"Erlösung ward der Welt zuteil": Säkularisierung und die Oper des 19. Jahrhunderts 3534254325, 9783534254323

Nach dem Erdbeben von Lissabon 1755 gerät der christliche Glaube in eine schwere Krise. Die durch das Beben angeheizte D

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German Pages [146] Year 2014

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Table of contents :
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Titel
Impressum
Inhalt
Einleitung: Säkularisierung und die Erlösungsbedürftigkeit des Menschen bei drei Komponisten des 19. Jahrhunderts
Kapitel 1: Der Augenblick des Wunders und der Tigersinn des Bösen. Religion in Beethovens „Fidelio“
Kleine Meditation über Zeiterfahrung und der Kanon „Mir wird so wunderbar“
Kleine Phänomenologie des Bösen: „Ha, welch ein Augenblick“
Leonore vertraut sich selber. Die Stimme der Aufklärung
Was Religion über den Menschen und das Glück denken kann
Der Augenblick des Wunders
Kapitel 2: Richard Wagners Weg von der Weltanschauung zur ästhetischen Religion
Trotz Feuerbach: Die Opern der Erlösung – „Holländer“, „Tannhäuser“, „Lohengrin“
Die Erlöserin Senta, das „Weib der Zukunft“
Erotik und Religion im „Tannhäuser“
„Lohengrin“ – der ästhetische Spiegel der Säkularisierung
Der unvollendete Übergang von der Metaphysik zur Religion: „Tristan und Isolde“
Der „Ring“. Wagners säkulare Weltanschauung „Erlösung durch den Untergang“ und seine „Rettung ins Ungenaue“
Die Liturgie zur „Rettung der Religion“ durch die Kunst: „Parsifal“
Kapitel 3: Trotz allem: Ohne Religion glückt kein Glück – Richard Strauss’ „Salome“
Vom tanzenden „Mädchen“ zur „Femme fatale“
Oscar Wilde contra Hedwig Lachmann – Original und Fälschung
Noch ein Kuss und noch ein Liebestod: Die Offenbarung des Dionysos
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"Erlösung ward der Welt zuteil": Säkularisierung und die Oper des 19. Jahrhunderts
 3534254325, 9783534254323

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Peter Steinacker

„Erlösung ward der Welt zuteil“ Säkularisierung und die Oper des 19. Jahrhunderts

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografi sche Daten sind im Internet über http: / / dnb.d-nb.de abrufbar.

Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfi lmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. © 2014 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht. Lektorat: Andrea Graziano di Benedetto Cipolla Satz: Janß GmbH, Pfungstadt Einbandgestaltung: Peter Lohse, Heppenheim Einbandabbildung: © visualgo-istockphoto.com Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de

ISBN 978-3-534-25432-3

Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): 978-3-534-73132-9 eBook (epub): 978-3-534-73133-6

Für Sonja filia nostra, stella oculorum

Inhalt Inhalt

Einleitung Säkularisierung und die Erlösungsbedürftigkeit des Menschen bei drei Komponisten des 19. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kapitel 1 Der Augenblick des Wunders und der Tigersinn des Bösen. Religion in Beethovens „Fidelio“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kleine Meditation über Zeiterfahrung und der Kanon „Mir wird so wunderbar“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kleine Phänomenologie des Bösen: „Ha, welch ein Augenblick“ Leonore vertraut sich selber. Die Stimme der Aufklärung . . . . Was Religion über den Menschen und das Glück denken kann . Der Augenblick des Wunders . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Kapitel 2 Richard Wagners Weg von der Weltanschauung zur ästhetischen Religion Trotz Feuerbach: Die Opern der Erlösung – „Holländer“, „Tannhäuser“, „Lohengrin“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Erlöserin Senta, das „Weib der Zukunft“ . . . . . . . . . . . . . . . . Erotik und Religion im „Tannhäuser“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . „Lohengrin“ – der ästhetische Spiegel der Säkularisierung . . . . . . . . Der unvollendete Übergang von der Metaphysik zur Religion: „Tristan und Isolde“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der „Ring“. Wagners säkulare Weltanschauung „Erlösung durch den Untergang“ und seine „Rettung ins Ungenaue“ . . Die Liturgie zur „Rettung der Religion“ durch die Kunst: „Parsifal“ . . .

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Kapitel 3 Trotz allem: Ohne Religion glückt kein Glück – Richard Strauss’ „Salome“ Vom tanzenden „Mädchen“ zur „Femme fatale“ . . . . . . . . . . . . . . . Oscar Wilde contra Hedwig Lachmann – Original und Fälschung . . . . . Noch ein Kuss und noch ein Liebestod: Die Offenbarung des Dionysos . .

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Einleitung

Säkularisierung und die Erlösungsbedürftigkeit des Menschen bei drei Komponisten des 19. Jahrhunderts

Einleitung

Als ich am 14. Oktober 2001 in Vertretung für den Ratsvorsitzenden der EKD in der Frankfurter Paulskirche der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels an Jürgen Habermas beiwohnte und die große Rede des Preisträgers hörte, traute ich zunächst meinen Ohren nicht. Der Redner, in dessen großem Werk „Theorie des kommunikativen Handelns“ der Abschnitt über Religion deutlich unterkomplex behandelt worden war1, der sich im Vortrag selbst mit feiner Ironie als ein „religiös Unmusikalischer“ eingeführt hatte, plädierte für eine „kooperative Übersetzung religiöser Gehalte“ zwischen dem liberalen Staat und der Religion in einer „postsäkularen Gesellschaft“2 . Auf der Basis der „in der Verfassung festgeschriebenen säkularen Entscheidungsgrundlagen“3 zeigt sich, dass auch solche „Religionsgemeinschaften das Prädikat ,vernünftig‘“ verdienen, „die aus eigener Einsicht auf eine gewaltsame Durchsetzung ihrer Glaubenswahrheiten und auf den militanten Gewissenszwang gegen die eigenen Mitglieder, erst recht auf eine Manipulation zu Selbstmordattentaten, Verzicht leisten.“4 Andererseits hat die „Entzauberung der Welt“ die Natur verobjektivierend entpersonalisiert, und die Gefahr, dass die Naturalisierung des Geistes „das personale Selbstverständnis durch eine objektivierende Selbstbeschreibung nicht nur ergänzt, sondern ablöst“, steht vor der Tür, auch wenn das „nicht Wissenschaft, sondern schlechte Philosophie“5 ist. Habermas hält es für einen Fehler, die tatsächliche Säkularisierung entweder für eine notwendige Ersetzung religiöser Denkweisen und Lebensformen durch „vernünftige, jedenfalls überlegene Äquivalente“ zu halten, oder umgekehrt, die „modernen Denk- und Lebensformen als illegitim entwendete Güter“ zu diskreditieren. „Beide Lesarten machen denselben Fehler. Sie betrachten die Säkularisierung als eine Art Nullsummenspiel zwischen den kapitalistisch entfesselten Produktivkräften von

1 Weil das Thema Religion nur in der Perspektive der Integrationstheorien von Mead und Durckheim bearbeitet wurde, die beide religionswissenschaftlich unzureichend sind, vgl. Theorie des Kommunikativen Handelns, Bd. 2, Frankfurt a. M 1981, S. 7–170. 2 Glauben und Wissen. Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2001, Frankfurt a. M. 2001, S. 46 bzw. 40. 3 A. a. O., S. 42. 4 A. a. O., S. 41. 5 A. a. O., S. 45.

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Einleitung

Wissenschaft und Technik auf der einen, den haltenden Mächten von Religion und Kirche auf der anderen Seite … Dieses Bild passt nicht zu einer postsäkularen Gesellschaft, die sich auf das Fortbestehen religiöser Gemeinschaften in einer sich fortwährend säkularisierenden Umgebung einstellt.“6 Um der Gefahr einer „entgleisenden Säkularisierung“7 zu entgehen, ist die postsäkulare Gesellschaft darauf angewiesen, dass in einer pluralistischen Gesellschaft die Autorität von Wissenschaften auf das gesellschaftliche Monopol an Weltwissen und die Prämissen des Verfassungsstaates, die sich aus einer profanen Moral begründen, von allen gesellschaftlichen Gruppen, also auch von den Religionsgemeinschaften, anerkannt werden.8 Habermas begründet seine These damit, dass „etwas verloren“ geht, wenn säkulare Sprachen das, was die religiöse Sprache gemeint hat, bloß eliminieren oder, wie bei Heidegger, in dessen Ontologie „eine sich selbst dementierende Vernunft“ in Versuchung gerät, „sich die Autorität und den Gestus eines entkernten, anonym gewordenen Sakralen bloß auszuleihen.“9 Eine postsäkulare Gesellschaft wird in diesem Sinn sich auf dem Boden einer säkularen Verfassung weiter mit dem auseinandersetzen, was religiös mit dem Begriff der Sünde, der Hoffnung der Auferstehung, dem Jüngsten Tag, dem Menschen als Ebenbild Gottes u. a. einmal gemeint war. Vor allem aber hat „die profane, aber nichtdefaitistische Vernunft zu viel Respekt vor dem Glutkern, der sich an der Frage der Theodizee immer wieder entzündet, als dass sie der Religion zu nahe treten würde“10. An die von Habermas vorgetragene These möchte ich mit dieser kleinen Studie anknüpfen. An einigen Opern aus dem 19. Jahrhundert möchte ich zeigen, dass sie mit ihren Mitteln, also mit Text und Musik, den Säkularisierungsprozess ihrer Zeit thematisch in sich aufnehmen, beurteilen und ihre Kunst als ästhetische Kompensation für eine nicht mehr überzeugende Religion ins Spiel bringen, um die Säkularisierung vor einer Entgleisung zu bewahren. Religiöse und profane Überzeugungen stehen zunächst nebeneinander, Lebenserfahrungen, Lebenszielkonfl ikte und Emanzipationsbewegungen begründen neben philosophischen Einsichten eine radikale Kritik der Religion, vornehmlich des Christentums in Gestalt der Kirche. Jedoch führt diese Religionskritik und eine auf ihr aufruhende, im Kunstwerk abgebildete Gesellschaft ohne Transzendenzbezug nicht zu einer Preisgabe von Religion als Religion, sondern setzt eine neue Religionsproduktivität in Gang. An den ausgewählten Opern ist erkennbar, dass der Säkularisierungsprozess des 19. Jahrhunderts nicht zu einer Eliminierung der Religion aus dem öffentlichen Bewusstsein führt, sondern neue Religionsformen gebiert. Deswegen kann man nicht sagen, im 19. Jahrhundert sei die Gesellschaft auf dem Weg in

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A. a. O., S. 40 f. A. a. O., S. 38. Vgl. a. a. O., S. 41. A. a. O., S. 52. Ebd. Habermas erörtert das Gemeinte an dem konkreten Beispiel der Gentechnik.

Einleitung

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einen religionslosen Zustand. Im Gegenteil: Trotz des massiven Angriffs auf Religion in Gestalt des Christentums durch die Französische Revolution, die allzu bald entgleiste und selber religionsaffi n wurde, lässt sich die Behauptung nicht halten, „das 19. Jahrhundert sei insgesamt ein Zeitalter jenseits der Religion gewesen“11. Allerdings erlebt die Religion, vor allem in Gestalt der christlichen Kirche, eine tiefgreifende Umbruchszeit, die hart an die Grenze von Entkirchlichung führte.12 Es gibt empirisch gute Gründe, „die These von der ,Entzauberung der Welt‘ gerade für das 19. Jahrhundert, an dessen Ende [Max] Weber seine These formulierte, zu bezweifeln. Denn in diesem Zeitraum gab es eine Fülle verschiedenster Formen und Praktiken abergläubischer und magischer Religiosität, die bereits von den Zeitgenossen intensiv diskutiert wurden.“13 Diese Beobachtung kann man in der Religionsgeschichte stets dann machen, wenn in religionskritischen Epochen, wie zum Beispiel in der griechischen Aufklärung im Athen des 4. Jahrhunderts vor Christus, neben der kritisierten öffentlichen Religion andere Kulte und Praktiken einströmen. In Griechenland waren das die orientalischen Kulte. Säkularisierungsprozesse ziehen zugleich die Produktion von einer Fülle von neuen Mythen, Kulten und Riten in der eignen oder als Importe aus anderen Kulturen nach sich. Neu ist für das 19. Jahrhundert, dass die Kunst mit Formen der Kunstreligion an die Stelle der in der Kirche formalisierten Religion tritt und die Religionskritik in sich aufnimmt. Die Säkularisierungsthese ist so umfangreich und facettenreich, dass sie in alle Sektoren der Kultur spezifisch aufgefächert werden kann.14 Dieser eigentlich notwendigen Breite der These kann ich in dieser kleinen Studie nicht nachgehen. Daher beschränke ich mich auf die philosophische und auf die soziologische Bedeutungsvariante. Die philosophische Perspektive kreist um die Frage nach der Gottheit Gottes und hat als religionskritische Spitze den Atheismus. Andere Religionen, wie zum Beispiel der Buddhismus strömen in Europa ein, die man fasziniert studiert und bisweilen hofft, mit ihnen entgehe man den schwierigen Gottesdiskussionen. Die Religionskritik Feuerbachs sieht in der Religion ein zu beseitigendes Entfremdungsphänomen, Nietzsche verkündet den Tod Gottes und kritisiert, dass die Menschen die weitreichenden Folgen dieser notwendigen Tat noch nicht begriffen hätten15. Habermas gibt wie schon Max Weber16 den „Glutkern“ der Theodizee als zentrales Problemfeld an. Die Frage nach 11 Jürgen Osterhammel, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009, S. 1240. 12 Vgl. Thomas Nipperdey, Religion im Umbruch. Deutschland 1870 –1918, München 1988. 13 Benjamin Ziemann, Sozialgeschichte der Religion. Von der Reformation bis zur Gegenwart, Frankfurt a. M. / New York 2009, S. 35. Dazu gehören z. B. Magnetismus, der die Naturphilosophen beschäftigte, Hypnose, Spiritismus etc. 14 Vgl. Ulrich Barth, Art.: Säkularisierung I, in TRE Bd. XXIX, 1998, S. 603 – 634. 15 Die fröhliche Wissenschaft Aph. 125, KSA Bd. 3, S. 480 – 482. 16 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, Köln / Berlin 1964, S. 405: „Es ergibt sich „das Problem: wie die ungeheure Machtsteigerung eines solchen Gottes mit der Tatsache der Unvollkommenheit der Welt vereinbart werden könne, die er geschaffen hat und regiert.“

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Einleitung

der Gerechtigkeit Gottes angesichts des Übels in der Welt ist für den christlichen Glauben, der die Gottheit Gottes nicht ohne den Allmachtsgedanken denken und auf das Leben beziehen kann, ebenso unabweisbar wie unlösbar. Sie ist eine philosophische Frage, die einerseits besonders in Krisen- und Umbruchszeiten die Religionskritik befördert, andererseits die Philosophie an ihrer Verflachung hindert. Die soziologische Variante geht davon aus, dass es eine Folge des gesellschaftlichen und des innerreligiösen Rationalitätsprozesses ist, dass die Religion ihre Inhalte an die Gesellschaft ausliefert und sich selber damit überflüssig macht. Oft wird zugleich behauptet, die drei verschiedenen Säkularisationsprozesse seien strukturell stets miteinander verbunden. José Casanova hat aber gezeigt, dass die These „in Wirklichkeit aus drei ganz verschiedenen, ungleichartigen und kein Ganzes bildenden Behauptungen besteht: Unter Säkularisation wird zum einen die Ablösung und die Emanzipation weltlicher Bereiche von religiösen Einrichtungen und Normen verstanden, zum anderen aber auch der Niedergang religiöser Überzeugungen und Verhaltensformen und drittens die Abdrängung der Religion in die Privatsphäre.“17 Nicht nur die Situation in den USA, welche die säkularisierteste und die am wenigsten säkularisierte Gesellschaft der Neuzeit sind, was im 19. Jahrhundert schon Karl Marx18 wusste, zeigt, dass der Schluss auf die Notwendigkeit des Verschwindens aus der Öffentlichkeit und das stets gemeinsame Auftreten dieser drei verschiedenen Prozesse irrig ist. Ich orientiere mich durchgängig an Casanovas Begriffsbildung. Auch Habermas schränkt in seiner Beschreibung von Säkularisierung die weitreichende Behauptung ein, die von Max Weber diagnostizierte „Entzauberung der Welt“19 enthalte in sich das „modernisierungstheoretische Schema, demzufolge Religion als ein traditionaler Überhang in der Moderne säkularisiert und abgeschmolzen“ werde. 20 Religion verschwindet nicht aus dem öffentlichen Bewusstsein der säkularen Gesellschaft, sofern sie gewisse Bedingungen erfüllt. Allerdings verändert sie sich aus äußeren und inneren Gründen. Umgekehrt verlangt das Fortbestehen religiöser Gemeinschaften auch von einer epistemisch eingestellten Gesellschaft einen „Mentalitätswandel, der kognitiv nicht weniger anspruchsvoll ist als die Anpassung des religiösen Bewusstseins an die Herausforderungen einer sich immer weiter 17

Religion und Öffentlichkeit. Ein Ost- / Westvergleich, 1994, in: Karl Gabriel / Hans-Richard Reuter (Hg.), Religion und Gesellschaft. Texte zur Religionssoziologie, Paderborn u. a. 2004, S. 271. 18 Casanova, ebd., verweist auf Marx’ Streitschrift „Zur Judenfrage“, in: MEW 1, Berlin 1981, S. 352: Amerika sei sowohl ein Paradebeispiel für die „vollendete politische Emanzipation“ als auch „vorzugsweise das Land der Religiosität“. 19 Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, (1920), Tübingen 1988, S. 94. Weber hat die These im Rahmen seiner Studie „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“ aufgestellt, sie mit der Ablehnung der sakramentalen Magie als Heilsweg begründet. Er sieht diesen Prozess mit der altjüdischen Prophetie einsetzen und im englischen Puritanismus seinen Höhepunkt fi nden. 20 Benjamin Ziemann, a. a. O., S. 35.

Einleitung

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säkularisierenden Umgebung.“21 Dieser Mentalitätswandel drückt sich in der Gegenwart institutionell darin aus, dass die christlichen konfessionell gebundenen Theologien, inzwischen auch manche islamische Theologie, vom Wissenschaftsrat ausdrücklich als Wissenschaften an deutschen Hochschulen anerkannt worden sind. Die überkommene Religion mag den Menschen nicht mehr die für ihr Leben nötige Daseinsgewissheit vermitteln, aber ohne Religion gibt es auch keine handlungsleitenden Gewissheiten, wie die Diskussion um die Entstehung der Werte zeigt. 22 Diesen zwei Perspektiven, der philosophischen und der soziologischen, will ich in der gebotenen Kürze nachgehen und ihre Bedeutung für die Interpretation der von mir gewählten Opern deutlich machen. Dabei mache ich die Voraussetzung, dass es das 19. Jahrhundert abgesehen von der formal-kalendarischen Begrenzung auf Jahreszahlen so nicht gegeben hat. Die ungeheuren Verwandlungen der Welt, die sich in diesem Zeitrahmen ergeben haben, haben ihre Wurzeln weit vor der Jahrhundertwende im 18. Jahrhundert. Die Umbrüche, die sich im 19. Jahrhundert auf allen Feldern menschlichen Lebens, aber auch in der Naturauseinandersetzung ergeben haben, reichen weit ins 20. Jahrhundert hinein. Es gibt sogar gute Gründe, die epochalen Bedingungen und ihre Veränderungen noch einmal in drei Perioden zu unterteilen. Jürgen Osterhammel hat die erste Periode dieses Jahrhunderts mit Reinhard Kosselecks Begriff der „Sattelzeit“ auf die Zeit von 1760 / 70 bis 1830 terminiert. Sie würde von der „viktorianischen Zeit“ abgelöst, die wir gewöhnlich als „das“ 19. Jahrhundert bezeichnen. Und schließlich hat sich zwischen 1880 und 1890 noch einmal eine solche Dynamik auf allen Ebenen der Welt ergeben, dass man hier von einer Unterepoche, dem „Fin de siècle“, sprechen kann. 23 Die Komponisten und ihre Werke, die ich vorstellen möchte, lebten und arbeiteten jeder in einer dieser drei Epochen. Beethoven in der Sattelzeit, Wagner im „Victorianismus“ und Strauss im „Fin de Siècle“. Es ist davon auszugehen, dass sich ihre jeweils andere Welt in ihren Werken, in Theorie oder in ihren Opern einen Ausdruck gesucht hat. Zugleich gibt es aber auch Themen, die sich bei allen dreien durchhalten, auch wenn ihre Antworten auf Fragen und Herausforderungen verschieden ausfallen. Das sind die Fragen nach Gott oder der Transzendenz, und die Frage nach dem Zustand von Welt, Mensch und Gesellschaft und der möglichen Erlösung aus einem Zustand der Welt, der nicht nur unbefriedigend ist, sondern geradezu lebensfeindlich. In der Frage nach der möglichen Erlösung aus dem beschädigten Leben in einer tief versehrten Welt zu einem erfüllten Dasein ziehen sich die Frage nach Gott und die Frage nach einem erlösten Dasein und einer nicht mehr zerstörten Welt zusammen. Nach dem Erdbeben von Lissabon am 1. November 1755 geraten die christliche Religion und die traditionelle Metaphysik in eine Krise, die, verbunden mit einer Neu21

Jürgen Habermas, Zwischen Naturalismus und Religion, Philosophische Aufsätze, Frankfurt a. M. 2005, S. 145 f. 22 Vgl. Hans Joas, Die Entstehung der Werte, Frankfurt a. M. 1997. 23 A. a. O., S. 102–116.

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Einleitung

bestimmung des Menschen, drei neue Philosophien hervorbringt: die Geschichtsphilosophie, die philosophische Anthropologie und die philosophische Ästhetik.24 Alle drei neue Philosophien reagieren auf das durch das Erdbeben virulent gewordene Problem der Theodizee und verschieben ganz unterschiedlich die Frage nach der Rechtfertigung Gottes angesichts des Übels in der Welt auf den Menschen und seine Lebenswelt. Alle Antworten haben nicht mehr, wie noch Leibniz, das Zutrauen, dass die von Gott geschaffene Welt die beste aller möglichen Welten ist. Sie ersetzen Gott als die für das Dasein des Kosmos bürgende Legitimationsinstanz durch den Menschen. Die im 18. Jahrhundert in der Folge dieser Krise einsetzende Versachlichung entzaubert die Welt, um das Webersche Bild zu benutzen, insofern der Mensch an die Stelle Gottes tritt. Die gesellschaftliche Dynamik, die sich im 19. Jahrhundert dann als Säkularisierung breite gesellschaftliche Bahn bricht, hat ihre Wurzeln auch in den kritischen Reaktionen auf den nach Lissabon einsetzenden Legitimationsverlust für eine gute und verlässliche Welt. In der Folge verwandelt sich an der Wende des 18. zum 19. Jahrhundert mit Kants Kritiken der Sinn von Religion in Moralität. Gott, dessen Existenz angesichts des Übels bezweifelbar geworden war, verblasst zum Postulat der praktischen Vernunft. Kants Religionsphilosophie hat der organisierten Religion noch den Stellenwert zuerkannt, als regulative Idee mitzuhelfen, Moralität zu begründen. Gott, Freiheit, Unsterblichkeit allerdings sind als bloß regulative Ideen nur noch Denkvoraussetzungen, über deren empirischen Charakter philosophisch keine Aussagen gemacht werden können. Aber die Übel bleiben in der Welt. Auch wenn die Kompensationen der Übel durch die Religion wegfallen, um das funktionale Vokabular der Kompensationstheorie zu gebrauchen, ist die Welt nicht im Gleichgewicht. Wenn Gott nicht mehr als Verursacher oder Kompensator in Frage kommt und diese Welt nicht mehr überzeugend religiös als die beste aller möglichen erklärt werden kann, dann bleibt alles am Menschen selber hängen. Sowohl für die Kausalität der Übel wie deren mögliche Kompensation rückt der Mensch auf die Anklagebank. Das wiederum hat weitreichende Konsequenzen für das Verständnis des Menschen, seiner Individualität, seiner Verfassung als Leib, Seele und Geist und seiner Vergesellschaftung in den Institutionen seiner Vergemeinschaftungen. Ist der Mensch mit dieser Stellung im Kosmos nicht überfordert und sucht er sich dieser Verantwortung nicht immer wieder zu entziehen, sich zu entlasten? Odo Marquard hat den damals entstehenden neuen Begriff des Menschen „Homo compensator“ genannt, der sich auf vielfache Weise Ventile sucht, um sich von dieser ungeheuren Verantwortung eben auch für das Übel zu entlasten und Balancen und Kompensationen zu entdecken, in denen der Mensch gerade nicht mit seiner Verantwortung behaftet werden kann und sich nicht rechtfertigen muss. Eines dieser Kompensationsfelder ist die Ästhetik, die sich gerade in dieser Zeit, um 1750, zu entfalten beginnt. Sie ist die Ausbildung eines Organs zur Kompensation der 24

Odo Marquard, Der angeklagte und der entlastete Mensch in der Philosophie des 18. Jahrhunderts, in: Abschied vom Prinzipiellen, Stuttgart 2005, S. 39 – 42.

Einleitung

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Entzauberung der Welt durch Wiederverzauberung durch die Kunst und die Ästhetisierung der Religion. Der Gang geht „von der Rationalität zur Sensibilität, vom Normativen zum Originellen, von der imitatio zum Genie“25. In diesem Kompensationsfeld der Ästhetik fallen Entzauberung und Wiederverzauberung der Welt zusammen. Anders ausgedrückt: Religion verschwindet unter dem kritischen Druck der Welterfahrung und taucht verwandelt wieder auf, weil der Druck der Welt und die anthropologischen Entlastungsmechanismen nicht ausreichen und die Götter sich zwar verdrängen und verschieben, aber nicht auslöschen lassen. Das unendliche Leid, das über der Welt liegt, und die Einsicht in die eigene Sterblichkeit lassen das „metaphysische Bedürfnis“ (Schopenhauer) der Menschen nicht verkümmern, selbst wenn die Antworten der zeitgenössischen Religion – oder was man dafür hält – nicht zu überzeugen vermögen. Oder theologisch gesprochen: Weil Gott die Wandlungen seiner Welt mitgeht und die Menschen in ihrer Not nicht ihrer Verzweiflung überlässt, können die Menschen nicht schweigen vom Unaussprechlichen. Die Wiederkehr der Religion ins öffentliche Bewusstsein der Gegenwart hat auch hier ihren Ursprung – und eben auch ihre ästhetische Gestalt. Die „Entzauberung der Welt“ führt zur Transformation religiöser Gehalte aus der organisierten Religion als Kirche in die säkulare Kultur, zum Beispiel in die Ästhetik in Gestalt der Kunstreligion. In ihr bekommt das zentrale religiöse Thema der Erlösung eine besondere Farbe und es ist interessant, dass schon Max Weber genau diese Transformation als Säkularisierungsvorgang beschrieben hat: „Die Kunst konstituiert sich nun als ein Kosmos immer bewusster erfaßter selbständiger Eigenwerte. Sie übernimmt die Funktion einer, gleichviel wie gedeuteten, innerweltlichen Erlösung: vom Alltag und, vor allem, auch von dem zunehmenden Druck des theoretischen und praktischen Rationalismus. Mit diesem Anspruch aber tritt sie in direkte Konkurrenz zur Erlösungsreligion.“26 Die Besprechungen von Beethovens „Fidelio“, Wagners frühen Opern „Tristan“ und „Parsifal“ und schließlich Strauss’ „Salome“ sollen zeigen, wie stark der Säkularisierungsprozess sich in ihnen abbildet und wie sehr er von ihnen zugleich durch religiöse Produktion abgefangen und vor „Entgleisung“ bewahrt werden soll. Immer wieder steht dabei die Frage im Vordergrund, ob und in welcher Weise in den jeweiligen Werken das Thema der Erlösungsbedürftigkeit des Menschen behandelt, gefühlt oder als eine unstillbare Sehnsucht umkreist wird. Ich hoffe, dass ich zeigen konnte, dass und wie auch in den Kunstwerken Religion den Menschen davor bewahrt, als homo compensator sich hoffnungslos zu überfordern oder in tiefste Einsamkeit und Verzweiflung zu stürzen.

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Odo Marquard, a. a. O., S. 54. Max Weber, Zwischenbetrachtung, a. a. O., S. 555. Habermas bedenkt die Ästhetisierung der Religion mit skeptischer Ironie: „Wenn sich der Posthumanismus in der Rückkehr zu den archaischen Anfängen vor Christus und vor Sokrates erfüllen soll, schlägt die Stunde des religiösen Kitsches. Dann öffnen die Warenhäuser der Kunst ihre Pforten für die Altäre aus aller Welt, für die aus aller Welt eingeflogenen Priester und Schamanen“, Glauben, a. a. O., S. 52. 26

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Einleitung

Allerdings ist nicht jede Religion hilfreich und den existenziellen Fragen angemessen. Daher wage ich immer auch einmal eine theologische Religionskritik. Sie ist nötig angesichts der Inhalte und der Formen der ästhetischen Religionen, die Wagner und Strauss aus der Kritik an der traditionellen Religion ihrer Gesellschaft entfalten und propagieren. Bei dem einen führt sie in solche theologischen Unklarheiten, dass allein die Musik überzeugen kann. Bei dem anderen führt das Hervortreten der neuen Gottheit in solche eisige, rauschhafte Individualität, dass von einer Religion als Sozialform, wie es der historische Dionysoskult ja gewesen ist, nicht mehr die Rede sein kann – auch hier bleibt die Musik das entscheidende Vergemeinschaftungselement zwischen Komponist, den Darstellern und den Zuschauern. Es gibt keinen allgemein anerkannten Religionsbegriff. Die gängigen Defi nitionen von Religion übertragen allesamt europäische Vorstellungen und Begriffe auf fremde Selbstverständnisse und Praktiken. Das ist besonders für die Religionssoziologie ein Problem. Sie muss sich ja einen Begriff von dem Phänomen machen, das sie erforschen will. So bildet sie verschiedene Theorien wie zum Beispiel die Integrations-, die Kompensations- oder eben auch die Säkularisierungsthese unter der Voraussetzung eines Religionsbegriffs. Es geht nicht anders, aber es ist schwierig, weil das Phänomen so unüberschaubar vielfältig ist. Dabei ist deutlich, dass es nicht statthaft ist, die Religion des 19. Jahrhunderts, aber auch unserer Gegenwart nur unter dem Begriff der Säkularisierung zu betrachten. 27 Religion in der Moderne, aber auch generell, ist funktional und substantiell mehr als diese eine Perspektive. Insofern ist auch die Reichweite meiner Arbeit begrenzt. Dennoch hoffe ich, dass sie etwas an der Entwicklung der Religion erhellen kann. Sie will und kann die Angst vor Säkularisierung und vor dem Religion-Sein des Christentums nehmen. Eines ist aber unstrittig: Religion gibt es nur in den Religionen. Nicht alle Religion ist dabei institutionalisiert, es gibt die veränderte Sozialform der „unsichtbaren Religion“ 28, eines Produktes der Selbstmodernisierung als Privatisierung und Individualisierung des Glaubens. Die Tendenz dazu lässt sich an den Opern des 19. Jahrhunderts ablesen. Sie deutet sich bei Beethovens „Fidelio“ nur an, wird in Wagners Parsifalreligion explizit und verstärkt sich in Salomes Dionysosoffenbarung. Auch die Bezeichnungen das Christentum, der Buddhismus etc. sind nur Hilfsbestimmungen, weil es das Christentum etc. nicht gibt. Religion bezeichnet stets ein Pluraletantum und die einzelne Religion meint ebenfalls stets eine Vielheit. Manche Religionswissenschaft, mehr noch manche Theologie, nimmt angesichts dieses Befundes bisweilen die Zuflucht zu den Bildern des einen Berges, zu dessen Spitze alle Religionen unterwegs sind, um zu behaupten, alle Religionen hätten das gleiche

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Vgl. Benjamin Ziemann, a. a. O., S. 160. Mit Bezug auf Thomas Luckmanns Veröffentlichung von 1963 Benjamin Ziemann, a. a. O., S. 161. 28

Einleitung

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Ziel: Sie führten alle zu Gott. Diesen Behauptungen folge ich nicht. Die sogenannte pluralistische Religionstheorie ist nicht pluralistisch, weil sie meint, die Kerne aller Religionen seien nicht plural, sondern gleich. Die Religionen, auch die großen, sind in ihrem jeweiligen Kern, ihrer Gottheit oder ihrem Heilsweg unanalogisierbar verschieden. Es gibt auch kein religiöses „Weltethos“. Der amerikanische Religionswissenschaftler Stephen Prothero hat das aus der Perspektive der Religionswissenschaft zusammengefasst: „Die Religionen der Welt haben nicht ein gemeinsames Ziel, sondern vielmehr einen gemeinsamen Ausgangspunkt. Sie beginnen mit einer einfachen Beobachtung: Etwas ist nicht richtig in der Welt. In der Sprache der Hopi-Indianer meint das Wort Koyaanisqatsi, dass das Leben aus dem Gleichgewicht geraten ist. Shakespears Hamlet erzählt uns, dass nicht nur im Staate Dänemark etwas faul ist, sondern auch mit der menschlichen Existenz. Folgt man der hinduistischen Kosmologie, leben wir im KaliYuga, im Zeitalter des Verderbens. Die Buddhisten sind der Meinung, dass die menschliche Existenz mit Leid wie von Pockennarben überzogen ist. Aus jüdischen, christlichen und islamischen Geschichten wissen wir, dass dieses Leben jenseits von Eden stattfi ndet. Zion, der Himmel und das Paradies liegen noch weit vor uns. Die religiösen Menschen auf der ganzen Welt stimmen überein, dass etwas schiefgegangen ist. In der Frage jedoch, was genau falsch gelaufen ist, gehen die Meinungen auseinander. Und wenn sie von der Diagnose des menschlichen Problems zur Verschreibung einer Lösung übergehen, gehen sie ihre jeweils eigenen Wege.“29 Ich spreche also dann von Religion, wenn in den theoretischen Texten oder in den Kunstwerken die Theorie oder die Erfahrung davon zum Ausdruck kommt, dass etwas ganz grundsätzlich nicht richtig in der Welt ist und etwas grundsätzlich schief gelaufen ist. Das Wort grundsätzlich hat eine metaphysische Dimension. Das zweite: Religion liegt dann vor, wenn Menschen in ihrer Todverfallenheit sich über ihren zerrissenen, zwiespältigen Zustand klar werden und aus der Situation, dass etwas grundsätzlich nicht richtig ist in der Welt, aus eigener Kraft nicht herausfi nden. Wenn dann eine Gottheit oder eine Heilspotenz (eine heilige Lehre) sie nicht in dieser verzweifelten Lage belässt, sondern ihnen helfend zur Seite tritt, werden Menschen über ihre Todesgrenzen hinaus verwandelt. Solchen Verwandlungsprozess des Menschen, seine Transzendierung auf Leben hin, nenne ich Religion: „Religion in allen Religionen wäre also der Vorgang, in dem Menschen die Todesgrenzen ihres Menschseins überschreiten oder transzendieren. Der Grund der Möglichkeit für diese Transzendierung ruht in der Manifestation oder der Inspiration. Es gibt keine Lebensbewegung, die wir in einer Kultur als Religion beobachten, die nicht diese Transzendierung des ,allzu Menschlichen‘ ermöglichte oder zum Inhalt hätte. Mit seinen Religionen und in ihnen macht sich der Mensch auf, sein verfallenes Dasein zu überschreiten. In allen Religio-

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Die neun Weltreligionen. Was sie eint, was sie trennt. Aus dem Amerikanischen von Stefan Matzig, München 2011, S. 23.

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nen ist das Heil, das diese Transzendierung zielhaft leitet, mit Leben und Lebensmöglichkeit verbunden. Es geht in den Religionen um Leben.“30 Nun gibt es ein Problem, das ich offen legen muss, um die begrenzte Reichweite meiner Versuche, diese Opern zu interpretieren, nicht zu verschweigen. Ich bin kein Musiker. Zwar bin ich auch kein Soziologe, kein Literaturwissenschaftler – aber das ist etwas anderes. Diese beiden Wissenschaften legen ihre Ideen, Techniken und Ergebnisse in Theorien und empirischen Befunden vor. Ich bin Theologe und geschult im Umgang mit Texten. Hier ist mein Dilettantismus nicht so schmerzlich. Die Musik legt ihre Ideen in der Komposition und im Klang vor. Sie ist ein intellektueller und ein sinnlicher Vorgang, beides gehört zusammen und zum wirklichen Verstehen ist beides erforderlich, verbunden mit dem subjektiven Faktor des Interpreten. Ich bin bei den musikalischen Kunstwerken stets auf Andere angewiesen, um mich mit ihrer Hilfe soweit wie möglich verstehend einzufühlen. Darum ist mein Dilettantismus besonders schmerzlich. Aber Gottfried von Straßburg hat seinem Parsifal mitgegeben, dass derjenige, der die Schmerzen der Liebe nicht erfahren hat, auch niemals wirklich geliebt hat. Ich liebe Musik. Jedenfalls habe ich versucht, eine Bemerkung Adornos zum Verhältnis von Gesellschaft und Musik im Werk Beethovens für alles, was ich geschrieben habe, ernst zu nehmen. Adorno meint, Beethovens autonome Musik sprenge „das Schema willfähriger Adäquanz von Musik und Gesellschaft … Gesellschaft wird von Beethoven begriffslos erkannt, nicht abgepinselt.“31 Ich hoffe, dass ich nicht abgepinselt habe. Gewidmet ist das Buch unserer Tochter Sonja, die Wagner besonders liebt, obwohl sie als Kind seinetwegen oft nicht einschlafen konnte. Gedankt sei Benjamin Landgrebe für sein verständnisvolles und kritisches Lektorat.

30 Carl Heinz Ratschow, Das Verständnis des Menschen in den Religionen und im Christentum, in: Von der Gestaltwerdung des Menschen. Beiträge zur Anthropologie und Ethik, hg. von Christel Keller-Wentorf und Martin Repp, Berlin / New York, 1987, S. 148. 31 Theoder W. Adorno, Beethoven. Philosophie der Musik. Fragmente und Texte, hg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt a. M. 2004, S. 73.

Kapitel 1

Der Augenblick des Wunders und der Tigersinn des Bösen. Religion in Beethovens "Fidelio“ Kapitel Religion in Beethovens Fidelio1

Beethoven ist Autor eines neuen Typs von Musik. Er will mit seiner Musik nicht mehr nur unterhalten, positive oder negative Stimmungen erzeugen, Freude, Sorgen, Kummer oder Trost auslösen oder spenden, als Funktion von Religion oder gesellschaftlicher Ordnung verstehen. Er will auch philosophisch bestimmte Inhalte vermitteln. Er ist „Ideenkomponist“, „Musikdenker aus Leidenschaft“, „der erste Komponist, der ,Musik‘ mit solcher Bewusstheit als eigengesetzlichen Ausdruck des Geistigen schlechthin aufgefasst hat.“32 In Bonn geboren, wegen seiner großen Begabung nach Wien gerufen, hat er mit seiner Musik und seinen kompositorischen Entwicklungen alle nachfolgenden Generationen, besonders natürlich auch Wagner und Strauss, deren Schöpfungen auch besprochen werden sollen, geprägt und neue Horizonte eröffnet. Beethoven hatte philosophisches Interesse. Die Gedanken der Aufklärung, ihre Humanität und Freiheitssehnsucht, die Ideale, nicht den Blutrausch der Französischen Revolution, teilte er mit großer Leidenschaft. Er war religiös, sicher nicht im strengen Sinn einer bestimmten Konfession, was man nicht nur dem Heiligenstädter Testament entnehmen kann. Warum, und wenn ja, was fasziniert an Beethovens „Fidelio“ noch heute, ca. 200 Jahre nach seiner Uraufführung? Gibt es Spuren des Religiösen? Formal ist das Stück ein Verbund von Singspiel und Schreckensoper, sie fasziniert und erschreckt und das allein spricht schon dafür, weil das Religiöse nach der großartigen religionspsychologischen Beschreibung von Rudolf Otto immer mit dem Faszinosum und dem Tremendum, also mit dem, was uns fasziniert und zugleich erschreckt, zu tun hat. 33 Jedoch ist die Antwort auf diese Frage nicht ganz leicht und man braucht ein paar Umwege. Schon der Anfang des Werkes stand unter keinem guten Stern. Die Kritik der beiden Aufführungen von 1805 und 1806 – noch unter dem Titel „Leonore“ – war vernichtend und hat Beethoven sehr gekränkt. Vor allem die zweite Fassung, die erst vor wenigen Jahren von Helga Lühning entdeckt und ediert worden ist, atmet noch ganz den Geist der französischen Revolution. Es gibt darin den Sturm des Volkes auf das Staatsgefäng32

Martin Geck, Von Beethoven bis Mahler. Leben und Werk der großen Komponisten des 19. Jahrhunderts, Reinbek 2000, S. 2. 33 Vgl. Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen (1917), 17.–22. Aufl., Gotha 1929.

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nis und der Schlusschor hat viel weniger moralisches und frommes Pathos und Gewicht. 34 Die dritte Fassung brachte Beethoven nach dem Ende der französischen Besatzung und der gründlichen Entzauberung des zum autoritären und schließlich untergegangenen Kaiser mutierten Freiheitshelden Bonaparte dann endlich einen triumphalen Erfolg ein. Mit der Premiere am 23. März 1814 begann der Siegeszug dieser Oper auf allen Bühnen der Welt. Bis heute hält er an. Gleichwohl hat Beethoven gemeinsam mit seinem zweiten Librettisten, Treitschke, auch nach der Premiere immer noch einmal Änderungen vorgenommen. Die Partitur hat er nie drucken lassen, sondern immer – sicher auch aus fi nanziellen Gründen – in Abschriften an die Theater verkauft. 35 Gleichwohl bleiben damals wie heute Kontroversen. Selbst ein so glühender BeethovenVerehrer wie Richard Wagner hielt die Leonoren-Ouvertüre Nr. 3 für das Beste am ganzen „Fidelio“. Trotz der „Verherrlichung der weiblichen Treue“, die Beethovens „Humanitätsdogma“ entsprach, „umschloss dieses Opernsujet so vieles der Musik Fremde, ihr Unassimilierbare, dass eigentlich nur die große Ouvertüre zu ,Leonore‘ uns wirklich deutlich macht, wie Beethoven das Drama verstanden haben wollte“36. Vielleicht ist neben dem Formalen auch die Zeit der französischen Besatzung mit Schuld daran, dass die Oper durchfiel. Natürlich ist der formale Bruch zwischen den Akten stets Gegenstand der Kritik. Das ursprüngliche Libretto von Jean Niclas Bouilly, schon einmal zu einer Oper vertont, hatte Ferdinand von Sonnleitner mit einigen Änderungen in eine deutsche Fassung gebracht, die Beethoven wegen seiner humanistischen Gefühls- und Ideenwelt begeisterte, aber auch hier war schon das formale Problem ungelöst. So blieb es Beethoven überlassen, „die Quadratur des Zirkels zu versuchen und das biedermeierliche Singspiel und die von Haus aus fragwürdige Gattung der französischen Schreckensund Rettungsoper durch das edle Pathos seines symphonisch-dramatischen Stils zu verquicken zum Sonderfall einer symphonischen Oper, zum Weihespiel edler menschlicher Empfi ndungen“37. Jedoch auch die dritte Fassung löst es nicht. 34

Vgl. Manfred Osten, Eine Kanone namens Beethoven. Der Komponist und sein Verhältnis zu den Franzosen, in: Die Wirklichkeit erfi nden ist besser. Opern des 19. Jahrhunderts von Beethoven bis Verdi, hg. v. Hanspeter Krellmann und Jürgen Schläder, Stuttgart / Weimar 2002, S. 2. 35 So im Anschluss an Helga Lühning, Hans-Joseph Irmen, Beethoven in seiner Zeit, Zülpich 1996, S. 386. Zur Entstehungsgeschichte vgl. Harry Goldschmidt, Die Ur-Leonore, in: Ludwig van Beethoven, Fidelio. Texte, Materialien, Kommentare. Mit einem Essay von Dietmar Holland, hg. v. Attila Csampai / Dietmar Holland, Reinbek 1981, S. 101–126; Willy Hess, Das Fidelio-Buch, Winterthur 1986, S. 13 –109; Klaus Kropfi nger, Beethoven. Kassel, Stuttgart u. a., 2001, S. 160 –162. Zur Aufführungsgeschichte vgl. Jochem Wolff, Annäherungen an „Fidelio“. Zur Geschichte von Beethovens Oper auf der Bühne, in: Ludwig van Beethoven, Fidelio, hg. v. Attila Csampai / Dietmar Holland, a. a. O., S. 158 –173. 36 Beethoven (1870), Gesammelte Schriften, hg. v. Julius Kapp (im Folgenden GS), Bd. 8, Leipzig o. J., S. 188. Wagners Urteil über das Libretto ist vernichtend. 37 Vgl. Osten, a. a. O., S. 3. Er verweist auf die Probleme der verschiedenen Lösungsversuche. Fidelio blieb in Frankreich auch in der dritten Fassung das ganze Jahrhundert hindurch kein Erfolg.

Kleine Meditation über Zeiterfahrung und der Kanon „Mir wird so wunderbar“

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Noch einmal: Was fasziniert bis heute an diesem Lobpreis der ehelichen Lebenstreue, am Triumph des Freiheitskampfes über die Tyrannei einer bloß verwalteten, despotischen Welt, deren Machtstrukturen tief in Leib und Seele schneiden? Was fasziniert am zumindest ästhetisch vermittelten Sieg der humanen Gerechtigkeit und dem Jubel immerhin auch über Gottes Gerechtigkeit, der Gattentreue und dem Lobpreis der Pfl icht? Meine These ist: Gerade weil „Fidelio“ die Welt so beschreibt, wie sie ist, also ihre Gegensätze nicht entspannt und weil – anders als in unseren Träumen – unsere Utopien von richtigen Leben, vom humanen Einklang von Gott, Mensch und Welt immer wieder zerschellen, gerade deshalb brauchen wir solche Kunst wie den „Fidelio“, damit wir uns nichts vormachen und dennoch immer wieder aufrichten können und Hoffnung nicht sterben muss. Beethoven überspringt im „Fidelio“ die Widrigkeiten des Weltgeschehens nicht einfach „positiv“ und er landet nicht im kantablen Kitsch. Sensibel nimmt er die Veränderungen auf dem religiösen Sektor seiner Gesellschaft wahr und sieht die Kraft religiöser, das heißt christlicher Überzeugungen zur Bewältigung der Kontingenzen des Lebens schwinden. Beethoven ist alles andere als naiv, jedem Geplänkel abhold. Er hat auch nicht Mozarts erdenschwere Leichtigkeit. Er zeigt die polaren Spannungen im Weltganzen und im Inneren der handelnden Subjekte, ohne das Grauen, das es auch gibt, zu beschönigen. 38 Gleichwohl zeigt er, dass auch diese schwierige Welt verhüllt den Augenblick der Rettung in und bei sich trägt, und überall dort, wo so etwas wie die Errettung Florestans geschieht, der „Vor-Schein“ eines Gelungenen aufglüht. Denn die Musik Beethovens, ja Musik überhaupt ist „jene Kunst des Vor-Scheins …, die sich am intensivsten auf den quellenden Existenzkern (Augenblick) des Seienden bezieht und am extensivsten auf dessen Horizont.“39 Zugleich zeigt seine Musik wie der Text des „Fidelio“, dass die gleiche Welt den „Augenblick“ der Rache und der Katastrophe ebenfalls in sich hat. Beethoven lässt den Stern der Hoffnung aufgehen über allem, was immer wieder auch dunkel misslingt und was dann, wenn es gelingt, umso heller strahlt. Genau dieses macht die Faszination des „Fidelio“ bis heute aus.

Kleine Meditation über Zeiterfahrung und der Kanon „Mir wird so wunderbar“ Kleine Meditation über Zeiterfahrung und der Kanon „Mir wird so wunderbar“

Weil Musik auch ein besonderer Umgang mit der Zeit ist, wähle ich mir zum Einstieg in das Werk eine kleine Reflexion über die Zeit. Mit unserer Sterblichkeit hängt zusammen, dass die Menschen seit der Entwicklung des Bewusstseins, also seit sie sich selber reflektierend gegenübertreten können, über die Zeit nachgedacht haben. Offenbar kann der Mensch sein Dasein, seine Welt, die ihn umgibt, nur dann wirklich erhellen, wenn er 38

Vgl. Ernst Bloch: „Beethoven wagt Heraklits Wunschtraum-Paradox, dass der Weg abwärts und der Weg aufwärts derselbe seien“, Das Prinzip Hoffnung, GA Bd. 5, Frankfurt a. M. 1959, S. 1291. 39 Ernst Bloch, a. a. O., S. 1258.

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sich ein Wissen darüber verschafft, was Zeit ist und was seine zeitliche, und das heißt begrenzte, Existenz bedeutet. Daher konstruieren auch die Religionen mit Hilfe von externen Zeitgebern wie Mond, Sonne oder Sternen oder dem Zug der Büffel etc. seit jeher Zeit als soziale Notwendigkeit, um gemeinsam leben und handeln zu können. In den Festen gliedern sie die Zeit, in den Ursprungsmythen denken sie einen Anfang, in eschatologischen Kategorien ein Ende, oder heilsgeschichtlich bekommt die Zeit einen Sinn eingestiftet. Oft gelten die Gottheiten als Herren der Zeit: „Meine Zeit steht in deinen Händen.“40 Was ist die Zeit, was ist ihr Wesen? Die Schwierigkeit, diese Frage zu beantworten, scheint vor allem darin zu bestehen, dass wir die stets fortschreitende Zeit nicht quasi objektivierend anhalten können. Wir können mit der Zeit nicht so umgehen wie mit anderen Sachverhalten, die wir dadurch zu begreifen versuchen, dass wir sie sozusagen künstlich still stellen, um sie dann mit einem Begriff zu versehen und dann zu wissen, was wir quasi objektiv vor uns haben. Denn die stets fortschreitende Zeit ist ein Prozess, den wir nicht anhalten können, der wir auch selber sind. Sie schreitet immer voran, ganz gleich, was wir über sie denken, ob wir sie messen oder, was auch manchmal geschieht, sie „totschlagen“. Gleichgültig, was wir auch tun und wie wir uns zur Zeit verhalten, die Zeit rinnt immer. Aber: Auch wenn wir die Zeit durch Vergleichsgrößen wie z. B. die Gestirne oder anderes messen, bleibt ihr Wesen seltsam rätselhaft. Darum hat Aristoteles den Rätselcharakter der Zeit mit einem skeptischen Gedankenspiel beschrieben, das beweisen sollte, dass die Zeit gar nicht „ist“. Wir schreiben der Zeit doch bekanntlich drei Seinsweisen zu, nämlich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Aber als Vergangene „ist“ die Zeit doch nicht mehr. Und als zukünftige „ist“ sie noch nicht. Und als gerade gegenwärtige kann ich sie nicht festhalten, obwohl das Jetzt „nicht eine diffuse Gegenwart [bezeichnet, P. St.], sondern präzise den Schnitt, der für einen Moment die Dinge, die im Fluss der Zeit in ständigem Werden und Vergehen begriffen sind, als das, was sie sind, erfahrbar macht“41. Die Zeit befi ndet sich im steten Übergang von Vergangenheit zur Zukunft, aber gerade als solcher Übergang „ist“ sie ja auch nicht. So verstanden kommt der Zeit kein Sein zu. Aristoteles fragt darum, ob die Zeit nicht überhaupt ein bloßer Gedankeninhalt, ein bloß sozusagen „esoterisches“ Instrument in der Hand des Menschen ist, so etwas wie ein bloß gedachtes Konstrukt.42 Sobald man versucht, sich klar zu werden, was „Zeit“ ist, entzieht sie sich.

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Ps 31,16. Hellmut Flashar, Aristoteles. Lehrer des Abendlandes, München 2013, S. 256. 42 Physik IV, 217b 30 f. Aristoteles verwirft dieses Argument als unwissenschaftlich, weil die Zeit gezählt werden kann: „Die Zeit ist die Zahl der Bewegung hinsichtlich des Früheren und des Späteren“, Physik IV, 219b1, und es sie gibt, auch wenn wir sie nicht zählen, vgl. zum Ganzen: Flashar, a. a. O., S. 255 –258; Kurt Flasch, Was ist Zeit? Augustinus von Hippo. Das XI. Buch der Confessiones. Historisch-philosophische Studie. Text-Übersetzung-Kommentar, Frankfurt a. M. 1993, bes. S. 116 ff. 41

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Jedoch sind wir Menschen zweifellos darauf angewiesen, die Zeit und die Zeitlichkeit des Daseins zu bedenken, sonst könnten wir nicht leben und schon gar nicht handeln. Handeln bezieht sich immer auf einen Zusammenhang von Anderem in Raum und Zeit. Als Handelnde fi nden wir uns sozial aufeinander bezogen. In der Sozialität handeln bedeutet, dass man die Zeitlichkeit schlicht voraussetzen und sich in Fragen der Zeit verabreden muss, sonst kann man weder etwas erkennen noch gemeinschaftlich handeln. Das tun wir auch ganz selbstverständlich. Gleichwohl bleibt schwierig und rätselhaft, was Zeit wirklich ist. Augustin hat in seinen Confessiones klassisch formuliert: „Was also ist die Zeit? Wenn niemand mich danach fragt, so weiß ich es; wenn ich es jemandem auf seine Frage hin erklären will, weiß ich es nicht.“43 So wie wir bis heute nicht genau wissen, was Leben ist, so bleibt auch die Zeit zwar die transzendentale Voraussetzung unseres Lebens, Denkens und Handelns, und doch ist sie zugleich immer verbunden mit der dunklen, geheimnisvollen Aura eines Rätsels. Freilich, auch wenn die Zeit und ihr Wesen rätselhaft bleiben mögen, können wir mindestens zwei verschiedene Ebenen unserer Zeiterfahrung voneinander unterscheiden. In der ersten Zeiterfahrung geben wir der Zeit einen quasi objektiven Charakter. Wir tun das, indem wir die Zeit in Verbindung mit Zahlen bringen und behandeln sie dann in Analogie zu einem Zahlenstrahl, geben ihr damit die Gestalt eines Zeitstrahls. So versuchen wir, die rätselhaft unendlich fl ießende Zeit in eine Entsprechung mit einer ins Unendliche fortschreitenden natürlichen Zahlenreihe zu bringen, um zu wissen, was wir messen und erfahren. Und dann machen wir etwas nahezu Geniales: Wir nehmen einen Abschnitt aus diesem Zeitstrahl und dieser Zahlenreihe – die Zahlen 1 bis 24 – und bringen diesen Abschnitt der Zahlenreihe sozusagen künstlich dazu, sich wiederholen zu können, indem wir diesen abgemessenen Zeitstrahl zu einem Kreis formen. Wir tun so, als ob die nie wiederkehrende Zeit sich wiederholen würde, obwohl wir genau wissen, dass heute Abend 19:00 Uhr nicht das Gleiche ist wie gestern Abend 19:00 Uhr oder wie morgen Abend 19:00 Uhr. Neben dem linearen Bild der Zeit formen wir also die Zeit in unserem Denken in eine Struktur der Wiederkehr des Gleichen um und objektivieren sie scheinbar so, dass so etwas wie Verlässlichkeit als Basis von Erkennen und Handeln gedacht werden kann, obwohl wir natürlich wissen, wie Heraklit schon sagte, dass niemand zweimal in den gleichen Fluss steigt.44 Jeder Mensch ist in der Wirklichkeit der Welt eingebunden in Gemeinschaft, und jeder ist zugleich etwas für sich. Im Nachdenken über die Zeit wird jedem Menschen irgendwann klar, dass in der objektiv und subjektiv vergehenden Zeit unaufhaltsam im Werden 43

Conf XI, 14. Fragment 49a: „In dieselben Flüsse steigen wir und steigen wir nicht, wir sind und wir sind nicht“, Fragment 91: „Man kann nicht zweimal in denselben Fluss steigen“, Hermann Diels, Fragmente der Vorsokratiker, Hamburg, 2. Aufl. 1963, S. 21 ff. 44

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und Vergehen der Tod schreitet. Die Zeit der Welt und die Zeit des je eigenen Lebens zerrinnt in einem unaufhaltbaren Strom. Darum suchen die Menschen Ruhepunkte in dem Verschwimmen der Zeit, Orte, an die man sich halten kann. Sie suchen nach Inseln der Dauer, des Verlässlichen, auf denen man stehen kann. In den Religionen sind es die Feste, die gegen die zerrinnende Zeit gefeiert werden und als solche gegen den Tod gefeiert werden.45 Solche Inseln der Dauer und der Ruhe sind die Themen von Beethovens „Fidelio“: Die Liebe und Treue, die Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, Wahrheit und die Pfl icht und endlich Hoffnung und Mut. Sie sind zugleich die Schiffe, die uns zu diesen Inseln bringen. Auffällig ist nun, dass Beethoven den eigentlichen Spannungsbogen der Handlung der Oper „Fidelio“ dadurch eröffnet, dass er diese doppelte Zeiterfahrung des Menschen im Quartett des ersten Aktes im musikalischen Material des Kanons gestaltet. Der Kanon ist das musikalische Bild für die Zeitstruktur der Wiederkehr des Gleichen, also genau das, was in den Religionen die Feste bewirken: Alle singen die gleiche Melodie, lediglich zeitversetzt. Freilich hat schon die Ouvertüre anklingen lassen, dass es sich im Folgenden keinesfalls um die Wiederkehr der gleichen Ereignisse im normalen kleinbürgerlichen Leben allein handeln kann, sondern um den tödlichen Konfl ikt zwischen Macht als Tyrannei und Macht als freiheitssehnende Liebe und Treue. Die Anfangständelei zwischen Jaquino und Marzelline ist immerhin noch nichts ganz Ungewöhnliches.46 Eine verliebte junge Frau wittert einen besseren Bräutigam als den, der bisher für sie ausersehen war, und gibt dem vermeintlich schlechteren den Laufpass: „Ich weiß, dass der Arme sich quälet, es tut mir so leid auch um ihn! Fidelio hab’ ich gewählet, ihn lieben ist süßer Gewinn“, singt das junge Fräulein, das Rocco-Töchterchen, das genau weiß, was es will, nämlich glücklich werden. Das kennt man. Es ist das ewig gleiche, manchmal auch notwendige Spiel, so wie Rocco auch weiß, dass ein weltliches Amt nach wie vor auf Befehl und Gehorsam ruht und dass man von Liebe allein nicht leben kann, sondern zum Leben auch Geld braucht. Beethoven ist weit davon entfernt, das Leben, das auch von der Wiederkehr des Gleichen lebt, zu denunzieren. Denn die Ordnung des Laufs der Welt braucht diese kulturelle Dimension der Zeit.

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Vgl. Carl Heinz Ratschow, Die Feste. Inbegriff sittlicher Gestalt, in: Das Fest und das Heilige, hg. v. Jan Assmann, Gütersloh 1991, S. 239: „Die Zeit der Welt und des Lebens zerrinnt in einem unhaltbaren Strom. In ihrem pausenlosen Strömen und Vergehen schreitet der Tod – das Schicksal dieser Welt … Die Gestalt des Festes bildet den Ruhepunkt in dem Verschwimmen der Zeit. Das Fest eröffnet die Grenzen der Zeit, die sich rhythmisch in der Wiederkehr der Feste gliedert und darin dem Verfallensein an das Schicksal entsteigt. Das Fest gestaltet Dauer.“ 46 Beethoven spielt mit diesem Pärchen auf Mozarts Papagena / Papageno an, vgl. Michael C. Tusa, Music as Drama: Structure, Style and Process in „Fidelio“, in: Ludwig van Beethoven „Fidelio“, hg. v. Paul Robinson, Cambridge University Press, 1996, S. 108.

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Aber der Kanon des Quartetts klingt nun so, als bliebe die Zeit wunderbar stehen.47 Beethoven verstärkt diese Wirkung noch dadurch, dass er dem Kanon eine pastorale Klangfarbe mitgibt. So wie in der Natur Werden und Vergehen, Tag und Nacht, Frost und Hitze abwechselnd wiederkehren, so ist es auch im überschaubaren familiären Leben des alten Gefängniswärters. Und doch gibt es besondere unvergleichliche Augenblicke. So singen alle ohne jede Durchführung – das wäre ja das musikalische Signum von Veränderung – die gleiche Melodie, jedoch singt jede und jeder einen anderen individuellen Text. Stillstand, Ruhe, Gleichheit liegen in der Musik, dagegen Veränderung, Bewegung, Ungleichheit (Individualität) im Text und beides ereignet sich gleichzeitig. Marzelline träumt vom wunderbaren Glück mit Fidelio. Rocco freut sich, Schwiegervater zu werden, und das Stakkato des Fagotts und die Bässe der Streicher bei seinem Einsatz unterstreichen seinen väterlichen Stolz: „Ein gutes junges Paar“. Jaquino kommt als letzter, widerstrebend und natürlich gekränkt über seine Zurücksetzung. Er befi ndet sich in einer für ihn absolut unerfreulichen und nicht zum Glück hin auflösbaren Situation. Er wird ausgegrenzt, und daher fällt ihm kein Mittel ein, seine Lage zu ändern. Nun aber Leonore. Sie hat den zweiten Einsatz nach Marzelline, und mit ihr wird die Sache spannend. Weil sie sich der von Marzelline vorgegebenen Melodie fügen muss, demonstriert sie, dass sie keine andere Wahl hat. Sie muss vortäuschen, Marzellines Pläne zu teilen und deren Verliebtheit erwidern. Die gleiche Melodie zwingt sie dazu, gleiche Freude im Gesang zu heucheln, das heißt, in ihren Worten für sich das genaue Gegenteil zur gleichen Melodie wie Marzelline zu denken. Und genau dies ist der Einbruch des Bösen ins Idyll.48 Mit diesem kleinen Meisterstück ist Beethoven eine in der Geschichte der Oper zuvor unbekannte Innenschau gelungen. Der simple Melodieablauf mit dem zweimaligen Terzfall von der Tonika, dem ein weiterer Terzfall mit folgendem Wiederaufstieg in die Tonika folgt, setzt für die vier Sänger so etwas wie einen offenen Phantasieraum frei: Alle singen die gleiche Melodie, denken aber jeder etwas für sich, und zwar ganz Konträres. Der Phantasieraum wird durch Sprache gefüllt. Sie – nicht die Musik – sprengt die Gleichheit quasi wie eine verschlossene Tür auf. Das musikalisch Gleiche entpuppt sich in einer „traumartigen Stille“49 als das Transportmittel für gänzlich unterschiedliche Gedanken, die sich jedoch nur in den Worten äußern. In ihnen spiegelt sich reifende gesellschaftliche Entwicklung der Entfaltung des bürgerlichen Individuums aus der

47 Zur Analyse vgl. Ulrich Schreiber, Die Kunst der Oper, Geschichte des Musiktheaters, Bd. II, Das 19. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1991, S. 52 f. und Michael C. Tusa, a. a. O., S. 108 ff. 48 Das hat Ernst Bloch sehr genau erfasst. Dieses Quartett ist das „Andante sostenuto eines Gesangs, der überhaupt nichts als sein Wunderbar aussingt, auf lauter Dunkelheit aufgetragen“, Das Prinzip Hoffnung, a. a. O., S. 1295. 49 Schreiber, a. a. O., S. 53.

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Ständegesellschaft zu seiner subjektiven Freiheit auf der Basis der für alle geltenden sozialen Gleichheit, die keine Untertanen und Sklaven mehr kennt. Zugleich aber bereitet Beethoven durch diese geöffnete Tür in der Wiederkehr des Gleichen – und das halte ich für fast noch wichtiger – den Einfall des Bösen in Roccos Welt und den beginnenden Kampf Leonores gegen dieses Böse vor. An Leonores Part in diesem Kanon zeigt er, wie die statische Wiederkehr des Gleichen sich dadurch, dass sich äußerlich eben nichts verändert, sich auch für das Böse öffnet, das eben auch in der Welt ist, und jedes Idyll mit seinem Widersinn quasi unterspülen kann. Unter der Oberfläche des idyllischen Gleichklangs ist die Pizarro-Welt plötzlich und noch musikalisch unhörbar präsent. Ihr hypokritisches Gift erfasst ausgerechnet die Person, deren Mut der Liebe und Treue, deren brennende Hoffnung, die Freiheit möge die Tyrannei besiegen, so anrührend ist. Es erfasst Leonore. Auf sie fällt ein Schatten des Bösen, nämlich der Täuschung, des Verrats, beides Feinde der Humanität. Ihre edle Absicht und ihre unbeirrbare, keine Gefahr achtende Hoffnung und Treue nehmen gezwungenermaßen aber gleichwohl mimetisch bewusst die Züge Pizarros an. Weil die Liebe des nichts ahnenden Mädchens Marzelline ihr in die Quere kommt, verstellt sie sich nicht nur als Mann – so ist sie ja schon gekommen – sondern sie verstellt sich auch als möglicher Ehemann und Schwiegersohn, obwohl sie beides ja auf gar keinen Fall werden will. Eine solche Täuschung an ihrer Wurzel verträgt die Liebe nicht, auch wenn sie, wie wir alle wissen, ein bunter Vogel ist. Leonore ehrt, dass sie dabei nur Leid und keine Freude empfi ndet. Klar sieht sie die Gefahr, die sich durch die geheuchelte Liebe verdoppelt. Von jetzt an liegt eine Spannung in der Luft. Das Singspiel, wenn es jemals naiv gewesen wäre, ist endgültig vorbei.

Kleine Phänomenologie des Bösen: „Ha, welch ein Augenblick“ Kleine Phänomenologie des Bösen: „Ha, welch ein Augenblick“

Mit dem Kanon ist das Böse in der Welt, Roccos und auch Leonores Bosheit offengelegt und sie entfaltet sich sogar. Leonore reicht, selber unglücklich, der verliebten und vom Glück träumenden Marzelline „die Hand zum süßen Band“, verspricht ihr also etwas, was sie weder halten kann noch will. Der hohe Zweck, die Befreiung des Gatten, scheint jedes Mittel zu rechtfertigen, das Böse klebt und färbt ab. Leonore sieht sich gezwungen, gerade jenes Gefühl zu verwirren, das bei ihr der Impetus sämtlicher Aktivitäten ist, nämlich die Liebe. 50 Aus Liebe wird sie zur Verräterin der Liebe. Das Böse der Pizarro-Welt rückt näher. Der biedere Rocco ahnt, dass er in etwas hineingerät, dem er nicht gewachsen sein wird. Im Terzett mit Marzelline und Leonore nennt er, unmittelbar nachdem die drei ihre jeweils unterschiedliche Glückssehnsucht besungen haben, den Namen des Gouverneurs Pizarro. Genau hier notiert Beethoven eine Fermate, ein 50

Vgl. Carl Dahlhaus, Fidelio, in: Ludwig van Beethoven und seine Zeit, 4. Aufl., Laaber, 2002, S. 226.

Kleine Phänomenologie des Bösen: „Ha, welch ein Augenblick“

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Haltezeichen, zu dem Adorno meinte: „Wenn im Fidelio die Worte ,der Gouverneur‘ zum ersten Mal auf der Fermate, suspendierend, erklingen, so ist es, wie wenn in die dumpfe Wohnung des Kerkermeisters ein schräger Sonnenstrahl fiele, in dem sie sich als Teil der Welt wieder erkennt.“51 Diese Anspielung auf das pädagogische Märchen aus alter Zeit, bei dem der Sonnenstrahl in die Speisekammer fällt, und dem naschen wollenden Kind die Stimme des Gewissens weckt, dient hier zur Erhellung der gefahrvollen, trugvollen Situation. Die Fermate lenkt den Blick auf die böse Tat. Sie ist eine „dramatische Vormotivation“52 , ein noch unbewusstes Erschrecken vor der gedehnten Zeit des Bösen. Der auf das Terzett folgende Marsch verbreitet Unruhe, hat etwas Gehetztes, höchste Gefahr ist im Anmarsch. Die Wachen werden verteilt, niemand soll Zeuge des schändlichen Mordes sein, den Pizarro vorhat. Und so beginnt der – nicht mehr wie noch im Kanon des Quartetts verhüllte – offene Auftritt des Bösen: „Ha, welch ein Augenblick!“53 Verminderte Quarten, Quinten und Septimen rasen modulierend von d-Moll nach Dur und in zwölf Tuttischlägen auf dem verminderten Septimakkord auf den dreifachen Schrei Pizarros zu: „Triumph, Triumph, Triumph! Der Sieg ist mein! Die Rache werd‘ ich kühlen!“54 Wieder gibt eine Zeitkategorie Aufschluss über das, was hier passiert. Im Libretto Sonnleithners und Treitschkes spielt der „Augenblick“ eine besondere Rolle. An der allgemeinen Zeiterfahrung fällt ja auf, was vor Aristoteles schon Platon bewegt hat, nämlich dass es etwas an der Zeit geben muss, das offensichtlich nicht zu ihr gehört. 55 Darin gründet ihr Rätselcharakter und die metaphysische Bedeutsamkeit des Augenblicks. Es muss etwas geben, das zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft liegt, ein Übergang, ein Zwischen. Als metaphysische Frage geht es darum, zu klären, wie es von dem einen ungeteilten Ewigen zu dem vielen Zeitlichen kommt, wo es doch nicht möglich ist, vom Ewigen eine Veränderung auszusagen und – vice versa – Bewegung als Ruhe zu verstehen. Wie kommt es von der Ruhe zur Bewegung und von der Bewegung wieder zur Ruhe? Dieses, was zwischen dem Vorgang des Seins und des Nichtseins liegt, zwischen Ruhe und Bewegung, das ist der „Augenblick“. Er ist das

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Beethoven, Philosophie der Musik. Fragmente und Texte, hg. v. Rolf Tiedemann, nachgelassene Schriften Bd. 1, Frankfurt a. M. (1993) 2004, S. 237. 52 Vgl. Ulrich Schreiber, a. a. O., S. 53. 53 Musikalisch bleibt Beethoven in dieser Arie ganz konventionell. Der Aufbau ist sogar „oldfashioned by Beethoven’s time“. Damit identifi ziert Beethoven Pizarro als Vertreter des „ancien régime“, vgl. Michael C. Tusa, a. a. O., S. 114. Beethoven hat an dieser Arie besonders intensiv verbessernd gearbeitet, vgl. Willy Hess, a. a. O., S. 138 –141. 54 Vgl. Ulrich Schreiber, a. a. O., S. 54. 55 „Dieses unfassbare Wesen, der Augenblick, liegt zwischen der Bewegung und der Ruhe als in keiner Zeit seiend, und in ihn hinein und aus ihm hervor geht das Bewegte über zur Ruhe und das Ruhende zur Bewegung“, Parm. 156d–e, Übersetzung Friedrich Schleiermacher.

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Zwischen, das weder Ruhe noch Bewegung allein ist. In ihm bewegt sich das Eine, das Ganze, nicht, ruht aber auch nicht. So ist der „Augenblick“ ein wunderliches, rätselhaft leeres und zugleich wesensvolles Zwischen-Etwas an der Zeit, was nicht zu ihr gehört, ohne das die Zeit und damit die Welt aber nicht gedacht werden kann. Platon nennt den Augenblick „das Wunderliche“ (atopon), dasjenige, welches selbst keinen Ort und keine Zeit hat, gleichwohl aber immer mitgedacht werden muss, um das Eine und die bewegte Wirklichkeit voneinander zu unterscheiden, aber auch aufeinander zu beziehen und damit auch die unaufhaltsam verrinnende, unwiederholbare Zeit angemessen zu charakterisieren. 56 Dieses „Zwischen“ haben später die Mystiker aufgenommen und in ihrem Sinn interpretiert als Beschreibung von Gottes Schöpfungshandeln, bzw. als denjenigen Zusammenfall von Ewigkeit und Jetzt 57 beschrieben, der sich als „Geschenk“ demjenigen Menschen öffnet, der sich methodisch auf die „via purgativa“ und die „via illuminativa“ begeben hat. 58 Könnte es sein, dass in diesem „Augenblick“ das verborgene Wesen des Ganzen jetzt unerkannt, verschlossen „da ist“, gleichwohl aber durch methodische Anstrengung erreichbar da ist, weil es sich öffnen will? Davon sind die Mystiker überzeugt. Darum defi nieren sie den Augenblick als den rätselhaft verborgenen, da seienden – jedoch noch nicht immer offenbar seienden Zusammenfall der Ewigkeit mit der Zeit. Der „Augenblick“ ist kein leerer Jetztpunkt, sondern erfüllte, allerdings noch verborgene, aber demjenigen, der sich methodisch ihm zuwendet, sich erschließende „Fülle der Zeit“. Anders ausgedrückt: Im „Augenblick“ ist das im alltäglichen Zeiterleben verborgene mögliche wahre Wesen der Wirklichkeit so gegenwärtig, dass es dann hervor-

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Rudolf Rufener vermeidet in seiner Übersetzung die Wiedergabe von ej/2fnÜw (exaiphnes) mit „Augenblick“, wie es Kierkegaard später im „Begriff Angst“ darlegt. Stattdessen übersetzt er ziemlich nichtssagend: „Das Plötzlich“. 57 Vgl. z. B. Meister Eckhart, LW I, Z1f: „principium, in quo deus creavit caelum et terram, est primum nunc simplex aeternitatis.“ (Hervorherbung P. St.) Zum Ganzen vgl. Karl Albert, Meister Eckharts These vom Sein. Untersuchungen zur Metaphysik des Opus tripartium, Kastellaun / Saarbrücken, 1976, S. 223 –236; Andrew Louth, Art. Mystik II, Kirchengeschichtlich, in: TRE XXIII, Berlin / New York 1994, S. 547–580. 58 „Bezeichnenderweise ist der (unbeschreibliche) Augenblick des Eintritts in die Unio ,choc inaugural‘ genannt worden, eine ,Erschütterung am Anfang‘, in der alle mystischen Bilder und Phänomene, und natürlich die All-Einheitserfahrung des Absoluten ihren Ursprung haben und die zugleich alle weiteren Erfahrungen auslöst. Der ,choc‘ ist also ein Schlüsselerlebnis: Er ist zeitlos; denn die in ihm erfahrene ,Ewigkeit‘ kennt keinen Anfang und kein Ende … Der Zeitlosigkeit entspricht die Raumlosigkeit“ (Hervorhebung P. St.), Peter Gerlitz, Art. Mystik I Religionsgeschichtlich in: TRE XXIII, a. a. O., S. 539. Vgl. auch Hartmut Rosenau, Art. Mystik III Systematisch-theologisch, in: TRE XXIII, a. a. O., S. 581–589.

Kleine Phänomenologie des Bösen: „Ha, welch ein Augenblick“

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treten kann, wenn sich in einer besonderen Konstellation ein solcher „Augenblick“ wirklich ereignet. 59 Beethoven (und seine Librettisten) werden die Details mystischer Traditionen nicht gekannt haben. Dennoch war der „Augenblick“ ein von ihnen geliebter Begriff, und ich vermute, dass sie ihn nicht nur als kurze Zeitspanne verstanden wissen wollten, sondern eben als besonderen Zeitpunkt. Beethoven öffnet nun die stets als positive Möglichkeit für das Glück, für das Heil verstandene Augenblickstheorie der Mystiker auch für ihr Gegenteil. An die Stelle des Zusammenfalls von Ewigkeit und Zeit im „Dunkel des gelebten Augenblicks“60, als der in der Zeit verschlossenen möglichen Glücksverheißung bzw. das „Wunschbild des erfüllten Augenblicks“ und „Vor-Schein“ einer gelungenen eschatologischen Identität61 tritt in Pizarros „Augenblick des Bösen“ die eben auch in allem was ist verschlossene Möglichkeit des globalen Unheils, der Inhumanität, des globalen Scheiterns, der Gewalt und der Rache, ja tritt der versteinerte Tod hervor. Eine rauschhafte Wut, die den Tod nicht fürchtet, ersetzt die Liebe, die sich ebenfalls mit dem Tod nicht abfindet, sondern voller Hoffnung auf Versöhnung, Gerechtigkeit, Freiheit und Brüderlichkeit liebt und handelt. Im bösen „Augenblick“ der Pizarro-Welt manifestiert sich das in der Wirklichkeit immer auch lauernde kreative Böse. Die Wirklichkeit der so oft widersinnigen, dunkel verhängten Welt, repräsentiert durch handelnde Menschen und manifestiert im politischen Unrechtsstaat, tritt grell ins Bewusstsein des erschreckten Publikums. Beethovens Pathos der Aufklärung ist alles andere als naiv: So bist du auch Mensch, der du so hoch von dir denkst! „Viel Schreckliches gibt es, doch nichts so Schreckliches, wie der Mensch“, entnahm Sophokles bitter solchem Augenblick des Bösen, und „des Menschen Herz ist böse von Jugend auf“62 , heißt es in der Genesis des Alten Testaments nach der Sintflut. Das metaphysisch Böse, unableitbar in der Wirklichkeit da seiend, gerinnt in politische Tyrannei. So wird Pizarros Rachewut weit über das bloß Individuelle hinaus getrieben, so wie spiegelbildlich Leonores und Florestans individuelle Liebe zugleich auf die Menschheit und die gesellschaftlichen Verhältnisse verweist. Leonore fi ndet dafür die angemessene Metapher, wenn sie in ihrer großen Arie nach Pizarros Abgang singt: „Des Mitleids Ruf, der Menschheit Stimme, rührt nichts mehr deinen Tigersinn?“ Pizarros „Augenblick“ des Tigersinns 59

Für die Mystik ist die Gottheit, das Sein, das Vollkommene etc. zwar unaussprechlich, aber selber kein Werden, anders als der Mensch, dem sich die verborgene All-Einheit in der Unìo mystica öffnet. Das ändert sich, wenn die Mystik säkular beerbt wird, z. B. bei Ernst Bloch: „Gott … hat sich in uns nur als schattenhaft Geschehendes, objektiv Ungeschehenes, nur als ein Zusammensein im Dunkel des gelebten Augenblicks und unabgeschlossenen Selbstsymbol der absoluten Frage inne.“ Geist der Utopie, bearb. Neuaufl. der 2. Fassung von 1923, GA 3, Frankfurt a. M. 1964, S. 254. 60 Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung, a. a. O., S. 295. 61 Vgl. Ernst Bloch, ebd. 62 Gen 8,21.

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offenbart, was mit den Menschen geschieht, die ihr Wesen und ihre Würde nur noch den zerstörerischen Impulsen der Rache überlassen. An die Stelle von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, den Idealen des neuen Menschen, tritt der Tyrann, das Ungeheuer, die individuelle und politische Apokalypse. Beethovens Musik teilt uns mit: diese Welt kann auch scheitern. Der „Augenblick“ des Tigersinns offenbart das in ihr auch angelegte mögliche Unheil. Aber – und darauf kommt es ihm letztlich an – spiegelbildlich offenbart sich in der Wirklichkeit selber zugleich die Erlösungsbedürftigkeit von Mensch und Welt und ihre Sehnsucht danach.

Leonore vertraut sich selber. Die Stimme der Aufklärung Leonore vertraut sich selber. Die Stimme der Aufklärung

Freilich, Leonores Wirklichkeitssinn – und gerade er – lässt sie nicht resignieren. Sie überlässt sich bei innerer Unruhe und Bewegung gerade nicht der schwankenden Macht der Gefühle, sondern bleibt absolut kühl, rational und zugleich voller Hoffnung. Leonore ist insofern der Inbegriff des aufgeklärten Menschen, dem Vernunft, Einsicht in die Realität, Wissen um das gewesene Glück, die Erfahrung der Liebe und Treue die Grundlage für vernünftig begründete Hoffnung bilden. Auf Leonore ruhen der Glanz der Wahrheit und der Glanz der Liebe, und zwar als Individuum und als Utopie eines Menschheitstraums: Auch und gerade das kann der Mensch eben auch sein! In ihrer großen Arie: „Abscheulicher, wo eilst du hin?“63 geht die Individualtragödie eines freiheitsliebenden Ehepaares über in das Menschheitsdrama, in die große Humanitätsidee, die Beethoven zentral in Leonore verkörpert sein lässt. An alle Eigenschaften und Bilder aus dem Schatz des aufgeklärten und zugleich nicht depressiv entzauberten, sondern trotz allem und gerade in der höchsten Not dem Leben vertrauenden Menschen wird erinnert: die Tugend des Mitleids, das Symbol des Regenbogens, der Stern der Hoffnung. Sie symbolisieren zugleich den Grund der Möglichkeit von Freiheit, Liebe, Pfl icht und vor allen Dingen des Trostes. Im Rezitativteil ihrer Arie analysiert Leonore genau das, was sich im „Augenblick“ der Rache der Pizarro-Welt offenbart, nämlich eben der Tigersinn des Bösen – inhuman, mitleidlos, unempfindlich gegen die manchmal schon verstummende Stimme der Humanität, ausgeliefert an eigene Machtgier, an nicht mehr zivilisatorisch gebändigte Wut ohne Einspruch des Erbarmens. Dagegen leuchtet Leonore der Farbenbogen aus alten Zeiten, vom Orchester mit einem strahlenden C-Dur-Akkord untermalt. Das ist eine deutliche Erinnerung an den „Regenbogen“, das Naturbild, das Beethoven als Hoffnungsbild musikalisch gestaltet,

63 Leonores Arie erinnert formal an das italienische Rondo (begleitetes Rezitativ – langsamer Teil – schneller Teil), vgl. Michael C. Tusa, a. a. O., S. 115 f. Zur verbessernden Arbeit Beethovens gegenüber den früheren Fassungen vgl. Willy Hess, a. a. O., S. 146 –153. Deutlich ist auch hier, dass die Umarbeitungen Beethovens meist den „Willen zur Einfachheit, zur Beschränkung der eingesetzten Mittel“ spüren lassen, ders., a. a. O., S. 134.

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indem er einen konvexen und einen konkaven Halbzirkel gleichzeitig in die Außenstimmen bringt und noch, einen Zirkel andeutend, in die Kadenz einfl icht.64 Mit diesem Naturbild macht Beethoven drei Traditionen lebendig: Erstens: Beethoven benutzt einen Mythos, um die Sache zu benennen, um die es geht, ohne ihm als Mythos Glauben zu schenken. Der Mythos hilft nur zu einem Bild der Sache, das heißt, dass es eine Göttergeschichte ist, bleibt belanglos. In Ovids Metamorphosen repräsentiert der Regenbogen Iris die Götterbotin der Juno: diejenige numinose Gestalt, die einer Frau, deren Ehemann in schwerem Sturm umgekommen ist, die Hoffnung auf eine wunderbare Wiedervereinigung mit dem Geliebten vermittelt.65 Zweitens: Die Lichtmetaphorik der Aufklärung klingt an, in der das Licht der Vernunft die lebensdienliche Helle in die Dunkelheit der Unvernunft bringt. Diese Lichtmetaphorik wird szenisch besonders im Gefangenenchor, aber auch in der Schlusskantate deutlich, die im offenen Viereck auf „dem Paradeplatz des Schlosses“, jedenfalls aber bei geöffneten Kerkertüren, stattfi nden soll, wie die Regieanweisung bemerkt. Drittens: Beethoven kennt seine Bibel. Der Regenbogen symbolisiert in der Bibel das Bundeszeichen Gottes nach der Sintflut, genau nach der eben zitierten Stelle vom Menschen, dessen Herz böse von Jugend auf ist. Jeder Regenbogen als der in die Wolken gehängte Kriegsbogen Gottes soll daran erinnern, dass Gott der Erde und seinen Menschen trotz aller Sünde die Treue hält. Obwohl die Menschen so sind, wie sie sind, nämlich tief affi ziert vom Bösen, in sich zwiespältige Lebewesen, hält Gott ihnen die Treue und zeigt ihnen Wege aus dem Verhängnis. So schöpft Leonore Kraft aus der Erinnerung und wünscht sich, wie in einem Gebet an eine personalisierte „Hoffnung“, diese solle den letzten Stern der Müden nicht erbleichen lassen und ihr Ziel erhellen, sei es auch noch so fern.66 Leonore denkt nicht an einen Stern, dessen Licht nur kurz überhell aufleuchtet und sogleich wieder vergeht, sondern an den Stern, dessen Licht in tiefster Dunkelheit permanent leuchtet und gerade nicht verlischt, dort, wo sonst alles dunkel ist, und darum „die Müden“ stärken kann, weil die Liebe als Medium zur Erreichung des Ziels durch die Hoffnung gestärkt wird. Bildund Sachhälfte sprechen für einen messianischen Traditionshintergrund der SternMetapher.

64 Vgl. Erich Schenk, Über Tonsymbolik in Beethovens „Fidelio“, in: Beethoven-Studien. Festgabe der Österreichischen Akademie der Wissenschaften zum 200. Geburtstag von Ludwig van Beethoven, Wien 1970, S. 228. Die Suche nach wiederkehrenden Tonsymbolen im „Fidelio“ ist durchaus sinnvoll. Man sollte aber Beethoven nicht zum „Vorläufer“ Wagners stilisieren. Darin ist Carl Dahlhaus, a. a. O., S. 230 Recht zu geben. 65 Met. 11, XXX S. 410 ff. 66 Vgl. Michael C. Tusa, a. a. O., S. 116.

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Auch musikalisch greift Beethoven deutlich auf Tradition zurück.67 Freilich, wie Beethoven auf die Arie hinführt, das ist trotz aller Tradition etwas völlig Neuartiges. Denn im Grunde komponiert er ein Konzentrat eines Sonatenhauptsatzes: Zwei Themen, Durchführung, Aufhebung der Motive, die Holzbläser leiten einen Secco-Teil ein, der an der Stelle „So leuchtet mir ein Farbenbogen“ den Übergang nach C-Dur erreicht. Eine Coda schließt schließlich das Vergangene ab und führt über Modulationen zum E-Dur der Arie.68 Was passiert in dieser Szene? Nichts weniger als die Wandlung der ängstlichen und aus Unsicherheit Andere täuschenden, der Wut des Pizarro geheimnisvoll ausgelieferten und so auch außenbestimmten Leonore zur zunächst empörten und dann ihre eigene Sicherheit aus ihr selber fi ndenden Frau, die sich ihrer Gefühle und ihrer Aufgabe bewusst wird und dem „inneren Trieb“ ohne Rücksicht auf ihr eigenes Ergehen folgt. Mit Max Webers Begriffen: Leonore wird zur Gesinnungsethikerin. Ihr Innenleben und die äußere Welt entsprechen sich, ihre treue Liebe entfaltet sich in den Handlungsraum der Oper als Maxime ihres Handelns überhaupt. Die Musik folgt dieser seelischen Bewegung zum Handlungsimpuls haargenau: Die äußere Bedrohung durch Pizarro führt sie zu innerer Empörung und zur Suche nach dem Grund der Möglichkeit, zu handeln. Sie fi ndet ihn in der Hoffnung, die den Stern der Müden nicht erbleichen lässt und die tätige Liebe ermutigt, das Ziel unbeirrt zu verfolgen. Noch im 17. und 18. Jahrhundert rechnete man die Hoffnung zu den Affekten, also zu den Gemütsbewegungen, die sogar noch unterhalb der Leidenschaften von geringer Dauer und mit einer gewissen Oberflächlichkeit versehen, zu den Lebensäußerungen der Menschen gehören, die eigentlich wenig wert sind. Indem Beethoven die Hoffnung als den Grund der Möglichkeit zu handeln für Leonore einführt, bricht er mit dieser Tradition und folgt der großen Philosophie am Ende des 18. und am Beginn des 19. Jahrhunderts, die erkannt hat, welche Bedeutung die Hoffnung für Denken und Handeln der Menschen generell hat. Denn alles, was wir Menschen planvoll tun, alles, was zu unserer planvollen Weltbewältigung hinzugehört, ist ohne Hoffnung überhaupt nicht vorstellbar. Sie ist nicht nur in unseren Herzen und unseren Seelen angelegt, sondern besonders in der Struktur unserer Vernunft und hat – jedenfalls meinte das die Philosophie des 19. Jahrhunderts – eine Entsprechung außerhalb von uns Menschen. Menschen entwerfen als rationale Wesen hoffnungsvoll ihre Ziele im Kleinen wie im Großen, in-

67 So z. B. auf die Gräfi n im 3. Akt von „Le nozze di Figaro“, auf Donna Anna im zweiten Akt von „Don Giovanni“, vor allem aber auf die Arie der Fiordiligi in „Così fan tutte“. Beethoven hat besonders diese Oper Mozarts aus moralischen Gründen überhaupt nicht gemocht. Dergleichen Opernstoff hätte er niemals komponieren wollen, hat er einem Freund gesagt. Interessant aber ist, dass Fiordiligis Arie auch in E-Dur steht. Fiordiligi will ebenso treu bleiben wie später Leonore, ganz anders als ihre Schwester Dorabella. Sie will zum Geliebten ins Kriegslager fl iehen, um vor Versuchungen geschützt zu sein. Bekanntlich kommt es dann doch anders. 68 Vgl. Ulrich Schreiber, a. a. O., S. 54.

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dem sie die Wirklichkeit darauf hin betrachten, ob die Hoffnung auf Verwirklichung ihrer Pläne begründet ist oder nicht. Deshalb zählt man Hoffnung seit Kant nicht mehr zu den Affekten, sondern zur Eigenart unseres Verstandes überhaupt, der seine Ziele auf Zukunft hin entwirft.69 So wird die offene Zukunft selbst zur Zeitkategorie der Hoffnung schlechthin. Leonore wird im Verlauf dieser Arie der inneren, in ihr und ihrer Treue selbst liegenden Kraft inne. Und so schöpft sie hoffend Zuversicht. Diese innere Hoffnung Leonores, musikalisch von drei Hörnern gestützt, mündet wieder nach außen in den Handlungsimpuls: „Ich folg‘ dem inneren Triebe – ich wanke nicht.“ Ulrich Schreiber sieht mit Recht, dass uns in dieser Arie „mit Leonore die erste im humanistischen Sinn voll entwickelte Persönlichkeit im ,Fidelio‘ entgegen tritt“70. Leonore handelt nicht aus Affekt, sondern aus dem ihre ganze Person, Geist, Seele und Leib zusammenhaltenden humanen Charakteristikum: der die Hoffnung begründenden Treue und Liebe. So wie diese Frau ist, erfüllt sie den Menschheitstraum, der Mensch sei gerade nicht des Nächsten Wolf. Alle Anklänge an affektierte Vorbilder des Barock oder des Rokoko sind verflogen. Leonores Humanitätsempfi nden geht so weit, dass sie unter allen Umständen bereit ist, den – von ihr noch nicht erkannten – Gefangenen im Kerker zu retten und zu befreien, selbst wenn es nicht ihr gesuchter Ehemann wäre. Den der Freiheit beraubten Menschen die Freiheit zu bringen, wird zum kategorischen Imperativ.71 Ist in dieser Erfahrung und Entwicklung Leonores eine Spur von „Religion“ wahrzunehmen? Immerhin hatte Friedrich Schleiermacher 1799 in seinen Reden „Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern“72 die Religion im Unterschied zu Metaphysik und Moral als „Sinn und Geschmack für das Unendliche“ 73 bestimmt und damit Aufsehen erregt. Er hatte die Kritiker der Religion aufgefordert, nicht auf theologische Systeme oder Theorien zu sehen, sondern „diese himmlischen Funken“ aufzusuchen, „welche entstehen, wenn eine heilige Seele vom Universum berührt wird. Ihr müsst sie belauschen in dem unbegreifl ichen Augenblick [sic!], in welchem sie sich bildeten.“74 Dann wird als „höchster Blitz der Religion“ geheimnisvoll das Universum 69

KrV B 833 ff., Werke in zehn Bänden, hg. v. Wilhelm Weischedel, Bd. 4, Darmstadt 1968, S. 676 ff. Vgl. bes.: „Denn alles Hoffen geht auf Glückseligkeit, und ist in Absicht auf das Praktische und das Sittengesetz eben dasselbe, was das Wissen und das Naturgesetz in Ansehung der theoretischen Erkenntnis der Dinge ist“, a. a. O., B 833 f. 70 A. a. O., S. 55. 71 „Wer du auch seist, ich will dich retten.“ 72 Kritische Gesamtausgabe, hg. v. Hans-Joachim Birkner u. A., 1. Abt. Schriften und Entwürfe Bd. 2, Schriften aus der Berliner Zeit 1796 –1799, hg. v. Günter Meckenstock, Berlin / New York 1984. 73 A. a. O., S. 212. 74 A. a. O., S. 201.

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so unmittelbar erlebt, dass Anschauung und Gefühl noch nicht auseinandertreten.75 Diese Religion als begriffene Erfahrung geht aus bestimmten „Anlagen des Menschen“76 hervor, und man kann es „von seinem Mittelpunkte aus … als ein Produkt der menschlichen Natur, gegründet in einer von ihren notwendigen Handlungsweisen oder Trieben“ betrachten, aber auch als geschichtliche Gegebenheit.77 Ist Leonores Entwicklung zur Persönlichkeit ein religiöser Vorgang? Rein terminologisch könnte es so sein: Es geht im religiösen „Augenblick“ auch um „innere Triebe“, um Hoffnung, um „Freiheit des Sinnes“78, um die Menschheit und die Kunst79. Und es kommt nicht darauf an, ob Beethoven oder seine Librettisten Schleiermacher überhaupt kannten. Das romantische Neubesinnen auf Religion war der allgemeine Trend, lag gewissermaßen in der Luft. Obwohl religiöse Bilder Leonores Hoffnungsarie mit prägen, ist ihr Grund der Möglichkeit, auf Florestans Befreiung zu hoffen, nicht religiös, sondern rein anthropologisch auf den Menschen als Kompensator bestimmt. In einem schönen Vergleich der knappen Bläsersignale am Anfang der Zauberflöte und der Trompete auf dem Turme aus dem Fidelio zeigt Martin Geck, was zwischen Mozart und Beethoven sich entfaltet hatte. „Mozart lässt die Sonne über Gute und Böse, über Gerechte und Ungerechte scheinen … der Weltlauf ist nicht gradlinig, und der Gang der Dinge gleicht einem Kreislauf: Alles ist in allem enthalten, ein jedes schon einmal dagewesen. In diesem Sinne bilden die drei Akkorde der Zauberflöte das initium zu einer Handlung, die schon geschehen ist, ehe man eine ihrer möglichen Spielarten auf der Bühne bestaunen kann. Die Opernfiguren und ihre Handlungen stehen für Konfigurationen, die ohnehin ,in der Welt‘ sind; und die feierlichen Akkorde bedeuten, dass über diese Welt und ihre Bewegungen eine Ordnung wacht … Beethoven muß die Ordnung der Welt aus eigener Kraft und immer aufs Neue schaffen: Der Mensch wirkt nicht an seinem Schicksal mit, sondern er stellt es her.“80 Das ist der Mensch nach dem Erdbeben von Lissabon. Wie schon gesagt, war die Hoffnung in der philosophischen Tradition des 17. und 18. Jahrhunderts nicht von besonderer Bedeutung. Sie wurde als Affekt neben der Furcht diskutiert. Schon in der Antike war Hoffnung überhaupt keine positive Gestimmtheit, weil sie ja nicht auf das ewige Sein, sondern auf das Veränderliche bezogen ist. Diese Sicht auf Hoffnung hatte sich mit dem biblischen Christentum allerdings verändert. Paulus entfaltet in seinen Briefen in der Beschreibung der christlichen Existenz die drei Größen Glaube, Hoffnung, Liebe als die Existenzformen des Christen schlechthin.81 In Glaube, Liebe, Hoffnung erfüllt sich das, was Gott mit den Menschen vorhat. 75 76 77 78 79 80 81

A. a. O., S. 2 22. A. a. O., S. 197. A. a. O., S. 198. A. a. O., S. 260. A. a. O., S. 264. Von Beethoven … a. a. O., S. 18 f. 1. Kor 13, 13.

Was Religion über den Menschen und das Glück denken kann

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Der Reflex auf die heilstiftenden Absichten Gottes in den Menschen ist, dass sie aus Gottes Gnade heraus sich selber als „auf Hoffnung Berufene“ verstehen können82 , weil ihr ganzes Leben auf Gottes Epiphanie in Christus gerichtet ist und von daher alle Gegenwart und Zukunft trägt. Der Christ hofft also nicht wegen seiner anthropologischen Verfassung, sondern weil er aus Gottes Gegenwärtigkeit lebt. Nun hat aber schon Paulus den Vorgang der Hoffnung im vernünftigen Menschen beschrieben. Um sich gegenüber Vorwürfen in seiner Korinther Gemeinde zu verteidigen, gebraucht Paulus ein aufschlussreiches Bild, das erläutert, was alle Menschen tun, wenn sie überhaupt hoffen. Der Pflügende, so sagt Paulus, soll „auf Hoffnung hin pflügen … und der Dreschende auf Hoffnung hin dreschen“83. In der Hoffnung greifen wir ins Zukünftige hinaus und entdecken zugleich in der Gegenwart das, was wir hoffen, also was noch nicht ist, aber mit gutem Grund werden kann. Das heißt, Hoffnung ist auf seltsame Weise voller möglicher Bilder und zugleich – und das merken wir an unseren Gefühlen und an unseren Sehnsüchten – bilderlos, weil das Erhoffte eben nur als Möglichkeit da ist. In diesem Sinne ist Hoffnung – anders als es die Scholastik wollte – gerade keine Tugend, sondern eine Existenzweise. Davon hat Beethoven – bewusst oder unbewusst ist gleichgültig – zumindest viel geahnt. Adorno hat in einer Notiz zu den Allegorien der Hoffnung bei Beethoven auf die seltsame Analogie zwischen der Hoffnung und der Musik überhaupt hingewiesen. So wie Hoffnung immer geheim sei, weil ihr Gegenstand nicht „da“ ist, so sei Hoffnung eines der musikspezifisch unmittelbar zu gebenden bilderlosen Bilder, wenn Musik erklingt. Die Hoffnung gehöre überhaupt der Sprache der Musik an.84 In der Arie der Leonore wird der Grund der Hoffnung nicht in der Gottheit Gottes – wie theologisch bei Paulus oder in Schleiermachers Universum – lokalisiert, sondern im rationalen Menschsein des Menschen, seinem „inneren Trieb“. Dem folgt sie – und er ist nicht religiös vermittelt. Zumindest in der großen Arie der Leonore finden sich zwar Spuren von religiösen Bildern, aber der Grund der Hoffnung erscheint säkular. Die Säkularisierung schlägt sich in ihrer Figur nieder.

Was Religion über den Menschen und das Glück denken kann Was Religion über den Menschen und das Glück denken kann

Das ändert sich mit dem zweiten Akt, wo aus der gefühlten Hoffnung der Ernstfall wird, mit Florestans Kerkerarie: „Gott, welch Dunkel hier!“85 In tiefster Einsamkeit eines Menschen ertönt ein Klagepsalm, der gut ins Alte Testament passen könnte, so formal 82

Rö 8,24; Eph 4,4. 1. Kor 9,10. 84 Vgl. Theodor W. Adorno, a. a. O., S. 250 f. 85 Treitschke berichtet davon, dass er als Theatermann Beethoven gegenüber Bedenken über diesen Aktbeginn äußerte. Er meinte, dass „ein dem Hungertode fast Verfallener unmöglich Bravour singen dürfe“. Im Libretto umging er das Problem, indem er das letzte Aufflammen des Le83

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genau ist er dem „Klagelied eines Einzelnen“ gattungsmäßig nachgebildet: Der Anrede an Gott folgt die Schilderung der Not, die Beteuerung der Unschuld, eine Vertrauensäußerung, die Erhörungsgewissheit und schließlich das dankbare Ergeben in Gottes Willen.86 Nun hat es in spätbarocken Opern viele Kerkerszenen und Aktionen von Frauen bzw. Verlobten zur Befreiung ihrer Männer bzw. Verlobten gegeben. Aber Beethovens Musik bietet zum Beginn der Kerkerszene des zweiten Aktes musikalisch etwas Neuartiges in der Geschichte der Oper: Die instrumentalen Kontraste vor Florestans Einsatz, die unglaubliche innere Spannung auf engstem Raum, umrahmt von Seufzerfiguren, zeichnen Florestans Seelenzustand eindringlich nach. Paukenmotive am Anfang spielen auf „Florestans Angst, das Klopfen seines Herzens, den Pendelschlag der verrinnenden Zeit, des nahenden Todes, aber auch auf die sich nahenden Schritte an“87. Die Streicher spielen anfangs Oktaven piano, die Bläser bis zum vierten Takt Akkordstöße im Forte. Darauf folgen die Streicher mit einem Crescendo, auf dessen Höhepunkt die Bläser unisono erklingen, um dann das Forte zusammenbrechen zu lassen. In Florestans Vision des Freiheitsengels reduziert Beethoven im Gegensatz zu aller Tradition die beteiligten Orchesterstimmen, nimmt eine Steigerung durch Verminderung vor. Und schließlich tritt die Oboe, das Instrument der Liebe, solo aus dem Orchester heraus, und es beginnt ein imaginäres Duett Florestans, der seinen Tod erwartet, mit seiner geliebten Leonore. Dieser Wechselgesang führt zur Phrase: „Leonoren, der Gattin so gleich“, wo Florestans Singstimme und die Solo-Oboe sich in der Oktave vereinigen. Diese imaginierte Wiedervereinigung mit Leonore gibt Florestan die Kraft, visionär in den Himmel aufzusteigen. Beethoven verlangt in der Ausdeutung des Textes „Der führt mich zur Freiheit ins himmlische Reich“, über den bisherigen Spitzenton der Oboe d 3 hinausgehend f 3, quasi als tonsymbolischen Überstieg in die Transzendenz.88 Mit dieser ungeheuren Spannung im Dunkel des Kerkers wird Florestan, der Mensch, der mit dem Einsatz seines Lebens für die Freiheit kämpfte und dann aus politischen Gründen unmenschlich behandelt wurde, uns als derjenige vor Augen gemalt, der genauso trostbedürftig ist wie alle anderen Menschen es auch sind: „Süßer Trost in meinem Herzen!“ Die Trostbedürftigkeit, die uns in Florestan so anrührt, und die im privaten und öffentlichen Leben so beredt verschwiegen wird, ist ein zentraler aber leider oft verschütteter Inhalt der christlichen Lehre vom Menschen. Was ist der Mensch? Böse von Jugend auf, hörten wir aus der Bibel. Nichts ist schrecklicher, schrie uns Sophokles ins Ohr. Aber jetzt im Kerker Florestans herrscht ein ganz anderer Ton: Der Mensch ist ein trostbedürftiges Lebewesen. Das wusste Beethoven aus eigenen bitteren Erfahrun-

bens vor seinem Erlöschen „mit den Worten begann: ,und spür‘ ich nicht linde, sanft säuselnde Luft …‘“, vgl. Willy Hess, Das Fidelio-Buch, a. a. O., S. 84. 86 Vgl. Werner H. Schmidt, Einführung in das AT, Berlin / New York 1979, S. 305. 87 Helga Lühning, zit. bei Jost Hermand, Beethoven. Werk und Wirkung, Köln 2003, S. 95. 88 Vgl. Heike Fricke, Art. Oboe und Oboisten, in: Beethoven-Lexikon, a. a. O., S. 558.

Was Religion über den Menschen und das Glück denken kann

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gen seiner vergeblichen Suche nach der „unsterblichen Geliebten“89 ebenso wie aus der für einen Musiker die schlechthinnige Katastrophe bedeutenden fortschreitenden Ertaubung.90 Trostbedürftig ist Florestan, sind die Menschen überhaupt. An Florestan kann man lernen, dass Trostbedürftigkeit nicht mit Larmoyanz und Weichlichkeit zu verwechseln ist. Trost ist nicht nur ein innerseelischer Vorgang, er meint auch immer eine Rückkehr ins so oft verlorene, mindestens bedrohte Glück des beschädigten Lebens. Das gibt der heldischen Figur des Florestan eine geradezu saugende Sanftheit und nimmt der Kantschen Pfl ichtethik, der sich Florestan ja auch verschrieben hat, den Stachel des eitlen Tugendstolzes. Es sind mehrere Quellen, aus denen Trost geschöpft werden kann. Da ist zunächst die leibliche Zuwendung. Sie fehlt Florestan natürlich vollkommen. Dann aber das eigene Gewissen, die Gewissheit, seine Pfl icht getan zu haben. Auch dies ist keineswegs ein nur innersubjektiver Vorgang. Beethoven kannte Kants Kategorischen Imperativ sehr gut, auch wenn es „unbillig zu glauben [wäre, P. St.], Beethoven habe Kants kritische Schriften studiert“91. Der Kategorische Imperativ macht klar, dass es beim Gewissen nicht allein um die Übereinstimmung von subjektiven Überzeugungen mit dem realen Handeln, also um ein persönliches Authentischsein geht, sondern um das allgemeine und alle verpfl ichtende Gesetz.92 Sodann aber ist die Quelle des Trostes für Florestan die Treue als dasjenige an der Liebe, was sich nicht von selbst versteht und daher erklärungsbedürftig ist. Auf alten Bildern seit der Antike über die Renaissance bis weit ins 20. Jahrhundert hinein ist der

89 Vermutlich war es Antonia Brentano, an die Beethoven seinen berühmten Brief vom 5. / 6. Juli 1812 schrieb. Er richtet sich an eine namentlich nicht genannte Frau, weshalb es immer wieder Spekulationen über die Adressatin gibt. Beethoven hat den Brief vermutlich gar nicht abgeschickt, oder die Empfängerin hat ihn zurückgegeben. Er hat ihn 25 Jahre lang verwahrt, deshalb fand er sich in seinem Nachlass, vgl. Claus Raab, Art. Unsterbliche Geliebte, in: Beethoven-Lexikon, a. a. O., S. 798 – 801. 90 Beethoven machte zu der Zeit, als er die Kerkerszene konzipierte, selber eine tiefe menschliche Krise durch, die er – wie Florestan – als „schwere Prüfung“ verstand. Manche BeethovenForscher verweisen auf das 1803 komponierte Oratorium „Christus am Ölberg“ und interpretieren die Christusfigur als „Ur-Florestan“, so z. B. Louise Lockwood, Lewis (2000), zit. bei Jost Hermand a. a. O., S. 98, Anm. 38, S. 253. Vgl. auch die Übertragung des „Heiligenstädter Testamentes“ vom 6. Oktober 1802 nach Sieghard Brandenburg (1999) bei Wolfam Ensslin, Art. Heiligenstädter Testament, in: Beethoven-Lexikon, a. a. O., S. 318 –321 (319 –321). 91 Peter Rummenhöller, Art. Kant, Immanuel, in: Beethoven-Lexikon, a. a. O., S. 371. Vgl. aber die Aufstellung bei Martin Geck, Von Beethoven … a. a. O., S. 73 f. von Beethovens nachweislicher Lektüre von Kants Allgemeiner Naturgeschichte, des Rigveda, Homer, der großen griechischen Dramatiker und Platons Staat u. a. 92 Vgl. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, BA 52, a. a. O., Bd. 6, S. 51.

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Kapitel 1

Schmetterling nicht nur ein Symbol für die Seele, sondern auch für die Liebe. In seiner flatternden Sonnen- und Farbentrunkenheit steht er für die Leichtigkeit und den Freiheitsdrang der erotischen Liebe. Im Unterschied zur Pflicht gehört der Zusammenhang von Befehl und Gehorsam nicht zur Treue, die aus der Liebe kommt, sondern sie gehört ganz in den Bereich der Freiheit. Bringt man die Liebe und ihre Treue in den Geruch der Pfl icht, verfl iegt sie, wenn nicht sofort, dann aber bald. Jedoch liebend einen geliebten Menschen aus Freiheit nicht verlassen, verleiht der flüchtigen Liebe den Aspekt der Dauer und damit der Treue. Allerdings hat man schon oft gesehen, dass es im „Fidelio“ viel mehr um die Treue als um die Liebe, gar um die erotische Liebe geht.93 So fehlt dem wunderbaren Duett „O namenlose Freude“, Vorbild für Wagners Schlussduett im „Siegfried“ – allerdings dort ganz und gar erotisiert – jede Spur erotischer Leidenschaft. Wenn man einmal die auch hochpolitische Rettungsoper Puccinis, „Tosca“, mit dem „Fidelio“ vergleicht, so spürt man, was sich Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts verändert hatte. In „Tosca“ rasen die Leidenschaften nicht nur erotisch, sondern auch politisch. Beethoven sieht das ganz anders. Er preist die durch persönliche Hingabe und den durch ehelichen Vertrag auf Dauer gestellte Liebe als die Grundlage von Verlässlichkeit und gegenseitiger Hilfe, von Treue als Abbild der Humanität. Und insofern webt er in den Jubel der wieder vereinten Ehepartner mitten im Stück einen inneren Tadel an die flatternd verliebte Marzelline ein. Wichtiger aber ist das Dritte, was in den Beethoven-Interpretationen so oft in den Hintergrund tritt, weil dieses Thema irgendwie obsolet geworden zu sein scheint. Pfl icht und Treue in der Gattenliebe und der daraus ableitbare Trost korrespondieren im „Fidelio“ mit einem der Welt neben dem humanen inneren Trieb auch eingeschriebenen zielgerichteten, auf die Welt von außen zukommenden Impuls, nämlich der Gerechtigkeit Gottes, des Gottes, der von Paulus als „Gott des Trostes“ bezeichnet werden kann.94 Gewiss sieht man im an den Stein gefesselten Florestan auch den gefesselten Prometheus. Aber von der Revolte gegen Gott, wie sie z. B. Goethes Gedicht durchzieht, ist bei Beethoven keine Spur. Im Gegenteil: Florestan gründet sein Geschick sogar in Gottes Gerechtigkeit, der wie in der Bibel und bei Mozart seine Sonne aufgehen lässt über Gerechte und Ungerechte und dabei gleichwohl die Aufrichtung seiner Gerechtigkeit nicht vergisst. Er ist kein Vorläufer Feuerbachs und weder Skeptiker noch Existenzialist. Für Beethoven ist es keine Frage, dass Gottes Wille, mit dem er die Menschen und das Weltgeschehen lenkt, gerecht ist. Deshalb ist das Leid der 93

Vgl. Theodor W. Adorno, a. a. O., S. 71. Rö 15,5. Im hellenistischen Judentum aufgewachsen, knüpft Paulus an die alttestamentliche Tradition an, die das Trösten als wesentliche Handlung Gottes gegenüber seinem Volk und dem Glaubenden ansah, vgl. z. B. Psalm 23,4, Jes 40,1 und Jes 66,13. 94

Was Religion über den Menschen und das Glück denken kann

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Gefangenschaft, die Perspektive und das Grauenhafte des nahen Hungertodes und des Verdurstens, verbunden mit der Unfreiheit und dem Liebesentzug, zwar Anlass zur Klage, aber für Florestan kein Grund, an Gottes Gerechtigkeit zu zweifeln: „Das Maß der Leiden steht bei dir“, und „Gerecht, o Gott, ist dein Gericht! Du prüfest, du verlässt uns nicht“, singen alle Solisten (außer Jaquino) mit dem Chor kurz vor dem Ende. Florestans Gottesvorstellung hat mit dem nur „guten“ Gott der „natürlichen Religion“ der Aufklärung, die eine reine Abstraktion ist, nichts zu tun. Florestans Gott ist ein „Gott im Leben“ mit allen seinen Zweideutigkeiten. Nicht nur das Glück kommt aus seiner Hand. Selbstverständlich verlangt Beethovens Überzeugung in der Interpretation nach einer kritischen Diskussion dieses Themas. Jedoch interpretieren noch heute unzählige Menschen ihr schwieriges, widersinniges und schmerzensreiches Geschick mit Hilfe der Kategorie, die Beethoven angesprochen hat, nämlich der Prüfung.95 Zweifellos belastet die Undurchschaubarkeit des subjektiven Geschicks und des Weltgeschehens die Christen ebenso wie andere Menschen mit einem riesigen Problem. Kann Gottes Existenz noch gedacht werden, angesichts des Zustandes der Welt? Kann man die Gottheit Gottes noch angemessen verstehen, angesichts solcher Leiden, wie Florestan sie stellvertretend für die Menschheit überhaupt ertragen muss? Niemandem darf diese Interpretation des Geschicks von anderen auferlegt werden, jedoch Beethovens keineswegs naive Frömmigkeit hat die Widersinnigkeiten und Katastrophen des gelebten Lebens als die zunächst keineswegs beruhigend dichte Nähe Gottes mitten im Leben verstanden, der sehen will, wie ernst wir es mit unserem Vertrauen auf ihn meinen. Vielen hat sich unter dieser so bedrängenden Nähe Gottes ihr Gottesbild verdunkelt. Manchen ist es restlos zerbrochen. „Wo ist Gott?“, ist die berechtigte Frage in all diesen Schrecken. Für manche ist an die Stelle des auch in den Bitterkeiten des Lebens so nahen Gottes das bodenlose Nichts getreten. Niemandem darf deshalb törichterweise ein Vorwurf daraus gemacht werden. Auch Beethovens „Heiligenstädter Testament“ rechnet ja durchaus mit der möglichen Verzweiflung. Gerade die so oft verschlossene Erfahrung unseres Selbst und der Welt ist nun allerdings die Nötigung des Glaubens zur Theologie. Dieses ungeheure Thema kann ich hier auch nicht andeutungsweise ausführen. Aber die Theologie kann davon nicht absehen, wenn es ihr um die Beschreibung der Erfahrung Gottes im Leben geht. So defi niert sie Glauben als unverbrüchliches Vertrauen darauf, dass Gott es mit uns und mit der Welt gut meint. Und darum ist Glauben als Lebenshaltung im letzten Grund nichts Anderes als völliges und vorbehaltloses Versinken in der Güte Gottes.

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Sie ist in der islamischen Theologie und Frömmigkeit eine ganz zentrale Kategorie der Hinwendung Allahs zu den Menschen.

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Und so zeigt Beethoven in Florestans großer Arie in der Musik den Grund für den Verwandlungsvorgang des Menschen, den wir Religion nennen.96 Religion als gelebte Integration des Sinns der Welt, der Liebe, Freiheit, Gerechtigkeit in den Lebensvorgang der Menschen verwandelt den trostbedürftigen Menschen in einen zwar immer sich selbst und die Welt weiterhin bedrohenden, aber im Kern seines Herzens durch die Erfahrung Gottes im Leben trotz allem getrösteten Menschen. Dieser Trost ist nicht kritiklos, aber er ist der Grund für Florestans Vertrauen in die Freiheit und für seinen Kampf für ihre politische Realisierung, wie wir an Florestans Freiheitsvision noch sehen werden. Das Tröstende, die Menschen stark und sanft zugleich Machende, korrespondiert nämlich mit der Hoffnung, die sich auf das Versprechen des Guten einlässt.97 Dieses Tröstende erscheint „in rosigem Duft“ als Engel der Freiheit – musikalisch in F-Dur, das Tempo vom Adagio zum Allegro gesteigert und im Schluss im Piano wieder ausgeblendet. Der Engel der Freiheit ist nicht konturenlos und einfach hell und licht, sondern verschmilzt mit Leonores Bild. Auch hier verbinden sich das Persönliche und das Politische, ja auch das von Gott geplante Geschick der Welt zu einer geradezu untrennbaren Synthese. Das Pathos der politischen Emanzipation verbindet sich mit der Sehnsucht nach Wärme und Trost, ohne die das schwierige Leben in der Freiheit nicht bestanden werden kann. Solche Engel wie Leonore brauchen keine Flügel, auch wenn sie ins himmlische Reich führen, aus dem sie in die Welt kommen, in der Treue, Freiheit, die Geschwister der Hoffnung und des Glücks, immer wieder auch verraten werden. Allen Einwänden zum Trotz: Beethoven verschränkt zumindest ab der Kerkerszene die Hoffnung auf politische Befreiung und Wiederkehr des Glücks mit der Gerechtigkeit Gottes, also mit einem die Welt heilend bewegenden Willen. Man kann ja sagen, dass diese Hoffnung mit der vermuteten Abwesenheit Gottes beispielsweise religionskritisch auf den Menschen als Wurzel der Geschichte zurückgenommen werden muss und soll. Man kann auch eine zweifelnde, grundsätzliche Skepsis in Beethovens Utopie eintragen. Aber um auf die Ausgangsfrage zurück zu kommen: Ist wirklich die Skepsis das faszinierende Element im „Fidelio“ oder nicht im Gegenteil die Hoffnung, die gar nicht naiv auch da noch hofft, wo nichts zu hoffen übrig zu sein scheint? Und vermittelt Beethoven nicht mit seiner Musik den ästhetischen Schein im Kunstwerk, dass alles eben auch an-

96 Es ist daher keineswegs müßig, darüber zu diskutieren, ob der „Fidelio“ in seiner Beschwörung „Gottes“ noch christliche Elemente enthält oder ob Beethoven bereits von rein säkularen Glücksvorstellungen ausgeht, wie Jost Hermand, a. a. O., S. 101, meint. Beethovens Religiosität kann ja doch schlecht bestritten werden, denn Beethoven hat Religion nicht nur als „Annäherung an die tieferen Gründe des Seins“, sondern zudem als praktischen Leitfaden für die geistige Lebensführung verstanden, vgl. Knud Breyer, Art. Religiosität, in: Beethoven-Lexikon, a. a. O., S. 597–599. Ob man die Oper heute religiös oder säkular interpretiert, ob hoffnungsvoll oder in sich gebrochen, das ist eine ganz andere Frage. 97 Vgl. Theodor W. Adorno, a. a. O., S. 245.

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ders sein kann als die Blutspuren der allgemeinen und persönlichen Geschichte uns zu glauben so dringlich nahe legen? Rührt nicht deswegen der Chor der Gefangenen so an und fordert zum bürgerlichen Protest auch noch heute auf: „Wir sind belauscht mit Ohr und Blick“?

Der Augenblick des Wunders Der Augenblick des Wunders

Diese religiöse Öffnung für die Menschen sowie die Welt verwandelnde Kraft der Freiheit und der Gattenliebe setzt sich schließlich fort in dem Höhepunkt der Handlung, an dem Pizarro-Welt und Fidelio-Welt noch einmal unerbittlich aufeinander treffen, nämlich im Quartett, das Pizarro eröffnet: „Er sterbe, doch er soll erst wissen.“ 98 Beethoven komponiert hier einen brodelnden Hexenkessel entfesselter Passionen. Nun fallen alle Verkleidungen, und alle Identitäten der Personen treten hervor im rasenden musikalischen Nacheinander. Jetzt regiert ein ganz anderes Bild der Zeit das musikalische Geschehen als im Quartett des Kanons aus dem ersten Akt. Die Zeit ist nun ein nach vorne rasender Strahl auf ein Ziel hin, dass entweder der Tod oder das Leben sein kann. Musikalisch ist die Revolution im Vittoria-Dreiklang der All’armi-Symbolik der Bläser präsent, die Leonores „Der Tod sei dir geschworen“ illustrieren.99 Endgültig wird Pizarro nun zum Inbegriff der Inhumanität, deren steinernes Bild der Tod ist. Jedoch bekommt er nicht die Gelegenheit zur letzten Tat und auch nicht das letzte Wort. Leonores versteckte Pistole verhindert den Mord an Florestan und seinem vermeintlichen Beschützer: „Noch einen Laut – und du bist tot!“ Fidelio / Leonore deckt ihren Mann „mit ihrem Leibe“, so wie später Elisabeth mit ihrem Leibe Tannhäuser davor bewahrt, gelyncht zu werden. Liebe ist leibhaft. Mitten in diesem Augenblick der Rettung tönt dann zweimal das von Ernst Bloch so geliebte und von ihm auf die Marseillaise und die Ankunft des Messias gedeutete Trompetensignal, das geheime Ostern mitten im Dies irae, dem Tag des Zorns, der Umschlag vom Tod ins Leben100, Ruf aus dem Tod zur Auferstehung ins befreite Leben nicht mehr bedrohten Glücks im Glanz der Gerechtigkeit Gottes. Im Duett „O namenlose Freude“ empfangen sich die beiden Eheleute wieder neu als Frucht der unbeirrbaren Treue, die in ihre reale Zeit zurückkehrt, um schließlich zum Oratorium, zur fi nalen Kantate der Gerechtigkeit Gottes und der Gattenliebe sich zu versammeln, zu der alle Kerkertüren aufgerissen werden. Der Minister bringt die Bot-

98 Erich Schenk vermutet, dass die Variante eines „Halbzirkels“, verbunden mit dem „Cisternensymbol“ und Leonores Figur des Erschauerns musikalisch die Partitur und das „sprechende Orchester“ mit der Aufgabe betraut, das Ziel der handelnden Personen zu verraten, vgl. Über Tonsymbolik in Beethovens „Fidelio“, a. a. O., S. 227 f. 99 Vgl. Erich Schenk, a. a. O., S. 230. 100 Vgl. Das Prinzip Hoffnung, a. a. O., S. 1295 f.

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schaft des „besten Königs“, des aufgeklärten Monarchen, dem Tyrannenstrenge fern und brüderliche Solidarität das höchste Gut ist, und der die sklavisch niederknieenden Gefangenen sich freiheitlich erheben heißt. Jede und jeder wird persönliche Lieblingsstellen im „Fidelio“ haben. Mit einer Analyse meiner Lieblingsstelle möchte ich enden, um nun auch persönlich meine Faszination abschließend zu begründen. Dem „Augenblick“ der Pizarro-Welt, dem Tigersinn des Bösen, korrespondiert ein diametral entgegengesetzt anderer „Augenblick“ im zweiten Akt. Nachdem Leonore den Mord an Florestan verhindern konnte und die scheinbare Privatangelegenheit zweier Liebender nun als eine Staatsaffäre in ihrer richtigen Dimension in Musik gesetzt worden ist, da gestaltet Beethoven einen bisher unerhörten musikalischen „Augenblick“ ganz nahe am mystischen Weltkern. Noch immer steht der befreite Florestan mitten im jubelnden Volk in Ketten. Da beauftragt der Minister, Don Fernando, zunächst Rocco, dem Befreiten, den er als seinen Freund erkannt hatte, die Ketten abzunehmen. Aber schnell unterbricht er sich: „Doch halt!“ Beethoven bereitet mit höchster Reflexion und Stilgefühl, Zeit und Handlung anhaltend und unterbrechend, den utopischen Gegenaugenblick zum Tigersinn der Rache vor: „Euch, edle Frau allein, euch ziemt es, ganz ihn zu befreien.“ Und Leonore nimmt ihrem befreiten Mann in „größter Bewegung“ endgültig die Ketten ab101, überwältigt von diesem Augenblick, in dem sie das Glück ihrer Liebe wiederfi ndet und das ungerechte, tyrannische Wesen der Welt umschlägt in Gerechtigkeit. Und alles wird als Gericht Gottes zusammen mit dem Freiheitswillen der Menschen als Widerstand gegen die Gewalt der Rache besungen. So einem Augenblick, in dem „die Zeit eine Art vorübergehenden Stillstand zu erreichen scheint“, in dem der Ablauf der Handlung inne hält und die Subjekte „sich der köstlichen, verlängerten Augenblicke einer zeitlosen Stasis, die einen inneren Frieden verschafft“, hingeben, sind wir schon im Kanon-Quartett des ersten Aktes begegnet.102 Dort jedoch war dieser – die Zeit öffnende – „Augenblick“ zugleich auch das Einfallsloch des Bösen in die Handlung und das Innere der handelnden Subjekte. Hier jedoch öffnet der „Augenblick“ die Zeit als Gottesgeschichte und umfassendes Menschenglück und wird darum zum „Lobpreis der göttlichen Gerechtigkeit“103. Und wieder ist es die Oboe, die wir schon als das Instrument der Liebe in Florestans Kerkerszene gehört haben, die hier die Melodieführung übernimmt. Sie trug schon die 101 Nicht sie sinkt darauf in Florestans Arme – umgekehrt will Beethoven die leibliche Repräsentation dieses Vorgangs sehen! 102 Slavoj Žižek, a. a. O., S. 156 f. Er zählt (S. 157) auch „das plötzliche Aussetzen der rasenden Tätigkeit in der unterirdischen Gefängniszelle, als die Trompete die Ankunft des Ministers meldet“, zu diesen Augenblicken. Solche, die Menschen überwältigenden, Augenblicke fi nden sich natürlich auch bei Mozart, bei Richard Wagner und Richard Strauss, um wenige (nur deutsche) Komponisten zu nennen. 103 Ulrich Schreiber, a. a. O., S. 59.

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Vision des Freiheitsengels, und ist in der Tat „sphärische Musik“, wie Norbert Abels das genannt hat.104 Nun offenbart sich in diesem Augenblick, dass Liebe, Solidarität und Einsatz des Lebens für die Freiheit nicht umsonst sind und nicht alles vergeblich hinab muss. Beethoven entnahm das Thema dem Sopran-Solo seiner 1790 auf den Tod Kaiser Josephs II. geschriebenen Kantate, hat es aber charakteristisch verändert: Es ist langsamer, wechselt in den Dreivierteltakt, und die Musik moduliert völlig unerwartet in F-Dur.105 In diesem neuen Zusammenhang tönt es nun wie eine Melodie aus dem Reich Gottes.106 Alle, einschließlich Chor, nehmen diese ungeheure Dichte einer erlebten Zeit als verheißene Freiheit auf, und so wird das hinter der Gewalterfahrung verborgene Wesen der Welt des möglichen Glücks, das in jedem Augenblick verborgen präsent sein kann, hörbar. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, die Treue und Liebe sind Instrumente des Guten, das zwar auch vom Bösen überlagert, durch Terror und Gewalt quasi verschattet ist, aber ins Freie drängt. So gestaltet auch hier Beethovens Musik in diesen beiden zwar korrespondierenden aber gegensätzlichen „Augenblicken“ das oft verwirrende Bild der Wirklichkeit der Welt und zwingt die Gegensätze in Eines. Das Wunder des gelingenden Menschseins und der Tigersinn des Bösen erfüllen beide, oft bis zur nahen Verzweiflung, die Welt. Beides ist wirklich, aber – so die Botschaft – nur der eine „Augenblick“ verbirgt einen rettenden Kern, der auch das Menschliche vor dem Ziel der stets rinnenden Zeit, nämlich dem Tod, bewahrt. Beethovens Oper gestaltet die Transzendenz in den Metaphern des Politischen, aber eben nicht nur darin. Leonores: „O Gott, welch ein Augenblick!“, die höchste Stelle des Werkes, wie Ernst Bloch im Programmbeitrag für die Kroll-Oper Berlin 1927 unter Otto Klemperers Leitung schrieb,107 gewahrt in der politischen Befreiung zugleich den Triumph der Liebe und der Gerechtigkeit, die Gottes Welthandeln gegen allen Augenschein durchzieht. Im Schlussbild schließlich bittet der Tigersinn des Bösen nur noch ums Wort, und selbst das wird ihm verwehrt. Im Jubel am Ende hören wir staunend und angerührt die Kantate der Rettung und werden aufgefordert, uns zum schwierigen Leben ermutigen zu 104

Programmheft der Oper Frankfurt zur Neuinszenierung des „Fidelio“ am 1. Juni 2008, Frankfurt a. M. 2008, S. 45. 105 Vgl. Paul Robinson, a. a. O., S. 89. 106 Alfred Heuss hat (1924) die Melodie Beethovens „Humanitätsmelodie“ genannt. Harry Goldschmidt hat in seiner marxistischen Interpretation der „Ur-Leonore“ auf den Text für Joseph II. verwiesen: „Da stiegen die Menschen ans Licht …“ Diese Worte bleiben in der „Fidelio“Fassung ungesungen. Dennoch hat Goldschmidt nicht unrecht, wenn er meint, in der Melodie klinge die aufgeklärte Lichtmetaphorik als Symbol für den „Weg zur Emanzipation und Menschenwürde“ an, jedoch fi ndet sich gerade hier überhaupt keine Spur einer Andeutung, dass Beethoven diesen Weg säkularisieren würde, wie Goldschmidt zu suggerieren scheint. Vgl. Die Ur-Leonore, in: Fidelio, hg. v. Attila Csampai / Dietmar Holland, a. a. O., S. 124. 107 Vgl. Attila Csampai / Dietmar Holland, a. a. O., S. 209.

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lassen. Die wirkliche Welt, singt man den Zuhörerinnen und Zuhörern zu, enthalte trotz allem Tigersinn in sich die Utopie des möglichen, von der vergehenden Zeit nicht zerstörbaren Glücks des freien und treuen Menschen. Noch ist dies unaussprechlich, und Beethoven bleibt seinem Realitätssinn treu, insofern er „dem C-Dur der orchestralen Schlussakkorde die Quinte nimmt und durch diesen hohlen Klang Zweifel am allgemeinen Jubel mit komponiert“,108 aber in der Musik des „Fidelio“ tönt sein Klang und erscheinen bilderlos seine Bilder.

108

Ulrich Schreiber, Die Kunst der Oper, Geschichte des Musiktheaters, Bd. III, Das 20. Jahrhundert. Von Verdi und Wagner bis zum Faschismus, Frankfurt a. M. 2000, S. 235.

Kapitel 2

Richard Wagners Weg von der Weltanschauung zur ästhetischen Religion Trotz Feuerbach: Die Opern der Erlösung – „Holländer“, „Tannhäuser“, „Lohengrin“ Kapitel 2 Trotz Feuerbach: Die Opern der Erlösung – „Holländer“, „Tannhäuser“, „Lohengrin“

Richard Wagner wurde am 22. Mai 1813 in Leipzig geboren und am 16. August in der Thomaskirche getauft, wenige Monate bevor in der sogenannten Völkerschlacht das Ende der napoleonischen Herrschaft eingeläutet wurde.109 Eine Umbruchszeit begann, die in Wellen das ganze 19. Jahrhundert durchzog, ihre Inhalte und Themen immer wieder auch änderte, aber selbst durch die immer wiederkehrenden restaurativen Entwicklungen nicht wirklich beruhigt werden konnte. Richard Wagner nahm an allen Entwicklungen dieses zwiespältigen Jahrhunderts regen Anteil. Seine Kunst verstand er nicht als l’art pour l’art, sondern als künstlerisch ausgedrückte Interpretation und Weg zur Veränderung der Welt. Als Wagner seit den vierziger Jahren seine schöpferische Kraft zu entfalten begann, hatte sich die europäische und damit auch die deutsche Welt seit seiner Jugend in allen Segmenten gesellschaftlichen und staatlichen Lebens grundlegend verändert. Der Siegeszug der Naturwissenschaften bewirkte nicht nur eine explosionsartige Vermehrung des Weltwissens, sondern prägte in Gestalt mehr oder weniger wissenschaftlicher Systeme das alltägliche Leben. Die Säkularisierung schritt im Zusammenhang mit den Modernisierungsschüben voran. Die Intellektuellen lasen seit der Romantik begierig die neuen Übersetzungen der alten indischen Epen und die Lehren des Buddha begeisterten nicht nur Schopenhauer. Die Religiosität vieler Menschen in den Eliten von Staat und Gesellschaft, aber vor allem in den schnell wachsenden Industriezentren, veränderte sich, lud sich synkretistisch auf oder verengte sich auf Ethik, wurde oft kirchenfeindlich oder ganz in vermeintlich säkulare Anthropologie verwandelt. Alles stellte Kirche und Theologie vor enorme intellektuelle und soziale Probleme. In Deutschland wuchs das Gefühl der Unterlegenheit gegenüber den europäischen Großmächten durch die Zersplitterung in viele Staaten. Nicht nur in der Politik, sondern auch in der Kulturszene besann man sich auf die nationale Einheit und griff auf als nationale Grundschriften verstandene literarische Quellen zurück. Das Nibelungenlied, die Märchen und Sagen, die mittelalterlichen Epen und die nordischen, germanischen Traditionen wurden neu entdeckt und als Material für eine auch kulturelle natio109

Die Biographie von Martin Gregor-Dellin, Richard Wagner. Sein Leben, sein Werk, sein Jahrhundert, München / Zürich 1980 ist nach wie vor unübertroffen. Aber auch: Martin Geck, Wagner, Biographie, München 2012 und Udo Bermbach, Mythos Wagner, Berlin 2013.

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nale Wiedergeburt benutzt. Wagner hat, lesewütig und bildungshungrig wie er war, diese Literatur verschlungen, und Sage und Mythos, auch aus der klassischen Antike, zu Quellen und Ausdrucksgestalten seiner Kunst gemacht. Die Zeit dazu verdankte er seinem Arbeitgeber, dem sächsischen König. Denn nach ruhelosen und erfolglosen Jahren und ständigen Finanzproblemen unter anderem in Riga und den Hungerjahren in Paris hatte er sehr zur Freude seiner Frau Minna im Herbst 1842 eine Anstellung als königlich-sächsischer Hofkapellmeister in Dresden bekommen. Schon in Paris hatte er, nach erfolglosen Versuchen, den französischen Stil der „Grand opéra“ zu kopieren, sich entschlossen seinen eigenen ästhetischen Vorstellungen verschrieben. Er hatte schon vorher Tiecks Erzählung vom Tannhäuser gelesen. In Paris stieß er auf ein Volksbuch, das Tannhäuser und den Sängerkrieg miteinander verband. Viel hatte er dem Philologen Samuel Lehrs zu verdanken, der ihm Literatur dazu, auch zum Lohengrinstoff, verschaffte und ihm eine neue Welt erschloss. Er war ein deutscher Jude, wurde Wagners Leidensgenosse „im Pariser Elend“ und die Bekanntschaft führte „bald zu einem der schönsten Freundschaftsverhältnisse meines Lebens“, wie er in „Mein Leben“ schrieb.110

Die Erlöserin Senta, das „Weib der Zukunft“ Die Erlöserin Senta, das „Weib der Zukunft“

Noch in Paris dichtet und komponiert er den „Fliegenden Holländer“ (1841). Damit beginnt sein eigentliches Werk. Später, in Bayreuth, verfügt er, dass nur die Werke ab dem „Holländer“ im Festspielhaus aufgeführt werden dürfen. Denn mit dieser Oper habe er, schreibt er, „eine neue Bahn eingeschlagen … Jetzt hatte ich … die Sprache der Musik vollkommen erkannt; ich hatte sie jetzt inne, wie eine wirkliche Muttersprache.“111 Gattungsmäßig ist der „Fliegende Holländer“112 eine Gespensteroper. In ihr greift er auf die homerische Figur des Odysseus zurück und verbindet sie mit dem faustischen Menschen, dessen Hybris ihn dazu bringt, sich mit dem Teufel einzulassen. Alles überlagert das antisemitische Ahasver-Motiv, das 1602 zum ersten Mal erwähnt wird und zur sakralen Erklärung für die Heimatlosigkeit und Verfluchtheit der Juden benutzt wurde. Der Jude Ahasver, so die Legende, hatte in Jerusalem dem zur Kreuzigung gehenden Jesus die Bitte abgeschlagen, sich bei ihm ein wenig auszuruhen. Stattdessen habe er ihn verlacht und in das allgemeine „Kreuzige ihn!“ eingestimmt. Zur Strafe für diese Mit-

110 Mein Leben, hg. v. Martin Gregor-Dellin, vollständige, kommentierte Ausgabe München 1983, S. 181, 182, 224. 111 Eine Mitteilung an meine Freunde (1851), GS Bd. 1, S. 145. 112 Die ersten Prosaentwürfe dazu waren in französischer Sprache abgefasst. Über die verwickelte Entstehungsgeschichte berichtet Bernd Laroche, Der fl iegende Holländer. Wirkung und Wandlung eines Motivs, Frankfurt a. M. u. a. 1993.

Die Erlöserin Senta, das „Weib der Zukunft“

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leidlosigkeit bestimmte ihn ein göttlicher Fluch zur Heimatlosigkeit und ewiger Wanderschaft bis zur Wiederkunft Christi.113 Der Unterschied zwischen Odysseus und „dem ewigen Juden“ besteht darin, dass diesem „als einziges Streben nur die Sehnsucht nach dem Tode“ blieb, während Odysseus eine irdische Erlösung blühte.114 Dem Holländer wurde durch die Gnade Gottes eine mögliche Erlösung aus seinem grauenhaften Schicksal verheißen: Alle sieben Jahre darf er mit seinem Schiff an Land gehen. Und wenn er eine Frau fi ndet, die ihm treu bis in den Tod ist, kann er erlöst werden. Nun ist „Erlösung“ ja weder ein genuin philosophischer noch ein politischer und schon gar kein ökonomischer Begriff, sondern fußt auf einer zentralen Idee der Religionen. Und genau darum kreist die ganze Geschichte in Wagners Oper. Sie hat einen musikalisch vermittelten „thematischen Keim“: die Ballade der Senta. Wagner schreibt zehn Jahre später, er habe in Text und Komposition dieser Ballade „unbewußt den thematischen Keim zu der Musik der ganzen Oper niedergelegt“115. In der ersten Strophe der Ballade wird das Schicksal des Holländers erzählt und gleich auf den Kern fokussiert: „Doch kann dem bleichen Manne Erlösung einstens noch werden, fänd’ er ein Weib, das bis in den Tod getreu ihm auf Erden!“ Und am Schluss, nach der Erzählung, verkündet Senta, die von Jugend auf von des Holländers Bild fasziniert war, den erschrockenen Mitspinnerinnen: „Ich sei’s, die dich durch ihre Treu’ erlöse! Mög’ Gottes Engel mich dir zeigen! Durch mich sollst du das Heil erreichen!“116 In der Musik erscheinen alle Motive, die gemäß der äußeren Handlung jetzt eigentlich gar nicht wichtig sind, aber Sentas innere Realität spiegeln: Sturm, Matrosen, Holländer, alle sind präsent und signalisieren die Elemente, aus denen Sentas Träume und Sehnsüchte bestehen – ja sogar ihr, gewiss mädchenhaft verklärtes, Lebensziel wird Klang. Denn es erklingt als ergäbe sich aus den anderen Motiven notwendig „das aus der Ouvertüre bekannte Erlösungsmotiv: es steht für Sentas innerste Triebkraft.“117 Das Ziel ihres Lebens ist, seit ihre Amme ihr die Ballade vorgesungen hat und sie ahnen konnte, worum es mit dem Holländer geht, die Erlösung dieses geheimnisvollen Mannes. Es geht um sein Heil, also den religiösen Komplementärbegriff zur Erlösung. Er gibt ihr ein Ziel. Erlösung ist das Ereignis, in dessen Verlauf von etwas Unheilem, wie z. B. dem Zustand der Welt, die Zerrissenheit und Todverfallenheit des Menschen gelöst wird. Das Heil bezeichnet dagegen den Zustand, den die Gottheit oder ihre äquivalente Heilspotenz für den erlösten Menschen oder die Gruppe bereit hält, verspricht, verheißt, und durch Anstrengung,

113 Das Ahasver-Motiv hat Wagner auch auf seine eigene private und künstlerische Existenz bezogen. Im „Parsifal“ erscheint es, verändert und mit anderen Traditionen verknüpft, in der Figur der Kundry wieder. 114 Eine Mitteilung, a. a. O., S. 94. 115 Eine Mitteilung, a. a. O., S. 152. Vgl. auch Carl Dahlhaus, Richard Wagners Musikdramen, 2. Aufl. Zürich u. Schwäbisch Hall 1985, S. 22. 116 Reclam Textheft, hg. und kommentiert von Egon Voss, Stuttgart 2004, S. 167 u. 328 –330. 117 Martin Geck, Wagner. Biographie, a. a. O., S. 69.

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Gericht oder andere Bedingungen oder Aufgaben erreichen lässt oder auch aus eigener Gnadenfülle einfach herbeiführt. Sentas Hingabe wird den Holländer erlösen von seinem Fluch. Schon bei seinem ersten Auftritt – „Die Frist ist um, vergangen sind sieben Jahr’“ – verkündet der Holländer, was ihn, nach unendlich vielen Enttäuschungen, dennoch auch jetzt wieder an Land getrieben hat: „Die Sehnsucht nach dem Heil.“ Senta ist bereit, den Holländer von seinem Fluch zu erlösen. Das Motiv und das Medium ihrer Tat ist ihre Liebe, die diesem geheimnisvollen und mit numinosem Schauder umgebenen Mann unter allen Umständen, sogar bis in den Tod treu ist. Senta ist bereit, ihren eigenen Untergang aus Liebe in Kauf zu nehmen. Die Liebe ist die erlösende Lebensbewegung – und, wie das Schlussbild und die Regieanweisung nahe legen, nicht nur im Bezug der Menschen zueinander, sondern als kosmisch erlösende Kraft. Wagner sieht in Senta das ästhetisch dargestellte utopische Modell der in der gesellschaftlichen Wirklichkeit noch ausstehenden Frau, die die vom männlichen Wesen zerstörte Welt retten und erlösen kann, weil ihre Liebe sogar den Tod nicht fürchtet. Sie ist ein „Weib, das sich aus Liebe opfert … ist das Weib überhaupt, aber das unvorhandene, ersehnte, geahnte, unendlich weibliche Weib … das Weib der Zukunft.“118 Der „Holländer“119 stellt gegenüber den frühen romantischen Opern eine wesentliche Veränderung dar, an der auch seine innere säkularisierende Tendenz erkennbar wird. In den romantischen Opern werden Geisterreich und Menschenreich deutlich getrennt. Wenn aus dem Geisterreich Mächte in die Welt eindringen, siegen die Menschen, und die Geister, Dämonen, Undinefiguren etc. verschwinden aus ihr. Die Ordnung ist wieder hergestellt. Das ist noch in Webers Freischütz, den Wagner sehr bewundert hat, so: „Durch demütiges Gottvertrauen und fromme Ordnungsliebe schützt sich die gefährdete Gesellschaft vor dem Einbruch des Dämons.“ Wagner dagegen interessiert die Durchdringung der beiden Sphären: Das Heil des Holländers bedeutet zugleich das Heil Sentas, das sie durch den Tod hindurch mit ihm erlebt. Und das beide Sphären vermittelnde Handlungselement ist die Liebe. Der säkulare Motivzusammenhang zeigt sich darin, dass dem dämonischen Part ein Mangel anhaftet, der sich in der sagenhaften Sehnsucht der Geister nach menschlicher Liebe und Wärme ausdrückt. In der Figur des Holländers wird dieses traditionelle Motiv jedoch so tief in die seelische Verfassung der Figur gesenkt, dass kein Zweifel bleibt: Es geht um einen in grauenhafter Einsamkeit verstrickten Menschen, dem alle Hoffnung vergangen ist: „Ohne Hoffnung, wie ich bin, geb‘ ich der Hoffnung doch mich hin!“ Dieser Seelenzustand übt eine eigentümliche Faszination auf den menschlichen Part aus: Senta ist bereit, von diesem fremden Gast in all seiner Verlorenheit fasziniert, 118

Eine Mitteilung, a. a. O., S. 95. Zu diesem Thema vgl. Susanne Vill (Hg.), „Das Weib der Zukunft“. Frauengestalten und Frauenstimmen bei Richard Wagner, Stuttgart / Weimar 2000. 119 Vgl. dazu Joachim Reiber, Wo sich die Geister scheiden, in: Die Wirklichkeit erfi nden …, a. a. O., S. 68 –77. Das folgende Zitat S. 76.

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alle vertraute Ordnung des Seemannlebens zu verlassen, um ihn zu erlösen. Diese Erlösung durch ihre Liebe bis in den Tod ist eine rein menschliche Tat. Sie verlässt sich ganz auf ihre Kraft, ist darin eine Fortsetzung von Beethovens Leonore. Die Verklärung der beiden im Schlussbild stellt klar, dass der Weg der Erlösung in die Einheit von Immanenz und Transzendenz von der Liebe, also von der Immanenz, ausgeht. Senta erlöst den „Dämon“, transzendiert ihre irdische Ordnung, indem sie Eric, den Vater und ihre Freundinnen verlässt, und „erobert“ sich die Transzendenz.

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Auch dieses Werk verarbeitet eine vom Christentum durchdrungene Sage, die Wagner aus verschiedenen Quellen für sich neu zusammenstellt. Er ist nicht der erste, der sich diesen mittelalterlichen Stoff vorgenommen hat.120 Auch steht die Liebe wieder im Zentrum des dramatischen Geschehens. Der Landgraf, eine absolut unangenehme und bigotte Figur, Repräsentant der Doppelmoral der höfischen Gesellschaft, war sich nicht zu schade, zur Beantwortung der Frage nach dem Wesen der Liebe einen Sängerwettstreit auszurufen und die Ehe mit seiner jungen Nichte als Preis auszuloben. Augenzwinkernd deutet er ihr an, dass der Sieger Tannhäuser sein könnte. Er deutet Elisabeths verwirrtes, aber deutliches Schweigen als Hinweis, dass sich zwischen seiner Nichte und dem Tannhäuser zarte Bande geknüpft hatten, bevor der Sänger plötzlich verschwand, die jetzt wieder aufgelebt sind. Dieser hatte, so erfahren wir später, seinen Hof verlassen, weil seine Kunst eine Entwicklung genommen hatte, die in erotischen Dingen nicht der Moral der thüringischen Gesellschaft entsprach und deretwegen es Streit mit den anderen Minnesängern gegeben hatte. Deren Kunst war im Rahmen der Tradition geblieben. Alles dreht sich um die zentrale Frage, ob es in einem sinnerfüllten und wahrhaftigen Leben möglich sei, Erotik und Religion miteinander zu verbinden, ohne das Leben schuldhaft zu verfehlen, also eine Sünde zu begehen. Auf den ersten Blick scheint das eine Frage zu sein, die sich zuerst und alleine an eine christlich dominierte Welt richtet. Denn, wenn Heines geschichtsphilosophische These, die Wagner offensichtlich ästhetisch teilt, stimmt, dass es die Idee des Christentums war, die Welt in zwei Prinzipien aufzuteilen: „dem guten Christus steht der böse Satan entgegen; die Welt des Geistes wird durch Christus, die Welt der Materie durch Satan repräsentiert; jenem gehört unsere Seele, diesem unser Leib; … und Satan, der Fürst der Finsternis will uns ins Verderben locken“121, dann ist erotische Sinnlichkeit

120 Über Wagners Quellen informiert Volker Mertens, Richard Wagner und das Mittelalter, in Wagner Handbuch, a. a. O., S. 21–26. Vgl. auch Dieter Borchmeyer, Richard Wagner, Ahasvers Wandlungen, Frankfurt a. M. und Leipzig 2002, S. 144 ff. 121 Heinrich Heine, Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland, Sämtliche Werke Bd. IX, hg. v. Hans Kaufmann, München 1964, S. 167.

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Sünde. Und wenn es stimmt, dass das Christentum die alten heidnischen und sinnenfreudigen Religionen nicht ausgemerzt, sondern nur vertrieben hat, und diese alten Götter sich in die Höhlen und Grüfte zurückgezogen haben, aber unter der Oberfläche stets präsent sind, um die Menschen in ihren mit Sünde verbundenen Bann zu ziehen, dann geht diese Frage an die alten Religionen gerichtet ins Leere. Tannhäuser will ja den Venusberg nicht wegen plötzlicher Sündennot verlassen, sondern aus ganz anderen Gründen. Denn es gehört ja geradezu zum inhaltlichen Kern der verdrängten Religionen, dass ihre Gottheiten, vor allem ihre Göttinnen, wie die Glück, Leben, Fruchtbarkeit und Ordnung schenkende Hulda, Erotik und Glauben miteinander verbinden können. Es lässt sich jedoch zeigen, dass Wagner zwar theoretisch Heines These und manche romantischen Vorstellungen teilt, in der Oper selber, in der Behandlung des Stoffes aber die Problemstellung auf die heidnische Venusreligion ausweitet und damit die Frage ins Prinzipielle überführt: Passen Religion und Eros grundsätzlich so zusammen, dass Menschen in diesen beiden Ausdrucksgestalten ihres Daseins ihr Glück finden können? Oder schließen sie sich für das gelebte Leben, und das heißt, für das seine sinnlichen Bedürfnisse befriedigende Leben, aus? Sollte das Letztere zutreffen, dann müssten, wenn Wagner mit seinen revolutionären und eudämonistischen Ideen ernst machen würde, die Menschen auf eine radikale Veränderung ihrer privaten und gesellschaftlichen Verhältnisse hinarbeiten und durch Revolution eine neue, religionsfreie Gesellschaft etablieren. Die Revolution hätte eine säkulare, von der traditionellen Religion emanzipierte Gesellschaft zum Ziel, die endlich dem Individuum die Freiheiten garantieren müsste, die es zur Entfaltung seiner Persönlichkeit und zur Befriedigung auch seiner sinnlichen, erotischen Sehnsüchte und Bedürfnisse brauchte. Genau diese Konsequenz ergäbe sich aus seiner philosophischen Weltanschauung und den sozialen Überzeugungen, die ihn dazu getrieben hatten, das Christentum und schließlich Religion generell als Fiktion anzusehen und aktiv in die Dresdner Revolution einzugreifen. Der „Tannhäuser“ müsste dann eine Revolutionsoper sein und im Sinne seiner politischen Manifeste von 1848 / 49 den von der säkularen Göttin „Revolution“ befreiten Menschen feiern, oder zum Umsturz aufrufen. Oder wenigstens „ein Weib der Zukunft“ darstellen, wie es im Holländer Senta war. Für den Ernst, mit dem Wagner diesen revolutionären Lebenseinstellungen bei allen Schwankungen treu geblieben war, stehen die vielen Jahre seines Exils und die bitteren Zeiten seiner künstlerischen Erfolglosigkeit und der über Jahre sich hinziehenden, jedenfalls musikalischen, Schaffenskrise, die er allerdings mit theoretischen Arbeiten von hohem Rang überbrücken konnte.122 Die Oper eröffnet mit einer furiosen Ouvertüre, die vor allem in der Pariser Fassung dem frommen Pilgersang in einem erotisch exzessiven Ballett das ekstatische, aber dennoch auch durch das beruhigende Erscheinen der drei Grazien wieder wohlgeordnete 122

Das muss so gesagt werden, auch wenn zu diesen Schriften der Zürcher Zeit auch das unsägliche Pamphlet „Über das Judentum in der Musik“ gehört.

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Chaos des Venusberges und seinen mythologischen Figuren gegenüberstellt.123 Im ersten Bild lässt Wagner die Utopie eines ewig sinnlichen, alle erotischen Sehnsüchte ohne Umschweife und ohne Schuldempfi ndungen erfüllenden Daseins im Reich der Venus erscheinen. Mitten im Schoß der Venus liegt, von der Liebe ausruhend, der Sänger. Das ist keineswegs ein kindliches, sondern für das Publikum des 19. Jahrhundert durchaus anstößiges, erotisches Bild. Tannhäuser berichtet ihr von einem Traum, der ihn erkennbar nachdenklich gestimmt hat. Er hörte vertraute Stimmen und Geräusche aus der Welt, die er verlassen hat: Naturlaute wie Vogelstimmen, aber auch Glocken. Sie wecken in ihm die Sehnsucht, wieder dort zu sein. Venus fordert ihn verstimmt auf, sein gestilltes Begehren und seine in der Venusreligion befriedete Existenz in einem Preislied auf die Göttin hymnisch zu bestätigen. Sie fordert eine Doxologie. Aber die misslingt. Aus dem verlangten Hymnus wird unwillkürlich stets ein Abschiedslied, gipfelnd in der mehrfach vorgetragenen Bitte: „Göttin, lass mich ziehn!“124 Was ist geschehen? Warum will Tannhäuser die Göttin verlassen, wo ihm doch im Blick auf das, was er bei ihr gesucht hat, nichts fehlt? Das macht ein Vergleich mit einem anderen Flüchtling klar, an dessen Schicksal Wagner sich orientierte und der auch von einer Liebesgöttin festgehalten wurde: Homers Odysseus.125 Odysseus fl ieht aus den Armen der Nymphe Kalypso. Sie hat ihn bei sich mit der steten Gegenwart des Eros umgeben, jeder Augenblick seines Daseins war mit Eros erfüllt, ein Dasein, das nur den Göttern, nicht den Menschen vergönnt sein kann. Denn anders als die sterblichen Menschen leben die Götter in ewiger Lust. Daher hatte ihm die Nymphe Unsterblichkeit zugesagt. Damit hat sie aber die bei Homer stets vorausgesetzte und immer gewahrte Weltordnung verletzt: Götter und Menschen sind prinzipiell voneinander hierarchisch getrennt. Die seligen Götter haben ein leichtes Leben. Zwar gibt es auch bei ihnen heftigste Konfl ikte, Eifersucht, Parteiungen und Illoyalitäten, was sich zum Beispiel im Trojanischen Krieg furchtbar für die Menschen zeigt.126 Aber die Folgen ihrer Streitereien haben nicht sie, sondern die Menschen zu tragen. Sie selber haben ein leichtes Leben. Die Menschen, die sowieso nur mit Mühe und Schmerz ihr Leben fristen und die wenigen Momente des Glücks oft noch nicht einmal genießen können und dem Tod verfallen sind, müssen das erleiden, was die Götter ihnen an wechselnden Schicksalen bereiten. Kalypso will diese Grenze der Weltordnung zwischen den 123

Vgl. Peter Steinacker, Richard Wagner und die Religion, Darmstadt 2006, S. 26 ff.; Hans Mayer, „Tannhäuser“ und die künstlichen Paradiese, in: Anmerkungen zu Richard Wagner, Frankfurt a. M. 1960, S. 60. Dieter Borchmeyer, Venus im Exil, in: Richard Wagner, a. a. O., S. 158 f., verweist auf Botticellis „Prima Vera“ in Edgar Winds Interpretation. 124 Tannhäuser, Textbuch der letzten Fassung mit Varianten der Partitur und der vorangehenden Fassungen, hg. v. Egon Voss, Stuttgart 2001, S. 70. 125 Eine Mitteilung … a. a. O., S. 118. 126 Nebenbei: Das Blutbad, das die Götter wegen ihrer wechselnden Unterstützung der beiden Lager vor Troja anrichten, ist ein Argument gegen die These, der Polytheismus sei dem Monotheismus vorzuziehen, weil er friedlicher sei.

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Göttern und den Menschen verwischen und Odysseus für sich behalten. Würde er Mensch bleiben, würde Zeus ihn, wie schon Andere vor ihm, töten. Darum muss er ein Gott werden. Diese Absicht wird von zwei Seiten durchkreuzt. Zeus befiehlt ihr, diese Vermischung zu beenden und Odysseus wieder frei zu geben.127 Der Gott wacht über die Weltordnung, die er selber aufgerichtet hat. Er lässt sich auch von einem Argument nicht beeindrucken, das bei Wagner auch im Lohengrin eine Rolle spielt. Kalypso wirft ihm nämlich vor, er und die Olympier seien nur neidisch auf ihr Glück, das sie der Liebe eines sterblichen Menschen verdanke. Aber auch Odysseus will die Nymphe verlassen. Obwohl er die göttliche Liebe auch genossen hat, kann und will er Penelope nicht vergessen: „Er saß an der Küste. Sein Auge ward niemals trocken von Tränen; die süßen Tage des Lebens verrannen. Heimkehr! war seine Klage; die Nymphe war ihm zuwider.“128 Odysseus bemerkt, dass unter dem Augenschein ewiger Lust seine beste Zeit als zeitlicher, endlicher Mensch verrinnt. Er hat die Ewigkeit der Götter eben nur als Verheißung der Nymphe, nicht als Realität. Er weiß genau aus dem bisherigen Verlauf seines Weges zur Heimat, dass die Heimkehr nicht ohne Leiden sein wird. Aber, indem er seine Menschheit gegen die göttliche Nymphe ins Spiel bringt, wird deutlich, dass menschliche Liebe von der ewigen göttlichen Lust unterschieden ist. Die menschliche Liebe ist dem Wechsel unterworfen, kennt die Erfahrung ihrer Abwesenheit und des Schmerzes ebenso wie die des rauschhaften, hellen Glücks, in denen ihnen Aphrodite erscheint – und wieder verschwindet. Und die Heimkehr zur menschlichen Frau und ihrer Liebe ist ihm lieber als die ewige, unwandelbare Süße der göttlichen Erotik der Nymphe. An dieser Stelle sitzt die Analogie zwischen Odysseus und Tannhäuser. Beide wollen die Liebesgöttin verlassen, weil sie bemerken, dass sie im Bereich der göttlichen Liebe das Wichtigste verlieren, was zum Menschsein des Menschen gehört: die Liebe, die der Zeit und damit dem Wechsel unterworfen ist. Sie entdecken beide die für sie nur unter Verlust des Menschseins mögliche Zeitlosigkeit. Die Zeit und die damit verbundenen Elemente des Wechsels und der Endlichkeit gehören zum menschlichen Sein. Sie charakterisiert beides als die Natur des Menschen im Unterschied zu den ewigen Göttern. Das bedeutet eine tiefe Differenz zwischen der Liebe der Götter und der Liebe der Menschen. Die Liebe der Menschen bleibt sich in ihrem Ausdruck nicht ewig gleich, sondern erlebt Schwankungen, glückliche und unglückliche Zeiten, wie es das Auf und Ab des Lebens eben so mit sich bringt, ohne damit an Treue zu verlieren. Die göttliche Liebe der Kalypso wie der Venus kennt diese Schwankungen nicht, sie ist zeitlos. Ihre Lust ist niemals mit Schmerz verbunden. Denn Schmerzen der Liebe kennt man nicht im Bereich der seligen Götter. Selbst Heras häufige Eifersucht fügt ihrem Sein keinen Mangel zu. Sie ärgert sich nur. Als Odysseus und Tannhäuser dies bemerken, haben die

127 128

Od. V,136. Übertragung Anton Weiher, 6. unv. Aufl ., München 1980. Od, V,151–153.

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Göttinnen ausgespielt und ihre Anziehungskraft verloren. Sie haben von göttlicher Liebe einfach genug. Schon einmal, im Zusammenhang mit Beethovens „Fidelio“, war die Zeit zum Thema geworden. Dort standen wir vor ihrer Rätselhaftigkeit, ob sie überhaupt „ist“, und dem merkwürdigen Sachverhalt, dass die Zeit sich entzieht, sobald man sie begreifen will. Die Zeit ist die transzendentale Voraussetzung unseres Denkens und Lebens, auch wenn wir nicht genau wissen, was sie ist. Um mit ihrer geheimnisvollen Struktur umgehen zu können, was wir ja müssen, formen wir sie so, als ob sie immer wiederkehren würde, obwohl wir wissen, dass es nicht so ist. Wir ordnen die Zeit, indem wir sie so einteilen, dass wir jedem Tag die gleiche Anzahl Stunden zumessen, die Wochen, Monate und Jahre so einteilen, also ob sie sich gleichen würden. Wir geben ihr in den religiösen Festen die Struktur der Wiederkehr des Gleichen, obwohl es nichts Gleiches gibt, das wiederkehren könnte. Aber diese Struktur schafft auf dem unwiederbringlichen Zeitstrahl Inseln der Verlässlichkeit, die die Voraussetzung von Handeln, Sozialität und Erkennen ist.129 In der menschlichen Liebe wandert die Zeit in die Liebe ein. Daher sind wir auch in der Liebe auf Inseln der Verlässlichkeit angewiesen. Überraschend ist, dass sowohl der Wechsel der Liebesintensität, als auch der Wechsel der geliebten Menschen oder auch der Formen der Liebe im Wechsel der Lebensalter zur menschlichen Liebe gehören, so wie auch die Ständigkeit der Treue, deren Ausdrucksformen vielfältig sind und wechseln, sich verändern kann. Daher ist reine Lust ohne Schwankungen kein erstrebenswertes Ziel für die menschliche Liebe. Das wird Odysseus und Tannhäuser klar, und so fl iehen sie zu ihren Inseln der Verlässlichkeit. Der eine zu Penelope, der andere weniger fest aber auch zielgerichtet, zu Elisabeth. „Tannhäusers Mangel im Venusberg ist die Überfülle … Von dieser Ewigkeit der Liebe hat er einfach ,zu viel!‘“130 Allerdings gibt es einen wesentlichen Unterschied zwischen Homer und Wagner im Zusammenhang der Flucht ihrer Helden aus den Armen der Liebesgöttinnen. Bei Homer ist die Nymphe dem Göttervater Gehorsam schuldig. Er sorgt für die Wiederherstellung der Weltordnung, indem er der Nymphe befiehlt, den Heimkehrer aus Troja wieder ziehen zu lassen. Der Gott regelt die Angelegenheit, nicht Odysseus. Der kann nur sehnsuchtsvoll am Strand sitzen. Aber er kann nicht die Initiative übernehmen, die bleibt dem Gott. Im "Tannhäuser“ fehlt die über die Weltordnung wachende Gottheit. Venus ist nur die Herrin in ihrem Bereich. Und ihre Behauptung, wenn Tannhäuser sie verlassen würde, würde die Welt ein Fluch treffen und sie würde öde daliegen, wenn die Göttin aus ihr verschwinden würde, ist haltlos. Denn sie ist schon längst aus der Welt in ihre Grotte vertrieben und die Welt dreht sich weiter – und, wie man an Tannhäuser

129 Das Bild der Inseln der Verlässlichkeit versucht Platons Gedanken aus dem „Timaios“ in ein Bild zu übertragen, dass wir durch die Kreisform, die wir der Zeit beilegen, indem wir sie nach Zahl im Kreis laufen lassen, die Ewigkeit nachahmen, also den bewegten Kosmos seinem Vorbild, dem ewigen Sein immer ähnlicher machen, Ti 37c–38a. 130 Peter Steinacker, a. a. O., S. 33.

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sehen kann, die Welt ist auch nicht ohne Liebe. Tannhäuser bittet zwar noch, sie möge ihn ziehen lassen, aber das ist nur eine rhetorische Verstellung der Tatsache, dass er sein Schicksal in die Hand nimmt – und seine Rückkehr keinem Gott verdankt. Insofern dringt der Gedanke der Säkularisierung in Verbindung mit dem homo compensator auch in die Grotte der Venus ein. Nun hat sich Wagner aus theologisch kaum nachvollziehbaren Gründen entschieden, den schlagartigen Untergang der Venuswelt durch den Ausruf Tannhäusers: „Mein Heil liegt in Maria!“ geschehen zu lassen. Bis zu diesem Ausruf ist nicht erkennbar, dass Tannhäusers Christlichkeit Maria im Fokus hat. Theologisch kommt dieser Ausruf überraschend, weil nicht anzunehmen war, dass am thüringschen Hof eine den dogmatischen Rahmen weit übersteigende Marienfrömmigkeit geübt würde. Erst im dritten Akt, im Gebet der Elisabeth, kommt Maria wieder ins Spiel. Diese Lücke hat gute theologische Gründe. Die Marienverehrung hat zwar ganz viele Attribute antiker Göttinnen auf Maria übertragen – sie aber allesamt von jeder Erotik, gar Sexualität gereinigt. Maria ist insofern anders als die Venus keine deckungsgleiche Inkarnation einer uralten Fruchtbarkeitsgöttin131, weil ihr selber die Erotik fehlt.132 Maria ist und bleibt die jungfräuliche Gottesmutter, selber schon „unbefleckt empfangen“. Zwar hilft Maria, nach der dogmatischen Überzeugung einiger christlicher Kirchen und vor allem des Volksglaubens, auch bei sexuellen Problemen. Viele Votivtafeln zeugen davon. Aber Maria selber ist und bleibt jungfräulich asexuell, die reine Magd wird Himmelskönigin, nicht immer in der Kunst, wohl aber in der Dogmatik.133 Und dogmatisch sucht selbst der marienfrömmste Katholik sein Heil nicht in Maria, sondern natürlich wie alle Christenheit auf Erden in Jesus Christus – oder er ist nicht mehr katholisch. Die Wagnerschen Formeln von Maria als „des Himmels Mittlerin“ oder gar „Allmächt‘ge Jungfrau“ sind zumal vor den späteren Mariendogmen dogmatisch obsolet und passen auch dramaturgisch nicht zum erlösenden Schluss. Gott selber und nicht Maria schenkt das Heil, um das vor seinem Thron gebeten wurde.134 Die alte theologische Unterscheidung zwischen Heil und 131 Das zumindest meint Ulrike Kienzle, … dass wissend würde die Welt! Religion und Philosophie in Richard Wagners Musikdramen, Würzburg 2005, S. 92. Und ob die germanisch-keltische Holda „älter“ ist als die Venus, deren Ursprünge weit in die vorantike Mythologie reichen, ist sehr unsicher. 132 Für solche sexuelle Entmachtung gibt es schon in der vorchristlichen Antike Vorbilder. So wurde die Artemis, einstmals die „Löwin der Weiber“ und keine agrarische, sondern eine vegetative Gottheit, von den Griechen zur Keuschheit verpfl ichtet. Sie holte nicht länger Männer in ihren Schoß, sondern sträubte sich gegen sie, „die ihr bisweilen nachstellten, um sie nackt beim Baden zu beobachten. Diese Diana sollte später mit der Heiligen Jungfrau verglichen werden“, Hans-Peter Duerr, Traumzeit. Über die Grenze zwischen Wildnis und Zivilisation, Frankfurt a. M., 1978, S. 60. 133 Deswegen lehnt es die katholische Dogmatik, gegen den Wortlaut der biblischen Überlieferung, ab, von Brüdern und Schwestern Jesu zu sprechen. Maria und Joseph führten, dogmatisch gesprochen, eine „Josephsehe“. 134 Egon Voss stellt die veränderten Fassungen des Tannhäuser und die dramaturgischen Probleme zusammen: Wagners unvollendeter Tannhäuser. Ein wichtiges Stück Bearbeitungsge-

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Wohl klärt die „Zuständigkeitsbereiche“. Für das irdische Wohl können die Heiligen, zumal Maria, aktiv etwas tun. Für das Heil können sie nur fürbittend eintreten, weil dafür allein Christus im trinitarischen Verbund „zuständig“ ist. Tannhäuser hat nun den thüringischen Hof nicht verlassen, weil er Askese oder mütterliche Liebe suchte. Er musste ihn verlassen, weil die erotische Färbung seiner Kunst zwar in der pubertierenden Elisabeth seltsame Gefühle erzeugt hat, aber diese Kunst von seinen Kollegen und am Hof nicht gelitten war. Und er war auf der Suche nach der Menschwerdung durch ein liebendes „Du“, wie Wagner viel später in seinem berühmten Brief an August Röckel schreibt: „Allein der wirkliche Mensch ist Mann und Weib, und nur in der Vereinigung von Mann und Weib existiert erst der wirkliche Mensch, erst durch die Liebe wird daher der Mann, wie das Weib – Mensch.“135 Er suchte nicht Maria, er suchte die Liebe einer wirklichen Frau. Das Zauberwort, das ihn wieder an den Hof zurückbringt, heißt darum auch nicht Maria, sondern Elisabeth. So klingt die Anrufung Mariens dramaturgisch wie eine Zauberformel, die das wiederholt, was das Christentum mit allen heidnischen Gottheiten gemacht hat: Sie zwingt sie zum Verschwinden. So, nämlich als eine „das Wunder der Entzauberung“ verständlich machende Formel, hat Wagner sie auch verstanden.136 Tannhäuser verlässt die Venus um der Liebe willen und um wirklicher Mensch zu bleiben und liebend zu werden. Das kann die Venus nicht verstehen, weil sie die Zeitlichkeit nicht verstehen kann, die zur menschlichen Liebe dazugehört. Zu Recht beharrt Tannhäuser aber darauf, dass sein Lieben nie größer gewesen ist als jetzt, da er sie verlässt. Denn der Eros gehört ja zur Utopie der Liebe, der er anhängt, aber eben anders als in der göttlichen Liebe der Venus, nämlich aus Freiheit und nicht aus Notwendigkeit. Die Venus genügt nicht den Maßstäben, an denen Tannhäuser die Größe der Liebe misst, die sind nämlich humaner Art. Ohne Eros gibt es diese wahrhaft menschliche Liebe der Freiheit, die auch den Schmerz in sich aufnehmen kann, auch nicht. Aber der Eros ist eingebunden in die menschliche Zeitlichkeit, also auch dem Wechsel des zugleich doch ewigen Werdens und Vergehens. Das Humane steht über dem Göttlichen, das ist die religionskritisch entzaubernde Botschaft, die Tannhäusers Auszug aus dem Reich der Venus unterlegt ist. Es ist keine Lüge, wenn Tannhäuser der Venus verspricht, immer ihr „kühner Streiter“137 zu sein, weil das erotische Element nicht verdrängt, aber verwandelt wird, wenn Tannhäuser sich der humanen Liebe zu einer wirklichen Frau, zu Elisabeth, hinwendet. schichte, in: Die Wirklichkeit erfi nden, a. a. O., S. 78 – 85. Wagners Streichung des Gesangs der jüngeren Pilger im Schlussbild in der Fassung von 1847 ist „der Versuch zur Lösung eines dramaturgischen Problems: der Frage nämlich, ob sich die szenische Darstellung mehr auf das Opfer Elisabeths oder mehr auf die Gnade Gottes als Auslöser von Tannhäusers Erlösung zu konzentrieren habe“, S. 81 f. 135 Brief an August Röckel, Zürich, 25. / 26. Januar 1854, in: Richard Wagner Briefe, ausgewählt, eingeleitet und kommentiert von Hanjo Kesting, München / Zürich, 1983, S. 278. 136 Das wird klar in seinen Erinnerungen an Ludwig Schnorr von Carolsfeld, GS 2, S. 148. 137 Tannhäuser, a. a. O., S. 107.

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Und erst jetzt, nach dem Hinausgehen aus der Zivilisation des Hofes in das „draußen“, mythologisch gesprochen in den „Uterus der Allgebärerin“, ist er reif für das „Drinnen“, das Leben in der Zivilisation, dem der Eros zwar verwandelt, aber nicht fremd zum Lebenselixier geworden ist. Wildheit und Sanftheit, Chaos und Gestalt gehören zusammen in einen Reifevorgang. Wagner verfolgt, vielleicht eher unbewusst, aber von der Gewalt seiner mythologischen Stoffe dazu gedrängt, eine Spur, die sowohl bei Homer als auch in der Tannhäusersage aufbewahrt ist und in archaischen Gesellschaften bis heute Welterkenntnis und Daseinsgewissheit leitet: „Leben wird nur durch Sterben wach“ (Joachim Wach). Anders gesagt, die archaischen Menschen hatten „noch die Einsicht, dass man seine Welt verlassen musste, um sie erkennen zu können, dass man nur ,zahm‘ werden konnte, wenn man zuvor ,wild‘ gewesen war, oder dass man nur dann in der Lage war, im vollen Sinne des Wortes zu leben, wenn man die Bereitschaft gezeigt hatte, zu sterben.“138 Der Gang Tannhäusers in den Venusberg ist ein Initiationsvorgang, der nötig ist, um ein neuer Mensch zu werden. Jedoch dazu muss er wieder heraus aus ihrem Reich. Das „Drinnen“ und das „Draußen“ gehören zusammen, sind verschiedene Qualitäten der einen Zeit und des einen Raumes, der Welt. Wenn er die Venus wieder verlässt, hat er eine reifere Form der Liebe gewonnen, weil er das „wahre Wesen der Liebe“ nun kennt, das die Venusliebe hinter sich gelassen und doch mitgenommen hat. Elisabeth, die ersehnte Frau, gehört jedoch einer Gesellschaft an, deren Einstellung zur Liebe für Tannhäuser problematisch geworden ist. Für die bigotte Variante steht der Landgraf. Auf ihn trifft das zu, was Heine über den Katholizismus generell gehöhnt hat: Dort darfst du „den zärtlichen Regungen des Herzens Gehör geben und ein schönes Mädchen umarmen, aber du mußt eingestehen, dass es eine schändliche Sünde war, und für diese Sünde mußt du Abbuße tun.“139 Tannhäuser will von der Venus weg, zunächst ohne einen einzigen Gedanken an eine Sünde und ihre Vergebung zu verschwenden. Das passt ganz zum Reich der Venus, denn „der Ursprung ist sündlos. Wo es keine Normen mehr gibt, können auch keine Normen übertreten werden.“140 Dort gibt es nur vorübergehende Dämpfung der Wildheit, wie beim Auftritt der drei Grazien. In den Fassungen von 1845 – 60 taucht der Bußgedanke völlig überraschend auf, als die Venus ihm die Möglichkeit andeutet, dass alle (zivilisierte) Welt ihn verstoßen würde. In der späteren, letzten Fassung ist Tannhäuser zur Askese entschlossen und behauptet, er suche nicht „Wonn‘ und Lust“, es dränge ihn vielmehr der Tod. Venus fragt ihn, was er tun würde, wenn selbst der Tod ihn meiden würde, ihm also das Schicksal Ahasvers und des Holländers bevorstehe. Damit zeigt sie sich als Todesgöttin, wie es auch Kalypso und Holda gewesen sind. Tannhäuser antwortet fast in der Sprache Parsifals, in jedem Fall aber des modernen Individuums, das „von innen“ her denkt: „Den Tod, das Grab im 138 139 140

Hans Peter Duerr, a. a. O., S. 58. Zur Geschichte der Religion und Philosophie, a. a. O., S. 180. Hans Peter Duerr, ebd.

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Herzen, durch Buße fi nd‘ ich Ruh‘.“141 Unklar bleibt, für welche Schuld Tannhäuser eigentlich büßen will, es sei denn, man sieht die Katastrophe des zweiten Aufzugs und das Wort des Papstes von „der Hölle Glut“ im dritten Aufzug voraus und trägt sie gedanklich ein. Aber auch dort ist ihm die Sünde immer von der Umwelt angetragen. So wird der Gedanke, die Erotik habe stets den Hof der Sünde um sich, erst dann präsent, als der entronnene Tannhäuser in einem schönen Tal unter blauem Himmel – Wagner verlangt im Vordergrund ein Muttergottesbild – der ersehnten Welt als neuer Mensch wieder begegnet. Ein junger Hirt, hörbar noch nicht vollständig christianisiert, besingt „Frau Holda“ (und nicht Maria), bittet aber die nach Rom ziehenden Pilger, in Rom für seine arme Seele zu beten. Aber die Welt zeigt sich dem neuen Menschen als die unverändert alte. Und so sinkt Tannhäuser ergriffen auf die Knie, dankt dem Allmächtigen für seine Gnade, und fühlt sich von unerträglicher Sünden Last niedergedrückt. Jetzt, in der ihm von früher vertrauten Welt, wird der Schuldgedanke aktuell: „wie von Eisenach herkommend“ hört man das Geläute von Kirchenglocken.142 Das sind nicht mehr die Glocken, deren „froh Geläute“ er im Traum gehört hatte, deren traute Klänge seiner Sehnsucht eingebunden waren in „des Waldes Lüfte … unsres Himmels klarem Blau“ und dem Grün der Au, dem lieben Sang „unserer Vöglein“, also in die Naturszene. Jetzt repräsentieren die Glocken die Sinnlichkeit einschränkenden Normen der Zivilisation des thüringschen Hofes. Der Sündendruck wird atmosphärisch noch verstärkt, als er durch puren Zufall seinen alten Kumpanen wieder begegnet. Für die höfische Moral ist freier Eros eben nicht möglich, es sei denn, er wäre durch die Ehe legalisiert. Aber wie sähe eine Ehe aus, in der man den „Wunderbronnen“, die geliebte Frau, nicht berühren dürfte? Der hervorragende Vertreter ihres Liebesbegriff ist nicht der bigotte Landgraf, sondern der im Blick auf Elisabeth nicht ganz ohne Eigeninteresse agierende Wolfram von Eschenbach, Tannhäusers Freund und verdeckter Rivale, der dennoch sein späterer Retter wird. Im Sängerwettstreit, den er eröffnen darf, trägt er seine Vorstellung vom Wesen der Liebe vor und erntet dafür den Beifall des Hofes. Im Grunde gibt er mit seinem Bild vom Brunnen, dessen Wasser man nicht trüben, in dem man sich nur spiegeln darf, die Ideologie des mittelalterlichen Minnesangs wieder. Die Sinnlichkeit konnte mit den glühendsten Farben ausgemalt werden, die Geliebte, die „Hohe Frouwe“, mit allen nur denkbaren erotischen Bildern angebetet werden – aber aus diesen Sehnsüchten durfte niemals Realität werden.143 Immerhin ist der Brunnen ein „Wunderbronnen“,

141 A. a. O., S. 186 f. Dieter Borchmeyer, a. a. O., S. 194 –196 weist darauf hin, dass sich hier zwei Motive überlagern, die ursprünglich nichts miteinander zu tun haben: Die Sünde, bei der Venus gewesen zu sein, und die Sünde Tannhäusers, sein erotisches Begehren auf Elisabeth gerichtet zu haben. 142 Regieanweisung Wagner. 143 Vgl. Arnaud des la Croix, Liebeskunst und Lebenslust. Sinnlichkeit im Mittelalter. Aus dem Französischen von G. Hartmann, Darmstadt 2003.

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was auf seine sakrale Aura verweist.144 Wolfram ist dieses Bild beim Aufblick „zu einem nur der Sterne“ gekommen, „der an dem Himmel, der mich blendet, steht“145. Dieser Stern ist, wie auch bei seinem zweiten Sternenlied, die Venus, der Abendstern, aber in Überblendung mit Maria. Denn Wolfram interpretiert die Preisfrage des Landgrafen nach dem Wesen der Liebe als Frage nach „der Liebe reinste[m] Wesen!“, während Tannhäuser, in seinem wütenden Protest gegen Wolframs Lied vom unberührbaren Wunderbronnen, ihm seine Sicht von „der Liebe wahrste[m] Wesen“ entgegenschleudert.146 Diese Einsicht war ja das Ergebnis seines Aufenthaltes bei der Venus und die konnte Wolfram natürlich nicht haben. Obwohl Tannhäuser der Venus in der späten, nachschopenhauerschen Fassung eine asketische Zukunft vorgegaukelt hat, richtet sich seine neu errungene Liebe sofort wieder auf Elisabeth, kaum dass er in die Welt zurückgekehrt ist. Denn nun versucht er, seine Utopie der wahren Liebe zu leben, zu der er jetzt wirklich und nicht mehr nur als Künstler, als Sänger reif geworden ist: „in süßem, ungestümen Drängen ruft laut mein Herz: zu ihr, zu ihr!“147 Im Gespräch mit Elisabeth, die nach ihrer „Hallenarie“ ihn um die Lösung der Rätsel bittet, die das Wunder der erwachenden Liebe in ihrem Herzen ausgelöst hat, deutet er dieses Wunder als eine Gottestat: „Den Gott der Liebe sollst du preisen, er hat die Saiten mir berührt, er sprach zu dir aus meinen Weisen, zu dir hat er mich hergeführt!“148 Und in einem Liebesduett, dessen Vorbild deutlich Beethovens Duett von Leonore und Florestan nach dessen Befreiung ist, preisen sie jubelnd das neue Leben, das Tannhäuser „neu erkannt“ hat und zu dem Elisabeth „erwacht“ ist.149 Tannhäusers Utopie besteht in einem liebegetränkten Leben, in dem Eros und Religion keine Gegensätze sind. Der Gott der Liebe bewegt den Künstler zum Hervorbringen seiner Kunstwerke. Und der gleiche Gott der Liebe erweckt die Liebenden, als Mann und Frau sich erotisch zu vereinen. Das ist das schönste Wunder des von Tannhäuser neu erkannten Lebens. Theologisch signalisiert das die typisch christliche Aufhebung des Gegensatzes zwischen heilig und profan. In der profanen Liebe ist der Heilige präsent. Und der heilige Gott fi ndet in der erotischen Liebe der Menschen, die er schenkt, seine Gegenwart. Wie die Geschichte ausgeht, ist bekannt. Tannhäusers Wut über die hohlen Gesänge seiner Gegner verführt ihn dazu, nicht seine reife, menschliche Liebe zu preisen, son144

Zum Motiv des Brunnens als Zentralsymbolik des Weiblichen, vgl. Erich Neumann, Die große Mutter. Die weibliche Gestaltung des Unbewussten. Düsseldorf, 11. Aufl. 1997, Bes. S. 59 u. S. 212. Hilfreich ist auch Tizians Bild „Irdische und himmlische Liebe“ (ca. 1514), zur Interpretation vgl. Edgar Wind, Himmlische und irdische Liebe, in: Heidnische Mysterien in der Renaissance (1958), 3. Aufl. Frankfurt a. M. 1984, S. 165 –176. 145 A. a. O., S. 445 f. 146 A. a. O., S. 475. 147 A. a. O., S. 294 f. 148 A. a. O., S. 362–365. 149 A. a. O., S. 378 bzw. 373. Anders als bei Beethoven dreht sich hier alles um den Eros.

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dern die Venus. Also nicht das Gemeinsame von Drinnen und Draußen auf dem Weg zur Menschwerdung, sondern nur die Initiation, ohne Durchgang. Ein schlimmer Rückfall in die Unreife. Und Elisabeth hält nicht zu ihm, obwohl sie, laut Regieanweisung, seiner wütenden Attacke auf Wolframs Gesäusel eigentlich zustimmen wollte, sich aber dann schüchtern zurückhält, als alle anderen „in ernstem Schweigen verharren“150. Als er dann die Venus als Quelle alles Schönen besingt und jedes holde Wunder, also auch das Wunder der Liebe Elisabeths, der Venus zuschreibt, beleidigt er seine menschliche Geliebte, verrät seine gereifte Liebe und zerstört damit alles. Und so zerschellt seine Utopie. Sein nutzloser Bußgang nach Rom weist auf die von Wagner sowieso kritisierte Kirche hin. Elisabeth verwandelt ihre erotische Liebe in die asketische Agape, bezeichnet ihre doch gerade erwachte und bejubelte Liebe als „törgen Wahn“, „sündiges Verlangen“ und „weltlich Sehnen“151, die sie „unter tausend Schmerzen“ abtöten müsse, um noch etwas für Tannhäusers Heil tun zu können. Aus der aufblühenden jungen Frau wird die asketische heilige Elisabeth. Erotik und Religion passen nicht zusammen. Mehr noch, alles erotische Lieben ist pure Vergeblichkeit und sinnlos. Nietzsche hat Recht: Wagner „ist kein Utopist“, der glaube, „dass die Menschheit irgend wann einmal endgültige ideale Ordnungen finden werde und dass dann das Glück mit immer gleichem Strahle … auf die solchermaassen Geordneten niederbrennen müsse“152 . Jedoch ist dieser Schluss auch im Blick auf Wagners Erlösungsthema alles andere als überzeugend. Elisabeth richtet sich selber als Märtyrerin zu Grunde, weil sie nur so ihrer Nächstenliebe Ausdruck verleihen und Tannhäuser retten konnte. Eros ist zu Agape geworden. Nun ist Erlösung durch Selbstmord keine christliche Vorstellung von Nächstenliebe. Was Elisabeth tut, hat mit dem christlichen Verständnis von Martyrium nichts zu tun. So wird man nicht zum „Engel“, der vor Gottes Thron um etwas bitten könnte. Denn das Martyrium widerfährt einem Menschen, er vollzieht es nicht aktiv. Elisabeths Abtötung ihres Lebenstriebes ist etwas anderes als „die Hinnahme von Bestrafung für das Bekenntnis des christlichen Glaubens.“153 Sich zum Martyrium zu drängen ist christlich wie auch islamisch eine Sünde. Sie opfert ihr Glück als liebende Frau einer versteinerten Moral, und Wagner meint auch noch, diese Lebensverweigerung verleihe ihr erlösende

150

Udo Bermbach, Utopische Potentiale in Wagners Frauengestalten, in: Susanne Vill (Hg.), „Das Weib der Zukunft“ , a. a. O., S. 78 f. beschreibt Elisabeths unauflösbares Problem: Entscheidet sie sich für Tannhäuser verliert sie alles, was ihr bisheriges Leben sicherte. Entscheidet sie sich für den Hof, verliert sie Tannhäuser. „Wie immer sie votiert, sie verliert in jedem Falle das, was für sie von existenzieller Bedeutung ist. … Zwar steht sie auf Seiten Tannhäusers, aber zugleich bewirkt sie dessen moralische Kapitulation.“ 151 A. a. O., 713 –717. Zum Schluss der Oper vgl. Peter Steinacker, a. a. O., S. 37 f. 152 4. Unzeitgemäße Betrachtung, Richard Wagner in Bayreuth, in: KSA, Bd. 1, S. 506. 153 Michael Slusser, Art. Martyrium, in: TRE Bd. XXII, 1992, S. 207.

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Kräfte für Andere und die Fähigkeit, Tannhäusers Zerrissenheit zu heilen.154 Ihr Opfer ist eine theologisch unstatthafte Imitatio Christi. Die Märtyrerin Elisabeth tritt an seine Stelle. Diese Vorstellung Wagners hat mit dem christlichen Martyriums- und Opfergedanken nichts zu tun, weil mit dem Opfer Jesu die Zeit des Opferns in allen möglichen nicht symbolischen Bedeutungen vorbei ist. Theologisch bedeutet die Opferdeutung des Todes Jesu das Ende der Opfer und eine Revolution in der antiken Religionsgeschichte. Denn das grundlegende Axiom der antiken Religion war, dass die Verehrung einer Gottheit durch Opfer geschieht. Im Blick auf das Heil gibt es nur das eine stellvertretende Opfer, das alles andere Opfern beendet.155 Wagner hat sich über die Kritik an dem auch christlich banalen Schluss seiner Oper geärgert, der nicht nur dramaturgisch, sondern auch musikalisch und theologisch flach geraten ist. Tannhäusers Religiosität und die Umstände seiner Erlösung verschwimmen in den Kitsch. Aber der Schatten Parsifals zeichnet sich deutlich ab. Hat Homer, der nun wirklich religiös dachte, dem heimwehkranken Odysseus eine Lösung seiner Einsamkeit in der glücklichen Heimkehr gegönnt, verlegt Wagner, der die Sinnlichkeit feiernde Feuerbachianer, das mögliche Glück in einen erotikfreien Himmel. Für die Welt der Sinnlichkeit bleibt der Tod der Liebenden oder die Trauer der Zurückgebliebenen, denen auch der „verhimmelnde“ Schluss nicht helfen kann. Denn was gilt nun? Wagner zeigt keine Anthropologie und keine Vision einer Gesellschaft, mit der und in der die Menschen ihre Sehnsucht nach Befriedigung ihrer Bedürfnisse stillen könnten. Das kirchliche Christentum in Gestalt des erbarmungslosen Papstes fällt als möglicher Träger der Utopie vom gelingenden Leben in einer sozialen Überzeugungsgemeinschaft in doppelter Hinsicht aus. Weder hat es Raum für eine erotische Entfaltung, Tannhäusers Wunschtraum, noch heilt es die Zerrissenheit der Menschen oder eröffnet einen Raum für die Kunst und den Künstler. Der grünende Bischofsstab verweist auf Gottes Leben schaffende Vergebungsbereitschaft, die in der unbarmherzigen, sinnenfeindlichen Kirche und am Thüringischen Hof nicht da ist. Hier ist Wagners Kirchenkritik erkennbar. Sie nimmt das auf, was er schon gegenüber der sinnenfrohen Religion der Griechen bemängelt hatte: Das kirchliche Christentum verfehlt mit seiner Verdammung des Eros das Wesen der Welt als Liebe und hat darum auch keine Kunst von Bedeutung hervorgebracht: Die Gesänge der Minnesänger und Wolframs törichtes Lied von der „reinen“ Liebe verfehlen alles, was er bei Venus als Wesen der Liebe gelernt und was er nun, verwandelt und entmythologisiert, ins wirkliche, menschliche Leben übertragen will. Sie verfehlen seine Sehnsucht, seine Hoff-

154 Vgl. Ulrike Kienzle, a. a. O., S. 100 f., die den ganzen Vorgang zustimmend kommentiert und meint, in dieser Tat zeige sie, dass es noch eine höhere Form der Liebe als die von Wolfram besungene gibt: „eine Liebe, welche die Fähigkeit zur Entsagung ins Existenzielle erhebt, so dass ihr erlösende Kraft zuwächst.“ S. 101. 155 Vgl. Gert Theißen, Die Religion der ersten Christen. Eine Theorie des Urchristentums, Gütersloh 2000, S. 195 ff.

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nung, seine Utopie grundsätzlich. Tannhäuser hat völlig Recht, wenn er ihnen vorwirft, sie hätten von dem Wesen der Liebe, das war ja die Preisaufgabe, keine Ahnung. Eine Gesellschaft mit solchen Entfremdungsphänomenen gegenüber dem menschlichen Wesen, ja dem Wesen der Wirklichkeit, kann er nur ablehnen und fl iehen. Jedoch was tritt an seine Stelle? Was ist die Idee des Tannhäuser? Hier hätte man den Drang zur Säkularisierung als Befreiungsakt erwarten können. Erotik und Religion passen nicht zusammen? Dann weg mit der Religion: „écrasez l’infâme!“ Aber seine mit Feuerbach und dem Neuen Deutschland geteilte Sehnsucht nach Aufhebung der Entfremdung findet keine Entsprechung im Tannhäuser. Der Gang zur Venus ist zwar der rückwärtsgewandte Gang in die Grüfte der untergegangenen, aber noch verführerisch wachen Religion der Vorzeit. Und dieser Gang lohnt sich, denn Tannhäuser erfährt bei der Venus, dass Religion und Eros durchaus zueinander passen können. Aber, auch das wird ihm ja erst dort klar, über das Wesen der Welt, die Liebe, muss man höher, und das heißt menschlicher denken als es der Göttin möglich ist. Denn das Wesen der Welt ist das ewige Werden und nicht das ewige Sein. Die zeitlichen Menschen sind dem Wesen der Welt näher als es die Götter je werden können. Darin steckt der religionskritische Zug des Tannhäuser, der radikaler kaum gedacht werden kann: Die Menschen können tiefer lieben als es die Götter je konnten. Jedoch fi ndet dieses Preislied auf das Humanum im "Tannhäuser“ keine Entsprechung in einer Anthropologie des Glücks oder einer politischen Utopie, die lebbar wäre. Der restlos entzauberte Tannhäuser sucht orientierungslos aus Rom zurückkehrend lieber wieder die Venus, wo er sein Menschsein endgültig aufgeben müsste, dafür aber den Irrsinn und den Schmerz verlieren würde, als in die emotionale Wüste der christlichen Welt zurückzukehren. Säkularisierung ist eine Katastrophe. Aus der Welt der entzauberten Moderne bleibt nur die rückwärtsgewandte Flucht in ganz und gar abgelebte Lebensmodelle. Deshalb fällt es schwer, im musikalisch dröhnenden Schluss Erlösung zu sehen, weil die Schuld gegenüber den Normen seiner Utopie nicht deutlich wird. Wovon ihn der Opfertod Elisabeths erlöst, ist ja die Sünde, die es nur im Kontext der Gesellschaft gibt, der Tannhäuser in jedem Fall entfl iehen wollte, wo Sinnlichkeit, Eros, als „böse Lust“ gilt, wie es der Papst dem reuigen Büßer vorhält, die angeblich nicht verziehen werden kann.156 In der Sinnlosigkeit tiefster Einsamkeit bleibt nur das traurige Leben asketischen Daseins in der ideologischen Vebrämung der „reinen Liebe“ Wolframs. Oder der stellvertretende ebenfalls asketische Liebestod für das Heil, das Anderen durch ihr eigenes Leben unerreichbar bleibt. Vermutlich hat Wagner aber selber gemerkt, dass das nicht das war, was ihm vorschwebte und deshalb zu Cosima noch kurz vor seinem Tod gemeint, er sei der Welt noch einen Tannhäuser schuldig.157 156

Was ein weiteres Thema ist, das nicht zur Dogmatik passt., vgl. Borchmeyer, a. a. O., S. 164. CT II, S. 1098, 23. Januar 1883. Die Tagebücher Cosimas werden nach Bd. I, München / Zürich 1976 (CT I) und Bd. II, München / Zürich 1977 (CT II) zitiert, beide hg. u. komm. von Martin Gregor-Dellin und Dietrich Mack. 157

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„Lohengrin“ – der ästhetische Spiegel der Säkularisierung „Lohengrin“ – der ästhetische Spiegel der Säkularisierung

Schließlich folgt „Lohengrin“. Am 28. April 1848 beendete Wagner die Partitur. Wagner hat zuerst während seines Aufenthaltes in Paris (1839 –1842) den Sagenkreis um den Gralsritter Lohengrin kennen gelernt.158 Aber er war zunächst wenig begeistert. Wagner berichtet, dass ihn der Lohengrinstoff zunächst nicht besonders beeindruckt habe, weil die zwielichtige, mystische Gestalt des mittelalterlichen Gedichtes „einen fast unangenehmen Eindruck“ auf sein Gefühl gemacht habe.159 Erst als er hinter dieser christlichen Übermalung der Figur „den Lohengrinmythos in seinen einfacheren Zügen, und zugleich nach seiner tieferen Bedeutung, als eigentliches Gedicht des Volkes kennenlernte“160, konnte er sich der Gewalt des Stoffes nicht mehr entziehen. Im Sommer 1845, während der für sein ganzes späteres Werk so wichtigen Kur im böhmischen Marienbad, beschäftigte er sich intensiver mit den mittelalterlichen Überlieferungen der germanischen und deutschen Mythen und Sagen und den wissenschaftlichen Forschungen dazu. Entscheidend für ihn war damals, dass er in diesem Stoff „das Volk“ als Interpret „der wahrhaftesten menschlichen Natur überhaupt“ ästhetische Produkte hervorbringen sah, und nicht die herrschenden Klassen, Staat oder Kirche, generell das Christentum. Ihm wurde klar, schreibt er, dass der Lohengrinmythos nicht nur ein „der christlichen Anschauung entwachsenes“ Gedicht sei, das seinen Keim „nur im christlichen Übernatürlichkeitshange“ habe, sondern „ein uralt menschliches Gedicht“, „ein edles Gedicht des sehnsüchtigen menschlichen Verlangens“161. Es sei ein „gründlicher Irrtum“ und eine „oberflächliche Betrachtungsweise“, die spezifisch christliche Anschauung dieser Stoffe „für irgendwie urschöpferisch“ zu halten. „Keine der bezeichnendsten und ergreifendsten christlichen Mythen gehört dem christlichen Geiste, wie wir ihn gewöhnlich fassen, ureigentümlich an: er hat sie alle aus den rein menschlichen Anschauungen der Vorzeit überkommen und nur nach seiner besonderen Eigentümlichkeit gemodelt.“162 Wagner beruft sich auf diese „läuternden Forschungen der neueren Sagenkunde“, um dem Christentum die ursprüngliche Autorenschaft an den Stoffen des Mittelalters abzusprechen. Nach der Entdeckung der drei wichtigsten Handschriften des Nibelungenliedes waren nicht nur Germanisten, sondern auch Dichter und Komponisten intensiv auf der Suche nach einem Stoff für ein deutsches Nationalepos bzw. einer Nationaloper und einem Nationaltheater, wie es andere europäische Staaten schon längst hatten. Und natürlich bewegt auch Wagner der Gedanke, sich an der allgemeinen Suche nach einem Werk zu beteiligen, auf das sich das Nationalgefühl verständigen könnte. Daher legt er

158 159 160 161 162

Vgl. Ulrike Kienzle, … dass wissend, a. a. O., S. 103. Mitteilung …, a. a. O., S. 117. Ebd. Ebd. A. a. O., S. 117 f.

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Wert auf die historische Zeitstelle, in der die Lohengringeschichte spielt, das Antwerpen des zehnten Jahrhunderts und die Zeit Heinrichs I. (ca. 876 –936), obwohl er sich aus ästhetischen Gründen sonst größte Freiheiten im Blick auf historische Fakten erlaubt.163 Wagner sah sicher eine Chance, sich mit einem Werk, dessen Handlung um die Gründungszeit der deutschen Nation spielt, für eine Nationaloper zu empfehlen. In jedem Fall ist das ein Hinweis darauf, den „Lohengrin“ nicht nur als ein Stück romantischer Liebe zu verstehen, sondern auch als politische, soziale und religiös-theologische Parabel. Der Lohengrinstoff elektrisierte ihn auch existenziell. Zur Zeit der Vollendung seines „Tannhäuser“ wuchs in ihm der Drang, sich der Figur des Lohengrin zu bemächtigen, weil sie ihm auch zur Selbstidentifi kation immer vertrauter wurde. Neben allem anderen ist auch der „Lohengrin“, wie schon der „Tannhäuser“, mit dem Schicksal einer Künstlerexistenz verknüpft. Das erklärt zum Teil die Schnelligkeit, mit der Wagner ans Werk ging. Schon im November 1845 ist die Urschrift fertig, dazwischen liegt die Dresdner Uraufführung des „Tannhäuser“ am 19. Oktober. Im Mai 1846 begann er mit der Komposition. Aber er war nicht zufrieden und nahm er immer wieder Änderungen vor. In einem zweiten Durchgang setzte er mit der Gralserzählung des dritten Aktes an, um vom dem Schluss her das Drama zu entwickeln.164 Denn es gab formale Probleme. Der Stoff war ihm bei der Bearbeitung von einem Märchen zu einem Drama geworden, allerdings ohne das Märchenhafte ganz auszuscheiden. In der Gralserzählung beispielsweise sind Märchen und Historie ineinander verwoben. Der dramatische Schluss, auf dem Wagner auch gegen Kritik bestand, braucht formal einen unglücklichen Schluss. Das ist die Trennung der beiden handelnden Hauptpersonen als Strafe für Elsas Übertretung des Frageverbotes. Ein solcher Schluss ist für ein Märchen unmöglich. Eine Märchenoper, das ist anfangs der „Lohengrin“, verlangt einen glücklichen Ausgang. Selbst der, wie oben gesehen, problematische und dramatisch wie ästhetisch unbefriedigende Schluss des „Tannhäuser“ erfüllt noch die ästhetische Norm des glücklichen Endes.165 Ein Historiendrama dagegen verlangt geradezu ein Ende mit Tod und Verzweiflung und begründet damit die Notwendigkeit der Trennung sachlich und formal. Und genau diese Verbindung macht den Lohengrin zum Kulminationspunkt und Ende der romantischen Oper: „Lohengrin, von Wagner romantische Oper genannt, ist das Paradox einer tragischen Märchenoper in der äußeren Form eines Historiendramas. Gegensätze, die sich auszuschließen scheinen, Mythos und Geschichte, Märchen und Tragödie, sind zusammengezwungen, ohne dass Brüche fühlbar würden.“166

163 Auch im „Lohengrin“ ist das so. Das eigenständige Herzogtum Brabant gibt es erst seit 1182, vgl. Enrik Lauer / Regine Müller, Der kleine Wagnerianer, München 2013, S. 65. 164 Vgl. Werner Breig, Wagner Handbuch, hg. v. Ulrich Müller / Peter Wapnewski, Stuttgart 1986, S. 398. 165 Vgl. Carl Dahlhaus, Wagners Musikdramen, 2. überarb. Aufl., Zürich / Schwäbisch Hall 1985, S. 41. 166 A. a. O., S. 39. Dahlhaus nennt „Lohengrin“ daher „Universalpoesie“.

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Gleichwohl ist der Stoff natürlich von Wagner ganz im romantischen Sinn bearbeitet, auch wenn die historische Verortung darauf hinweist, dass zwar die genauen historischen Gegebenheiten nicht so wichtig sind wie die märchen- und sagenhaften Stoffe, aber eben auch nicht in den Hintergrund treten. Denn Wagner will ja auch mit dem „Lohengrin“ keine Historienmalerei des Mittelalters darstellen, sondern seine Welt des 19. Jahrhunderts verstehend erklären. Dass es ihm dabei nicht um historische Genauigkeit ging, zeigt sich schon daran, dass Wagner die szenische Realisierung fälschlich in das Mittelalter verlegte, in die Zeit, in der der Stoff literarische Form annahm. Das Wunder, Zauber und Verzauberung, Geheimnisse und deren Lüftung, der klare Gegensatz zwischen Gut und Böse, die Spannung zwischen dem Christentum und anderen Religionen, das Mit- und Gegeneinader von Immanenz und Transzendenz, alles Themen der Romantik, stehen im Mittelpunkt und werden aber mit der Kälte der politischen Frage nach der Macht unterfangen, einer Frage, die auch den Romantikern nicht fremd war.167 Musikalisch sind deutliche Veränderungen erkennbar. In der Partitur des „Lohengrin“ schlägt sich Wagners Bemühung um die Klangfarbe nieder. Mehrbesetzung und Splittung und nicht mehr die ihrer Lage analoge Zuteilung der Instrumente etc. verändern Klang und Stimme des Orchesters.168 Trotz allerhand traditioneller Opernmusik wie Militärmusiken, Königsfanfaren, großer Chorszenen, Textwiederholungen und Ensembles etc. ist neu, dass Wagner sich bemüht, die traditionelle Nummernstruktur zugunsten einer durchkomponierten Partitur und Textwiederholungen zu überwinden. „Lohengrin“ ist durchkomponiert, auch wenn die klassischen Formen immer noch durchschimmern.169 Am Vorspiel, das ja ganz anders ist als die traditionellen Ouvertüren, kann man erkennen, dass Wagner bereits mit symphonischen motivischen Zusammenhängen arbeitet. Es gibt keine traditionellen Auftrittsarien mehr, an die Stelle von Duetten treten Dialoge, und großräumige Tonartendispositionen weisen über die traditionelle romantische Oper hinaus. Mit diesen ästhetischen Mitteln geht es Wagner um die szenische und klangliche Darstellung von Konfl ikten, die er als grundlegend für die menschliche Existenz erachtete.170 Wir haben es oben schon gesehen: Es ging ihm um die Gestaltwerdung „des sehnsüchtigen menschlichen Verlangens …, das seinen Keim … in der wahrhaftesten 167

Vgl. Egon Voss, Nachwort zum Reclam-Textbuch, Stuttgart 2001, S. 96 f. Vgl. Michael Polth, Klangfarbe und Orchestertechnik, in: Eckehard Kiem / Ludwig Holtmeier (Hg.), Richard Wagner und seine Zeit, Laaber 2003, S. 331–345; Curt von Westernhagen, Vom Holländer zum Parsifal. Neue Wagner-Studien, Zürich 1962, S. 34 f.; Theodor W. Adorno: Versuch über Wagner (1952), GS 13, Frankfurt a. M. 1971, S. 68: Wagner „als erster hat feinste kompositorische Differenzen sowohl wie die Einheit kompositorischer Komplexe durch koloristische faßlich gemacht“. 169 Ich folge hier im Wesentlichen Egon Voss, a. a. O., S. 98 ff. 170 Vgl. Udo Bermbach, Blühendes Leid. Politik und Gesellschaft in Richard Wagners Musikdramen, Stuttgart / Weimar 2003, S. 117. 168

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menschlichen Natur überhaupt hat.“171 Dies habe er im Gedicht des „Lohengrin“ gefunden. Es geht ihm also nicht um historisch korrekte Darstellung historischer Charaktere, sondern um die Erfassung des Menschseins des Menschen schlechthin. Es geht ihm auch nicht um die historisch korrekte Interpretation der Wirklichkeit des Christentums zum Beispiel oder des germanisch-nordischen Wirklichkeitsverständnisses. Das sind kontingente Aufnahmen und Darstellungen von im Allgemein-Menschlichen, nicht im Historisch-Zufälligen liegenden Wahrheiten. Im Grunde sucht Wagner in den historischen Stoffen Existenzialien, Grundbefi ndlichkeiten des Daseins, die sich in ihren historischen Ausprägungen nur einen wechselnden Ausdruck verschaffen. Wagner will diese Ausprägungen auf ihren „Keim“ hin durchstoßen und fühlt sich daher auch frei gegenüber allen historisierenden Einwänden gegenüber den Bearbeitungen seiner Stoffe. Den Historismus, der an der genauen Darstellung der Gedanken in ihrer jeweiligen Zeit sein Ideal fi ndet, überlässt er dem Format der „Grand opéra“, von dem er sich ja seit dem „Holländer“ verabschiedet hat. Die ganze Bärenfellästhetik des Bayreuth nach seinem Tod wäre ihm zuwider gewesen, wovon ja schon einige Bemerkungen aus seiner Lebenszeit zeugen. Daher entwickelt er, wie in allen seinen Musikdramen, auch im „Lohengrin“ seinen eigenen Mythos.172 Er benutzt in seiner Kunst die Sagen und Mythen des Volkes unter der zweifellos ideologischen Voraussetzung, dass sich in ihnen ewiges Wissen entfaltet, allerdings anders als in Wissenschaft und Kunst eben nur unbewusst. Der Künstler kann sich diesem ewigen Wissen auf Grund seiner besonderen Zugangs zur Wirklichkeit anders und besser nähern als die objektivierenden Wissenschaften und die mit Begriffen arbeitende Philosophie. Die Erkenntnisschranke des Wissenschaftlers und des Philosophen ist die Reduktion von Erkenntnis auf Objektivitäten und Begriffe. Der Künstler dagegen hebt dieses unbewusste Wissen mit seinen ästhetischen Mitteln und seiner Subjektivität ins Bewusstsein und verbindet dieses nichtbegriffl iche Wissen mit dem rationalen Bewusstsein im Kunstwerk als der Form umfassender Welteinsicht. Das ist der Grund dafür, sich nicht modernen Stoffen, sondern Sagen und Mythen aus fernen Zeiten zuzuwenden. Entfernt man die historischen Übermalungen, liegt das rein Menschliche, das Wesen des Menschen als Natur und Geschichte, offen aber unbewusst da und der Künstler kann es für seine Gegenwart in die angemessene Form bringen. Aber was ist die angemessene Form? Kann man das erkenntnistheoretisch zeigen, worum es dem Künstler beim Umgang mit den Mythen geht und warum der Zugang des Künstlers zur Wirklichkeit tiefer in das allgemein Menschliche einzudringen vermag als

171

Mitteilung … a. a. O., S. 117. Dahlhaus a. a. O., S. 40 verweist auf einen Brief vom 4. August 1845, in dem Wagner sagt, dass seine Erfi ndung und Gestaltung bei dieser Schöpfung den größten Anteil habe. Vgl auch Claus-Dieter Osthövener, Erlösung. Transformation einer Idee im 19. Jahrhundert, Tübingen 2004, S. 250: Wagner verstärkt „durch seinen Rückgriff auf die mythologische Überlieferung die Freiheit im Umgang mit dem in der Menschheitsgeschichte vorfi ndlichen Symbolbestand.“ 172

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es objektivierendem Zugang je möglich sein wird? Wagner war das zur Zeit der Arbeit am Lohengrin noch nicht klar. Erst in Zürich, wo er sich, desillusioniert über die Revolution, mittellos auf Unterstützung seiner Freunde angewiesen, ohne musikalische Einfälle, liebeshungrig und lebensdurstig, weil es zwischen Minna und ihm nicht mehr gut ging, zu theoretischen Studien von teilweise hohem Rang zwang, konnte er seine Gedanken niederschreiben, die ihm schon in den Dresdner Zeiten durch den Kopf gingen. Im Rückblick auf die Arbeit am „Lohengrin“ erklärt er noch einmal, dass er die christliche Umgebung des historischen Kolorits in Brabant eher als zu läuterndes Gefäß für ein „uralt menschliches Gedicht“ angesehen hat. Denn das Christentum sei selber nicht „urschöpferisch“ und habe alle „Mythen … aus den rein menschlichen Anschauungen der Vorzeit“ übernommen und in seinem Sinn „gemodelt“, verändernd getrübt.173 So habe er auch erst nach der Entfernung der christlichen Übermalung und im Rückgriff auf die griechische Tradition, in der man schon auf den Grundzug des „Lohengrin“Mythos stoße, nämlich im Mythos von Zeus und Semele, die „Grundzüge eines Verlangens“ wahrgenommen, dessen Gestaltung ihn nicht mehr losließ und das er schon im „Tannhäuser“ gefunden habe: „Der Gott liebt ein menschliches Weib und naht ihr um dieser Liebe willen in menschlicher Gestalt.“174 Gleichwohl bleibt die grundsätzliche Frage, weshalb er in einer Zeit, die sich immer mehr dem objektivierenden Zugang zu Mensch und Geschichte verschreibt und den „Tatsachen“ zuwendet, auf mythische Stoffe zurückgreift. Die Handlung der Oper kann in aller Kürze etwa so geschildert werden: Das Herzogtum Brabant ist in eine politische Krise geraten, weil der noch minderjährige Thronfolger nach einem Spaziergang mit seiner Schwester Elsa verschwunden ist und der frühere Hofmarschall Anspruch auf den Thron erhebt. Er bezichtigt Elsa vor dem Kaiser der Ermordung ihres Bruders. Der Kaiser ordnet ein Gottesurteil an. Ein Zweikampf soll die anders nicht lösbare Streitfrage lösen. Niemand erklärt sich bereit, für Elsa zu kämpfen. Verzweifelt erhofft sie nach einem Traum Rettung aus der Transzendenz: Ein gottgesandter Ritter kommt ihr zu Hilfe. Und tatsächlich erscheint dieser Ritter. Er erklärt sich bereit, für sie zu streiten, aber er stellt eine ungeheuerliche Bedingung: Niemals dürfe sie in ihn nach Namen und Art fragen. Elsa verspricht es und bietet die Ehe an. Der Ritter besiegt den Hofmarschall – und verliebt sich in Elsa und will sie heiraten. Bevor jedoch die Hochzeit vollzogen wird, wird Elsa von der Frau des Hofmarschalls, Ortrud, der Tochter des früheren heidnischen Fürsten von Brabant, mit einer Intrige verführt, ihren Retter zu fragen und ihr Versprechen zu brechen. Enttäuscht eröffnet Lohengrin der verzweifelten Elsa und dem Volk seine Herkunft vom Gral und dass Elsas Verrat ihn zwingt, zum Gral zurückzukehren. Meine Leitfrage für die Analyse ist: Warum legt Wagner so großen Wert darauf, dass die Trennung von Lohengrin und Elsa als ihre Bestrafung notwendig und unvermeid173 174

Mitteilung …, a. a. O., S. 117 f. Mitteilung …, a. a. O., S. 118.

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lich ist? Denn nicht nur Traditionalisten „hätten gern, dass in Wagners populärstem Werk eine träumerische, unschuldige Prinzessin von einem edlen, sittenstrengen Ritter gerettet wird.“175 Denn dass die Sache schief geht, wird schon in dem lichtdurchfluteten Vorspiel angedeutet, das motivisch die Rückkehr des himmlischen Retters zum Gral verrät. Wagner besteht aber auf notwendigen, und nicht zufälligen Gründen, welche die sich anbahnende Romanze tragisch und unglücklich enden lassen.176 Die dramatische und szenische Voraussetzung des ganzen Stücks ist, dass im Deutschen Reich dieser Zeit die (christliche) Religion die Gesellschaft und ihr Recht begründet. Die moderne Trennung zwischen Kirche (Religion) und Staat gibt es nicht. Lohengrin spielt in einer durch und durch religiös bestimmten Welt. Das Gottesurteil entscheidet die weltlich unlösbare Machtfrage. Sein Ausgang setzt politische Fakten. Im Handeln der Mächtigen, und nur darum geht es im Lohengrin, zeigt sich, ob Gott mit ihnen ist. Und an ihren Siegen wird offenbar, wie viel Stärke ihnen Gott verliehen hat. Vom Ausgang dieses Urteils ist natürlich besonders Elsa betroffen. Über Wagners Frauenbild wird in der Literatur äußerst kontrovers diskutiert.177 Er wird – vereinfacht gesagt – „entweder gleichsam zu einem Vorreiter der Frauenbewegung und der Emanzipationsdiskussion stilisiert, oder aber zum antifeministischen, frauenfeindlichen Chauvinisten gestempelt“178. Da sich Wagners Frauenbild fortlaufend verändert hat, darin ist Friedrich zuzustimmen, lässt sich eine eindeutige Bestimmung nicht ohne Weiteres vornehmen. Wagner selber hat sich zu Elsa ausführlich in der „Mitteilung an meine Freunde“ geäußert. Darum will ich mit seiner Sicht beginnen. Meine Leitfrage war ja, weshalb er die Trennung als Strafe für Elsa als unbedingt notwendig angesehen hat. Weshalb mischt sich in die Beschreibung der Figur der Elsa das religiös konnotierte Stichwort der Erlösung? War nicht Lohengrin der ersehnte Erlöser und „Retter“? Warum ist Lohengrin nicht das Modell für Wagners Erlösung? Woher kommt diese Umkehrung? Um diese Fragen zu beantworten und die Figur der Elsa vor Missverständnissen zu bewahren, darf man nicht vergessen, dass es Wagner, zumal in seinem Brief an Röckel, in seinen erkenntnistheoretischen Erörterungen stets um die Liebe als dem zentralen Beispiel ging, wie er sich die zu erkennende „volle Wirklichkeit“179 vorstellte. In ihr ist 175

Enrik Lauer / Regine Müller, a. a. O., S. 64. In einem Brief an den Redakteur der Berliner Musikalischen Zeitung, Hermann Franck, vom 30. Mai 1846, also noch vor der Fertigstellung der Partitur, hebt er die Notwendigkeit der Strafe hervor. Dies sei ihm schon „beim ersten Bekanntwerden mit dem Stoffe als das Eigentümliche, besonders Bezeichnende desselben“ erschienen, Richard Wagner Briefe, ausgewählt und herausgegeben von Hans-Joachim Bauer, Stuttgart 1995, S. 115. 177 Einen guten Überblick gibt der von Susanne Vill herausgegebene Sammelband: Das Weib der Zukunft, a. a. O. 178 Sven Friedrich, Gibt es eine Philosophie des Weiblichen bei Wagner? In: Susanne Vill, a. a. O., S. 47. 179 Briefe (Kesting), a. a. O., S. 277. 176

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die Trennung von Innen und Außen, von Erkennendem und Erkanntem überwunden, in eine Einheit des Verschiedenen aufgehoben. Wagners Urbild für die Liebe ist, wie gezeigt, nun nichts emphatisch Übersinnliches, sondern deutlich die Vereinigung von Mann und Frau in der geschlechtlichen Liebe. In ihr, im Liebesakt, im „Genuss der Liebe“ kommt uns „die vollste Wirklichkeit“ entgegen, das „ewige Werden“180 als Werden und Vergehen. Die Geschlechtsliebe gleicht „Ebbe und Flut …, wechselt, endet und … lebt (wieder).“181 In jedem individuellen Liebesakt wiederholt sich die Menschwerdung des Menschen. Sie ist das nicht zu überbietende Urbild, das nur wiederholt werden kann, so wie „überhaupt unser ganzes Leben ein ständiges Wiederholen der Vielheit der Einzelheiten der Lebensmomente ist“182 . Wagner schiebt in die ursprünglich machtpolitische Frage die Liebe der beiden handelnden Personen ein. Und verdichtet die allgemeine politische Frage nach der rechtmäßigen Dynastie auf die subjektiv-persönliche Ebene zweier Individuen. Das hat zur Folge, dass man Lohengrin und Elsa nur komplementär richtig interpretieren kann. Elsa und Lohengrin sind darin vereint, dass sich in der bis in ihren und Lohengrins Untergang hinein liebenden „Elsa“ der „andere Teil“ von Lohengrins eigenem Wesen zeigt, nämlich „das Unbewusste, Unwillkürliche, in welchem das bewußte, willkürliche Wesen Lohengrins sich zu erlösen sehnt“183. Mit anderen Worten: Wagner beschreibt das vorfi ndliche Wesen des Menschen als in sich gespaltenes, getrenntes, seinem möglichen und zu sich selbst gekommenen Wesen entfremdetes Sein, das sich nach Erlösung von der Zerspaltenheit in die ursprüngliche Einheit sehnt. Deutlich erinnert dies an den Mythos von der gewaltsamen Teilung der ursprünglichen Zwei-Einheit der Menschen durch Zeus, den der Komödiendichter Aristophanes im platonischen „Symposion“ erzählt, mit dem er die Sehnsucht nach der ursprünglichen Einheit als den Ursprung der zwischenmenschlichen Liebe erklärt.184 Aber auch Feuerbachs Entfremdungstheorien klingen an. Wagner aktualisiert den Mythos, den Platon selber ja nicht akzeptiert. Der männliche, egoistische, dem kategorisierenden Verstand und dem Machtstreben verhaftete „Lohengrin-Teil“, „das bewusste, willkürliche Wesen“, steht im Gegensatz zu dem weiblichen, unbewussten und unwillkürlichen Wesen des „Elsa-Teils“, sehnt sich aber nach der Erlösung aus dieser Entfremdung und erkennt in diesem Verlangen seine verborgene Verwandtschaft mit Elsas Wesen, die er aber nicht aus sich selbst heraus zur Erscheinung bringen kann. Darum kann Lohengrin Elsas Verletzung seines Frageverbotes nicht verstehen, und die Trennung wird für ihn notwendig.185 Anders Elsa. Ihre Entfremdung besteht darin, dass in ihr in der ersten Begegnung mit Lohengrin das

180 181 182 183 184 185

A. a. O., S. 279. A. a. O., S. 278. A. a. O., ebd. Mitteilung …, a. a. O., S. 129 f. Hervorhebung Wagner. Platon, Symp 189d–193c. „Dieses herrliche Weib, vor dem Lohengrin noch entschwinden musste, weil er es aus seiner

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„volle Wesen der Liebe“186 noch unentfaltet ruht und sie darum, ihrem eigentlichen weiblichen Wesen noch fernstehend, in das Frageverbot einwilligt. Erst als sie sich entschließt, eher unterzugehen, als „nicht ganz den Geliebten umfassen“ zu können, gerät sie „gerade durch den Ausbruch ihrer Eifersucht erst aus der entzückten Anbetung in das volle Wesen der Liebe“187 und entspricht der wahren, das heißt unentfremdeten „weiblichen Natur“, in welcher der erlöste Mensch als wiederhergestellte Einheit von männlichem und weiblichem Prinzip, ausgestattet mit erlösender Kraft, vorgebildet erscheint. Die weibliche Natur hat also eine doppelte Potentialität in sich: Einerseits kann sie durch die Einheit von weiblicher Natur und dem Wesen der Liebe Unbewusstes und Bewusstes, Gefühl und Verstand, absolute Hingabe und Zu-Sich-Selbst-Finden so verbinden, dass ihr Verstand Gefühl wird.188 Andererseits kann sie den entfremdeten, aber nach Erlösung aus der Entfremdung sich sehnenden männlichen Teil des Menschen – Beispiel Lohengrin – aus der Entfremdung erlösen. Das Weibliche, das „Weib der Zukunft“189, verkörpert das Erlösungsprinzip schlechthin und ist darum dem männlich dominierten Teil der Menschheit überlegen. Ich komme noch einmal auf die Diskussion über Wagners Frauenbild zurück. Folgt man Wagner und insistiert auf der Notwendigkeit der Trennung und versteht das Weggehen Lohengrins als Strafe für Elsa, dann kann man das als Beweis für Wagners „objekthafte Frauenbehandlung“190 ansehen. Elsas Schuld erscheint in dieser Perspektive als eine „Urschuld“, die einfach durch ihr Frausein gegeben ist: „Lohengrins Frageverbot setzt der Frau ein dem biblischen Verbot des Apfelgenusses analoge Schranke der Erkenntnis. Sie darf den Schwanenritter nicht erkennen, zumal nicht in seiner geschlechtlichen Realität. Das Frageverbot ist auch ein Liebesverbot, und das höchste Vertrauen, mit dem Lohengrin seine Unerkennbarkeit einfordert, entpuppt sich als ein Instrument der Repression weiblicher Sexualität.“191 Elsa ist nach dieser Interpretation eine schwache, schuldbeladene Figur. Sie darf keine individuelle Person werden und wird schuldlos schuldig – wie später Siegfried. Elsas Vergehen „besteht in der Verweigerung des Kadavergehorsams, und ihre individuelle Verfehlung wird zu einer an der All-

besonderen (d. h. unerlöst männlichen und göttlichen, P. St.) Natur nicht verstehen konnte“, Mitteilung …, a. a. O., S. 130. 186 Ebd. 187 Ebd. 188 Elsa ist also die personifi zierte „Gefühlswerdung des Verstandes“ aus dem späteren „Oper und Drama“. 189 Zur Erinnerung: Senta ist im „Fliegenden Holländer“ das Weib der Zukunft, Mitteilung …, a. a. O., S. 94 f. 190 Ulrich Schreiber, Die Kunst der Oper, Bd. III, a. a. O., 2000, S. 494 f. Schreibers Kritik steht stellvertretend für viele andere. Vgl. auch bei Susanne Vill, a. a. O. 191 Schreiber,a. a. O., S. 494.

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gemeinheit, da dem Volk der Brabanter und Sachsen mit Lohengrin die auratische Führergestalt verloren geht.“192 Ganz falsch ist diese Kritik sicher nicht, zumal Lohengrin ja von Elsa, zu der er in Liebe entflammt ist, etwas verlangt, was zwar ein religionsgeschichtliches und märchenhaftes Motiv ist, jedoch sonst nur in einem geschlechtlichen Verhältnis zu sich prostituierenden Menschen möglich erscheint, nämlich die Vermeidung des Namens. Und die ersten Worte, die die zuvor schweigende Elsa auf die Frage des Königs, ob sie ihre Schuld bekenne, antwortet, stehen in as-Moll: „Mein armer Bruder!“193 Erst danach wechselt sie in ihre Tonart As-Dur über. In Wagners Tonartensymbolik ist diese MollDur Mischung auffallend. Schreiber meint, sie weise „mit dem weichen Unschuldsklang der Frau eine Schuldkomponente zu.“194 Dennoch ist die Sache komplexer als es der Vorwurf des platten Antifeminismus erscheinen lässt. Denn Schreiber übersieht wie viele andere die „Gleichzeitigkeit von Autonomie und Hingabe“ in Wagners Weiblichkeitsideal, das sich in den Frauengestalten seiner Werke ebenso spiegelt wie in den Frauen seines Lebens, die ihm viel bedeuteten, Mathilde und Cosima zum Beispiel.195 Jedoch schieben sich auch in Schreibers Interpretation erotische, metaphysische und politische Motive in der Figur der Elsa ineinander. Das aber widerspricht auffallend deutlich der Sehnsucht Lohengrins. Er bemerkt an sich die Defekte des männlichen Wesens, die nur durch Elsa gelöst werden können. Lohengrin sehnt sich nach dem Weiblichen als Ergänzung seines Wesens. Aber diese Sehnsucht kann nicht gestillt werden. Dafür gibt es zwei Gründe: Als himmlisches Gralswesen kann er erstens nicht leben wie ein Mensch, er kann Menschen noch nicht einmal verstehen. Denn das Himmlische und das Irdische können nicht verschmelzen. Was Wagner im „Holländer“ als Erlösungsziel beschreibt und zugleich entmythologisiert, ist im „Lohengrin“ eine unüberschreitbare Schranke. Von daher wird die Notwendigkeit der Trennung erklärlich. Wagner erörtert diese Frage, die er ästhetisch im „Holländer“ gelöst hatte, nun theoretisch am Gegensatz zwischen zwei gegensätzlichen Naturen, „einer übersinnlichen Erscheinung“ und der „menschlichen Natur“, und die fragt, ob deren Berührung von Dauer sein könnte. Seine Antwort ist jetzt ein klares „Nein“. Der Gott kann den Gegensatz zwischen der Natur der Götter und Menschen, die er selber geschaffen hat, nicht lösen. So begründet Wagner das Scheitern einer Verbindung beider im Brief an Franck.196 Damit knüpft er an eine alte theologi-

192

A. a. O., S. 490. Textbuch mit Varianten der Partitur. Hg. v. Egon Voss, Stuttgart 2001, Z. 97. 194 A. a. O., S. 494. 195 Sven Friedrich, a. a. O., S. 53. 196 Vgl. Briefe (Bauer), a. a. O., S. 115. Wagner fügt in einer Fußnote allerdings an: „Ich fürchte, bei dieser Gelegenheit viel Unsinn gesagt zu haben: es fehlt mir da recht am Zeug, um mich ausdrücken zu können“, ebd. 193

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sche Streitfrage an, ob es möglich wäre und gedacht werden könne, dass ein Geschöpf, die menschliche Natur, die göttliche Wesenheit in sich fassen kann. Thomas von Aquin hat dies mit einem klaren „Nein“, Luther mit einem ebenso klaren „Ja“ beantwortet.197 Wagner scheint die Sicht des Aquinaten zu teilen, auch wenn er sie vermutlich nicht kennt. Aber er dreht dessen Begründung um: In der Tradition ist die himmlische Substanz der irdischen so weit überlegen, dass diese jene eben nicht fassen kann. Bei Wagner ist es genau umgekehrt: Die weibliche Natur als Verkörperung des rein menschlichen Wesens der Liebe ist dem defi zitären, nach dem Weiblichen sich sehnenden göttlichen Wesen Lohengrins, unbegreifl ich und hoch überlegen. Darum muss er „vor diese[m] herrlichen Weib … noch entschwinden …, weil er es aus seiner besonderen Natur nicht verstehen konnte“198. Tannhäuser hat die Venus verlassen, weil ihm klar wurde, dass die menschliche Liebe der göttlichen weit überlegen ist. Um seine menschliche Liebe zu bewahren, muss er zurück in die Welt. Nur so kann er der kühne Streiter der Venus bleiben und behaupten, sein Lieben sei nie größer als jetzt, da er sie verlassen muss. Lohengrin muss Elsa verlassen, weil seine Göttlichkeit der Menschlichkeit Elsas nicht gewachsen ist. Denn Elsas Liebe bis in den Tod übersteigt seine göttliche Hilfsbereitschaft. Aber sie könnte, verallgemeinert, die Verhältnisse der Wirklichkeit „revolutionieren“, während er die in Not geratene Welt nur „reparieren“ kann. Zweitens knüpft Wagner mit der Figur des Gralsritters an das romantisch so beliebte Undine-Motiv an. Die Götter sehnen sich nach menschlicher Wärme und Liebe. Sie möchten geliebt werden, möchten Leiden um der Liebe willen erleben, die mit dem Lieben auch immer wieder verbundene Furcht und das Entzücken erfahren. Also genau das, was Tannhäuser gegen die Venusliebe ins Feld führte. Freilich sind solche Veränderungen im Erleben an die Zeitlichkeit gebunden, die den ewigen Göttern ja nicht zuteil ist. Und die Götter möchten, wie der Mythos von Zeus und Semele zeigt, wie die Menschen lieben und doch sie selber bleiben.199 In diesem Mythos meint Wagner schon den 197

Sth 1q.12 a.7. Diese Voraussetzung wird dann in der Christologie auf das Verhältnis beider in der Personeinheit Christi angewandt: Auch die Seele Christi schließt in keiner Weise die göttliche Wesenheit in sich, vgl. Sth 3 q.10 a.1, resp. Luther, WA 23, 243, 31 beruft sich auf Joh 1,1: „Das Wort ward Fleisch“ und folgert daraus: „Es ist Gott in diesem Fleisch, ein Gotts Fleisch, ein Geistfleisch, es ist in Gott und Gott in ihm.“ Über dieses Fleisch hat der Tod keine Macht. Diese geistliche Leiblichkeit wird im Abendmahl präsent und im Sakrament genossen. Aber unser natürliches Fleisch ist wegen der Sünde nicht fähig dazu. Der Streit um die Antwort auf diese Frage zieht sich bis in die aktuellen Dogmatiken. Zum Ganzen vgl. Theodor Mahlmann, Art.: Endlich, in: HWPH 2, 1972, Sp. 481– 489. 198 Mitteilung …, a. a. O., S. 130. 199 Vgl. Peter Wapnewski, Die romantische Oper, in: Wagner-Handbuch, a. a. O., S. 267 f. Dort der Verweis auf den Amphytrion-Mythos, die Melusinen und auf Wotan, der sich ja mit einem Menschenweib verbindet, um die Wälsungen-Geschwister Siegmund und Sieglinde zu zeugen, deren Inzest den Menschen Siegfried hervorbringt. Vgl. auch Dieter Borchmeyers Verweise auf

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„Grundzug des Lohengrinmythos“ entdeckt zu haben. 200 Die schöne Tochter des Königs von Kadmos, mit der Zeus eine geheime Liebschaft hat, will, von der eifersüchtigen Hera verführt, ihren namenlosen Liebhaber in seiner wahren Natur und Gestalt sehen. „Als Zeus ihr die Bitte abschlug, versagte sie ihm ihr Lager. Da erschien er ihr voller Zorn als Donner und Blitz, und sie ward verzehrt. Aber Hermes rettete ihren sechs Monate alten Sohn: Er nähte ihn in den Schenkel des Zeus, dass er dort noch weitere drei Monate reifen sollte. Als dann die Zeit gekommen war, gebar Zeus den Dionysos, was ,der zweimal Geborene‘ oder ,das Kind der doppelten Tür‘ bedeutet.“201 Wagner deutet die notwendige Trennung von Elsa und Lohengrin nach diesem Muster: Weil Elsa mit Hilfe des Namens die wahre Gottheit Lohengrins erkennen will, muss sie untergehen. Jedoch nicht nur dieses Motiv des Semele-Mythos ist für den Lohengrin von Bedeutung. Auch, dass es Dionysos, der Gott der Maske ist, aus dessen Kult das Theater entstand, ist von freilich verdeckter Bedeutung. Dionysos ist der Gott, der den Menschen ihr sinnliches Glück in der ekstatischen, alles Leben erneuernden und revolutionierenden Erfahrung der hinter aller Zerstreuung liegenden Einheit des Seins vermittelt und es ihnen gönnt. Aber er erscheint in und als Maske202 und ist darum nicht einfach der helle, strahlende Heilsbringer. Das Unheimliche an der Maske ist ja, dass jemand sich mit ihr zugleich nähert und sich entzieht. Er wird auf unheimliche Weise gegenwärtig. So ist „die Maske … das Sinnbild der dionysischen Einheit von überlebendiger Nähe und abgründiger Verborgenheit, von Rausch und Tod..“203. Die Maske bzw. die Verhüllung des Wesens einer Gottheit signalisiert die abgründige religiöse Erfahrung, dass allem Lebendigen der Tod miteinbeschrieben ist204, wenn es uns in seiner beglückenden Überfülle der Gottespräsenz begegnet. Krankheit, Vergessen, Alter, Ende der Liebe sind in allen berauschenden Zuständen von Glück, Frieden und Liebe mit gegenwärtig. Irgendwann im Leben kommen sie unaufhaltsam aus ihrer Verborgenheit hervor, in die wir sie stets abdrängen, damit wir leben können.

Schillers lyrische Operette „Semele“, Kleist und Baudelaires Vergleich mit dem Märchen von „Amor und Psyche“, a. a. O., S. 197 ff. 200 Mitteilung …, a. a. O., S. 118. 201 Robert von Ranke-Graves, Griechische Mythologie. Quellen und ihre Deutung, Hamburg 1992, S. 46 f. Ranke-Graves verweist auf Apollodoros III,4,3. Ovid, Met III, 293 –295 spitzt Semeles Wunsch noch zu: Sie will Zeus so sehen, wie er mit Juno „den Bund der Venus schließt“. 202 Dionysos ist nach dem Zeugnis der Vasenbilder der einzige olympische Gott, „für dessen Kultbild die Maske als adäquate Darstellungsform galt“, Agnes Schwarzmaier, Der Gott und seine Kultbilder, in: Renate Schlesier und Agnes Schwarzmaier (Hg.), Dionysos. Verwandlung und Ekstase. Mit Photos von Johannes Laurentius, Berlin / Regensburg 2008, S. 85. 203 Klaus Held, Treffpunkt Platon, Stuttgart 1990, S. 101. 204 Vgl. Max L. Baeumer, Dionysos und das Dionysische in der antiken und deutschen Literatur, Darmstadt 2006, S. 11– 88.

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Hinzu kommt nun aber, dass Wagner den Semele-Mythos als Anhänger Feuerbachs, der er damals war, auch als Entzauberung der Götter, als Säkularisierungsvorgang interpretiert. Semele repräsentiert mit ihrer Sehnsucht, das unverhüllte, nackte Wesen des sie liebenden Gottes zu sehen, die Sehnsucht der menschlichen Gattung nach dem Offenbarwerden ihres eigenen Wesens. Diese anthropologische Weite des Mythos ist denjenigen Mythoskritikern seiner Zeit verschlossen, die in allen Mythen lediglich Priesterbetrug sehen wollten, meint Wagner. Im Semele-Mythos drückt sich die Sehnsucht des Menschen nach dem eigentümlichsten Wesen der menschlichen Natur aus, und das ist die Liebe. In diesem Begehren richtet sich der Mensch auf sich selbst und wird dabei der Liebe als seiner ureigensten Wesensnotwendigkeit ansichtig. Indem dem Menschen die Liebe als sein wahres Wesen aufgeht, vernichtet er den Gott, auch wenn er, wie Semele – und Elsa – dabei selber untergeht. Und Liebe ist für Wagner, wir haben es schon gesehen, das „Verlangen nach voller sinnlicher Wirklichkeit, nach dem Genusse eines mit allen Sinnen zu fassenden, mit aller Kraft des wirklichen Seins fest und innig zu umschließenden Gegenstandes. Muß in dieser endlichen, sinnlich gewissen Umarmung der Gott nicht vergehen und entschwinden?“205 In den Göttergeschichten hat der Mythos des Volkes einen Ausdruck für die Sehnsucht der Menschen nach dem Offenbarwerden des menschlichen Wesens selber gefunden. Der Mythos des Volkes hat schon säkularisierende, religionskritische Tendenz. Wenn das rein menschliche Wesen der Liebe hervorgetreten ist, im Genuss ihrer selbst, gehen die Götter unter: Zeus „vollzieht sein eigenes Todesurteil, als der menschentödliche Glanz seiner göttlichen Erscheinung die Geliebte vernichtet“206. Das zeigt noch einmal: Die im weiblichen Wesen als dem Abbild des Wesens der Liebe schlechthin sich zeigende Erlösungsmöglichkeit ist ein menschlicher, kein göttlicher Erlösungsakt. Wenn es um Erlösung geht, stören die Götter mehr als sie helfen, obwohl es zunächst ganz anders erscheinen will, weil sie ja helfend in die Probleme einzugreifen scheinen. Im weiblichen Wesen erscheint die im menschlichen Wesen verborgene, durch die weibliche, das heißt sich vollkommen hingebende, Liebe als allein möglich werdende erlösende Kraft. Diese ungeheure Zuschreibung an das weibliche Wesen und die sich in ihrer bis zum Untergang hingebende, verwirklichende Liebe erklärt das zentrale Gewicht, das die Figur der Elsa im Lohengrin hat. Der „Lohengrin“ ist nicht nur eine Liebestragödie, wie es auch durch Wagners Interpretation bisweilen scheinen will. Schon in Elsas Gebetserfahrung und der Klage, die sie den Lüften anvertraut, wird überdeutlich, dass der Konfl ikt zwischen ihr und Telra-

205

Mitteilung …, a. a. O.,S. 119. A. a. O., S. 118. Diese Interpretation des Mythos ist natürlich ganz unangemessen, weil der sich im verzehrenden Blitz offenbarende Zeus im Mythos selber natürlich nicht untergeht, auch wenn seine Liebe zur Geliebten mit ihr untergeht. Zeus bleibt der allem Menschsein überlegene Gott. 206

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mund nicht nur eine private Angelegenheit ist, sondern eine entscheidende politische und metaphysische Bedeutung hat. Schon bei ihrem ersten Auftritt erscheint Elsa nicht als devote, unsichere, lediglich passiv das Geschehen erwartende, in Gefühlen verlorene Persönlichkeit, sondern als klar sehende Frau. Sie hat die realistische Einsicht, dass die Machtfrage in Brabant unter allen Umständen gelöst werden muss. Und sie kennt die Mechanismen des Machterhalts in einer feudalen Gesellschaft sehr genau. Nur wenn der ersehnte Retter sie nicht nur aktuell rettet, sondern heiratet, besteht die Chance, dass die Dynastie erhalten wird. Das hat zwar eine sexuelle Unterlage, ist aber im Wesentlichen eine Frage des politischen Rechts. Die Dynastie braucht einen legitimen Erben. Mit Liebe im emphatischen, erotischen Sinn hat das Angebot Elsas an den möglichen Retter noch nichts zu tun. Es geht um ein rein politisches Kalkül. 207 Zugleich haben Elsas Klage und die Vision auch einen metaphysisch-religiösen Aspekt. Wenn sie darauf hofft, dass ihre Klage „in den Lüften“ erhört wird, öffnet sich die zunächst rein weltliche Perspektive für die Transzendenz und für den Glauben als der menschlichen Lebensbewegung, die sich auf die Transzendenz bezieht. Das hat zur Voraussetzung, dass Elsa weiß, wo alle Fäden der Wirklichkeit, auch ihrer politischen Gestalt, zusammenlaufen: bei Gott. Plötzlich taucht die Religiosität des 10. Jahrhunderts, ja vielleicht der Kern christlichen Glaubens überhaupt, wieder auf. Die so säkular scheinende Frau umgibt der verhaltene Glanz christlicher Frömmigkeit. Der Gral ist das Symbol für Gottes Welt- und Heilshandeln. Darum kann nur ein „Gottgesandter“ diese politische Krise lösen. Elsa nimmt das vom König ausgerufene Gottesgericht in seiner ganzen metaphysischen Dimension und nicht nur als Rechtsakt wahr. Nur Gott selbst kann das Problem lösen, und so ist für sie ganz klar: Wenn Gott ihre Klage erhört und den Ritter ihrer Vision wirklich sendet – dann ist der Kampf bereits mit seinem Erscheinen entschieden, jeder weitere Schuldvorwurf nur noch absurd und die politische Krise gelöst. Und sein Sieg zeigt, dass Gott in ihm und durch ihn handelt. Mit Elsas glaubender Überzeugung, dass Gott die problembeladene Welt nicht sich selber überlässt, was ja der Kern christlicher Weltzuwendung ist, ist schon bei ihrem ersten Auftritt das Erlösungsmotiv in Szene gesetzt, das die gesamte Oper durchzieht und das vom Gegensatz von Glauben und Zweifel umspielt wird. Allerdings ist Elsas Erlösungshoffnung gerade nicht säkular, sondern religiös, eben anders als Semele in Wagners Interpretation. Ist das ein Bruch in der Figur? Denn die bis in den Tod liebende Frau vertraut ja auf die Liebe oder das rein Menschliche und nicht auf den rettenden Gott. In Elsa verbinden sich Beethovens Leonore und Florestan zu einer Figur: einerseits die klare 207

Dafür spricht, dass Wagner noch im Prosaentwurf von einem verarmten und von Machtkämpfen verheerten Brabant ausgeht, dem Lohengrin den himmlischen Frieden bringt und daher die Oper als durch und durch politische Utopie geplant hatte. Erst im Verlauf der Arbeit an der Komposition tritt der politische Aspekt zurück, vgl. Ulrike Kienzle, a. a. O., S. 108.

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Rationalität, die weiß, was zu tun ist, um ein Problem zu lösen, und andererseits die fromme Einsicht, dass sich in der Welt nichts tun lässt ohne Vertrauen in die Gerechtigkeit Gottes, die jedem sein Recht zukommen lässt. Schließlich verbindet sich am Ende der ersten Begegnung mit Lohengrin Elsas Hoffnung auf die Lösung des politischen Problems und ihrer Entlastung vom Schuldvorwurf mit der Sehnsucht einer jungen Frau auf ein auch erotisches, geschlechtliches Glück, das mehr ist als ein die Sexualität einbeziehender Rechtsakt zur Legitimation der Dynastie. Elsa, „die, seit sie Lohengrin erblickte, regungslos, wie von süßem Zauber festgebannt, ihr Auge auf ihn geheftet hatte, sinkt gleichsam durch seine Ansprache erweckt, von wonnigem Gefühle überwältigt, zu seinen Füßen hin“208. So beschreibt Wagner in der ihm eigentümlichen Sprache die in Elsa stattfi ndende Verwandlung kühl-rationaler Einwilligung in einen mit Sexualität verbundenen Rechtsakt ohne Rücksicht auf irgendwelche persönliche Bindung in die erotische Liebe, die auch ein individuelles Glück verspricht. Und als Folge dieser Verwandlung wird sie selber aktiv. Als autonome Frau ist sie selber Subjekt ihrer Handlungen. Das Gottvertrauen ist der Gewissheitsgrund ihres Handelns und ihres liebenden Zugehens auf den himmlischen Retter, nicht als ein Gespenst, sondern als leibhafter Mann. Sie verspricht dem Menschen, den sie liebt, in völliger Freiheit ihre ganze Hingabe: „Mein Held, mein Retter! Nimm mich hin! Dir geb’ ich alles was ich bin! … geb’ ich Dir Leib und Seele frei.“209 Noch einmal: Ist das ein Bruch in der Figur? Ja, aus der Perspektive Feuerbachs. Jedoch sprengt Wagner hier im ästhetischen Werk seinen engen Panzer feuerbachscher Religionskritik. In der Figur der Elsa verbinden sich politische Rationalität, glaubendes Gottvertrauen und erotische Sinnlichkeit zur Gestalt einer Frau, in der Autonomie und Freiheit mit der Bereitschaft zur bedingungslosen Hingabe zusammenfl ießen zu derjenigen Lebensgestalt des gläubigen Realismus, der in einer Welt unter der Obhut Gottes und der politischen Gestaltungskraft der Menschen ein Glück für möglich hält, das gesellschaftliche und individuelle Dimensionen, Gerechtigkeit, Freiheit und Liebe, Sinnlichkeit und Geistigkeit in sich vereinigt und darin seine Lebenserfüllung erstrebt. Für diesen Traum vom umfassenden Glück geht sie sogar auf das Frageverbot ein, nennt Lohengrin ihren „Erlöser“. Worauf nun Lohengrin, mit einem dramaturgisch ganz unvorbereiteten und in seiner Plötzlichkeit nicht nur für einen Gralsritter, dem das eigentlich überhaupt nicht zusteht, überraschenden Bekenntnis antwortet: „Elsa, ich liebe Dich!“ Allerdings beginnt sich Elsas Traum vom Glück auf dem Hintergrund der Intrige Ortruds zu verwirklichen, der zweiten starken Frauengestalt im „Lohengrin“. Sie treibt den Glückstraum ins Scheitern, einem Scheitern, das Wagner ja für notwendig erklärte, 208

Regieanweisung, Lohengrin, a. a. O., S. 20. Diese Gefühle kennen wir schon von Elisabeth, jedenfalls von der Elisabeth, die ihre erotische Liebe zu Tannhäuser erwachen spürte. 209 Lohengrin, a. a. O., Z. 221–226.

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was nicht vergessen werden darf. Ortrud ist nicht nur Elsas Feindin und Rivalin im Blick auf die Macht in Brabant. Sie ist die eigentliche Gegenspielerin Lohengrins nicht nur in politischer, sondern auch in metaphysisch-religiöser Hinsicht. Sie ist die Tochter der früheren friesischen Fürsten von Brabant, Anhängerin der mit ihrem Geschlecht von den christlichen Fürsten entmachteten alten germanischen Gottheiten. Da sie machtlos und durch Telramunds Niederlage sozial geächtet sozusagen im Untergrund lebt, teilt sie das von den Romantikern beschrieben Schicksal der alten Gottheiten, die sich in die Nacht und die dunklen Grüfte zurückgezogen haben. Aber wie diese bricht sie in die neu geordnete Welt ein und bringt Unheil in das gerade gerettete Fürstenhaus. Friedrich von Telramund, der sie geheiratet hatte, nachdem Elsa sein Werben abgelehnt hatte – ein etwas tumber, auf Ehre und Krieg bedachter Kraftprotz mit wenig Hirn im Kopf –, ihn hat sie fest in ihrer Hand und spannt ihn für ihre politischen und religiösen Pläne ein. Sie lenkt ihn, wohin sie will: Rückkehr zur Macht, Rückkehr zu den alten Göttern. Dafür setzt sie alles ein, Sexualität, Rationalität, Heuchelei, Fluch, Rache und Intrige. Sie kennt die theologisch hochbedeutsame Unterscheidung zwischen dem Wunder, dem Wunderbaren, das menschlicher Verfügung entzogen ist, und dem Zauber, mit dessen Hilfe Menschen in die Realität bewusst eingreifen können. Sie verfügt über Kenntnisse der schwarzen Magie. Daher bekommt sie die fi nstere Tonart fis-moll, seit Webers Freischütz das Klangsigel des Dämonischen. 210 Auch sie ist – wie Elsa – eine durchaus autonome Persönlichkeit. Jedoch fehlt ihr das Entscheidende an Wagners Frauenideal: Die Liebe als die Bereitschaft zur bedingungslosen Hingabe. Ortrud setzt die Liebe als Macht ein, um ihre eigenen Pläne durchzusetzen. Im Brief an Röckel meinte Wagner, die Liebe eines Ich zu einem Du befreie vom Egoismus. Ortrud setzt die Liebe ein, um egoistisch ihre Ziele zu erreichen. Darum äußerte sich Wagner über sie bemerkenswert drastisch: Ortrud ist „ein Weib …, das die Liebe nicht kennt. Hiermit ist alles, und zwar das Furchtbarste, gesagt. Ihr Wesen ist Politik. Ein politischer Mann ist widerlich, ein politisches Weib aber grauenhaft: diese Grauenhaftigkeit hatte ich darzustellen“, schrieb er in einem Brief an Franz Liszt vom 30. Januar 1852. 211 Dennoch kann Wagner nicht anders, als Ortruds politische Energie auch als aus der Liebe hervorgehend zu beschreiben: „Sie ist eine Reaktionärin, eine nur auf das Alte bedachte und deshalb allem neuen Feindgesinnte. Und zwar im wütendsten Sinne des Wortes: sie möchte die Welt und die Natur ausrotten, nur um ihren vermoderten Göttern wieder Leben zu schaffen. Aber dies ist keine eigensinnige, kränkelnde Laune bei Ortrud, sondern mit der ganzen Wucht eines – eben nur verkümmerten, unentwickelten, gegenstandslosen – weiblichen Liebesverlangens nimmt diese Leidenschaft sie ein: und daher ist sie furchtbar

210

Vgl. Barbara Zuber, Theater mit den Ohren betrachtet. Klangstruktur und Dramaturgie in Wagners Lohengrin, In: Die Wirklichkeit erfi nden …, a. a. O., S. 96. 211 Briefe (Kesting) a. a. O., S. 240.

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großartig.“212 Die Lebensantriebe einer Frau können, so meint offenbar Wagner, keinen anderen Ursprung als die Liebe haben, selbst wenn sie zu so rückwärtsgewandten Handlungen und Zielen führen wie bei Ortrud. Im Unterschied zum Mann ist „das Weib“ ein Wesen das „bei seinem natürlichen starken Liebesbedürfnisse – etwas lieben muß“. 213 Das klingt zunächst so, als ob die Kritiker recht hätten. Wagners Bild der Frau sieht sie grundsätzlich als triebgesteuertes und rein emotional dominiertes Wesen, bar jeder Rationalität und Freiheit gegenüber den eigenen Triebregungen. Und tatsächlich gibt es reichlich Zeugnisse dafür, dass Wagners Frauenbild auch für solche Zuschreibungen offen ist. Allerdings ist dies zu seiner Zeit nichts Ungewöhnliches, was es nicht besser macht. Bekanntlich hat ja später noch die frühe Psychoanalyse ähnlich über die Frau gedacht und sie in moralischsittlicher Hinsicht für minderwertig angesehen. Freud hat aus der frühkindlich vom Mädchen wahrgenommenen anatomischen Differenz des weiblichen zum männlichen Genitale eine „große Entwertung der Weiblichkeit“ durch die Frauen selber abgeleitet214. Wagners Charakterisierung der Ortrud ist aber dann nicht einfach antifeministisch und herabsetzend, wenn man Wagners emphatischen Liebesbegriff zur Interpretation heranzieht, wie er ihn im oben zitierten Brief an Röckel skizziert hat. Diese „Liebe“ ist ja das entscheidende Erkenntnismedium für das Wesen der Welt und durch die in ihr lebenswirksam werdende Verbindung von Rationalität und Gefühl das entscheidende Medium, durch das der Mensch der Zukunft erlösend hervorgebracht werden kann. So ist auch in Ortrud bei aller Hysterie und destruktiven Leidenschaft die Rationalität nicht ausgeschaltet. Das wird in der Art und Weise deutlich, wie planvoll und zielstrebig sie ihren Racheplan an Elsa und Lohengrin in die Tat umsetzt. Auch ihre Liebe nimmt die eigene Vernichtung als mögliche Folge ihrer Handlungen in Kauf. Darin gleicht sie Elsa. Aber ihrer Liebe fehlt die Hingabebereitschaft, die dem eigenen Liebeswillen den Lebenswillen des Geliebten nicht nur hinzufügt, sondern sogar überordnet. Das ist das Entscheidende. Und es fehlt die erotische Hingabebereitschaft zur Einheit der Gegensätze, die in der Geschlechtsliebe zwischen Mann und Frau die vollste Wirklichkeit der Liebe „quasi als überpersönliches Prinzip“215 erlebbar werden lässt. Ortrud gibt sich in ihrer Liebe nicht hin, sie nimmt hin. Sie benutzt Telramund nur als Medium ihrer Rache und dafür setzt sie ihre Sexualität instrumentell ein. Darum muss nach Wagners Meinung jede Darstellung der Ortrud „die ganze Gewalt des entsetzlichen Wahnsinnes durchblicken lassen, der nur durch die Vernichtung anderer oder – durch die eigene Vernichtung zu befriedigen ist.“216

212

Ebd., Hervorhebung Wagner. Brief an Liszt, a. a. O., S. 240. 214 Über die weibliche Sexualität (l931), Studienausgabe Bd. V, Sexualleben, Frankfurt a. M. 1972, S. 282. 215 Sven Friedrich, a. a. O., S. 51. 216 Brief an Liszt, ebd. In diesem Wahnsinn ihres Charakters hat Ortrud ihr Vorbild in der 213

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Was macht Ortrud für Lohengrin so gefährlich? Es ist nicht der abergläubische Unsinn, den sie Telramund ins Ohr bläst, dass er Lohengrin entlarven könnte, wenn es nur gelänge, ihm ein kleines Stück des Körpers, etwa den kleinen Finger, abzuschneiden. Denn dann würde ja jedes Wesen, „das durch Zauber stark“ sich „alsbald ohnmächtig zeigen, wie es ist“217. Der Versuch kostet Telramund später auch das Leben. Ihre stärkere und gefährlichere Waffe ist, den Zweifel in das Herz der Feindin zu implantieren. Die kühne Strategin weiß: An Lohengrin kommt sie nur über Elsa. Und so macht sie „den Zweifel zum Instrument der Intrige“218. Sie setzt beim Frageverbot219 an, um Lohengrins Wirkungsmöglichkeit in Brabant zu beenden und ihn des Betruges zu überführen, wenn dies denn überhaupt möglich ist, und zugleich Elsa zu vernichten. Dabei ahnt sie mehr als sie wirklich weiß, dass Lohengrins Macht eine Grenze hat, die mit dem Frageverbot zusammenhängt. Sie muss irgendwie mit seinem Namen und dessen Tabuisierung zusammenhängen, vermutet sie. Solche apotropäische Grenzziehung ist auch im Märchen mit der Kenntnis des Namens verbunden. Wer ihn kennt, unterliegt nicht mehr der Macht des Namensträgers. Und die Nennung des Namens beraubt diesen seiner Macht. 220 Vermutlich steht diese Vorstellung auch hinter religionsgeschichtlich bekannten Namensverständnissen. Um dieser möglichen Verfügung durch den Menschen zu entgehen, verschweigt der biblische Gott Israels dem in sein Geheimnis hineinfragenden Mose seinen Namen. 221 Noch ein Aspekt aus der Religionsgeschichte ist in Ortruds Rachestrategie eingewoben. Einem Kenner der griechischen Mythologie wie Wagner ist sie natürlich geläufig. Darum verweist er ja auf Zeus und Semele. Wo der Name einer transzendenten Gottheit ausgesprochen wird, ist sie, die eigentlich sinnlicher Wahrnehmung entzogen ist, präsent, und ihre Wirkung wird beschworen. Der Name repräsentiert ihre Wirkmacht und offenbart das Wesen der Gottheit. Damit hat er neben seinem heilsspendenden auch einen gefährlichen Aspekt. Denn die Schau der unverhüllten Gottheit, ihres Wesens, ist für den Menschen zerstörerisch. Der Name ist also zugleich Medium zur Präsentmachung der heilwirkenden Gegenwart des Gottes, wie hilfreiche und schützende Grenzziehung zwischen Immanenz und Oper des 18. / 19. Jahrhunderts, die „das rasende Weib“ kennt, jene von gebrochener Macht oder verschmähter Liebesleidenschaft zerfressenen Frau, die aufgrund verlorener Liebes- oder Machtchancen in einen Rachefuror gerät, vgl. Dieter Borchmeyer, Richard Wagner …, a. a. O., S. 206. 217 Lohengrin, a. a. O., Z. 429 – 435. 218 Ulrike Kienzle, a. a. O., S. 113. 219 Schön ist der Hinweis bei Enrik Lauer und Regine Müller, a. a. O., S. 73 dass das Frageverbot „eine exakte Umkehrung des berühmten Balkon-Dialogs aus Romeo und Julia“ ist: „O Romeo, leg’ deinen Namen ab / Und für den Namen, der dein Selbst nicht ist, / Nimm meinen ganz!“ 220 Im dritten Aufzug, dritte Szene erklärt Lohengrin dem König, weshalb er nicht mehr in den Krieg gegen die Ungarn mit ziehen werde: „Des Grales Ritter, habt ihr ihn erkannt, wollt’ er in Ungehorsam mit euch streiten, ihm wäre jede Manneskraft entwandt!“ , a. a. O., Z. 1102–1105. 221 Ex 3,14.

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Transzendenz, die menschliches Leben aus der Wirkungsmacht der Götter möglich macht, weil sie die unendliche Potenz des Gottes endlich und damit lebensfördernd begrenzt. Die heilvolle Verhüllung der Gottheit, sei es durch den Namen, sei es durch sein tabubewehrtes Verschweigen, gehört zur Religion als Religion. Jeder menschliche Versuch, diese Grenze der Gottheit in eigener Verantwortung und ohne vermittelnde Instanzen wie Riten oder Kulte zu durchdringen, bedeutet den Tod. Dieser Zusammenhang ist von größter theologischer Tragweite, weil durch die Vermittlungsangewiesenheit in jeder Gotteserfahrung der mögliche Zweifel mitgedacht werden kann. Der methodische Zweifel ist vielleicht eine Erfi ndung der Philosophie, aber der existenzielle gehört zum Selbstverständnis der Religion und ergibt sich aus der Verhüllung der Gottheit selber. Die dies alles wissende, aufgeklärt-rationale Zauberin Ortrud wird deshalb die eigentliche Gegenspielerin Lohengrins, weil die mythenerfahrene Frau diese tiefe Zweideutigkeit der Gotteserfahrungen kennt, bei denen immer ein möglicher Zweifel mit im Spiel ist. Daher streut sie die Möglichkeit aus, dass, zu ihrem Vorteil und Elsas Unglück, hinter der Maske des politischen Friedensbringers und des liebenden Mannes ein zauberischer Betrüger sein Unwesen treiben könnte. So senkt sie der nach umfassendem Glück sich sehnenden Elsa den Zweifel ins Herz – um Lohengrin zu treffen: Möge Lohengrin dich nie „so verlassen, wie er durch Zauber zu dir kam!“ 222 Zwar wehrt sich Elsa zunächst tapfer und bringt gegen allen Zweifel den Glauben ins Spiel, der nicht nur dem himmlischen Retter vertraut, sondern darauf beharrt: „Es gibt ein Glück, das ohne Reu’“223, das Ortrud nie besessen habe, weil sie vom Glauben nichts wisse. Elsa versucht, Ortrud in die heidnische Ecke zu stellen. Jedoch mischen sich in die bestrickende Süße verströmenden Töne der unendlichen Glücksmelodie Elsas bereits Irritationen, nachdem das Lied nun doch verklungen ist: „So zieht das Unheil in dies Haus!“, weiß der die Szene beobachtende Telramund. 224 Die glückliche Elsa holt die angeblich unglückliche Ortrud nicht nur in ihre Kemenate, sondern lädt sie ein, sie auf dem Weg zur Trauung im Münster zu begleiten, wo die Tragödie beginnt. Das Gift des Zweifels wirkt. Schon am Schluss des zweiten Aufzuges vor dem Einzug ins Münster ist Elsas Glaube so erschüttert, dass sie den nagenden Zweifel nicht mehr durch den Glauben, sondern durch ihre bedingungslose Liebe überwinden will: „Hoch über allen Zweifels Macht … soll meine Liebe stehn!“225 Die Liebe, die auch dann noch liebt, wenn alles glaubende Vertrauen im radikalen Zweifel untergegangen ist, tritt an seine Stelle. Mit dieser Verwandlung ist Elsa nach Wagners Verständnis zur Personifikation des erlösenden weiblichen Wesens gereift. 222 223 224 225

Lohengrin, a. a. O., Z. 551 A. a. O., Z. 559. A. a. O., Z. 564. A. a. O., Z. 783 f. Vgl. Ulrike Kienzle, a. a. O., S. 117.

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Jedoch ist es gerade Elsas Ersetzung des Glaubens durch ihre Liebe, die alles zerstört – auch die Liebe. 226 Und gerade durch die sich auch erotisch hingebende Liebe wird Elsa unbewusst und ungewollt zur Feindin des Grals227, was noch klarer werden wird, wenn von Lohengrin die Rede sein muss. Am Beginn des dritten Aufzuges, nachdem das Paar im Brautgemach zum ersten Mal allein ist, ist der Zweifel so stark, dass Elsa in ihrer Liebessehnsucht den Namen ins Spiel bringt. Als Lohengrin, noch entzückt von ihrem Liebesflüstern, zärtlich ihren Namen nennt, versucht sie verzweifelt nach einer Erleichterung des absoluten Verbotes. Wie schön ist es, wenn du meinen Namen aussprichst, sagt sie dem Geliebten. Darf ich denn nicht wenigstens dann, „wenn zur Liebesstille wir geleitet“228, ihn als deinen Kosenamen nennen und darin meine Liebe ausdrücken? In immer quälender werdenden Dialogen – dem Wahnsinn nahe, wähnt Elsa den Schwan auf der Wasserflut kommend, um Lohengrin wieder zu holen, der sie verlassen will – stellt sie am Ende doch die verbotene Frage. Lohengrin streckt noch den jämmerlichen und abergläubischen Telramund mit dem Schwert nieder, der versucht hatte, ihm den kleinen Finger abzuschneiden, und singt dann – nach langer atemloser Stille – die vielleicht bitterste Phrase der ganzen Oper: „Weh! Nun ist all unser Glück dahin!“229 Nun muss von Lohengrin selbst geredet werden. Wagner meinte, im Charakter und der Situation des Lohengrin „mit klarster Überzeugung … den Typus des eigentlichen einzigen tragischen Stoffes, überhaupt der Tragik des Lebenselementes der modernen Gegenwart“ zu erkennen. 230 Die Tragik, und das heißt, die eherne Notwendigkeit, mit der Lohengrin scheitert, ist im modernen Leben selbst und seinen Verhältnissen begründet. Ein Leben, das sich durch die Dominanz des kategorisierenden, materialistischen und unsinnlichen, „willkürlichen“ Denkens immer mehr von dem unmittelbaren Leben entfremdet, muss notwendig zerbrechen, so wie Lohengrin zerbrach. Aber warum zerbricht

226

Carl Dahlhaus, a. a. O., S. 39 f., weist darauf hin, dass schon in Wolfram von Eschenbachs Parzival-Epos Elsas Bruch ihres Versprechens mit ihrer Liebe begründet wird. In San Martes Übersetzung von 1835, die Wagner benutzte, heißt es: „Sie gab ihr Frauenwort darauf – doch Liebe hob es später auf.“ Dahlhaus schreibt ebd.: „Die tragische Dialektik, die in Wagners Drama die Handlung beherrscht, ist bei Wolfram angedeutet: Es ist Elsas Liebe, die sie dazu treibt, das Gebot zu verletzen, an das die Verwirklichung der Liebe geknüpft ist. Das, worin sie sich ausdrückt, führt zu ihrer Zerstörung.“ 227 Vgl Mario Bortoletto, Wagner. Das Dunkle. Aus dem Italienischen von Nikolaus de Palézieux, Berlin 2007, S. 113. 228 A. a. O., Z. 855. Egon Voss vermutet in dem Wort „Liebesstille“ eine Schöpfung Wagners, weil dieses Wort im Grimm’schen Wörterbuch nicht verzeichnet ist, vgl. Lohengin. Nachwort, a. a. O., S. 106. 229 Lohengrin, a. a. O., Z. 965. 230 Mitteilung …, a. a. O., S. 126. Hervorhebung Wagner.

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Lohengrin, der nichtmenschliche „Gottgesandte“, notwendig? Weshalb ist auch von seiner Seite aus die Trennung notwendig? Wagner erklärt Lohengrins Rückzug in die Einsamkeit des Grals mit zwei Motiven. Einmal will Lohengrin unbedingt verstanden und geliebt werden – dafür steht das Frageverbot: „Lohengrin suchte das Weib, das an ihn glaubte: das nicht früge, wer er sei und woher er komme, sondern ihn liebte, wie er sei, und weil er so sei, wie er ihm erscheine.“231 Lohengrin will geliebt und nicht angebetet werden. Aber warum will er das überhaupt? Warum genügt ihm nicht die himmlische Herrlichkeit, die angeblich doch so groß ist, dass „kein Loos in Gottes weiten Welten wohl edler als das meine hieß“, wie er Elsa warnend vorhält?232 An dieser Stelle kommt noch einmal das romantische Undine-Motiv zur Geltung: Weil er in der himmlischen Herrlichkeit einsam ist. Lohengrin sehnt sich nach etwas, was „ihn aus seiner Einsamkeit erlösen, seine Sehnsucht stillen konnte, – nach Liebe, Geliebtsein, nach Verstandensein durch die Liebe“ 233. Und diese ersehnte Liebe ist durchaus irdisch: „So ersehnte er sich das Weib, – das menschliche Herz.“234 Jedoch ist damit zugleich ein für ein Wesen aus der göttlichen Sphäre ungeheuerlicher Wunsch verbunden: Er will den Gral überhaupt verlassen und nur noch Mensch sein: „Mit seinen höchsten Sinnen, mit seinem wissendsten Bewusstsein, wollte er nichts anderes werden und sein, als voller, ganzer, warmempfi ndender Mensch, also überhaupt Mensch, nicht Gott.“235 Diese Sehnsucht nach einer Metamorphose seines Seins, einer Menschwerdung, misslingt. Er will ja unbedingt geliebt und verstanden werden, also nicht wegen seiner höheren Natur, wegen seiner Göttlichkeit. Denn wenn die Menschen sich einer Gottheit liebend zuwenden, unterwerfen sie sich bewundernd, anbetend ihrer Macht. Damit aber würde sich in die Liebe ein Bedingtes einschleichen: Die Liebe hätte plötzlich einen Grund und wäre nicht mehr unbedingt. Weil Elsa ihn nicht verstanden, sondern nur angebetet hat, hat sie ihn zum Geständnis seiner Göttlichkeit gezwungen und damit alles zerstört und ihn ungewollt zum Rückzug „in seine Einsamkeit“236 gedrängt. Aber: Hat Elsa ihn nicht doch geliebt, gerade dann, wenn sie ihn nicht verstanden hat? Jedoch verwirrt Wagner auch diese Begründung der tragischen Trennung durch Elsas Versagen zusätzlich dadurch, dass er das sehnsuchtsvolle Undine-Motiv mit dem theologischen Motiv verknüpft, demzufolge die Gottheit niemals ganz in die Menschheit aufgehen kann, weil die Gottheit nicht einfach abgestreift werden kann: „Aber an ihm haftet unabstreifbar der verräterische Heiligenschein der erhöhten Natur; er kann nicht

231 232 233 234 235 236

A. a. O., S. 124. Lohengrin, a. a. O., Z. 910 f. Mitteilung …, a. a. O., S. 124. A. a. O., S. 124 f. A. a. O., S. 124. Hervorhebung Wagner. A. a. O., S. 125.

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anders als wunderbar erscheinen.“237 So verstanden liegt die „Schuld“ für die Tragödie weder bei Elsa noch bei Lohengrin, sondern sie hat ihren tiefsten Grund ganz unabhängig vom Verhalten der beiden Liebenden in der von der aristotelisch-neuplatonischen Logik formulierten metaphysischen Unmöglichkeit, zwei vollkommene Substanzen zu mischen oder gar von der einen in die andere zu wechseln, ein Sachverhalt, der im christologischen Streit der Alten Kirche um die Natur Christi ein entscheidende Rolle gespielt hat. Unter dieser Voraussetzung kann die Liebe zwischen Lohengrin und Elsa von vorneherein gar keinen Bestand haben. Lohengrin kann gar nicht bedingungslos geliebt und verstanden werden. Er kann kein Mensch werden. Von Schuld kann dann gar keine Rede sein. 238 Wenn überhaupt, dann wird Elsa schuldlos schuldig, wie andere Helden in Wagners Personal. Wagners Insistieren auf der Notwendigkeit von Elsas Bestrafung für eine Schuld ist haltlos. Notwendig ist, unter den Voraussetzungen von göttlicher und menschlicher Natur, die Trennung. Das zeigt die religionsgeschichtliche Perspektive. Denn das Frageverbot als solches ist eine nur um den Preis des Todes zu überschreitende Grenzziehung, die nicht durch die Liebe heilvoll aufgelöst werden kann. Die Liebe hat in Wagners Lohengrin keine sakramentale Funktion. Sie ist ausschließlich menschlich. Daher muss Wagner einräumen, dass Lohengrin es ist, der schuldig geworden ist und seinen Rückzug als Buße für eine Sünde versteht. Einerseits beklagt Lohengrin als seine Sünde, dass er sich in der Beurteilung des Charakters der Frauenliebe geirrt habe. Er habe „Weibeslieb’“ für „göttlich rein“ gehalten, also für unerotisch und unsinnlich. Man darf fragen, wie er sich dann die Brautnacht vorgestellt hat. Andererseits setzt diese Aussage voraus, dass er erst durch Elsa erotisch und sinnlich berührt worden ist, und selber keine erotischen Sehnsüchte hatte. Das passt alles nicht zusammen. Eine solche unerotische Liebe passt nicht zur Liebesphilosophie des Feuerbachianers Wagners, wie er sie im Brief an Röckel entfaltet hat. Und sie passt nicht zu den Aussagen in der „Mitteilung“ über Lohengrins „Verlangen“ und Erlösungssehnsucht aus seiner Einsamkeit. Und Lohengrin berichtet, dass er selber schon bei der ersten Begegnung mit Elsa in Liebe zu ihr entbrannt sei und es ihm zweifellos klar gewesen sei, dass diese Liebe erotisch und sinnlich ist. Denn er fühlte sein Herz sogleich „des Grales keuschem Dienst entwandt“239. Von Anfang an war diese

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Ebd. Auf diesen dramaturgischen Widerspruch macht aus anderen Gründen Udo Bermbach aufmerksam: „Wer einem anderen droht oder auch nur vermuten lässt, dass ihm im Falle des Nichtbefolgens seines Verlangens Nachteile entstehen, erzwingt sich Gehorsam und begründet damit Herrschaft. Für Wagner aber schließen sich Herrschaft und Liebe bekanntlich nicht nur aus, sondern sind sogar diametral entgegengesetzte Prinzipien. Ein Widerspruch tut sich hier auf, der auch durch Interpretationstricks nicht gelöst werden kann. Für das Konfl iktszenario der Oper freilich ist dieser Widerspruch konstitutiv.“ Blühendes Leid, a. a. O., S. 137. 239 Wagner bezeichnet daher die Liebe des Gralsritters als „Ausschweifung“, deren weltliche „Liebesbande streng genommen einem Grals-Ritter nicht zukämen“, Briefe … (Bauer), ebd. 238

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Liebe nicht göttlich rein, was immer das heißen mag, sondern ganz sinnlich, sonst wäre sie ja nicht mit dem „keuschen“ Gralsdienst unvereinbar gewesen. Der Brief an Röckel lässt keine Zweifel, dass dieses Liebesverständnis das Geschlechtliche ganz und gar nicht nur einbezieht, sondern er es als wichtigstes Medium des in der Liebe zu erzielenden kosmischen Einheitsgefühls als Grundlage von Welterkenntnis begreift, das für den Wagner der Lohengrinszeit das einzige relevante Liebesverständnis überhaupt ist. Nun wird das dramaturgische Verständnis noch zusätzlich dadurch erschwert, dass Wagner sich in einer ungewöhnlich weitgehenden Weise mit „Lohengrin“ und seinem Schicksal identifi ziert. Wie dieser habe er sich in seine Einsamkeit zurückgezogen, weil niemand seine Kunst verstanden habe, ja gar nicht verstehen konnte, meinte er. Das Geheimnis des Lohengrin-Stoffes konnte nur von demjenigen verstanden werden, der „sich von aller modernen abstrahierenden, generalisierenden Anschauungsform für die Erscheinungen des unmittelbaren Lebens freizumachen vermochte“, und über „das reine sinnliche Gefühlsvermögen“ verfügte. 240 Das war nur er, ein „absoluter Künstler.“241 Aus dieser Einsamkeit wollte er jedoch wie Lohengrin erlöst werden durch die nicht fragende, an seiner Kunst nicht zweifelnde, bis in ihren eigenen Untergang hinein liebende Frau. Mehr noch: Diese ersehnte Frau soll als Offenbarung des wahrhaft weiblichen Wesens nicht nur ihm, sondern aller Welt die Erlösung bringen. Der LohengrinStoff wird ihm zum hermeneutischen Schlüssel zum Verständnis und der Lösung „der Tragik des Lebenselementes der modernen Gegenwart“242 . Das in der Figur der Elsa ästhetisch geformte weibliche Wesen ist die einzige Möglichkeit zur Erlösung für die auch in ihrer Sinnlichkeit und Genusssucht verkommene, verdinglichte, säkulare Welt des Menschen durch den Menschen. Aber die Erlösungssehnsucht Elsas und der Menschen sowie das Verlangen Lohengrins werden nicht gestillt. Das Verlangen der Menschen nach unbedingter, sich total hingebender Liebe, nach fraglosem Glück „ohne Reu“, nach der vollen „Einheit von Geist und Sinnlichkeit, das wirklich und einzig heitere Element des Lebens und der Kunst der Zukunft nach deren höchstem Vermögen“243, bleibt unerfüllt, ja ist im Lohengrin tragisch unerfüllbar. Auch ihre Hoffnung auf Rettung aus dem allgemeinen Verhängnis durch die Transzendenz ist leer und unbegründet. Von Oben ist keine Hilfe mehr zu erwarten, die Götter haben sich von der Welt zurückgezogen, sind der Entzauberung durch die Religionskritik zum Opfer gefallen. Die Menschen müssen ihre Probleme selber lösen. 244 Der Glanz der Götter und die Welt passen nicht zueinander. Selbst der vermeintliche Glanz der Götter ist in Wahrheit fahl: In ihrer Einsamkeit fehlt ihnen die

240

Mitteilung …, a. a. O., S. 127. Mitteilung …, a. a. O., S. 124. 242 Mitteilung …, a. a. O., S. 126. 243 Mitteilung …, ebd. 244 So im Anschluss an Wolf-Daniel Hartwich und Ulrike Kienzle Dieter Borchmeyer, a. a. O., S. 205 f. 241

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wärmende menschliche Liebe. Theologisch ist klar, wer in Gott einen Mangel denkt, löst die Gottheit des Gottes auf. Selbst die vermeintlich reaktionäre Ortrud beteiligt sich durch ihre Intrige an der Entzauberung der Götter. Indem sie die liebende Elsa unter Anrufung ihrer Götter rachdurstig in den Tod treibt, deren Ohnmacht in der Rückkehr Gottfrieds erkennen muss, betreibt sie auf paradoxe Weise die Vertreibung der Götter aus der Welt und befördert die Menschwerdung des säkularen Menschen zur autonomen Verantwortung seiner Welt. Aber auch die Menschen können es nicht. Auch die politische Utopie zerbricht. Elsas verzweifeltes Zurückbleiben, Ortruds Wahnsinn und die Wehrufe des Königs, der Männer und Frauen, die Lohengrins Verschwinden begleiten, stehen für die Botschaft, dass der nach Autonomie strebende und sich auf sein Selbstbewusstsein gründende, sich nach Erlösung durch die Liebe sehnende, radikal entzauberte Mensch auch nicht in die Freiheit und das Glück gelangt. Der Zweifel, die produktive Kraft der Aufklärung, zerstört, zur instrumentellen Vernunft verkommen, mit der Metaphysik auch die Liebe und damit das mögliche Glück. Niemand ist am Ende des „Lohengrin“ glücklich. Die Rückkehr Lohengrins zum Gral steht so für den universalen Sinnverlust, der die Menschen in der Mitte des 19. Jahrhunderts ergriffen hatte und der durch Philosophien in der Art Feuerbachs nicht kompensiert werden kann. 245 Jedoch sind beide Entwicklungen, die Entzauberung der Welt durch die Religionskritik und die Zerstörung der Hoffnung, der sich selbst durch sich selbst wissende und leitende Mensch gelange doch endlich in das Glück, notwendige und unvermeidbare Folgen der modernen Welt wie Wagner sie sah. Sie sind ebenso tragisch wie das notwendige Schuldigwerden und der Untergang des Helden in der antiken Tragödie – und im „Lohengrin“. Der Feuerbachianer Wagner, der die mythischen Götter und den christlichen Gott für Projektionen der Sehnsüchte des menschlichen Wesens an den Himmel hielt, der mit dem Jungen Deutschland von einer freien Gesellschaft und der freien Liebe träumte, freilich ohne lebenslang seine Schuldkomplexe loszuwerden – er weiß in seiner Kunst in der letzten romantischen Oper genau, was mit den Menschen und ihrer Gesellschaft passiert, wenn die Götter sich aus der Welt zurückziehen und die Menschen sich in ihrer Autonomie als Herren der Welt missverstehen, statt sich lebensdienlich zu begrenzen, sondern alles machen, was sie können: Die Katastrophe als Prophezeiung des Sieges. Über die Welt und die Menschen legt sich der unentrinnbare Bann der totalen Einsamkeit und zerstörerischen Leere und Sinnlosigkeit. Das muss sich aus der Welt, wie sie die Menschen eingerichtet haben, zwangsläufig so ergeben, erklärt der die Welt in

245 Vgl. Ulrike Kienzle, a. a. O., S. 199. Von daher wird verständlich, weshalb Wagner von Schopenhauers Philosophie so angezogen wurde. Vgl. auch Hermann Deuser, Religionsphilosophie, Berlin / New York 2009, S. 219 f.: „Der Metaphysikverlust besteht darin, dass Religion nicht mehr eigenständig in einem System des Geistes entfaltet wird, sondern nur noch in ihrer Funktion für etwas anderes eingestuft wird.“

Der unvollendete Übergang von der Metaphysik zur Religion: „Tristan und Isolde“

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ihrer Tiefe verstehende Künstler. Das folgt aus der Verfassung der Welt, weil der einzig mögliche Ausweg, die Erlösung durch die liebende Frau, durch das in ihr verwirklichte weibliche, rein menschliche246 Wesen, solange versperrt ist, solange ihr einziges verstehendes und sie der Welt vermittelndes Medium, der absolute Künstler und sein Kunstwerk, unverstanden in die Einsamkeit (des Zürcher Exils) verdrängt werden. Um etwas daran zu ändern, brauchte es eine Revolution der Weltzuwendung, der „Gefühlswerdung des Verstandes“, es brauchte einen neuen Menschen. 247 Aber diese grundlegende Veränderung ist gesellschaftlich nicht in Sicht, obwohl sie im „Geist des Volkes“, seinem Mythos und im Werk des ihn und „das Weib“ verstehenden, aber verkannten Künstlers bereitliegt. Solange sich daran nichts ändert, solange die Säkularisierung „entgleist“248, wie wir heute sagen würden, solange verliert der ironisch gemeinte Satz: „der liebe Gott thäte klüger, uns mit Offenbarungen zu verschonen“249 nicht seinen traurigen Kern. Vielleicht hat Wagner deshalb noch sieben Tage vor seinem Tod am 13. Februar 1883 in Venedig – also nach den „Meistersingern“, dem „Ring“, „Tristan und Isolde“ und „Parsifal“ und ihren Verwandlungen seiner Kunst – immer noch vom „Lohengrin“ als dem „allertraurigsten“ seiner Stoffe gesprochen. 250

Der unvollendete Übergang von der Metaphysik zur Religion: „Tristan und Isolde“ Der unvollendete Übergang von der Metaphysik zur Religion: „Tristan und Isolde“

Seit den 40er Jahren kennt Wagner die mittelalterlichen Gestaltungen des Tristan-Stoffes. Seine unmittelbare Vorlage ist Gottfried von Straßburgs Tristan-Sage, die um 1210 entstanden auf ältere keltische Ursprünge zurückgeht. Wagner hat sie vermutlich in der Übersetzung von Karl Simrock oder in der hochdeutschen Fassung von Hermann Kunz gekannt. Aber erst 1854 beginnt das Thema, in ihm wirklich zu zünden. In einem Brief vom 16. Dezember 1854 an Franz Liszt schreibt er: „Da ich nun aber im Leben nie das eigentliche Glück der Liebe genossen habe, so will ich diesem schönsten aller Träume noch ein Denkmal setzen, in dem vom Anfang bis zum Ende diese Liebe sich noch einmal recht sättigen soll: ich habe im Kopf einen Tristan und Isolde entworfen, die einfachste aber vollblutigste musikalische Conzeption; mit der ,Schwarzen Flagge‘, die am Ende weht, will ich mich dann zudecken, um – zu sterben.“251 Nicht nur in der Bearbei-

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Eben nicht: göttliche Wesen. Diesen neuen Menschen meinte Wagner im „Siegfried“ gefunden zu haben: „Mich hatte ,Elsa‘ diesen Mann fi nden gelehrt: er war mir der männlich verkörperte Geist der ewig und einzig zeugenden Unwillkür, des Wirkens wirklicher Taten, des Menschen in der Fülle höchster, unmittelbarster Kraft und zweifellosester Liebenswürdigkeit“, Mitteilung …, a. a. O., S. 58. 248 Jürgen Habermas, Glauben und Wissen, a. a. O., S. 39. 249 Brief vom 30. Mai 1846, Briefe Bauer, a. a. O., S. 115. 250 CT II, S. 1088, 6. Januar 1883. 251 Briefe Kesting, a. a. O., S. 296. 247

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tung des Stoffes, auch musikalisch stellt der „Tristan“ eine unerhörte Weiterentwicklung seiner Kunst, zum Teil eine Revision seiner Ansichten aus „Oper und Drama“ dar. 252 In einem Brief an Mathilde Wesendonck vom 29. Oktober 1859 aus Paris, also immerhin eineinhalb Jahre nach der Katastrophe seiner „Morgenbeichte“ und drei Monate nach Vollendung des „Tristan“, prägt er den Schlüsselbegriff für Verfertigung und Verständnis seines Werkes, die „Kunst des Übergangs“: „Meine feinste und tiefste Kunst möchte ich jetzt die Kunst des Übergangs nennen, denn mein ganzes Kunstgewebe besteht aus solchen Übergängen: Das Schroffe und Jähe ist mir zuwider geworden; es ist oft unumgänglich und nötig, aber auch dann darf es nicht eintreten, ohne dass die Stimmung auf den plötzlichen Übergang so bestimmt vorbereitet war, dass sie diesen von selbst forderte. Mein größtes Meisterstück in der Kunst des feinsten, allmählichsten Übergangs ist gewiss die große Szene des zweiten Aktes von Tristan und Isolde.“253 Ulrich Siegele hat darauf hingewiesen, dass die Kunst des Übergangs als Antwort auf die Stimmungen des Lebens und ihre Umschwünge entworfen ist, ja ein Zeugnis des Versuchs der eigenen Selbstdisziplinierung ist. 254 Ganz abgekürzt meint die Kunst des Übergangs dies, dass es vier Ebenen des Werkes zu beachten gilt: Die Dramaturgie, den Text, die Kadenz und die Motive. Wenn man diese vier Ebenen im "Tristan“ untersucht, zeigt sich, dass die Zäsuren der vier Ebenen tatsächlich meistens gegeneinander versetzt erscheinen. Hierdurch werden kompositionstechnisch Schnitte umgangen und Übergangsbereiche geschaffen, also eine Art Verwischungs- und Überblendetechnik angewandt. Die Konsequenz dieser Kunst des Übergangs ist der ununterbrochen scheinende Fluss der Musik, die symphonische Durchdringung und die Auflösung der Konturen, und im letzten Effekt die Aufwertung der Rolle des Orchesters. Dieser Kunst des Übergangs kommt nun nach Wagner für die Verdeutlichung der inneren Handlung eine zentrale Aufgabe zu: „Wie nun in der Kunst die äußersten, großen Lebensstimmungen zum Verständnis gebracht werden sollen, die eigentlich dem allgemeinen Menschenleben (ausser in seltenen Kriegs- und Revolutionsepochen) unbekannt bleiben, so ist dies Verständnis eben nur durch die bestimmteste und zwingendste Motivierung der Übergänge zu erreichen, und mein ganzes Kunstwerk besteht eben darin, durch diese Motivierung die nötige, willige Gefühlsstimmung hervorzubringen.“255 Auch literarisch führt er eine formale Differenzierung ein. „Tristan“ ist keine Oper und kein „Drama“, sondern eine „Handlung“. Ein Drama, so meint Wagner nun, konzentriert sich auf die äußere Entwicklung und verfolgt eine äußere Bewegung. Eine Hand-

252

Vgl. Werner Breig, Wagnerhandbuch, a. a. O., S. 435 ff. Richard Wagner an Mathilde Wesendonk. Tagebuchblätter und Briefe 1853 –1871, hg. v. Wolfgang Golther, 38. Aufl., Leipzig 1908, S. 189. 254 „Kunst des Übergangs“ und formale Artikulation. Beispiele aus Richard Wagners Tristan und Isolde, in: Der „Komponist“ Richard Wagner im Blick der aktuellen Musikwissenschaft, Symposion Würzburg 2000, hg. v. Ulrich Konrad und Egon Voss, Wiesbaden 2003, S. 25. 255 Golther, a. a. O., S. 190. 253

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lung entfaltet die innere Entwicklung der Personen, ihres Wollens und ihres Schicksals, also eine innere Bewegung. Die „Handlung“ steht von Anfang an unter höchster Spannung. Wieder steht die Liebe im Zentrum. Das war in allen anderen Werken auch so. Aber im „Tristan“ fügt Wagner den bisherigen Beschreibungen und Defi nitionen der Liebe etwas hinzu, was er von Gottfried von Straßburg übernimmt: Ohne Leid an der Liebe gibt es keine Freude an ihr. Und: Die Liebe entsteht nicht erst, wenn sich zwei Personen begegnen, in denen sie erwacht. Sie bestimmt nicht erst von da an das Schicksal der Liebenden. Sie geht der Begegnung voraus. Die Liebenden sind sich vom Urgesetz der Welt bestimmt. Sie wird von ihnen als die höchste Macht des Seins erlebt, beschrieben und von der Musik als der tiefen „Kunst des tönendem Schweigens“ beschworen.256 Sie war schon da, bevor die beiden sich begegneten und sie mit unwiderstehlichem Absolutheitsanspruch ergreift, weil sie längst Ergriffene sind, bevor es ihnen bewusst wird. Und die Liebe wird auch noch da sein, wenn die begrenzte irdische Lebenszeit der Liebenden zu Ende sein wird. Die Szene, in der das klar wird, ist diejenige, in der Isolde den todwunden Tristan töten will. Er, der Mörder ihres Verlobten, sucht bei ihr Heilung und verhüllt seine Identität nur so lächerlich, dass sie sogleich wissen muss, wer der Hilfesuchende ist. Und sie hat Indizien, die ihn enttarnen. Da treffen sich ihre Blicke. Der Blick ist ein Offenbarungsmedium. Er enthüllt das Wesen der Welt oder das Geheimnis einer Person oder eines Wesens. Schlagartig werden die beiden Liebenden ihrer Liebe gewahr. Sie erfahren in dieser erotischen Brandfackel die Liebe als die Grundtiefe der Welt, die unter und über der Welt des Tages, des Ruhmes, des Kalküls, der gesellschaftlichen Konvention, der Sitte das eigentliche Prinzip der Welt ist. Der Blick offenbart, dass die Ewigkeit die angemessene „Zeit“ für die Liebe ist, welche die beiden unentrinnbar ergriffen hat. Und diese Liebe ist das „Ding an sich“, also der Antrieb, den alles was ist zu seiner Voraussetzung hat und bewegt. Die Liebe nimmt alle Züge des schopenhauerschen Willens an. Diese Tiefendimension ist der metaphysische Aspekt im „Tristan“. Beide Liebende versuchen, den Konsequenzen zunächst auf verschiedene Weise auszuweichen. Alle Rationalisierungen schiebt endgültig der als Todestrank gereichte, als Liebestrank alles offen legende Sühnebecher beiseite. Statt im Tod zu vergehen, versetzt der Trank Tristan und Isolde ins weite Reich der Weltennacht, zu dem der Tod der Durchgang ist. Das neue Verständnis der Liebe verändert auch das Verständnis des Todes. Der Liebestod ist der Durchgang zur Transzendenz, kein schlichtes Verlöschen. Auch dies hängt mit dem Dreiklang Liebe, Musik und Welt zusammen, der in der Schaffenskrise nicht zusammenklingen konnte und nun, mit und nach Mathilde, durch die Erfahrung der Liebe seine schöpferische Kraft wieder erweckt hatte. Denn dieser Dreiklang ist transzendenzgesättigt und den Zugang zu ihr eröffnend zugleich. 256

Tagebuch für Mathilde, 12. Oktober 1858, Golther, a. a. O., S. 69.

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Wieder bemüht Wagner zur Erklärung dieses Sachverhaltes erkenntnistheoretische Erwägungen, bevor er zu derjenigen Sache kommt, um die es ihm eigentlich geht. In einem Brief an Mathilde vom 19. Januar 1859, er arbeitet gerade am ersten Wiedersehen der beiden Liebenden im zweiten Akt „Tristan“, versucht er, das „Wunder“ zu erklären, das seine in den „Tristan“ geronnene ästhetische Idee, die schicksalhafte, auch durch den Tod nicht zu zerstörende Liebe als Erlösungsweg, ein so anderes Kunstwerk geworden ist als alles, was er vorher gemacht hat. 257 Kant schwingt mit, wenn er erklärt, dass in der gewöhnlichen Lebensanschauung sich alles Erkennen „an der Handhabe der Erfahrung hinzieht“. Aber um etwas zu erkennen, braucht man das vor aller Erfahrung uns mitgegebene „Gerüst“ Raum, Zeit und Kausalität, das „in unserem Gehirn, als dessen eigenthümlichste Funktion[en], vorgebildet ist.“258 Analog dazu verfügt der Künstler über die Idee als etwas, das von den „Bedingungen der Endlichkeit“ losgelöst vor aller Erfahrung in ihm selber vorliegt: Die ästhetische Idee. Das höchste Wunder wäre nun dies, „wenn dieses vorgeschaute, wesenhafte Etwas endlich ihm selbst in die Erfahrung tritt“259. In der Erfahrung mit Mathilde wurde ihm klar, dass er die Idee dieser Liebe schon immer in sich trug. Was der Liebestrank bei Tristan und Isolde bewirkte, hat sein Modell nicht nur im literarischen Tristan-Stoff als ästhetische Idee, sondern in der Liebe zwischen ihm und Mathilde. Auch sie entsteht nicht erst, als sie sich mehr oder weniger zufällig begegnen, sondern sie war immer schon da, trat da nur noch in die Erscheinung. 260 Diese existenzielle Tiefe der Liebe und des Todes, das ins Kunstwerk als Wort und Klang transformierte „Wunder“, macht den „Tristan“ als Kunstwerk so anders als seine anderen Werke, so dicht sie auch mit seinem Leben verbunden waren und so sehr er sich mit den leitenden Personen Holländer, Tannhäuser, Lohengrin, im „Ring“ auch mit Siegfried und dann Wotan identifi zierte. Auch nach der Katastrophe und dem mehr oder weniger erzwungenen „Entsagen“ und dem vorläufigen Verharren in der „Traumwelt“ weiß er, wem er die zurückgekommene Inspiration in den vergangenen Jahren und jetzt zum „Tristan“ verdankt. 261 Es bleibt die Faszination: Mit „So leb’ denn wohl, Du mein Himmel, meine Erlöserin, mein seliges, reines, liebes Weib! Leb’ wohl! Sei gesegnet aus tiefster Andacht meiner Seele!“ schließt Wagner am 12. Oktober 1858 den ersten Teil des venezianischen Tagebuchs für Mathilde.262 Und der schöpferische Schub hält

257

Golther, a. a. O., S. 96. Ebd. 259 A. a. O., S. 97. 260 Die Kontroversen in der Wagnerforschung, ob Wagner den Plan zum Tristan schon vor der Erfahrung Mathilde in sich trug oder nicht, können hier unbeachtet bleiben. 261 Brief an Mathilde 21. Dezember 1861, Golther, a. a. O., S. 291: „Dass ich den Tristan geschrieben, danke ich Ihnen aus tiefster Seele in alle Ewigkeit!“ 262 Golther, a. a. O., S. 68 f. 258

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an: Noch während der Arbeit am „Tristan“ keimen in ihm neue Projekte: „Sie sehen, ich bin so glücklich, wieder arbeiten zu können“, schreibt er wenig später, auch wenn der Schmerz über das Verlorene immer noch lebendig ist. 263 In der Erfahrung der Liebe in ihrer metaphysischen Dimension, die ihm die musikalische Inspiration zurückgab, eröffnet sich ihm auch wieder eine Welt. Aber diese Welt ist nicht mehr nur die empirisch Wahrnehmbare der „Vorstellungen“, um Schopenhauers Begriff zu verwenden. Die tritt völlig in den Hintergrund gegenüber der Liebe, die den Tod nicht mehr fürchten muss, sondern das einzige Sein ist, das dem Tod als Nichtmehr-Sein gewachsen ist. „Welcher König?“ fragt der um Fassung ringende, völlig verwirrte Tristan, als ihm und Isolde, beide liebestrunken, die Ankunft König Markes am Strand angekündigt wird: „Was will er?“ Und, so Wagners Regieanweisung, er „starrt wie sinnlos nach dem Lande“264. Für den Erlösungsweg der den Tod verändernden Liebe spielt so etwas wie die gesellschaftliche Tendenz zur Entzauberung der Welt überhaupt keinerlei Rolle mehr. Die tristaneske Liebe und der Tod ähneln sich wesentlich. 265 Der Tod kommt unausweichlich, niemand kann ihm entfl iehen. Er ist durch nichts manipulierbar. Er ist schon in der Welt bevor wir ihn erleben. Mit jeder neuen Geburt ist ein neuer Tod in der Welt. Das ist die Wahrheit des mittelalterlichen Totentanzes. In der Zeitlichkeit der empirischen Welt und der Endlichkeit menschlichen, ja allen Lebens schreitet der Tod. Im Tod erfahren wir eine Übermacht, die viele Religionen als göttliche Macht verstehen. Im Erleben unserer Welt erfahren wir seine Boten: Alter und Krankheit, Einbildungen, Schwächen des Gedächtnisses, Irrtümer und bewusstes Verstellen, Lügen – alles trübe Verzerrungen der Weltsicht – machen uns die Endlichkeit als Unvollkommenheit bewusst. Der Schlaf unterbricht vorübergehend unser Sehen der Welt. Der Tod gehört zur das Leben erst einschränkenden und dann vernichtenden Nachtseite des Lebens. Das wussten schon die Alten: „Die Nacht aber gebar das verhasste Geschick und das schwarze Verderben und den Tod. Sie gebar auch den Schlaf. Sie gebar auch das Geschlecht der Träume.“266 Seine Endgültigkeit anzuerkennen und sich selber ins ewige Werden und Vergehen eingebunden zu wissen und das zu akzeptieren, das hieß: Wir müssen sterben lernen! Jedoch wussten auch die Alten schon, dass die Vorboten des Todes auch zugleich lebensnotwendige Lebensstadien sind: Der Schlaf dient der Erneuerung unserer Lebenskraft, Vergessen kann auch von der Last der Vergangenheit befreien, Krankheiten können der Erneuerung von Leib und Seele dienen und ohne Träume würde

263

19. Januar 1859, Golther, a. a. O., S. 98. Textbuch I / Z. 786 –789. 265 Zum Folgenden vgl. Klaus Held, Epidaurus. Philosophie und Tragödie, in: Treffpunkt Platon, Stuttgart 1990, S. 96 –107. 266 Hesiod, Theogonie 211 f., Übersetzung von Karl Albert, Kastellaun 1978, S. 61. Homer nennt den Tod „ehernen Schlaf“, Il 11,241. 264

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unsere Seele krank, ohne Vergehen gibt es kein Werden. Das Sein hat das Nichtsein stets bei sich. Die negativen Züge unserer sterblichen Existenz beeinträchtigen unser Leben nicht nur. Sie ermöglichen es auch. Und so deutet Wagner mit der Romantik die bedrohliche Nachtseite um als diejenige Daseinsgestalt des Seins, aus der sich das Leben aus seiner Wahrheit selber erneuern kann. War den Griechen die Nacht als Inbegriff des Dunklen, als Bereich des Todes an die Erde gebunden, aus der dann auch das neue Leben in seiner unermesslichen Erneuerungsfähigkeit hervorging, so ist den Romantikern und auch dem „Tristan“ Wagners die Erfahrung der Liebe die Erfahrung des vom Tod nicht erreichbaren Lebens. Diese Liebe, das erfährt man im Reich der Nacht, ist gleich schicksalhaft wie der Tod, aber anders als er ewig. Wer sie erfährt, verliert die Angst vor dem Tod. Denn in ihrem Begehren und ihrer Sehnsucht scheint die eigentliche Triebkraft nicht nur des individuell Liebenden, sondern allen Seins schon jetzt in das so tief beschädigte Leben hinein. In ihr zeigt sich die Möglichkeit, diese empirische Welt des Leides, des Todes und einer Gesellschaft, die diese Liebe nicht erlaubt und ihr kein Daseinsrecht einräumt, aufzuheben auf dem Weg zur Erlösung, nicht nur des Individuums, sondern der Welt überhaupt. Die Liebe führt den liebenden Menschen in dieser Ausschließlichkeit ihrer Erfahrung dazu, sein Begehren und seine Sehnsucht als identisch mit dem Grund der Welt selber zu begreifen. Die Musik als „Ur-Abbild“ dieser mit Erlösung angefüllten Welt ist das Medium, um diese eigentlich unsagbaren Zusammenhänge auszudrücken und den sie hörenden und das Kunstwerk erlebenden Menschen diese Wahrheit so zu vermitteln, dass sie in diesen Strom der lösenden Gewalt der Liebe hineingenommen werden können. Das Kunstwerk, das dieses Vermögen hat, dringt durch das oberflächliche, abstrahierende, alltägliche Bewusstsein des Menschen hindurch in die Tiefe der menschlichen Seele. Es steht nichts weniger als die Existenz selber auf dem Spiel. Damit sie dem Tod gewachsen sein kann, muss die Liebe das Leiden in sich aufnehmen können, ohne dass es das letzte Wort hat. Darum gibt es auch ein Leiden an der Liebe. Der „Tristan“ ist voll davon, weil Wagner in ihm die ästhetische Form für diese Tiefendimension erreicht. Das Leiden regiert die Fieberträume Tristans im dritten Akt. Die Liebe umgreift das Leid, die Enttäuschung und den Tod, ist niemals ohne sie und zugleich deren erlösende Überwindung. Wenn die Liebe der Endzweck der Weltgeschichte ist, wie Novalis meint und Wagner im Tristan in Musik setzt, dann gehört zu ihr auch das tiefe Leid, das über der Welt liegt, alle Enttäuschung und die drohende Verzweiflung. Schon das Ende des zweiten Aktes und erst recht die Fieberträume des dritten werden von ihnen regiert. Nach der Entdeckung der Liebenden im zweiten Akt bricht die Realität des Tages und ihre destruktive Gewalt in den Zauber der Liebesnacht ein. Tristan fordert Isolde auf, ihm in „das Wunderreich der Nacht“ zu folgen. Isolde verspricht es ihm und bittet ihn, ihr den Weg zu zeigen. 267 Der Weg ist der Tod. Beide haben es in ihrer verschmelzenden Liebe erfah267

„Wo Tristans Haus und Heim, da kehr’ Isolde ein: auf dem sie folge treu und hold, den Weg nun zeig Isold’!“ Textbuch, Z. 1633 –1637.

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ren: Der Tod ist nicht einfach Nichtsein, sondern Nicht-mehr-so-Sein. Das ist die Differenz des Tristan zum Buddhismus. 268 Tristan und Isolde stirbt nur alles, was die erfüllte Liebe stören könnte. Der Tod ist das dunkle, aber offene Tor in das Land der ewigen, alle Trennungen hinter sich lassenden, selbst die Individualitäten auflösenden und sie verschmelzenden Liebe. 269 Das wissen beide. Darum stürzt sich Tristan in Melots Schwert, in der Hoffnung, durch dieses dunkle Tor ins Leben zu gehen und dass Isolde ihm folgt. Wagner kommentiert diese ungeheure Szene in dem schon erwähnten Brief an Mathilde: „Mein grösstes Meisterstück in der Kunst des feinsten allmählichsten Übergangs ist gewiss die grosse Scene des zweiten Actes von Tristan und Isolde. Der Anfang dieser Scene bietet das überströmendste Leben in seinen allerheftigsten Affecten, – der Schluss das weihevollste, innigste Todesverlangen“270, und bringt diese musikalische Form in den Zusammenhang mit seinem Leben. Jedoch Tristan wird doppelt enttäuscht: Er stirbt nicht. Zwar versinkt er ins „weite Reich der Welten Nacht“, in das „göttlich-ew’ge Ur-vergessen“271 – aber er bleibt nicht dort, sondern erwacht an Leib und Seele, an der Liebe verwundet. Schlimm genug, aber noch schlimmer: Isolde ist nicht dort, wohin ihn die Verwundung trieb. Obwohl sie es versprochen hatte, ist sie ihm nicht in den Tod gefolgt. Das treibt ihn in an den Rand des Wahnsinns. Darum meint Wagner, auch wieder natürlich im vertrauten Brief an Mathilde, die, das setzt er voraus, das genau so weiß wie er, er sähe die Gefahr, dass die Menschen verrückt würden, wenn sie den Tristan in einer guten Aufführung hören.272 Der erwachende Tristan ist verzweifelt darüber, dass es so scheinen muss als habe er sich von der Liebe täuschen lassen. Nichts von allem Liebestaumel hat er vergessen. Er meint sogar, Isolde habe ihn aus der Nacht herausgerufen. So erwacht sogleich mit ihm wieder die Liebe als unstillbares Begehren. Sie ist das einzige, was ihm geblieben ist. Wie im Wahnsinn treibt es ihn dazu, Isolde im Licht des Tages zu suchen, das ihr immer noch scheint. In seinen Fieberbildern verschwimmt das Sonnenlicht zur Leuchte, deren Verlöschen einst den Beginn der Liebesnacht angezeigt hatte: „Noch losch das Licht

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Da löst sich das Selbst, das ja Illusion ist ganz und gar auf, nur das Karma bleibt übrig und sucht sich eine neue Existenz, die keine Kontinuität mit der vorigen hat. 269 „So starben wir, um ungetrennt, ewig einig, ohne End›, ohn’ Erwachen, ohne Bangen, namenlos in Lieb’ umfangen, ganz uns selbst gegeben der Liebe nur zu leben“, singt Tristan Isolde vor, Textbuch, a. a. O., Z. 1062 –1071. Isolde antwortet mit der bezeichnenden fragenden Variante: „Stürben wir …?“ Gemeinsam weihen sie sich beide „dem süßen Tod“, denn dieser Tod ist der „Liebes-Tod“, der sie „ewig heim“ bringt als „höchste Liebes-Lust!“, vgl. a. a. O., Z. 1362–1460. 270 19. Oktober 1859, Golther, a. a. O., S. 189. 271 Textbuch, a. a. O., Z. 1757–1762. 272 Brief aus Luzern 10. April 1859, Golther, a. a. O., S. 122: „Kind! Dieser Tristan wird was furchtbares! Dieser letzte Akt!!! –Ich fürchte die Oper wird verboten – falls durch schlechte Aufführung nicht das Ganze parodiert wird –:nur mittelmäßige Aufführungen können mich retten! Vollständig gute müssen die Leute verrückt machen, – ich kann’s mir nicht anders denken. So weit hat’s noch mit mir kommen müssen!! O weh!“

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nicht aus, noch ward’s nicht Nacht im Haus, Isolde lebt und wacht, sie rief mich aus der Nacht.“273 Woran liegt es, dass die Liebe so mit Schmerz verbunden ist, dass Wagner die gesamte ästhetische Idee des „Tristan“ mit dem Wort „die Liebe als furchtbare Qual“ zusammenfassen konnte?274 Es liegt daran, dass die Liebe unter den Bedingungen der Endlichkeit nur als Vorschein des Gelungenen lebbar ist, als Sehnsucht nach der Erfüllung. Erfüllung, die im Mangel des Schmerzes die Fülle als Versprechen in sich trägt. Es liegt nur vordergründig daran, dass die gesellschaftlichen Konventionen, Ehrbewusstsein, Rachewünsche und Standesinteressen es nicht zulassen, dass Vasall und Königin in ehebrecherischer Beziehung stehen. Natürlich war dies für das 19. Jahrhundert und seine Moralität, und vielleicht ist das heute noch so, auch ein anstößiges, normenverletzendes und zugleich prickelndes und aufregendes Motiv. 275 Und natürlich war es reizvoll ästhetisch, eine polare Spannung zwischen Mann und Frau zu erleben, welche die Frau dem Mann nicht unterordnet und dem Mann erlaubt, seine gesellschaftliche Festlegung auf Rationalität, Sittlichkeit und Abwehr des Gefühls abzulegen sowie im Kunstwerk sich von einer androgynen Gegenwelt zur herrschenden Geschlechtersemantik ergreifen zu lassen. 276 Dass Tristan ein Mann und Isolde eine Frau ist, ist nur am Anfang wichtig und vergleichgültigt sich schnell und ist „eine Emanzipation der beiden Geschlechter aus ihren sozialen Zuschreibungen“277. Das ist eine bemerkenswerte Veränderung von Wagners Frauenbild aus den frühen Werken, in denen Frauen in der Liebe ihrem genetischen Zwang zum Lieben folgen müssen und das bis zur Hingabe auch wollen, sobald der Mann mit seiner Liebe in ihnen Individualität und Willen erweckt hat. 278 Es geht um mehr. Weil Wagner mit der Romantik die Ewigkeit als die einzige der Liebe angemessene Kategorie begreift, ist die Integration des Schmerzes und des Leides in die Liebe eine ontologische Notwendigkeit und nur oberflächlich die Folge soziologischer Verhältnisse. Über dieser Liebe liegt in der Raumzeitlichkeit des menschlichen Daseins der Schatten der Endlichkeit. Darum ist sie unter den Bedingungen der end-

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Textbuch, a. a. O., S. 1831–1835. Vgl. a. a. O., S. 336. 275 Martin Geck, Wagner, a. a. O., S. 247, merkt zutreffend an, dass man auch im Blick auf Wagners Ehe mit Minna anerkennen sollte, dass Wagner sich „mit dem Thema Untreue skrupelhaft herumschlägt“. 276 Vgl. Regina Mahlmann, Was verstehst du unter Liebe? Ideale und Konfl ikte von der Frühromantik bis heute, Darmstadt, 2003, S. 89 –123. 277 Udo Bermbach, Der tückische Tag. Überlegungen zu Wagners Tristan und Isolde, in: Die Wirklichkeit erfi nden …, a. a. O., S. 130. 278 Das Verhältnis von Tristan und Isolde überbietet dieses Frauenbild, exemplarisch noch in: Oper und Drama, a. a. O., S. 118 f. festgehalten, bei weitem. Ich kann, anders als Bermbach, a. a. O., S. 129, aus der zitierten Stelle keinen emanzipatorischen Sinn ableiten. 274

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lichen Existenz nur, als Abbild des Urbildes279, mit Leid verschwistert erfahrbar. Jedoch wer sie entdeckt und wem sie erblüht, oder wen sie heimsucht, der erfährt, dass im Abbild der erotischen Liebe unter der Oberfläche der gottvergessenen und hinfälligen, das Sein als die Summe verwertbarer Objekte begreifenden Welt die Möglichkeit der Erlösung zu einem anderen Leben der Liebe erscheint, was Ewigkeit meint, die aber noch nicht ist. Mit der Eröffnung des transzendenten Horizontes der Liebe bekommt sie eschatologische Qualität, die sich in ihrer raumzeitlich unerfüllbaren Sehnsucht manifestiert. Die Zeit und die Zeitlichkeit sind der ontologische Grund für den Schmerz, für die Melancholie, die der Liebe stets auch nahe ist. Weil der schöne Augenblick eben nicht verweilt, wie Goethe wusste, ist die Liebe unter den Bedingungen der Endlichkeit nur mit der Qual einer unstillbar scheinenden Sehnsucht verbunden. Die Liebe ist rücksichtslos und ohne Mitleid, gleicht darin dem Willen. Sie will nur sich selber, jedoch mit sich auch das geliebte „Du“. Als transzendentes Prinzip der Welt ist sie der stets objektivierenden Sprache und erst recht den Begriffen unerreichbar. Es geht um Unsagbares. Genau das Unsagbare kann die Musik in der Sprache des „tönenden Schweigens“ sich zeigen lassen. 280 Sie vermag es, das Unaussprechliche in Klang zu fassen. Was in ihr erklingt, gibt der Liebe als Lust und Leid und der möglichen Auflösung der Qual eine Stimme. Und sie nimmt das Wort mit, und führt es an seine Grenze. Wagner besteht darauf, dass im „Gewebe der Worte und Verse bereits die ganze Ausdehnung der Melodie vorgezeichnet, nämlich diese Melodie dichterisch bereits konstruiert ist“281. Es gibt eine mögliche Lösung der Qual, eine Auflösung der nur anscheinend unauflöslichen Spannung. 282 Schon in den ersten Takten des Vorspiels, der Einleitung, ertönt diese schmerzliche Spannung, die sich nicht auflösen kann im sogenannten Tristan-Akkord: F – H – Dis – Gis. Der beginnende Sext-Aufschwung in den Violoncelli – das Cello ist der menschlichen Stimme am ähnlichsten – ist ein Klageton, der lange auf dem F verharrt und dann wieder zurück sinkt. Man kann diesen Sext-Aufschwung als männliche Klage verstehen, denn seit dem Barock ist die emphatische Sext das Zeichen für Klage, Schmerz und Sehnsucht. 283 Die Holzbläser intonieren anschließend den berühmten Tristan-Akkord, und Holzbläser stehen traditionell für ein weibliches Klangbild. Nach 279

In der neuplatonischen Ontologie, klassisch bei Plotin, gibt es zwischen dem Urbild (des Vaters) und dem Abbild (des Nous) eine ontologische Differenz. Dieses Differenz begleitet die gesamte europäische Mystik und so natürlich auch die Romantik. 280 Vgl. aus ganz anderem Zusammenhang Ludwig Wittgenstein, Tractus logico-philosophicus (1921): „4.1212 Was gezeigt werden kann, kann nicht gesagt werden …, 6.522 Es gibt allerdings Unaussprechliches. Dies zeigt sich, es ist das Mystische …, 7 Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen“, 5. Auflage Frankfurt a. M. 1968, S. 43 u. 115. 281 Zukunftsmusik (1860), GS Bd. 1, S. 211. 282 Ich folge hier der musikalischen Analyse von Ulrike Kienzle, … dass wissend, a. a. O., S. 158 –161, ohne auf die religionsgeschichtlichen Analogien einzugehen. 283 Vgl. Ulrike Kienzle, a. a. O., S. 159 f.

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der horizontalen kommt jetzt eine vertikale Zusammentrennung der Töne in eine spannungsvolle Dissonanz. So beschreibt der Tristan-Akkord Tristans und Isoldes Welt, in der ihre Liebe geschieht. Die Verschmelzung zwischen dem Männlichen und dem Weiblichen löst sich dann im dritten Takt auf verschiedene Weise auf, so dass die Tonqualität zwischen vielen möglichen Bedeutungen changiert. In der Partitur bleibt in den ersten beiden Systemen in der Instrumentengruppe Oboe zwei, Violoncello, Klarinette eins und zwei der Zusammenklang absolut unaufgelöst, während im System drei Oboe eins und Englischhorn, das Instrument der Klage, sich das Diskant-Gis’ nach A’ auflöst. So entsteht ein Terz-Quart-Akkord, und der kann entweder als alterierte Version eines Subdominanz-Akkords oder als Doppeldominant-Akkord verstanden werden. Das heißt, der Tristan-Akkord ist im Grunde eine Vorhaltsbildung, der im Takt 3 mit einem neuen Vorhalt aufgelöst und in einen relativ entspannten Dominant-Sept-Akkord der Grundtonart a-Moll aufgelöst wird. Dieses Initial wird im weiteren Verlauf mehrfach wiederholt, und sein Ausdruckscharakter wird intensiviert. Schließlich verselbständigt sich der Tristan-Akkord und erzeugt so eine immer höhere Spannung, bis dann im Takt 17 die erste weiträumige melodische Bewegung einen Neuanfang markiert. Der Ausgangspunkt einer schier endlosen Folge von Variationen und Sequenzen, das heißt die im Tristan-Akkord spannungsvoll wiedergegebene Sehnsucht, zeugt sich permanent fort und steigert sich über das ganze Werk bis hin zur Qual der Liebe des dritten Aktes, demjenigen Leid, das der allmächtige Wille über alles gelegt hat, was ist, um es mit Schopenhauer auszudrücken, oder der Zeitlichkeit und Vergänglichkeit des endlichen Lebens, die der Ewigkeit der Liebe nicht angemessen sind. Auch wenn diese Spannung sich durch das ganze Werk hindurch steigert bis hin zum Fluch auf den Liebestrank, der doch die Liebe aufgedeckt hat, gibt es am Ende eine Lösung nach „Isoldes Verklärung“ und ihrem Versinken „in des Welt-Atems wehenden All“284: „Ganz am Schluß, in den letzten Takten, erfährt die zuvor stets ungelöste Tristan-Spannung endlich eine Auflösung. Noch einmal erklingt das chromatische Sehnsuchtsmotiv; es wird jetzt aufwärts geführt und nach einer bereits früher beschriebenen Kadenzformel, die von der Moll-Subdominante über die sixte ajoutée zur Tonika fortschreitet, in einem verschwebenden H-Dur-Akkord des vollen Orchesters aufgelöst.“285 Das heißt: Die im Tristan-Akkord sich zusammenfassende Spannung einer unstillbaren Sehnsucht hat das Material zu ihrer möglichen Auflösung als Erfüllung in sich, selbst wenn im Vorspiel die Auflösung des Tristan-Akkords noch unterbleibt und der Schlussklang wie eine Konsonanz nur wirkt, aber noch nicht ist. 286 Dass es sie gibt und worauf sie zielt, hört man im Duett der beiden Liebenden: „O sink hernieder, Macht der Liebe …“ Die Melodie der Singstimmenführung der so beginnenden Liebesnacht be-

284 285 286

Textbuch, a. a. O., Z. 2376 –2379. Ulrike Kienzle, a. a. O., S. 171. Vgl. Egon Voss, Nachwort im Textheft, a. a. O., S. 122.

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steht aus den Tönen des Tristan-Akkordes. 287 Wagner verarbeitet die in der Romantik so bedeutsamen Gegensätze von Tag und Nacht, von Zeit und Ewigkeit, des Endlichen und Unendlichen, Sein und Nichtsein, Tod und Leben, Trennung und Wiedervereinigung des Getrennten, um darin alle romantischen Sehnsüchte „auf die eigene Welt der Liebe“ zusammenzufassen. 288 Was bedeutet dies für das Thema der Säkularisierung und welche Rolle spielt der „Tristan“ in der ästhetischen Auseinandersetzung Wagners mit dieser gesellschaftlichen Entwicklung? Selbstverständlich ist die Gesellschaft mit ihren Strukturen und Werteordnungen auch im „Tristan“ stets präsent, gerade auch dann, wenn sie verletzt oder übertreten werden. Die Liebenden verneinen kritisch für sie notwendig und unvermeidbar ihre unbedingte Geltung. Aber darauf kommt es nicht an. Tristan und Isolde versuchen ja zunächst, ihre Liebe durch die Rückbesinnung auf die gesellschaftlichen Konventionen zu annullieren, jedenfalls in Schach zu halten. Diesen Versuch zerstört der Liebestrank. Isolde versucht noch einmal, in ihrer sozialen Lage als Königin, Halt im Chaos zu gewinnen. Sie folgt Tristan nicht in den Tod, sondern bleibt bei Marke. Auch das gelingt nicht. Die Erfahrung der Liebe macht gesellschaftlich haltlos, weil sie von einem Halt gehalten ist, der alle endliche Norm und Struktur auflöst, zumindest für das endliche Dasein gleichgültig macht. Sie empfi ndet ihr Verhalten später durchaus als Schuld. Als sie, von Kurwenal gerufen, endlich kommt, um Tristan noch einmal zu heilen, will sie die versprochene Treue doch noch einlösen und mit ihm sterben. Sie kommt zu spät, Tristan stirbt in ihren Armen, was sie als Strafe für ihre Treulosigkeit versteht. Der Wunsch der beiden „Nachtgeweihten“, gemeinsam ins „Wunderreich der Nacht“ einzutauchen, gelingt auch jetzt nicht. Aber diesmal folgt sie ihm. Marke, Brangäne und alle, die Kurwenals blinde Wut überlebt haben, starren mit Entsetzen und Unverständnis auf das Geschehen. Ob sich ihr Leben des Tages nach diesen Erfahrungen verändert, bleibt offen. Vermutlich nicht, es sei denn die Liebe würde sie ergreifen. Die Welt ist auch nach dem Tod der Liebenden präsent, aber das spielt keine Rolle im Zusammenhang mit dem, was wirklich wichtig ist, wenn die Liebe das Grundprinzip der Welt ist. Nur diejenigen, die der Handlung im Theater folgen konnten, können sich fragen, ob auch sie von der Liebe ergriffen sind und was das für ihr Leben und ihre alltägliche Lebenswelt bedeutet. Die Entwicklung der Gesellschaft, ihre Strukturen, Abläufe und Tendenzen und Begründungszusammenhänge für ihre Normen und Ziele stehen nicht im Fokus dieses Werkes. Sie sind einfach da.

287

Vgl. Ulrike Kienzle, a. a. O., S. 168. Paul Arthur Loos, Richard Wagner. Vollendung und Tragik der deutschen Romantik, München 1952, S. 129. Loos Darstellung der romantischen Quellen und seine systematische Auswertung im Blick auf Wagner ist unübertroffen. Vgl. auch Ricarda Huchs grandioses Kapitel „Romantische Liebe“ in ihrem Werk: Die Romantik. Ausbreitung. Blütezeit und Verfall, Tübingen 1951, S. 227–253. 288

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Schon Thomas Mann hat darauf aufmerksam gemacht, dass es im „Tristan“ ohne Religion und ohne Gott zugehe. „Es gibt ausschließlich erotische Philosophie, atheistische Metaphysik, den kosmogonischen Mythos, in dem das Sehnsuchtsmotiv die Welt hervorruft.“289 In alledem ist Wagners „Tristan“ Schopenhauers Philosophie verpfl ichtet. Sie ist, wie Mann schreibt, eine „welterotische Konzeption, die ausdrücklich das Geschlecht als den Brennpunkt des Willens anspricht und den ästhetischen Zustand als denjenigen reiner und interesseloser Anschauung verstanden wissen will, als die einzige und vorläufige Möglichkeit, von der Tortur des Triebes loszukommen.“290 Das trifft sich, wie gezeigt, mit Wagners eigenen Überzeugungen. Mann hat auch Recht, wenn er den allgemeinen seelischen Charakter von Wagners Musik als „etwas pessimistisch Schweres, langsam Sehnsüchtiges, im Rhythmus Gebrochenes und aus dunklem Wirrsal nach Erlösung im Schönen Ringendes“ beschreibt und der Stimmungslage von Schopenhauers Philosophie gleichordnet. 291 Aber Mann hat nicht Recht, wenn er, sich auf eine Stelle im Prosaentwurf beziehend, den schopenhauerschen Weltwillen mit Wagners transzendenter Liebe als dem Prinzip der Welt völlig gleichsetzt. Die Liebe als Sehnsucht durchzieht auch die unvollkommene Welt des Tages. Sie ist ewig und verliert ihren Sehnsuchtscharakter erst in der bewegten Ruhe der Wiedervereinigung des Getrennten. Die Sehnsucht ist die Chiffre für die Liebe unter den Bedingungen der Endlichkeit. Die zu sich selbst gekommene Liebe der Liebenden hat keine Sehnsucht mehr. Das Ich der Liebenden löst sich auf, vergeht aber nicht ins Nichts, sondern ins Alles der Liebe, in dem sie, verwandelt, zu sich selber kommen. Die Liebe „mortifi ziert“ sich nicht, wie der Wille als Erlösung. Sie kommt zu sich selbst. Dieses Ziel ist sprachlich nicht auszudrücken, weil alle Sprache im SubjektObjekt-Schema verhaftet ist. Das „unbewusst-höchste Lust!“ ist das letzte, erreichbare Wort und verhaucht sich in den Klang des Schlussakkordes, der das Unsagbare über das Wort erhebt. Der Durchgang durch das Tor des Todes führt in die Liebe und löst sie nicht auf. Erlösung hieß für Schopenhauer die Verneinung des allmächtigen, blinden Drangs zum Leben, das der Wille ist: „Wahres Heil, Erlösung von Leben und Leiden, ist ohne gänzliche Verneinung des Willens nicht zu denken.“292 Sie ist „nicht durch Vorsatz zu erzwingen, sondern geht aus dem innersten Verhältnis des Erkennens zum Wollen im Menschen hervor, kommt daher plötzlich und wie von außen angeflogen“293. Das Er-

289 Leiden und Größe Richard Wagners (1933), in: Im Schatten Richard Wagners. Thomas Mann über Richard Wagner, Texte und Zeugnisse 1895 –1955. Ausgew., komm. und mit einem Essay von Hans Rudolf Vaget, 2. durchges. u. erg. Auflage, Frankfurt a. M. 2005, S. 123. 290 A. a. O., S. 118. 291 A. a. O., S. 105. 292 WWV I,§68, S. 540. 293 WWV I, §70, S. 549. Schopenhauer merkt, dass er hier religionsaffi n formuliert und lobt die Kirche, die diesen Vorgang als Gnadenwirkung beschrieben habe. Aber auch diese sei abhängig von der Aufnahme der Gnade und darum sei die Selbstaufhebung ein Freiheitsakt des Willens.

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lösungsziel, die Auflösung des Ich, das sowieso nichts als Täuschung sei, wird über die „Mortifi kation“294 des Willens angestrebt, der Mitleid und Askese als Weltverhalten entspricht. Sie sind die Gestalt der reinen, nichterotischen Liebe voller Güte und Edelmut, der Agape. 295 Für Wagner hat die Liebe nicht das Ziel, sich zu verneinen, sondern zu erfüllen. So beruhigt sich die sehnsüchtige Liebe als erfüllte Sehnsucht im endlich geglückten „nie mehr Erwachen“ der vollkommenen Liebe in der Einheit der Liebenden miteinander und mit dem Weltkern. Für Wagner geht es im „Tristan“ um das zu fi ndende „Glück“. 296 Für Schopenhauer gibt es „nur einen angeborenen Irrthum, und es ist der, dass wir da sind, um glücklich zu seyn.“297 Der Wille beruhigt sich darin, dass kein Wille mehr ist. Die „glücklichste Entwickelung“ des „ursprünglich blinden Willens“ ist, „dass er zu sich selbst komme, um sich selbst aufzuheben.“298 Wem das gelungen ist und wer den Schleier der Maja durchschaut hat, hört auf, „irgendetwas zu wollen“299. Und da die Welt der Spiegel des Willens ist, hört durch das „Quietiv“ des Willens auch die Welt auf, etwas zu sein. Daher: „Was nach gänzlicher Aufhebung des Willens übrig bleibt, ist für alle, welche noch des Willens voll sind, allerdings nichts. Aber auch umgekehrt ist Denen, in welchen sich der Wille gewendet und verneint hat, diese unsere so sehr reale Welt mit allen ihren Sonnen und Milchstraßen – Nichts.“300 Obwohl Wagner immer wieder im Zusammenhang des „Tristan“ vom „Nirvana“ spricht und den Beginn des „Tristan“ mit dem buddhistischen Weltbild vergleicht, demzufolge eine Welt, die lange vollständig verschwunden war, durch einen schwachen Hauch, einen Wind, der sich erhebt, wieder entsteht, 301 bemerkt er selber die tiefe Differenz zum Erlösungsziel Schopenhauers. Immer noch meint er, grundsätzlich mit Schopenhauer konform zu gehen, wenn er bemerkt, Schopenhauer habe die erotische Geschlechtsliebe als einen Weg zur Willensberuhigung übersehen und daher gebe es eine Lücke in seinem System. 302 Schopenhauer hat diesen Weg nicht übersehen, sondern grundsätzlich ausgeschlossen. Im buddhistischen Nirvana ist bei allen Differenzen zwischen dem hinayana und dem mahayana keine Spur von dem zu finden, wohin sich Tristan und Isolde sehnen und in das sie versinken wollen: das Reich der Liebe und 294

WWV I, §68, S. 528. Vgl. WWV I, §67, S. 511. 296 Textbuch / Z. 1820. 297 WWV II, Kap. 49, S. 813. 298 WWV II, Kap. 45, S. 730. 299 WWV I, §68, S. 517. 300 WWV I, § 71, S. 558. Schopenhauer bezieht sich ausdrücklich auf den Buddhismus, in dem das Nichts auch das „Jenseits aller Erkenntnis“ ist, d. h. „der Punkt, wo Subjekt und Objekt nicht mehr sind“, vgl. ebd., Anm. F. 301 Brief vom 3. März 1860 an Mathilde, Golter, a. a. O., S. 217. 302 Venezianisches Tagebuch für Mathilde, 1. Dezember 1858, Golter, a. a. O., S. 79 f. Ich bin auch sehr skeptisch, ob Isoldes Liebestod als „naturmystische Utopie“ zu verstehen ist und eine „Vision des Nirvana“ ist, wie Ulrike Kienzle, dass wissend …, a. a. O., S. 171 meint. 295

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Lust, das nicht mehr vom spaltenden Bewusstsein verdeckt wird, sondern der Kern und das Prinzip der Welt ist und ohne Eros nicht zu denken ist. Tristan und Isolde „entsagen“ nicht, im Gegenteil. Ihre Sehnsucht zielt ganz und gar romantisch auf „die alles überwindende Riesenleidenschaft des Einswerdens“, für die der erlebte Geschlechtsakt zwar „weder die einzige, noch die reinste Art der Liebe ist“. Was die Liebe meint entzündet „sich an diesem Brennpunkt doch am feurigsten“303. Nichts ist den beiden Liebenden fremder als das asketische Ideal. Der einzige Akteur im „Tristan“, der entsagt, ist Marke und der kann, wie Tristan ihm versichert, von alledem, worum es eigentlich geht, „nichts erfahren“. Sie wünschen sich im Liebesduett die Auflösung ihrer Identitäten. Aber sie wünschen sich eben nicht, dass es sie nicht mehr gäbe. Es geht um Transformation und nicht Auflösung einer bestimmten und vorübergehenden Zusammensetzung von Dharmas aufgrund der ehernen Vergeltungskausalität des Karmagesetzes. Das Sehnsuchtsziel des „Tristan“ ist nicht vergleichbar mit der buddhistischen Verneinung eines substantiellen Selbst, sondern gerade eine substantielle Verschmelzungsidee, in der das Individuum in dem Weltkern, in „des Welt-Atems wehendem All ertrinken“ will, aber verwandelt dennoch sein will. Das Sein der Liebe ist rechtfertigungsloses, notwendiges, einfaches, unzertrenntes Dasein und nicht Nichtsein. Diese Idee teilt die Romantik mit der gesamten westlichen Mystik. Sie unterscheidet sie vom Buddhismus. Gleichwohl mag richtig sein, dass Wagner selber meint, Vorstellungen vom Nirvana mit den Traditionen romantischer Todessehnsucht und frühe Gedanken Ludwig Feuerbachs zu verbinden. 304 Wichtig aber bleibt, dass Wagner, anders als im „Lohengrin“, mitten in der säkularen Welt einen Weg zur Erlösung aus dieser Welt sucht und fi ndet, und zur Beschreibung dieses Weges und seines Zieles sich neben der Willensmetaphysik Schopenhauers, aber auch durch sie ermutigt, religiöser Traditionen bedient. Die Liebe ist durch den Tod nicht zu besiegen, nur zu verwandeln. Mitten in einer säkularen Umwelt, deren Verfassung nur oberflächlich wichtig ist, erscheint eine Transzendenz, die von der Immanenz gestört aber nicht zerstört werden kann Das traurige Fazit Lohengrins ist somit nicht Wagners letztes Wort zum Thema Säkularisierung und ihren Folgen.

303 Ricarda Huch, Die Romantik, a. a. O., S .228. Diese Vorstellungen dringen aus der hinduistischen Umwelt in den frühen Buddhismus ein. Für manche mahayana-Buddhisten und tantrische Richtungen ist der Koitus „nicht nur Metapher für die mystische Vereinigung mit der Gottheit, sondern geht auch auf die gleiche Energiequelle wie diese zurück“. Peter Gerlitz, Buddhismus, in: Ethik der Religionen. Lehre und Leben Bd. 1 Sexualität, hg. v. Michael Klöcker und Udo Tworuschka, München und Göttingen 1984, S. 148 f. 304 Vgl. Ulrike Kienzle, dass wissend …, a. a. O., S. 171.

Der „Ring“

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Der „Ring“. Wagners säkulare Weltanschauung „Erlösung durch den Untergang“ und seine „Rettung ins Ungenaue“ Der „Ring“

Der „Ring“, dieses großen Welttheater, an dem er mit großen Unterbrechungen 26 Jahre arbeitet, bietet für das Thema Säkularisierung wenig Neues. Wagner legt seinen Mythos ohne Religion und ohne Theologie an, was nicht heißt, dass es nicht gelingen kann, mit Hilfe theologischer Perspektiven die Handlungen der Personen, ihre Begründungen und Ziele zu verstehen. So ist die Frage, ob Wotan von Anfang an „ein trauriger, sich entmachtender, ein scheiternder Gott“305 ist, wofür Wagner selber zu plädieren scheint, möglicherweise aus theologischer Perspektive anders zu beantworten als es Wagner und mit ihm die Mehrheit der Wagnerforschung tut. Denn auch nach Siegmunds Tod und Siegfrieds Machtübernahme und seinen Schandtaten läuft mit Brünhilde alles nach Plan. Wotan will das Ende, weil eine Erlösung nur möglich ist, wenn alles, was sich nach dem Raub des Rheingoldes ereignet hat, untergeht. 306 Auch im „Ring“ stoßen wir auf Wagners „leitende Idee“, ein Leitmotiv und keine starre Formel: „Erlösung durch Untergang“307. Also auch hier, wo das religiöse Element in der Art, wie Wagner den Mythos gestaltet zurücktritt, geht es um Erlösung, allerdings nicht durch Gottes Gnade, wie im „Tannhäuser“. Im „Ring“ müssen die Protagonisten selber dafür sorgen. Die lange Zeit der Entstehung des Werkes und der stilistische Bruch, die Wagner verändernden emotionalen Erfahrungen der Liebe mit Mathilde und der Wechsel seiner philosophischen Orientierung, weg von Feuerbach und hin zu Schopenhauer, erlauben unterschiedliche Zugänge, auf die es jetzt nicht ankommt. Wagner selber war sich ja nicht schlüssig und es gibt vier mögliche Schlüsse der Götterdämmerung. 308 Wichtiger sind die Fragen, ob sich die gesellschaftliche Säkularisierung, die sich in der Zeitspanne von 1848 bis 1876, den ersten Bayreuther Festspielen, im neuen deutschen Kaiserreich nicht nur fortsetzt, sondern beschleunigt, im „Ring des Nibelungen“ spiegelt? Setzt sich die mit dem „Tristan“ begonnene Öffnung zur Transzendenz, dargestellt im metaphysischen Verständnis der Liebe, die vom Tod nicht verschlungen werden kann und ein Weiterleben nach dem Tod, wenn auch völlig verwandelt, impliziert, in diesem Werk fort? Was bedeutet das gegenüber dem Feuerbach des „Wesens des Christentums“ veränderte Verständnis des Todes und des Charakters des ewigen Werdens und Vergehens für Wagners Weltanschauung? Ist der Fluch nur eine dramaturgische Finte, um Notwendigkeit und Unentrinnbarkeit auf die Bühne zu bringen –

305

Peter Wapnewski, Der traurige Gott. Richard Wagner in seinen Helden, München 1982,

S. 188. 306 Vgl. mit Blick auf die christlichen Kenosisvorstellungen und die buddhistischen Boddhisatvas Peter Steinacker, Richard Wagner und die Religion, a. a. O., S. 49 –98. 307 Martin Geck, Wagner, a. a. O., S. 29 und passim. 308 Martin Geck, Wagner, a. a. O., S. 307 f. hat die Deutungen von Nietzsche, Hans Mayer, Theodor W. Adorno und Udo Bermbach exemplarisch zusammengestellt.

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oder hat er Entsprechungen in einer nicht mehr mythisch und magisch begriffenen Welt? Setzt der „Ring“ die traurige Diagnose fort, dass eine völlig entzauberte Gesellschaft zwar Gründe in der Kritik der Religion hat, aber auch als säkulare keine Mittel gegen eine Ökonomie, Politik und Moralität hat, die völlig dem Materialismus verfallenen sind? Deutlich ist eine Verschiebung gegenüber dem „Lohengrin“-Schluss. Lohengrin verschwindet in die göttliche Sphäre des Grals, um dort, so muss man schließen, sein Leben, wenn auch beschädigt, irgendwie fortzusetzen. Vielleicht wird er ja sogar für seinen erotischen Ausflug zur Rechenschaft gezogen. Wagner interessiert sich nicht mehr für ihn und seine Zukunft. Wichtiger ist ihm: Die Götter haben die Welt verlassen und die Menschen müssen ihre Probleme selber lösen. Was die Götter jetzt daraus machen, ob Lohengrins unglücklicher Versuch, sich der menschlichen Sphäre zu nähern, nur das übliche Motiv der romantischen Undine-Märchen ist oder ob daraus eine grundsätzliche Entzauberung der Götter als Götter im Sinne Feuerbachs folgt, bleibt offen. Für die menschliche Aufgabe, ihre Lebensprobleme zu bewältigen, individuell das Leben als Mann und als Frau und kollektiv die politischen Aufgaben, scheiden sie aus. Es ist besser, nicht auf ihre Hilfe zu vertrauen, sie stören nur, verwirren alles und lenken ab. Darum „thäte der liebe Gott klüger, uns mit seinen Offenbarungen zu verschonen.“ Ins Grundsätzliche gewendet: Religion lenkt den Blick auf die Lebensprobleme eher von den wahren Ursachen ab, als dass sie hilft. Darin wird deutlich, dass sie Produkt menschlicher Entfremdung ist. In allen drei Opern bis zum „Lohengrin“ scheitert die Religion, in Gestalt des Christentums, vor dem Leben. Jedoch scheitert im „Lohengrin“ nicht nur die persönliche Utopie der beiden Liebenden, sondern auch die politische Utopie einer Revolution durch die Kunst. Sie hat das revolutionäre Element des „Weiblichen“ zwar entdeckt, aber bleibt folgenlos. Es bleibt die Hoffnung auf die Zukunft. Lohengrin verheißt dem König den politischen Sieg und Brabant den neuen Fürsten. Man kann das nur als bittere Ironie verstehen: Der neue Herrscher von Brabant, den Lohengrin zum Abschied präsentiert, ist ein unmündiges Kind, das für die Lösung der Probleme schlicht ausfällt. Übrig bleibt das Wehgeschrei des Volkes und der Tod Elsas. Was bleibt, ist eine vage Hoffnung auf „das Weib der Zukunft“, die bisher keinen Anhalt am gelebten Leben hat, das die Kunst aber in ihrem Gedächtnis hält. Sind die Götter des „Rings“ im Sinn der feuerbachschen Religionskritik nichts anderes als „Projektionen moderner Politiker“309 und ist ihre Geschichte nichts anderes als die mythologische Einkleidung der menschlichen Geschichte? Haben Wagners Götter als Götter keine wie auch immer strukturierte Realität? Geht es gar nicht um Imma309

Udo Bermbach, Durch Erfahrung zum sozialen Rollentausch, Parsifal – der fünfte Abend des Ring und sein Mythos, In: Die Wirklichkeit erfi nden …, a. a. O., S. 150. Vgl. auch ders., Der Wahn des Gesamtkunstwerks. Richard Wagners ästhetisch-politische Utopie, Stuttgart 2004, S. 190 –207.

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nenz und Transzendenz, deren Beziehung ja das Kerngeschehen aller mythischen Erzählung ist? Fällt also Religion als Faktor menschlicher Daseinsbewältigung im „Ring“ faktisch aus? Wenn das so wäre, dann wäre der „Ring“ die mythologische Einkleidung einer durch und durch säkularen Anthropologie, Gesellschaftsverfassung und Geschichtsphilosophie, das Abbild eines Säkularisierungsprozesses und Aufhebung des entfremdeten Bewusstseins. Im Medium des Mythos würde „die Geschichte einer durch Politik ruinierten Welt, deren Anfang und Ende“ erzählt 310. Wagner hätte dann genau so auch eine politische Ökonomie schreiben und sie geschichtsphilosophisch überhöhen können. Jedoch ist er Künstler, er schreibt ein musikdramatisches Gesamtkunstwerk. Was bedeutet es dramatisch, wenn der Säkularisierungsprozess und das Ende der Entfremdung in den Untergang führt? Was wäre das für eine Botschaft? Und stimmt nicht, was Erda Wotan klar machte, dass alles, was ist, endet? Könnte die Gesellschaft ihr Ende durch andere Politik verhindern? Ist der „Ring“ eine warnende und zur Veränderung aufrufende ästhetische Parabel? Was ist der Überschuss eines ästhetischen Wirklichkeitsverständnisses, das auf den Mythos als Interpretationsmedium zurückgreift und vom Gefühl zum Gefühl sprechen will und nur dazu den Verstand gebraucht, gegenüber der objektivierenden, wissenschaftlichen, historischen Aussage, dass die machtgierige Welt an sich selber zugrunde geht? In Oper und Drama und in der Mitteilung ist deutlich, dass Wagner diesen Überschuss darin sieht, dass der Mythos, der Geschichte erzählt, dem „rein Menschlichen“ oder „der Natur“ näher ist als der objektivierende, abstrahierende Verstand, der die Geschichte historisiert: „Der Raum des Mythos ist der Raum der unwillkürlichen Selbstdetermination, die Geschichte – als Gegenstand der Historie – ist der Raum der durch äußere Verhältnisse determinierten Handlung.“311 Im Verhältnis der Wortsprache zur Tonsprache ausgedrückt heißt das: Dem Künstler kann es in der ästhetischen Gestaltung des mythischen Stoffes gelingen, den Inhalt des Mythos aus einem Verstandesinhalt (der Wortsprache) zu einem Gefühlsinhalt (in der Tonsprache) zu steigern. Der Inhalt, den der Künstler auszusprechen hat, ist „das von aller Konvention losgelöste Reinmenschliche“312 . Nur dieses „von allem Historisch-formellen Losgelöste“ konnte ihn, sagt Wagner, zur künstlerischen Äußerung anregen. Die mythischen Stoffe erlauben, anders als in einer politischen Studie, einen „zeitübergreifender Wahrheitsanspruch“ zu behaupten, „der durch keine historische Erfahrung relativiert werden konnte“. Sie sind im Blick auf das „Reinmenschliche“, das dem objektivierenden Zugriff der Wissenschaft nicht zugänglich ist, in der Lage, prinzipielle Aspekte und Dimensionen mensch-

310

A. a. O., S. 149. Felix Belussi, Überlegungen zur Differenz von Mythos und Historie bei Wagner, in: Klaus Hortschansky (Hg.), Richard Wagners Ring des Nibelungen. Musikalische Dramaturgie – kulturelle Kontextualität – Primär-Rezeption, Schneverdingen 2004, S. 23. 312 Mitteilung, a. a. O., S. 147. 311

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lichen Daseins anzusprechen, und „die Wirklichkeit so in ihrer grundsätzlichen Bedeutung aufzuschlüsseln“. 313 Dafür, dass im „Ring“ eigentlich nur Wagners säkulare Weltanschauung ästhetisch dargestellt wird, welche die Welt in einem Säkularisierungsprozess der Entzauberung der Götter, der Depotenzierung des Bösen und des Scheiterns des freien Menschen untergehen sieht und „Religion“ als Primärphänomen nicht vorkommt, spricht einiges. Nur an einer einzigen Stelle kommt das im „Ring“ vor, was in der römischen Antike unter Religion verstanden wird, nämlich die Verehrung der Götter und die Beachtung dessen, was die Götter wollen. Als Hagen die „Mannen“ zur makabren Hochzeitsfeier für Gunther und Brünnhilde, Siegfried und Gutrune zusammenruft, fordert er sie auf, Opferhandlungen für die Götter vorzubereiten und sich zu betrinken, „dass eine gute Ehe sie geben!“314 Jedoch glaubt niemand mehr ernsthaft an die Macht der Götter, was musikalisch in der „ausschweifenden barocken Verzierung“ zum Ausdruck kommt, mit der Hagen das Wort „geben“ singt. 315 Der „Ring“ ist auch in dieser Perspektive Beschreibung und Analyse einer säkularen Gesellschaft. Ihre Werthierarchien und die Begründungen ihres gesellschaftlichen Zusammenhalts, ihre soziale Synthesis, sind ausschließlich profaner Natur und Herkunft. In Oper und Drama bestimmt Wagner den Mythos, wie oben schon gesehen, als Dichtung des Volkes, das mit und in ihm „zum Schöpfer der Kunst“ wird. 316 Mythen sind jedoch formal Göttergeschichten. Der Feuerbachianer, der Wagner als Textdichter ja noch war (mit Ausnahme des Schlusses), beurteilt die Religion nur als Sekundärphänomen, als Produkt eines entfremdeten Bewusstseins. Daher kann er in den mythischen Göttern nur menschliche Projektionen sehen.317 Die Götter sind in Wahrheit mit Mitteln des Mythos beschriebene Menschen:318 Wotan „gleicht uns aufs Haar; er ist die Summe der Intelligenz der Gegenwart, wogegen Siegfried der von uns gewünschte, gewollte Mensch der Zukunft ist, der aber durch uns nicht gemacht werden kann und der sich selbst schaffen muß durch unsere Vernichtung“. 319 313

Udo Bermbach, Parsifal – der fünfte Abend …, ebd. Götterdämmerung, Textbuch mit Varianten der Partitur. Hg. v. Egon Voss, Stuttgart 1997, Z. 1075. 315 Vgl. Martin Geck, Wagner, a. a. O., S. 302. 316 Oper und Drama, a. a. O., S. 162. 317 „Gott und die Götter sind die ersten Schöpfungen der menschlichen Dichtungskraft: in ihnen stellt sich der Mensch das Wesen der natürlichen Erscheinungen als von einer Ursache hergeleitet dar; als diese Ursache begreift er aber unwillkürlich nichts anderes als eineigenes menschliches Wesen, in welchem diese gedichtete Ursache auch einzig nur begründet ist“, Oper und Drama, a. a. O., S. 161. 318 Vgl. Udo Bermbach, Blühendes Leid, a. a. O., S. 186: „Mit Feuerbach hat Wagner Wotan auf die Erde geholt, ihm menschliche Züge verliehen … Der Wotan des Ring erscheint einerseits als ein strikter Machtpolitiker, aber zugleich wird er immer wieder von seinen Emotionen überwältigt.“ 319 Brief an August Röckel, 25. / 26. Januar 1854, Kesting, a. a. O., S. 284. 314

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Nun gibt es zwei wichtige Fragen zu diesem Komplex. Die erste betrifft die entmythologisierende Verwendung des Mythos durch Wagner selber und in der Nachfolge durch manche Interpreten. Zweifellos ist der „Ring“ auch eine politische Parabel, die die Perversionen der politischen Macht, die lebensfeindliche Gewalt gegenüber Natur und Menschen und den Fluch der Geldgier kritisiert, und nicht nur ihre Exzesse, sondern sogar den Fakt, dass es sie überhaupt gibt, mit ihrem verdienten Untergang verknüpft. Jedoch bleibt unklar, woher der entmythologisierte Mythos und sein der Form entkleideter Kern, mit Feuerbach gesprochen: „die Menschheit“ in ihrer Geschichte, oder mit Wagner: „das Reinmenschliche“, die Kraft zu einem die Individuen verbindenden Ganzen zu einer gemeinsamen Lebensanschauung nehmen. 320 Gerade die Götterdämmerung zeigt doch durchgängig, dass jeder gesellschaftliche Konsens zerbrochen ist. Jeder macht, wozu ihn seine Triebe treiben. Woher bezieht Wagners Theorie, dass diese Welt dem Untergang geweiht ist, für deren Darstellung er sich des Mythos und nicht der geschichtsphilosophischen Analyse bedient, um ihren Wahrheitsgehalt zu steigern, ihre nichtmythische Wahrheitsgewissheit? In den Mythen, die sich als Auslegungen des göttlichen Handelns verstehen, also eine Gestalt von Religion sind, ist die integrierende Kraft und Daseinsgewissheit, ihr „zeitübergreifender Wahrheitsanspruch“321, in der „Letztgültigkeit“ begründet, mit der sie das von ihnen als Wirklichkeit des einzelnen Menschen und seiner Welt Beschriebene versehen können. „Königsein besagt noch nicht viel mehr als ein Machtverhältnis. Gott-Königtum oder religiös gesalbtes Königtum besagt, dass hinter der reinen Macht noch ganz anderes, und zwar ,Letztgültiges‘ sich meldet.“322 Kann eine ästhetische Theorie, ein Kunstwerk einen „zeitübergreifenden Wahrheitsanspruch“ haben, ohne in den Mythos zurückzukehren? Was ist das „Letztgültige“, was tritt in der nichtmythischen, säkularen Theorie an die Stelle der mythischen Wahrheit, die beansprucht, dass ihre Konstitutionsbedingungen der Geschichte zeitlich und räumlich unhintergehbar sind?323 Und worin besteht seine der archetypischen Struktur der Mythen analogisierbare Kraft? Ist es die Natur, Wagners rätselhafte „Naturnotwendigkeit“324, ist es das „Unbewusste, Unwillkürliche, Reinmenschliche“325, eine „gegen alle Tabus und Gesetze erkämpfte 320

Vgl. Oper und Drama, a. a. O., S. 164: „Die Tragödie ist nichts anderes als die künstlerische Vollendung des Mythos selbst, der Mythos aber das Gedicht einer gemeinsamen Lebensanschauung.“ 321 Udo Bermbach, Parsifal – der fünfte Abend, a. a. O., S. 149. 322 Carl Heinz Ratschow, Die Rede von der Religion. Die Soziologie und die Entwicklungstendenzen der Religion in Europa, in: Chancen der Religion, hg. v. Rainer Volp, Gütersloh 1975, S. 132 f. 323 So ganz richtig Udo Bermbach, Gesamtkunstwerk, a. a. O., S. 193. 324 Aber diese Naturnotwendigkeit hat gerade eine desintegrierende Funktion, weil sie der Zustand ist, in den „wir uns“ aus der „äußeren Notwendigkeit“ des willkürlichen politischen Staates „zu befreien suchen“, Oper und Drama, a. a. O., S. 187. 325 Oper und Drama, a. a. O., S. 209.

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Rückgewinnung eines zweiten Naturzustandes gegen alle Selbstentfremdung des Menschen“326, oder der Mensch in seiner politischen Freiheit oder der Möglichkeit, in der Befriedigung seiner Bedürfnisse sein Glück zu fi nden, oder der wirtschaftliche Wohlstand als Sicherung der Bedürfnisbefriedigung? So klingt zumindest ein Aphorismus Wagners aus der Zeit der Zürcher Kunstschriften: „Das Glück des Menschen besteht im Genuß: der Genuß ist die Befriedigung eines Verlangens; der Weg vom Verlangen bis zur Befriedigung ist die Tätigkeit. Das Verlangen an und für sich ist Leiden, durch die Befriedigung im Genuß entsteht die Freude.“327 Oder ist die Integration als solche das „Letztgültige“? Wagners beiläufig aufgeschriebener Satz, der Mythos sei „Anfang und Ende der Geschichte“, dient, im Zusammenhang gelesen, nicht dazu, zu begründen, dass die Geschichte im Untergang ende, sondern um die Leistung des Mythos zu erklären, „das wirklich verständliche Bild des Lebens“ zu gewinnen, wenn die Geschichte den Mythos rechtfertige. 328 Ob die Geschichte aber endet, gar wie sie endet, kann man erst am Ende der Geschichte sagen. Woher kommt die Wahrheitsgewissheit? Oder ist es nur eine „Ahnung“ oder eine Art Prophezeihung, die davor warnt, so weiter zumachen wie bisher? Die zweite Frage hat Martin Geck aufgeworfen. Er meint, in der Konzeption des „Rings“ sei der Untergang der Götter von Anfang an vorgesehen, denn: „Ungerechte Götter tragen die eigentliche Schuld für den Zustand der Welt.“ Und: „Obwohl Schlüsselwörter ,Eigenthum‘, ,Macht‘, und ,Weltherrschaft‘ im Verlauf des „Rings“ und in Wagners eigenen Kommentaren zu seinem Werk unterschiedlich, gelegentlich auch widersprüchlich dekliniert werden, besteht an der Grundaussage über die Jahrzehnte der Ring-Geschichte hinweg kein Zweifel: Den Schiffbruch der Menschheit haben die Götter wenn nicht verursacht, so jedenfalls nicht verhindert. Nur durch ihren Untergang kann etwas Neues entstehen.“329 Wie soll man das verstehen, wenn es keine Götter gibt? Wie kann etwas, das gar nicht existiert, für den Verlauf von Ereignissen verantwortlich und schuldfähig sein? Schuldfähig sind nur Subjekte. Sind die Götter insofern „schuldig“, als die Menschen ihre Kräfte aus ihrem entfremdeten Bewusstsein heraus an unnütze Dinge verschleudert haben? Oder sind es gar nicht die Götter, die die Welt zu Grunde richten, sondern in ihren Projektionen die Menschen selber? Dann geht die Welt unter, weil die Menschen ihr Versagen nicht kompensieren können? Sind die Menschen nichtschuldig, weil sie das gar nicht durchschauen konnten? Und wie hätte man das verhindern können, wenn der Mythos doch die prinzipielle Verfassung des Daseins beschreibt, zu der das zyklische Werden und Vergehen und

326 Ulrich Schreiber, Die Kunst der Oper. Geschichte des Musiktheaters, Bd. II, Frankfurt a. M. 1991, S. 514. 327 GS Bd. 10, S. 223. 328 Oper und Drama, a. a. O., S. 230. 329 Wagner, a. a. O., S. 305.

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der Neubeginn gehört, wie es in den nordischen, den hinduistischen und buddhistischen Mythen der Fall ist? Die Aufsprengung des zyklischen Denkens der Mythen gelingt dem Judentum und in seiner Nachfolge dem Christentum und dem Islam nur durch die Einführung eines Schöpfergottes, der einen defi nitiven einmaligen Anfang und ein defi nitives und einmaliges Ende setzt, also durch Mythologien, die unwiederholbare Zeit als Geschichte in sich integrieren. Genau von diesem Schöpfergott will Wagner, im Gefolge Schopenhauers, das Christentum – nach dem „Ring“ – befreien und es so noch einmal retten. Auf diese Fragen gibt Wagner weder in der Theorie noch im „Ring“ selber eine Antwort. Der Schluss der „Götterdämmerung“ stellt im Blick auf diese Fragen an den ganzen „Ring“ das dar, was Ulrich Schreiber musikgeschichtlich hinsichtlich der „einzigartigen Semantisierung des motivischen Materials“ die „Rettung ins Ungenaue“330 genannt hat. Es bleibt offen, was Erlösung heißt, wer wovon erlöst wird und was mit denen geschehen soll, die übrig bleiben. Die erotische Liebe als das ursprünglich weltschöpfende Prinzip hat er nicht mehr im Blick, seit er zu Schopenhauer konvertiert war. Aber was dann? Martin Geck meint, inzwischen, nach 1871, der Ausrufung des Deutschen Kaiserreiches und den ersten Bayreuther Festspielen 1876, stehe „auch der Parsifal bereit, um zu demonstrieren, dass es nach der Götterdämmerung ,positiv‘ weitergehen könnte“. 331 Und er hat auch eine Idee, weshalb Wagner am Ende der Götterdämmerung „ungefähr“ bleibt: Weil er nämlich längst eine neue Vorstellung davon hat, wie eine drohende Katastrophe verhindert werden kann, und präsentiert dazu die Denkfigur einer Verlängerung des „Rings“ in den „Parsifal“. 332 Ob das so ist und wenn ja, wozu das gut sein soll und was das für die Säkularisierungsthematik bedeutet, will ich zu klären versuchen. Dabei ist allerdings einige Vorarbeit zu leisten, bevor ich zum „Bühnenweihfestspiel“ kommen kann, mit dem am 2. Juli 1882 die zweiten Bayreuther Festspiele eröffnet wurden. Damit meine, nicht neue und auch nicht nur von mir vertretene These, der "Parsifal“ sei die Liturgie einer neuen Religion zur Regeneration einer auf den Abgrund zulaufenden Gesellschaft, einsichtig werden kann, muss ein Blick auf Wagners philosophische und ideologische Entwicklung geworfen werden und diese in den Stand der deutschen gesellschaftlichen und ideengeschichtlichen Stand in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert eingefügt werden. Dann kann der „Parsifal“ im Umkreis der sogenannten Regenerationsschriften analysiert werden.

330

A. a. O., S. 515. Wagner, a. a. O., S. 314. 332 Vgl. ebd. Und ders., „Eigentlich hätte Siegfried Parsifal werden sollen …“ Der Schluß des „Ring“ im Focus philosophischer Überlebensstrategien von Nietzsche bis Žižek, in: Tobias Janz (Hg.), Wagners Siegfried und die (post-) heroische Moderne, Würzburg 2011, S. 65 –74. 331

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Kapitel 2

Die Liturgie zur „Rettung der Religion“ durch die Kunst: „Parsifal“ Die Liturgie zur „Rettung der Religion“ durch die Kunst: „Parsifal“

Die Umbruchszeit des Vormärz und der Revolutionen war zu Ende, Deutschland unter der Führung Preußens eine nationale Größe geworden. Der Krieg gegen Frankreich 1870 / 71, von den Wagners stürmisch gefeiert, hatte das Kaiserreich hervorgebracht, dem Wagner zunächst euphorisch und dann skeptisch gegenüberstand, was ihn nicht davon abhielt, einen trivialen „Kaisermarsch“ zu komponieren. Bismarck, anfänglich umworben, wurde ihm verhasst, nicht zuletzt wegen seiner Politik für die Juden. Die ökonomischen und die sozialen Entwicklungen dieser Jahre nach der Paulskirche und dem Preußisch / Österreichischen Krieg 1866 begünstigen den auch im Kaiserreich, trotz gesetzlicher Gleichberechtigung seit 1871, alltäglichen Antisemitismus und seine Zuspitzung in den Jahren, in denen Wagner am „Parsifal“ arbeitet. Seit 1835 begann in Deutschland die industrielle Revolution, verspätet gegenüber den anderen Großmächten England und Frankreich. Der Verlust der Heimat der in die neuen Zentren strömenden Landbevölkerung, das viel zu schnelle Wachstum der Großstädte und die damit verbundenen Entfremdungen und sozialen Probleme eines schnell wachsenden Proletariats, der Kapitalismus, die soziale Kälte und die Krisen der traditionellen Moral, ökonomische Monopolbildungen und die Klage über die fehlenden Kolonien bildeten ein explosives gesellschaftliches Gemisch in einem Deutschland, dessen wachsende Kraft eine expandierende Tendenz zeigte. Der nach dem Sieg von 1871 von Frankreich eingetriebene Kriegstribut von 5 Milliarden Goldfranken löste einen wirtschaftlichen Boom aus, der allerdings schon 1873 in einem Börsenkrach zusammenbrach und die Wirtschaft des jungen Kaiserreiches in eine tiefe Rezession sinken ließ. Krise und Degeneration wurden die intellektuellen geschichtsphilosophischen Stichworte, die sich teilweise als Kultur- und Zivilisationskritik entfalteten. Das zeigt die Luft, in der Wagner in der Parsifal-Zeit lebte und arbeitete. Schon 1845 in Marienbad hatte Wagner den Parzival-Stoff kennen gelernt und noch in Zürich hat er angeblich eine Vision gehabt, die später in den Karfreitagszauber eingegangen sein soll. Im Zusammenhang der Konzeption des „Tristan“, berichtet er in seiner Autobiographie, hat er eine Episode eingeflochten und später verworfen, in welcher der Gralssucher Parsifal Tristan an seinem „Siechbette“ aufsucht. „Dieser an der empfangenen Wunde siechende und nicht sterben könnende Tristan identifi zierte sich in mir nämlich mit dem Amfortas im Gral-Roman.“333 Eine erste Skizze entsteht 1857. Im venezianischen Tagebuch und den Briefen an Mathilde Wesendonck fi nden sich Reflexionen zur Gestaltung der Handlung. Wagner zieht Linien von Siegfried und Tristan zu Amfortas, der damals noch Mittelpunkt und Hauptgegenstand des Projektes ist. Das Leid des Amfortas erscheint ihm noch schrecklicher als das Tristans: „Es ist mein

333

Mein Leben, a. a. O., S. 524.

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Tristan des dritten Aktes mit einer undenklichen Steigerung.“334 Wagner zeigt sich so erschüttert von dem Stoff, dass er Mathilde schreibt, er wolle sich eine Arbeit darüber nicht antun. 335 Aber der Stoff lässt ihn nicht los. Am 31. August 1865, vor der Ausführung der Meistersinger und der Vollendung des „Rings“, längst mit Cosima von Bülow ehebrecherisch liiert 336, schickt er einen Prosaentwurf an König Ludwig II. Sein Ankündigungsbrief vom 29. August strotzt vor Selbstvertrauen: „ich fühle es – das höchste Stadium meiner Produktivität ist da … Ich sehe, die Zeit ist da, meine grössten, vollendetsten Werke werde ich nun erst schaffen … Was ich vor mir habe, und was nur Ich, kein Anderer je schaffen kann, ist ungeheuer: Sie werden es am Entwurf des Parzival sehen!“337 Und der junge König hat sogleich begriffen, worum es im Parsifal geht und liefert mir das Stichwort. Am 5. September antwortet er dankend: „Wie hat mich dieser Stoff ergriffen! – Ja diese Kunst ist heilig, ist reinste, erhabenste Religion.“338 Gleichwohl vergehen noch 12 Jahre, bis am 22. Juli 1877 die Dichtung abgeschlossen ist. Wagner geht die Komposition nicht leicht von der Hand, wovon Cosima ausführlich berichtet. 339 So beendet Wagner erst am 13. Januar 1882 in Palermo das Werk, mit dem am 26. Juli 1882 die zweiten Bayreuther Festspiele eröffnet werden. Für das Thema der Säkularisierung und für den „Parsifal“ sind die tiefgreifenden Veränderung im privaten Leben und Denken Wagners ebenso wichtig wie die oben geschilderten Umbrüche in der Zeit vor und nach der Errichtung des neuen deutschen Kaiserreiches unter der Führung Preußens. Gegenüber seiner Exilszeit hatte sich Wagners persönliche Situation ebenso verändert wie die politische, ökonomische, soziale und religiöse Lage. Mit der Philosophie Schopenhauers veränderte sich auch Wagners frühe Vorstellung der möglichen Veränderung der Welt durch die Liebe und das freie Volk. Schopenhauers Erlösungshoffnung sah gerade in der erotischen Liebe den Brennpunkt des Willens zum Leben und damit das Hindernis für eine Erlösung schlechthin. Sie war durch das buddhistische Erbe auf eine Überwindung der Individuation gerichtet. Der Buddhismus kennt kein Selbst, und da, wo Menschen sich einbilden, sie seien ein Selbst, täuscht sie der Schleier der Maja. Die Löschung des Lebensdurstes und die Aufhebung des Nichtwissens beseitigen diesen Trug auf dem Heilsweg der Bodhi. Für Schopenhauer ist die Aufhebung des principium individuationis, des Ich, eine Leistung des einzelnen Menschen, der den allmächtigen, blinden Willen in sich durch Mitleid und Askese ver-

334

Brief vom 30. Mai 1859, in: Golther, a. a. O., S. 144. „Und so etwas soll ich noch ausführen? Und gar noch Musik dazu machen? – Bedanke mich schönstens! Das kann machen wer Lust hat; ich werde mir’s bestens vom Halse halten!“, ebd. 336 Am 10. April 1865 wird das erste gemeinsame Kind, Isolde, geboren. 337 König Ludwig II. und Richard Wagner. Briefwechsel, hg. v. Wittelsbacher Ausgleichs-Fonds und Winifred Wagner, bearbeitet von Otto Strobel, Bd. 1, Karlsruhe 1936, S. 167 f. 338 A. a. O., S. 169. Hervorhebung P. St. 339 Vgl. Werner Breig, Wagner-Handbuch, a. a. O., S. 456 f. 335

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neint und sich damit selbst transzendiert. Mit der Übernahme des nur noch individuellen Heilsweges verändert sich Wagners Stellung zur Welt. „Der Idee, dass dem Erlösungswerk der Kunst durch eine Aktivierung der sozialen Natur des Menschen zugearbeitet werde, war damit der Boden entzogen, der moralische Aktivismus jeglichen Bezugs auf Gesellschaft und Politik beraubt.“340 Mit der Nähe zum König, der sein geliebtes Idol natürlich befragte, ob er seine frühen revolutionären Ansichten über Staat und Religion geändert habe, reaktivierte und veränderte Wagner auch einen Gedanken, den er schon in den Wirren vor der bürgerlichen Revolution geäußert hatte. Damals, 1848, schwebte ihm ein republikanisches Staatswesen ohne Untertanen unter der Führung eines Fürsten als erstem Bürger vor. 341 Jetzt, 1864, steigerte er diesen Gedanken in einer zunächst privaten Denkschrift an Ludwig II. zur Unterstützung des Gottesgnadentums der erblichen Monarchie. In der Person des Königs erreicht „der Staat zugleich sein eigentliches Ideal“342 . Denn der König ist unabhängig und steht über den Parteien und, vor allem, der öffentlichen Meinung in Gestalt der Presse. Er ist, „den Parteiinteressen gegenüber, der Vertreter des rein menschlichen Interesses, und nimmt daher vor dem Auge des im Parteiinteresse befangenen Bürgers eine in Wahrheit fast übermenschliche Stellung ein“343. Der König vertritt das „Reinmenschliche“, das vielleicht bei der Untergangsvision der „Götterdämmerung“ die Sphäre des „Letztgültigen“ erfüllte, das die unabwendbare Notwendigkeit des Untergangs und die Wahrheit dieses Urteils begründete. Wagner anerkannte nun, von Schopenhauer dazu bekehrt, auch die Notwendigkeit des Staates, um den Egoismus der Individuen durch den Patriotismus lebensdienlich einzuschränken. Der König ist das Symbol des Patriotismus, und der auf ihn zusammengezogene Staat entspricht dem menschlichen Wunsch nach Stabilität und Ruhe. Und seine veränderte Einstellung zum Christentum und zur Religion insgesamt wird überdeutlich. In den frühen, von Feuerbach bestimmten Schriften war das Christentum die sinnen- und kunstfeindliche Religion schlechthin. Um eigene Machtinteressen durchzusetzen, hat es sich schnell mit dem Staat gemein gemacht und wurde die Staatsreligion, die ihren menschfreundlichen Gründer schnell verraten hatte. Sie hatte zwar den natürlichen Drang des Menschen, aus seiner Natur heraus unwillkürlich, das heißt seiner Natur gemäß, ein individuelles und soziales Wesen zu gestalten, auch erzeugt, hatte es aber aus innerer Schwäche nicht verwirklichen können. So hat es sich gegen seinen eigenen Impuls zum starren Dogma zusammengezogen und der Staat wurde zum

340 Stefan Breuer, Religion–Kunst–Politik, in: Eckehard Kiem / Ludwig Holtmeier (Hg.), Richard Wagner und seine Zeit, Laaber 2003, S. 155. 341 Wie verhalten sich republikanische Bestrebungen dem Königtume gegenüber? (1848), GS 12, S. 13. 342 Über Staat und Religion (1864, veröffentlicht 1872), GS 14, S. 14. 343 Ebd.

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eigentlichen Lebensquell der Kirche. 344 Die Beseitigung des „dämonische[n] Begriffs des Geldes“ mit allen Begleiterscheinungen wie „Wucher, Papiergaunereien, Zinsen und Bankiersspekulationen“ wird nicht nur die „volle Emanzipation des Menschengeschlechtes“ sein, sondern auch die „Erfüllung der reinen Christuslehre …, die sie [die Theologen, P. St.] uns neidisch verbergen hinter prunkenden Dogmen, um die rohe Welt einfältiger Barbaren zu binden“345. Jetzt würdigt Wagner das, was er früher höhnisch verurteilt hatte: die vermeintliche Weltablehnung des Christentums. Zwar ist Religion ihrem Wesen nach grundverschieden vom Staat, aber in den Naturreligionen, wo beide unterentwickelt waren, stellten die Religionen das gemeinschaftsverbindende Element: „Der Stammesgott ist der Repräsentant der Zusammengehörigkeit der Stammesgenossen.“346 Jetzt, im vollkommen ausgebildeten Staat, dessen Integrationssubstanz die patriotische Pfl icht ist, konnte die Religion entstehen, die ihrem Wesen auch entspricht und gerade keine Integrationsaufgabe mehr hat, weil sie das Trugbild der Welt ablehnt. Die Welt hat keine Substanz, kein wirkliches Sein, wie ein Traum keine Realität hat. „Ihre Grundlage ist das Gefühl der Unseligkeit des menschlichen Daseins, die tiefe Unbefriedigung des rein menschlichen Bedürfnisses durch den Staat. Ihr innerster Kern ist Verneinung der Welt, d. h. Erkenntnis der Welt als eines nur auf Täuschung beruhenden, flüchtigen und traumartigen Zustandes, sowie erstrebte Erlösung aus ihr, vorbereitet durch Entsagung, erreicht durch den Glauben.“347 Mit der religiösen Ablehnung der Welt ist jedoch der „unerlöschliche Glückseligkeitstrieb“ nicht zu stillen. Dieser Trieb fordert von sich aus „eine andere Welt zu seiner Erlösung“, die von der Welt „des Bedürfnisses und des Wechsels“ – das waren immerhin im großen Röckelbrief seine früheren zentralen Bestimmungen zum Wesen der Liebe – grundsätzlich verschieden ist und deren Konkretion keiner „intellektualen Vorstellungsfähigkeit[en] des menschlichen Verstandes“ erreichbar sind.348 Die Vorstellungen der neuen Welt als Zeit und Raum, in denen die Erlösung eine realer Zustand werden kann, gründen nicht auf der Vernunft, sondern auf Offenbarung. Ausgerechnet das früher so verhöhnte Dogma begründet nun den „unermesslichen Wert“ und die „erhabene Bedeutung“ der christlichen Religion für das Individuum, weil es „die andere, bisher unerkannte Welt … mit solch unfehlbarer Sicherheit und Bestimmtheit [darstellt, P. St.], dass der Religiöse, dem sie aufgegangen ist, hierüber in die unerschütterlichste, tiefbeseligende Ruhe gerät“349.

344

Vgl. Oper und Drama, a. a. O., S. 174 f. Wie verhalten sich … a. a. O., S. 11. 346 Staat und Religion, a. a. O., S. 24. 347 A. a. O., S. 24 f. Wagner greift deutlich auf buddhistische Vorstellungen zurück. 348 A. a. O., S. 25. Damit verlässt Wagner den ursprünglichen Buddhismus wieder, denn vom Nirvana gibt es zwar viele unzulängliche, unsagbare Bilder und Gleichnisse; Jedoch das einer neuen Welt, eines neuen Seins, gehört nicht dazu. Das ist manchen Strömungen des Mahayana vorbehalten, zum Beispiel der modernen buddhistischen japanischen „Neue Land“-Religion. 349 A. a. O., S. 27. 345

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Denn das Dogma hat zwei Funktionen. Erstens bietet es den Menschen, welche die Offenbarung nicht selbst sahen bzw. über keine eigene mystische „Anschauung des Heils“ verfügen, die Möglichkeit an, ihr teilhaftig zu werden. Die theologische Autorität des Dogmas besteht dann darin, dass nur in ihm die Offenbarung erkannt werden kann. Seine Wahrheit ist „der Welt“ verschlossen. Ihr bleibt nur, die Wahrheit der Offenbarung auf die Autorität der Kirche hin anzuerkennen. Man kann sich nur wundern über dieses ganz und gar katholische Kirchen- und Dogmenverständnis. Zweitens hat das Dogma eine apologetische Funktion. Es dient der Verteidigung des Glaubens „gegen die Angriffe der gemeinen menschlichen Erkenntnis“. Die „trostlos materialistische, industriell nüchterne, gänzlich entgöttlichte Gestaltung der modernen Welt“ – also die säkulare Welt! – kann sich die Entstehung des Dogmas nur aus innerweltlichen Zusammenhängen erklären und alles, was dem praktischen Verstand nicht einleuchtet, als „vernunftloses Hirngespinst“350 verwerfen. Da die Kirche aus ihrem Dogma heraus aber keinen Anspruch auf staatliche Macht erheben darf, muss sie sich davon fernhalten und sich auf ihr wahres Wesen besinnen. Das besteht darin, dass sie „dem täuschenden Tagesscheine der Welt ab, in der Nacht des tiefsten Innern des menschlichen Gemütes als andres, von der Weltsonne gänzlich verschiedenes, nur aus dieser Tiefe aber wahrnehmbares Licht leuchtet“351. Die einzig legitime Verbindung von Religion und Staat wäre die Person des religiösen Königs. Er wäre „der glücklichste Vereinigungspunkt, in welchem Staat und Religion, wie in den ahnungsvollen Uranfängen beider, wiederum zusammenfielen“352 . Was sind das für andere Töne! Ihr Tristanklang wird dem König gefallen haben. Eine inhaltliche Reaktion auf Wagners Eingabe ist nicht bekannt. In jedem Fall legte Wagner mit der Verharmlosung seines revolutionären Engagements in der Tat „die zukünftige Lesart über sein revolutionäres Denken und Tun ein für allemal fest“353, und niemals hat er sich später in anderer Weise dazu geäußert. In jedem Fall ist klar, dass er jetzt und in Zukunft anders über Religion, Staat, Gesellschaft und ihre inneren Prozesse denken würde als vorher. Zwar hielt er an der Trennung von Staat und Religion fest. Aber es ist keine Rede mehr davon, dass die wahre Religion erst mit dem Absterben des Staates sich entfalten könnte. 354 Sondern gerade der vollentwickelte Staat, das ist für ihn die Monarchie, ist, wenn es um die Menschenwürde geht, auf die Religion angewiesen. Diese Religion wirkt, davon ist er überzeugt und bemerkt nicht, dass er damit das Dogma sogleich wieder ein Stück in seiner apologetischen Funktion entwertet, nicht durch die Theorie, sondern durch das Beispiel des – schopenhauerschen – Heiligen, der

350

A. a. O., S. 28 f. A. a. O., S. 30. 352 A. a. O., S. 31. 353 Martin Gregor- Dellin, a. a. O., S. 531. 354 Oper und Drama, a. a. O., S. 209. Religion heißt dort: gemeinsame Befriedigung des natürlichen, d. h. individuellen Lebens- und Liebestriebes. 351

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„durch die Tat der Entsagung, der Aufopferung, durch unerschütterliche Sanftmut … der wahre Vermittler des Heiles“ wird 355. Angesichts der Verwüstungen, welche in seiner Sicht die moderne Welt mit ihrer Industrie, dem Glauben an die objektivierende Naturbeherrschung der aufblühenden empirischen Wissenschaften und dem grassierenden Materialismus der Geldwirtschaft, die Wagner als Ergebnis des Säkularisierungsprozesses versteht, kommt es um so mehr auf die Religion an, wenn in dieser Gesellschaft die Menschenwürde gewahrt werden und die Kunst weiterhin sich entfalten können soll. Deutlicher kann man sich nicht von seinen früheren Gedanken absetzen. Die feuerbachsche Diesseits-Religion, die seine Religionskritik der Zürcher Schriften trägt, sollte glaubenslos sein und die alte christliche Religion, die nur ein entfremdetes Bewusstsein zum Ausdruck brachte und gemeinsam mit Staat und Wissenschaft das Leben am Leben hindern wollte, ablösen. Diese Religion brauchte keinen Glauben, weil das Kunstwerk „die lebendig dargestellte Religion“ wäre. 356 Religionen seien Erfi ndungen der Menschen. Die Künstler stellten sie nur dar. In Wahrheit hätten sie ihren Ursprung im Volk. Darum setzte Wagner auch mit seiner Kunst damals ganz auf das Volk: „Das Volk also wird die Erlösung vollbringen, indem es sich genügt und zugleich seine eigenen Feinde erlöst. Sein Verfahren wird das Unwillkürliche der Natur sein.“357 Über die weitere Entwicklungen seiner Einstellungen verweise ich auf die Biographien. Wichtig sind zwei Gedanken, die langsam in ihm reifen. Wenn seine Analyse richtig ist, dass die europäische moderne Zivilisation sich in einer degenerativen Krise befi ndet, gibt es eine Möglichkeit, aus dieser Krise herauszukommen? Die Liebe als Eros kann es nicht sein. Tristan und Isolde versinken ins Reich der Nacht. Das hat zwar Bedeutung für alle, die in der Liebe den Zugang zur Transzendenz und der Bewältigung des Todes sehen. Aber das hat für die Gesellschaft keine Konsequenzen. Und wenn es zweitens richtig ist, dass diese Krise etwas mit der fortschreitenden Säkularisierung zu tun hat, die Wagner kritisch sieht und der das Christentum offensichtlich nicht gewachsen zu sein scheint, die aber nur durch eine Religion bekämpft werden kann, gibt es eine Möglichkeit, die Religion zu retten und damit eine Regeneration der beschädigten Gesellschaft einzuleiten? Diesen Fragen geht er während der Arbeit am „Parsifal“ nach. Er hat sich inzwischen noch intensiver mit hinduistischen und buddhistischen Texten beschäftigt, die theologische Fachdebatte um den historischen Jesus aufmerksam verfolgt und die einschlägigen Werke von Gför gelesen. David Friedrich Strauß hat ihn nicht besonders gefesselt. Aber Ernest Renan hat ihn mit seinem Werk „Das Leben Jesu“ in den Bann gezogen. Bei Renan verliert Jesus in Jerusalem seinen jüdischen Glauben und sein Konfl ikt mit dem jüdischen Dogma bringt ihm den Tod. Jedoch seltsamerweise, und obwohl das bei 355 356 357

A. a. O., S. 30. Religion der Zukunft, a. a. O., S. 70. Kunstwerk der Zukunft, a. a. O., S. 61.

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Renan gar nicht im Zentrum steht, rückt der gekreuzigte Heiland in die Mitte seiner eigenen Frömmigkeit. Das wird nun Wagners besondere Sicht auf Jesus, gerade im Zusammenhang mit dem „Parsifal“. Schopenhauer hat den Blick auf den gekreuzigten Jesus als den Christus stets vermieden, weil der historische Jesus für ihn uninteressant war. Jesus ist für ihn nur von Interesse als „Symbol oder die Personifi kation der Verneinung des Willens zum Leben“358. Seine Individualität, seine raumzeitliche Existenz, ist für Schopenhauer ohne Bedeutung. Er zeige nur, wie Erlösung geschehen kann, aber er erlöse nicht. Das hängt damit zusammen, dass für Schopenhauer „die Lehre von der Erbsünde [Bejahung des Willens] und von der Erlösung [Verneinung des Willens] die große Wahrheit [ist], welche den Kern des Christentums ausmacht; während das übrige meistens nur Einkleidung und Hülle oder Beiwerk ist“359. Wagner dagegen hat der Tod des sanften Heilandes am Kreuz immer wieder fasziniert. Nur durch seinen Tod hat er etwas für die Menschheit tun können. 360 Denn indem sein Tod das freiwillige Leiden krönt, ist seine Lehre nicht Weisheit, sondern „göttlich“, was soviel heißt wie dass hier die Wahrheit offengelegt wird und nicht der Schein der Dinge. 361 Später, mitten in der Arbeit am „Parsifal“, knüpft er an Thesen der evangelischen Jüngeren Tübinger Schule an, und legt Cosima dar, dass „nicht der Tod, sondern die Auferstehung die Religion gestiftet habe“362 . Mit Blick auf den Gekreuzigten, der in der Musik des „Parsifal“ z. B. in der Heilandsklage und dem Schrei des leidenden Gottes so viele Spuren hinterlassen hat 363, verändert er sogar seine früheren utopischen Vorstellungen von einem sonnendurchfluteten siegreichen Helden aus dem „Ring“ als Retter der Welt. „Mit dem Erlöser im Herzen erkennen wir, dass nur dem unterliegenden, nicht dem siegenden Helden unsere Teilnahme zugehört.“364 Und die im Vorbild Jesu, einem „Heiligen“ im schopenhauerschen Sinn, offenbarte Wahrheit ist, dass im Verzicht auf die geschlechtliche Liebe (Eros), die Liebe (Agape) sich zeigt, die erlösend aus der Welt herausführt. Denn sie ist „das angeborene Gegengift gegen den Willen“365, also gegen die Ursache für das Verhängnis, das über allem liegt, was 358

WWV I, §70, S. 550. Ebd. 360 Bemerkung zu Cosima vom 11. Februar 1875, CT I, S. 896. 361 Vgl. CT II, S. 376, 3. Juli 1879. 362 CT II, S. 330, 12. April 1879. Vgl. Martin Geck, Wagner, a. a. O., S. 321; Roderich Barth, Liberale Jesusbilder versus dogmatische Christologie. Konstellationen des 19. Jahrhunderts, in: Zwischen historischem Jesus und dogmatischem Christus, hg. v. Christian Danz und Michael Murrmann-Kahl, Tübingen 2010, S. 111–140. 363 Vgl. Ulrike Kienzle,.. dass wissend …, a. a. O., S. 208 –212. 364 Religion und Kunst, 1880, GS Bd. 14, S. 165. Mit diesem Christusbild hat Wagner sein früheres Jesusbild entscheidend verändert. Hier ist nichts mehr vom Erlöser der Armen zu fi nden, vgl. Ulrike Kienzle, Das Weltüberwindungswerk, Wagners Parsifal – ein szenisch-musikalisches Gleichnis der Philosophie Arthur Schopenhauers, 1992, S. 84 – 88. 365 CT II, S. 115, 11. Juni 1878. 359

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ist. Der Blick auf den „Erlöser am Kreuze“, meint Wagner, eröffne mitten in der „Gewalt des blind wütenden Willens“ die unverstellte Sicht auf das unendliche Leid, „das Leben nach seiner Wirklichkeit“, und bilde zugleich „die letzte erhabene Zuflucht“366 der einzigen Erlösungsmöglichkeit: Die Umwendung des „blinden Walten[s] des weltgestaltenden Willens“367 gegen sich selber. Und mit diesen Gedanken, glaube er, sagt er zu Cosima, könne das Christentum „noch einmal rein und wahr der Welt gepredigt werden“368. Während der Arbeit am „Parsifal“ schrieb er einige kulturpolitische Essays, manche sind unter dem Titel „Regenerationsschriften“ gesammelt wurden. Darunter ist die eben zitierte Arbeit „Religion und Kunst“, die man als Abhandlung zum „Parsifal“ lesen kann, dessen Partitur am 13. Januar 1882 abgeschlossen wurde. Der Gedanke, dass die Zivilisation, die gegenwärtige europäisch-nordamerikanische Kultur, einen Degenerationsprozess durchläuft, teilt er, wie gesehen, mit Vielen. Dieser Gedanke durchzieht die ganze Schrift. Wagner greift auf die schon zur Goethezeit aktuelle These zurück, dass „wahre“ Religion und Kunst vollkommen Eines seien369 und formuliert ein Programm zur Rettung der Religion im Rahmen der möglichen Regeneration einer auf den Abgrund zulaufenden degenerierten Gesellschaft: „Man könnte sagen, dass da, wo die Religion künstlich wird, der Kunst es vorbehalten sei, den Kern der Religion zu retten, indem sie die mythischen Symbole, welche die erstere im eigentlichen Sinn als wahr geglaubt wissen will, ihrem sinnbildlichen Werte nach erfasst, um durch ideale Darstellung derselben die in ihnen verborgene tiefe Wahrheit erkennen zu lassen.“370 Wagner unterscheidet zwischen einer Religion, die sich einer säkularisierten Gesellschaft als ihr Vergemeinschaftungsmedium andient und den Erlösungsgedanken stets von sich abspalten muss, weil sie der Erhaltung der bestehenden Welt dient und der wahren Religion, die sich dem Heilsweg verschrieben hat, der erlösend aus der Welt herausführt. Das ist nicht mehr die verweltlichte Kirche, sondern die Kunst. Ihr Heilsweg ist ein ästhetischer und erst sekundär ein ethischer. 371 Die Religion, die Wagner kritisiert, ist natürlich die christliche372 in ihrer institutionalisierten Gestalt als Kirche, die 366

Religion und Kunst, 1880, GS Bd. 14, S. 165 f. A. a. O., S. 164. 368 CT II, S. 115, 12. Juni 1878. 369 Religion und Kunst, a. a. O., S. 169. 370 A. a. O., S. 130. 371 Udo Bermbach, Gesamtkunstwerk, a. a. O., S. 330 ff., weist richtig darauf hin, dass es für die ästhetische Religion nur wenige „ethisch-religiöse Minimalsätze“ gibt, etwa: „Liebe, Glaube, Hoffnung“ aus „Was nützt diese Erkenntnis?“ GS 14, S. 177. 372 Peter Hofmann, Richard Wagners politische Theologie. Kunst zwischen Revolution und Religion, Paderborn 2003, S. 254: „Die christentümlich-bürgerliche Gesellschaft und ihre Kirchen bieten der christlichen Religion keinen Raum.“ 367

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sich in den verschiedenen Konfessionen mit dem Staat und der Gesellschaft amalgamisiert hat. Wagner war stolz darauf, im Chor der jüngeren Pilger im „Tannhäuser“ den „Geist des Christentums … losgelöst von aller Konfession“ erfasst zu haben. 373 Die Religion ist künstlich geworden, weil sie vom zentralen Kern einer „wahren“ Religion, der Erfahrung einer nichtigen Welt und der Erlösung davon, nur noch uneigentlich redet, singt und sich in Bildern darstellt. Denn die Kirche in Gestalt der Priester hat durch ihre „allegorischen Zutaten“ den edelsten Kern der Religion so weit entstellt, dass er unglaubwürdig geworden ist und „angenagt werden konnte“. Die Liturgie der Kirche und die religiösen Veranstaltungen, vor allem in südlichen Ländern, seien „theatralisches Gaukelwerk“, „ein frivoles Spiel“, welches das arme Volk täuscht. Solcher religiösen „Kulte werden wir nicht mehr bedürfen“374. Diese Religion hat sich vom Leben entfernt, indem sie in ihren Dogmen, vor allem in ihrem Glauben an einen Schöpfer, von den Menschen verlangt, Inhalte zu glauben, die niemand mehr glauben kann. Dogmen seien dem Glauben empfohlene Unglaublichkeiten. 375 Wie anders klang das noch 1864 gegenüber Ludwig II.! Die Priester geben ihre allegorischen Wahrheiten für tatsächliche aus, was schon Schopenhauer dazu brachte, seine wohlmeinende Duldung der Religion als Stillung des metaphysischen Bedürfnisses für die einfachen Leute aufzugeben, wenn so etwas passiert. Zugleich hat das Christentum sich von seinem Ursprung in Jesus abgewandt, der seine Wahrheit ausdrücklich an die „Armen im Geist“ adressiert hatte. Seine Wahrheit war kein theologisches oder philosophisches System, sondern so einfach, dass jedermann ihn verstehen konnte. Seine „Lehre war die Tat des freiwilligen Leidens; an ihn glauben, hieß: ihm nacheifern, und Erlösung hoffen hieß: mit ihm Vereinigung suchen“376. Das fiel den Armen nicht schwer, denn ihr Leiden war ja offensichtlich. Hätte die Kirche sich also auf Jesu Wahrheit konzentriert, wäre das christliche Dogma einfach zu verstehen, dann wäre die christliche Religion die einfachste überhaupt. Stattdessen hat sich die Kirche am Interesse der Reichen orientiert, denen das alles zu einfach war und hat einen komplizierten Mythenapparat angesammelt, den niemand mehr glauben kann, auch wenn die Kirche das mit „unerbittlicher Strenge“ fordert. Sie hat damit zur Entzauberung der Welt beigetragen, weil die Menschen ihr das Vertrauen entzogen haben. Die Kunst hat diesbezüglich keinerlei Probleme, weil der Künstler ja „offen und frei sein Werk als seine Erfi ndung ausgibt“377. Daher kann die Rettung des Kerns der Religion ästhetisch angegangen werden. Der innerste Kern, die „tiefste Grundlage jeder wahren Religion sehen wir nun in der Erkenntnis der Hinfälligkeit der Welt und der hieraus entnommenen Anweisung zur Befreiung von der derselben ausgesprochen“378.

373 374 375 376 377 378

CT II, S. 486, 301 1880. Alle Zitate Religion und Kunst, a. a. O., S. 166. A. a. O., S. 130. A. a. O., S. 132. A. a. O., S. 130. A. a. O., S. 131.

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Etwas ist schiefgelaufen mit der Welt, mit dem Sein überhaupt. Und das Verhängnis ist nicht durch Eros und welterlösendes Auslöschen, aber auch nicht durch intellektuelle Demonstration objektivierender Begriffe und schon gar nicht durch eine Theologie zu überwinden, die sich vom Bild des Gekreuzigten und dessen wahrer Bedeutung abgewandt, und stattdessen das Leiden am Kreuz auf den Willen eines strafenden und zornigen „jüdischen ,Schöpfer des Himmels und der Erde‘“ zurückgeführt habe. 379 Wagner wirft mit diesem von Schopenhauer entlehnten, buddhistisch begründeten, aber antisemitisch verwendeten Argument der altkirchlichen Christologie und Soteriologie, aber auch vor allem Anselms Versöhnungslehre vor, für den „immer stärker sich aussprechenden ,Atheismus‘ unserer Zeiten“, also die zumindest schleichende Säkularisierung, verantwortlich zu sein. 380 Kein göttlicher Zwang und keine göttliche Forderung nach der Besänftigung seines Zorns hätten das Kreuz bewirkt. Vielmehr habe der „allliebende Heiland“ sich selbst geopfert. Darum habe die Kunst sich auch den Heilandsbildern zugewandt, während die Bilder des Vatergottes nur noch einen „weißbärtigen Greis“ darstellten. Er wurde „durch die Kunst gerichtet“. Nun hatte aber selbst Schopenhauer davon gesprochen, dass die Verneinung des Willens, also der ethische Heilsweg, „nicht durch Vorsatz zu erzwingen“ sei, also etwas mit Gnade zu tun habe. Auf das Bild des Gekreuzigten angewandt, stellt sich dann die Frage, wie es geschehen kann, dass dieses Bild, das wirkliches Abbild des Urbildes einer mit erlösender Kraft ausgestatteten Idee sein soll, den Betrachter dazu bringt, sich von dieser Idee so mitreißen zu lassen, dass er in den Erlösungsvorgang hineingenommen wird, die Idee also sich in seinem Leben realisiert. Die aktuell in der Gesellschaft wirksame Religion, das Christentum mit seiner falschen Theologie, könne es nicht mehr. Die säkularisierende Tendenz der Gesellschaft habe die auf diese Weise sich selbst widerstandslos integrierende Kraft der Religion, wie sie in den Naturreligionen spürbar war, in sich aufgesogen. Nicht mehr die Religion integriert in die Gesellschaft, sondern die Gesellschaft integriert Religion und benutzt sie zu ihren Zwecken, der Fortdauer der bestehenden ungerechten und Leiden verursachenden Welt. Die auf Macht und Herrschaft, auf Industrie und Kapital fokussierte Gesellschaft hat das Christentum seines Kerns beraubt, und durch seine Theologie hat es sich selbst widerstandslos gemacht. An die Stelle dieser künstlichen und entkernten, nur noch äußerlich sich darstellenden Religion der säkularisierten, degenerierten Gesellschaft kann nur die Kunst treten. Denn die Kunst habe sich, anders als die aktuelle Religion, nicht von der Darstellung des Unsagbaren und Undarstellbaren, von der im Leiden des Gekreuzigten aufscheinenden Idee der möglichen Aufhebung des Leides, der Erlösung für alle Wesen der Welt verabschiedet, sondern es sogar zu ihrem Wesenskern gemacht. Jedoch ohne Religion gibt es keine Regeneration, meint Wagner. Religion sei die Voraussetzung dafür, dass die These vom notwendigen Untergang der in die Dekadenz 379 380

A. a. O., S. 134 f. A. a. O., S. 134.

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verstrickten, säkularisierten Gesellschaft entkräftet werden könne. Die Kraft zur Regeneration könne „nur aus dem tiefen Boden einer wahrhaften Religion erwachsen“381, weil nur in der wahren Religion das Reinmenschliche erkannt und auf Erlösung hin befördert werden könne. Also müsse die Kunst sich der Religion verschwistern, und zwar so, dass sie die Gestalt der „wahren“ Religion annehme. Kunst stellt sich in Bild, Wort und Ton dar. Religion vermittelt ihren Kern stets durch Mythos, Ritus und Kultus, also durch ein unmittelbares, auf den ganzen Menschen habituell wirkendes Geschehen. Die theologischen Theorien bilden das, was sich dort unmittelbar zur Gestalt erhebt, nur unvollkommen, weil objektivierend in begriffl ichen Systemen ab. Die Religion muss, soll sie den Menschen erreichen, ihn tief in und bei sich selber berühren, genau das, was die Kunst auch will, vor allem mit ihren Medien auch kann. Also kann die Kunst das Medium der Religion sein, mehr noch: Angesichts der abgedankten Religion tritt die Kunst mit einer neuen Religion an ihre Stelle. Am dichtesten zum religiösen Geheimnis steht die Musik. Sie wirkt direkt auf das Gefühl, und das ist ja für Wagner das entscheidende Wahrnehmungs- und Ausdrucksorgan des Menschen. Die Kunst muss daher, wenn sie „wahre“, lebendige Religion sein und damit den Kern der Religion retten will, ein derartiges Geschehen sein, das die Menschen unmittelbar und mit nicht mehr hinterfragbarer Letztgültigkeit berührt, ihnen das Wesen der Welt durchsichtig macht, also den Verstand aktiviert, und ihnen den Weg der Erlösung von der Hinfälligkeit zeigt. Das wäre die gelungene „Gefühlswerdung des Verstandes“. Wie kann es der Kunst dann gelingen, den Kern der „wahren“ Religion, die Erkenntnis, dass diese leidende Welt hinfällig ist und der Befreiung bedarf, so zu erzeugen, dass die Menschen unmittelbar davon ergriffen werden und ihre Lebensführung danach einrichten? Die Antwort auf diese Fragen ist das „Bühnenweihfestspiel“ „Parsifal“. In ihm kommt alles vor, was meist essentiell zu einer Religion gehört 382: Riten, ein Mythos und ein Kult. Es wird gebetet, gesalbt und gesegnet. Eine Taube schwebt, Glocken erklingen, es erklingen Stimmen „aus der Höhe“. Es gibt heilige Geräte, Gral und Speer. Es gibt heilige (Gralswald und Burg) und unheilige Bezirke, eine Initiation, eine Taufe und ein Gemeinschaftsmahl mit quasi sakramentalen Elementen als symbolische Repräsentanz und Verweisungsgehalt auf Anderes, ein Offenbarungserlebnis, das das Nichtwissen aufhebt, es gibt die Sünde als sittliches Vergehen und Bruch von Ordnungen, Beispiele eines beschädigten und eines verfehlten Lebens. Es gibt die Verheißung eines Retters, ein Mantra, ein zentrales heiliges Wort – und einen offenbarenden Propheten, den Musiker, 383 welcher der Menschheit diese „wahre“ Religion als Kunstwerk verkündet.

381

A. a. O., S. 162. Vgl. dazu Frank Piontek, Abendmahl und Alleluja. Gebet und Ritual bei Wagner, in: Ders., Plädoyer für einen Zauberer. Richard Wagner: Quellen. Folgen und Figuren, Köln 2006, S. 429 – 469. 383 Vgl. in der großen Beethovenschrift, GS Bd. 8, S. 156 ff. 382

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Und hinter diesen Vollzügen steht eine mehr oder weniger objektivierende „Theologie“ als ästhetische Theorie der Erlösung und die aus ihr fl ießende Ethik der Lebensführung: die Sakralisierung der Kunst. Im geradezu grandiosen Vorspiel zum ersten Akt vollzieht sich die Initiation der Theaterbesucher in die Gemeinde durch die Aufnahme in ein dem Alltag entgegengesetztes Zeiterleben: In großer Ruhe und von Generalpausen unterbrochen erklingt das gemeinschaftsstiftende Ereignis, das Abendmahlsthema, der Hinweis auf den Mythos, das dem Dresdner Amen entlehnte Grals-Motiv, das, worum es der Gemeinde gehen soll, das Glaubensmotiv und schließlich worauf sich alles gründet: die Heilandsklage. Das Vorspiel nimmt die Gemeinde auf aus der Befangenheit in Raum und Zeit und versetzt sie in das Reich der Idee, die der leidende Christus abbildet. Er ist Urbild des Inbegriffs aller mitleidvollen Liebe und der Brechung des selbstsüchtigen Willens zum Leben, der Ursache allen Leides. Zwei Abendmahlsfeiern mit einer rituellen Wandlung in ihrem Zentrum sind die kultischen Höhepunkte des ersten und des dritten Aufzugs. Sie stellen allerdings selbst das katholische Messopfer theologisch auf den Kopf, an dessen Liturgie Wagner sich orientiert. 384 Die Klage des Heilandes, die „Gottesklage“385, ruft dem durch Kundrys Kuss „welthellsichtig“ gewordenen Toren Parsifal die Rettung des Heiligen Grals in die Seele: „Erlöse, rette mich aus schuldbefleckten Händen!“ Der Mythos erzählt die Geschichte von der Entweihung des Heiligen Grals durch sexuelle Haltlosigkeit des Gralskönigs und seine Restitution durch den reinen Heilbringer Parsifal. Ein „Karfreitagszauber“ erklingt, und Wald und Wiese beginnen zu leuchten, weil durch die Tat des Heilandes die „entsündigte Natur … ihren Unschuldstag erwirbt“, also, um mit Paulus zu sprechen, „die seufzende Kreatur“ erlöst wird von ihrer vom Menschen zu verantwortenden Qual. Eine Frau, die einzige in dem ganzen Stück, eine Heidin mit besonderem Schicksal, wird getauft, ein König gesalbt. Der zu Mitleid und Askese bekehrte Erlöser bewahrt einen frommen Männerorden vor dem Ruin, weil es ihm gelingt, die geistliche Mitte, den Gral, das Gefäß der sakramentalen Epiphanie des Heilandes, der Kultmittelpunkt der heiligen Gemeinschaft, wiederherzustellen. So gestärkt, können die Gralsritter „des Heilandes Werke“ wirken. Der zurückgewonnene Speer heilt die Wunde des Amfortas. Ein Blutwunder bringt Speer und Schale wieder

384 Wagner wandelt Leib und Blut in Brot und Wein, nicht umgekehrt, wie in der katholischen Abendmahlsliturgie. Alle unterschiedlichen protestantischen Abendmahlstheologien lehnen eine Wandlung der Elemente ab, auch wenn sie die Realpräsenz Christi beim Abendmahl lehren. Weshalb Cosima den durchgängig katholisierenden Parsifal zum Protestantismus rechnen konnte, ist mir unerfi ndlich, vgl. CT II, S. 390, 31. Juli 1879. Vielleicht lehnt sich Wagner auch an die gemeinsame heilige Mahlzeit der jüdischen asketischen Sekte der Therapeuten an, vgl. Frank Pointek, a. a. O., S. 468, der auf die Arbeiten von Wolf-Daniel Hartwich verweist. 385 Vgl. zur musikalischen Analyse der Heilandsklage und dem Schrei des leidenden Gottes: Ulrike Kienzle, … dass wissend würde die Welt!, a. a. O. S. 208 ff.

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zueinander. 386 Und mit dem „hellsten Erglühen des Grals“ schwebt eine weiße Taube aus der Kuppel herab und verweilt über Parsifals Haupt. 387 Glocken erklingen und eine Schola stimmt einen nicht enden wollenden388 Gesang aus der Höhe an: „Erlösung dem Erlöser!“ Wenn das keine Religion ist, was ist dann Religion? Es geht in der Tat um beides: die ästhetische Darstellung von Religion und zugleich um ihren rituellen Vollzug. Der „Parsifal“ ist die Liturgie der neuen, von der Kunst geretteten „wahren“ Religion, die als Kunstwerk an die Stelle der „künstlich“ gewordenen des kirchlich gebundenen Christentums treten kann. Die religiöse Schlüsselszene ist der Kuss der Kundry im zweiten Aufzug. Aufschlussreich ist, dass Wagner sich intensiv mit Renans Buch, dem historischen Jesus und seinem Leiden und seiner Götttlichkeit beschäftigt, während er an dieser Szene arbeitet. 389 In der Figur der Kundry zieht Wagner viele religiöse, mythische und sagenhafte Überlieferungen zusammen, um Kundrys Wanderschaft auszudrücken: Die hässliche Gralsbotin aus Wolframs Roman und die sinnliche Verführerin Orgeluse, „Urteufelin“, „Höllenrose“ nennt sie Klingsor, die altrabbinische Lillith-Gestalt, die zweite Frau Adams, das Urbild des dämonisch verführerischen Weibes, liegt auf der gleichen Linie. Die Wilden Frauen, die Walküren der germanischen Sagenwelt „Gundryggia“ und aus den Bakchen des Euripides, als dionysischer erotischer Taumel, prägen die Figur. Wagner verbindet diese Wanderschaft mit indischen Seelenwanderunsgvorstellungen und mit dem Kreislauf der Natur. Kundry ist „auch so etwas wie eine Verkörperung der erlösungsbedürftigen Natur. Ihre Erlösung durch die Taufe löst bezeichnenderweise den Karfreitagszauber aus, in dem sich symbolisch die Erlösung auch der außermenschlichen Natur ausdrückt“390. Der Sagenkreis des Zauberers Simon Magus aus der Apostelgeschichte klingt an, in dem eine Helena auftaucht, die mit ihrer Geilheit die kirchenfeindlichen Aktivitäten des Zauberers unterstützt. Kundry hat viele Metempsychosen hinter sich. Die deutlichen Anspielungen des dritten Aktes weisen auf die biblische Maria Magdalena, die in der Überlieferung (nicht in der Bibel) mit der großen bußfertigen Sünderin identifi ziert wird. Ihrer animalischen Wildheit wegen nennen die Knappen im ersten Akt Kundry ein wildes Tier. Von Wolfram übernimmt Wagner die in der GahmuretVorgeschichte stets mitschwingende orientalische Aura. Sie prägt die ganze Klingsor-

386 Dramaturgisch kann man durchaus fragen, was dem Gral eigentlich fehlte, solange der Speer in Klingsors Händen war. Die Abendmahlsfeier des ersten Aufzugs zeigt doch, dass von der Enthüllung allein der Schale die ganze Wirkung des Quasi-Sakramentes oder der Reliquie ausging. 387 Vgl. Mk 10,1. 388 Durch den ganzen Quintenzirkel hindurch kreisförmig moduliert. 389 Vgl. CT II, S. 114 ff.,11. Juni 1878 u. ö. 390 Dieter Borchmeyer, Wie antisemitisch sind Wagners Musikdramen? In: Meistersinger-Programmheft I der Bayreuther Festspiele 1983, S. 52.

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Welt, die, laut Regieanweisung dem arabischen Spanien zugewandt, am Südabhang desselben Gebirges angesiedelt wird, an dessen Europa zugewandter Seite der Gral lokalisiert wird. Kundry gehört auf beide Seiten. Im Gral aber wird sie nur gelitten, denn sie trägt arabische Züge. Arabien, der Orient überhaupt, galt dem ganzen 19. Jahrhundert als Ort des Hedonismus, der Lustverfallenheit, der zügellosen Leidenschaft. In der Malerei werden die Odalisken- und Haremsszenen beliebt. Folgerichtig bemerkt Wagner zu Cosima, als ihm eine Kostümskizze der Kundry vorgelegt wird: „Eigentlich … müsste sie wie eine tizianische Venus nackt sein.“391 Am wichtigsten aber ist die Verknüpfung der zwischen erotisch und demutsvoll schillernden Figur der Kundry mit dem Ahasver-Motiv. Sie büßt, getroffen vom Blick des Heilandes, den sie verlachte, ihre Schuld in immer neuen Seelenwanderungen. Im ersten Prosaentwurf zum „Parsifal“ 1865 schreibt Wagner: „Kundry lebt ein unermessliches Leben unter stets wechselnden Wiedergeburten infolge einer uralten Verwünschung, die sie, ähnlich dem ,Ewigen Juden‘, dazu verdammt, in neuen Gestalten das Leiden der Liebesverführung über die Männer zu bringen.“392 Sie ist im „Parsifal“ jedoch eine Heidin, keine Jüdin. Kundry erzählt den Grund ihrer Unbehaustheit im zweiten Akt „in höchster Leidenschaft“ (Regieanweisung) selber Parsifal, der sich gerade ihren Verführungskünsten verweigert hat und sich ihr immer mehr entzieht. Sie berichtet, dass auch sie den leidenden Christus auf dem Kreuzweg gesehen habe, „der Ursituation, dem mythischen Archetypus des Leidens“393. Jedoch statt sich mitleidend seiner zu erbarmen, lacht sie über ihn und insofern überbietet sie Ahasvers Mitleidlosigkeit durch eine Art Gegenhaltung, Gegenprinzip zum Leiden, nämlich das Lachen: „Ich sah ihn – ihn – und lachte … da traf mich sein Blick.“ Diesem Blick des Heilands will sie in all ihren Reinkarnationen wieder begegnen, um in ihm das zu erfahren, was er bei Wagner immer wieder auslöst, nämlich das „Mitleid – und in seinem Medium die Liebe“394. Nun wird sie von Klingsor dazu gezwungen, den Toren Parsifal ebenso zu verführen und ihn damit zu vernichten, wie sie es mit dem Gralskönig Amfortas und vielen Rittern getan hat. Ihre Macht deutet sich schon darin an, dass sie Parsifals Namen kennt: „Parsifal- Weile!“, ein unglaublicher musikalischer Augenblick. Er deutet religionsgeschichtlich an, dass sie seine Herrin sein könnte. Nun will sie ihn ganz in ihren Bann ziehen. Mit immer raffi nierteren Wendungen umkreist sie ihn, um ihn in die Liebe einzuführen. Sie berichtet von seiner Geburt, die seine um ihren gefallenen Mann trauernde Mutter wieder lachen gemacht hat, davon wie die Mutter ihn liebevoll aufgezogen hat. Sie macht

391

CT II, S. 657, 4. Januar 1881. GSB, XI, S. 404. 393 Dieter Borchmeyer: Wagner, a. a. O., S. 315. 394 Borchmeyer, ebd. Ob Wagner diese Reinkarnationsvorstellung aus buddhistischen Traditionen oder aus anderen übernommen hat, ist relativ belanglos. Es darf nur darauf hingewiesen werden, dass es auch in der jüdisch-christlichen Tradition solche Wiedergängervorstellungen gibt. Sie haben da in aller Regel aber dämonische Züge. 392

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ihm ein schlechtes Gewissen, weil er seine Mutter schmählich verlasen hat, so dass sie an gebrochenem Herzen starb. Parsifal bemerkt seine Schuld und seine Torheit. Nun legt sie die letzte Schlinge um sein Herz: Schmerz hast du damals nicht gekannt, jetzt kennst du ihn, und es schmerzt dich. Du kennst aber auch noch nicht den Trost, der die Wunde der Welt heilen kann und das ist die Liebe. Die Szene wird immer dramatischer, denn Kundry nähert sich nicht nur seiner Seele, sondern auch seinem Leib. Schließlich beugt sie sich über sein Haupt und bietet ihm „als Muttersegens letzten Gruß der Liebe – ersten Kuß“395. Dieser erste Anlauf zur Verführung ist „nichts anderes … als das Versprechen eines nachgestellten Inzests.“396 Um diesen Wendepunkt musikalisch zu gestalten, bietet Wagner alles auf: „Im Kuss Kundrys fallen die einander überlagernden Leitmotive mit den verschiedenen im Spiel befi ndlichen psychodynamischen Ebenen zusammen. Der Liebeskuss Kundrys … schleicht sich langsam zwischen das detailliert ausgearbeitete schnörkellose Leitmotiv von Klingsors Zauber, des Leidens, des Speers und der Melancholie … ein, bis es schließlich in die Themen Kundrys, Amfortas’ und des Elends der Sünde im herzzerreißenden Schrei Parsifals: ,Amfortas! Die Wunde‘ mündet.“397 Schlagartig, mit höchstem Schrecken und Schmerzen, erkennt er in der Wunde des Amfortas den Grund für das Verhängnis, das über der Welt und allem Sein liegt. Er wird „welthellsichtig“398. Religionspsychologisch widerfährt ihm in dieser faszinierenden und zugleich erschreckenden, plötzlichen Erfahrung eine Offenbarung des Heiligen, die seine Weltsicht und seine Weltzuwendung völlig verändert. Die Wunde des Amfortas ist ein transzendentes Bild für das Leid des sündigen Gralskönigs wie auch für das Leid allen Seins, verursacht vom blinden Willen zum Leben. Parsifal „sieht“ die Wunde nicht nur, er durchlebt die Schuld des Amfortas und „die Qual der Liebe“ in symbolischer Identifi kation, nicht nur mit dem Gralskönig, sondern mit allem Sein, das ja nichts als Leiden ist. Seitdem ruht auf ihm christologischer Glanz. Er erkennt, dass die Wunde nicht nur eine Strafe ist „für eine Verfehlung selbst, sie ist die Verfehlung: das Begehren“399. Weil er der Versuchung widersteht, wird er zum Heilbringer und Erlöser, auch der Natur.400Aus Mitleid wird der Tor wissend und kann nun den Erlösungsweg gehen, zu dem ihn der Heiland gerufen hat. Das Offenbarungserlebnis verändert ihn, indem es dasjenige aus ihm ans Licht bringt, was schon immer in ihm war: Die Reinheit. Sie ist ethisch der einzige Weg zur Erlösung

395

Parsifal, hg. v. Wilhelm Zentner, Stuttgart 1968, S. 43. Enrik Lauer / Regine Müller, Wagnerianer, a. a. O., S. 238. 397 Giuseppe Sinopoli: Bewusstseinsbildung und Individuation. Symbolische Verwandlungen der Figur der Kundry in Richard Wagners Parsifal, 1997, S. 36. 398 Parsifal, S. 46. 399 Volker Mertens, a. a. O., S. 70. 400 Mertens hat sehr richtig bemerkt, dass dieser Gedanke christlich ist und im Buddhismus nicht gedacht werden kann, vgl. ebd. Der Karfreitagszauber des dritten Aufzugs hat in der Kussszene seine Ursache. 396

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und bestimmt zukünftig seine Lebensführung als Mitleid und Askese. Jedoch wird sie ästhetisch vermittelt. Dieser Erlösungsweg wird im Erleben des Kunstwerkes ästhetisch vermittelt: Reinheit kann erreicht werden durch Verneinung des Willens zum Leben in der sexuellen Askese und in die Lebensführung übernommen werden als Mitleid mit der ganzen Kreatur, Pflanzen und Tiere eingeschlossen. So wendet sich das Drama vom Kuss zur Wunde, vom Schmerz zur Erkenntnis und vom Eros zur Agape und der Askese. In dieser Verschiebung des Liebesbegriffs vom Eros zur Agape wird der „Parsifal“ zumindest religionsaffi n, wenn nicht die Liturgie einer neuen Religion, die aus einer „neuen“ Offenbarung heraus die „künstlich“ gewordene christliche Religion retten, die Degeneration der Gesellschaft aufhalten und die Basis zur Regeneration werden kann. Anders als Schopenhauer formuliert Wagner den Erlösungsweg des aus Mitleid wissend gewordenen Parsifal „religiös“ und nicht als philosophischen Erkenntnisakt. Der Heilsweg ist nicht das Ergebnis eines Denkprojektes als Aufhebung des Nichtwissens. Der Eros ist bei Schopenhauer der Brennpunkt des Willens und ein Abwenden des Verhängnisses ist nur durch die bewusste Brechung dieses Willens möglich. Der Kuss Kundrys und Parsifals zurückstoßende Abwehr ihrer Verführung ist die in Musik gesetzte, ästhetische „Mortifi kation des Willens“ und damit zugleich die Eröffnung möglichen Heils durch die Kunst, dem die Ethik folgt.401 Dieser Heilsweg wird dem Toren im Kuss der Kundry ohne dass er das wollte, überraschend und überwältigend, also gnadenhaft, klar. Die Agape ersetzt das erotische Weltprinzip. Plötzlich begreift Parsifal die Sexualität auf höchster Kulturstufe, die erotische Liebe, als Wurzel allen Übels, die „Qual der Liebe“ ist die metaphysische und religiöse Sünde. Sie ist schon da, bevor sie aktuell gelebt wird, ein ganz und gar richtiges theologisches Urteil über die Sünde. Kundrys Verführung ist „über die erotische Bezauberung hinaus Heilsberaubung, Widerpart der Erlösung. Wer Kundry verfällt, hat sein Heil verloren“402 . Daher sind Erotik und Sexualität aus der vorweggenommenen eschatologischen Gesellschaft, dem Gralsorden, verbannt. Dessen Gesellschaft ist auf ein Geschlecht reduziert, nicht zufällig für eine Zeit, in der das Wesen der Frau wesentlich als sexuelle Verführerin gesehen wurde, die ihre Triebhaftigkeit nicht im Griff hat. Aus der erotischen Liebe der frühen Werke wird das asketisch „rein“ gehaltene Mitleid, ganz im schopenhauerschen Sinn.403

401 Wagner kehrt Schopenhauer um, „der eher die Ästhetik für die Zwecke der Ethik instrumentalisiert hatte“, Stefan Breuer, a. a. O., S. 171. Bei Wagner ist die Ästhetik die Grundlage für die Ethik. 402 Dieter Borchmeyer: a. a. O., S. 316. „Die größte Sünde im Parsifal ist die Sexualität, ihr gegenüber sind alle anderen lässlich: leicht vergebbar“, Ulrich Schreiber, a. a. O., S. 554. Schreiber u. A. vermuten, dass es eigentlich um die „Heterosexualität“ gehe, sogar mit einer Richtung auf Päderastie. Das habe schon Debussy an der Partitur deutlich zu machen versucht. Vgl. a. a. O., S. 555. 403 Das hat Ulrike Kienzle sehr deutlich zeigen können, vgl. Das Weltüberwindungswerk. Wagners "Parsifal“, Laaber 1992.

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Was wird aus dem anderen Weltprinzip des „Rings“, der Macht? Auch die Macht bekommt noch einmal ihren Auftritt. Der Zauberer Klingsor gleicht in gewisser Weise Alberich. Nur hat er die Liebe nicht verflucht, sondern sie durch Selbstkastration aus seinem Leben verbannt. Wer der Liebe entsagt und sie nicht durch freiwillige Askese in Agape verwandeln kann, der verfällt der Gier nach dem zweiten Prinzip der Welt der Macht. Klingsor ist der einzige, den Kundry nicht verführen kann. Darum hat er Macht über sie. Und seine Macht, mit der er die vom Eros ergriffenen Gralsritter in Steine verwandeln kann, symbolisiert, was einem Menschen, einer Gesellschaft widerfährt, die dem Eros verfallen ist: Sie versteinert. Sie verliert genau das Leben, zu dessen Besitz der Lebensdurst ihre Gier lenkte. Oder sie werden so schuldbeladen wie Kundry und Amfortas, zerrissene Persönlichkeiten. Am Schluss des zweiten Aktes ruft die mit ihrer Verführungskunst erstmalig gescheiterte Kundry ihren Meister Klingsor zur Hilfe. Der schleudert den Heiligen Speer (ein Glissando für Harfen in der höfischen Tonart D-dur, das in einem Diminuendo über drei Oktaven ansteigt), um Parsifal zu töten. Jedoch bleibt dieser über Parsifals Haupt schweben, welcher ihn ergreift und „im Zeichen des Kreuzes“ schwingt (Regieanweisung). „Parsifal hält den Speer horizontal, bildet so zusammen mit seinem Körper ein Kreuz und macht die vertikale Beziehung nicht nur zu einem Symbol der Immanenz und Transzendenz, sondern auch zu einem Symbol der Erkenntnis des Geheimnisses des Lebens und des Todes, indem er durch den Speer Osten und Westen vereint, Sonnenaufgang und -untergang, Geburt und Tod.“404 Kundry ist befreit und Parsifal beendet die Herrschaft der Macht, deren Schatten sogar schon über dem in seiner Substanz bedrohten Ritterorden liegt. Als er den Gral nach langer Irrfahrt endlich fi ndet, ist der Garten in jämmerlichem Zustand. Es gibt keine gemeinsame Mahlzeit, keine rituelle Gemeinschaft, das Rettungswerk für Menschen in Not ist zusammengebrochen. Das drohende Geschrei der Ritter, mit dem sie den todwunden Amfortas im dritten Akt zur Enthüllung des Grals zwingen wollen („Du musst!) ist das klangliche Abbild für die in den Garten eingedrungene Gier nach Leben, das Böse schlechthin.405 Das Zeichen des Kreuzes verweist auf Parsifal, der das Böse besiegt und den Heilsweg antritt, und in seiner Person und seinem Tun die gespaltene Welt des Ostens und des Westens, der Sünde und der Vergebung, der Immanenz und der Transzendenz wieder zusammenführen kann. Und dieses Zeichen verweist auf den, der das Urbild des Abbildes Parsifal ist und der exemplarisch die Umwendung des verhängnisvollen Lebensgesetzes, des Willens zum Sein, am Kreuz von Golgatha vollbracht hat. Damit sind wir auf das zweite religiöse Zentrum des „Parsifal“ verwiesen, auf den „Heiland“. Der Kuss Kundrys ist die Offenbarungsszene und das im Kreuz aufscheinende Symbol verweist auf den Inhalt des Heilsweges und sein Ziel. „Theologisch“ geht es um den gleichen Inhalt: Die Erlösung aus dem Lebensdurst, der Gier nach Sein, die 404 405

Sinopoli, a. a. O., S. 45. Titurel starb, weil er nicht mehr vom Gral gestärkt worden ist.

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sich in der Sexualität manifestiert. Zwei Fragen können klären, welche Bedeutung der gekreuzigte Heiland für Mythos und Kultus und Ritus der ästhetischen Religion hat, für die der "Parsifal“ die Liturgie und das Verkündigungsmedium ist. Hat der gekreuzigte Heiland Wagners etwas mit dem historischen Jesus von Nazareth zu tun? Rückt er als Person in das Heilsgeschehen ein? Feiert der „Parsifal“ den Gottessohn des christlichen Glaubens und der Lehre? Und zweitens: Welches Blut floss in seinen Adern und wurde damals vergossen und welches Blut wird im Gral bei der Enthüllung zum Liebesmahl verflüssigt? Damit hängt die Frage zusammen, warum Amfortas so schrecklich leidet, wenn er den Gral enthüllt. Darüber gibt eine Schrift Aufschluss, die Wagner auch innerhalb der „Regenerationsschriften“ als Ausführungen zu „Religion und Kunst“ verstanden wissen wollte: „Heldentum und Christentum“ (1881).406 Und in dieser Schrift wird wie schon in anderen Bemerkungen vorher überdeutlich, dass der Heiland am Kreuz als historische Person, anders als in seinem frühen Dramenentwurf, ganz und gar gleichgültig ist gegenüber der in seinem Bild als Urbild erscheinenden Idee. Damit folgt er der damaligen innertheologischen Differenz zwischen dem historischen Jesus und dem Christus des Glaubens. Ihn interessiert jetzt nur noch der Christus des Glaubens, aber in seiner wagnerschen Perspektive. In diesem Zusammenhang ist seine Bekanntschaft mit dem Grafen Gobineau von Bedeutung.407 Wagners „Heilandsblut“ ist die symbolische Repräsentation der Fähigkeit der menschlichen Gattung zum bewusst wollenden Leiden und Mitleiden, projiziert in das Bild eines besonderen leidenden Menschen. Das wird am Vergleich zwischen Parsifal und Christus deutlich, den Wagner Cosima schon 1878 erläutert. Parsifal brauchte ein Offenbarungserlebnis, einen „erhabene[n] Eindruck …, dass der Naturtrieb umschlägt; das ist das Vorbild aller Heiligen; beim Heiland war es sozusagen vom Mutterleib aus prädestiniert.“408 Was sich im Bild des Christus zum Heil hin verändert, geht aus der menschlichen Natur als solcher hervor. In der menschlichen Natur aber wirkt der schopenhauersche allmächtige, blinde Wille, der sich im „Wollen der Erlösung“ gegen sich selber wendet. Der Wille hat die Menschheit hervorgebracht. Und in der Menschheit erscheint die im Bewusstsein mögliche Selbstreflexion des Willens, der sich dann die Frage nach der Ursache des Leides und seiner Überwindung stellen kann. Der leidende Christus Wagners ist nur eine besondere Manifestation des „Genius der Menschheit“, der immer bewusster leidet und dann „den Heiland erstehen lässt“409. Es geht also nicht etwa um den historischen Jesus, auch nicht um den Gottessohn der christlichen Dogmatik, sondern um

406

GS 14, S. 193 –203. Cosima berichtet, dass Wagner diese Schrift angeregt durch Gobineau geschrieben habe, CT II, S. 736 f., 12. Mai 1881; S. 785, 23. August 1881. Zu Gobineau vgl. Stefan Breuer, a. a. O., S. 170 f.; Udo Bermbach, Wahn des Gesamtkunstwerks, a. a. O., S. 349 –359. 408 CT II, S. 178, 19. September 1878. 409 Heldentum …, a. a. O.,S. 200. 407

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sein Bild als die sinnliche Erscheinung einer erlösenden Idee der Menschheit als Gattung, die der Wille selber hervorbringt. Im Bild des Heilandes am Kreuz zeigt sich die „höchste Energie des Willens selbst“410. Wie überall da, wo jemand sich vollständig vom Willen zum Leben abwendet, ist der Wille selber die Ursache, die Veranlassung dazu. Der Gekreuzigte, dieses Abbild des Willens, der sich selber nicht mehr will und mitleidig auf das herabsieht, was er angerichtet hat, ist eine Wirkung dieses Willens. Von diesem exemplarischen Bild oder der Vorstellung411, die wir uns davon machen, geht dann wiederum die Wirkung aus, diesem Heiland nachzueifern, sich der Welt mitleidend zuzuwenden und sich darüber zu entsetzen, dass die Erlösung diese schreckliche Wendung des Willens gegen sich selber suchte, wie sie im leidenden Heiland abgebildet wird. Im Abbild setzt sich die Energie des Willens, im Urbild des Heilandes am Kreuz gefasst, fort. Wille korrespondiert immanent mit Willen, keine Gottheit kommt ins Spiel. Aber der Wille wendet sich ja nicht in einem natürlichen, notwendigen Prozess gegen sich selbst. Schopenhauer hatte ja schon von der Gnade gesprochen. „Die Esel, die nicht an Gott glauben“, bemerkt Wagner zu Cosima, „und die denken, dass eine solche Erscheinung wie die Jesu von N. und des großen schaffenden Genius auf dem gewöhnlichen natürlichen Prozeß vor sich geht! Die nicht fühlen, dass da ein besonderer Drang waltet, eine erhabene Not, welche immer doch zum Guten führt. Man muß nur nicht an den alten Juden-Gott dabei denken.“412 Woher kommt dieser Drang zum Guten, zur Erlösung? An dieser Stelle kommt Wagners Auseinandersetzung mit Gobineau ins Spiel. Zu Cosima sagt er: „Gobineau sagt, die Germanen waren die letzte Karte, welche die Natur auszuspielen hatte, Parsifal ist meine letzte Karte.“413 Das zunehmende Leid, spürbar in der Degeneration, ist auf verdorbenes Blut zurückzuführen. Das meint jetzt auch Wagner. Aber anders als Gobineau, der den Untergang der Zivilisation als in Gottes Willen beschlossen verstand, sieht Wagner die Chance auf eine Regeneration. Wenn das Blut verdorben ist, dann geht es auch um die Wiederherstellung reinen Blutes. Woher kann dies kommen? Nicht von einer besonderen Rasse oder nur durch „ein höher organisiertes Individuum“, sondern erst wenn „in diesem eine neue Spezies entsprossen wäre“414, dann ist Regeneration möglich. Das heißt, die Gattung „Menschheit“ hat die Fähigkeit zur Mutation nicht verloren. Und sie hat sich im Blut des Heilandes ereignet und teilt sich von dort der Gattung mit. Der Wille im Genius der Menschheit hat sich angesichts des fortschreitenden Leidens und der drohenden Generation der Menschheit unter dem Vernichtungsdruck „nach dem Gesetz des Anwachsens der Kraft durch Kompression“ so verdichtet, dass der natürliche Prozess durch eine besondere Spezies mit nicht verdorbenem Blut über-

410 411 412 413 414

A. a. O., S. 197. A. a. O., S. 197. CT II, S. 114, 11. Juni 1878. CT II, S. 718, 28. März 1881. Heldentum …, a. a. O., S. 200.

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boten wurde, aus dem die Erlösung und Rettung fl ießen könnte: „Das Blut in den Adern des Erlösers dürfte so der äußeren Anstrengung des Erlösung wollenden Willens zur Rettung des in seinen edelsten Rassen erliegenden menschlichen Geschlechtes, als göttliches Sublimat der Gattung selbst entflossen sein.“415 Die Antwort auf die Frage, warum Amfortas so leiden muss, wenn er den Gral enthüllt, muss aus dieser Perspektive etwas mit seinem Blut zu tun haben. Das Heilandsblut ist der „Inbegriff des bewusst wollenden Leidens“. Wagner meint, es sei „unvertilgbar“416. Es hat sich als der „Urquell“ als „göttliches Mitleiden durch die ganze menschliche Gattung“ ergossen.417 Dieses Blut hat Joseph von Arimathia am Kreuz in der Schale des Grals aufgefangen.418 In der heiligen Handlung der Enthüllung des Grals fi ndet eine Art symbolische Verflüssigung des reinen Heilandsblutes statt und seine Kraft wird geistlich kommunizierbar. Die Ritter werden durch den Anblick des leuchtenden Gefäßes gestärkt und dann fi ndet „um unserer Liebe willen“ die heilige Kommunion des in Brot und Wein gewandelten Leibes und Blutes des Heilandes statt, um an ihn zu denken und „des Heilands Werke zu wirken“. Zwischen dem Heiland und seinen „Helden“ hat ein – symbolischer? – Blutaustausch stattgefunden, der eigentlich der ganzen menschlichen Gattung gilt. In der, in der weißen Rasse besonders ausgeprägten, „Fähigkeit des bewussten Leidens“ habe es sich als höchste und letzte Entwicklungsstufe der menschlichen Gattung überhaupt manifestiert. Aber durch Vermischung mit anderem Blut sei seine Kraft verkommen und aus der „Lügenhaftigkeit unserer ganzen Zivilisation“ könne man „auf ein verderbtes Blut“ ihrer Träger schließen. Als christlichem Gralskönig floss in Amfortas Adern ursprünglich das reine Heilandsblut, das sich „einst in die Adern seiner Helden ergossen hatte“419. Aber dieses Blut ist verdorben, insofern ist Amfortas das Sinnbild des verdorbenen Christentums als Kirche. Wodurch ist es verdorben? Durch den Geschlechtsverkehr mit Kundry kam vergiftetes Blut in seine Adern.420 Seitdem will das Gift der Liebessehnsucht nicht aus seinem Herzen weichen und die vom Speer geschlagene Wunde kann nicht heilen. Wenn er den Gral enthüllt, fi ndet zur Stärkung der Kommunikanten ein rituelle Erneuerung der Kraft des Heilandsblutes statt. 415

Heldentum …, a. a. O., S. 200 f. Der Gedanke der Kompression taucht auch in den Gesprächen mit Cosima auf, CT II, S. 1012, 1. Oktober 1882. 416 Brief an Mathilde vom 30. Mai 1859, Golther, a. a. O., S. 147. 417 A. a. O., S. 199. 418 Zum Gral vgl. Volker Mertens, Der Gral. Mythos und Literatur, Stuttgart 2003; Ders., Wie christlich ist Wagners Gral?, in: wagnerspectrum 1, 2008, Schwerpunkt: Der Gral, S. 91–116. 419 A. a. O., S. 198. 420 Wagner greift auf das Bild vom vergifteten Blut zurück, als er Cosima die Takte zwischen Kundry und Parsifal in der Szene erläutert „welche den Kuß Kundry’s begleiten und worin das tödliche, wie Gift sich schlängelnde Motiv der Liebessehnsucht vernichtend wirkt“, CT II, S. 108, 4. Juni 1878.

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Bei Amfortas, dem das Ritual leitenden und seine Wandlungen bewirkenden Priesterkönig, ereignet sich aber mehr und Anderes. Wenn er den Gral enthüllt, kommt er direkt mit dem Heilandsblut in Berührung. Das ihn, wie alle, erlösen wollende Blut, ergießt sich in sein Herz und presst das Sündenblut aus der Wunde heraus. Die Wunde reißt erneut auf. Aber weil in seinem Herzen nach wie vor das Begehren steckt, entquillt „das heiße Sündenblut … ewig erneut aus des Sehnens Quelle, das ach, keine Büßung je mir stillt“421. Daher kann der rettende Blutaustausch, der bei ihm nicht nur symbolisch sein kann, nicht stattfi nden.422 Stattdessen greift der Fluch, der auf Kundry lastet, auf ihn über: Auch er kann nicht sterben, die Wunde nicht heilen. Parsifal endlich erlöst ihn mit dem wiedergewonnenen Speer, dem auch Blut entfl ießt. Es ist das Heilandsblut. Es schließt nicht vom Herzen, sondern von der Wunde eindringend die Wunde und vertreibt das Begehren aus seinem Herzen. Und selbst dieses sehnt sich nach der Erlösung, und zwar als einziges im ganzen „Parsifal“ noch im romantischen Sinn der Wiedervereinigung des Getrennten: Das Blut, das am Speer tropft, sehnt sich nach dem Blut, das sich in der Schale wellt: „Erlösung dem Erlöser!“ Das heißt: Der Gral ist von seiner Getrenntheit durch Amfortas’ Sünde erlöst.423 Obwohl es diese beiden zentralen religiösen Zusammenhänge im „Parsifal“ und seinem literarischen Umkreis gibt, stellt sich die Frage dennoch: Ist der „Parsifal“ überhaupt eine Religion oder nur eine Darstellung von Religion in einem Kunstwerk? „Es gibt ein altes Unbehagen am Parsifal“, und es kreist „um die Doppelbestimmung des Werkes: Es ist Bühnen- und Weihfestspiel zugleich, Musikdrama von unbezweifelbarer Autonomie, aber auch religiöses Werk, christliches Passionsspiel. Keiner weiß, ob wir die Religion als Schauspiel erleben oder das Schauspiel einer Religion.“424 Ich bin davon überzeugt, dass Wagner wirklich eine neue Religion ins Spiel bringen wollte. Dafür gibt es einige Gründe. Wie alle Religionen hat sie ihren Ausgangspunkt in der Beobachtung, dass etwas nicht richtig ist in der Welt. Es ist etwas grundsätzlich schief gegangen. Für Wagner ist die 421

Parsifal, S. 27. Parsifal, S. 26: „Des Weihgefäßes göttlicher Gehalt erglüht mit leuchtender Gewalt; durchzückt von seligsten Genusses Schmerz, des heiligsten Blutes Quell fühl ich sich gießen in mein Herz. Des eignen sündigen Blutes Gewell› in wahnsinniger Flucht muß mir zurück dann fl ießen, in die Welt der Sündensucht mit wilder Scheu sich ergießen; von neuem sprengt es das Tor, daraus es nun strömt hervor, hier durch die Wunde, der seinen gleich, geschlagen von desselben Speeres Streich.“ 423 Vgl. Dieter David Scholz, a. a. O., S. 108. Es gibt bekanntlich endlose Debatten darüber, was dieser Rätselspruch bedeuten könnte. Martin Geck, Wagner, a. a. O., S. 327 meint, dieser Schluss sei „kryptisch“, während in den anderen Opern wenig Zweifel aufkäme, wem die intendierte Erlösung gelten soll. Da Wagner sich nicht dazu deutlich geäußert habe (außer einer sybillinischen Bemerkung CT II, S. 866, 5. Januar 1882), vermutet er: „Womöglich will sich Wagner damals, ein Jahr vor seinem Tode, selbst zum Erlöser stilisieren.“ Auch das halte ich für denkbar. 424 Nike Wagner, Wagner Theater, Frankfurt a. M. u. Leipzig, 1998, S. 213. 422

Die Liturgie zur „Rettung der Religion“ durch die Kunst: „Parsifal“

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Welt durch die moderne Zivilisation der Industrie, der Geldwirtschaft, der objektivierenden Wissenschaft, den misslungenen demokratischen Staat und, man darf es nicht verschweigen, durch den Einfluss der Juden425, tief versehrt und taumelt ihrem heillosen Untergang entgegen. Die Menschen sind sich selber und einander entfremdet. Einen Gott im Sinne des Theismus, der retten könnte, gibt es nicht. Manche, wie Gobineau, meinen sogar, der Untergang sei von Gott gewollt. Aber ohne Religion, das ist Wagner ganz klar, gibt es keine Regeneration. Die Religion der Christen scheidet aus. Sie ist kraftlos geworden und in der Gestalt der Kirche in die sich versteinernde Welt verflochten. Was sind die Konturen und Inhalte dieser neuen ästhetischen Religion, die die künstlich gewordene Religion retten will, um die auf eine degeneriertes Ende zulaufende Entwicklung der Gesellschaft zu stoppen und sie zu regenerieren? Religion beginnt also mit der Einsicht in die tiefe Versehrtheit der Welt und ihrer Kreaturen, der Menschen untereinander und ihrem Verhältnis zur Natur. Das hat Wagner in der religiösen Beschreibung der „Hinfälligkeit der Welt“ aufgenommen. Wie in allen Religionen erscheint im „Parsifal“ der Mensch als tief in sich zerrissenes Lebewesen, tief ins Nichtwissen und bewusstlose Einsamkeit verstrickt. Um diesen Zustand der Welt zu beschreiben, haben die Religionen ihre Mythen des Ursprungs. Sie erzählen in aller Regel von einem Ur-Frevel der Menschen, der seit einer Ur-Untat über allem Sein liegt. Dieser Ur-Frevel erklärt das so tief zwiespältige Wesen des Menschen, das er von sich aus nicht lösen kann. Das ist im „Parsifal“ genauso. Die Welt, selbst die heilige Welt des Grals, ist nicht im Lot, schon lange bevor der unwissende Naturbursche Parsifal in sie eindringt. Amfortas, der Gralskönig, hat in seinem Versuch, Klingsors Zauberschloss, das so vielen Gralsrittern zum Verhängnis geworden war, zu zerstören, selber Unrecht getan und ist schändlich gescheitert. Und dieser gescheiterte Rettungsversuch setzt eine gespaltene Welt voraus. Symbol dafür ist der Montsalvat. Er hat zwei Seiten. Und jede hat einen eigenen Mythos über ihre Entstehung. So hat auch der „Parsifal“ einen Mythos, die Geschichte des Grals, zu seiner Voraussetzung, und auf dieser Folie erscheint das Bild seiner Welt und sie liefert die Gründe für ihren unheilvollen Zustand. Der Grund dafür ist der Wille zum Sein, zum Leben selbst, dessen zerstörerische Gewalt sich in der Sexualität, im Begehren zusammenfasst. Religionen beschreiben die Begegnung des Menschen mit der Heilspotenz, die den Weg zur Erlösung zeigt als die mögliche Verwandlung des Menschen aus seiner Todverfallenheit ins neue Leben. Zum Parsifal-Mythos gehört die Erlösergestalt, an der sich ein Unbedingtes offenbart, das in dieser Erfahrung den möglichen Weg zur Rettung aus dem Verhängnis, die Erlösung, zeigt. Das ist der Heiland am Kreuz, die Manifestation der Idee, dass sich in Mitleid und Askese, im bewussten Mitleiden dieser verhängnisvolle Wille sich gegen sich selbst wen425

„Der Jude“ ist „der plastische Dämon des Verfalls der Menschheit“, Erkenne dich selbst (1881), GS 14, a. a. O., S. 190; unsere ganze „Zivilisation“ ist „ein barbarisch-judaistisches Gemisch …, keineswegs eine christliche Schöpfung, a. a. O., S. 186.

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den kann. Da das Bild des Gekreuzigten aber in der modernen Gesellschaft so verdunkelt ist, dass es nicht mehr wirken kann, sucht sich der auch erlösen wollende Wille eine neue Figur, die in der Geschichte ihres Welthellsichtigwerdens das verdunkelte Bild wieder so ins Bewusstsein und Gefühl der entfremdeten Menschen ruft, dass es wieder wirken kann. Das ist die Figur des Toren Parsifal, dem im Kuss der Kundry in der Epiphanie der Wunde das Begehren, der gierige Wille zum Sein, als die Ursache des Leides und der Weg zur Befreiung aus ihm durch Mitleid und Askese klar wird. Der sich vom Toren zum Retter wandelnde Parsifal erneuert mit seiner Erlösung des Grals den rettenden Blick auf den Heiland am Kreuz. Und Wagner will mit dem Bühnenweihfestspiel den nach Bayreuth pilgernden Menschen diesen Blick auf den Heiland liturgisch ermöglichen. Was Religion ist, kann man nicht defi nieren. Es gibt keinen allgemein anerkannten Religionsbegriff. Aber Religion ist in allen Religionen mit einem Verwandlungsprozess verbunden. Im Kuss der Kundry, der den Toren „welthellsichtig“ macht, insofern er ihm als Offenbarung den Grund für das Verhängnis der Welt aufschließt und ihm den Weg zur Erlösung zeigt, buddhistisch das Nichtwissen aufhebt, überfällt das Weltgeheimnis Parsifal und erschließt sich ihm ohne seinen Willen und verwandelt ihn. Aus sich selber hätte er seine Verwandlung vom Toren zum Erlöser des Grals nicht vollbringen können. Auf den Weg zur Erlösung wird er gerufen, wie die Propheten, aber wie grundsätzlich alle Menschen, denen die Götter und ihre Heilswege (oder wie im Buddhismus: die Heilspotenz der Lehre) gegenübertreten. In solcher Erfahrung zeigen die Götter den Menschen den Weg ins neue Leben und verwandeln sie dabei: hier vom Toren, der unwissend auf den Tod zugeht, in den Erneuerer von Mensch und Natur. Das Leid der Entfremdung könnte eigentlich auch durch sinnliche Glückserfahrungen aufgehoben werden. Das war der Traum des jungen Wagner. In den frühen Werken bleibt dieses Glück, wie gesehen, unerreichbar, jedenfalls irdisch. Im „Tristan“ wird es auf das Jenseits verschoben, bleibt aber der Heilsweg zum transzendenten Ziel im liebenden Aufgehen „in des Weltatems wehenden All“, in dem der / die Geliebte auch ist und man sich mit ihm / ihr wiedervereinen kann.426 Im „Parsifal“ wird der Eros als evidentester Ausdruck des metaphysischen Defekts des Seins, des Verhängnisses und der Schuld, welche die Welt zerstören, gebrandmarkt. Kundrys verführerisches Heilsversprechen ist im Kern Wagners Weltanschauung aus der Feuerbachzeit und in Teilen des „Rings“ und des „Tristan“, die Wagner im „Parsifal“ grundsätzlich revidiert. Gleichwohl bleibt Wagners Parsifalreligion durch und durch erotisch konnotiert, wie auch Schopenhauers Philosophie. Der zerrissene Mensch kann wie Parsifal wissend und geheilt werden, um dann, die Welt des Eros und seiner Trugbilder überwindend, der Welt zugewandt mitleidend und 426

„So stürben wir, um ungetrennt – Ewig einig – Ohne End’– Ohn’ Erwachen – Ohne Bangen – Namenlos in Lieb umfangen – Ganz uns selbst gegeben, der Liebe nur zu leben?“, Tristan und Isolde, a. a. O., Z. 1372–1381.

Die Liturgie zur „Rettung der Religion“ durch die Kunst: „Parsifal“

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asketisch zu leben. Und so wie Parsifal das Böse in Gestalt des Zaubergartens Klingsors aus der Welt treibt, so kann die in Gut und Böse aufgespaltene Welt zur neuen Einheit der Agape zusammengefügt werden, deren soziale Repräsentanz der erneuerte Gralsorden ist. In der Aufführung des „Bühnenweihfestspiels“ wird das Offenbarungsereignis und der zu gehende Weg zu einem Kunstwerk verdichtet, das in den Menschen den Impuls setzen soll, auch in ihrem Leben der Wendung des Willens gegen sich selbst, nach dem Vorbild des Heilandes am Kreuz und in der Imitation der Parsifalgeschichte, Raum zu geben. Dazu bietet der „Parsifal“ die Chance, indem er die Gelegenheit eröffnet, nicht nur durch den Blick, sondern durch das Gesamtkunstwerk die gleiche seelische Erfahrung wie der leidende Heiland und Parsifal im Kuss der Kundry zu machen. Dafür schafft Wagner in den Festspielen in Bayreuth nach dem Vorbild der antiken Mysterien einen Ort, in dem solche existenzverändernden Einstellungsänderungen sich ereignen können. Dort kann eine Erneuerung des grundsätzlich schon geheilten, aber durch das alltägliche Leben geschwächte Dasein möglich werden. In der Musik begegnet man dem Unbedingten und Unaussprechlichen, um sich von der Welt zu reinigen und von der symbolischen Kommunion zum alltäglichen Leben stärken und zurüsten zu lassen. Im Kunstwerk wird eine Gegenwelt zur Welt des Alltags geschaffen, die als die wahre Welt die nur scheinbar reale als Trugbild entlarvt, und Kraft vermittelt, sich der wahren Welt zuzuwenden und in Mitleid und Askese diese Welt zu antizipieren. Hinter dieser Welt, in der „Klangreligion“427 des „Parsifal“, ereignet sich die Epiphanie der Erlösung als universale Möglichkeit für Alle – zumindest für die, die pilgernd sich auf den Weg dahin machen. Es ereignet sich die Erlösung von der Welt – durch die Welt, den Willen, den Genius der Menschheit. Das Kunstwerk als religiöse Veranstaltung gibt Raum für die Veränderung der „schlechthin unmoralischen Weltordnung“, die die „edelste Rasse“, die weiße, den niederen Rassen angetan habe. Anders als Gobineau sieht Wagner in der Vermischung der Rassen die Möglichkeit einer Gleichheit der Menschen einer nicht mehr durch Rassen gegliederten Menschheit428 auf dem Weg zu einer „ästhetischen Weltordnung“ mit einer „wahrhaftigen, nicht ,vernünftigen‘ … Moralität“429. Theologisch jedoch rettet sich Wagner, wie schon am Schluss der „Götterdämmerung“, ins Ungenaue. Insofern schafft die Verlängerung des „Rings“ in den „Parsifal“ keine theologische Klarheit. Ungenau ist nicht nur das Abendmahl im ersten Akt. Klar ist nur: Es werden nicht Leib und Blut des christlichen Heilands ausgeteilt. Aber beides wird in Umkehrung der katholischen, lutherischen und calvinistischen Abendmahlstheologie in Brot und Wein gewandelt. Daher sind Blut und Wein in einer Art Präfation präsent, um gewandelt zu werden: „Dem Erlösungshelden sei nun mit freudigem Herzen 427

Dieter Schnebel, Religiöse Klänge – Klangreligion, in: Ulrich Müller / Peter Wapneweski (Hg.), Richard-Wagner-Handbuch, a. a. O., S. 698 –703. 428 Stefan Breuer, a. a. O., S. 171. 429 Heldentum …, a. a. O., S. 203.

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mein Blut vergossen … Der Leib …, er lebt in uns durch seinen Tod.“ Gleichzeitig beschreibt ja Amfortas, was passiert, wenn der Gral, eine Art Reliquie, enthüllt wird: Heiligstes Blut gießt sich zumindest dem Priester ins Herz. Das Blut ist also doppelt präsent: als Grund des sakramentalen Elementes, dessen Substanz gewandelt wird, und ohne jede Wandlung im direkten Blutaustausch. Die Feier ist leibliches Stärkungsmahl, Gedächtnismahl und Blutgemeinschaft in einem. „Der theologische Gehalt des Grals ist daher diffus.“430 Was ist Wagners Erlösungsziel, also der theologische Kern dieser religiösen Feier? Ist es das „Nicht-mehr-sein-wollen“ Schopenhauers? Deutlich: Nein. Die Abendmahlsfeier soll die Gemeinde für die Welt stärken, um des Heilandes Werke zu tun. Aufgabe des Grals, das zeigt sich am „Lohengrin“, ist nicht die Vermittlung von religiösen Inhalten, also verbale oder sakramentale Mission, sondern die Hilfe für unschuldig bedrängte, schwache Menschen. Die Gralsritter legen den Menschen nicht die Aufgabe des Begehrens als Heilsweg vor. Aber der Anspruch an das Kunstwerk „Parsifal“ ist genau dieser: die Menschen in das mögliche Heil hineinnehmen. Erlösung heißt bei Wagner Wiederherstellung der Einheit der Welt, Vernichtung ihrer Gespaltenheit, Zerstörung des Bösen. Der Weg zu diesem erlösten Sein ist das Ziel: das Ende des Begehrens. Der Weg dazu ist nicht das Werk eines transzendenten Gottes, sondern des „Genius der Menschheit“. Die Welt selber zeigt den Weg zu ihrer Überwindung. Die „Hinfälligkeit“ der Welt ist Folge des Begehrens. Das fi ndet in der Polarität der Geschlechter ihre metaphysische Spitze. Die Sexualität ist die Ursünde, die jeder Mensch in seiner eigenen sexuellen Triebhaftigkeit an sich selber leibhaftig erlebt, aber eine kosmische Dimension hat: Alles, was ist, begehrt zu sein. Jedoch muss anerkannt werden, dass Wagner seismographisch, genial in seiner Kunst, oft dilettierend auf anderen Feldern, gesellschaftliche Bewegungen und Veränderungen seiner Lebenswelt und des individuellen Lebensgefühls seiner Zeitgenossen registriert und in seinem Werk gestaltet hat. Er hat gesehen, dass es der Christenheit zunehmend nicht gelingt, den Wahrheitsgehalt ihrer Glaubensüberzeugungen dem aufgeklärten Publikum der Moderne zu vermitteln. Und er hat, beispielhaft an der stets scheiternden für ihn metaphysischen Verschlingung von Erotik und Religion, den Bedeutungsverlust der christlichen Weltdeutung und Daseinsbewältigung ästhetisch demonstriert. Im „Tannhäuser“ scheitern alle Utopien, übrig bleibt die bigotte, vom gnadenlosen Papst dominierte Feudalwelt des thüringischen Hofes, gegen die man nicht anders als revoltieren kann. Aber Tannhäuser kriecht zu Kreuze. Im „Lohengrin“ ist die Säkularisierung seine traurige Antwort auf die Unmöglichkeit transzendenter Rettung: Die Menschen müssen ihre Probleme alleine lösen. Ohne Religion allerdings werden die Menschen den radikalen Sinnverlust, ihre abgrundtiefe Einsamkeit und den Verfall ihrer Gesellschaft und ihre Erlösungssehnsucht nicht bewältigen können. Eine „entgleisende Säkularisierung“ zerstört die Menschen ebenso wie eine Kirche, die als Staatsreligion nicht 430

Volker Mertens, a. a. O., S. 112.

Die Liturgie zur „Rettung der Religion“ durch die Kunst: „Parsifal“

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mehr für die Mühseligen und Beladenen da ist, sondern sich mit der jeweils herrschenden Macht verbündet, um selber Macht auszuüben. Genau dies hat Wagner bemerkt und sich, fasziniert von Schopenhauers Willensmetaphysik, von der radikalen Säkularisierungsthese des „Lohengrin“ abgewandt und mit dem „Parsifal“ eine neue Religion der Immanenz gestaltet. Das im „Parsifal“ im Kuss der Kundry hervortretende Unbedingte, schopenhauerisch gesprochen: die Umwendung und „Mortifi kation“ des Willens, bleibt radikale Immanenz, ein Bedingtes als Unbedingtes. Mitleid und Askese sind ihr „göttlicher“, aber gottloser ethischer Kern. In dieser Ethisierung der Religion folgt Wagner dem aufgeklärten Religionsverständnis seit Kant. Vieles davon ist in die heutige Lebenswirklichkeit der Christen eingewandert. Das Christentum der Zukunft sollte sich davon wieder lösen und bewusst sich zuerst als Religion unter Religionen verstehen. Ethik ist eine Folge von Religion, nicht deren Grund. Es geht zuerst um das Reich Gottes, dann wird ihm alles andere zufallen.431 Und eine Religion, die gottlos den Eros und die sexuelle Lust umstandslos als Widerpart der Erlösung begreift, hat mit Christentum nichts zu tun. „,Christlich‘ meint eben nicht mönchisch.“432 Im „Parsifal“ hat Wagner Elemente aus vielen Religionen verwandt. Trotz aller Anleihen ist er kein christliches, er ist ein aus vielen Einflüssen zusammengesetztes Werk. Es ähnelt der postmodernen „Patchworkreligiosität“. Auch ohne diese oft seichte Religionsform einfach nachzuahmen sollte die Christenheit die tiefen inhaltlichen Veränderungen ihrer Glaubenswirklichkeit positiv bedenken. Das „Nicht-mehr-Sein“ jedenfalls ist kein christliches Hoffnungsziel. Es bleiben die Fragen an Wagners „Theologie“ und Ethik: Wie soll das zusammengehen, die Rettung der Welt vor der Degeneration, also die Rettung der Welt als Welt und das Ende des Begehrens durch das Ende von Sexualität als Ende der Welt im Nichtmehr-Sein? Das bleiben die Unklarheiten in Wagners buddhistischem Christentum.433 Aber was ist daran Buddhismus und was ist Christentum? In der Vermischung verlieren beide ihre Konturen und bilden kein kohärentes Ganzes mehr. Das verwundert einerseits. Denn Wagner ist die nicht zu harmonisierende Differenz zwischen Christentum und Buddhismus durchaus bewusst. Im Gespräch mit Cosima sagt er, und ich zitiere ausführlich ohne auf die religionsgeschichtlichen Irrtümer einzugehen: „Der Vorzug des Buddhismus war, dass er sich an den Brahmanismus anlehnte, von welchem die Dogmen förmlich da eintreten können, wo die Wissenschaft Lücken zeigt, so weit sind ihre Symbole. Die christliche Lehre aber lehnt sich an die jüdische Religion, und das ist

431

Mt 6,33. Hans Küng, Was kommt nach der Götterdämmerung? Wagners „Ring“ vor zeitgeschichtlichem Hintergrund, in: Musik und Religion, 3. Aufl. 2007, S. 117 ff. 433 Dieter Borchmeyer, „… sehnsüchtig blicke ich oft nach dem Land Nirwana …“ Richard Wagners buddhistisches Christentum, in: wagnerspectrum, a. a. O., S. 15 –34. 432

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ihr Unheil. Das Leiden des Christus erregt uns tiefer als das Mitleiden Buddha’s, wir leiden mit, und werden zu Buddhas, durch die Betrachtung. Christus will leiden, leidet und erlöst uns, Budddha schauet und bemitleidet, lehrt, wie wir zur Erlösung kommen.“434 Buddha zeigt den Weg zur Erlösung, die Menschen müssen ihn gehen. Sie erlösen sich also selber. Christus erlöst, weil die Menschen sich nicht selber erlösen können. Aus diesem grundsätzlichen Gegensatz kann man keine Synthese bilden, wie schon der Streit um den freien Willen innerhalb des Christentums zeigt. So rettet die Kunst die Religion. Sie ist darin modern, dass sie sich synkretistisch aus Überlieferungen verschiedener Religionen speist, die sie zu einer eigenen „Theologie“ verarbeitet. Sie setzt einen Pluralismus der Religionen voraus. Sie ist zugleich säkular, insofern das sich in ihr zeigende „Göttliche“ nach dem Vorbild von Schopenhauers Willensmetaphysik ganz und gar immanent gedacht ist: Sie präsentiert im ästhetischen Wort, Bild und Ton die neue Spezies, die der Genius der Menschheit zur Rettung der hinfälligen Welt hervorgebracht hat. Obwohl völlig den Bedingungen einer säkularisierten Moderne unterworfen, fi ndet Wagner in der berückenden Musik des „Parsifal“ eine Ausdrucksmöglichkeit von Religiosität. Sie ist nicht mehr, wie noch bei Feuerbach, nur anthropologisch, sondern kosmisch angelegt. Der von ihr ergriffene Mensch steht vor einem Weg; ob er ihn geht, entscheidet er selber. Der Blick auf den theologischen Kern des „Parsifal“ offenbart die Schwäche dieser neuen Religion: „Ihr fatales Zentrum ist die Gleichsetzung von menschlicher Reinheit und sexueller Askese. Von heilandsmäßiger Auserwähltheit und Unverführbarkeit der Sinne. Die Ineinssetzung von sexueller Lust mit Sünde. Die Verklärung des puristischen Trieb-Widerstandes zum Rang einer edelmenschlichen Bewährung.“435 Diese Fatalität hat auch soziale Folgen. Denn das „Verschwinden von Erotik bedeutet … Verschwinden von Gesellschaft: Auch an diesem Punkt zeigt sich die Künstlichkeit und Sterilität der Gralsrunde.“436 Nicht nur die Gralsrunde, auch ihr neuer König ist dramaturgisch eine sterile Figur. Dramaturgisch soll sich ja auch im Kuss der Kundry durch die existenzwandelnde „erhabene Erfahrung“ die entscheidende Entwicklung des Toren zum wissenden Erlöser ereignen. Jedoch der verwandelte Parsifal, der nach langer Irrfahrt den Gral endlich fi ndet, tritt dermaßen steif und verschlossen auf, als habe er den Speer verschluckt,

434 CT I, S. 744, 28. Oktober 1873. Wagner betont auch den dogmatischen Unterschied der beiden Heilsbringer: die Sündlosigkeit. „Alle anderen Stifter und Heilige, wie z. B. Buddha, beginnen mit der Sünde und gelangen dann zur Heiligkeit, Christus aber kann nicht sündigen.“ CT II, S. 348, 12. Mai 1879. 435 Peter Wapnewski, Das Bühnenweihfestspiel, in. Wagner-Handbuch, hg. v. Ulrich Müller und Peter Wapnewski, 1986, S. 341. Vgl. auch Dieter Borchmeyer, Ahasver …, a. a. O., S. 316: „Die größte Sünde im Parsifal ist die Sexualität, ihr gegenüber sind alle anderen lässlich: leicht vergebbar“. 436 Martin Geck, a. a. O., S. 331.

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den er doch „in brünstigem Gebete“ andachtsvoll verehrt. Auch musikalisch ist seine Stimmführung nicht vom Orchester gestützt. Er ist das Abbild eines Menschen in tiefster Einsamkeit. Gerade die Rückkehr in den Gral zeigt „die Karriere eines um seine Kindheit betrogenen Menschen, der sich vor Schuldgefühlen nur in ein virtuell Höheres Dasein zu phantasieren vermag“, wie Martin Geck bitter analysiert und daraus schließt: „Man kann es drehen und wenden: Blickt man aus der Sicht des „Rings“ auf Brünnhilde als das ,Weib der Zukunft‘, so will Parsifal als wiedererstandener Siegfried absolut nicht zu ihr passen. Während das Personal des Rings eine ,Familie‘ bildet, wenn auch eine zerstrittene und sich bis aufs Blut bekämpfende, so führt uns Parsifal in eine Gesellschaft von menschlichen Gespenstern.“437 Sein Fazit: „Als positive Kunstreligion ist „Parsifal“ nicht zu retten.“438 Um so enthusiastischer wendet sich Geck aber der Musik des „Parsifal“ zu und da kann man ihn wirklich nur dankbar begleiten. Was mir allerdings bis zum Schluss rätselhaft bleibt, ist dass Wagner allen Ernstes glaubt, mit dem „Parsifal“ und seiner synkretistischen Theologie, einem inkohärenten, schwülstigen Text der Liturgie des ersten Aktes sowie den magischen Blutmysterien, in dem sich das Blut des Speeres danach sehnt, sich mit dem Blut in der Gralsschale wieder zu vereinigen, und seiner sinnenfeindlichen Ethik die Religion des Christentums retten zu können, die doch angeblich darin künstlich geworden ist, weil sie von den Menschen verlangte, Dinge als real zu glauben, die nur symbolisch zu verstehen seien. Der Text des „Parsifal“, ob symbolisch gemeint oder nicht, hält keiner Säkularisierung Stand. Gegen die theologische Symbolwelt des „Parsifal“ ist die klassische Dogmatik des Christentums, einschließlich der römisch-katholischen Transsubstantiationslehre, ein aufgeklärtes und kohärentes Traktat. Damit jedoch verliert Wagners letztes Werk nicht seine kulturelle Bedeutung. Alle Erhellungen der Grundbefi ndlichkeiten des Dasein sind in die Musik transponiert und dort aufzufi nden. Martin Geck hat Recht: Als Kunstreligion ist der Parsifal nicht zu retten – wohl aber als Kunst und das heißt in diesem Fall, auch gegen Wagners Selbstverständnis als großer Dichter: als Musik.

437 438

A. a. O., S. 331. A. a. O., S. 330.

Kapitel 3

Trotz allem: Ohne Religion glückt kein Glück – Richard Strauss’ "Salome“ Trotz allem: Ohne Religion glückt kein Glück – Richard Strauss’Kapitel Salome3

Als letztes Beispiel für die ästhetische Wiederverzauberung der Welt soll Richard Strauss’ (geb. 11. Juni 1864) „Salome“ besprochen werden. Das verlangt eine besondere Begründung. Beethovens Interesse an Religion und an theologischen Weltinterpretationen ist offensichtlich. Wagner hat sein Leben lang über Religion nachgedacht und selbst seine scharfe Kirchenkritik hat in seinen späten Werken einen religiösen Hintergrund. Daher blieb er nicht bei der traurigen Botschaft des „Lohengrin“ stehen. Ganz anders als diese beiden Komponisten ist Strauss theologischen Fragen und dem Thema Religion prinzipiell interesselos begegnet. Es gibt von ihm als eine Art frühe Fingerübung nur ein geistliches Werk, die Messe für gemischten Chor a capella von 1877. Nach einer Zeit, in der er immer wieder von Krankheiten heimgesucht worden war, erklärt er in seinen Tagebüchern den endgültigen Abschied vom Christentum, von dem er sich schon seit seiner Konfi rmation entfernt hatte. Von Alexander Ritter, einem glühenden Wagnerianer und Verehrer Schopenhauers, wurde er musikalisch gefördert, aber auch zu beiden „bekehrt“. Hans von Bülow erkannte schnell sein Talent, förderte ihn und brachte ihm das Werk Brahms’ nahe. Strauss gelang es auch, Kontakt zum Wagner-Clan zu knüpfen. Sein Vater war Hornist im Orchester der Festspiele und nahm seinen Sohn mit, so dass er 1882 die Uraufführung des „Parsifal“ miterlebte439. Cosima holte ihn 1889 zunächst als musikalischen Assistenten nach Bayreuth und 1894 durfte er den „Tannhäuser“ dirigieren. Aber er fiel bald in Ungnade, nicht nur, weil er keinen Hehl aus seiner Liebe zu Mozarts Opern machte und in München Wagner dirigierte, was man als Affront vermerkte, sondern auch weil er den Bayreuther Wagner Kult und die musikalischen Fähigkeiten von Siegfried Wagner kritisierte. 1896 kam es zur Trennung, Strauss war seitdem in Bayreuth unerwünscht. Um 1890 entdeckte er für sich das Drama und damit die Oper als musikalische Herausforderung. Bisher hatte er sich als Komponist und als Dirigent mit seinen Tondichtungen einen Namen gemacht.

439

Wagner hasste den Solohornisten Strauss schon seit den Tagen in München, konnte aber nicht auf ihn verzichten, weil der König auf Münchner Musikern bestand und weil Strauss der Beste seines Faches war. Dieser fand Wagners Musik abscheulich.

Vom tanzenden „Mädchen“ zur „Femme fatale“

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Nach den beiden Großen, Wagner und Verdi, hatte sich die Opernszene ausdifferenziert.440 Es gab eine Gruppe, die weiter an Wagners zentralem Thema „Erlösung“ arbeitete, aber nun Erlösung ganz aufklärerisch als Aufgabe jedes irdischen Lebensziels verstand, auch wenn sie mythologische oder märchenhafte Stoffe bearbeiteten (z. B. Kienzl, Humperdinck, Lortzing). Zweitens brach der italienische Verismo in die Operszene ein, der am Erlösungsthema keinerlei Interesse hatte. Die französische Entwicklung integrierte die Ergebnisse der Psychoanalyse und beachtete die Frauenbewegung und entfernte sich gerade damit von Wagners Frauenfiguren. Strauss gehörte zu denen, die in der Nachfolge Wagners versuchten, neue, eigene Musik zu komponieren, so wie Reger, Mahler, Debussy, Strawinsky und Schönberg. Aber Strauss hatte mit seinen Opern kein besonderes Glück. Seine erste, „Guntram“, er hatte auch das Libretto geschrieben, fiel glatt durch und die anderen waren auch keine Erfolge. Zuviel erinnerte noch an Wagner. Jedoch der Schluss des „Guntram“, in dessen Verlauf Guntram sich als Individuum über die Gemeinschaft stellt, signalisiert die philosophische Kehre von Schopenhauer zu Nietzsche, die Strauss während einer Ägyptenreise vollzogen hatte. Er verstand sich nun als „bekennender Antichrist“ und lebensbejahender Individualist und hatte, wie Andere, den wagnerschen „Erlösungsnebel“ (E. Schmitz) und die „ewigen Erlösungsbrünste“ (A. Seidl) satt. Die vielfältigen Ausdrucksmöglichkeiten des gelebten Lebens als „Wille zur Macht“, das waren die Stoffe, denen nun seine Aufmerksamkeit galt.441 Von der romantischen Vorstellung der Musik als Medium einer Kunstreligion, wie wir sie ja im „Parsifal“ noch einmal aufblühen sahen, hielt Strauss überhaupt nichts. An die Stelle hat er „sein eigenes Credo, das um Begriffe wie Familie, Arbeit und Natur kreiste“, gesetzt, „auch das Banale, Alltägliche im Gewande drastischer Klangmalerei verschmähte er nicht. Damit zusammen hängt der wohl wichtigste Gegenstand musikalischer Mitteilung in Strauss’ Werken: die eigene Biographie.“442

Vom tanzenden „Mädchen“ zur „Femme fatale“ Vom tanzenden „Mädchen“ zur „Femme fatale“

Umso erstaunlicher ist, dass er sich nun mit der „Salome“ einem biblischen Stoff zuwendet, der in der Kirchen- und in der Literaturgeschichte eine lange Tradition hat und eigentlich für religiöse Weltvorstellungen und moralische Überzeugungen steht, die Nietzsche ebenso verachtet hat wie er selber. Ich bin mir nicht sicher, ob Strauss sich um

440 Jens Malte Fischer, Nach Wagner-Probleme und Perspektiven der Oper zwischen 1890 und 1920, in: Siegfried Mauser (Hg.), Musiktheater im 20. Jahrhundert, Handbuch der musikalischen Gattungen (Hg. derselbe), Bd. 14, Laaber 2002, S. 11– 46. 441 Vgl. Siegfried Mauser: Neudeutsche und deutsche Veristen, in: Musiktheater im 20. Jahrhundert, a. a. O., S. 6. 442 Walter Werbeck, Art. Strauss, Richard, in. RGG, 2. Aufl., 1994, Personenteil Bd. 16, Sp. 88.

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Kapitel 3

die komplizierte und variantenreiche Traditionsgeschichte des Salome-Stoffes gekümmert hat. Wohl eher nicht. Er übernahm ja als Libretto die Dichtung von Oscar Wilde, allerdings in der deutschen Übersetzung von Hedwig Lachmann. Das nun allerdings ist folgenreich und erklärungsbedürftig. Denn Hedwig Lachmann hat nicht das Original von Oscar Wilde übersetzt, sondern die englische Version des original in Französisch geschriebenen Stücks. Und auf diesem Weg hat sich viel an der Intention des Stücks und der Wertung der Personen verändert. Darum will ich in aller Kürze die wichtigsten Stationen der Überlieferungsgeschichte angeben.443 Einige ähnliche Motive des Stoffes fi nden sich schon bei Herodot, der von Liebschaften des Perserkönigs Xerxes erzählt, die blutig enden.444 Drei Texte aus dem ersten nachchristlichen Jahrhundert sind die Quellen des Salome-Stoffes. Die älteste Quelle ist das Markusevangelium.445 Der in Israel verhasste Tetrarch Herodes hatte Johannes den Täufer, verhaften lassen, weil er seine ehebrecherische Beziehung zu seiner Schwägerin offengelegt und den Regenten vermahnt hatte. In diesem Zusammenhang tanzt die namenlose Tochter der Herodias. Obwohl der moralisch verwahrloste „König“ seinen Kritiker fürchtet und gerne hört, lässt er ihn lieber töten als sich bei einem Gastmahl vor seinen Höfl ingen zu blamieren. Für einen Tanz hatte er der Tochter seiner Buhlin versprochen, ihr jeden Wunsch zu erfüllen. Das Mädchen fragt seine Mutter und die rät ihr, sich das Haupt des Johannes zu erbitten. Der König versucht vergebens, sie davon abzubringen. Als das nicht gelingt, hält er sein Versprechen und lässt ihn enthaupten. Ein Soldat „brachte sein Haupt auf einer Schüssel und gab es dem Mädchen, und das Mädchen gab es seiner Mutter“. Die Geschichte zeigt sich historisch nicht gut informiert.446 Ihr Interesse liegt daran, mit dieser „Hoflegende“ die moralische Verkommenheit des Herodes und seiner Sippschaft darzustellen. Allerdings verschiebt sie die letzte Verantwortung auf die Mutter des Mädchens.447 Vor allem aber ist ihr Ziel, die Verbindung Jesu zum ermordeten Haupt der Täuferbewegung herauszustellen und den Zeitpunkt des Mordes in Relation zur politischen Entwicklung in Palästina zu setzen. Das spätere Matthäusevangelium448 übernimmt aus Markus die Geschichte, kürzt und strafft sie und streicht einige Fehler. Aber auch hier tanzt ein namenloses Mädchen. 443

Ich orientiere mich wesentlich an Silke Petersen, Salome: Die Tochter der Herodias tanzt und bekommt einen Namen in: Marion Keuchen / Matthias Lenz / Martin Leutzsch / Harald Schroeter-Wittke (Hg.), Tanz und Religion. Theologische Perspektiven, 2008, S. 49 –79. 444 Hist IX, 108 –113. Auch bei Plutarch gibt es das Motiv. Bei beiden fehlt der Tanz. 445 Mk 6,17–29. 446 Herodes Antipas war kein König, sondern ein von den Römern total abhängiger Vasall. 447 Was nicht heißt, dass die Tochter nicht wusste, was sie tat. Anders als Silke Petersen in ihrer hervorragenden Studie meint – ein zwölfjähriges Mädchen sei keine femme fatale und kein erotische Erscheinung – setze ich in der Geschichte die erotische Konnotation voraus. Für einen „kindlichen Reigen“ lässt sich kein auch noch so schwacher Regent sein Königreich halbieren, vgl., S. 71. 448 Mt 14,3 –12.

Vom tanzenden „Mädchen“ zur „Femme fatale“

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Deutlich wird nun Herodes als die treibende Kraft zu dem Verbrechen hervorgehoben und seine Furcht vor dem Volk betont. Warum Matthäus die Vorlage ändert, ist nicht klar. Vielleicht ist es sein theologisches Ziel, die Parallelität zwischen Jesus und Johannes hervorzuheben. Dann darf Johannes keiner „Damenriege“ zum Opfer fallen.449 Vielleicht versteht er den Tod des Täufers als Warnsignal für Jesus, dass Herodes auch ihm nach dem Leben trachtet. Dann wäre Jesus in das prophetische Vorbild eingeordnet und die Vorläuferrolle des Johannes herausgestellt.450 Lukas streicht die ganze Geschichte. Das Johannesevangelium kennt sie nicht. Die dritte Quelle ist Josephus Flavius. In seinen „Antiquitates Iudaicae“, erschienen 93 / 94 n. Chr., versuchte er, der intellektuellen Öffentlichkeit die Wahrheit über das Judentum darzulegen, das nach dem von Titus 70 n. Chr. niedergeschlagenen Aufstand im Römischen Reich keine gute Presse mehr hatte. Man hielt diese Religion, bis zur Schleifung des Tempels immerhin „religio licita“, für einen in Mythologemen schwelgenden Aberglauben. Josephus versucht, historische Ereignisse und göttliche Lenkung der Geschichte theologisch zueinander zu bringen. So berichtet er451 von der Ermordung des Täufers und interpretiert die historische Vernichtung des herodianischen Heeres durch den Vater seiner ersten Frau, des Araberkönigs Aretas IV., als göttliche Vergeltung für den Mord an Johannes. Josephus bringt, anders als die biblischen Quellen, den Tod des Johannes nicht in Zusammenhang mit einer sittlichen Verurteilung des Herodes. Vielmehr fürchtet bei ihm Herodes einen Volksaufstand und lässt den Volkstribun lieber vorher umbringen. Diese Geschichte ist wohl den historischen Ereignissen am nächsten. Seine politische Stellung und nicht der erotische Tanz eines Mädchens kostet Johannes das Leben. Josephus erzählt keine Motive, welche die auf diesen drei Quellen fußende „Salome-Tradition“ besonders kennzeichnen. Die folgende literarische Geschichte ist lang und kompliziert. Es dauert eine ganze Weile bis sich die Erzählung von einem königlichen Gastmahl als Tanzgeschichte und als Frauengeschichte zu der Salome-Erzählung entwickelt hatte, in der aus der namenlosen Herodiastochter die farbenprächtige, erotische „femme fatale“ geworden ist, die wir aus der Literatur und eben bei Wilde und Strauss kennen.452 Das beginnt schon bei den Kirchenvätern, die in der Figur ihre Abneigung gegen den Tanz personalisieren, aus dem Mädchen ein Raubtier, eine Schlange machen, die jedes Haus, in dem so eine Frau lebt, in eine Arena verwandelt. Bei dem ägyptischen Mönch und Presbyter Isidor von Pelusien (ca. 435 n. Chr.) fällt zum ersten und einzigen Mal bei den Kirchenvätern der Name Salome für die Tänzerin.

449

So Ulrich Luz, Matthäusevangelium, EKK I / 2, 1990, S. 389. Peter Fiedler, Matthäusevangelium, ThKNT Bd. 1, 2005, S. 272. 451 Antiquitates 18, 116 –119. Text in deutscher Übersetzung in: Religionsgeschichtliches Textbuch zum NT, hg. v. Klaus Berger u. Carsten Colpe, Texte zum NT, NTD Textreihe Bd. 1,1987, S. 52. 452 Vgl. Silke Petersen, a. a. O., S. 49 ff. Ulrich Luz, a. a. O., S. 392 f. 450

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In der Renaissance löst sich die Figur aus ihrem Personenensemble und wird eine eigenständige Gestalt. Aus dem namenlosen Mädchen wird die oft portraitierte schöne, reife, verführerische Frau. In der Reformationszeit wird z. B. in den sog. Johannesspielen, Salome, die „listige Schlange“, und nicht mehr Herodes zur treibenden Kraft, die hinter dem Mord an Johannes steht. Dieses Bild erlebt im 18. und 19. Jahrhundert eine neue Blüte, neue Variationen geben dem Thema wieder neue Farben. Im „Atta Troll“ fügt Heine aus dem Volksglauben ein, Herodias habe Johannes geliebt, und in Flauberts Roman „Herodias“ zieht die Mutter alle Fäden. Die Tochter ist nur ihr willenloses Instrument. Gustave Moreau hat mehrfach das Salome-Motiv symbolistisch gemalt und Aubrey Beardsley hat die englische Ausgabe von Wildes „Salome“ 1894 illustriert. Pierre Bonnard zeigt sie als „femme fatale“ vor einem Tigerfell. Und so, als animalische, verführerische Frau stellt sie auch der Berliner Maler Lovis Corinth dar. Für sein Bild stand ihm die Schauspielerin Gertrude Eysold Modell, die auch die Salome der Aufführung gewesen ist, die Richard Strauss am 15. November 1902 in einer privaten Aufführung im Theater Max Reinhards in Anwesenheit von Kritikern, Künstlern und Literaten gesehen hat. Gertrude Eysold hatte damit einen sensationellen Erfolg. Von diesem Typ „Salome“ war Strauss fasziniert, er war die ästhetische Imagination in der kollektiven Phantasie der „femme fatale“, also einer meist jungen Frau „von auffallender Sinnlichkeit, durch die ein zu ihr in Beziehung geratener Mann zu Schaden oder zu Tode kommt.“453

Oscar Wilde contra Hedwig Lachmann – Original und Fälschung Oscar Wilde contra Hedwig Lachmann – Original und Fälschung

Jedoch ist der deutsche Text der Aufführung, der auch die Grundlage für die Oper wird, keine wirklich werkgetreue Übersetzung des Originals von Wilde, was eine interessante Pointe ergibt. Denn die Reduktion der Salome und ihrer Thematik auf die Verführungskünste einer Frau, die durch ihre entfesselte Sexualität und Liebessehnsucht ein tödlich endendes Spannungsverhältnis der Geschlechter in der Vermischung von Eros und Macht erzeugt, steht in der Tradition Wagners, wenn man an Kundry denkt. Dennoch ist es eine unstatthafte Reduktion, wenn nicht sogar die Umkehrung der Wildeschen Intentionen. Natürlich war Wilde den Traditionen der Romantik und der Decadence verpfl ichtet454, aber eben nicht nur. Strauss wie Wilde hingen auch dem antinaturalistischen Symbolismus an, teilten die Griechenbegeisterung des 19. Jahrhunderts und waren begeistert von einem starken Leben aus dem Willen zur Macht, das ihr Nietzschestudium sie gelehrt hatte. Oscar Wilde will eigentlich ein griechisches Stück schreiben, um aus der verhass453

Carola Hilmes, Die femme fatale. Exemplarische Untersuchungen zu einem ästhetischen Weiblichkeitstypos im Fin de siècle, 1990, S. 12. 454 So Carola Hilmes, a. a. O., S. 112.

Oscar Wilde contra Hedwig Lachmann – Original und Fälschung

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ten englischen Tradition und bigotten Enge der Viktorianischen Zeit ausbrechen. Er orientiert sich an der aristotelischen Theatertheorie und will die Zuschauer zu nobelsten Gefühlen bewegen, Gefühlen, von denen sie vorher nichts gewusst haben. Um dies zu erreichen, benutzt er die französische Sprache, von der er meint, mit ihr gelinge es am Besten, auf der Grenze zwischen Bewusstsein und dem Unbewussten zu sprechen. Denn eigentlich soll „Es“ sprechen. In Flauberts Roman hatte die Mutter noch alle Fäden in der Hand, Salome war ihr willenloses Geschöpf. Wilde formt dagegen Salome zur zentralen, die Handlung vorantreibenden Figur. Sein Ziel ist, die Zuschauer durch die berückende Sprache dazu zu verführen, sich mit den Bewusstseinsvorgängen der Salome, ihren Sehnsüchten und ihrem Begehren zu identifi zieren. Dabei ist seine Sympathie deutlich auf ihrer Seite, nicht bei Jochanaan. Die Wildesche Salome entspricht der „femme fatale“ nur ganz entfernt. Etwas ganz anderes ist ihm wichtig, nämlich in ihrer Person eine geschichtsphilosophische These auf die Bühne zu bringen, die von der deutschen Romantik, aber auch, wie gesehen, vom frühen Wagner geliebt wurde: Der Siegeszug des Christentums ist nicht etwa die wünschenswerte Zerstörung der antiken Religion und ihrer Opferlogik, sondern im Gegenteil die Verdrängung und Zerstörung der blühenden kulturellen Vielfalt und enthusiastischen freien Sinnlichkeit der heidnischen Antike. Der auf Einheitlichkeit nicht nur des Dogmas, sondern auch der Moral bedachte asketische Zug der neuen Religion mit ihrem prophetischen Purismus und dem exklusiven Absolutheitsanspruch auf alleinige Wahrheit liquidierte mit den Tempeln und den Kulten zugleich die Sinnlichkeit des gelebten Lebens, das die Antike nicht nur erlaubte, sondern sogar erstrebte.455 Wilde übersetzt diese Geschichtsphilosophie ästhetisch in den tragischen Konfl ikt zwischen Salome und Jochanaan. Er lässt die beiden Protagonisten gegensätzlicher Daseinseinstellungen aufeinanderprallen. Dabei gestaltet er die Figur des Jochanaan als die Karikatur eines versteinerten puritanischen Christentums und nicht einfach nur als eine Antithese zur sinnlichen Welteinstellung, sondern als „deren Liquidation“456. Salomes Sprache orientiert sich nicht an den prophetischen Texten der Bibel, sondern am Hohelied, das es schon in der rabbinischen Literatur, erst recht im Christentum, schwer hatte als das anerkannt zu werden, was es ist: erotische und gleichwohl fromme Lyrik. Salomes Festhalten an der Liebe auch um den Preis ihres Lebens, ein Motiv, das vom dem frühen Wagner und seiner Hoffnung auf „das Weib der Zukunft“ durchaus vertraut ist, ist geradezu die Verweigerung der Entsagung und insofern der direkte

455 Dieses romantische Bild der Antike entspricht, wie wir heute wissen, nicht der historischen Wirklichkeit. Dennoch taucht gegenwärtig diese These verwandelt im philosophischen und religionswissenschaftlichen „Lob des Polytheismus“ zum Beispiel bei Odo Marquard, Hans Blumenberg und Jan Assmann wieder auf. 456 Ich orientiere mich wesentlich an Rainer Kohlmayer, Oscar Wildes Einakter „Salomé“ und die deutsche Rezeption, in: Winfried Herget / Brigitte Schultze (Hg.), Kurzformen des Dramas. Gattungspoetische, epochenspezifische und funktionale Horizonte, Tübingen 1996, S. 159 –186.

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Widerspruch zum Ideal des letzten wagnerschen Helden. Gerade in der Radikalität und Ungeheuerlichkeit ist die Figur der Salome und ihre Rebellion und Lebensgier der schlechthinnige Anti-Parsifal. Entsagung, Mitleid und Askese wären für sie geradezu absurde Konsequenzen einer erotischen Existenz. Anders als Kundry kann Wildes „Salome“ im sexuellen Begehren kein schuldbeladenes Streben erkennen, im Gegenteil. Wildes „Salome“ ist die „ästhetische Destruktion des puritanischen Christentums aus dem Geist der Antike“457. Aber Strauss hat sich nicht an Wildes Original orientiert, sondern an der deutschen Übersetzung von Hedwig Lachmann, der späteren Frau von Gustav Landauer. Deren Text lag auch der Aufführung zu Grunde, die Strauss in Berlin gesehen hat. Lachmann hat ihre Übersetzung, illustriert mit einigen Beardslay Zeichnungen, 1900 im Juniheft der Kunstzeitschrift „Wiener Rundschau“ veröffentlicht – angeblich aus dem Französischen. In Wahrheit hat sie die Übersetzung des Originals ins Englische als Vorlage gehabt, die Lord Alfred Douglas 1894 angefertigt hatte – sehr zum Ärger von Wilde. Denn diese Übersetzung zerstörte die gewollte Leichtigkeit der gewählten Sprache. Wilde hatte sich mit Ausnahme des Hoheliedes eines umgangssprachlichen Französischs bedient. Douglas jedoch archaisierte den gesamten Text dadurch, dass er sich durchgängig an der hochkirchlichen Sprache der King-James-Bibel orientierte. Ein Text, der die erotischen Tiefendimensionen menschlichen Begehrens in der Leichtigkeit des „èlan vitale“ ausloten will, bekommt einen historisierenden, altertümlich gegenwartsentrückten Märchenton.458 Und Lachmann verstärkt diese Tendenz noch, indem sie sich ihrer eigenen, am Luther-Deutsch und dem frühen Expressionismus orientierten Sprachfarbe und Sprachmelodie bedient. Sie entfernt sich aber nicht nur von Wildes Sprache, sondern auch sachlich vom Original. In Wildes Text betritt Salome als kindliches Mädchen die Bühne. Quasi in Zeitlupe entwickelt dieses Mädchen beim ersten Auftritt ihre Reife zum Geschlechtsbewusstsein auf offener Bühne. Lachmanns Salome ist von Anfang an erotisch wissender: Eine „femme fatale“, kein Kind, betritt die Bühne. Damit exkulpiert sie Jochanaan und Herodes. Wildes Jochanaan fordert massiv die Hinrichtung Salomes: Man soll sie steinigen, erstechen, mit den Schilden zermalmen, um „die Frevel von der Erde zu tilgen“459. Bei Lachmann ist Jochanaan nicht mehr aktiv dazu auffordernd involviert, er sagt die Todesarten nur noch quasi prophetisch voraus. Wilde formte die Figur des Herodes so, dass er allmählich Jochanaans Stimme und Handlanger wird. Er übernimmt nach und nach Jochanaans Perspektive und Terminologie. Beide hören den Todesengel schon bevor Salome tanzt. Jochanaan ist der Anstifter zum Mord. Bei Lachmann ist Herodes der

457

Kohlmayer, a. a. O., S. 159 f. Vgl. Carola Hilmes, a. a. O., S. 10. 459 Oscar Wilde, Salome; wer die Übersetzung im sonst hervorragenden Band: „Mythos Salome“. Vom Markusevangelium bis Djuna Barnes, hg. v. Thomas Rohde, 2000 gemacht hat, ist dem Band leider nicht zu entnehmen. Das Zitat S. 133. 458

Oscar Wilde contra Hedwig Lachmann – Original und Fälschung

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schwache Schurke, der sich in einer für ihn furchtbaren und peinlichen Situation zu einer selbstsicheren Persönlichkeit entwickelt, der eigene Entscheidungen fällt und mit ihnen das Maß für die Grenzen des Menschlichen setzt – und Salome mit Recht töten lässt. Kurz: Lachmanns Übersetzung ist eine Bearbeitung, die Wildes Intentionen auf den Kopf stellt. Aus dem zum Mord an dem Mädchen aufrufenden sinnenfeindlichen, lebensfeindlichen Asketen Wildes, dem Repräsentanten eines bigotten und innerlich längst abgedankten Christentums, das die freie Luft der Antike vergiftet hat, wird im deutschen Text der zu verherrlichende Held des jungen, reinen und strengen Christentums, der sich für eine große Idee opfert und damit durch seinen Tod die moralisch verkommene Antike überwindet. Salome, bei Wilde die inkarnierte Lust des sexuellen Begehrens, dem – anders als bei Kundry – keine Schuld anhaftet, degeneriert zum „Weib“, dessen animalische Wildheit, von keinem Verstandesmoment menschlicher Kultur geschwächt, der Naturgewalt des egoistischen, selbstzerstörerischen Triebs verfällt. Salome ist das Opfer ihrer eigenen Gier. Lag Wildes Sympathie auf der Figur der Salome, so liegt Lachmanns Sympathie eindeutig bei Jochanaan. Nun ergibt sich die überraschende Pointe, dass Strauss zwar vom Lachmannschen Text gefesselt war, und ihn etwas verkürzt zu seinem Libretto machte – er aber Wildes Intentionen, die er vermutlich nicht kannte, weil er das Original nicht kannte, vertonte.460 Die Musik sagt etwas anderes als der Text. Indem er den literarischen Stoff in Musik transponierte, vermittelt er nicht einfach einen vorhandenen Stoff, sondern schafft einen neuen, in dem der tönende Kommentar und das tönende Schweigen die tragenden Momente der musikalischen Dramaturgie spielen.461 Die Musik der Oper „Salome“ steht auf der Seite Salomes, nicht Jochanaans. Der ist bei Strauss die gleiche Karikatur eines nur noch dröhnenden, innerlich hohlen Christentums wie bei Wilde. Das erschließt sich aber nur der musikalischen Analyse, die zeigen kann, dass der Nietzscheaner und Christentumskritiker Strauss mit der „Salome“ nicht den Kniefall vor dem Christentum gemacht hat, den Nietzsche seinerzeit Wagner vorgeworfen hatte. Gleichwohl bleibt er in Wagners Parsifal-Spur, weil Salome zwar den jüdischchristlichen Gott verwirft, aber nicht im Atheismus oder einer metaphysischen oder religiösen Leere landet, sondern in der Kontroverse mit Jochanaan die Offenbarung eines neuen, ihres Gottes erlebt: die Offenbarung des Dionysos. Jedenfalls erreichte Strauss mit der „Salome“, die am 9. Dezember 1905 in Dresden uraufgeführt wurde, einen sensationellen Erfolg und der Siegeszug gerade dieses Stücks ist bis heute nicht gebrochen.

460 Kohlmayer berichtet, dass Strauss nach der Kritik von Romain Rolland mühevoll einen französischen Salometext für die Dresdner Uraufführung seiner Oper erarbeitet, ihn aber später wieder verworfen hat, a. a. O., S. 183. 461 Vgl. Wolfgang Krebs, Der Wille zum Rausch. Aspekte der musikalischen Dramaturgie von Richard Strauss’ Salome, München 1991, S. 207.

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In der „Salome“ greift Strauss auf die formbildenden Techniken seiner symphonischen Dichtungen zurück und vergrößert das Orchester noch einmal gegenüber Wagner, und er überträgt wie Wagner dem Orchester die alles wissende Funktion des attischen Chores. Dazu übernimmt er Wagners Leitmotivtechnik, orientiert sich dabei mehr am „Tristan“ als am „Ring“. Indem er stärker auf die Abspaltung von Varianten, statt auf die Variation motivischer Formeln setzt, gelingt ihm eine Veränderung des musikpsychologischen Kontextes. Die Dur-Moll Tonalität wird bis zum Extrem ausgeschöpft, dann gibt es wieder Ruhephasen, die die Stimmung abkühlen und die Klangschärfe steigern. Freieste Dissonanzbehandlung, Klangketten und -läufe in Sekunden und Nonen, übermäßige Quarten erzeugen eine schroffe Gegensätzlichkeit der klanglichen Bereiche, die der Gegensätzlichkeit der Charaktere der handelnden Protagonisten entspricht. Strauss beherrscht die Wagnersche „Kunst des Übergangs“ und riskiert zugleich Klänge wie im Verismo.462 Das gelingt ihm, abgesehen von den Singstimmen, vor allem mit dem gewaltigen Orchester. Gerade in der „Salome“, dann auch in „Elektra“ erreicht er in seinen Opern eine so noch nicht gekannte weite musikalische Farbenskala. Er fordert extremste Lagen von allen Instrumenten, bringt neue Instrumente in den Klangkörper ein. Das klingt bald zart, bald glühend, bald grell und aggressiv, bald ganz und gar fremdartig. Musikgeschichtlich bedeutet dies, dass sich mit der „Salome“ „erstmals eine weit über Wagner hinausführende nervöse Geistigkeit und Sinnlichkeit durchsetzte und mit ihr etwas von jener ,Mediterranisierung der Musik‘ verwirklicht wurde, die Nietzsche vorschwebte.“463 Die Oper ist formal ein Musikdrama, aufgeteilt in 4 Szenen, das ganz klassisch mit dem Tod der zentralen Figur endet. Auch ihr Widerpart kommt ums Leben. Der Aufbau ist eine umgekehrte Pyramide: Jede folgende Szene ist doppelt so lang wie die vorhergehende, die letzte, auf die alles ankommt, umfasst mehr als die Hälfte des ganze Stücks.

Noch ein Kuss und noch ein Liebestod: Die Offenbarung des Dionysos Noch ein Kuss und noch ein Liebestod: Die Offenbarung des Dionysos

Worauf es mir ankommt, will ich im Wesentlichen an Salomes Kussverlangen in der dritten und dem Kuss der vierten Szene zu zeigen versuchen, und greife dabei auf die Analysen und Interpretationen von Wolfgang Krebs zurück. Er hat die „Salome“ als Auseinandersetzung zwischen dem Christengott des Jochanaan und dem kommenden Gott Dionysos interpretiert, nach dessen Erscheinen Salome sich leidenschaftlich sehnt und der endlich im Schlussmonolog, während Salome das abgeschlagene Haupt des Jochanaan küsst, erscheint und Rausch und Tod in einem ist. Er ist der kommende Gott, 462

Vgl. Ulrich Schreiber, Die Kunst der Oper. Geschichte des Musiktheaters Bd. III, Frankfurt a. M. 2000, S. 251 ff. 463 Vgl. Willi Schuh, Art. Strauss, Richard, in.: MGG, 2. Aufl. 1965, Bd. 12, Sp. 1491.

Noch ein Kuss und noch ein Liebestod: Die Offenbarung des Dionysos

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der das nur noch lebens- und lustfeindliche Christentum ablöst.464 Das bringen die dritte und die vierte Szene zum Ausdruck. Die erste, kürzeste Szene ist die Exposition. Alle handelnden Personen leben noch und werden in ihrer Tonart vorgestellt. Die Haupttonart cis-Moll kehrt am Ende in der Schlussszene zu Cis-Dur moduliert wieder, was dem tragischen Duktus eine utopische Bedeutung verleiht. d-moll steht für die streitenden Juden und bitonal angereichert es-moll für den eingekerkerten Jochanaan, das klare C-Dur für sein Personalmotiv. Seine Vision des kommenden Messias steht in As-Dur. In der zweiten Szene wird Salomes A-Dur dem Propheten gegenübergestellt, dessen Stimme aus der Zisterne hörbar wird. Der Tritonabstand suggeriert den schlimmen Ausgang der Begegnung der beiden. In der dritten Szene schließlich kommt es zu Gegenüberstellung und zur schroffen Auseinandersetzung. Salome hat den in sie verliebten Offi zier Narraboth betört, den Gefangenen gegen das Verbot des Tetrarchen aus seinem Verlies herauszuholen. Und mit allem prophetischem Pathos verlangt der Prophet, dass der todgeweihte Herodes und die Blutschänderin Herodias zu ihm kommen und ihre Schandtaten bereuen sollen, denn „die Geißel des Herrn ist in Seiner [des Messias] Hand.“ Salome mustert ihn, zuerst erschreckt über die abgezehrte, fi nstere Erscheinung. Aber dann, plötzlich erotisch entflammt, will sie, „muss“ sie ihn zum Entsetzen des eifersüchtigen Offi ziers näher besehen. Jochanaan, ganz Abwehr, will sie weder sehen noch mit ihr reden, fragt aber dennoch, wer sie sei. Salome stellt sich vor: „Ich bin Salome, die Tochter der Herodias, Prinzessin von Judäa.“ Jochanaan beschimpft ihre Mutter, aber Salome achtet nur auf seine Stimme und berauscht sich an ihrem Klang. Sie bittet ihn: „Sag mir, was ich tun soll!“ Sie achtet also seine Person und ihre Autorität. Aber Jochanaan wehrt sie brüsk ab („Komm mir nicht zu nahe!“) und fordert sie auf, bußfertig in die Wüste zu gehen und „des Menschen Sohn“ zu suchen. Mit dem bittersüßen Ausruf: „Wer ist das, des Menschen Sohn? Ist er so schön wie Du, Jochanaan?“ beginnt die erotisch fordernde Salome, Jochanaans Leib und Haar zunächst grässlich, dann berückend schön und wieder hässlich zu fi nden, bis sich die Begegnung ihrem Höhepunkt nähert, als Salome unter der Regieanweisung „mit höchster Leidenschaft“ verkündet: „Deinen Mund begehre ich.“ In immer neuen Bildern beschreibt sie den Mund um schließlich „außer sich“ vom Propheten zu fordern: „Nichts in der Welt ist so rot, wie dein Mund. Laß mich ihn küssen, deinen Mund.“ Was passiert in dieser Szene? Salomes erotisches Begehren steigert sich bis zur Ekstase, sicher stimuliert durch die dreimalige Zurückweisung durch den Propheten. Die eindeutige Kussmetaphorik weist darauf hin, was sie will: von diesem Mann geliebt werden und ihn lieben. Als ihr klar wird, dass das unerreichbar bleibt, solange er lebt, und der Prophet in die Zisterne zurückkehrt, blüht im Orchester musikalisch das Verlangen

464

A. a. O., bes. S. 91 ff.

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Salomes auf, bis zum Exzess alles daran zu setzen, um ihr Verlangen zu stillen. Und das allwissende Orchester signalisiert, dass dies zur Katastrophe führen muss.465 Schon in Wagners „Parsifal“ war eine Kussszene der besondere dramatische, religiöse Höhe- und Wendepunkt. Auch da ging das Kussverlangen von der Frau aus – der Mann bricht den Kuss mitten im Vollzug ab, weil ihn in der Handlung selbst eine Offenbarungserfahrung überfällt, die ihn „welthellsichtig“ macht. Parsifal ging die Ursache für die Wunde des Amfortas und der Weg zu ihrer und aller Wesen der Welt Heilung auf. Und, damit verknüpft, der Grund für das Verhängnis, das über der Welt als Ganzer liegt: Das unstillbare Begehren als Ausdrucksgestalt des Willens zum Leben. Ihm wird klar, wie die Menschen und die Welt davon heilvoll zu erlösen sind. Und so steht „höchsten Heiles Wunder“ am Ende des „Parsifal“. Bei Strauss steht am Ende, als der Kuss unter makabren Umständen doch noch vollzogen wird, eine Katastrophe. Aber ist es wirklich eine Katastrophe? Schon bei Wilde kann man das so nicht sagen, weil seine Salome doch ein rebellisch-utopisches Potential enthält, das über die alte Ordnungsmacht siegt. Und bei Strauss ist es deutlich auch nicht so wie Lachmanns Libretto vorzugeben scheint. Denn die Musik redet in ganz anderen Tönen als der Lachmannsche Text. Salomes Kussverlangen ist nur an der Oberfläche das Begehren eines erotischen Exzesses. In der musikalischen Tiefenschicht aber wird deutlich, dass sich in ihm „die Sehnsucht nach dem Gott der Sinne im musikalischen Bilde eines unaufgelösten Dominantseptakkordes, welcher ,erst am Schluß‘ des Musikdramas seine Tonika Cis-Dur fi ndet“ ausdrücken will.466 Der Gott, dessen Epiphanie Salome in ihrem Kussverlangen so sehnsüchtig erhofft, ist Dionysos, der Gott des entgrenzenden Rausches, des alle Fesseln der Individualität lösenden Gottes der strömenden Lebenskraft. Strauss verwebt das „Wenn-er-kommt“ Christus-Motiv der ersten Szene, das sich dort exponiert auf Christus, als den kommenden Gott bezieht, in den leitmotivischen Zusammenhang als Kopfmotiv für das Motiv des Kussverlangens. Umgekehrt trägt er das Motiv des Kussverlangens in Johannes’ Messias-Erzählung ein. Ein merkwürdiger Tausch der Gegensätze. Das könnte auf eine Identifi zierung von Christus mit Dionysos schließen lassen, wie sie der Romantik, vor allem Hölderlin, vorschwebte. Aber Strauss denkt nicht daran, die beiden Gottesvorstellungen zu versöhnen, sondern führt sie gegeneinander: Das dionysische Kussverlangen steht gegen den Gott des Asketismus, den Sünder-Gott, des lebensfeindlichen moralischen Rigorismus. „Erwartung des kommenden Gottes (a, b) (Z.13,1; Z.14,5 / 6). In der ersten Szene ist Christus gemeint, später, in anderem Zusammenhang, auch Dionysos.“467

465 466 467

So Heinz Becker, Richard Strauss als Dramatiker, S. 175, zit. bei Schreiber, a. a. O., S. 253. Wolfgang Krebs, a. a. O., S. 117. A. a. O., S. 219.

Noch ein Kuss und noch ein Liebestod: Die Offenbarung des Dionysos

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Da wo ungezügelte Leidenschaft aus religiöser Inbrunst auf Askese, ebenfalls gespeist aus religiöser Inbrunst, trifft, also schroff Gegensätzlichstes, verändern sich beide. Jochanaans brüsk und wild dröhnende asketische Abwehr wird im Blick auf den von ihm erwarteten Messias und dessen sanfte Gestalt, von der später die Nazarener singen, selber warm, feierlich und sanft: „Es lebt nur einer, der dich retten kann. Geh, such ihn … Er ist in einem Nachen auf dem See von Galiläa und redet zu seinen Jüngern.“ Und die Solovioline repräsentiert den auf dem See zu seinen Jüngern in der Bergpredigt redenden sanften Jesus (der liberalen Leben-Jesu-Forschung), den sie beim Namen, also als ihren Gott, anrufen soll, um sich von ihm ihre Sünden vergeben zu lassen. Wundervoll malt das Orchester das Niederknien am Ufer des Sees in sanft absteigenden Klängen. Schließlich ereignet sich zu Jochanaans Worten: „Rufe ihn beim Namen“ auf den auf vier Takte gedehnten ,Namen‘’ die Epiphanie des Christengottes, eine theologisch sehr subtile Pointe, da der Name Gottes für seine Weltherrschaft steht. „Alles Drängende, Hastig-Getriebene, Bacchantische ist aus dem musikalischen Ausdruck gewichen … Salomes dionysisches Kussverlangen soll in der Einbettung in der Aura des Christlichen zur Ruhe kommen.“468 Erst als Salome „wie verzweifelt“ mit dem Dionysos-Motiv immer wieder insistiert: „Lass mich deinen Mund küssen, Jochanaan!“, verflucht er sie und geht in die Zisterne zurück, begleitet vom Orchester, das die kommende Katastrophe kennt. Denn Dionysos ist von dem Christus nicht zu befrieden, Dionysos triumphiert. Aus der Sicht des Propheten ist sie des Teufels, in musikalischen Kategorien überantwortet er ihr Motiv des Kussverlangens „der Tonart des Unheils h-Moll“469. Was bedeutet die Zusammenfügung von ekstatischer Leidenschaft mit dem Motiv der Erwartung des kommenden Gottes für Salome? Salomes Kussverlangen notiert Strauss in Cis-Dur, der Tonart der Sinnlichkeit. Das ist die Tonart, die schon in der ersten Szene einen Widerpart zum düsteren h-Moll der Mondscheibe, zur Judenbitonalität und zum Jochanaan C-Dur bildete.470 Erwartet sie aber nicht mehr, wenn ihr sinnliches Verlangen mit der Erwartung eines kommenden Gottes verbunden wird? Krebs antwortet471: Salome erwartet bei Strauss, „fernab des Wunsches nach Befriedigung bloßer sinnlicher Begierde, eine Offenbarung …, eine Offenbarung des Göttlichen. Die Musik spricht etwas Verblüffendes aus: Salome erwartet, nicht anders als Jochanaan, die Ankunft des kommenden Gottes. Wer ist es? … Die Gesamtheit dieser Fragen erleichtert die Lösung des Problems. Die Form der Erwartung ist die Ekstase, der Taumel, der Rausch. Raserei und höchste Erregung sind die Zustände, in die Salome beim Nahen des Gottes, ,ihres‘ Gottes gerät, so dass nicht einen Augenblick lang der Eindruck entsteht, Salome bekehre sich zum Christen-Gott, zum Gott Jochanaans. Und Salome erwartet viel von diesem Gott, sehr viel: die Erfüllung durch Leidenschaft, die doch denkbar weit von 468 469 470 471

A. a. O., S. 121 f. A. a. O., S. 124. Vgl. A. a. O., S. 117. A. a. O., S. 114.

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Erotomanie, von sexueller Libertinage entfernt ist, die rauschhaft erlebte Entgrenzung, die Erhöhung ins Ungemessene, und noch ganz andere Dinge: die Offenbarung des Weltganzen selbst … Er sei nun beim Namen genannt, dieser Kommende: Salomes Gott ist – Dionysos.“472 Weil ihr dieser Kuss verweigert wird, bietet sie alles auf, um an ihr Ziel zu kommen. Weil sie ihre Liebe mit dem lebenden Propheten nicht zum Ziel führen kann, muss er sterben. Sie hat in Jochanaan eigentlich den kommenden Dionysos erwartet, aber der hat sich zurückgezogen, beharrt auf dem Christus und hat sich ihr verweigert. Und nun kommt die Rückseite des Dionysos zum Vorschein, der „Umschlag ins Finstere, Mänadenhafte, Grauenhafte“. Das Kussverlangen hat trotz ekstatischer Raserei die Epiphanie des Gottes nicht herbeigezwungen, es blieb die ungestillte Sehnsucht. Sie schlägt um in das „Nächtige, Entsetzliche“, das auch zum Dionysos gehört. Denn das Wesen des Dionysos ist nicht nur Leben – „es ist auch tödliche Verfi nsterung.“473 Jochanaan wird von ihr zum Opfer für ihren Gott bestimmt, um seine Epiphanie zu provozieren. Herodes will ein Fest auf der Terrasse mit seinen Gästen feiern. Aus der Zisterne hört man Jochanaans Stimme, die verkündet, dass der Tag der Verheißung gekommen ist. Das Judenquintett, Teil der Festversammlung, verzettelt sich in Streitereien über den gekommenen Messias, die Nazarener bejahen seine Ankunft und erschrecken Herodes mit der Botschaft, der Messias erwecke die Toten. Jochanaan verkündet das Jüngste Gericht. Der völlig genervte und traurige Herodes bittet Salome, für ihn zu tanzen und verspricht unter Eid, ihr alles zu geben, was sie will. Das ist ihre Chance, doch noch zum Kuss und zur Offenbarung des Dionysos zu kommen. Als sie den Kopf des Jochanaan als Lohn für den Tanz der sieben Schleier verlangt, sträubt sich der entsetzte Herodes, muss dennoch schließlich einwilligen, weil er sich nicht nachsagen lassen will, er sei wortbrüchig. Aber er ist sicher: „Es wird ein Unheil geschehen.“ Der an der Zisterne lauschenden Salome wird nach der Enthauptung Jochanaans dessen Kopf auf einer Silberschüssel übergeben. In Ekstase geratend küsst sie den Kopf des Toten auf den Mund: „Was soll ich jetzt tun, Jochanaan? Nicht die Fluten des großen Wassers können dieses brünstige Begehren löschen … Oh! Warum hast du mich nicht angesehn, du hättest mich geliebt. Ich weiß es wohl, du hättest mich geliebt. Und das Geheimnis der Liebe ist größer als das Geheimnis des Todes …“ Im Schlussmonolog kommen die lebensvolle und die todessüchtige Seite des Dionysischen zum Ausdruck. Wird sich nun endlich Salomes Sehnsucht erfüllen und Dionysos ihr erscheinen? „Als Salome ihre Lippen auf den Mund des Propheten presst, erscheint ihr der Gott. Dionysos ist zu seiner Jüngerin gekommen, zu Salome, er ist da, der lang Erwartete. Der

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A. a. O., S. 115. Alle Zitate a. a. O., S. 128 f. Zur Geschichte der Dionysosreligion von der Antike bis heute vgl. Max L. Baeumer, Dionysos und das Dionysische in der antiken und deutschen Literatur, Darmstadt 2006. Zu Nietzsches Dionysosverständnis und seinen – oft ungenannten – Quellen in der Romantik vgl. S. 301–341. 473

Noch ein Kuss und noch ein Liebestod: Die Offenbarung des Dionysos

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Augenblick des Kusses fällt zusammen mit seiner Epiphanie.“474 Salome wird verwandelt, das wichtige Strukturelement von Religion überhaupt. Diese Verwandlung durch die ekstatische Liebe in den Tod ist ein triumphaler Abgesang, der auch noch das Grässliche bejaht, ganz im Sinne von Nietzsches Dithyramben und seiner Augenblicksphilosophie. Die Verwandlung Salomes am Ende ist nur in zwei Takten komponiert. Es ist ein religiös gefüllter Augenblick in dem Salome zu einem anderen Sein gelangt475 Der Verächter des Christentums Richard Strauss bringt das Ende der Überzeugungskraft des Christentums dadurch zum Ausdruck, dass er es in der Karikatur eines Propheten auf die Opernbühne bringt. Es hat vor dem Leben versagt, denn das Leben will leben und sich der erotischen Macht rauschhaft überlassen. Es hat nicht nur durch seine moralische Rigidität die lebensvolle Antike verdrängt, es hat auch in der modernen, säkularen Gesellschaft keine Bedeutung mehr. Denn es hat die sich seit der Aufklärung, der Romantik und schließlich in der Philosophie Nietzsches sich unüberhörbar meldende Freiheitssehnsucht der Menschen auch gegenüber sexueller Unterdrückung durch doppelte Moral nicht wahrgenommen und den Lebensdurst als Sünde gebrandmarkt. Es hat, so Nietzsches Formel, durch seine Moral die Welt verdoppelt und das Leben verstümmelt. Vielleicht hätte das Christentum noch einmal eine Rolle spielen können, wenn es sich auf die milde Sanftheit des galiläischen Jesus konzentriert hätte, so wie Jochanaan den kommenden Messias charakterisiert. Aber nachdem Salome der Verheißung nicht glaubt, tritt an Stelle die sanften Werbung die brüske und scharfe Verfluchung. Das Christentum ist der Feind des Lebens. Kein Wunder, dass sich die Menschen von ihm abwenden. Weil sie aber nichts anderes haben, hängen sie ihre Lebenssehnsucht an den nur subjektiven Trieb und die Gier nach Macht und enden in der Dekadenz, wie das bizarre Königspaar Herodes und Herodias, dessen Religiosität in ein dumpfes Unheilsbewusstsein herabgesunken ist. Oder die religiösen Menschen versinken in nutzlose dogmatische Streitereien, über die man nur ironisch reden kann und die man besser nicht beachtet. Religion dieser Art hat sich selbst erledigt. Was tritt an ihre Stelle? Strauss überlässt die Menschen nach dem Ende des Christentums nicht der privaten und öffentlichen Sinnlosigkeit und Leere. Zwar haben sich die christlichen Überzeugungen und Verhaltensformen entleert und die Gesellschaft hat Religiosität in die Privatsphäre verlagert. Das hat den positiven Effekt, dass das Christentum mit seiner lebensfeindlichen Ideologie nicht mehr alle Bereiche des Lebens mit der Kälte seiner Sündenvorstellung überziehen kann. Ein Christentum, das sich von der Erfahrung des erlösenden barmherzigen Gottes als seinem Kern, in der Nachfolge der Aufklärung auf die Moralität als sein neues Zentrum konzentriert hat, hat sich selbst entzaubert und verkommt zur ähnlich lächerlichen, hohlen Figur wie der Prophet Jochanaan. Das Christentum, das Strauss ablehnt, hat sich selbst säkularisiert. 474 475

A. a. O., S. 178. A. a. O., S. 187.

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Aber sein Niedergang hat den Menschen auch von seinen Lebensfragen entfremdet. Auch das vitale Leben steht vor den kontingenten Erfahrungen von Geburt, Reifung, Alter und Tod, vor Glück und Unglück, Freude und Leid, Liebe und Hass, und zwar nicht nur im privaten, sondern auch öffentlichen Leben. Selbst der haltlose und in fl irrender Verzweiflung mit sich und dem Dasein und der opaken Macht des Schicksals ringende Despot Herodes erreicht die existenzielle Situation der Frage nach einem Daseinssinn, auch wenn er sie schnell wieder in sinnlosem Luxus und hohler Gier versinken lässt. Diese Fragen müssen nicht von einer Religion beantwortet oder wenigstens bearbeitet werden. Diese Erfahrungen müssen auch nicht religiös gedeutet werden. Es gibt kein religiöses Apriori. Jedoch stellen sich diese Fragen gerade dann, wenn das menschliche Leben in sich ein Begehren nach Befriedigung seiner Bedürfnisse hat und nach Grund, Sinn und Ziel des Daseins und seiner Handlungsgewissheit fragt. Diese Fragen überschreiten den Horizont des Augenblicks und transzendieren den Menschen auf ein mögliches Anderes. Das muss nicht in religiöse Transzendenz verlängert werden wie bei Beethoven, es kann auch wie bei Wagner absolut immanent bleiben. Aber wer so sehnsuchtsvoll nach dem Überschreiten seiner Grenzen ausgestreckt ist wie die Prinzessin Salome, kann sich den religiösen Horizont zumindest offen halten. Sie steht staunend vor dem sich auftuenden Leben und bemerkt, dass sich dieses Leben nur erfüllen wird, wenn ein Gott sich ihrer Sehnsucht annimmt, der ihr das von ihr ersehnte sinnliche Glück auch gönnt. Und so tritt an die Stelle des, in der entzauberten Gesellschaft und durch seine Kirche selber versteinerten, Christus der sie bis in den Tod verwandelnd bezaubernde Gott Dionysos. Eine total und nur noch säkulare menschliche Gesellschaft wird dem Leben nicht gerecht, das scheint in dieser Oper das Fazit des Christentumverächters Strauss zu sein. Mit dieser ästhetischen Analyse stimmt er mit Wagner überein. Die Oper „Salome“ richtet die Menschen des angehenden 20. Jahrhunderts ästhetisch auf den Dionysos, den kommenden Gott des rauschaften Lebens, ein. Ob er das wirklich existenziell oder nur im kierkegaardschen Sinn ästhetisch gemeint hat – ich vermute das, aber das kann offen bleiben. Der Unterschied zu Wagner ist beträchtlich: Wagner entwirft als Mittel gegen die Dekadenz der säkularen Gesellschaft eine neue, die „wahre“ Religion. Sie steht quer zu einer Gesellschaft, Wagner nennt sie stets die moderne, deren Moralität seiner Ansicht nach aus den Fugen geraten ist. Er ruft sie zu Mitleid und Askese auf. Vegetarismus, das Ende der Vivisektion und andere ethische Forderungen bestimmen die Lebensführung. Strauss greift auf eine alte, von Nietzsche in ein modernes Gewand gekleidete Religion zurück, die quer zum moralischen Common sense seiner Zeit steht. Er ruft durch den Rausch in ein dem Leben zugewandtes, sein sinnliches Glück erstrebendes, leidenschaftliches Leben, das auch den Tod ins Dasein integrieren kann und alle sozialen Fesseln sprengt. Jedoch ohne Religion glückt auch in seiner „Salome“ kein Glück.