimmte Hürden für ein Gespräch. Ich zögere, den Jugendlichen sofort ihre Fragen oder ihre Gedanken zur Geschichte oder Figur des Hiob entlocken zu wollen, denn ich kann nicht voraussetzen, dass sie bereits eine Beziehung zur Thematik des Textes haben oder sich auf das Thema des Textes einlassen. Ich brauche etwas, was das »Vorfeld« für Hiob bereitet. Durch meinen Forschungsaufenthalt in Israel, bei dem ich die Ausbildung jüdischer Religionslehrer an der Jerusalemer Universität kennenlernen durfte, habe ich entsprechende Impulse erhalten. H. Deitcher spricht im Zusammenhang mit der Frage, wie man Geschichten aus der jüdischen Tradition in der jüdischen Erziehung verwenden kann, vom Aufspüren von »points of engagement«.7 Damit ist das gemeint, was Kinder und Jugendliche interessiert und angeht.8 Darüber hinaus ist mir durch die Beschäftigung mit jüdischer Kindergottesdienstarbeit

6 Ebd., 33. 7 Howard Deitcher, Once Upon a Time. How Jewish Children’s Stories Impact Moral Develop-ment, Journal of Jewish Education, 79. Jg. 2013, Heft 3, 235–255, hier 247f. 8 Im Hintergrund steht L. Shulmans »Table of Learning«. Dort ist der erste Schritt »engagement and motivation«, vgl. Lee S. Shulman, Making Differences. A Table of Learning, in: Change, 34. Jg. 2002, Heft November / December, 36–44.

Fricke Jugendliche auf dem Weg zu Hiob

deutlich geworden, dass wir die »Heiligkeit« von Texten bei Kindern und Jugendlichen nicht voraussetzen können, sondern danach fragen müssen, wie sich eine bestimmte Haltung anbahnen lässt, aus der heraus sie die Bibel – möglicherweise – als »heilig« wahrnehmen können. Zusammengefasst: Wie kann ich Kinder und Jugendliche darauf vorbereiten, die Bibel zu lesen? Was kann ich dafür tun, dass sie Interesse entwickeln, sich mit biblischen Texten zu beschäftigen? Man könnte mit einem Wort F.W. Niehls sagen, es geht darum, die Bibel »wertvoll« zu machen.9 Niehl meint jedoch nur bestimmte Arten der Präsentation des Textes (z.B. verzögerte Texteinführung, Hörspiel, Textpuzzle). Ich verstehe »wertvoll oder kostbar machen« in einem tieferen Sinn. In einem Prozess erleben die Schülerinnen und Schüler, dass sie sich für Fragestellungen öffnen, die auch im Bibeltext eine Rolle spielen. Es geht um eine existentielle Verwicklung. Die zweite Vorüberlegung: Wenn wir von »Jugendtheologie« sprechen, meinen wir immer ihre dreifache Gestalt: Theologie von Jugendlichen, mit Jugendlichen und für Jugendliche. Wir sehen Jugendliche nicht als Objekte, aus denen wir Informationen extrahieren, sondern als Partner. Dies ist eine neue Entwicklung gegenüber früheren Zeiten. So scheint etwa in den alten Transkripten der klinischen Interviews, die J. Piaget mit Kindern führte, lediglich eine Objektbeziehung auf: »Wenn du denkst, womit denkst du dann? – Ich weiß es nicht. – Mit deinen Händen? – Nein. – Mit deinem Kopf? – Nein, man sieht das Denken nie. – Womit liest du? – Mit meinen Augen. – Kannst du denken, wenn deine Augen geschlossen sind? – Ja. – Wenn du die

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Ohren verstopft hast? – Ja. – Denken die ganz kleinen Kinder? – Nein, sie wissen nichts. Sie sind zu klein. – Womit denkt man? – Ich weiß es nicht, ich habe das Denken nie gesehen.«10 Eine Forschung, die Kinder und Jugendliche als Partner ansieht, interessiert sich für deren »Relevanzsysteme«,11 also besonders für deren Fragen und Herangehensweisen. Und noch mehr: Weil die Jugendlichen Partner sind, ist es angemessen, dass sie ihrerseits auch ein »Benefit« im Austausch für ihre Bereitschaft zur Teilnahme erhalten. Damit ist nicht nur das Materielle (z.B. Aufwandsentschädigung) gemeint, sondern vor allem das Immaterielle. Die Erhebung sollte die Jugendlichen in irgendeiner Weise weiterbringen. Die dritte Vorüberlegung: Unsere Forschungen zur Jugendtheologie sind in der Religionspädagogik situiert. Wir können auch sagen: Sie dienen dem Verständnis und der Qualitätsreflexion von religiö-sem Lernen und Lehren. Deswegen sollten wir unsere empirische Forschung auch unter dem Aspekt des Lernarrangements sehen. Inwiefern ist die Forschung anschlussfähig für das Unterrichten? Könnte man mit diesem Forschungssetting auch einen guten und interessanten Unterricht arrangieren? Und: Verhelfen die Ergebnisse zu einer Orientierung darüber, ob die Beschreibungen der in einem solchen Unterricht

9 Franz. W. Niehl / Arthur Thömmes, 212 Methoden für den Religionsunterricht, München 1998, 111. 10 Jean Piaget, Das Weltbild des Kindes (1926), München 61991, 50. 11 Vgl. Siegfried Lamnek, Qualitative Sozialforschung, Bd. 1: Methodologie, Weinheim 31995, 234.

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Bekannte und unbekannte biblische Texte mit Jugendlichen erschließen

zu erwerbenden Kompetenzen realistisch sind? So sollte empirische Forschung zur Jugendtheologie von Bibeltexten die Zugangsmöglichkeiten für Jugendliche zum Text thematisieren, den Jugendlichen im Forschungsprozess ein »Benefit« bieten und unter dem Aspekt der Eignung für ein Lernsetting reflektiert werden. 2. Frage, Design und Durchführung

Aufgrund der genannten Überlegungen entschied ich mich dafür, nicht den »klassischen« Weg einer jugendtheologischen Studie zu gehen und die Rezeption des Bibeltextes zu thematisieren, sondern in der Befragung zunächst die existentielle Bedeutsamkeit der Hiob-Thematik für Jugendliche zu erforschen und diese mit Hilfe des Mediums »Graphic Novel« ins Spiel zu bringen. Ziel war es zu erkunden, wie Jugendliche im Nachdenken und Sprechen über Scheitern und Schicksalsschläge sich »auf den Weg zu Hiob« begeben können. Die Untersuchung fand von Juli 2016 bis Februar 2017 statt und umfasste 29 Teilnehmer/innen. Neben einer Gruppe aus einer evangelischen Religionsklasse (Jg. 11) waren zwei studentische Gruppen (Lehramt Religion), eine Gruppe von Jugendleitern der Evangelischen Jugend und eine Gruppe freikirchlich-pfingstlerischer junger Erwachsener beteiligt. Jede Gruppe wurde für je 60 Minuten (mit einer Ausnahme) von mir selbst befragt. Ich berichte hier nur über die Äußerungen der fünf Teilnehmer (vier weiblich) aus Klasse 11, weil die Gruppe zwei Alleinstellungsmerkmale besitzt: Da sie altershomogen (16–17 J.) ist, sind

die Äußerungen besser zu vergleichen. In Bezug auf Glaubensüberzeugungen ist sie heterogener als die anderen vier, was mehr Varianz erwarten lässt. In der folgenden Darstellung fasse ich den jeweiligen Untersuchungsschritt und die dazugehörenden schriftlichen und mündlichen Schüleräußerungen immer gleich zusammen. Zuerst bitte ich die beteiligten Jugendlichen um eine Selbstexploration, die vertraulich bleibt. Sie stimmen den folgenden Items jeweils auf einer Stufe von 1 bis 5 zu (wobei 1 Ablehnung bedeutet und 5 Zustimmung): »Mein Leben läuft oft gut. – Mein Leben läuft oft nicht gut. Wenn mein Leben nicht gut läuft / etwas schief geht … mache ich andere Menschen verantwortlich – mache ich mich selbst verantwortlich – mache ich Gott / eine höhere Macht verantwortlich. Wenn mein Leben nicht gut läuft / etwas schief geht … bin ich wütend auf andere Menschen – bin ich wütend auf mich selbst – bin ich wütend auf Gott / eine höhere Macht.« Mein Setting von Grundfragen startet also von den Jugendlichen her und von Grundfragen, die in der Hiobsthematik enthalten sind. Man könnte auch sagen, es geht um die elementaren Strukturen, Wahrheiten und Erfahrungen der Hiob-Thematik. Im zweiten Schritt bitte ich die Jugendlichen um eine Einschätzung: »Wie leicht oder schwer – denkst du – ist es für Jugendliche, über Themen wie Misserfolg, Scheitern, Verluste und Schicksalsschläge nachzudenken? Erläutere warum.« Und: »Wie leicht oder schwer denkst du ist es für Jugendliche, über Themen wie Misserfolg, Scheitern, Verluste und Schicksalsschläge zu reden? Erläutere warum.« Während die erste Frage das

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Befinden Jugendlicher allgemein anspricht, zielt die zweite darauf ab, Orte des Austausches aufzusuchen – informeller Art, aber auch in Schule und Religionsunterricht. Dieses Warming-up will ein Klima schaffen, in dem man darüber nachdenkt, inwiefern und unter welchen Bedingungen man gerne über Themen wie Scheitern usw. nachdenken und reden möchte. Die Antworten zur ersten Frage sind relativ einheitlich: Nachdenken ist leicht, Jugendliche denken oft und viel darüber nach. Quasi »automatisch« meint Schülerin Aj, »es gibt aber auch Momente, in denen wir anders wie bei Erwachsenen diese Gedanken einfach abschalten und komplett sorgenfrei / naiv durchs Leben gehen« (Lc). Erläuterungen, Begründungen und Vertiefungen dieser Antworten sind: Wir sind »in der Selbstfindungsphase« (Ml). Gemäß Ml ist das Nachdenken »natürlich«: Nachdenken, »über die Dinge, die nicht hätten passieren sollen«; »Nachzudenken ist auch das zu reflektieren, was einen ausmacht. Eventuell hätte man nicht diesen Werdegang, wenn dieser bestimmte Schicksalsschlag nicht passiert wäre« (Ml). In dieser Sichtweise wird also auch negativen Ereignissen Sinn zugeschrieben. Die Schülerin Aa meint, die Voraussetzung, dass man nachdenken kann, ist das Eingeständnis, dass »etwas schlecht läuft«. »Ich denke oft nach und frage mich jeden Tag bzw. Gott warum ich das verdient habe. Wie das Karma« (Aa). Die Schülerin Aj sagt: »Ich denke über das Scheitern nach, weil ich Angst habe, meine Eltern zu enttäuschen, auch über Krankheit und Tod, und über Vergangenes. Manchmal führt man es auf Gott zurück. Warum er so etwas zulässt, obwohl er ja auf uns

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aufpassen sollte«. Bei der zweiten Frage, dem Reden, ist auch eine Einheitlichkeit wahrzunehmen: Es wird überwiegend als »schwerer« eingeschätzt. Es fällt auf, dass die Teilnehmer von »den Jugendlichen« reden, aber auch von der eigenen Person (»bei mir persönlich«, »ich«, »man« …). Die Gründe für das Nicht-Reden sind: Angst, komisch beäugt zu werden, abgestempelt zu werden (Ml), Angst vor Kontrollverlust und Hereinbrechen der Gefühle (Aa); man versucht es zu überspielen, hofft aber darauf, von jemandem angesprochen zu werden (Lc). Es ist peinlich, es kann verunsichern, vor allem, wenn es vor einer fremden Person, z.B. einem Psychologen geschieht (Lo). Wenn wir reflektieren, wo die Jugendlichen hier stehen, können wir B. Plotkins Sicht auf den Jugendlichen als einem »Schauspieler in der Oase« ins Spiel bringen. Die »Oase« (gr. óasis, d.h. »bewohnter Ort«) ist ein sozialer Treffpunkt, ein Marktplatz.12 Die Aufgabe des Jugendlichen ist es, ein soziales Ich aufzubauen, das authentisch und zugleich sozial verträglich ist. Während dem Kind Kultur und soziale Formen vorgegeben waren, darf der Jugendliche sie neu gestalten. Jugendliche sind »Schauspieler«, und ihre Bühne ist das soziale Leben, auf der sie ständig neue Rollen ausprobieren und Bühnenbilder entwerfen. Dabei wollen sie wahrgenommen werden und fürchten doch, sich zu zeigen: »Bitte höre, was ich nicht sage! Lass dich nicht von mir narren. Lass dich nicht durch das Gesicht

12 Vgl. Bill Plotkin, Nature and the Human Soul. Cultivating Wholeness and Community in a Fragmented World, Novato (USA) 2008, 165– 230.

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täuschen, das ich mache. Denn ich trage tausend Masken, die ich fürchte abzulegen.«13 Fassen wir zusammen: Die befragten Jugendlichen bringen zum Ausdruck, dass das Reden über Scheitern und Schicksalsschläge schwerer als das reine Nachdenken ist. Sie reflektieren dies und teilen ihre Reflexionen, die inhaltlich ihre eigenen Biographien betreffen, in der Erhebung mit, ohne explizit danach gefragt worden zu sein. Inhaltlich wird die Scheu zu reden deutlich, aber auch die Erfahrung bzw. Hoffnung, dass es gut ist, sich anderen zu öffnen. Die Jugendlichen überschreiten im Vollzug des Mitteilens bereits die Grenze, von der sie reden, was eine Art paradoxe Aktion ist. Das Motiv des Miteinander-Redens wird im weiteren Verlauf noch eine Rolle spielen. Der dritte Schritt: Der Gegenstand, die Hiob-Thematik kommt mit einem Comic (»Graphic Novel«) ins Spiel, der Geschichte »Ein Vertrag mit Gott« von Will Eisner.14 Der besondere Reiz dieses Werkes für jugendtheologische Forschung in den drei oben genannten Zielrichtungen liegt darin, dass das Medium »Graphic Novel« mittels der Verknüpfung von Bild und Text erzählt und damit leichter zugänglich ist als das komplizierte und umfangreiche Hiobbuch. »Ein Vertrag mit Gott« ist eine Abwandlung der Hiobgeschichte. Die Hauptfigur, Frimme Hersh, stammt aus Osteuropa und immigriert in den 1930er Jahren nach Amerika. Er lebt in New York, im Mietshaus in der Dropsie

Avenue Nr. 55. In seinen Jugendjahren, noch in Europa, hatte er einen selbst erfundenen schriftlichen »Vertrag« mit Gott auf einen Stein geschrieben. Im Comic ist nicht ersichtlich, was er auf den Stein schreibt, aber es scheint eine Art Abmachung mit Gott zu sein. In New York schließt er sich der jüdischen Gemeinde an und lebt ein frommes und soziales Leben. Ein Waisenkind, das vor seiner Tür abgelegt wird, zieht er liebevoll auf. Sie heißt Rachele und ist die Freude seines Lebens. Doch mit 15 Jahren wird die Tochter krank und stirbt. Darauf wütet Frimme gegen Gott und beschimpft ihn. Gott schickt Blitze und Regen. Frimme spukt auf den Stein, auf dem der Vertrag geschrieben ist, und wirft ihn aus dem Fenster. Er rasiert sich und legt seine jüdische Kleidung ab. Er veruntreut die ihm von der Synagoge anvertrauten Wertpapiere, um das Mietshaus, in dem er selbst jahrelang wohnte, zu kaufen. Er setzt die Miete hoch, auch bei den Menschen, die kaum Geld haben. Er kauft noch mehr Häuser auf und wird reich. Er lässt sich mit einer »Schickse« ein. Aber irgendetwas fehlt Frimme und er geht zu den Ältesten der Synagoge. Er bereut, dass er den Vertrag mit Gott gebrochen hat, und bittet sie, dass sie einen 13 Tobias Brocher, Von der Schwierigkeit zu lieben, Stuttgart 1975, zit. nach D. Sölle, Die Hinreise. Zur religiösen Erfahrung. Texte und Überlegungen, Stuttgart 81986, 121–124. 14 Will Eisner, Ein Vertrag mit Gott. Mietshausgeschichten, München 2011.

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neuen für ihn anfertigen … (Epilog: ein Junge findet den weggeworfenen Stein und schreibt seinen eigenen Namen unter den »Vertrag mit Gott«). Der Fall ist außergewöhnlich und eindringlich und liegt zugleich außerhalb des normalen Erfahrungsbereiches von Schülerinnen und Schülern. Er hat vieles, was das Buch Hiob auch hat: die fromme und gerechte Hauptfigur, der Tod des Kindes, das Streiten mit Gott, die Reaktion Gottes aus dem Sturm und eine Erneuerung der Beziehung zu Gott. Die Jugendlichen erhalten nun einen Auszug der Geschichte, die das Verhalten Frimmes nach dem Tod seiner Tochter schildert.15 Er enthält Ambivalenz, hat damit Potential zur Auseinandersetzung und Positionierung. Sie notieren ihre Antworten zur Frage: »Findest du es befremdlich, wie er sich nach dem Tod der Tochter verhält? (1 – 2 – 3 – 4 – 5) … Erläutere deine Meinung. Was findest du befremdlich? Was kannst du nachvollziehen? Warum?« In der Gruppe werden die Antworten vorgestellt. Jeder hört die Meinung des anderen und kann sich darauf beziehen. Die Jugendlichen können zunächst unisono Frimmes Verhalten nachvollziehen. Dabei spielt das im Religionsunterricht erworbene Wissen um »5 Trauerphasen« eine Rolle (Ml). Ml deutet das Sich-Zurückziehen Frimmes als Grund dafür, dass er die Last auf sich nimmt und dann kalt und herzlos wird. »Er hat niemanden, mit dem er reden kann«, »es wäre besser, einen Seelsorger aufzusuchen« (Ml). In den Augen von Aa ist es nachvollziehbar, dass Frimme sich bei Gott beschwert, jedoch nicht die moralische Verfehlung (Wertpapiere veruntreuen). Aa sieht bei Frimme

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eine »Egal-Einstellung«, die sie auch bei sich selbst erkennt, aber nie so ausleben würde, wie Frimme es tut. Lc sieht es als »normal« an, dass Frimme die Schuld auf Gott schiebt. Dazu ist Gott auch da, dass man die Schuld auf ihn schiebt. Dass er dann seine Religion verlässt und andere schädigt, ist befremdlich. Aj kann nachvollziehen, wie Frimme handelt, er muss seine Wut an irgendjemandem auslassen (ebenso Lo). Die Wut an Gott ist verständlich, an den Menschen nicht, das ist gemein und egoistisch. Im anschließenden Gruppengespräch bestätigen sich die Meinungen weitgehend, allerdings bringt die Dynamik des Gespräches auch feine Veränderungen. Während Lc staunt, dass Frimme am Ende des Ausschnitts »ziemlich das Gegenteil von dem wie er davor war« ist, findet Aa das »total nachvollziehbar«. Ml hebt hervor, dass die Selbstisolation Frimmes schädlich ist: »Ja, an dem Cartoon wird ja auch klar, dass er sich eben einsperrt, aber ich glaub’ das ist komplett die falsche Richtung, die man dann wählt, ich glaub’ schon, dass man andern sich mitteilen muss, seine Gefühle, dass die vielleicht auch so ’ne Rückmeldung geben, wo man jetzt vielleicht anders denken könnte, auch ’ne andere Sichtweise, ja.« Wie nehmen die Schüler die Figur Gottes wahr? Es finden sich sehr unterschiedliche Aspekte: Frimme bestraft Gott durch sein unmoralisches Verhalten, d.h. durch die Veruntreuung (Lo). Frimme wirft seine Last auf Gott, Gott hilft Frimme dadurch in der Trauer (Lc).

15 Ebd., 22–35. Das abgedruckte Bild (S. 23) zeigt den verzweifelten und Gott anklagenden Frimme nach Erhalt der Todesnachricht.

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Ein Schüler staunt, dass Frimme so sicher ist, dass Gott existiert (Lo). Gott würde einen solchen Vertrag nicht mit einem Individuum abschließen, er schließt Verträge nur mit der ganzen Menschheit ab (Lc). Ein Schüler sagt, dass er nicht auf Gott vertraut, da er keine Beweise der Existenz Gottes hat (Lo). Eine Schülerin erzählt, dass sie so etwas wie einen »Vertrag« auch schon gemacht habe, als ein Familienmitglied krank war und sie deswegen zu Gott betete (Aa). Diese Schülerin meint auch, dass es in Krisenund Trauerzeiten gut sei, wenn man Gott »die Schuld« geben kann, dadurch kann man mit der Situation umgehen, sie eher verarbeiten. Es ist schwieriger, wenn es keinen Grund gibt, dass jemand stirbt. Da ist es besser zu sagen: Gott hat sie zu sich geholt. Als vierten Schritt bitte ich die Teilnehmer, sich Fragen zu überlegen, die sie an das Buch Hiob stellen und mit anderen besprechen würden. Da die meisten es nicht genau kennen, gebe ich zunächst eine kurze Zusammenfassung des Inhalts. Einige der Fragen lauten: Wie lange bleibt der Mensch bei »von Gott verübten Taten« fromm? Kann Gott wirklich so willkürlich in das Leben der Menschen eingreifen und ihnen alles wegnehmen? Kann Gott nur [dann] Gutes tun, wenn auch Schlechtes passiert? Warum hat Gott ihm das angetan? Immerhin gibt es andere Möglichkeiten, jemandem einen »Denkzettel« zu verpassen. Gibt es immer ein Happy End, geht es immer wieder bergauf? Gibt es das Schicksal/ Karma? Hat Gott einen bestimmten Grund für sein Vorgehen? Warum hat Gott genau ihm wieder Söhne zurückgebracht? Es gibt so viele Menschen auf dieser Welt, die ihre ganze Familie ver-

loren haben und trotzdem wurden sie nicht gerettet. Wie entscheidet das Gott? Kann er es lenken? Die Fragen betreffen Gottes Autonomie, seine Macht, seine Gerechtigkeit und sein Handeln. Die Schüler fragen sehr direkt. Es fällt jedoch auf, dass sie keine Fragen im Sinne der klassischen Theodizee stellen, die einen Ausweg aus der Spannung zwischen der Annahme von der Güte und Allmacht Gottes einerseits und der Existenz von Leid andererseits sucht. Die folgende Frage »Worin könnten die Chancen liegen, über diese Fragen zu sprechen?« ist zwar auf der Ebene des Buchinhalts angesiedelt, aber auch offen für mögliche Erfahrungen, die im Gesprächsprozess in der Gruppe gemacht wurden. Diese stehen in den Äußerungen im Vordergrund: »Wenn man mit anderen darüber spricht, könnte man Eingebungen zur eigenen Problembewältigung kriegen sowie Anreize für eine Neuerung bei dieser. Man könnte sich Gedanken darum machen, wie Gott handelt, dass es andere viel häufiger trifft und man eigentlich ganz gut dasteht im Leben etc.« (Ml). »Andere Sichtweisen zu sehen: Man könnte sich anders verhalten in Schocksituationen oder das Ereignis auch von anderen Seiten betrachten, bevor man zu vorschnell handelt. Die Chancen für den eigenen [Wort fehlt, MF] wäre über das Geschehene zu reden und es zu verarbeiten. Wenn man es in sich hineinfrisst, hilft es nicht.« (Aa). »Man könnte sein eigenes Trauerverhalten damit vergleichen und sich vielleicht damit identifizieren. Es gibt Hoffnung zu wissen, dass man neue gute Zeiten erwarten kann.« (Lc). »Die Chance darüber zu reden könnte darin liegen, dass man

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vielleicht einfach mal seine engsten Vertrauten einberuft und so etwas wie einen Stammtisch macht, und jeder seine Gedanken und Probleme mitteilen kann.« (Aj). Die Jugendlichen verknüpfen das Nicht-Reden (im Leben von Jugendlichen oder im eigenen) mit dem NichtReden Frimmes und stellen die Chancen des Redens gegenüber. Unversehens kommt der Vorschlag zur Identifizierung mit Hiob, mit seinem Ergehen, seiner Hoffnung und seinem Glauben. Am Ende steht das Interesse für das Buch Hiob und auch das Interesse, sich in der Gruppe über Themen wie Schicksalsschläge und Scheitern auszutauschen. Das Bild des »Stammtisches« bleibt im Raum. Es ist ein säkulares Bild. Aber es ist durchlässig für die Traditionen und die Sprache des Glaubens. 3. Reflexion

Wohin eine Beschäftigung mit dem Hiobbuch im Idealfall führen könnte, macht die Äußerung einer Befragten (27 Jahre) aus einer der oben genannten studentischen Gruppen deutlich: »Im Dialog über das Buch können sich viele verschiedene Perspektiven auf das Leid und die Frage nach dem ›warum‹ auftun. Daraus kann ein Gemeinschaftsgefühl zwischen Menschen, denen Leid widerfährt, entstehen bzw. ein gegenseitiges Verständnis. Ein offenes Gespräch über Hiob kann dazu ermutigen, offen mit dem Thema Leid umzugehen, sich selbst (kritisch) damit auseinanderzusetzen und auch kritische Fragen an Gott zu stellen. Es ermöglicht auch, das Thema Leid in den eigenen Glauben zu integrieren.« (Studentin

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»Vg«). Von einer solchen Sichtweise sind die Jugendlichen noch weit entfernt. Ziehen wir aber noch einen Vergleich, nämlich zur eingangs vorgestellten Schülererzählung (M. Zimmermann), in der die verzweifelte »Hanna« im Hiobbuch liest und dann die Bibel in den »Müll« wirft. Die biblische »Vorfeld-Didaktik«, wie ich sie gezeigt habe, setzt einen anderen Akzent: Der Bibeltext ist noch nicht im Spiel. Er bleibt gleichsam »geschützt« vor zu schnellem Konsum. Wir sind erst auf dem Weg zu ihm. Naturgemäß schöpfen wir nicht alle Sinnpotentiale aus. Manches bleibt noch ungesagt. Aber ich habe bei den Jugendlichen den Eindruck: Es wäre Raum da, weiter zu gehen und Bereitschaft, intensiver auf die alte Überlieferung zu blicken. Die Jugendlichen haben sich auf eine Thematik eingelassen, die für sie existentiell bedeutsam ist. Sie sind einen Weg für sich und in der Gruppe gegangen. Inhaltlich hat die verfremdete Hiob-Thematik Anlass zur Auseinandersetzung gegeben. Am Ende steht nicht, dass die Jugendlichen »fertig« mit der Hiobgeschichte sind, sondern eigene Fragen formulieren, die an die Hiobgeschichte gestellt werden können. Die Fragen betreffen Gott ebenso wie den Umgang mit Scheitern und Schicksalsschlägen. Darüber hinaus haben sie Aussagen getroffen über die Möglichkeiten einer solchen Begegnung und Auseinandersetzung. Dabei sind Erfahrungen im Gruppenprozess und Inhalte der Hiob-Thematik zusammengeflossen. Das Feld für eine Begegnung mit dem Hiobbuch ist bereitet. Die Schüler könnten starten. Damit ist das erste Kriterium meiner Eingangsüberlegungen erfüllt. Auch die anderen beiden Kriterien – der

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»Benefit« für die Jugendlichen ebenso wie die Anschlussfähigkeit für ein unterrichtliches Lernarrangement – sind offensichtlich. 4. Mögliche Weiterarbeit mit dem Hiobbuch

Wie könnte eine Beschäftigung mit dem Hiobbuch nun weiter aussehen? Nachdem eine Auseinandersetzung mit der Rahmenerzählung des Hiobbuches (1–2; 42), wie M. Zimmermann zeigt, gewisse Abstoßungsreaktionen mit sich bringen kann, schlage ich vor, zwei Texte aus dem dialogischen Teil des Hiobbuches auszuwählen, bei denen die direkte Auseinandersetzung mit Gott im Zentrum steht. Zunächst die Anklage Hiobs. Er sagt über Gott: »Dass ich im Recht bin, hilft mir nichts bei ihm; ob schuldig oder nicht – Gott bringt mich um! Wenn plötzlich eine Katastrophe kommt und Menschen ohne Schuld getötet werden, hat er für ihre Ängste nur ein Lachen. Gott hat die Erde Schurken übergeben und alle Richter hat er blind gemacht.« (Hiob 9,22–24 GN). Die Erde ist den Gewalttätern ausgeliefert und Hiob denkt, aufgrund des Leides, das ihm widerfahren ist, dass Gott einen Kampf gegen ihn führt: »Du kannst mich doch nicht einfach schuldig sprechen! Gott, sag mir jetzt, was wirfst du mir denn vor? Was bringt es dir, dass du so grausam bist? Verachtest du, was du geschaffen hast, und lässt gelingen, was Verbrecher planen? … obwohl du weißt, dass ich nicht schuldig bin und niemand mich aus deiner Hand errettet? Mit deinen Händen hast du mich gestaltet und nun verschlingst du mich mit Haut und Haar.« (Hiob 10, 2f.7f GN). Er

appelliert an seinen Schöpfer, ihn nicht zu vernichten. Gott dreht in seiner Antwort aus dem Sturm »den Spieß um«. Er fordert Hiob heraus: »Steh auf jetzt, Ijob, zeige dich als Mann! Ich will dich fragen, gib du mir Bescheid! Willst du im Ernst mein Recht in Frage stellen, mich schuldig sehn, damit du Recht behältst? Sag, nimmst du es an Stärke mit mir auf? Kann deine Stimme donnern wie die meine? Dann zeige dich in deiner ganzen Pracht, lass dich in Majestät und Hoheit sehen! … zertrete die Verbrecher auf der Stelle! Wirf alle miteinander in das Grab, schick sie hinunter in die Totenwelt! Dann werde ich nicht zögern, dich zu rühmen, weil deine Hand den Sieg errungen hat.« (Hiob 40,7–10.12– 14 GN). Gott weist also die Klage Hiobs schroff zurück. Mehr noch, Gott wird ironisch: Kannst du mit mir mithalten? Bitte, lenke du doch die Welt, zieh’ die Bösen und Gewaltverbrecher aus dem Verkehr, dann will ich dich preisen! Allerdings ist dies nicht das letzte Wort Gottes. Am Ende des Hiobbuches sagt Gott (zu den Freunden Hiobs): »… ihr habt nicht recht von mir geredet wie mein Knecht Hiob« (Hiob 42,7). Die Stelle ist ein wenig rätselhaft, möglich aber ist, dass Gott sagen will: Hiob hat recht darin getan, bis zum Ende an seiner Unschuld festzuhalten und mit mir zu »kämpfen«, denn dadurch ist er in Beziehung zu mir geblieben. »Noch das böseste Wort zu GOTT ist besser als das frömmste Wort über GOTT.«16 Aber wie passt das zur ersten Gottesantwort (in c.

16 Diana Klöpper, Kerstin Schiffner, Gütersloher Erzählbibel, mit Bildern von J. Heidenreich, Gütersloh 22008, 227.

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40)? Oder sprechen hier zwei Gottesvorstellungen? Mit Jugendlichen könnte man beim Streit zwischen Hiob und Gott einhaken. »Stellt euch vor, auf einer Theaterbühne begegnen sich die Figuren ›Hiob‹ und ›Gott‹. Was würden sie einander sagen? Schreibt einen Sprechtext für ›Hiob‹ (s.o. Hiob 9–10) und einen für ›Gott‹ (s.o. Hiob 40 und 42) – oder lasst sogar zwei

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Gottesfiguren auftreten (c. 40 und 42 getrennt). Tragt eure Texte dramatisch vor. Können sich die Figuren am Ende die Hand reichen oder bleiben sie einander abgewandt stehen …? Probiert verschiede Möglichkeiten aus und besprecht sie.« Abschließende Betrachtung: »Fasst in eigenen Worten zusammen, was ihr in der Geschichte von Hiob und Gott entdeckt habt.«

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Frank M. Lütze Die Lichterkrippe als Bekenntnis Beobachtung zu Weihnachtswissen und -deutungen ostdeutscher Jugendlicher Was wird eigentlich an Weihnachten gefeiert? Wer den Sinn des Religionsunterrichts begründen muss – eine Aufgabe, die sich in Ostdeutschland dem Theoretiker wie dem Praktiker regelmäßig stellt –, verweist neben anderem gerne auf seine kulturhermeneutische Funktion: Er lehre, die Prägung unserer Kultur durch das Christentum zu verstehen. Als Beispiel wird dann etwa der Kalender angeführt, dessen Struktur und Hauptfeste sich dem Christentum verdankten und erst auf dem Hintergrund christlicher – in der Regel: biblischer – Überlieferung nachvollziehbar seien. Dass der Religionsunterricht in diesem Zusammenhang eine bildende, Kultur erschließende Funktion wahrnehmen kann, steht außer Frage. Die pauschale Fassung solcher Argumentationsmuster läuft freilich Gefahr, eine tabula rasa im Blick auf religionsbezogenes Wissen zu unterstellen, die es so selbst in säkularisierten Gegenden Ostdeutschlands nicht gibt. Ein empirisch fundierter Blick auf die Lernausgangslage kann hier vor falschen Alternativen bewahren und dazu beitragen, den Bildungsauftrag des Religionsunterrichts im Blick auf religiöse Prägungen der Alltagskultur genauer zu bestimmen. Das soll im Folgenden exemplarisch anhand einer kleinen Studie zu Weihnachtswissen und Weihnachtsdeutungen von Kindern und Jugendlichen1 aus Mitteldeutschland geschehen.

Zunächst werde ich (1.) Fragestellung, Design und Methodik der Studie skizzieren, bevor in zwei Hauptteilen wichtige Befunde zu Weihnachtswissen (2.) und Weihnachtsdeutungen (3.) vorgestellt werden. In einem vierten Teil schließlich geht es darum, die Beobachtungen auszuwerten und einige Herausforderungen im Blick auf den Umgang des Religionsunterrichts mit der Weihnachtsüberlieferung zu benennen. 1. Kennst du die Geschichte zur Krippe? Zur Datenerhebung

Wie schildern Jugendliche in Ostdeutschland jenes Geschehen, das an Weihnachten religiös im Zentrum steht? In welchem Umfang und in welcher Form sind ihnen biblische/christliche Traditionen dazu bekannt? Und in welchen Bezug setzen sie sich selbst zu diesem Geschehen? Diese Fragen galt es im Rahmen einer begrenzten empirischen Sondierung zu klären. Um Wissen und Haltung zur religiösen Fundierung des Weihnachtsfests individuell rekonstruieren und zugleich 1 Befragt wurden Schülerinnen und Schüler aus den Klassen 5 bis 9, d.h. Kinder und Jugendliche im Alter zwischen 11 und 15 Jahren. Der Einfachheit halber wird im Folgenden zusammenfassend von »Jugendlichen« gesprochen.

Lütze Die Lichterkrippe als Bekenntnis

mindestens ansatzweise quantitativ auswerten zu können, kam nur eine schriftliche Datenerhebung infrage. Der dafür konstruierte Bogen enthält zwei Schreibimpulse sowie ergänzend drei anzukreuzende Fragen zur religiösen Sozialisation. Beide Impulse gehen von einer (halb realen) Anforderungssituation aus, die indirekt mehrere Weihnachtsmotive enthält: Laura, eine 15-jährige Schülerin, fliegt Anfang Dezember zu einem Schüleraustausch nach Peking. Sie bringt neben anderem ihrer chinesischen Partnerschülerin den auf dem Arbeitsblatt abgebildeten Teelichthalter2 – eine angedeutete Darstellung einer Krippenszene – mit. Die Austauschschülerin kann mit der Abbildung nichts anfangen und bittet: »Kannst du mir die Geschichte zu dem Bild erzählen?« Dieser erste Impuls, für dessen Beantwortung etwa eine halbe Seite sowie bei Bedarf ein Zusatzblatt zur Verfügung steht, dient dazu, das Wissen der Schülerinnen und Schüler um die Geburtsgeschichte sichtbar zu machen. Auf der zweiten Seite folgt eine imaginäre Rückfrage der chinesischen Schülerin: »Das ist aber lange her … War-

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um stellt ihr euch das eigentlich auf in Deutschland? Würdest du dir so einen Kerzenhalter auch zuhause aufstellen? Warum?« und anschließend wiederum eine leere Sprechblase. Diese zweite – eingestandenermaßen etwas komplexe – Frage zielt darauf, in welchem Verhältnis sich »Laura« (bzw. der/die Jugendliche selbst) zur vom Kerzenhalter repräsentierten Geburtserzählung sieht. Am Ende enthält der Befragungsbogen drei statistische Fragen, die in enger Anlehnung an die jüngeren Untersuchungen im mitteldeutschen Religionsunterricht3 basale Indizien zur religiösen Sozialisation erheben: »Gehst du / geht deine Familie an Weihnachten in die Kirche?« (ja/ manchmal/nein), »Bist du getauft?« (ja/ nein/ich weiß es nicht) sowie »Glaubst du an Gott?« (ja/manchmal/nein). Die Befragung konnte an einer Gesamtschule in privater, nicht kirchlicher Trägerschaft im südlichen Sachsen2 Im Erhebungsbogen war eine Abbildung aus einem großen Online-Handel eingefügt. Aus Rechtsgründen wird die Abbildung hier durch eine eigene Nachzeichnung ersetzt. 3 Helmut Hanisch / Detlev Pollack, Religion – ein neues Schulfach. Eine empirische Untersuchung zum religiösen Umfeld und zur Akzeptanz des Religionsunterrichts aus der Sicht von Schülerinnen und Schülern in den neuen Bundesländern, Stuttgart 1997; Helmut Hanisch, »Sie sollen die Möglichkeit haben, sich mit dem christlichen Glauben zu beschäftigen«. Die Schule als Lernort des Glaubens im ostdeutschen Kontext, in: Michael Domsgen (Hg.), Konfessionslos – eine religionspädagogische Herausforderung. Studien am Beispiel Ostdeutschlands, Leipzig 2005, 185–240; Michael Wermke, Evangelischer Religionsunterricht in Ostdeutschland. Empirische Befunde zur Teilnahme Thüringer Schülerinnen und Schüler, Jena 2006; Michael Domsgen / Frank M. Lütze, Schülerperspektiven zum Religionsunterricht. Eine empirische Untersuchung in Sachsen-Anhalt, Leipzig 2010.

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Anhalt durchgeführt werden. Der Ort, eine Kleinstadt mit knapp 10.000 Einwohnern im Umfeld des Ballungsraumes Halle/Leipzig, weist eine im ostdeutschen Durchschnitt typische religionssoziologische Zusammensetzung auf: Unter 16 % der Einwohner sind evangelisch, weitere 2 % katholisch; die große Mehrheit gehört dagegen keiner Religionsgemeinschaft an. Die Gesamtschule wird als einzige weiterführende Schule vor Ort von vielen Eltern für ihre Kinder präferiert. Ungeachtet des konfessionslosen Kontextes besteht der – seinerseits nicht religiös geprägte – Trägerverein darauf, dass an der Schule ausschließlich Religionsunterricht erteilt wird, an dem entsprechend alle Schülerinnen und Schüler teilnehmen. Insofern besteht Grund zu der Annahme, dass eine Befragung im Religionsunterricht dieser Schule nicht nur religiös geprägte Jugendliche erreicht. Tatsächlich sind von den 102 Schülerinnen und Schüler der Klassen 5, 6, 8 und 9, die den Bogen im Religionsunterricht ausgefüllt haben, nach eigenen Angaben nur 17 getauft – ein Wert, der recht genau die Situation im Ort spiegelt. Im Vergleich dazu deutlich weiter verbreitet sind ein gelegentlicher Kirchbesuch zu Weihnachten (40 %) sowie ein Selbstverständnis als an Gott glaubend (»Ja«: 18,6 %; »Manchmal«: 21,6 %): Indizien, die davor warnen, Konfessionslosigkeit mit Glaubenslosigkeit und kirchlicher Abstinenz gleichzusetzen. Überschätzen sollte man die religiösen Bezüge der Befragten gleichwohl nicht: Mehr als die Hälfte der Befragten geht Weihnachten nie in die Kirche und gibt an, nicht an Gott zu glauben. Inwiefern die an einem Ort in Sachsen-Anhalt erhobenen Daten repräsen-

tativ sind für Ostdeutschland insgesamt, ist eine eigene Frage. Schon die geringe Stichprobengröße sowie die Begrenzung auf einen Befragungsort verbieten es, in einem strengen statistischen Sinne von Repräsentativität zu sprechen. Es darf auch nicht übersehen werden, dass die religiöse Lage in Ostdeutschland starke regionale Differenzen kennt: Liegt in einigen Gebieten der Anteil aller Religionsangehörigen in der Bevölkerung zusammengenommen im einstelligen Prozentbereich, weisen die südsächsischen Regionen, insbesondere das Erzgebirge und das Vogtland, fast volkskirchliche Verhältnisse auf. Die notwendige Regionalisierung solcher Daten sollte freilich nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich die religionssoziologische Großwetterlage in Ost- und Westdeutschland nach wie vor signifikant unterscheidet.4 Zumindest im Blick auf die geringe Konfessionszugehörigkeit spiegelt die vorliegende Stichprobe Verhältnisse, wie sie für den Osten Deutschlands typisch, im Westen jedoch kaum anzutreffen sind. Inwieweit auch die im Folgenden vorgestellten Antworten der Schülerinnen und Schüler diese Differenz spiegeln, muss je im Einzelfall bedacht werden.

4 Vgl. Gert Pickel, Atheistischer Osten und gläubiger Westen? Pfade der Konfessionslosigkeit im innerdeutschen vergleich, in: Gert Pickel / Kornelia Sammet (Hg.), Religion und Religiosität im vereinigten Deutschland. Zwanzig Jahre nach dem Umbruch, Wiesbaden 2011, 43–77; Gert Pickel, Religiosität in Deutschland und Europa – Religiöse Pluralisierung und Säkularisierung auf soziokulturell variierenden Pfaden in: Zeitschrift für Religion, Gesellschaft und Politik, 1. Jg., 2017, 37–74.

Lütze Die Lichterkrippe als Bekenntnis

2. Jesus, Herr Rots und die Möhren: Zur Darstellung der Geburtsgeschichte

Offenbar fällt es den Jugendlichen zumindest im Grundsatz nicht schwer, mit der gezeigten Lichterkrippe die Erzählung von der Geburt Jesu zu verbinden: Aufgefordert, die Geschichte zu dem Bild zu erzählen, nehmen von den 102 befragten Jugendlichen 85 explizit Bezug auf die christliche Erzählung.5 Dabei schwankt der Umfang des Geschriebenen zwischen einem kurzen Hauptsatz (»Das Bild zeigt die Geburt Jesus«) und einer fast 200 Wörter langen, detailreichen Nacherzählung der Geburtsgeschichte. Inhaltlich gehen die meisten Schilderungen von einer Bildbeschreibung aus und erläutern das Gezeigte unter Rückgriff auf die Erzählung von der Heiligen Familie (a) und der Krippe (b), die häufig um die – nicht dargestellten – Erzählungen vom Hirten- und Dreikönigsbesuch (c) ergänzt wird. Vergleichsweise selten begegnen demgegenüber in den Darstellungen religiöse bzw. theologische Deutungen des Erzählten durch himmlische Figuren oder Christusprädikationen (d). a) Die Geschichte von der Geburt Jesu wird überwiegend als Familiengeschichte geschildert, deren Protagonisten Jesus, Maria und Joseph in mehr als der Hälfte der Texte auch namentlich erwähnt werden. Nicht selten zeichnen die Jugendlichen die Geburtsgeschichte ein in die Lebenswelt gegenwärtiger junger Familien: Ein junges Paar ist »sehr glücklich über ihr Kind Jesus« (8–18)6 und sorgt nach der Niederkunft für das »Baby« in der »Wippe«; die Frau »betet über Jesus z.B. dass er […] ein langes Leben haben soll«, der Mann im Bild »hoft das er lange lebt

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und glücklich bleibt« (5–08) und beide beschließen, »dass ihr Kind Jesus getauft werden sollte« (8–18). Dass Joseph der Vater des Kindes ist, wird in zahlreichen Texten postuliert (»Vor langer Zeit grikte Maria […] ein Kind von einem Hirten der Joseph hieß«, 6–02; »Maria und Josef haben sich gefunden und ein Kind gezeugt«, 8–11) und nur in wenigen Texten reflektiert (s.u. Absatz d); das Theologumenon der Jungfrauengeburt spielt kaum eine Rolle in den Darstellungen. b) Auch das Setting mit der Krippe sowie einem Stall scheint vielen Jugendlichen vertraut. Einige wiederkehrende Elemente entstammen allerdings nicht der biblischen Tradition, sondern schmücken diese narrativ aus, darunter die stereotyp berichtete Niederkunft in einem Stall bzw. einer »Scheune«, zusätzliche Gestalten wie Bauern, Wirte oder Schäfer und nicht zuletzt das Motiv der Herbergssuche: Maria und Joseph »gingen zu mehreren Häusern« (6–24), »klingeln an viele Türen« (6–01), »klopften wie arme Leute« (6–12), »klopften an jedem Gasthaus« (6–23), denn »überall war es voll« (6–10) und es gab keine »Hotels mehr« (5–16). Es sind, mit anderen Worten, typische Motive aus Krippenspielen, die hier die biblische Tradition überformen. Bei der Vermittlung der Weihnachtserzäh-

5 Elf weitere Jugendliche bekunden, keine Auskunft geben zu können (etwa: »Nein ich kann dir nicht helfen ich kenne die Geschichte nicht«, 5–07), ein Schüler beschränkt sich auf eine reine Bildbeschreibung ohne Rekurs auf die Geburtsgeschichte und 6 Schülerinnen und Schüler lassen das Feld ohne Eintragung. 6 Die erste Ziffer der Anonymisierungsnummer verweist auf die Klassenstufe, aus der der Bogen stammt. Die Orthographie der Texte wurde beibehalten.

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Bekannte und unbekannte biblische Texte mit Jugendlichen erschließen

lung scheinen diese eine zentrale Rolle zu spielen – und das interessanterweise auch bei Jugendlichen, die angeben, Weihnachten nicht in die Kirche zu gehen. Dass die Aneignung dieser Erzählung nicht durch Lektüre, sondern über die mündliche Tradition erfolgt, belegen nicht zuletzt einige orthographische Fehler, die nur als Hörfehler zu erklären sind, etwa »Herr Rots« (gemeint ist Herodes, 8–02) oder die von den Königen mitgebrachten »Möhren« (8–24 u.ö.). c) Die zu erklärende Lichterkrippe zeigt nur die Krippe und zwei Seitenfiguren, die man als Maria und Joseph oder Maria und einen Hirten interpretieren kann. Ein gutes Viertel der Jugendlichen greift jedoch darüber hinaus und berichtet auch von den in Mt 1 sowie Lk 2 berichteten Besuchern an der Krippe: von Königen bzw. weisen Männern (24 Erwähnungen) oder/und Hirten (16 Erwähnungen). Die Besucher (auch die Hirten!) folgen dem Stern, die Könige bringen in vielen Darstellungen etwas mit, und manchmal verhalten sie sich ganz wie eine moderne Verwandtschaft, die den Nachwuchs zum ersten Mal besucht: »Zur Feier kamen die 3 Prinzen und viele mehr« (9–05), »beschenken Jesus (das Baby)« (6–01) und »wünschten Jesus was« (9–10). Die Popularität der Krippenbesucher überrascht, zumal in der Region, in der die Jugendlichen leben, Sternsingertraditionen keine Rolle spielen. Auch hier kommen in erster Linie wohl Krippenspiele, daneben auch Krippendarstellungen (etwa auf erzgebirgischen Pyramiden) als Vermittlungsin­ stanz in Frage. d) Ist die Geschichte von der Geburt Jesu eine religiöse Geschichte? Zumindest ihrem Inhalt nach keineswegs zwin-

gend: Etwa die Hälfte der Jugendlichen erzählt eine profane Geburtsgeschichte ohne jeden transzendenten Bezug (was nicht ausschließt, dass sie von den Jugendlichen dennoch als religiöse, an den christlichen Glauben gebundene Geschichte wahrgenommen wird – siehe unten Kap. 3). Die andere Hälfte bezieht ein oder mehrere eindeutig religiöse Elemente in die Geburtserzählung mit ein. Dabei lassen sich drei Arten eines Transzendenzbezuges unterscheiden. Vergleichsweise häufig begegnet – durch die Darstellung ja naheliegend – die Deutung der linken Figur als Beter/in. Zweitens tritt gelegentlich ein Engel auf, der »Maria und Josef sagte dass sie schwanger ist und es ein Engelskind ist« (8–20), der den Hirten »im Traum« (6–17) erscheint und verkündet, dass, »wenn eine Sternschnuppe vorbeifliegt, der Sohn Gottes geboren ist« (9–03) und der die Könige »die ganze Zeit beobachtet« (6–05). Ausführlicher zu betrachten sind schließlich drittens die Prädikationen, die dem Kind in der Krippe beigelegt werden. Einige Aufsätze bezeichnen Jesus als »was Besonderes« oder »ein wundersames Kind«, andere greifen Prädikate aus der Tradition (wie Held, König, Retter, Heiland, Prophet) auf oder nehmen Bezug auf sein Handeln: »Jesus ist ein Besonderer Mensch, er hat Menschen geholfen eine unheilbare Krankheit zu heilen« (9–04); »Später erzählt er allen von Gott er wird zum Wunderheiler« (6–13). Bei der häufigen Benennung als »Jesus Christus« bzw. »Christkind« in den Texten ist kaum zu unterscheiden, ob »Christus« attributiv oder als schlichter Namensbestandteil verstanden wird. Eindeutig religiös gefärbt ist demgegenüber die Bezeichnung als »Gottessohn«,

Lütze Die Lichterkrippe als Bekenntnis

»Sohn des christlichen Gottes« oder »Gott«, die immerhin in jedem sechsten Aufsatz auftaucht. Mehrheitlich geschieht das im Modus einer schlichten Tatsachenfeststellung; nur wenige Texte markieren demgegenüber den Gottessohntitel explizit als Glaubensaussage oder beziehen ihn auf die biologische Abstammungsfrage. Die Verankerung des Titels im christlichen Glauben wird dann etwa so formuliert: »Manche Menschen sagen Jesus ist das Kind Gottes« (5–2); »Man erzählt sich auch das Jesus der Sohn Gottes ist« (8–01) bzw. er »wurde Also für Gottes Sohn gehalten« (8–30). Auch die Frage nach der genetischen Abstammung Jesu ist selten im Fokus; die meisten Äußerungen gehen selbstverständlich auch dann von einer Vaterschaft Josephs aus, wenn sie daneben vom »Gottessohn« sprechen. Zwei jüngere Schüler/innen heben explizit die biologische Vaterschaft Gottes hervor: »Ich weis es leider nicht mehr so gut nur das Gott und Maria ein Kind bekamen und in einem Stall waren weil niemand Platz hatte« (5–06); »die Jungfrau Maria hatte von Gott ein Kind bekommen« (6–09). Genauere Erläuterungen zur Abstammung tauchen erst bei einigen Schüler*innen der 9. Klasse auf: Er »wird als Gottes Sohn bezeichnet, da Maria auf unerklärliche Weise schwanger wurde. Gott hat zu Joseph gesprochen, dass das Kind nicht von Joseph ist, sondern von Gott. Allerdings ist das schon 2020 Jahre her« (9–07); »Die Eltern des Kindes sind eigentlich nicht seine richtige Eltern zumindest nicht der Vater Weil das Kind ist Jesus, Jesus ist der Sohn Gottes« (9–18) und in möglicherweise adoptianistischer Logik: »Seine Eltern heißen Maria und Joseph. Jesus wurde Gottes Sohn.« (9–19)

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3. »Ich würde mir das aufstellen, wenn ich Christ wäre«: Die Lichterkrippe als Bekenntnis

Geht es im ersten Teil des Fragebogens um die Präsentation des Weihnachtswissens, zielt der zweite Teil auf den eigenen Umgang mit einem weihnächtlichen Gegenstand und der durch ihn repräsentierten Geburtserzählung. Auch diese Aufgabe (»Würdest du dir so einen Kerzenhalter auch zuhause aufstellen? Warum?«) ist als fiktive Frage der chinesischen Austauschschülerin formuliert und könnte entsprechend aus Sicht von »Laura« beantwortet werden. Ein knappes Drittel der zurückgegebenen Bögen enthält zu dieser Frage keinen Text; ob das an der knapp werdenden Zeit lag oder aber an einer Aufgabenstellung, die stärker auf persönliche Haltungen zielt, lässt sich im Rückblick kaum rekonstruieren. Bemerkenswert ist jedenfalls, dass die Mehrzahl der Schülerinnen und Schüler, die auf die Frage eingehen, dabei den fiktiven Rahmen verlässt und eine eigene persönliche Antwort gibt. Ihre Texte zu der zweiten Aufgabe folgen einen relativ einheitlichen, durch die Frage vorgegebenen Aufbauschema: Die Schülerinnen und Schüler antworten mit »Ja« oder »Nein«, gefolgt von einer Begründung in ein bis drei Sätzen. Dabei kommt ein begrenztes Repertoire von Argumenten zum Zug: Fast alle Begründungen – gleich, ob die Frage bejaht oder verneint wird – rekurrieren dabei entweder auf Tradition, auf ästhetische Erwägungen oder aber auf religiöse Überzeugungen. Einige Schüler/innen verbinden den gezeigten Kerzenständer mit weihnachtlichen, eher kulturell als spezifisch religiös konnotierten Traditionen. Für die einen

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Bekannte und unbekannte biblische Texte mit Jugendlichen erschließen

liegt darin ein zureichender Grund, einen solchen Kerzenständer aufzustellen: »weil es weihnachtlich ist« (5–16), »weil es was mit Weihnachten zu tun hat« (6–06), »weil das eine christliche Kerze ist und wir in Deutschland sowas auch aufstellen« (8–27) – kurz: »Wir machen das schon immer so. Deswegen würde ich das auch machen« (9–08). Andere Schüler*innen begründen mit ebendiesen Assoziationen ihre Ablehnung: Sie würden sich den Kerzenständer nicht aufstellen, »weil mich sowas nich interesirt« (5–17), weil »ich […] mit Weihnachten nicht viel zu tun« habe (9–02), oder, wie jemand aus der 6. Klasse seine Kritik formuliert: »Nein! weil ich bin Modern« (6–26). Eine gewisse Rolle spielen daneben ästhetische Gesichtspunkte, die für einige gegen eine Aufstellung des Gegenstandes (»weil ich mag solche Kerzenhalter nicht und die passen nicht in mein Zimmer«, 6–10; »ist jetzt nicht die schönste Deko«, 6–24), aus Sicht anderer dafür sprechen: »weil es als Brauch sehr schön ist und als Deko sehr gut aussieht« (8–01) »Ich mag es, wenn das Licht über den Tisch und Wände tanzt« (6–14), und in expliziter Abwägung gegen religiöse Motive: »Ich glaube zwar nicht dran aber sieht gut aus« (9–10). Im Vordergrund steht jedoch der Rekurs auf die eigene Haltung zum christlichen Glauben: Von den 72 Schülerinnen und Schülern, die auf die Schreibaufgabe eingegangen sind, macht fast die Hälfte (35) religiöse Gründe für oder gegen eine Aufstellung des Kerzenhalters geltend. Die Dominanz dieser Begründung ist überraschend, zumal die Rahmenerzählung eine solche Deutung nicht eben nahelegt: Der Kerzenhalter wird in der Kombination mit Lebkuchen und Räu-

chermännchen einer chinesischen, offensichtlich nicht christlichen Schülerin ja als eine Art Traditionsgut mitgebracht. Sieht man sich die religiösen Begründungen genauer an, so fallen drei Dinge auf: a) Die Beschreibung des eigenen NichtGlaubens als Ablehnungsgrund erfolgt in relativ stereotypen Formulierungen; b) zwischen Christen und Nichtchristen wird strikt unterschieden; schließlich spielen c) wertende Äußerungen nur eine marginale Rolle. a) Vereinzelt geben Jugendliche, die den gezeigten Kerzenhalter als Ausdruck ihres Glaubens aufstellen würden, näheren Einblick in diesen Glauben: »Ja ich bin christlich und Jesus hat für alle Menschen gelitten damit sie den schmerz und Sünden nicht auf sich nehmen müssen deshalb denke ich in wenigstens ein bisschen zu ehren angebracht« (6–13); »weil wir die Christen daran glauben und als er geboren wurde war das ein wichtiger Beweis für Gott« (6–09); »weil es mich an Jesus Geburt erinert und an Gott. Es gibt mir immer wieder neue hoffnung wenn ich mal traurig bin« (5–04) »Außerdem erinnert mich dass an Gott und irgendwie beruhigt es mich wenn ich es sehe und ich mag Gott« (6–20). Religiös begründete Ablehnung wird dagegen fast durchgehend stereotyp formuliert: Ich glaube nicht an Gott, bin nicht gläubig, nicht Christ/christlich oder gehöre keiner Religion an. b) Schon der hohe Grad an Formalisierung deutet darauf hin, dass eine strikte Dichotomie zwischen Christen und Nichtchristen angenommen wird: Man ist (schon immer) Christ oder man ist eben kein Christ, tertium non datur. Das wird in einigen Aufsätzen durch eine explizite Gegenüberstellung noch

Lütze Die Lichterkrippe als Bekenntnis

unterstrichen: »Ich würde mir das aufstellen, wenn ich Christ wäre und daran denken würde. Wenn ich gläubig bin« (8–09); »Viele stellen sich das auf weil christlich sind und an Gott glauben. Ich persönlich mache ich mich weil ich nicht christlich bin und auch nicht an Gott glaube« (8–26); »Es stellen ja nur die Menschen auf, die auch an Gott (Jesus) glauben. Ich würde mir so etwas nie zu Hause aufstellen weil ich nicht an Gott glaube und noch nie etwas damit zu tun hatte.« (9–20). Lediglich zwei Äußerungen verlassen den Rahmen einer kontradiktorischen Alternative: »Ich denke zwar, dass es Gott gibt aber ich glaube nicht an ihn« (9–03) sowie »ich klaube nicht wirklich an Gott aber ich kann es jah nicht wissen ich bihn jah nicht TOT« (6–15).7 c) So eindeutig die Unterscheidung zwischen Christen und Nichtchristen getroffen wird, so wenig geht sie mit Bewertungen oder polemischen Abwertungen einher. Diese Zurückhaltung spiegeln auf ihre Weise selbst jene beiden Texte, die überhaupt eine polemische Note enthalten. So schreibt ein Schüler/eine Schülerin: »[…] weil ich nicht christlich bin und ich stelle lieber was moderneres hin. (Nicht bös gemeint an die Christen)« (6–19); und ein/e andere/r äußert deutliche Religionskritik, um sie gleich im Anschluss wieder zu relativieren: »[…] weil ich nicht an Gott glaube und weil ich sowas nicht mag betten mag ich auch halt nicht weil das quatsch ist finde ich aber ist ja meine Meinung jeder hat seine eigene« (6–08). Das Gewicht, das in den Texten der Jugendlichen religiösen Begründungen gegenüber Traditionsargumenten oder ästhetischen Erwägungen zukommt, ist

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bemerkenswert. Für viele ist offenkundig die Lichterkrippe in erster Linie nicht weihnachtliche Dekoration, sondern ein Bekenntnisgegenstand »der« Christen. Entsprechend hängt der Gebrauch davon ab, ob man sich zu dieser Gruppe oder aber zur Gruppe der Nichtchristen zählt: eine dichotome Alternative, zwischen der die Texte überraschend wenig Raum lassen für diffuse Religiositäten oder fluide Selbstverortungen. 4. »Ich glaube nicht an Gott und auch nicht an diese Geschichte«: Zwischenfazit

Die vorgestellten Ergebnisse gewähren einen ersten Einblick in die Vorstellung, die mehrheitlich konfessionslose Schülerinnen und Schüler mit Weihnachten verbinden. Sie sind zwar im statistischen Sinne nicht repräsentativ – die Daten stammen aus einer begrenzten Untersuchung an einer einzigen Schule im mitteldeutschen Raum –, doch erlauben sie die Rekonstruktion von Wissensstrukturen und Argumentationsmustern, die kennzeichnend für diesen Kontext scheinen. Einige sollen an dieser Stelle zusammenfassend aufgegriffen und mit ersten didaktischen Konsequenzen verbunden werden. Bemerkenswert ist zunächst, dass elementare Strukturen und Figuren der Weihnachtsgeschichte den befragten Jugendlichen weitgehend bekannt sind. Jene tabula rasa, die der vorgebliche

7 Bei der Frage »Glaubst du an Gott« ist auf diesem Bogen sowohl »Nein« als auch »Manchmal« angekreuzt.

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DDR-Begriff »Jahresendflügelfigur«8 signalisiert, scheint es so nicht oder jedenfalls nicht mehr zu geben. Dass es einmal eine Maria gab, die Jesus in einem Stall zur Welt brachte, dass in der Geschichte auch Joseph und Hirten und Könige vorkommen: Das kann im Religionsunterricht der Sekundarstufe I selbst in einer säkularisierten Gegend Mitteldeutschlands weitgehend als Basiswissen vorausgesetzt werden. Dieses Wissen – so haben wir weiter gesehen – wird von den Befragten in einer Weise präsentiert, die vermuten lässt, dass es auf mündliche Erzählungen sowie auf Krippenspiele zurückgeht und bereits in der Vorschuloder Grundschulzeit erworben und abgespeichert wurde. Diese Vermittlung der Geschichte bereits in der Kindheit könnte mitursächlich sein für die deutliche Diskrepanz im Blick auf ihre religiöse Valenz, die zwischen der Schilderung (vgl. Kap. 2) und der persönlichen Stellungnahme (Kap. 3) zu beobachten ist. Während die Jugendlichen die Geschichte von der Krippe dem Inhalt nach als profane, allenfalls um religiöse Requisiten angereicherte (Kinder-)Geschichte erzählen, machen ihre – in ihrer gegenwärtigen, jugendlichen Lebenswelt verorteten – Stellungnahmen deutlich, dass der Gebrauch der Geschichte für viele dennoch eine Bekenntnishandlung darstellt. Warum eigentlich, wenn es sich doch um eine bloße Allerweltsgeschichte von einer schwierigen Geburt und ein paar merkwürdigen Besuchern handelt? Hier klafft in der Tat eine argumentative Lücke – und das selbst bei jenen Schülerinnen und Schülern, die sich aus Glaubensgründen einen Kerzenhalter aufstellen würden: Dass er ihnen »Hoffnung« gibt,

sie »an Gott erinnert« oder Jesus ehrt, der »für alle Menschen gelitten« hat, legt ja der Krippenszene eher eine sekundäre religiöse Funktion bei als die religiöse, auf die Gegenwart bezogene Relevanz des gezeigten Geschehens selbst zu erschließen. Diese Diskrepanz deutet die Richtung an, in der m.E. religionspädagogischer Handlungsbedarf besteht. Zwar zeigen die Darstellungen der Weihnachtsgeschichte vereinzelt Wissenslücken, und ein kleiner Teil der Jugendlichen scheint die Geschichte gar nicht zu kennen. Dennoch: Eine bloße Nacherzählung der Geburtsgeschichte Jesu als Festlegende zu Weihnachten in der Sekundarstufe I ist selbst in Ostdeutschland selten notwendig, in jedem Falle aber religionspädagogisch nicht hinreichend. Denn die Hauptherausforderung liegt nicht in der Übermittlung basalen kulturellen Wissens, sondern in der Erschließung seiner religiösen Relevanz. Das erfordert zum einen religiöse Überlieferungen auch dann, wenn sie eine narrative Gestalt haben, nicht auf Kindergeschichten für Grundschule und Christenlehre zu verkürzen, sondern sie prinzipiell in der Sekundarstufe I erneut aufzugreifen: die Weihnachtsgeschichte aus Lk 2 und Mt 1 nicht weniger als etwa die Patriarchenerzählungen oder die Moseüberlieferung. Das setzt aber zum anderen ein theologisches Konzept voraus, worin denn nun eigentlich konkret die religiöse Relevanz der Geburtsgeschichte besteht: eine 8 Realität und Legendenbildung sind bei diesem Begriff kaum voneinander zu unterscheiden, siehe http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft /wortmysterium-jahresendfluegelfigur-wer-sagt -denn-so-was-a-456541.html (zuletzt abgerufen am 22.07.2017).

Lütze Die Lichterkrippe als Bekenntnis

Herausforderung, die durch altbekannte dogmatische Floskeln vielleicht eher überdeckt als plausibel gelöst wird und die ernsthaft zu denken gibt. Es ist der besondere Charme eines Religionsunterrichts mit konfessionslosen Kindern und Jugendlichen, auf solche Argumentationslücken in längst eingespielten Sprachmustern aufmerksam zu machen. Die damit gestellte Aufgabe, den religiösen Sitz im Leben von Traditionsstücken (wieder) zu entdecken, kann einen wich-

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tigen Beitrag zur Profilierung des Fachs gleichermaßen in konfessionslosem wie in volkskirchlichem Kontext leisten. Der vorliegende Beitrag untersucht im kleinen Rahmen den Wissensstand und die Deutungen ostdeutscher Jugendlicher bezogen auf die christliche Weihnachtsgeschichte. Neben einer anschaulichen Analyse des Materials werden auch religionspädagogische Konsequenzen aufgezeigt.

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Axel Wiemer »Meistens glauben wir in Ruhe an Gott oder Jesus.« – Eine siebte Realschulklasse begegnet dem Galaterbrief

Im Religionsunterricht stehen die Briefe des Paulus meist im Schatten der Erzählungen der Apostelgeschichte. Das dürfte an deren Sperrigkeit liegen: Der Apostel hat offenbar keinen Kurs über »leichte Sprache« besucht und manche historischen Sachverhalte müssen zunächst geklärt werden. Die anschauliche Konkretion der lukanischen Berichte wirkt da zugänglicher. Meine These ist aber, dass die paulinische Theologie sich in jugendtheologischer Perspektive als anregender und gut begründeter Unterrichtsgegenstand erweist.1 Trotz anregender Unterrichtsideen, die besonders zum ›Paulusjahr‹ 2008 publiziert wurden,2 läuft eine solche Sichtweise der Praxis des Religionsunterrichts wohl noch zuwider und dürfte unter dem Verdacht stehen, allenfalls im Gymnasium zu funktionieren. Ich habe daher bewusst in einer siebten Realschulklasse3 unter dem Titel »Die Selbstfindung des Christentums« einen Unterrichtsversuch zum Galaterbrief unternommen.4 Dass die Frage nach Identität die Jugendlichen intensiv beschäftigt, muss nicht eigens dargelegt werden. Paulus und der Galaterbrief bieten hierfür einen doppelten Impuls: Zum einen ist die Person des Apostels interessant – Paulus versteht seine eigene Identität im Licht der Christusbegegnung vor Damaskus grundlegend neu und tritt auf dieser Basis mit einer fast irritierenden

Selbstgewissheit auf. Zum anderen bringt er dies im Galaterbrief in einer Zeit und Situation zur Sprache, in der es so etwas wie eine christliche Identität noch nicht gibt oder genauer: in der darum gestritten wird, ob es eine solche gibt und wie sie ggf. zu beschreiben wäre. Das fängt schon damit an, dass es in der Zeit des Paulus noch kein Neues Testament gibt:

1 Ausführlich habe ich dies begründet in Axel Wiemer, Der Galaterbrief im Religionsunterricht. Die Theologie des Paulus in ihrer Zeit und im Dialog mit Jugendlichen heute, Göttingen 2017. 2 Ich zähle nicht alles auf, was an Themenheften verschiedener religionspädagogischer Zeitschriften erschienen ist, sondern hebe hervor Joachim Jeska, Paulus verorten, verstehen und verinnerlichen. Plädoyer für eine intensivere Auseinandersetzung mit dem Apostel im Religionsunterricht, in: David C. Bienert / Joachim Jeska / Thomas Witulski (Hg.), Paulus und die antike Welt. Beiträge zur zeit- und religionsgeschichtlichen Erforschung des paulinischen Christentums. FS Dietrich-Alex Koch (FRLANT 222), Göttingen 2008, 210–229. Einen aktuellen Überblick mit wichtigen Impulsen bietet Johannes Woyke, Art. Paulus, bibeldidaktisch, Sekundarstufe, wirelex.de, Februar 2016, online zugänglich unter http://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/100149/. 3 Der Schule, der Fachkollegin und v.a. den 28 Schülerinnen und Schülern ›meiner‹ Religionsklasse habe ich auch über die Überlegungen dieses Aufsatzes hinaus viel zu verdanken. 4 Zusammen mit Ingrid Käss bereite ich eine überarbeitete und ausgebaute Fassung der Unterrichtsideen für RU kompakt. Sekundarstufe I, Klassen 7–9, Stuttgart 2018 vor.

Wiemer Eine siebte Realschulklasse begegnet dem Galaterbrief

Die Heilige Schrift der ersten Christen war in etwa das, was wir das Alte Testament nennen.5 Auf diesem Hintergrund ist erst einmal nichts von all dem selbstverständlich, was christliche Theologie auf der Basis des Neuen Testaments für tragende Einsichten hält. Daher lassen sich hier historische Einsichten gewinnen, die für ein Verstehen der Beziehung von Juden- und Christentum ebenso wichtig sind wie für einen reflektierten Umgang mit der Bibel. Eine Beschäftigung mit dem Galaterbrief setzt Impulse für die Entwicklung eigener hermeneutischer und damit theologischer Kompetenz6: Wird er als Brief (und nicht schon als Heilige Schrift) betrachtet, gelingt es leichter, einen Zugang zu ihm zu gewinnen und sich selbst in ein Verhältnis zu ihm zu setzen. Ein Brief als Teil eines Dialogs fordert zur eigenen Stellungnahme geradezu heraus. Auf diesem Weg lassen sich Einsichten erwerben, die für den Umgang mit der Bibel insgesamt von Bedeutung sind. Was auf diesem Weg möglich ist und wo besondere Schwierigkeiten liegen, diskutiere ich im Folgenden anhand der Unterrichtsprozesse in jener siebten Realschulklasse. Dabei zeichne ich nicht den Duktus der Unterrichtseinheit nach (6 Doppelstunden), sondern diskutiere in verschiedenen Analyseperspektiven ausgewählte Elemente. Meine Kriterien unterscheiden bewusst nicht zwischen inhaltlichen und formalen Aspekten, sondern ordnen Fragestellungen beider Arten passend zusammen. Die Darstellung lässt sich so auch als Beitrag zur Diskussion von Leitperspektiven aktueller bibeldidaktischer und bibelhermeneutischer Diskurse an einem konkreten Beispiel lesen.

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1. Begegnung – Paulus fasziniert und befremdet

In allen neueren bibeldidaktischen Entwürfen ist die Kategorie der Begegnung zentral, alternativ auch als Gespräch, Dialog o.ä. bezeichnet: In einer wechselseitigen Erschließung sollen sowohl die Schülerinnen und Schüler als auch die biblischen Texte mit ihren je eigenen Stimmen zur Geltung kommen. In Kategorien des kinder- und jugendtheologischen Diskurses lässt sich das so übersetzen, dass hier sowohl die grundlegende Subjektorientierung (Theologie von und Theologisieren mit Kindern bzw. Jugendlichen) als auch die Angewiesenheit auf theologische Impulse (Theologie für Kinder bzw. Jugendliche) aufgenommen ist. Die Leitkategorie Begegnung bzw. Gespräch akzentuiert die Frage, wie beides aufeinander bezogen ist. Am einfachsten lässt sich dieses Ideal am Modell der Begegnung zweier Personen verstehen. Diesem kommen die Paulusbriefe besonders nah: Sie sind die einzigen biblischen Texte, die sich als autobiographische Zeugnisse einer historisch identifizierbaren Person und erkennbaren Situationen 5 Historisch ist die Lage komplexer: Der Kanon der hebräischen Bibel wurde erst nach der Zerstörung Jerusalems durch die Römer 70 n.Chr. fixiert. Das entstehende Christentum orientiert sich zudem an der griechischen Übersetzung (Septuaginta), die einen weiteren Kanon umfasst. 6 Wie Mirjam Zimmermann, Kindertheologie als theologische Kompetenz von Kindern. Grundlagen, Methodik und Ziel kindertheologischer Forschung am Beispiel der Deutung des Todes Jesu, Neukirchen-Vluyn 22012, sehe ich das eigentliche Ziel eines theologisierenden Arbeitens auch mit Jugendlichen in der Förderung ihrer theologischen Kompetenz.

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zuordnen lassen.7 Darüber hinaus sind alle Paulusbriefe Teil eines historischen Dialogs – Paulus schreibt (außer im Römerbrief) an seine Gemeinden, also an Menschen, die er persönlich kennt und mit denen er schon länger im Gespräch steht. Mit den Briefen ist zwar kaum die Hälfte dieser Kommunikation erhalten, doch wird die dialogische Situation und das engagierte Eintreten des Paulus für seine Position erkennbar, wenn die Briefe nicht nur in Gestalt einzelner Kernsätze wahrgenommen werden. So lassen sich in den Paulusbriefen Entdeckungen machen, die durch die Berichte der Apostelgeschichte über Paulus nicht eröffnet werden. Ein Beispiel: Die Hinweise des Paulus auf seine Christusbegegnung vor Damaskus sind die einzigen Originalzeugnisse einer Erscheinung des Auferstandenen, die das Neue Testament überliefert. Schon deswegen legt es sich nahe, diese in den Blick zu nehmen und nicht die Versionen der Apostelgeschichte (9; 22; 26), die von Details wissen, die Paulus nie erwähnt. Ihm ist vor allem wichtig, was er durch die Christusbegegnung erkannt hat. Von dem konkreten Geschehen spricht er hingegen nur in kurzen Andeutungen, lässt also große Leerstellen. Diese wecken das Interesse der Schülerinnen und Schüler. Das zeigte sich schon in der ersten Doppelstunde, in der die Christusbegegnung lediglich im Rahmen einer einführenden Erzählung kurz erwähnt wurde: »Und auf diesem Weg steht plötzlich der auferstandene Jesus vor mir. Gott selbst hat ihn mir gezeigt – genauer kann ich das gar nicht beschreiben. Aber da fiel es mir wie Schuppen von den Augen.«8 Wie Paulus selbst legte die weitere Erzählung den

Akzent auf die Bedeutung, die dieses Erlebnis für den Apostel hatte. Im weiteren Verlauf der Doppelstunde nahmen wir mit Gal 1,1–9 einen ersten Abschnitt des Briefes in den Blick. Am Ende erhielten die Jugendlichen Gelegenheit, Fragen zu notieren, die sie Paulus gerne stellen würden. Durchaus überraschend bezog sich jede fünfte dieser Fragen auf die Christusbegegnung aus der Erzählung zurück. Ein Schüler wollte wissen: »Wie sah Jesus aus?«9 Eine andere Gestalt dieser Frage könnte auch schon auf den Modus der Begegnung zielen: »In welcher Form hast du Jesus gesehen?« Nach der zweiten Doppelstunde zu Gal 1,10–24, wo Paulus seine Christusbegegnung als Argument anführt, sollten die Schülerinnen und Schüler dann in eigenen Worten die Erfahrung formulieren, die Paulus als seine Berufung beschreibt, auch konnten sie notieren, was sie gerne noch genauer von Paulus erfahren wollten. Dabei verstärkten sich entsprechende Überlegungen deutlich, differenzierten sich aber zugleich aus. Einerseits fragten die Jugendlichen detaillierter: »Wo hast du 7 An dieser Stelle handelt es sich m.E. um eine andere Frage als die hermeneutische Diskussion um den ›Tod des Autors‹, vgl. dazu den Beitrag von Gudrun Guttenberger in diesem Band. Es geht mir schlicht darum, dass der Zugang zum Text und der Umgang mit ihm leichter fallen, wenn die dahinterstehende historische Figur und seine Entstehungskontexte relativ sicher identifiziert werden können. 8 Eine überarbeitete Gestalt dieser Erzählung ist im Materialheft zum Entwurf 3/2017 »Bibel erzählen« (14–15) zu finden; vgl. dort auch meinen Beitrag »Paulus und die ersten Christen. Die Identitätsfindung des Christentums neu erzählt«, 36–38. 9 Ich zitiere Äußerungen der Schülerinnen und Schüler grundsätzlich anonym und in korrigierter Orthographie.

Wiemer Eine siebte Realschulklasse begegnet dem Galaterbrief

Jesus gesehen?« »Hast du mit ihm sprechen können, hat er dir geantwortet?« Andererseits setzten sie sich kritisch mit dem Realitätsgehalt des von Paulus bezeugten Geschehens auseinander: »Wieso weißt du, ob es Jesus war und nicht ein blöder Streich!?« Dieselbe Schülerin, die diese Frage formulierte, hatte zuvor freilich die Christusbegegnung prägnant auf den Punkt gebracht: »Er hat Jesus gesehen und wusste, dass er auferstanden ist!« Ihre Frage nach dem blöden Streich ist also wohl nicht grundsätzlich skeptisch gemeint, sondern dürfte den ernsthaften Wunsch nach genauerem Verstehen ausdrücken. So ist es auch bei dieser Frage: »Woher weißt du, ob es Jesus gibt und ob er noch lebt und wie er aussieht?« Hier scheint in dem Aspekt »ob es Jesus gibt« deutlich ein eigenes Interesse aufgenommen, wie es sich auch in der Formulierung einer dritten Schülerin zeigt: »Er hat erfahren, dass es Jesus und Gott gibt.« Nicht zuletzt für diese elementare Frage – gibt es Gott? gibt es Jesus? – ist Paulus offenbar ein interessanter Gesprächspartner. Die Frage nach einem Beweis oder Zeichen dafür ist für diese Altersgruppe typisch. Die Erfahrung des Paulus wird aber keineswegs ohne weiteres als ein solcher Beweis anerkannt, vielmehr nötigt sie zu Nachfragen, teils auch zu Skepsis. So fassen zwei Schüler den Bericht des Paulus deutlich als seine Wahrnehmung statt als objektive Realität auf: »Er meint, er hat Jesus gesehen.« Im Hintergrund solcher Einschätzungen dürften auch Überlegungen aus der Stunde stehen, wie sich die Jugendlichen die Christusbegegnung des Paulus vorstellen könnten. Hier fielen die Stichworte »Traum« und »Vision« sowie der Vergleich »wie eine Halluzination«.

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Eine kritische Distanz zu Paulus war aber auch auf einer anderen Ebene vorbereitet. Anlass dazu bot die Wahrnehmung seiner Persönlichkeit im Kontext seiner zugespitzten Formulierungen über seine Gegner. Eine besonders originelle Gestalt fand eine entsprechende Per­spektive auf den Apostel schon in der ersten Doppelstunde. Auf dem Arbeitsblatt sollten die Jugendlichen auch formulieren, was sie über das denken, was Paulus in Gal 1,1–9 schreibt. Eine Schülerin meinte, dass Paulus »ein bisschen selbstverliebt« sei, verzierte passend dazu die Pauluszeichnung auf ihrem Arbeitsblatt durch ein Toupet ähnlich dem des amerikanischen Präsidenten und setzte eine Gedankenblase dazu: »We make America great again!« Gerade dieser aktuelle Bezug zeigt, dass Paulus den Jugendlichen zugleich als faszinierende und als befremdende Figur erscheint. Paulus provoziert und lädt gerade so zu einem Diskurs, ja einem offenen Dialog ein. Er antwortet zwar nicht direkt, die von ihm gestellten Fragen wirken aber so stark, dass im gemeinsamen Nachdenken der Schülerinnen und Schüler in der Tat so etwas wie ein Dialog entsteht.10 Die Jugendlichen nehmen dabei nicht nur Hinweise auf die 10 Eine fruchtbare Idee war es, typische Fragen der Jugendlichen aus den Arbeitsblättern der ersten Doppelstunde am Ende der zweiten in Gruppen zu einem fiktiven Interview mit Paulus ausarbeiten zu lassen – neben der bereits erwähnten Frage »Wie sah Jesus aus?« waren das die Fragen »Wieso glaubst du, dass alle anderen falsch liegen?«, »Warum hast du das mit dem Fluch geschrieben?« und »Wie hast du es geschafft, die Leute zu überzeugen?« Leider reichte die Zeit nicht zu einer Würdigung aller Ergebnisse, so dass sich dieses Element des Unterrichtsprozesses hier nicht genauer auswerten lässt.

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Biographie des Apostels auf, sondern reagieren auch auf die Sprachgestalt seines Briefs. Damit sind wir schon bei einer zweiten Analyseperspektive: 2. Rezeptionsästhetik – Reaktionen auf die Rhetorik des Galaterbriefs

Die Exegese betont zunehmend das individuelle Verstehen von Texten und fragt daher nicht mehr nach der Kernaussage, sondern breiter nach Sinnpotentialen. Sie nimmt dabei aus der Literaturwissenschaft die Grundeinsicht der Rezeptionsästhetik auf, dass ein Text erst beim Lesen einen Sinn erhält. Die Erkenntnis, dass in jeder und jedem Lesenden eine individuelle Textbegegnung stattfindet, legitimiert zwar nicht jedes Missverständnis, führt aber zu der Einsicht, dass sich ein Textsinn keineswegs eindeutig fixieren lässt. Rezeptionsästhetik ist also eine Hermeneutik der Begegnung. Ihre Grundeinsichten entsprechen denen des Konstruktivismus in die subjektive Komponente jedes Erkennens und Verstehens, die für den kinder- und jugendtheologischen Diskurs tragend sind. Es scheint aber für die Kinder und Jugendlichen oft einfacher zu sein, dies für ein Nachdenken über ›Gott und die Welt‹ nachzuvollziehen als im Blick auf die Bibel. Diese erscheint in schulischen Kontexten häufig als Formalautorität – teils dadurch, dass einige eine solche Sicht offensiv vertreten, teils dadurch, dass andere die Bibel gerade deshalb ablehnen, weil sie ihr einen solchen Anspruch unterstellen. Während sich dieses Problem etwa in den festgefahrenen Debatten über das Verständnis des Schöpfungshymnus in Gen 1,1–2,4a immer wieder zeigt, leuchtet die

doch recht andere rezeptionsästhetische Perspektive bei Paulus unmittelbar ein. Der literarische Charakter eines Briefs lebt geradezu davon, dass er mit den Lesenden in ein Gespräch tritt: Er spricht in bestimmte Situationen der Gemeinden, bezieht engagiert Position und fordert zur eigenen Stellungnahme heraus. Unterstützt durch die beschriebene, durchaus zwiespältige Wahrnehmung der Person des Paulus bilden seine Briefe daher eine Steilvorlage für die Aufgabe, sich bewusst in ein eigenes Verhältnis zu einem biblischen Text zu setzen – und leisten damit einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung der eigenen hermeneutischen Kompetenz. Wir hatten schon gesehen, dass Paulus die Jugendlichen zu einer Diskussion darüber einlädt, ob es so etwas wie ein Wissen um Gott und Jesus geben kann und welcher Art solches Wissen ggf. sein könnte. Hier meldet sich das jugendliche Prüfen dessen, was »man/frau« bisher so geglaubt hat. Dabei ist Paulus aber keineswegs nur ein Vertreter dieses Bisherigen, da er schon gleich zu Beginn des Galaterbriefs rhetorisch auf Attacke schaltet und seine Widersacher zweimal verflucht. Damit erntet er Verwunderung und offene Kritik bei den Schülerinnen und Schülern, für die sie sich gerade auf ihr bisheriges Orientierungswissen berufen. So schreibt eine Schülerin auf die Frage, was sie über das denkt, was Paulus hier schreibt: »Ich denke an das, dass er nicht fluchen soll – das ist nicht von Jesus.« Ohne explizit religiöse Begründung formuliert eine andere: »Ich finde es nicht gut, dass er Flüche losschickt, weil man das keinem wünscht.« Noch öfter als auf die Details der Christusbegegnung zielten die Fragen an Paulus am

Wiemer Eine siebte Realschulklasse begegnet dem Galaterbrief

Ende der ersten Doppelstunde jedenfalls auf den zweifachen Fluch aus Gal 1,8+9 – die Jugendlichen möchten wissen, »warum« er das geschrieben habe. Offenbar fordert gerade die Reibung an Paulus auch dazu heraus, ausdrücklich selbst Position zu beziehen: »Ja, ich denke, dass jeder Mensch an eine eigene Religion glauben darf. Er hat es ziemlich oft gesagt mit dem Verfluchen.« Im Grunde geschieht hier das, was auch in Galatien passiert sein dürfte: In Reaktion auf den Brief des Paulus kommt eine Diskussion in Gang, eigene Meinungen werden eingebracht.11 Auffällig war, dass sich etliche Jugendliche um eine differenzierte Stellungnahme bemühten. Einige schrieben: »Es ist hart geschrieben, aber wahr«, und eine Schülerin fand in Gal 1,6 mögliche Motive für die harte Rede des Paulus: »Dass er Sorge hatte, dass sie sich wieder abwenden.« Interessant ist die mehrfache Betonung, was Paulus schreibe, sei oder klinge »sehr gläubig«. Dabei ist »gläubig« nicht einfach ein positives bzw. zustimmendes Urteil, wie diese Zusammenstellung einer Schülerin zeigt: »Es ist hart, aber wahr. Es hört sich sehr gläubig an. Heftig formuliert.« Die klare Position, die Paulus bezieht, und die rhetorische Härte seines Umgangs mit den Gegnern in Galatien führt die Schülerinnen und Schüler in eine Begegnung mit dem Apostel, die sie zur Stellungnahme herausfordert. Dass sie dabei ihre Wahrnehmung eines biblischen Textes für den Umgang mit diesem belasten, wurde bewusst unterstützt – z.B. indem der Brief nicht als Teil der Bibel, sondern in Form einer Schriftrolle, also als ›historischer‹ Brief präsentiert wurde. So wurde den Jugendlichen die dialogische Situation vor Augen gestellt.

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Zusätzlich wurden sie immer wieder aufgefordert, ihre eigene Sicht zu formulieren. In der vorletzten Stunde geschah dies in einem eigenen Brief, den die meisten Jugendlichen an Paulus richteten (nur wenige schrieben an die Galater). Positiv erwähnten sie vor allem Dinge, mit denen sie einig sind, etwa seinen Einsatz gegen die Forderung nach Beschneidung und Einhalten der Speisegebote auch für nichtjüdische Gemeindeglieder. Doch es begegnete auch Kritik: »Warum streitet ihr eigentlich immer, man kann doch die Juden lassen und an Gott glauben, das ist die Hauptsache.« Offenbar haben die Schülerinnen und Schüler wahrgenommen, dass der Kampf um entscheidende Weichenstellungen in der Frühzeit der christlichen Gemeinden etwas anderes ist als unsere heutige Art, Christsein zu leben. Eine Schülerin bündelte das so: »Also, bei uns gibt es gar nicht mehr so viele Menschen, die so arg glauben. Meistens glauben wir in Ruhe an Gott oder Jesus.« »Arg glauben« klingt dabei ähnlich wie das schon zitierte »sehr gläubig«. Es könnte eine Umschreibung dafür sein, dass jemand eine an sich gute Sache so übertreibt, dass sie dadurch problematisch wird. Präzise könnte der Anstoß in einer öffentlichen Geltendmachung des Glaubens liegen, die als Gegensatz zu 11 Die direkte Argumentation mit dem Gedanken der Religionsfreiheit ist zwar historisch undifferenziert, doch zeigt sie, dass und wie Jugendliche ihre eigenen Überzeugungen in der Diskussion belasten. Dass die Frage im ersten Jahrhundert anders betrachtet wurde, wird im Verlauf der Einheit klarer – nach der Beschäftigung mit dem Apostelkonvent (siehe nächster Abschnitt) schreibt derselbe Schüler, dessen Ergebnis sei für die frühen Christen wichtig gewesen, weil »es sonst bestimmt immer Streit gab«.

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Bekannte und unbekannte biblische Texte mit Jugendlichen erschließen

einem modernen, als Privatreligion gelebten Glauben empfunden wird.12 Trotz dieses Ideals, »in Ruhe« zu glauben, ist die Schülerin aber offen für Impulse aus der Begegnung mit Paulus. So schrieb sie im selben Brief als (letzte) Frage an Paulus: »Wie wichtig ist dir Gott? Warum hast du dein Leben riskiert für Gott?« Eine ähnliche Frage stellte ein Mitschüler: »Warum bist du so weit gelaufen? Nur für eine Nachricht?« Hier ist gegen Ende der Unterrichtseinheit rezeptionsästhetisch etwas gelungen: Die Jugendlichen haben verstanden, dass bei Paulus und in seiner Zeit manches anders ist als heute. Die meisten setzen das in Beziehung zu ihrem Denken, nehmen manches auf, kritisieren anderes und öffnen sich neu entdeckten Fragen. Dabei überrascht auch schon mal eine Übertragung, die im Unterricht nicht Thema war: »Würdest du eher sagen, dass evangelische und katholische Menschen in eine Kirche gehen sollen oder dass es so wie jetzt bleiben soll?«13 3. Intertextualität – ein Christentum noch ohne Neues Testament

Die exegetische Forschung nimmt das innerbiblische Gespräch und weitergehende intertextuelle Verflechtungen der biblischen Traditionen immer sensibler wahr. Auch in diesem Feld lassen sich wichtige hermeneutische Kompetenzen schulen, wobei entsprechende Vorschläge zugleich zeigen, wie komplex solche Ideen im Blick auf eine Umsetzung im Religionsunterricht sind.14 Ein Anfang kann mit elementaren Fragen gemacht werden, zu denen gewiss diejenige nach dem Verhältnis von Altem und Neuem

Testament gehört. Hier lädt gerade Paulus zu Entdeckungen ein. Seine authentischen Briefe sind die ältesten Teile des Neuen Testaments, rund 15 Jahre vor dem ersten Evangelium entstanden. Wo er sich auf die Tradition bezieht, legt er – von wenigen Zitaten von Jesusworten oder frühchristlicher Formeln bzw. Hymnen abgesehen – das Alte Testament aus. Damit ist zugleich markiert, dass wir mit Paulus in eine Zeit kommen, in der noch keineswegs klar ist, was »Christentum« ist – er kennt noch nicht einmal die Wörter »Christ« oder »christlich«! Die Gemeinde der Christusgläubigen beginnt als Bewegung innerhalb des Judentums. Als einige Gemeinden anfangen, auch Nichtjüdinnen und Nichtjuden aufzunehmen, entstehen heftige Auseinandersetzungen: Welche Bedeutung hat der Bund Gottes mit dem jüdischen Volk für den Glauben an Jesus? Einige betonen, dass Glaube an Jesus ja auch Glaube an den Gott des jüdischen Volkes ist – sie fordern die Einhaltung des Bundes und daher die Beschneidung der neuen Gläubigen. Paulus positioniert sich ganz anders: Er meint, dass mit der Auferstehung Jesu die neue Schöpfung Gottes begonnen hat – alte Unterschei12 Diese Variante der Interpretation verdanke ich meiner studentischen Mitarbeiterin Anja Schweizer, die den Aufsatz kritisch gelesen und auch etliche sprachliche Verbesserungen angeregt hat. 13 Evtl. klingt hier eine Überlegung aus dem Planspiel zum Apostelkonvent nach, das im folgenden Abschnitt beschrieben wird. 14 Mirjam Schambeck, Bibeltheologische Didaktik. Biblisches Lernen im Religionsunterricht, Göttingen 2009, zeigt m.E. beides: Die Bedeutsamkeit dieses Zugangs und seine Schwierigkeit in der unterrichtlichen Realität (zumal außerhalb des Gymnasiums).

Wiemer Eine siebte Realschulklasse begegnet dem Galaterbrief

dungen wie diejenige zwischen jüdisch und nichtjüdisch sind daher für ihn »in Christus« überholt (vgl. Gal 5,6; 6,15; 3,27f). Er beschreibt es als seine göttliche Berufung, nichtjüdische Menschen zum Glauben zu führen, und lehnt kategorisch ab, von diesen neben dem Glauben an den gekreuzigten und auferstandenen Jesus Christus einen formellen Übertritt zum Judentum zu fordern. Dieser Streit bildet auch Anlass und Zentrum des Galaterbriefs. Er eröffnet so einen tiefen Einblick in diese Phase der intensiven Diskussion darüber, ob es eine eigenständige ›christliche‹ Identität gibt und worin diese ggf. besteht. Die Sensibilität der Schülerinnen und Schüler für solche historischen Zusammenhänge ist in der Regel wenig ausgeprägt. Dass das Christentum ganz vom Judentum abhängig ist und dass eine Trennung in zwei Religionen, wie sie dem heutigen Bewusstsein entspricht, keineswegs von Anfang an klar war, ist aber eine wichtige Grundeinsicht. Das gilt nicht nur im Blick auf gegenwärtige Verhältnisbestimmungen von Judenund Christentum. Die Besinnung auf die Anfänge der eigenen Religion und ihr Verhältnis zu anderen hat grundsätzliche Bedeutung für die immer wichtiger werdenden Aufgaben des interreligiösen Dialogs und der interreligiösen Bildung. Die Beschäftigung mit der Entwicklung einer christlichen Identität sensibilisiert für die historische Bedingtheit von Religion und kann so auch einen Zugang wecken zu Aspekten anderer Religionen, die auf den ersten Blick befremdlich erscheinen. Als Einstieg in die Frage nach der Entstehung christlicher Identität habe ich zu Anfang der Einheit mit der Klas-

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se gesammelt, was Christsein ausmacht. Unser Brainstorming ergab einige Begriffe, die wir im Blick auf die ersten Christen wieder streichen mussten, z.B. »Kirche«, »Gemeindehaus«, »Konfirmation«, »evangelisch/katholisch«, die Feste »Weihnachten, Ostern, Pfingsten usw.«, aber auch »Christ/christlich«. Um auch zu zeigen, dass selbst die Bibel am Anfang des Christentums noch nicht so da war, wie wir sie kennen, habe ich von einer (alten) Bibel mit einem Bastelmesser das Neue Testament abgetrennt. Diese Aktion hatte durchaus den erhofften Überraschungseffekt, der vermeintlich selbstverständliche Vorannahmen erschüttern sollte. Aber obwohl diese geteilte Bibel immer im Unterricht präsent war, saßen die Stereotypen zunächst sehr fest. Am Ende der zweiten Doppelstunde formulierten gut drei Viertel der Schülerinnen und Schüler, dass Paulus vor dem Damaskuserlebnis »der jüdische Glauben« wichtig war, womit sie die im Unterricht verwendete Übersetzung der Basis-Bibel in Gal 1,13+14 aufnahmen.15 Interessant ist aber nun, wie das Gegenüber beschrieben wird – was war Paulus nach seiner Christusbegegnung wichtig? Hier steht oft (8x) »Jesus«, ein paarmal die »gute Nachricht«. Wenig spezifisch erscheint »der Glaube an Gott« (als ob der jüdische Glaube kein Glaube an Gott wäre), vier Jugendliche nannten den »christlichen Glauben«, einer das 15 Diese Übersetzung bildet maximal Satzlängen von 16 Wörtern, auch setzt sie höchstens einen Nebensatz pro Satz. Damit ist sie (auch wenn nicht jede Übersetzungsentscheidung einleuchtet) um einiges lesefreundlicher als am paulinischen Originalsatzbau orientierte Wiedergaben.

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Bekannte und unbekannte biblische Texte mit Jugendlichen erschließen

»Christentum«. Vermutlich16 verwendeten sie schlicht das vertraute Konzept vom Christentum als einer vom Judentum unterschiedenen Religion zur Interpretation der paulinischen Christusbegegnung. Zwei Schüler formulierten als Quintessenz explizit: »Er war früher Jude und jetzt ist er Christ.« Offenbar ist es nicht ohne weiteres verständlich, dass der Glaube an Jesus innerhalb des Judentums entsteht, zunächst ohne das Bewusstsein oder auch nur das Ziel, eine eigenständige Religion zu sein oder zu werden. Dies kann deutlicher werden in einer Beschäftigung mit dem Apostelkonvent in Jerusalem, der diese Kernfrage der frühen Christenheit klären sollte: Müssen alle, die an Jesus glauben, auch zum Judentum gehören (also ggf. übertreten) oder nicht? Dieses historische Setting vollzogen wir in einem Planspiel nach. Zunächst befassten sich die Jugendlichen in Gruppen zu dritt oder viert mit je einer von acht Rollenbeschreibungen. Jede Gruppe bestimmte zwei, die entweder als »Schauspielerinnen« und »Schauspieler« auf dem Podium Platz nahmen oder als »Gedankenblase« hinter diesen stehend ihre Mitschülerin oder ihren Mitschüler unterstützten. Die übrigen Jugendlichen bildeten das Publikum, die Lehrerin der Klasse übernahm die Moderation. Ihre einzige Vorgabe war, selbst keine Lösung anzubieten. Wir wollten sehen, ob und wie dies den Schülerinnen und Schülern gelingt, und anschließend auf der Basis der so erreichten Sensibilisierung den Verlauf des Planspiels mit dem Bericht aus Gal 2,1–10 vergleichen. Es begann zäh: Die beiden Pharisäer ›Nikodemus‹ und ›Simon‹ (als Vertreter der Beschneidungsforderung), die drei

Jerusalemer »Säulen« ›Jakobus‹, ›Petrus‹ und ›Johannes‹, und die drei Delegierten aus Antiochia, ›Barnabas‹, ›Paulus‹ und ›Titus‹, lasen mehr oder weniger die Vorschläge für ein Eingangsstatement ab, die schon auf dem Vorbereitungsblatt enthalten waren. Erst als ›Jakobus‹ im weiteren Verlauf zum zweiten Mal seine Idee einbrachte, »nicht alle Religionen können zusammen leben, man könnte die Stadt in verschiedene Bereiche aufteilen«, gewann die Diskussion sichtlich an Fahrt und die ganze Lerngruppe war zunehmend intensiv beteiligt. Eine Rückfrage aus dem Publikum gab den ersten Anstoß: »Wollen die denn umziehen?« Es wurden zunächst weitere konkrete Details bedacht: »Haben wir genug Geld für eine Mauer bei der Aufteilung?« Aber zunehmend wurde die Brisanz der Frage empfunden. ›Johannes‹ gab zu bedenken: »Wenn es zwei Teile und eine Mauer gibt, dann gibt es Krieg und dann sterben Menschen.« Und ›Titus‹ fürchtete: »Vielleicht werden auch Familien und Freunde getrennt.«, weshalb ›Titus 2‹ vorschlug: »Es könnte auch in jeder Gemeinde eine unsichtbare Linie gezogen werden.« Es ist nicht schwer, Fehlannahmen in der Diskussion zu identifizieren – keinesfalls ging es schon um zwei »Religionen« und keinesfalls gab es in der »Stadt« nur diese beiden Gruppen, also christusgläubige Juden und christusgläubige Nichtjuden. Und doch wurde hier Entscheidendes verstanden, nämlich 16 Theoretisch könnte auch dieser Gedanke aus der Übersetzung der Basis-Bibel entwickelt sein, die in Gal 1,22 zur Verdeutlichung das (Paulus unbekannte) Adjektiv »christlich« setzt und in Gal 1,23 dann von der Verkündigung »dieses Glaubens« redet.

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dass unsere übliche Antwort – am Ende formulierte eine Schülerin sie in ihrem Brief an die Galater so: »jeder Mensch, der an Gott glaubt, sollte das machen, was er gut findet« – in der damaligen Situation eben keine Lösung war. Das lag auch daran, dass die beiden ›Pharisäer‹ sich in ihrer Rolle nicht irritieren ließen (Frage aus dem Publikum: »Was hat Beschneidung mit Gott zu tun?« ›Nikodemus‹: »Frag doch Gott.«). Der Versuch, mit einer Trennung zu arbeiten, scheint da naheliegend, wobei ›Titus 2‹ quasi im Vorbeigehen die Idee entwickelte, die dann im Antiochenischen Konflikt von Paulus abgelehnt werden wird (Gal 2,14) – dass jüdische und nichtjüdische Gemeindeglieder an verschiedenen Tischen essen, wäre ja eine solche »Linie« innerhalb der Gemeinde. Eindrücklich war vor allem, dass einige Jugendliche die Zusammengehörigkeit aller Jesusgläubigen einforderten. So fragte ›Petrus‹: »Kann man dann noch zusammen Gottesdienst feiern?« Auch in seinem Vorschlag, zwei Mauern zu bauen – so dass ein Stadtviertel für Juden, eines für Nichtjuden und eines für diejenigen entsteht, die lieber gemischt sein wollen – meldete sich ein Empfinden dafür, dass ein Auseinandersortieren nicht die ganze Lösung sein kann. Und der Kompromissvorschlag wiederum von ›Titus‹, zwar keine Mauern zu bauen, aber »zwei Kirchen an verschiedenen Enden vom Ort«, so dass jeder zum Gottesdienst seiner Gruppe gehen kann, hat (Kirchen-)Geschichte gemacht … Als sich keine gemeinsame Lösung fand, kam der Vorschlag einer Abstimmung auf. Diese führte zu keinem klaren Ergebnis, gab aber nochmals Anlass zu weiteren Vorschlägen: ›Petrus‹ betonte als »Hauptsache, man glaubt an

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Gott und Jesus«, ›Paulus‹ dachte ernsthaft darüber nach, »die, wo wenig sind, [zu] verbannen«, und eine Schülerin im Publikum verlangte energisch zu wissen: »Wo steht überhaupt, dass Gott die Beschneidung will?« Und so hat die Klasse nicht nur etwas davon entdeckt, dass und wie Judentum und Christentum eine gemeinsame Geschichte haben, am Ende war auch die intertextuelle Verflechtung – hier mit Gen 17 – für die Jugendlichen plötzlich echt spannend. 4. Ko-Konstruktion – Christsein definieren

Unter der Leitfrage nach Identität war ein wichtiges Ziel meines Unterrichts, Impulse der Beschäftigung mit Paulus in das eigene Denken aufzunehmen. Führt die Arbeit am Galaterbrief zu einer Weiterentwicklung der Theologie von Jugendlichen? Gewiss zeigen manche der bereits zitierten Gedanken eine Aus­ein­a n­dersetzung mit Paulus. Oft ließ sich greifen, dass das überzeugte Auftreten des Paulus herausfordert: Was glaube ich eigentlich? Für welche Überzeugungen setze ich mich ein und wie? Wie gehe ich mit meinen Fragen und Zweifeln um? Es lässt sich nicht messen, aber mein Eindruck war, dass solche Fragen mindestens als Impuls für die eigene Reflexion einige Schülerinnen und Schüler erreicht haben. Klarer ließ sich feststellen, ob sie nachvollziehen können, wie Paulus christliche Identität beschreibt, und ob sie dies mit dem eigenen Denken verknüpfen. Ermutigt durch den Bochumer Vortrag von Christina Hoegen-Rohls und die von ihr erwähnten Arbeitsweisen von Christian

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Bekannte und unbekannte biblische Texte mit Jugendlichen erschließen

Dern17 gab ich den Jugendlichen Gelegenheit, sich frei zu ausgewählten Kernsätzen des Galaterbriefs (aus 2,16; 2,19f; 3,26f; 3,28; 4,6; 5,1 und 5,6) in einem Schreibgespräch auszutauschen. Zuvor hatten wir den Antiochenischen Konflikt erarbeitet. Im Blick auf den weiteren Brief beschrieb ich das Bemühen des Paulus, in immer neuen Formulierungen zu beschreiben, was Christsein ist. Eine weitere, auf die einzelnen Sätze bezogene Einführung erfolgte vor dem Schreibgespräch bewusst nicht. Manches gelang durchaus eindrücklich, so entstanden interessante Überlegungen etwa zu Gal 3,28 oder 5,1. Insgesamt waren Fragen stärker vertreten als Stellungnahmen. Die Fragen waren oft wichtig und hilfreich, die Klasse versuchte aber von sich aus kaum, auch eigene Antworten zu finden. Z.B. führte der Satz »Mit Christus zusammen wurde ich gekreuzigt« (Gal 2,19) zur Frage »Er ist tot und schreibt. Geht das?« Diese Frage könnte zur Entdeckung führen, dass hier eine uneigentliche Redeweise vorliegt, und so zu Überlegungen anregen, wie diese Formulierung gemeint ist. Ohne Impuls der Lehrkraft gingen die Schülerinnen und Schüler diesen Schritt aber nicht. Entsprechende autonome Arbeitsweisen setzen also entweder doch ein gymnasiales Niveau oder eine vorherige gezielte Übung hermeneutischen Fragens voraus. Dass das bloße Schreibgespräch nicht genügte, zeigte sich vor allem in der anschließenden Aufgabe, sich einen der Sätze auszusuchen, die Wahl zu begründen und eine eigene Formulierung »Christsein ist …« zu finden. Auf dem Arbeitsblatt dazu waren alle Sätze abgedruckt,

die meisten Jugendlichen wählten aber schlicht den, dessen Plakat am nächsten an ihrem Sitzplatz lag. Die Begründungen dieser Wahl fielen bei Tischnachbarn ähnlicher aus als das bei anderen Formulierungsaufgaben der Fall war. Und schließlich blieben die meisten eigenen Definitionen von Christsein ohne klaren Eindruck des gewählten Paulussatzes. Dass eine Ko-Konstruktion aus paulinischem und eigenem Denken aber auch schon bei diesem überarbeitungswürdigen Unterrichtssetting gelingen kann, zeigte die Schülerin, der dieser Beitrag auch seinen Titel verdankt. Sie dokumentiert damit nochmals das Potential der Paulusbriefe für ein Theologisieren mit Jugendlichen. Daher soll sie hier das Schlusswort haben. Sie wählt Gal 2,16 – »Kein Mensch gilt vor Gott als gerecht, weil er das Gesetz befolgt. Als gerecht gilt man nur, wenn man an Jesus Christus glaubt.« –, »weil ich diese Aussage einfach gut finde, und das heißt ja auch, dass es egal ist, ob man sich beschnitten hat oder nicht«. Ihre Definition nimmt in deutlich eigenständiger Formulierung erkennbar Impulse des Paulussatzes auf: Christsein ist »für mich, einen freien Glauben zu haben und nicht nur das Gesetz zu befolgen, sondern einfach so sein, wie man ist! :-)«

17 Vgl. den Beitrag von Christina Hoegen-Rohls in diesem Band und Christian Dern, Das Lesen von Ganzschriften im Religionsunterricht der Sekundarstufen – konkrete Einblicke in den Unterricht, in: Hanna Roose / Elisabeth E. Schwarz: »Da muss ich dann auch alles machen, was er sagt«. Kindertheologie im Unterricht (JaBuKi 15), Stuttgart 2016, 148–152.

Weiß Die Frage nach Auferstehung

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Thomas Weiß Die Frage nach Auferstehung Theoretische Voraussetzungen und unterrichtspraktische Modellierungen zu Markus 12,18–27 Einleitung

Der Text im Evangelium nach Markus (12,18–27) – die Sadduzäerfrage – ist sperrig. Im Kontext der Verkündigung Jesu war die Frage nach Auferstehung virulent.1 Im sich etablierenden Christentum wurde diese Frage am eindringlichsten wohl von Paulus bedacht.2 Mit Blick in die fast 2000-jährige Geschichte des Christentums ließe sich ein breites exegetisches und systematisches Nachdenken über Auferstehung bis in die heutige Zeit nachweisen. Dies mag daran liegen, dass »[d]er Tod […] als Ende meines Daseins das diesem meinem Dasein gegenüber schlechthin Fremde« ist.3 Die christlichen Antworten auf den Tod wurden immer im Horizont eschatologischer Überlegungen gegeben. Beim Gedanken an eine Auferstehung handelt es sich nicht – so beispielsweise Pannenberg – um eine »vorübergehende […] Wiederbelebung eines schon Gestorbenen«4, sondern »um das Fundament des christlichen Glaubens.«5 Es lässt sich die Frage nach Auferstehung im christlichen Kontext nicht als Wiederbelebung, sondern – metaphorisch – als Verwandlung6 beschreiben, woran die gesamte spätere kirchliche Lehrüberlieferung festgehalten hat.7 Sosehr dies theologisch einsichtig sein mag, so sperrig scheint dieser Gedanke für den Religionsunterricht zu sein. Auch

wenn empirische Studien wie z.B. die von Ziebertz und Riegel8 einen Ist-Stand der Haltungen von Schüler/innen zu Auferstehung erheben oder die empirisch und didaktisch angelegte Studie von Schwarzkopf9 mit diesem Inhalt an Schüler/innen herantritt, dürfte klar sein, dass Auferstehung, als christlicher Gedanke von Hoffnung, nicht unbedingt im alltäglichen Sprachhorizont einer Schülerschaft liegt. Der Text ist aber auch in einer anderen Hinsicht sperrig. Als Frage ist zu formulieren: Handelt es sich bei diesem Text um ein Streit- oder um ein Schulgespräch?10 Diese Frage ergibt sich zumindest in Bezug auf den offenen Schluss. Die Markusüberlieferung lässt das Gespräch 1 Vgl. dazu Otto Schwankl, Die Sadduzäerfrage (Mk 12,18.27). Eine exegetisch-theologische Studie zur Auferstehungserwartung, Frankfurt a.M. 1987, 173ff. 2 Vgl. 1. Kor 15. 3 Eberhard Jüngel, Tod, Berlin 1971, 14. 4 Wolfhart Pannenberg, Grundzüge der Christologie, Gütersloh, 61982, 73. 5 Ebd., 79. 6 Vgl. Paulus: Geistesleib (1. Kor 15,35–56). 7 Vgl. Wolfhart Pannenberg (wie Anm. 4), 73. 8 Hans-Georg Ziebertz / Ulrich Riegel, Letzte Sicherheiten. Eine empirische Untersuchung zu Weltbildern Jugendlicher, Freiburg 2008. 9 Theresa Schwarzkopf, Vielfältigkeit denken. Wie Schülerinnen und Schüler im Religionsunterricht argumentieren lernen, Stuttgart 2016. 10 Vgl. Peter Dschulnigg, Das Markusevangelium, Stuttgart 2007, 318.

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zwischen Sadduzäern und Jesus nicht mit der Bildung eines Konsenses, auch nicht mit dem Stehen-Lassen-Können zweier verschiedener Haltungen enden, sondern mit einem »Ihr irrt euch sehr« (Vers 27)11. Nur ein (normativ klingender) Hinweis in der nächsten Perikope (Vers 28 »… und da er [ein Pharisäer, TW] bemerkt hatte, wie treffend Jesus ihnen antwortete …«) lässt vermuten, dass durch die Antwort Jesu ein Konsens hergestellt wird, allerdings nicht mit den Sadduzäern, sondern mit der damaligen Lehrmeinung der Pharisäer. Im Folgenden möchte ich in vier Schritten vorgehen. Ich beginne (1) mit exegetischen Beobachtungen zum Text Mk 12,18–27. Dabei werde ich nur, da ich kein Neutestamentler bin, verschiedene exegetische Ansätze zusammenfassen. Ziel dieser zusammenfassenden Darstellung ist es (2), unter argumentationstheoretischen Voraussetzungen an den Text treten zu können. Zwei Fragen sollen hier einer Antwort zugeführt werden: 1. Was sagt der Text nicht? und 2. Was ist Anlass des Gespräches? Basierend auf diesen Textbeobachtungen möchte ich (3) Vorschläge unterbreiten, wie mit diesem Text unterrichtlich umgegangen werden könnte. Es handelt sich dabei um eine theoretische Modellierung und daraus abgeleiteten – also noch nicht erprobten – Aufgabenbeispielen. Ein eher fragendes Resümee (4) schließt diesen Beitrag ab. 1. Exegetische Beobachtungen zum Text Markus 12,18–27

Einigkeit besteht unter Exeget/innen, dass die Perikope formgeschichtlich in »zwei Hauptteile mit je vier Untertei-

len«12 gegliedert werden kann (vgl. Tabelle 1). Einig sind sie sich auch darüber, wer und was die Sadduzäer sind13, und dass sich Jesus »sachlich auf die Seite der Pharisäer [stellt], denen die Auferstehungshoffnung ein wichtiges Glaubensgut ist.«14 Einigkeit besteht auch über die Verwendung der Schriftzitate durch die Sadduzäer als eine Anspielung auf die Leviratsehe (Dtn 25,5f und Gen 38,8)15 und die Antworten Jesu in Bezug auf die neue Schöpfung und die Stellung zwischen Mann und Frau sowie die zweite Antwort Jesu unter Verweis auf die Erzählung am Dornbusch (Ex 3,6).16

11 Für die deutsche Übersetzung neutestamentlicher Textstellen nutze ich: https://www.uibk. ac.at/theol/leseraum/bibel/mk1.html [Zugriff am 21.02.2017]. 12 So Peter Dschulnigg (wie Anm. 10), 317f. Siehe auch Joachim Gnilka, Das Evangelium nach Markus. 2. Teilband Mk 8,27–16,20, Solothurn / Düsseldorf 41994, 157; Rudolf Pesch, Das Markusevangelium II. Teil. Kommentar zu Kap. 8,27–16,20, Freiburg/Basel/Wien 41991, 230 oder Otto Schwankl (wie Anm. 1), 99, 138ff. 13 Vgl. dazu Günter Stemberger, Pharisäer Sadduzäer Essener, Stuttgart 1991. 14 Peter Dschulnigg (wie Anm. 10), 318; so auch Gudrun Guttenberger, Die Gottesvorstellung im Markusevangelium, Berlin/New York 2004, 215ff. 15 Ebd. 319; Yongjae Kim, Interpretation der Gebote im Markusevangelium, Frankfurt a.M. 2010, 78ff macht besonders auf die Bedeutung der Leviratsehe aufmerksam und stellt damit die Verwendung der Gebote im Markusevangelium in ein neues Licht. 16 Vgl. dazu die in Anmerkung 12 angegebenen Autoren.

Weiß Die Frage nach Auferstehung

1. Hauptteil

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2. Hauptteil

V. 18

Auftreten und Charakterisierung Sadduzäer

V. 24

Redeeinleitung Jesu, Irrtumsvorwurf, zwei Beispiele (Schrift und Kraft Gottes)

V. 19

Anrede und Schriftzitat (Dtn 25,5f und Gen. 38,8)

V. 25

Kraft Gottes bewirkt …, Vergleich mit Engeln

V. 20–22 Fallbeispiel (sieben Brüder, eine Frau)

V. 26

Schriftzitat zur Totenauferweckung: Selbstvorstellung Gottes (Ex 3,6)

V. 23

V. 27

Schlussfolgerung (Gott der Lebenden), erneuter Irrtumsvorwurf als offener Schluss

Frage nach Auferstehung – Begründung (eine Frau, sieben Brüder)

Tabelle 1: Formgeschichtliche Gliederung der Perikope Mk 12,18–27

Uneinigkeit besteht darin, ob es sich bei der Perikope um die Gattung »Schulgespräch«17 oder »Streitgespräch«18 handelt. Streit- und Schulgespräche, darauf machte Bultmann schon aufmerksam, sind »ideale Szenen, die einen Grundsatz, den die Gemeinde auf Jesus zurückführt, in einem konkreten Fall veranschaulichen.«19 Sie wollen »ihrer Bedeutung nach […] keine historischen Berichte sein, sondern Illustrationen eines Satzes.«20 Streitgespräche sind dadurch gekennzeichnet, dass die Antworten »in mehr oder weniger prinzipieller Form, besonders gern als Gegenfrage oder als Bildwort oder als beides zugleich [erfolgen]. Sie kann jedoch auch – wie der Angriff – die Berufung auf ein Schriftwort sein. Diese Art zu disputieren ist die typisch rabbinische«.21 Die Argumentation der sogenannten Gegner wird dadurch ad absurdum geführt, dass eine Gegenfrage gestellt wird oder eben – wie im Fall von Mk 12 – durch ein Gegenzitat: Mose wird mit Mose widerlegt, kann pointiert festgehalten werden. Schulgespräche sind ähnlicher Art, allerdings unterscheiden sie sich vom Streitgespräch dadurch, dass sie eine konkrete

Antwort auf eine konkret gestellte Frage geben, wie in der Perikope Mk 12,28–34 (die Frage nach dem ersten Gebot) veranschaulicht. Wenn eine Aussage illustriert werden muss, so geschieht dies, um dessen Bedeutung, Wahrheit, Gültigkeit bis hin zur Wahrscheinlichkeit einsichtig machen zu können. In solchen Fällen handelt es sich um eine bestimmte Sprachform: eine Argumentation. Festgehalten werden kann als eine weitere Textbeobachtung: Die Gattung (oder die Textsorte) ist ein Streitgespräch. Diese Beobachtung ist zu verfeinern. Der gesamte Text ist nur im geringen Maße eine Narration. Ausgangspunkt und Endpunkt sind, wie auch Zeit und Raum, nicht verändert, sondern blei17 So Peter Dschulnigg (wie Anm. 10), 318 mit Angabe zu weiteren Autoren, die in der Perikope ein Schulgespräch sehen. Vgl. auch Wolfgang Weiss, Eine neue Lehre in Vollmacht. Die Streit- und Schulgespräche des Markusevangelium, Berlin/New York 1989. 18 So Joachim Gnilka (wie Anm. 12), 157; Indirekt auch Walter Klaiber, Das Markusevangelium, Neukirchen-Vluyn, 230ff. 19 Rudolf Bultmann, Die Geschichte der synoptischen Tradition, Göttingen 21931, 41. 20 Ebd., 52. 21 Ebd., 42.

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Bekannte und unbekannte biblische Texte mit Jugendlichen erschließen

ben gleich: Sadduzäer kommen irgendwo hin und bleiben auch dort.22 Der Text bietet hingegen »eine zielgerichtete Kette von Sprechakten«.23 In seiner Gesamtheit zeigt er eine sprachliche Handlung, die sich zusammensetzt aus Haltungen und Behauptungen zum Thema Auferstehung sowie aus Fragen bzw. einer Strittigkeit zum Thema. Diese Verfeinerung lässt eine zusätzliche Textbeobachtung zu: In Mk 12,18–27 ist das Argumentieren »das dominante kommunikative Prädikat«.24 Verhandelt wird der abstrakte Begriff ἀνάστασις (anastasis = Auferstehung) im Zusammenhang mit der Konstellation Macht Gottes. Zwei semantische Felder25 lassen sich ausmachen: A. Die Sadduzäer kombinieren Auferstehung mit einem Schriftzitat aus dem Bereich Ehe. B. Jesus kombiniert Auferstehung mit einem Schriftzitat aus dem Bereich Selbstvorstellung Gottes. 2. Argumentationstheoretische Beobachtungen zu Markus 12,18–27

Indem jetzt die argumentationstheoretischen Voraussetzungen expliziert werden, können durch weitere Textbeobachtungen Antworten auf die beiden Fragen: 1. Was sagt der Text nicht? und 2. Was ist Anlass des Gespräches? gefunden werden. An anderer Stelle26 habe ich ausführlich gezeigt, dass die kommunikative Tätigkeit Argumentieren nicht auf ein deduktives Schließen (Reinform: Syllogismus) oder den Geltungsmodus p (gilt), weil q (gilt) verkürzt werden darf. Argumentieren kann auch als Aushandlungsprozess mit relativen Urteilen, intersubjektiv Gültigem, etwas, was einsichtig wird beschrie-

ben werden. Dies bedeutet, dass die Beweiskraft einer Argumentation auch vom sozialen Kontext abhängig ist.27 In der sprachlichen Handlung Argumentieren geht es allgemein um Behaupten, Begründen und Kritisieren.28 Eine These soll in ein Urteil überführt werden. Dies kann gelingen, wenn die These »darauf angelegt ist, den vernünftig denkenden Menschen zu überzeugen«.29 Ein solcher Überzeugungsprozess muss »an ein gemeinsames Bezugssystem, gemeinsame Wertvorstellungen«30 anknüpfen können. Um an gemeinsame Vorstellungen anknüpfen zu können, bedarf es nicht ausgesprochener Sinnvoraussetzungen (Präsuppositionen). Nichtausgesprochene Sinnvoraussetzung ermöglicht erst

22 Vgl. dazu Otto Schwankl (wie Anm. 1), 131. 23 Ebd., 129. 24 Ebd. Schwankl sieht in erster Linie in den Oppositionen eine Begründung für einen argumentativen Text. Oppositionen sind z.B.: Sadduzäer fragen ihn … (18a) – Jesus sagte ihnen (24a) oder Mose schrieb uns (19b) – habt ihr nicht gelesen im Buch des Mose (26b). 25 Vgl. ebd., 137. 26 Vgl. Thomas Weiß, Fachspezifische und fachübergreifende Argumentationen am Beispiel von Schöpfung und Evolution. Theoretische Überlegungen – Empirische Analysen – Jugendtheologische Konsequenzen, Göttingen 2016. 27 Vgl. Nils Lenke / Hans-Dieter Lutz / Michael Sprenger, Grundlagen sprachlicher Kommunikation, Stuttgart 1995, 201. 28 Vgl. Harald Wohlrapp, Der Begriff des Arguments: über die Beziehungen zwischen Wissen, Forschen, Glauben, Subjektivität und Vernunft, Würzburg 22009, 185ff. 29 Chaim Perelmann / Lucie Olbrecht-Tyteca, Traité de l’argumentation. La nouvelle rhétorique. Bruxelles 1958; zitiert nach der deutschen Ausgabe von Josef Kopperschmidt, Die neue Rhetorik: Eine Abhandlung über das Argumentieren, Stuttgart 2004, 41. 30 Ebd., 154.

Weiß Die Frage nach Auferstehung

den Übergang von einer Prämisse zu einer Konklusion. Um die Bedeutung einer Sprachform zu erfassen, muss eine Person inferieren, d.h. dasjenige, was an Bedeutungen in einem sprachlichen Ausdruck nicht durch die Wortsemantik enthalten ist, aus dem eigenen Wissen/den eigenen Erfahrungen ergänzen. Daraus ergeben sich zwei Voraussetzungen: 1. Voraussetzung: Wenn über etwas gesprochen wird, dann muss vorausgesetzt werden, dass der Gegenstand einer Sprachgemeinschaft zugänglich ist (dass darunter etwas Gemeinsames verstanden wird oder in Zukunft verstanden werden kann). 2. Voraussetzung: Wenn über etwas gesprochen wird, dann muss vorausgesetzt werden, dass alle Teilnehmer/innen über eine Schnittmenge an einem gemeinsamen Wissen verfügen.31 Wird eine dieser beiden Voraussetzungen nicht erfüllt, dann muss argumentiert werden. Im Text Mk 12,18–27 werden beide Voraussetzungen nicht erfüllt, denn beide Seiten inferieren zu Auferstehung verschiedenes: A1. Die Sadduzäer inferieren zu Auferstehung ein Schriftzitat aus dem Bereich Ehe und wollen so als Schlusspräsupposition etablieren: Auferstehung ist hinfällig. B1. Jesus inferiert zu Auferstehung ein Schriftzitat aus dem Bereich Selbstvorstellung Gottes und will so als Schlusspräsupposition etablieren: Auferstehung ist wirklich. Beide Etablierungsversuche werden im Text nicht ausgesagt. Die unausgesprochene Sinnvoraussetzung des Gespräches ist ein Dissens in Form existentialer Präsuppositionen, die rekonstruierbar sind. Die eine lautet: Es ist

157

keine Auferstehung, die andere lautet: Es ist eine Auferstehung. Die Konklusion der Sadduzäer zeigt sich im Etablierungsversuch als Frage (V. 18): Wessen Frau wird sie nun bei der Auferstehung sein? Die Konklusion Jesu im Etablierungsversuch: (V. 27): Er ist doch nicht ein Gott von Toten, sondern von Lebenden. Der Gegenstand, die damals scheinbar virulente Frage nach Auferstehung, ist zwar gemäß der ersten Voraussetzung der Sprachgemeinschaft zugänglich, aber es wird darunter kein Gemeinsames verstanden und der Text lässt offen, ob die Sadduzäer dem Vortrage Jesu folgen. Auch die zweite Voraussetzung ist nicht erfüllt, denn die Sadduzäer und Jesus verfügen über keine Schnittmenge in Bezug auf Auferstehung. So betrachtet reden beide Seiten im Gespräch aneinander vorbei. Damit durch Argumentationen Verknüpfungen zwischen Aussagen hergestellt werden können, muss es nun mindestens eine unausgesprochene Voraussetzung geben, die außer Frage steht, da es sich beim Argumentieren um ein Verfahren handelt »mit dem einer etwas, was strittig ist, mit Hilfe von Unstrittigem unstrittig machen will oder kann.«32 Dies setzt voraus, dass es Aussagen gibt, die allgemein anerkannt sind, also unstrittig.33 Im Text erkennen die Sadduzäer und Jesus als gemeinsame Schnittmenge von Wissen Mose/die Schrift als Autorität an. Um über das Fragliche oder Strittige

31 Vgl. Peter Ernst, Pragmalinguistik. Grundlagen – Anwendungen – Probleme, Berlin/New York 2002, 21ff. 32 Markus Nussbaumer, Argumentation und Argumentationstheorie, Heidelberg 1995, 1. 33 Harald Wohlrapp spricht in Bezug auf Wissen vom Sicheren oder Festen (wie Anm. 28), 47.

158

Bekannte und unbekannte biblische Texte mit Jugendlichen erschließen

überhaupt disputieren zu können, ist die Anerkennung einer personalen Autorität bzw. der Schriftautorität notwendig. Die Deutung dieser ist freilich schon verschieden. Gerade diese verschiedenen Deutungshorizonte ergeben den

Anlass. D.h. erst ein Anlass ermöglicht die kommunikative Sprachhandlung Argumentation.34 Unter argumentationstheoretischen Voraussetzungen ergibt sich als Textanalyse das folgende Bild (vgl. Tabellen 2 und 3).

Vers

Text

Kommentar

18

Von den Sadduzäern, die behaupten, es gebe keine Auferstehung, kamen einige zu Jesus und fragten ihn:

Narration – Rahmengebung

19

Meister, Mose hat uns vorgeschrieben: Wenn ein Mann, der einen Bruder hat, stirbt und eine Frau hinterlässt, aber kein Kind, dann soll sein Bruder die Frau heiraten und seinem Bruder Nachkommen verschaffen.

Doppelte Autoritätsangabe; Gemeinsames Wissen/gemeinsamer Verstehenshintergrund;   Prämisse

20–22

Es lebten einmal sieben Brüder. Der erste nahm sich eine Frau, und als er starb, hinterließ er keine Nachkommen. Da nahm sie der zweite; auch er starb, ohne Nachkommen zu hinterlassen, und ebenso der dritte. Keiner der sieben hatte Nachkommen. Als letzte von allen starb die Frau.

argumentum ad rem: Induktives Beispielmuster – Eine Schlussregel soll etabliert werden. Auch möglich: Illustratives Beispielmuster – Eine Schlussregel ist nicht generalisierbar, deshalb wird sie illustriert.

23

Wessen Frau wird sie nun bei der Auferste- Konklusion zu Etablierung der Schlussrehung sein? Alle sieben haben sie doch gel: Es ist keine Auferstehung; zur Frau gehabt. Stützung der Konklusion

Tabelle 2: Argumentierende Rede Sadduzäer, Mk 12,18–23

Der Textteil, in dem die Sadduzäer im Vordergrund stehen, basiert auf einem induktiven Beispielmuster. Ein solches will die Schlussregel (es ist keine Auferstehung) durch die abschließende Frage etablieren. Es handelt sich um eine induktive Argumentation: Der Schluss wird aufgrund einiger Beispiele (im vorliegenden Fall nur eines Beispiels) gezogen, wobei der allgemeine Satz in weiteren Argumentationen als Schlussregel

benutzt werden kann. Das Beispiel selbst wird als Konklusion verwendet und nicht als Prämisse einer Argumentation.35 34 Vgl. dazu Jörg Ruhloff, Verbesserung des Argumentierens mittels Topik? Oder: Argumente haben einen Anlass!, in: Andreas Dörpinghaus/Karl Helmer (Hg.), Topik und Argumentation, Würzburg 2004, 214ff. 35 Vgl. Manfred Kienpointner, Alltagslogik. Struktur und Funktion von Argumentationsmustern, Stuttgart 1992, 243.

Weiß Die Frage nach Auferstehung

159

Vers

Text

Kommentar

24

Jesus sagte zu ihnen: Ihr irrt euch, ihr kennt weder die Schrift noch die Macht Gottes.

Narration; Prämisse 1: argumentum ad hominem; Veränderung des Bezugsrahmens: 1. Nicht geteiltes gemeinsame Wissen aus Vers 19 = Schrift; 2. Unkenntnis über eine ›Eigenschaft‹ Gottes = Macht

25

Wenn nämlich die Menschen von den Toten auferstehen, werden sie nicht mehr heiraten, sondern sie werden sein wie die Engel im Himmel.

Prämisse 2: argumentum ad rem; Durch Negation (nicht mehr) in Verbindung mit Vergleich (werden sein wie) = Analogiemuster

26

Dass aber die Toten auferstehen, habt ihr das nicht im Buch des Mose gelesen, in der Geschichte vom Dornbusch, in der Gott zu Mose spricht: Ich bin der Gott Abrahams, der Gott Isaaks und der Gott Jakobs?

Prämisse 3: argumentum ad rem; Mit dem induktiven Beispielmuster soll/ wird der gemeinsame Bezugsrahmen wieder hergestellt/werden (wie Vers 19)

27

Er ist doch nicht ein Gott von Toten, sondern von Lebenden. Ihr irrt euch sehr.

Konklusion zur Etablierung der Schlussregel: Es ist eine Auferstehung; Narration

Tabelle 3: Argumentierende Rede Jesus, Mk 12,24–27

Der Textteil, in dem Jesus in den Vordergrund tritt, ist ebenfalls auf einem induktiven Beispielmuster aufgebaut, nimmt allerdings noch ein Analogiemuster hinzu. Ein solches besteht nach Kienpointner darin, dass der zu ziehende Vergleich zwei Realitätsbereiche berührt, die nicht zusammen gehören.36 3. Modellierung für die Unterrichts­ praxis und Aufgabenbeispiele

Wie kann mit einem so sperrigen Text im Religionsunterricht umgegangen werden, wenn bewusst ein theologisches Argumentieren gefördert werden soll? Mein Vorschlag schließt an zwei Forschungen an: In meiner Habilitationsschrift37 habe ich mich dafür ausgesprochen,

dass von einem Theologisieren von, mit und für Jugendliche(n) auszugehen ist, weil Theologisieren als eine sprachliche Handlung wahrgenommen werden kann. In dieser werden die eigenen Erfahrungen und Positionierungen mit anderen Erfahrungen und Positionierungen in ein reflexives Verhältnis gesetzt. Dabei ist ein bewusstes theologisches Argumentieren einem expliziten Theologisieren von und mit Jugendlichen zuzuordnen. Die zweite Forschung betrifft das Feld religiöse Kompetenz. Ich gehe davon aus, dass sich eine Aufgabenkultur zum bewussten theologischen Argumentieren in der Trias Wissen, Deuten und Partizipieren verorten

36 Vgl. ebd., 244. 37 Vgl. Thomas Weiß (wie Anm. 26), 502ff.

160

Bekannte und unbekannte biblische Texte mit Jugendlichen erschließen

lässt. Dieses dreigliedrige Modell ist im Rahmen einer empirischen Erhebung einer religiösen Kompetenz in Berlin und Brandenburg theoretisch ausgeführt, empirisch überprüft38, aber nicht in didaktische Konzepte zurückgeführt. Thetisch ist deshalb festzuhalten: Als kommunikative Handlung hat Argumentieren partizipatorischen Charakter. Unter partizipatorisch verstehe ich eine Teilhabe, die auch eine begründete Nichtteilnahme einschließt. Voraussetzung von Partizipation ist eine »Selbstidentifikation«, die darauf abzielt, dass für »alle existentiellen Situationen [eine] grundlegende Nichtdele-

gierbarkeit und Unvertretbarkeit«39 gilt. Das Berliner Modell in unterrichtspraktischer Hinsicht modifiziert: Die Fähigkeit zu partizipieren basiert auf Wissens- und Deutungshorizonten, sodass die kommunikative Tätigkeit Argumentieren ein möglicher verbalsprachlicher Ausdruck dieser Fähigkeit als begründete Teilhabe ist. Theologisch wird eine solche kommunikative Handlung im Horizont religiöser Wissens- und Deutungsbezüge. In Verknüpfung lässt sich ein Modell vorstellen, welches als Grundlage dienen könnte, um unterrichtlich theologische Diskurse zu initiieren (vgl. Abbildung 1).

Theologischer Diskurs – kommunikative Handlung



Wissen um religiöse … (von, für)



Deutung über religiöse … (von, für, mit)



Partizipieren an religiösen … (von)

Abbildung 1: Modell für Aufgaben zum theologischen Diskurs

Dieses Modell hat den Vorteil, Argumentationen als Aushandlungsprozesse zu begreifen, die auf Wissen und Deutungen angewiesen sind, ihre Ziele aber über die Herstellung eines Konsenses, die Eröffnung eines neuen Fragehorizontes z.B. durch Perspektivenwechsel, die Ermöglichung eines gemeinsamen Abwägens oder dem Stehen-Lassen-Können verschiedener Haltungen/Überzeugungen definieren. Um es deutlich hervorzuheben: Nicht jede verbalsprachliche Handlung ist eine Argumentation. Deshalb bedarf es formaler aber auch methodischer (Gesprächs-) Regeln. Formal eignet sich hier die Klas-

sifikation von Argumentationsmustern nach Manfred Kienpointner40, die an der deutschen Alltagssprache überprüft wurde. Methodische Zugänge zum Streitgespräch lassen sich beispielswei38 Vgl. Dietrich Benner / Rolf Schieder / Henning Schluß / Joachim Willems (Hg.), Religiöse Kompetenz als Teil pädagogischer Bildung. Versuch einer empirisch, bildungstheoretisch und religionspädagogisch ausgewiesenen Konstruktion religiöser Dimensionen und Anspruchniveaus, Paderborn 2011. 39 Ebd., 39. 40 Vgl. Manfred Kienpointner (wie Anm. 35). Ausführlich zur Kienpointnerschen Typologie vgl. Thomas Weiß (wie Anm. 26), 81ff.

Weiß Die Frage nach Auferstehung

se bei Hilbert Meyer nachlesen.41 Solche Regeln und Methoden helfen, die kommunikative Tätigkeit Argumentieren von anderen kommunikativen Tätigkeiten z.B. Plaudern oder Berichten abzugrenzen. Wie müsste auf Grundlage dieser Überlegungen eine Unterrichtspraxis gestaltet werden? Dazu abschließend ein Vorschlag mit Aufgabenbeispielen (vgl. Tabelle 4). Ich würde das Thema

161

der Unterrichtseinheit nennen: Kann man heute noch wie Jesus argumentieren? – Biblische Streitgespräche auf dem Prüfstand. Vorstellbar ist ein Szenario z.B. für eine 8. Klasse (14-jährige Schüler/innen) einer Realschule, die zwei Mal pro Woche Religionsunterricht absolviert. Im Zentrum dieses Vorschlages steht der Text Mk 12,18–27. Die Schüler/innen kennen den Text aus dem Unterricht.

Wissen um religiöse …

Deutung über religiöse …

Partizipation an religiösen …

Stationenarbeit in Kleingruppenarbeit (zu dritt) Findet bitte das Folgende heraus: 1. Die Sadduzäer waren, wie Jesus, Juden. Recherchiert über ihre Stellung zu Zeiten von Jesus. 2. Findet ihre Einstellung zur Auferstehung heraus. 3. Recherchiert die Bibelzitate (Dtn 25,5–10 und Gen 38,8), auf die sich die Sadduzäer in Vers 19 beziehen, im Alten Testament nach und vergleicht eure Ergebnisse mit den Aussagen aus dem Text (Verse 19–23). Vice versa für Jesus.

Du findest drei religiöse Vorstellungen zur Auferstehung auf dem Arbeitsblatt. Vergleiche diese mit zwei nicht-religiösen Vorstellungen zur Auferstehung: – Die Hymne der ehemaligen DDR begann z.B. mit der Zeile: »Auferstanden aus Ruinen und der Zukunft zugewandt …«. – Conchita Wurst sang 2014 zum Eurovision Contest 2014 das Lied »Rise Like a Phoenix«. 1. Erschließe dir beide Liedtexte und überprüfe sie ob der Gemeinsamkeiten/Unterschiede zu religiösen Vorstellungen. 2. Füge deine eigene Vorstellung von Auferstehung hinzu, indem du dazu fünf vollständige Sätze schreibst.

Ihr seit jetzt Publikum des Streitgespräches und habt die Diskussion aufmerksam verfolgt. Da ihr über das entsprechende Wissen verfügt und euch verschiedene Deutungsmöglichkeiten angeeignet habt, könnt ihr in das Streitgespräch einsteigen. Bildet drei Gruppen und überlegt euch: Wie könnte das Gespräch weitergehen, wenn es darauf ausgerichtet ist: Gr. 1: Einen Konsens zwischen den Sadduzäern und Jesus herbeizuführen. Gr. 2: Eine neue Frage zur Thematik Auferstehung zu entwickeln. Gr. 3: Die beiden verschiedenen Auffassungen von Auferstehung nebeneinander bestehen zu lassen.

Tabelle 4: Aufgabenbeispiele

41 Hilbert Meyer, Unterrichtsmethoden. II: Praxisband, Berlin 1987, 293ff, hier zitiert nach: http://home.unileipzig.de/didakrom/Metho­den/Methoden%20des%20Studienseminars%20Solingen%20Wuppertal%20 Sekundarstufe%20I/Methodenkarten_Streitgespraech.pdf [Zugriff am 01.03.2017].

162

Bekannte und unbekannte biblische Texte mit Jugendlichen erschließen

Zum eigentlichen Ziel gelangt eine solche Form von Unterricht allerdings erst, wenn die Redebeiträge der Gruppen in einer umfassenden Auswertung reflektiert werden. Auf der Ebene einer Metareflexion könnten die Äußerungen der Schüler/innen mit den formalen Mustern nach Kienpointner exemplarisch konfrontiert werden sowie gemeinsam zu prüfen wäre, welchen Horizonten ihre Aussagen entspringen. Denkbar ist auch eine argumentativ angelegte Bewertung des Textes aus der Rolle des Publikums. 4. Ein fragendes Resümee

Der unterrichtliche Umgang mit biblischen Streitgesprächen im Zusammenhang mit jugendtheologischen Überlegungen und unter Berücksichtigung argumentationstheoretischer Annahmen ist voraussetzungsreich. Ein bewusstes Üben theologischen Argumentierens

kann nicht prinzipiell Sinn und Zweck von schulischem Religionsunterricht sein. Es handelt sich hier also um die Beschreibung einer Sequenz im Unterrichtsprozess. Drei Fragen bleiben vorerst offen: 1. Frage: Wie anschlussfähig sind biblische Streitgespräche an die Lebenswelt Jugendlicher? 2. Frage: Wie ist mit der idealtypischen Zurechtlegung (vgl. Bultmann) in den Streitgesprächen unterrichtlich umzugehen? 3. Frage: Welche Lehrmaterialien müssten bereitgestellt werden, damit sich Übungen zum Argumentieren organisch in das Unterrichtsgeschehen einfügen bzw. nicht gekünstelt wirken? Mit diesen drei Fragen sind Probleme markiert, die nur in praktischen Erprobungen des hier vertretenen Vorschlages einer Lösung zugeführt werden können.

Büttner Jugendlicher Umgang mit der Bibel – eine Matrix für die Jugendtheologie?

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Gerhard Büttner Jugendlicher Umgang mit der Bibel – eine Matrix für die Jugendtheologie?

Einzelne Jugendliche oder eine kleine Gruppe hören oder lesen eine biblische Perikope. Die Dokumentation der sich anschließenden Gespräche zeigt manchmal Überraschendes, oft auch Banales. Wem nützen solche Daten und deren Auswertungen? Wenn etwa eine Lehrkraft im Unterricht denselben Text mit einer ähnlichen Gruppe besprechen möchte, kann sie darauf hoffen, dass ihre Schüler/innen ähnliche Beiträge produzieren werden? Doch wann ist eine Gruppe ähnlich genug, um solche Erwartungen einlösen zu können? Liegen mehrere solcher Untersuchungen vor, dann erhöht sich die Wahrscheinlichkeit von Wiedererkennungen. Doch – das zeigen die bisherigen Darstellungen – aus den Dokumentationen eine Art Matrix jugendlichen Theologisierens erstellen zu können, ist äußerst schwierig. Hier liegt ein qualitativer Unterschied zur Kindertheologie. Denn Kinder sind geborene Theisten.1 Von daher verwundert es nicht, dass das Programm der Kindertheologie weit über den akademischen Diskurs hinaus in der Praxis so viel Zustimmung findet, die sich auch in Lehrerfortbildungen, Lehrplänen und -materialien niederschlägt. Die Frage der Ausweitung eines solchen Programms auf Jugendliche ist konsequent, aber durchaus kompliziert. Außerhalb bestimmter Milieus mit expliziter Frömmigkeit, begegnet ›Theologisieren‹ bei Jugendlichen nur dort, wo

ein bestimmter Rahmen dies explizit fordert: konkret der RU in der Schule2, dazu Konfirmations- und Firmunterricht. Ein Blick auf James Fowlers Theorie der Glaubensentwicklung macht deutlich, dass nach dem ›mythisch-wörtlichen Glauben‹ der Kinderzeit eine Phase des ›synthetisch-konventionellen Glaubens‹ folgt.3 Konkret heißt das, dass sich der ›Jugendglaube‹ je nach Milieu deutlich unterscheidet, d.h. dann auch vermutlich mehrere unterschiedliche Theologien produziert.4 Wie bildet sich dies theoretisch ab?

1 Deborah Kelemen, Are Children ›Intuitive Theists‹? Reasoning about Purpose and Design in Nature, in: Jason D. Slone (Hg.), Religion and Cognition. A Reader, London/ Oakville 2006, 99–113 (zuerst publiziert in: Psychological Science 15/2004, 295–301); Jürgen Oelkers, Die Frage nach Gott. Über die natürliche Religion von Kindern, in: Vreni Merz (Hg.), Alter Gott für neue Kinder? Das traditionelle Gottesbild und die nachwachsende Generation, Freiburg/CH 1994, 13–22. 2 Veit-Jakobus Dieterich, Theologisieren mit Jugendlichen als religionsdidaktisches Programm für die Sekundarstufe I und II, in: Jahrbuch für Jugendtheologie, Bd. 1, Stuttgart 2013, 35–49. 3 James Fowler, Stufen des Glaubens. Die Psychologie der menschlichen Entwicklung und die Suche nach Sinn, Gütersloh 2000. 4 Carsten Gennerich, Empirische Dogmatik des Jugendalters: Werte und Einstellungen Heranwachsender als Bezugsgrößen für religionsdidaktische Reflexionen. Stuttgart 2010.

164

Rückblick

Man kann Kolleg/innen bitten, mit Jugendlichen Gespräche über das theologische Leitmedium ›Bibel‹ zu führen, wie dies in diesem Band geschieht. Dabei kommt es zu einer Begegnung zwischen einem Bibeltext und einzelnen oder Gruppen von Jugendlichen. Dabei kann ich den Fokus auf den Bibeltext legen. Das beginnt bei dessen Auswahl und setzt sich fort mit der exegetischen Information über diesen. Dieser Schritt ist insofern eher ›produktionsorientiert‹, als die exegetischen Informationen meistens Sachverhalte aus der Zeit der Textentstehung bzw. der berichteten Zeit beschreiben. Es herrscht weitgehender Konsens, dass diese Informationen zumindest als Hintergrund wichtig sind5, wenn sie nicht gar die geplante Rezeption steuern sollen. Spätestens mit Christian Schramms ›Alltagsexegesen‹ weiß man, dass Rezipienten jeglichen Alters die Texte an ihre Lebenswelt assimilieren.6 Die christliche Tradition lebt von diesem Prozess, dass Menschen in den Worten der Bibel ihre eigene Lebenswelt

(gespiegelt) wiederfinden. D.h. aber bei heutigen – in der Mehrzahl eher kirchenfernen – Jugendlichen, dass sich die Worte der Bibel mit z.T. sehr unkonventionellen Vorstellungen der Bibel verbinden. Aus der Sicht der Theologie stellt sich dies oft als grenzwertig dar und nötigt u.U. dazu, den Quellen (d.h. dem Bibeltext selbst) ein Vetorecht zuzugestehen. Eine weitere Unterscheidung betrifft – in mittlerweile geprägter Terminologie – die ›Theologie der Jugendlichen‹ und das ›Theologisieren mit ihnen‹. Bei der Erhebung der ersteren geht es darum, methodisch sachgemäß ein Bild möglicher jugendlicher Bibelrezeptionen zu erheben. Beim zweiten Aspekt kommt insofern eine normative Dimension dazu, als es darum geht, theologisierende Gespräche im Religionsunterricht zu situieren. Je unterrichtsnäher eine solche Darstellung ist, desto mehr provoziert sie Fragen nach einer ›best practice‹. Man erhält von diesen Prämissen her ein zweidimensionales Feld, in dem sich die einzelnen Beiträge dieses Bandes verorten lassen.

Text / produktionsorientiert

Dokumentation / deskriptiv

Didaktik / normativ

Lerngruppe / rezeptionsorientiert

5 Bernd Schröder, Hintergrundwissen. Historisch-kritische Methode und Praktische Theologie; ZThK 114/2017, 210–242.

6 Christian Schramm, Alltagsexegesen. Sinnkonstruktion und Textverstehen in alltäglichen Kontexten, Stuttgart 2008.

Büttner Jugendlicher Umgang mit der Bibel – eine Matrix für die Jugendtheologie?

Beginnt man auf der linken Seite des Achsenkreuzes, dann erkennt man, wie der Beitrag von Nele Spiering-Schomborg sich darauf konzentriert, die Potenziale, die der Text enthält, danach zu befragen, wo die im Text angesprochenen Befürchtungen von Israeliten und Ägyptern anschlussfähig sind für die Rezeption durch Jugendliche. Im Gegensatz dazu dokumentieren die Studien von Nadja Troi-Boeck und Frank Lütze die Reaktionen auf den Auferstehungstext Joh 20 bzw. das Wissen zu den Weihnachtstexten Lk 2 und Mt 1f. Hier interessieren allein die Konstruktionen der Jugendlichen und nicht der exegetische Gehalt der Texte. Von daher ist es konsequent, diese Texte von oben nach unten in einer Art linken Spalte anzuordnen. In der Mitte – etwa auf der Senkrechtachse – sehe ich oben den Beitrag von Thomas Weiß. Dieser analysiert die Argumentationsfiguren der sog. Sadduzäerfrage Mk 12 und versucht, seine Überlegungen für eine Realschulklasse unterrichtbar zu machen. Darunter sehe ich den Beitrag von Michael Fricke. Dieser erschließt das Hiobbuch über eine Graphic Novel – nahe an den unterrichtlichen Umsetzungsmöglichkeiten. Noch näher sind die Beiträge der rechten Spalte der Unterrichtswirklichkeit. Anika Loose dokumentiert die Reaktionen von Schüler/in­ nen im RU auf die von ihr vorbereitete Parabel vom Weltgericht Mt 25. Christian Butt präsentiert einer sehr heterogenen Schülerschaft Texte zum Thema ›Segen‹, u.a. den Aaronitischen Segen. Erwartungsgemäß ergibt sich eine höchst unterschiedliche Rezeption im Laufe der Unterrichtseinheit. Der Beitrag von Axel Wiemer geht in dieser Richtung noch weiter. Er setzt die Fragestellungen des Galaterbriefes

165

gewissermaßen voraus und bringt seine Schüler/innen in eine Innenperspektive, die diese nötigt, die Fragen, denen Paulus begegnet, selbst zu beantworten. Es ist leicht erkennbar, dass die Beiträge ein Gefälle haben von der wissenschaftlichen Dokumentation von Denkmustern und Einstellungen hin zu Einladungen, nach diesen Modellen selbst zu unterrichten. Dabei fällt auf, dass letzteres gar nicht so einfach ist. Ein ähnliches Unterfangen mit Grundschüler/innen hatte es ermöglicht, zumindest die Grundzüge von didaktischen Landkarten zu erstellen. D.h., dass jeder Unterrichtsversuch zur Thematik gehalten ist, sich an den erarbeiteten Landkarten zu orientieren7. Dies geht deshalb, weil das Denken in der ›Konkreten Operation‹ (Piaget) zwar Möglichkeiten genauerer und treffenderer Deutungen bzw. ungenauerer und konfuserer ermöglicht, doch bewegen diese sich innerhalb eines Rahmens, den die kognivistische Psychologie ›constraints‹ nennt.8 D.h. etwa, dass Kinder erst einmal nur mit den gegeben Figuren des Textes operieren und nicht von einer Metaposition aus das Setting als solches infrage stellen. Von daher sind überlieferte Deutungsmuster immer auch Orientierung für neue Situationen. Dies entfällt im Jugendalter. Dort ist die Möglichkeit, den Text in jede Richtung hin zu amplifizieren, im Prinzip durch nichts eingeschränkt. Um

7 Gerhard Büttner u.a. (Hg.), Handbuch Theologisieren mit Kindern, Einführung – Schlüsselthemen – Methoden, Stuttgart/München 2014. 8 Katja Bödeker, Die Entwicklung intuitiven physikalischen Denkens im Kulturvergleich, Münster 2006.

166

Rückblick

aus den referierten Beispielen zu zitieren: Was verbindet weitgehend agnostische Jugendliche aus Mitteldeutschland mit schwäbischen Realschüler/innen, die zumindest auf mehrere Jahre konfessionellen RU zurückblicken können? Doch auch gegebene Gesprächssituationen, die eingesetzten Impulse, Geschlecht und Anzahl der Proband/innen lassen vermuten, dass sie die implizite Tendenz zur Diversität noch verstärken. D.h., dass die Erwartung, eine ›Landkarte jugendtheologischen Denkens‹ – und sei es nur zu ausgewählten Bibeltexten – erstellen zu können, vermutlich aussichtslos ist. Die Beiträge dieses Bandes zielen dem gegenüber in eine andere Richtung. Offenbar spielen die Rahmenbedingungen der Kommunikation eine größere, bislang wenig bedachte, Rolle. Man kann leicht nachvollziehen, dass es eine Rolle spielt, ob ich als Anleiter eher eine Innen- oder eine Außenperspektiven zu inszenieren versuche. Solche Perspektivierungen spielen, darauf verweisen einige Beiträge zu Recht hin, gerader in der Phase der Adoleszenz eine besondere Rolle. Erving Goffman hat darauf aufmerksam gemacht, welche bedeutende Rolle die ›Rahmung‹ einer Interaktion spielt.9 Dies versucht ja u.a. der ›Performative RU‹ zu nutzen, indem er alternative Rahmungen anbietet (z.B. das Theater). Es lohnt sich, in diesem Sinne noch einen Blick auf die anderen Beiträge dieses Bandes zu werfen. Ich schlage vor, diese im Sinne Goffmans als ›Modulierungen‹ zu betrachten. Explizit haben dies Christine Hoegen-Rohls und Heidrun Dierck versucht. Was passiert mit einer biblischen Perikope, wenn ich sie als literarischen Text lese? Entziehe

ich ihr damit erst einmal ein Stück Identifikation, oder eröffne ich sie gerade? Heidrun Dierck hat eindrücklich festgestellt, dass es für die Schüler/innen im Resultat einen großen Unterschied macht, ob der Text aus der Bibel stammt oder ›nur‹ eine antike Quelle darstellt.10 Henning Hupe hat verdeutlicht, dass die virtuose Anwendung des dekonstruktivistischen Repertoires positionelle Angriffe oder Verteidigungen quasi aushebelt und Jeroen Hendickx zeigt, dass die eher kinderorientierte Methode des ›Godly Play‹ ebenso bei Heranwachsen neue Perspektiven eröffnet. All die skizzierten Zugangsweisen sind keinesfalls nur als ›Methoden‹ zu begreifen. Wie jede Modulation schaffen sie neue ›Wirklichkeiten‹. Dies ist einerseits ermutigend, produziert aber Schwierigkeiten im pädagogischen Feld. Wenn es so schwer ist, ›Landkarten‹ herzustellen und ein ›Nachkochen‹ der präsentierten ›Gerichte‹ zu schwierig ist, kann man dann das ›Theologisieren mit Jugendlichen‹ den Lehrenden anempfehlen? Ich denke schon, wenn wir uns zweierlei bewusst machen: Trotz meiner Skepsis wird das Sammeln von Praxisbeispielen unser Wissen insgesamt vergrößern und den Praktikern Hilfe leisten können. Die Qualifizierung der Lehrpersonen liegt vor allem darin, dass sie selbst dazu in der Lage sind, die ›Theologizität‹ ihres Unterrichtsthemas wahrzunehmen. Wenn die ›Lehrertheologie‹ stimmt, dann wird auch ›Jugendtheologie‹ eine 9 Erving Goffman, Rahmen-Analyse. Ein Versuch über die Organisation von Alltagserfahrungen, Frankfurt a.M. 1977. 10 Dazu Gerhard Büttner, Lieber Rotes Meer als Grüner See!, in: KatBl 137/2012, 448–454.

Büttner Jugendlicher Umgang mit der Bibel – eine Matrix für die Jugendtheologie?

Chance haben.11 D.h., dass die hier referierten Beiträge zwar nur sehr bedingt Rezepte hervorbringen, nach denen Lehrkräfte ihrerseits unterrichten können. Produktiv sind diese Beiträge für Unterrichtende dann, wenn diese überlegen, wie sie selbst auf die Herausforderungen der Texte reagieren: Was würde ich auf die Sadduzäerfrage antworten? Wie gehe ich mit der Frage um, ob ich zu den Schafen oder den Böcken im Gleichnis gehöre; wie konkret stelle ich mir ›Segen‹ vor? Die Früchte eines solchen Nachdenkens bilden dann ›Lehrertheologien‹, die nicht nur den ›korrekten‹ Topoi der Lehrpläne,

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Schulbücher oder sogar der biblischen Kommentare folgen, sondern teilhaben an den ›wilden Exegesen‹ der Jugendlichen. Wer seiner assoziativen Phantasie selbst Raum gegeben hat, der wird Anschlüsse finden zu den Fragmenten, die die Beiträge dieser Buches liefern, wie sie aber auch in eigenen Gesprächen mit Jugendlichen begegnen werden, nicht nur im RU.

11 Gerhard Büttner, Theologische Modelle im Religionsunterricht. Wie Schüler/innen am Modell lernen können, in: KatBl 142/2017, 54–60.

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Die Autorinnen und Autoren

Die Autorinnen und Autoren

Dr. Gerhard Büttner ist em. Professor für Religionspädagogik am Institut für Evangelische Theologie an der Technischen Universität Dortmund. Dr. Christian Butt ist Pastor und Studienleiter des Prediger- und Studienseminars der Nordkirche in Ratzeburg Dr. Heidrun Dierk ist Professorin für Evangelische Theologie / Religionspädagogik an der PH Heidelberg. Dr. Annemie Dillen ist Außerordentliche Professorin für Pastorale und Empirische Theologie sowie für Religionswissenschaften an der Katho­lischen Universität Leuven, Belgien. Dr. Michael Fricke ist Professor für Evangelische Theologie / Religionspädagogik und Didaktik des Religionsunterrichts an der Universität Regensburg. Dr. Gudrun Guttenberger ist Professorin für Evangelische Theologie mit dem Schwerpunkt Biblische Theologie an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg. Jeroen Hendrickx ist katholischer Religionslehrer an einer Sekundarschule in Belgien. Dr. Christina Hoegen-Rohls ist Professorin für Bibelwissenschaften (Altes und Neues Testament) und ihre Didaktik an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. StD Dr. Henning Hupe ist Lehrer für Französisch und Ev. Religion am Hebel-Gymnasium in Schwetzingen bei Heidelberg, seit 1999 Assistenzen im Neuen Testament bei Peter Lampe und Helmut Schwier sowie Lehraufträge an der Theologischen Fakultät der Universität Heidelberg.

Armin Kummer ist Theologe und Seelsorger im Dienst der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern. Er forscht als Doktorand am Research Unit for Pastoral and Empirical Theology an der Katholischen Universität Leuven, Belgien. Anika Loose ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Praktische Theologie / Religionspädagogik an der Ruhr-Universität Bochum. Dr. Frank M. Lütze ist Professor für Religionspädagogik und Didaktik des evangelischen Religionsunterrichts an der Universität Leipzig. Dr. Hanna Roose ist Professorin für Praktische Theologie / Religionspädagogik an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum. Dr. Thomas Schlag ist Professor für Praktische Theologie mit den Schwerpunkten Religionspädagogik, Kirchentheorie und Pastoraltheologie an der Theologischen Fakultät der Universität Zürich. Dr. Nele Spiering-Schomborg ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Katholische Theologie / Religionspädagogik und Altes Testament an der Universität Kassel. Dr. Nadja Troi-Boeck ist Pfarrerin in der reformierten Kirche Regensdorf und Habilitandin an der Theologischen Fakultät der Universität Zürich. Dr. Thomas Weiß ist Professor für Evangelische Theologie und Religionspädagogik an der Pädagogischen Hochschule Schwäbisch Gmünd. Dr. Axel Wiemer ist Akademischer Oberrat für Evangelische Theologie / Religionspädagogik an der Pädagogischen Hochschule Schwäbisch Gmünd und Privatdozent für Biblische Theologie und ihre Didaktik an der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe.