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German Pages 354 [356] Year 2004
Klaus Η. Kiefer „Die famose Hexen-Epoche"
Ancien Regime Aufklärung und Revolution Herausgegeben von Rolf Reichardt und Hans-Ulrich Thamer Band 36
R. Oldenbourg Verlag München 2004
„Die famose Hexen-Epoche" Sichtbares und Unsichtbares in der Aufklärung Kant - Schiller - Goethe - Swedenborg - Mesmer Cagliostro
Von Klaus H.Kiefer
R. Oldenbourg Verlag München 2004
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
© 2004 Oldenbourg Wissenschaftsverlag GmbH, München Rosenheimer Straße 145, D-81671 München Internet: http://www.oldenbourg-verlag.de Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen. Umschlagbild: P. R. Werner: Gedächtnüß-Müntze, auf die Gesellschafft der Liebhaber der Wahrheit, zu Berlin, von A. 1736, aus: Johann David Köhler (Hg.): Der Wöchentlichen Historischen Münz-Belustigung 47. Stück (23. November 1740), S. 369, Kupferstich, 0 4,3 cm, Scan © Bayerische Staatsbibliothek, München. Umschlaggestaltung: Dieter Vollendorf Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier (chlorfrei gebleicht). Gesamtherstellung: MB Verlagsdruck M. Bailas, Schrobenhausen ISBN 3-486-20013-5
Inhalt 0.
Konfession des Verfassers
1.
Kant als Geisterseher
21
1.1. Ursprungsfiragen 1.2. Textfunktionen 1.3. Ironische und epistemologische Strukturen 1.4. Worte und Gespenster 1.5. Autor - Fiktionen 1.6. Mesmeristische Aspekte 1.7. Okkulte Wirkungen - Kant im Kriege
21 24 26 28 32 34 37
Zur Definition aufklärerischer Vernunft
39
2.1. Literatur und Philosophie 2.2. Allaussage - Sprechakt - Verschiebung 2.3. Ästhetizität und Fiktion 2.4. Das Schweigen des Philosophen 2.5. Von Affekten umstellt 2.6. Mythos und Komödie
39 40 44 45 47 50
Okkultismus und Aufklärung aus medienkritischer Sicht
53
3.1. Das Cagliostro-Syndrom 3.2. Cagliostro als Medienprodukt 3.3. Erzählung oder Komödie 3.4. Zur Fragwürdigkeit der Historisierung
53 58 63 72
Groß-Cophta und Balsamo
77
2.
3.
4.
5.
9
4.1. Okkultismus und Obskurantismus 4.2. Cagliostros Stammbaum 4.3. Bacons „Idola" - Goethes „Gespenster" 4.4. Die italienischen Hexen 4.5. Cagliostro als „Monstrum" 4.6. Komik und Naturwissenschaft 4.7. Geschichte und Komödie 4.8. Die Komödie des „Groß-Cophta"
77 83 90 94 96 100 108 113
Cagliostro - Nachruf
133
5.1. Nachtseiten der Vernunft 5.2. Medien der Aufklärung 5.3. Komödianten der Weltgeschichte
133 140 149
6 6.
Inhalt
Fiktion und Realität
157
6.1. Verkehrte Welt 6.2. Fiktion und Kommunikation 6.3. Der privatisierte Halbgott 6.4. Cagliostro und die Frauen 6.5. Science Fiction und Film
157 159 164 168 172
7.
Geisterseherei im 18. Jahrhundert
175
8.
Goethe und der Magnetismus
191
8.1. Biographie und die Wissenschaftsgeschichte 8.2. Der naturphilosophische Diskurs 8.3. Physik oder Psychologie? 8.4. Kosmologie und Analogiekritik 8.5. „Die Wahlverwandtschaften"
191 203 207 212 228
Goethes Wortschatz im Sinnbezirk des Irrationalen
233
9.1. Aberglaube 9.2. Mystizismus 9.3. Magie 9.4. Giuseppe Balsamo alias Graf Cagliostro
234 237 240 243
Schillers „Geisterseher"
249
10.1. 10.2.
249 254
9.
10.
Erzählerische Strukturen und Funktionen Die Figuren und ihre „Philosophie"
11. Auch ich in Arkadien?
265
11.1. Hermeneutik des Reisens 11.2. Italienreise und „Italienische Reise" 11.3. Politische Zwischenbemerkung 11.4. Natur - Geschichte - Subjekt 11.5. Der erotische Gegenstand 11.6. Sinnliche Gegenwart 12. Faustines Blick - „Elegie. Rom, 1789"
265 268 271 272 275 281 287
12.1. 12.2. 12.3. 12.4.
Lust und Interpretation Störung und Stoff Körper und Schrift Auge und Geschlecht
287 290 292 294
12.5.
Genealogie
297
13. Goethe und die postrevolutionäre Bildsatire 13.1.
Sehen und Forschen
299 299
Inhalt
13.2. 13.3. 13.4. 13.5.
Edition und Interpretation Bildsatire 1795-1797 Die Töchter der Natur Empirie - Allegorie - Symbolik
7 302 311 314 324
14. Abbildungsverzeichnis
331
15. Abgekürzt zitierte Literatur
333
16.
337
Personenregister
0. Konfession des Verfassers Mundus vult decipi Sebastian Franck: Paradoxa, 1534
Mit „famose Hexen Epoche" bezeichnet der in Rom weilende Goethe am 4. August 1787 gegenüber Charlotte von Stein (B 8, 239) keineswegs das „finstere Mittelalter", sondern seine Zeit - die man rückblickend als Spätaufklärung sieht.1 Allerdings war Kants „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?" erst drei Jahre zuvor in der „Berlinischen Monatsschrift" erschienen. Obwohl dies etwas spät für eine Programmschrift des Jahrhunderts war und entgegen der Kantschen These, daß die Aufklärung noch keineswegs vollendet sei, gilt heute das 18. Jahrhundert - nicht nur in Deutschland - als „siecle des lumiöres". Historiker und Philologen können kaum der Versuchung widerstehen, von Kants später Beantwortung" auf das gesamte vorausliegende Jahrhundert zu schließen (den Blick auf nachfolgende Zeiten sperren Epochenbegriffe wie „Klassik" und „Romantik"). Gewiß ist es „bequem", Kant als Gewährsmann zu zitieren, aber auch dies ist so gar nicht im Sinne des Philosophen (ThW 11, 53), ja es ist historisch falsch. Auch die weiter ausgreifende „Dialektik der Aufklärung" der Horkheimer und Adorno ist viel zu spekulativ, um die Probe aufs (historische) Exempel zu bestehen, denn kein „Rückfall in Mythologie"2 drohte, die Aufklärung hat und hatte den mythischen Diskurs nie ganz verlassen. Zwar gefielen sich viele Zeitgenossen im Bewußtsein, es „zuletzt so herrlich weit gebracht" (MA 6.1, 551) zu haben - und das ist heute nicht anders als damals - , aber Goethes Skepsis, die schon eingangs anklang, steht weder allein - wenn auch nicht in der Majorität - , noch können die zahllosen Erscheinungen übersehen werden, die seine Zeit geradewegs verfinsterten: obskure Geheimgesellschaften, krasser Wunderglaube, fehlgedeutete Na1 Vgl. Albrecht, Wolfgang: Deutsche Spätaufklärung. Ein interdisziplinärer Foischungsbericht bis 1985, Halle/S. 1987 u. Horst Stuke: Aufklärung, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, hg. v. Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Koselleck, Stuttgart 1974, Bd. 1, S. 243-342. 2 Max Horkheimer u. Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente (1947), Frankfurt/M. 1971, S. 3. Wie sollte denn auch dieser „Rückfall" drohen, wenn schon der Mythos „Aufklärung" (ebd., S. 5) gewesen sein soll - und Aufklärung ein Mythos war?
10
0. Konfession des Verfassers
turphänomene, Erfolge von Geistersehern und Scharlatanen und vieles andere mehr. Das 18. Jahrhundert „leuchtete" nicht. (Welches hätte es?) Die Aufklärungsforschung indessen verkehrt die Mehrheitsverhältnisse zwischen Licht- und Schattenseiten, indem etwa in einem neueren „Lexikon der Aufklärung" das Jahrhundertphänomen .Aberglauben" zu einem einzigen Lemma schrumpft und z.B. der Hexenglaube dem „volkstümlichen Bereich"3 zugeschlagen wird. Die „idola" fanden sich aber auch andernorts: bei Dichtern und Denkern und ebenso bei zahllosen Gläubigen und Abergläubigen. Friedrich Nicolai zufolge stehen sich in den 70er Jahren des 18. Jahrhunderts 20 Millionen „Ungelehrte" und „20tausend Gelehrte" in exklusivem Desinteresse gegenüber.4 Wer aber von diesem einen Promille darf überhaupt ein „wahrer" Aufklärer genannt werden? Die säkulare Krise der „besten aller Welten" befreite nicht nur - bei wenigen - Geist und Verstand, sondern setzte auch Widersprüchliches, ja den puren „Wahn-Sinn" frei, und in der Tat kann und konnte man die eine Vernunft, an die man so oder so glaubte, in vielfältiger Weise verfehlen: steht doch der „Monotheismus der Vernunft" mitnichten in flagrantem Widerspruch zum „Polytheismus der Einbildungskraft",5 er ist nur ein kleiner, wenn auch bedeutsamer Teil davon. Daß die Arbitrarität des Zeichens die „Ursünde" war, die die Fiktionen Goethe sagt: die „Gespenster" - erscheinen ließ, wurde ebensowenig erfaßt wie die Lessingsche These, „daß Nachrichten von Wundern nicht Wunder sind" (LGW 8, 11) - oder doch? Über ein Jahrtausend war die biblische Sprachmagie6 verinnerlicht worden; das „Wort" konnte „Fleisch" werden (Joh 1, 14) - der Zauberspruch als „Herr über die Natur": ein archaischer Wunschtraum.7 Nicht nur der Primitive versucht, „den realen Dingen die Gesetze des Seelenlebens aufzuzwingen";8 geschichtliche Ereignisse wie die Französische Revolution, die man als „Frucht" der Aufklärung begrüßte
3
Vgl. Lexikon der Aufklärung. Deutschland und Europa, hg. v. Werner Schneiders, München: Beck 1995, bes. die Beiträge von Werner Schneiders (Aberglaube) u. Günter Jerouschek (Hexenverfolgung/Hexenprozesse; das Zitat S. 179). 4 S. Friedrich Nicolai: Das Leben und die Meinungen des Herrn Magisters Sebaldus Nothanker [1773], hg. v. Fritz Brüggemann, Darmstadt 1967, S. 72; es handelt sich wohlgemerkt um die Aussage einer Romanfigur. 5 Friedrich Höderlin: Entwurf (Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus), in: ders.: Werke und Briefe, hg. v. Friedrich Beißner u. Jochen Schmidt, Frankfurt/M. 1969, Bd. 2, S. 647-649, hier S. 648. 6 Die griechische Mythenkritik hatte diesbezüglich nichts gefruchtet. 7 Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, 3 Bde., Darmstadt 1977 (7. Aufl.), Bd. 2: Das mythische Denken, S. 265. 8 Sigmund Freud: Totem und Tabu. Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker, in: ders.: Studienausgabe, hg. v. Alexander Mitscherlich, Angela Richards, James Strachey, Frankfurt/M. 1974 (3., korr. Aufl.), Bd. 9, S. 287-444, hier S. 379.
0. Konfession des Verfassers
11
oder als „ceuvre des tenebres"9 verdammte, waren keineswegs im Ganzen „vernünftig", sondern provozierten unterschiedlichste Deutungen, bevor auch ihr epochaler Status fixiert wurde und die Geschichte als Schulmeisterin des Lebens figurierte. - Es ist schwer, die eingefahrenen Diskurse wieder in Bewegung zu bringen. Herders Versuch, den „Mittelpunkt der Glückseligkeit" (HSW 5, 509) einer Nation - hier: eines Jahrhunderts - zu bestimmen, soll in eine Kritik der Aufklärung am Beispiel epochaler Probleme - vor allem der Geisterseherei und des animalischen Magnetismus - umgesetzt werden. Gerade im Licht immanenter Kritik erweist sich der Begriff der Aufklärung als ein wirkungsgeschichtlicher, als eine retrospektive „Zurecht-Fälschung" durch Selbstkanonisierung und Diskursmonopolisierung. Die Aufklärung triumphierte erst, als sie sich im 19. Jahrhundert an den „Siegeswagen der Naturwissenschaften" hing, was aber in ihrem - dem 18. - Jahrhundert noch nicht geschehen war, bzw. unter Naturwissenschaft wurde anderes verstanden. Aber ging sie mit dieser Anbindung nicht humaner Dimensionen verlustig, hat sie die Katastrophen des 20. Jahrhunderts verhindert? Eindimensionalen Technikfolgen wuchsen keine vergleichbaren ethischen Leistungen nach, und konnten und können es vielleicht auch nicht, da Sprache und Gefühl nicht in derselben Weise bestimmbar sind wie die Elemente im naturwissenschaftlichen Experiment. Der mythische „Gleichlauf der Künste und Wissenschaften geriet aus dem Takt. Die Masse - und mancher Einzelne - lenkten immer wieder ins Primitive zurück. Das dekonstruktive Moment der Hinterfragung soll eine Erneuerung aufklärerischer Selbstreflexion in Gang setzen. Vernunftkritik ist dabei nicht mit Irrationalismus zu verwechseln; als der Arbitrarität des Zeichens geschuldete Sollbruchstelle gehört sie zur Vernunft - was freilich die Transitorik, die fortwährende „Querelle" der Moderne herauffuhrt. Pädagogische Verantwortung kann aber nicht darin beruhen, monumentale „Machwerke" - wie Lessings „Nathan" oder Mozarts „Zauberflöte" - durch interpretatorische Exerzitien am Leben zu erhalten, den Mythos der Aufklärung zu pflegen,10 sondern Bewährung im „Fegefeuer" der epochalen Auseinandersetzungen zu fordern. Die Entlarvung von Aufklärung und Moderne als einen zusammenhängenden „grand recit"11 heißt allerdings nicht, neueren Fundamentalismen und Kulturrelativismen Raum zu geben. Auf Universalisierung kann auch die postmoderne Ethik nicht verzichten, selbst wenn 9
Abbi Barruel, zit. n. Bronislaw Baczko: Lumidres, in: Francois Füret u. Mona Ozouf: Dictionnaire critique de la Revolution Fran^aise, Paris 1988, S. 776-785, S. 778. 10 Gerade aus der Perspektive meiner Untersuchungen wird der Artefakt-Charakter, das „Gekünstelte" der beiden Werke schmerzlich bewußt. Bedurfte es dieses Aufwands an Fiktion, an Wunder und Orientalismus, um dem zeitgenössischen Publikum so (scheinbar) simple Ideen wie Toleranz und Menschlichkeit glaubhaft zu machen? 11 Man setze zu diesem (allzu) bekannten Begriff Lyotards die Definition Tzvetan Tororovs (Le discours de la magie, in: L'Homme, Bd. 13, Nr. 4 [1973], S. 38-65, hier S. 44) in Bezug: „[...] la formule magique est un micro-recit."
12
0. Konfession des Verfassers
sich herausstellen sollte, daß was über die Goldene Regel hinausgeht (wie z.B. Kants kategorischer Imperativ) in die Universalisierung der eigenen Kultur zurückfällt oder zumindest leitkultureller Zielvorstellungen bedarf.12 Wer mich in die Problematik des Jahrhunderts eingeführt hat, war ohne Zweifel Goethe, dessen Neugier hinsichtlich scheinbar randständiger Figuren wie Cagliostro den geschichtlichen Horizont umstrukturierte und auch meine Neugier entzündete; auch seine andere Sicht der Französischen Revolution - so vorübergehend sie war sein erotischer Blick (in den „Römischen Elegien") führten in epochale Konflikte hinein und problematisierten die „Bilder", die die Forschung bis dahin kultivierte. Was mich dann bewogen hat, zum Teil veröffentlichte, zum Teil unveröffentlichte Arbeiten zur Aufklärung zusammenzustellen,13 Arbeiten, die in einem Zeitraum von rund 20 Jahren zustande gekommen waren, war die Überraschung einer Kontinuität meines Interesses und eines Zusammenhangs, obwohl die Anlässe zur Produktion doch sehr verschieden waren. Das „Sehen", aber auch das „Nicht-Sehen" faszinierten - und faszinieren mich ganz offenbar (ich muß aber auch gestehen, daß mir für der „Töne Licht" ein gleichwertiges Organ fehlt). Damit ist keine Proliferation der Lichtmetaphorik der Aufklärung gemeint, obgleich Metaphern durchaus erkenntnisleitende Funktionen übernehmen können,14 sondern in der Auseinandersetzung mit dem historischen Gegenstand, der uns wesentlich durch Sprache und Text vermittelt ist, aber auch durch Bilder und Vorstellungen (innere Bilder), wurde auch die Differenz des symbolischen und des visuellen Systems deutlich.15 Zeichenbildung entbindet den Menschen aus dem Funktionskreis, in den er im Sinne Jakob von Uexküll „eingepaßt" ist.16 Die Verstrickung in dieses „Symbolnetz"17 erfordert andauernde
12 Was Kant nicht bedenkt: Seine kategorischen Referenzgrößen „Rechtsprechung" und „Naturgesetz" gelten nicht in jeder Kultur; allgemein vgl. dazu Friedrich Dudda: Die Logik der Sprache der Moral, Paderborn 1999, S. 166f. 13 Wie jeweils angegeben, handelt es sich um zum Teil veröffentlichte, zum Teil unveröffentlichte Arbeiten, zum Teil auch um die deutsche Fassung von zuvor auf Englisch oder Französisch veröffentlichten Arbeiten, die allesamt mehr oder weniger überarbeitet wurden und die die theoretische Quintessenz aus meinen „Dokumenten zu Aufklärung und Okkultismus" (München - Leipzig - Weimar 1991 = DAO) ziehen. Für eine monographische Integration aller Überschneidungen läßt mir mein derzeitiger Arbeitsbereich keine Zeit. 14 Der Rückschluß von einer Metapher auf eine eigentliche Bedeutung bzw. ein Referens ist allerdings trügerisch. Das Interpretans ist auch nur ein Zeichen, und zum Referens führt allenfalls eine Hypothese. Ich gestehe entgegen der Konventionalitätsthese, wie sie Umberto Eco etwa bezüglich ikonischer Zeichen vertritt, diesen einen Innovationsspielraum durchaus zu, im dem sich die verschiedenen Codes angesichts neuer Beobachtungen neu arrangieren. Das verbale Zeichen, der treffende Begriff kommt immer erst post festum. 16 Jakob von Uexküll: Theoretische Biologie, Berlin 1928 (2., gänzl. neu bearb. Aufl.), SS. 100,137,217.
0. Konfession des Verfassers
13
Anstrengungen, um eingespielte und institutionalisierte Normen zugunsten neuer Werte zu durchbrechen, um je aktuelle Problemlagen zu bewältigen. Das Avantgardemotiv des „neuen Sehens",18 das mich auch im Kontext der modernen Kunstkritik beschäftigte,19 ist, so fruchtbar es wirkt, schwer zu bewerten: im 18. Jahrhundert wie im 20. oder gar 21., denn die dabei vollzogenen Abduktionen sind extrem fehlbar, wie schon Charles Sanders Peirce konzedierte.20 Auch okkulte Schlußfolgerungen können damit gezogen werden. Daß ich mich immer wieder an dem ansonsten hochgeachteten Philosophen Kant „reibe" - ein Zwerg an der Kniekehle eines Riesen - , bezieht seine Exemplarik aus dem Diskurskonflikt zwischen traditionell begriffsorientierter Philosophie und semiotisch orientierter Kulturwissenschaft in der Nachfolge des Neukantianers Ernst Cassirer. Wie wenig aber der Nachvollzug des „linguistic turn"21 als kritisches Manöver befriedigen kann, wurde mir gerade am Beispiel des „ A u g e n m e n s c h e n " Goethes deutlich, der sein Sehen abduktionslogisch instrumentalisierte, und auch in meinen neueren Arbeiten zur klassischen Moderne glaube ich nachweisen zu können, daß der linguistischen Wende eine visuelle Wende beizugesellen ist, ja daß die letztendliche Eroberung der „Sprachlogik" durch die Philosophie (Wittgenstein) schon in statu nascendi von der Ästhetik der Avantgarde überwunden wurde.22 Die Orientierung am dekontextualisierten Meisterwerk war mir schon stets ein Greuel (so wie die sog. neue Rechtschreibung, die hier ein „äu" gesetzt hätte). Kanonisierung, so berechtigt sie sein mag, Ausgrenzung von Trivialem und Alltäglichem verzerren das Bild der Epoche gerade dadurch,23 daß sie Wirkungsgeschichte inszenieren und Gegenstände verformen. Nicht „wie es eigentlich gewesen" gilt es indessen herauszustellen, sondern den besseren Interpretanten im kritischen Bewußtsein aufzuheben. Im ersten Großkapitel müht sich der Magister Kant in seltsamen Verrenkungen um die Überwindung des okkulten Diskurses eines Visionäre 17
Emst Cassirer: Versuch über den Menschen. Einführung in eine Philosophie der Kultur, übers, v. Reinhard Kaiser, Frankfurt/M. 1990 (2. Aufl.), S. 49. 18 Vgl. Jurij Striedter: Zur formalistischen Theorie der Prosa und der literarischen Evolution, in: Russischer Formalismus. Texte zur allgemeinen Literaturtheorie und zur Theorie der Prosa, hg. u. eingel. v. dems., München 1971, S. IX-LXXXIH, hier S. XXIII u.ö. 19 S. Kiefer: Diskurswandel im Werk Carl Einsteins. Ein Beitrag zur Theorie und Geschichte der europäischen Avantgarde, Tübingen 1994 (Communicatio. Studien zur europäischen Literatur- und Kulturgeschichte, Bd. 7). 20 Charles S. Peirce: Schriften II: Vom Pragmatismus zum Pragmatizismus, übers, v. Gert Wartenberg, m. e. Einf. hg. v. Karl-Otto Apel, Frankfurt/M. 1970, S. 366. 21 Richard Rorty (Hg.): The Linguistic Turn. Recent Essays in Philosophical Method, Chicago u. London 1967 - ein viel zitiertes, aber ziemlich überschätztes Buch. 22 S. Kiefer (Hg.): Die visuelle Wende der Moderne. Carl Einsteins „Kunst des 20. Jahrhunderts", Paderborn 2003, bes. die Einleitung. 23 Verkannt wird auch die intertextuelle Struktur des Werks.
14
0. Konfession des Verfassers
(Swedenborg), ohne daß sich der spätere „maitre penseur" dessen gewärtig würde, wie Sprache und Affekte ihm selber den Blick trüben, als er das Programm der Aufklärung entwirft. Skandalon war und ist, daß wo selbst „nichts" gefunden wurde, erst einmal etwas gesucht worden war. Es wird deutlich, wie Aufklärung und Okkultismus gleicherweise auf einem Diskursozean „schwimmen" und wie diese imaginative Infrastruktur sowohl Monster als auch Lichtgestalten hervorbringt.24 Erst nachdem Kant „science" und „fiction" auseinanderzuhalten gelernt hatte, zitiert er gleichsam als Befreiungsschlag Samuel Butlers „Hudibras",25 den er wohl in der Übersetzung von 1765 gelesen hat: [...] wenn ein hypochondrischer Wind in den Eingeweiden tobet, so kommt es darauf an, welche Richtung er nimmt, geht er abwärts, so wird daraus ein F-, steigt er aber aufwärts, so ist es eine Erscheinung oder eine heilige Eingebung." (ThW 2, 959f.) Butlers antipuritanische Verssatire schien geradewegs auf „Seher" wie Swedenborg zugeschnitten; ich zitiere das Original: As wind in th'Hypocondries pent Is but a blast if downwards sent; But if it upwards chance to fly Becoms new Light and Prophecy: So when your Speculations tend Above their just and useful end. Although they promise strange and great Discoveries ot things far fet, They are but idle Dreams and Fancies And savour strongly of the Ganzas.26
Ebenso schwer verständlich wie Kants Suche ist, welche Erfolge der Pseudograf Cagliostro fur sich verbuchen konnte. Ich deute es als säkulares Syndrom, wenn ein Betrüger nicht identifiziert werden kann,27 wenn sich ein System nicht gegen seinen parasitären Mißbrauch wehren kann, ja
24
Michel Foucaults „Les mots et les choses" (Une arch6ologie des sciences humaines, Paris 1966) hat fir dieses Modell Pate gestanden; vgl. auch Stanislaw Lems Roman „Solaris" [1961], übers, v. Irmtraud Zimmermann-Göllheim, München 2002 (Neuausg., 3. Aufl.). 25 Samuel Butler: Hudibras. Ein sartyrisches Gedicht wider die Schweriner und Independenten zur Zeit Carls des Eisten, übers, v. Johann H. Waser, Hamburg u. Leipzig 176S, also ein Jahr vor der Veröffentlichung seiner „Träume". Kant zitiert allerdings nicht wörtlich, sondern spitzt die schwerfällige Prosaübersetzung zu; vgl. ebd., S. 292f.: „Wie ein Hypochondrischer Wind, der niederwärts fortgehet, nichts als ein Wind ist, und wenn er hingegen zufälliger Weise aufwärts in den Kopf steiget, dasselbst zum neuen Licht und zur Gabe der Prophezeyung wird; eben so werden Speculationen, die über ihren rechten und Nuzen schaffenden Zwek hinauszielen, ungeachtet der grossen und ausserordentlichen Entdekungen weit entfernter Dinge, welche sie versprechen, zu lautern Grillen und eiteln Träumen, die nicht wenig nach Narrheit riechen." 26
Samuel Butler: Hudibras [1663-1678], m. Einf. u. Komm. hg. v. John Wilders, Oxford 1967, S. 174. 27 So wie heute in der besten aller Republiken auch: man denke an den Florida-Rolf, den Kalifen von Köln und viele andere mehr, von denen zu wissen uns die Massenmedien nötigen.
0. Konfession des Verfassers
15
wenn sich eine „Mythenzentrale"28 selber wie der Vatikan als Retter der Aufklärung erweisen muß - was schon Goethe belustigte. Daß sich nach Goethe und Schiller kein großer Autor mehr des personalen Stoffes angenommen hat, zeugt davon, daß sich der Aufklärungsprozeß einer „reichlich peinlichen Verwandtschaft"29 entledigte, galten doch zeitgenössisch Philosophie und Schwärmerei als „zwei Schwestern".30 Deutlich wird aber auch die ästhetische Herausforderung, an der die beiden Weimarer auf unterschiedliche Weise scheitern, wobei noch eher Goethes (geplante) Opera buffa als Schillers fragmentarische Kriminalerzählung die epochale Peinlichkeit meisterte, wie da ein Tartuffe im Gewände des Sarastro sich spreizte. Ich wüßte freilich keinen Autor der Gegenwart, der die zahllosen „tartufi" unserer schönen neuen Medienwelt bewältigte ... Es ist schwer, keine Satire zu schreiben. Nach dem Versiegen der antiken und der jüdischen Mythenbildung sucht sich die Welt, die ganz offenkundig betrogen (unterhalten) werden will, modernere Projektionsfiguren: Politiker, Kriminelle, Popstars, ja jeder selbst betreibt seine kleine esoterische Ich-AG. Cagliostro war nur ein verspäteter Wiedergänger aus dem Lande der Propheten; man muß hinter ihm jedoch das personale wie das kollektive Wunschpotential erkennen, die Metaphysik der Imagination. Der „naive" Goethe mythisiert sich, so gut er kann - und er kann - , mit Hilfe einer antiken Schönheit (wohlgemerkt: einer „modernen" Römerin, nicht einer „schönen Griechin" ...). Cagliostro dagegen vereint auf sich den freimaurerischen Willen zur Macht: „Seid umschlungen, Millionen!" (SW 1, 135) - „Mysterien-Arrangements"31 alle beide. Das alles-sehende Auge Gottes, das aus dem religiösen Diskurs auch in den Vernunftdiskurs der Freimaurer übernommen wurde, erwies sich - soit dit en passant - in meinen Studien irrelevant; man möchte dem starken Motiv nur den Kommentar eines kleinen Mädchens gönnen, das - Mynona zufolge - seine Mutter fragt, ob es denn nicht gar zu unanständig sei, wenn der liebe Gott alles sieht. Die Umwertung der Diskurse läßt sich gut am animalischen Magnetismus zeigen, ein wissenschaftlich falsch gedeutetes Phänomen, das erst im 19. Jahrhundert zu einem Teil in der Naturwissenschaft und zum anderen Teil in der Psychologie bzw. Medizin bewältigt wurde, dessen okkulte 28
Carl Einstein: Die Fabrikation der Fiktionen. Gesammelte Werke in Einzelausgaben, Bd. 4 (mehr nicht ersch.), hg. v. Sibylle Penkert, eingel. v. Helmut Heißenbüttel, Reinbek 1973, S. 158. 29 Thomas Mann: Ein Bruder, in: ders.: Essays, Bd. 2: Politische Reden und Schriften, ausgew., eingel. u. erläut. v. Hermann Kurzke, Frankfurt/M. 1977, S. 222-227, hier S. 225. 30 Anonym: Philosophie und Schwärmerei, zwo Schwestern, in: Der Teutsche Merkur, November 1776, S. 138-149. 31 Mynona: Der Schöpfer. Phantasie, in: ders.: Prosa Band 2, hg. v. Hartmut Geerken, München 1980, S. 7-73, hier S. 44; Salomo Friedlaender zitiert Kants Hudibras-Bonmot (ThW 2, 959f.) als Motto.
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Wirkung dennoch beachtlich blieb, sei es als Universaltransmitter zwischen Physis und Psyche, sei es als Leerformel universellen Zusammenhangs: Mana.32 Die Forschung hat allerdings die Trugbilder der Aufklärung sowohl um ihre „Positivität"33 als auch um ihren „ästhetischen Sinn"34 gebracht. Welch Wechselspiel von Sein und Schein, Höhe und Tiefe in Leben und Werk, wie da ein Hochstapler den Höhenkamm des Jahrhunderts (der Aufklärung) erklimmt und stürzt, indem er - gleichsam im Gegenzug - von der Inquisition (der Gegenaufklärung) zum Aufklärer und Revolutionär verklärt wird! Verkommt zwar der Aberglauben schließlich zum Kalauer der Wiener Operette - ,,Α-ber glau-ben, a-ber glau-ben, a-ber glau-ben muß man 'dran!"35 - , so wimmeln entgegen Goethes frommem Wunsch die bpictures, die die bekannte Traumfabrik in alle Welt vermarktet, nur so von „Ritter-, Räuber- und Gespenstergeschichten" (MA 18.1, 13). Das Publikum dämmert nach wie vor in den „basses Lumieres". Das ehemalige Schnappen nach Wundern, das Goethe schon so erbärmlich fand (HABr 2, 140), entspricht völlig dem gegenwärtigen Schnappen nach Medien,,events". Oh - 21. - Jahrhundert, oh Aufklärung, wenn Millionen Fans mehrfachen Millionären zujubeln, wenn ein millionenfach „eingeschalteter" Talkshow-Master anläßlich der Wahl zum „größten Deutschen aller Zeiten" bekennt: „Es muss in der Demokratie möglich sein, Daniel Küblböck zu wählen."36 - Aus solchen und zahlreichen anderen Anlässen der Gegenwart zu einem posttraumatischen „Embitterment Disorder" (PTED) rettet nur ein Salto mortale in die Goethezeit. Revolutionär war Goethes Sehen nicht allein darin, daß es Mythen entzauberte oder Mythologen entlarvte, sondern indem es sie ästhetisch transformierte. So sieht er - und achtet er - Helena in jenem Weibe, mit dem er sich kurze Zeit in Rom vergnügte, so sieht er ebenso antikisch „Töchter der Natur" in den Frauen, die die Misere der Revolution zu Liebesdiensten zwang. Das Monströse wie das Modische wird „durchschaut" auf Urformen hin - mehr Verklärung als Aufklärung? Aber was hätte Schiller mit der „schönen Griechin" des „Geistersehers" angefangen? Und Seumes Erotik im Duodezformat, als ihn die .junge schöne Sünderin" (Sdtv, 246) in Rom nach seinem Begehr fragt... Die Platitude ist uns erspart geblieben. 32 Vgl. Alan L. Miller: Power, in: The Encyclopedia of Religion, hg. v. Mircea Eliade, New York u. London 1987, Bd. 11, S. 467-476, bes. S. 469f. 33 Vgl. Michel Foucault: L'archeologie du savoir, Paris 1969, S. 243f. 34 Emst Cassirer: Die Philosophie der Aufklärung (1932), m. e. Einf. v. Gerald Härtung u. e. Bibl. d. Rez. v. Arno Schubbach, Hamburg 1998, S. 460. 35 Schlußgesang in: Friedrich Zell u. Richard Gen6e: Cagliostro in Wien. Operette in drei Akten. Musik v. Johann Strauß [Vater; 1875], Klavierauszug mit Text, Brüssel - London Leipzig 1934 (Ed. Cranz, Nr. 730), S. 188. Ein Blick ins Internet belehrt mich, daß das Stück so unbekannt nicht war und ist. Johannes B. Kerner, Interview m. Hans-Jürgen Jakobs u. Christopher Keil: „Ich habe Biolek immer gerne gesehen" [...], in: Süddeutsche Zeitung, Nr. 240 (18./19. Oktober 2003), S. 20; ich weiß nicht, wer gewonnen hat.
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Beobachtung und Anschauung gepaart mit Einbildungskraft bieten die „natürliche" Zeichenbasis - es können auch ästhetische Gebilde sein, Kupferstiche etwa - , über der Goethe Hypothesen bildet und in sein symbolisches Weltbild einfügt. Abduktion findet praktisch bei jeder Hypothesenbildung statt,37 man kann aber Goethe mit Fug und Recht als einen der bedeutendsten Theoretiker des genannten Syllogismus bezeichnen. In seiner „Sicht" des Veronesischen Amphitheaters, der Laokoon-Plastik, der Urpflanze, ja auch Cagliostros und der HalsbandafFäre sowie in zahlreichen Aphorismen und Bemerkungen hat er die Bedeutung „mentaler Ikone" beim Erkenntnisprozeß hervorgehoben.38 Vielleicht vermag erst eine zukünftige Neurologie das Zusammenwirken der menschlichen Sinnes- und Symbolisierungsleistungen abzuklären.39 Bis zu diesem (fernen) Zeitpunkt kann indessen festgehalten werden: Magie wie Aufklärung bleiben „platt" - wenn auch mit unterschiedlicher Zielsetzung, der Ver- bzw. der Entzauberung - , während Goethes „Anschauungs- und Ableitungs-Weise" (MA 19, 214) den Raum zwischen Zeichen und (dynamischem) Gegenstand mit Anschauung füllt, die er syllogistisch und symbolisch organisiert. Diese epistemologische Dimension wird häufig mit „ H ö h e r e s " oder „Drittes" indiziert, wohingegen Goethe Aberglauben und Alchymie als dem Simile verhaftet kritisiert, als einen „Sprung von der Idee, vom Möglichen, zur Wirklichkeit, eine falsche Anwendung [...], ein lügenhaftes Zusagen" (N 3, 207). Bei Goethe bleibt der Anschauungsraum offen, er wird weder technisch (Magie) noch begrifflich (Philosophie) geschlossen. Verschiedene Formen der Sichtbarkeit sind in einem ästhetischen bzw. imaginativen, kurz: semiotischen Raum angesiedelt, wobei dessen Einheit insofern zu betonen ist, als z.B. im Falle der Geisterseherei zwischen Wahrnehmung und Vorstellung Verwechslungen auftreten können, zumal wenn Vorstellungen von Geistern durch magisch-religiöse Traditionen gestützt wurden, sei es nun des Erlkönigs, sei es der unsterblichen Seele „Mein Sohn es ist ein Nebelstreif. - " (MA 2.1, 75) Diese Semiosphäre,40 die nicht nur sprachlich-diskursiver Natur ist, sondern alle menschlichen
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Vgl. Kiefer: Interaktion - Abduktion - Transgression. Zur Semiotik der literarischen Interpretation in Schule und Hochschule, 7th International Congress of the International Association for Semiotic Studies (LASS/AIS): Sign Processes in Complex Systems, Technische Universität Dresden 6.-11. 10. 1999, Session VIII.2: Teaching as a complex process (im Druck). 38 S. ders.: Wiedergeburt und Neues Leben. Aspekte des Strukturwandels in Goethes Italienischer Reise, Bonn 1978 (Abhandlungen zur Kunst-, Musik- und Literaturgeschichte, Bd. 280), S. 219ff.: Die „Urpflanze" als epistemologische Figur. Vgl. ders.: „Sekunde durch Hirn" - Zur Semiotik und Didaktik des bewegten Bildes, in: MedienBildung im Umbruch. Lehren und Lernen im Kontext der Neuen Medien, u. Mitarb. v. Holger Zimmermann hg. v. Volker Deubel u. dems., Bielefeld 2003 (Schrift und Bild in Bewegung, Bd. 6), S. 41-58. 40 Semiosphäre ist „Welt" sub specie semiotica, vgl. Jurij M. Lotman: Über die Semiosphäre, übers, v. Wolfgang Eismann u. Roland Posner, in: Zs. f. Semiotik, Bd. 12 (1990), H. 4, S. 287-305.
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Sinne und deren Codes umfaßt, konnte mit überkommenen Motiven - z.B. Gespenstern - oder konventionellen - z.B. mechanischen - Begriffen gefüllt werden. Mesmer glaubte magnetische Wirkungen durch „Manipulationen" herzustellen, Gaßner durch Handauflegen, und man erklärte die auf andere Art und Weise zustande gekommenen Effekte mit bekannten Prinzipien: dem Stabmagnetismus bzw. der Glaubenskraft des katholischen Exorzismus. In einer krisenhaften Übergangszeit des wissenschaftlichen Wandels und der Umverteilung der kulturellen Einheiten bildete sich ein Paradigma heraus, das der Literatur erlaubte, die archaischen Bilder und Begriffe „sekundär" weiterzuverwenden: ,Aberglaube ist die Poesie des Lebens, deswegen schadet's dem Dichter nicht abergläubisch zu sein." (MA 17, 747) - Literatur: eine konservative Avantgarde, metamorphotisch. Aber wo damals die Spitze der Erkenntnis war, ist heute die Basis jenes „Dreiecks" kaum angelangt, mit dem Wassily Kandinsky 1912 die künstlerische Evolution veranschaulichte.41 Da sich Sehen und Vorstellen in der Zeit abspielt - der Gegenstand ist „dynamisch" - , anders als es das Speichermedium Sprache und mehr noch Schrift vorspiegelt, forschte nur der erfolgreich, der wie Goethe Sichtbarkeit auf eine gewisse Dauer stellen bzw. sich Entwicklung und Bildung konkret und im Zeitraffer vorstellen konnte. Die durchgewachsene Rose oder Nelke (als Monstrum) verräumlicht Entwicklung in der Zeit, veranschaulicht ein Quasi-Experiment als Basis für Hypothesenbildung. Angesichts der Evidenz der in der Botanik erprobten Strukturierung „aller Zeichen der Natur" (N 6, 446; Β 8, 233) konnte Goethe sowohl ästhetische als auch biographische und historische Gegenstände nach seiner Fa^on zu modellieren hoffen. Ohne Zweifel kann aber weder seine Deutung der Halsbandaffäre noch des direktorialen Experiments visuell nachvollzogen werden, so wie sie sich Goethe in Gänze darstellten - vermutlich in einem blitzartigen abduktiven Aper9u. Schon bei der Laokoon-Interpretation bedurfte es antiker ästhetischer Normen, etwa der „ideal" konnotierten Nacktheit, um eine quasi-gesetzliche Aussage aus einer (bei Fackelschein) scheinbar bewegten Plastik abzuleiten. Goethes „Sicht" des CagliostroSyndroms vor der pseudo-antikischen Herkunft des Protagonisten aus der Magna Graecia ist ebenso vage - clair-obscur - wie die Verkennung der antik be- bzw. entkleideten „Töchter der Natur" des Directoire, wobei dessen Momentaufnahme, wie sie die satirischen Kupferstiche bieten, für Goethe offenbar eine erneute „Umkehrung" der Weltgeschichte darstellte. Was Goethe dabei übersieht, ist schwer auszuloten; nur im Falle der leichtgeschürzten Merveilleusen läßt sich die Fehlleistung exakt beziffern: in den kleinen Summen, die die „Demoiselles Chit-Chit" für ihre Liebes-
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S. Wassily Kandinsky: Über das Geistige in der Kunst, Bern 1970 (9. Aufl., m. e. Einf. v. Max Bill), S. 29.
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mühen forderten.42 Elektromagnetische Wirkungen, selbst in immer größeren Mengen gespeichert, boten dem morphologischen Blick keinen Anhaltspunkt. Hier wird Goethe historisch, sein Werk indessen lebt „symbolisch" fort. Der Magier braucht nicht modernisiert zu werden. Zu danken ist wieder einmal vielen. Da sich die Bearbeitungszeit dieses Bandes über etliche Jahre hinzog - und eigentlich immer nur in wissenschaftlichen Nebenstunden, Rekonvaleszenzzeiten u.ä. voranrückte - , weiß ich fast gar nicht mehr, wer alles an der Abschrift der noch nicht elektronisch gespeicherten Beiträge beteiligt war: vielleicht noch in Bayreuth Hildegard Rupprecht, dann schon in München Cornelia Burauen und last but not least Gabriele Holst, die den Typoskripten eine unendliche Sorgfalt angedeihen ließ. Für Recherchen und Bücherbeschafiung während der letzten Semester seien expressis verbis bedankt: Sabrina Neumair und Heike Reber sowie Nazli Hodaie, die auch das Personenregister erstellte. Ohne Holger Zimmermanns und dann Michael Mainkas redaktorische Mithilfe - Formatierung, Layout, Scanning usw. - hätte der Band nicht gestaltet werden können. Natürlich sind auch viele Serviceleistungen verschiedenster Institutionen an der Entstehung der einzelnen Beiträge beteiligt: genannt seien vor allem die Universitätsbibliothek Bayreuth, die Bayerische Staatsbibliothek München, zahlreiche Museen, Archive und Kupferstichkabinette im In- und Ausland, für deren Copyright im Abbildungsverzeichnis gedankt wird; insbesondere ist auch der Arbeitsstelle des Goethe-Wörterbuches in Tübingen zu danken. Freundlicherweise genehmigten auch der Hanser-, der Kiepenheuer- und der Metzler-Verlag die Weiterverwendung der schon in ihrem Rahmen veröffentlichten Beiträge. Für einen großzügigen Druckkostenzuschuß ist dem Schwaneberger Verlag (München) zu danken, der die weltbekannten Michel-Briefmarkenkataloge herausgibt und der sich lebhaft für den Zusammenhang von Bildung, Schule und kulturellen Praktiken des Alltags, wie etwa der Philatelie, interessiert. Nicht vergessen sei freilich, daß der Deutsch-Französische Hochschullehrer-Austausch mir im Frühjahr 1984 eine Dozentur an der Sorbonne ermöglichte, während der ich den Grundstock „meiner Kupferstich-Sammlung" legen konnte, und die Deutsche Forschungsgemeinschaft hat mehrere Vortragsreisen gefördert, was der Vorstellung und Diskussion meiner Arbeiten auf internationalen Kongressen dienlich war. In diesem Zusammenhang ist auch ein Lehrauftrag anzuführen, den mir die Zürcher Universität im Wintersemester 89/90 zum Thema „ A u f k l ä r u n g und Okkultismus" erteilte. - Nichtsdestoweniger, der Großteil der (erheblichen) Rei42
Vgl. Les Demoiselles Chit-Chit du Palais-Royal. Suivies de la D6claration des droits des citoyennes du Palais, les (Eufs de Päques des demoiselles du Palais-Royal, Petition des 2100 filles du Palais-Royal, Requete present6e par les filles d'amour, Tarif des filles du PalaisRoyal, Nouvelle liste des plus jolies femmes publiques. Pieces revolutionnaires publi6es de 1790 ä 1801, San R6mo 1874.
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se-, Recherche-, Dokumentations- und Publikationskosten wurde aus eigener Tasche bezahlt. Man tut das gewiß nicht nur aus intellektueller Eitelkeit. Vor Abschluß des Bandes wurde mir dankenswerterweise noch Unterstützung zuteil von Hans-Jürgen Lüsebrink (Saarbrücken) und Eberhard Zwink (Stuttgart), und zu guter Letzt sei den Herausgebern Rolf Reichardt und Hans-Ulrich Thamer gedankt, deren Reihe „Ancien Regime, Aufklärung, Revolution" meinen Arbeiten den denkbar besten Rahmen gibt, sowie dem Oldenbourg-Verlag in Gestalt seiner engagierten Lektorin Julia Schreiner.
München, im Zeichen der Sparmaßnahmen Klaus H. Kiefer
1. Kant als Geisterseher1 El suefio de la razon produce monstruos Francisco de Goya: Los Caprichos, 1799
1.1. Ursprungsfragen Die Niederschrift von Kants „Träume eines Geistersehers" fällt in das Jahr 1765. Gründe, warum die Schrift dann im selben Jahr, vorausdatiert auf 1766, anonym erscheint, sind nicht bekannt. Der Verfasser hat sich jedoch privatim durchaus - mit allerlei Vorbehalten zwar - zu seinem Werk bekannt (KT, lllf.). Warum also das öffentliche Versteckspiel? Hatte Kant Furcht vor Obrigkeit und Zensur - die seinen Namen ohnehin erfuhr (KAA 1/2, 501) - oder vor der öffentlichen Meinung - die Swedenborg in der Tat nicht abgeneigt war2 - , oder schämte er sich wirklich seiner Bemühungen um ein Thema, das, wie er mehrfach andeutet, einem Philosophen eigentlich nicht würdig sei? Oder war er sich seiner eigenen Position nur nicht so sicher? Eine provokative These als Antwort: Gerade die scharfe Zäsur, die die Kant-Forschung zwischen Kants „kritischer" und „vorkritischer" Periode zu ziehen beliebt, belegt, daß der klammheimliche und kaum bewältigte Swedenborgianismus des 42jährigen Magisters den orthodoxen KantInterpreten ebenso peinlich war und ist wie diesem selber.3 Man wüßte mehr über Kants Befürchtungen bzw. Intentionen, wenn sein Manuskript bzw. die Druckvorlage mit seinen Korrekturen vorhanden wäre. Indes wurde dem Königsberger Buchhändler und Verleger Johann Jacob Kanter vom Senat der Universität eine Strafe von 10 Reichstalem auferlegt, weil er Kants Manuskript nicht zur Zensur vorgelegt und ohne Imprimatur gedruckt hatte. In einem Schreiben an das Ministerium vom 5. März 1766 erhebt Kanter mit der folgenden Begründung dagegen Einspruch: 1
Vortrag in verschiedenen Fassungen gehalten: am 31. August 1991 an der Ritsumeikan Universität, Kyoto und 21. Oktober 1994 an der Universität Münster; unveröffentlicht. 2 Vgl. Ernst Benz: Swedenborg in Deutschland. F. C. Oetingers und Immanuel Kants Auseinandersetzung mit der Person und der Lehre Emanuel Swedenborgs, Frankfurt/M. 1947, S. 27 Iff. 3 „Geisterseher" ist im übrigen kein ausschließlich pejoratives Prädikat; vgl. Karl Philipp Moritz: Fragmente aus dem Tagebuche eines Geistersehers (1787) [u.a.], Faks. d. Orig.ausg., m. e. Nachw. hg. v. Hans Joachim Schrimpf, Stuttgart 1968, S. 305-424. In Schillers „Geisterseher"-Roman (s. in diesem Band Kap. 10) ist der Begriff allerdings negativ konnotiert.
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1. Kant als Geisterseher
Es ist nemlich das Mscpt. des Mag. Kant höchst unleserlich geschrieben, und wegen seiner dermahligen vorgestandenen Reise nach Goldap blätterweise zum Drucke eingesandt, so dass er bey der Correctur so viel Neuerungen vornehmen müssen, dass dieser tractat nur allererst, nachdem er reine abgezogen worden, in seiner jetzigen Beschaffenheit erschienen, weshalb es dieser Umstände wegen theils den Professoribus unmöglich gewesen, diesen tractat zu censiren, theils aber hätten dieselbe eine ganz andere Schrift censirt, wenn man sie ihnen vor der Abdruckung derselben eingehändigt hätte. (KAA1/2,501)
Die Varianten der beiden im selben Jahr der editio princeps erfolgten Neudrucke bei Johann Friedrich Hartknoch (Riga und Mitau) gegenüber dem Kanterschen Druck sind indessen wenig aufschlußreich. Peinlichkeit scheint im übrigen auch der Anlaß gewesen zu sein, weshalb Ludwig Ernst Borowsky, Bischof von Königsberg, offenbar das Datum eines Kant-Briefes fälschte, in dem Kant noch nicht sein vernichtendes Urteil über den „Erzphantasten unter allen Phantasten" (ThW 2, 966) gesprochen hatte. Im Anhang seiner „Darstellung des Lebens und Charakters Immanuel Kants" hatte Borowsky unter der Überschrift „Wie dachte Kant über Swedenborg im Jahre 1758" einen Brief an Charlotte von Knobloch abgedruckt,4 den man heute auf den 10. August 1763 datiert und der zwei Jahre vor der Geisterseher-Satire einen gegenüber Swedenborg sehr aufgeschlossenen Kant zeigt. Aus der Hyperfalschheit des in Frage stehenden Datums (und zweier anderer) kann zwar tatsächlich geschlossen werden, daß der Editor als Freund und Schüler Kants an dessen definitiver Swedenborg-Kritik keinen Zweifel lassen wollte und dabei u.a. übersah, daß der Brand Stockholms, den Swedenborg televisionär wahrgenommen haben soll - worauf Kant Bezug nimmt - , erst 1759 erfolgte. Allerdings wäre es ein typisch „schwärmerischer" Umkehrschluß,5 wenn aus der eventuellen Fälschung auf die Stimmigkeit eines anderen Datums geschlossen würde, nämlich 1768.6 Dabei wäre es gar nicht nötig gewesen, eine spätere Anerkennung Swedenborgs durch Kant herbeizufälschen, denn, wie relativ gut 4
Ludwig Emst Borowsky: Darstellung des Lebens und Charakters Immanuel Kants. Von Kant selbst genau revidiert und berichtigt [gilt aber nur ausschließlich des Anhangs (veröff. 1804)], in: Wer war Kant? Drei zeitgenössische Biographien [...], hg. v. S. Drescher, Pfullingen 1974; der Brief hier S. 110-116. 5
„Der gewöhnliche Kunstgriff, seiner Unwissenheit den Anstrich von Wissenschaft zu geben, ist, daß der Schwärmende fragt: Begreift ihr die wahre Ursache der magnetischen Kraft, oder kennt ihr die Materie, die in den elektrischen Erscheinungen so wunderbare Wirkungen ausübt? Nim glaubt er mit gutem Grunde von einer Sache, die, seiner Meinung nach, der größte Naturforscher ihrer inneren Beschaffenheit nach ebensowenig kennt als er, auch in Ansehung der möglichen Wirkungen derselben ebensogut mitreden zu können." - so treffend Kant, zit. in: Borowsky: Cagliostro, einer der merkwürdigsten Abentheurer unsres Jahrhunderts. Seine Geschichte nebst Raisonnement über ihn und den schwärmerischen Unfug unsrer Zeit überhaupt, Königsberg 1790 (2. Aufl.), S. 188 = DAO, 453. 6
Dem Swedenborg-Anhänger J. F. Immanuel Tafel zufolge hat Kant nicht vor diesem Zeitpunkt (1768) einen Engländer namens Green kennengelernt, der dann in seinem Auftrag, wie im Knobloch-Brief erwähnt (KT, 102), in Stockholm in Sachen Swedenborg recherchierte (vgl. Benz: Swedenborg in Deutschland, S. 237ff.). Für eine Datierung vor 1765/66 spricht auf jeden Fall, daß Kant im Knobloch-Brief nicht auf seine „Träume" verweist, was 1768 sehr wahrscheinlich gewesen wäre.
1.1. Urspmngsfragen
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bezeugt ist, hat dieser in seinen Vorlesungen über Metaphysik, insbesondere über „rationale Psychologie", Anfang der 90er Jahre das Swedenborgsche Weltbild rehabilitiert - wenn er die Möglichkeit immaterieller Wesenheiten, d.h. also auch von Geistern, jemals verworfen hätte. Auch der späte Kant weiß zwar keine konkrete Antwort auf Fausts swedenborgisierende Frage: „Wie spricht ein Geist zum andern Geist [?]" (MA 6.1, 546, V. 425),7 aber ohne eine „geisterhafte" (quasi animistische) Kommunikation, die ein intelligibles Geisterreich entgegen dem Verdikt der reinen Vernunft voraussetzt, hätte Kants Moralphilosophie keinen Bestand. Diesen Aspekt hat Gottlieb Florschütz' Dissertation über „Swedenborgs verborgene Wirkung auf Kant" klar herausgearbeitet.8 Florschütz' Titel stimmt jedoch nicht sonderlich glücklich: Man sollte die angedeuteten Gemeinsamkeiten von Kant und Swedenborg nicht so stark personalisieren, da beide auf einem gemeinsamen epochalen Sockel aufbauen. Wissen ist stets allgemein, auch wenn bestimmte Diskursformationen etwa durch esoterische Gruppen oder aber durch Autornamen monopolisiert werden können. Gerade was das Transzendentale anbelangt, war das 18. Jahrhundert in viel stärkerem Maße „durchfiktionalisiert", um diesen Ausdruck Odo Marquards zu gebrauchen,9 als man es in Folgezeiten wahrhaben wollte - denn auch das 19., 20. oder gar 21. Jahrhundert schichten Glauben und Wissen lediglich um. Kant „brauchte" also Swedenborg durchaus nicht; ganz im Gegenteil: er konnte ihn gar nicht gebrauchen. Ebensowenig wie Kant von Swedenborg abhängig war, werden Kants frühe „Träume" durch spätere Arbeiten - vor allem die „Kritiken" - entwertet oder annulliert. Auch für die Philosophiegeschichte gilt Claudio Guillens Postulat eines „criticism of becoming"10 und, damit verbunden, auch das relativer Autonomie jeden Textes. Allerdings haben wir nach dem Erbe und Fortwirken der Frühschriften im späteren Werk des Philosophen zu fragen, und mit Hartmut und Gernot Böhme wäre gerade der Ursprung der
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Vgl. Ulrich Gaier: „Könnt' ich Magie von meinem Pfad entfernen" - Swedenborg im magischen Diskurs von Goethes , Jaust", in: Emanuel Swedenborg 1688-1772. Naturforscher und Kundiger der Überwelt. Begleitbuch zu einer Ausstellung und Vortragsreihe in der Württembergischen Landesbibliothek Stuttgart, 29. Januar - 25. März 1988, hg. v. Horst Bergmann u. Eberhard Zwink, Stuttgart 1987, S. 129-139. 8 Vgl. Gottlieb Florschütz: Swedenborgs verborgene Wirkung auf Kant. Swedenborg und die okkulten Phänomene aus der Sicht von Kant und Schopenhauer, Würzburg 1992, S. 145ff. Florschütz' These hatte ich in der ersten Fassung der Studie, die ich am 31. August 1991 an der Ritsumeikan-Universität in Kyoto vorstellte, vor allem aus der Analyse von Kants irrationalistischer Rezeption im Ersten Weltkrieg gewonnen; s. u. Kap. 7. 9 Odo Marquard: Kunst als Antifiktion - Versuch über den Weg der Wirklichkeit ins Fiktive, in: Funktionen des Fiktiven, hg. v. Dieter Henrich u. Wolfgang Iser, München 1983, S. 35-54. 10 Claudio Guill6n: Literature as System. Essays toward the Theory of Literary History, Princeton/NJ 1970, S. 437.
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1. Kant als Geisterseher
kritischen Philosophie Kants in seiner „Geisterseher"-Schrift festzuhalten.11
1.2. Textfunktionen Kants Äußerungen zur Entstehung seiner „Träume" sind widersprüchlich, verfolgen aber allesamt die Absicht, sein ursprüngliches Interesse an Swedenborg zu verbergen. Behauptet er zum einen, daß ihm seine Schrift „gleichsam abgedrungen" (KT, 112) worden sei, so bekennt er aber auch zum anderen, daß er selber durch seine Nachforschungen und zuletzt durch die Anschaffung von Swedenborgs Werken „viel hatte zu reden gegeben" (KT, 113). Die Furcht vor dem „Gespötte" (ebd.), sich mit Okkultem zu befassen, camoufliert12 indessen nur schlecht die Selbsterkenntnis einer unliebsamen „Verwandschaft" (ThW 2, 972), die Kant halbherzig auch zugesteht. Der Philosoph belegt indessen ein weiteres Nachsinnen mit einem energischen Tabu: Ich sage [...] ohne Umschweif, daß, was solche anzügliche Vergleichungen anlangt, ich keinen Spaß verstehe, und erkläre kurz und gut, daß man entweder in Schwedenbergs Schriften mehr Klugheit und Wahrheit vermuten müsse, als der erste Anschein blicken läßt, oder daß es nur so von ohngefahr komme, wenn er mit meinem System zusammentrifft, wie Dichter bisweilen, wenn sie rasen, weissagen, wie man glaubt, oder wenigstens wie sie selbst sagen, wenn sie dann und wann mit dem Erfolge zusammentreffen. (ThW 2,972f.)
Gerade diese polemische Wendung ad lectores belegt ex negative, daß Kant als einer der wenigen den philosophischen Kern jener „acht Quartbände voll Unsinn" (KT, 65), wie er Swedenborgs Hauptwerk, die,Arcana coelestia" bezeichnet, durchschaut hatte, und das war in der Tat nicht nur eine Fleißarbeit. Damit wäre die erstaunte Frage von aufgeklärten Zeitgenossen unseres Jahrhunderts indirekt wohl beantwortet, warum sich ein Kant überhaupt auf diese Lektüre eingelassen hat. Nicht nur im historischen Kontext ist es im übrigen schwer, GattungsdifFerenzen zu erkennen, sondern die neuere Forschung zeigt auch auf, wie nahe Wissenschaft und Mythologie liegen, wie sie beide notwendigerweise von Fiktionen Gebrauch machen.13 Philosophische, okkulte, literarische o.a. Diskurse lassen sich nicht substantiell, sondern letztlich nur kritisch-komparativ unterscheiden, d.h. es gibt keinen archimedischen Punkt außerhalb von Sprache und Text. 11 Vgl. Hartmut Böhme u. Gernot Böhme: Das Andere der Vernunft. Zur Entwicklung von Rationalitätsstrukturen am Beispiel Kants, Frankfurt/M. 1983, S. 250; vgl. schon Benz: Swedenborg in Deutschland, S. 237. 12 Vgl. zu „Camouflage" Algirdas Julien Greimas u. Joseph Court6s: Simiotique. Dictionnaire raisormi de la thiorie du langage, Paris 1979, S. 29. 13 Vgl. Richard Sylvan: Wissenschaft, Mythos, Fiktion: Sie alle überschreiten die Grenzen des Wirklichen und manchmal gar die des Möglichen, in: Zs. f. Semiotik, Bd. 9 (1987), Η. 1, S. 129-152.
1.2. Textfunktionen
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In diesem Zusammenhang kommt die multiple Funktion des Kantschen Textes selber zum Vorschein. Liest man einmal seine Erstlingsschrift von 1746 oder seine „Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels" von 1755, so wird man selten einen ehrgeizigeren jungen Gelehrten finden: „Ich werde meinen Lauf antreten und nichts soll mich hindern, ihn fortzusetzen", (ThW 1,19) so schreibt schon der 22jährige. Wie man mittlerweile weiß, geht die in der letztgenannten Schrift entwickelte Theorie, die unter dem Namen der Kant-Laplaceschen Hypothese Geltung erlangt hat, über eine Sekundärquelle auf Swedenborg selber zurück,14 der bis zu seiner spirituellen Erleuchtung im Jahre 1745, die einen so radikalen wie ominösen Diskurswandel nach sich zog, als genialer Naturwissenschaftler wirkte. Kein Tabu sollte es sein zu fragen, ob die von Kant angestrebte Ernennung zum Professor an seiner Heimatuniversität, die drei Jahre nach Publikation der Swedenborg-Schrift erfolgte,15 gefährdet gewesen wäre, wenn er als Adept des in der Lutherischen Amtskirche in Ungnade gefallenen Sektierers gegolten hätte. Der mehrfache Konfliktknoten ließ sich nur durch so massiven wie subtilen rhetorischen Einsatz auflösen. In dieser Hinsicht und Absicht - nur in anderer Tonlage - ist auch Kants Briefäußerung gegenüber Mendelssohn zu verstehen, dem er seine „Träumerey" - so nennt er die Arbeit euphemistisch - bald nach Erscheinen zugeschickt hatte: „Zwar dencke ich vieles mit der allerkläresten Überzeugung und zu meiner großen Zufriedenheit was ich niemals den Muth haben werde zu sagen; niemals aber werde ich etwas sagen was ich nicht dencke." (KT, 113) Kants brillante Rhetorik leistet also ein Mehrfaches: nicht nur durch ein Dementi dem Karriereknick vorzubeugen, sondern auch Swedenborg in jeder Hinsicht vergessen zu machen - deklassiert er ihn nicht wider besseres Wissen zu einem Mann „ohne Amt und Bedienimg" (KT, 56), schreibt er nicht sogar seinen Namen bewußt falsch: „Schwedenberg"?16 Nicht nur sind epistemologische Gemeinsamkeiten mit dem Konkurrenten zu verheimlichen, sondern sie sollen in eine eigene neue Konzeption der Metaphysik, insbesondere der Moralphilosophie, überführt werden. Diese schwierige, weil eben vielschichtige, Operation gelang so gut, daß Swedenborgs säkularer Ruf vernichtet war, Kant aber Kant werden konnte.
14 Vgl. Hans Hoppe: Die Kosmogonie Emanuel Swedenborgs und die Kantsche und Laplacesche Theorie, in: Emanuel Swedenborg 1688-1772. Naturforscher und Kundiger der Überwelt. Begleitbuch zu einer Ausstellung und Vortragsreihe in der Württembergischen Landesbibliothek Stuttgart, 29. Januar - 25. März 1988, hg. v. Horst Bergmann u. Eberhard Zwink, Stuttgart 1987, S. 30-38. Ich lasse es dahingestellt, ob die von Swedenborg bereits 1734 ausgearbeitete Unterscheidung von a priori- und a posteriori-Urteilen Kant beeinflußt hat. Die „Kritik der reinen Vernunft" erschien bekanntlich 1781. 15 Vgl. Robert H. Kirven: Swedenborg and Kant Revisited: The Long Shadow of Kant's Attack and a New Response, in: Swedenborg and His Influence, hg. v. Erland J. Brock, Bryn Athyn/PA 1988, S. 103-120, hier S. 112. 16 „Schwede" (im Sinne von „alter Schwede") besitzt vermutlich seit dem Dreißigjährigen Krieg (Schwedentrunk etc.) pejorative Konnotationen.
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1. Kant als Geisterseher
1.3. Ironische und epistemologische Strukturen Wenn nun Kant überraschenderweise die Ergebnislosigkeit seiner Nachforschungen zum Anlaß seiner teils satirischen, teils seriösen Abhandlung nimmt, so entspricht dies durchaus der zeitgenössischen Ästhetik, derzufolge Komik entsteht, wenn sich eine „gespannte Erwartung" in Nichts auflöst (ThW 10, 437) - so in Kants eigenen Worten. Bezüglich seiner Swedenborg-Forschungen bekennt der philosophische Shandy - schon Herder (KT, 119) zieht den Vergleich: Er fand — wie gemeiniglich, wo man nichts zu suchen hat — er fand nichts. [Und Kant fügt hinzu:] Nun ist dieses wohl an sich selbst schon eine hinlängliche Ursache, ein Buch zu schreiben; allein es kam noch dasjenige hinzu, was bescheidenen Verfassern schon mehrmalen Bücher abgedrungen hat, das ungestüme Anhalten bekannter und unbekannter Freunde. Überdem war ein großes Werk gekauft, und welches noch schlimmer ist, gelesen worden, und diese Mühe sollte nicht verloren sein. (ThW 2,924)
Damit ist jedoch kein „livre sur rien" gemeint, wie es Gustave Flaubert später plante, vielmehr changiert die Ironie zur gehaltvollen Ambivalenz. Willi Goetschel drückt diesen Sachverhalt in seiner Dissertation über „Kant als Schriftsteller" wie folgt aus: Die „doppelte Ironie" Kants nehme zum Negierten positiv Stellung.17 Diese Spannung findet schon im Titel der Kantschen „Erläuterungen" ihren Ausdruck. Ein Anonymus hat 1786 den mittlerweile „berühmten Verfasser]" (KT, 145) auf seinen „verunglückten Buchtitelwitz" (ebd.) gestoßen: Die angeblichen Träume Swedenborg's sollen also durch andere Träume erläutert werden! Welcher Mensch kan sich wol im Scherz oder Ernste, wirklich oder scheinbar, vorstellen, daß ein Traum den anderen erläutern könnte? Traum ist - Traum. Und wenn ihr zehnmal träumet, wachend oder schlafend, so kann und wird euer zehnter Traum den ersten nicht im mindesten erläutern, so wenig als jenes ägyptischen Pharao's Traum vom zweiten erläutert wurde, sondern der leztere Traum wird euch vielmehr, betreffend den ersteren, in grössere Betrüglichkeiten, Täuschungen oder Zweifelswogen hineinführen. (KT, 146)
Die weiteren Zweifel des Rezensenten am Realitätsbewußtsein gerade der Metaphysik übergehe ich und zitiere gleich seine Schlußfolgerung: „Der Lehrer nun, der nicht im Stande ist, im völligen Wachen eine gewisse Sache zu erläutern und zu erklären, der wirds wol noch weniger im Traume thun können." (KT, 147) Gewiß hat der, der so schreibt, wenig Sinn für das Kantsche Sprachspiel. Der Titel-Parallelismus ersetzt zwar - man kann durchaus sagen: korrektiv - „Geisterseherei" durch „Metaphysik", ein Traum-Dialog bleibt der angekündigte Text aber gleichwohl, vor allem im zweiten Hauptstück des ersten Teils, der „die Gemeinschaft mit der Geisterwelt zu eröffnen" unternimmt, wobei das Prädikat „Träume" im Hinblick auf Swedenborgs Tatsachenberichte „ex auditis et visis" freilich auch eine Abwertung derselben darstellen mag. Gewiß kann das kategoriale Merkmal „Traum", wie es Kant auf seinen eigenen Diskurs bezieht, als 17
Vgl. Willi Goetschel: Kant als Schriftsteller, Wien 1990, S. 88.
1.3. Ironische und epistemologische Strukturen
27
ironische Wiederaufnahme des Vokabulars des zu überwindenden Parteigegners gedeutet werden, es färbt jedoch auch inhaltlich ab. „Traum" gilt zwar Kant so viel wie „Entwurf oder „Neukonzeption", dennoch hat die metaphorische Prädikation zur Folge, daß die von Descartes geschaffene Grenze von Traum und Bewußtsein ins Wanken gerät.18 Worum es Kant geht, ist ebenso spiritueller Natur wie Swedenborgs Visionen, die lediglich „er"- oder besser: „ge"-läutert zu werden brauchen. Damit wäre vor allem die Defigurierung oder Entbildlichung des okkulten Diskurses bezeichnet: der übliche Erkenntnisweg von ikonischen zu symbolischen, d.h. abstrakten Zeichengebilden. Trotz der Entschiedenheit seiner Geisteraustreibung gefallt sich Kant ja selbst in eigenen „geistreichen" Spekulationen, bedarf er bei aller Selbstkritik, die in der Titelgebung wohl auch mitschwingt, einer Fiktionalität, die ihm kategorial nur Traum oder Literatur bieten wenn wir nicht selbst an Geister glauben wollen und stattdessen in der Semiosphäre des 18. Jahrhunderts19 nach einem Ort suchen, wo sie problemlos erscheinen können - in der Literatur. Kant hat selber Auskunft darüber gegeben, weshalb er einem ersten Teil seiner Schrift, „welcher dogmatisch ist", einen zweiten folgen läßt, „welcher historisch ist" (KT, 7, 55). Dieser theoretische Aufbau, seinem Text einen axiomatisch-deduktiven, und d.h. wissenschaftlichen, Anschein zu verleihen,20 kreuzt sich mit seiner schon erwähnten ironischen Strategie, „andern dadurch zuvorzukommen", daß er über sich selbst zuerst spotte (KT, 113). Gegen den Verdacht einer „Hinterlist" bei dieser „Zuvorkommenheit" wendet er sich wohlweislich selber, allerdings an weit fortgerückter Stelle, im vorletzten Kapitel (von sieben), nachdem der Leser schon die Wirkung des Kantschen Verfahrens erfahren hat: Ich kann es dem behutsamen Leser auf keinerlei Weise übel nehmen, wenn sich im Fortgange dieser Schrift einiges Bedenken bei ihm geregt hätte über das Verfahren, das der Verfasser vor gut gefunden hat darin zu beobachten. Denn da ich den dogmatischen Teil vor dem historischen, und also die Vernunftgründe vor der Erfahrung voranschickte, so gab ich Ursache zu dem Argwohn, als wenn ich mit Hinterlist umginge, und, da ich die Geschichte schon vielleicht zum voraus im Kopfe gehabt haben mochte, mich nur so angestellet hätte, als wüßte ich von nichts, als von reinen abgesonderten Betrachtungen, damit ich den Leser, der sich nichts dergleichen besorgt, am Ende mit einer erfreulichen Bestätigung aus der Erfahrung überraschen könnte. (ThW 2,971)
In der Tat liegt der textuellen Syntax der „Geisterseher"-Schrift, ihrem ordo artificalis, eine gegenläufige, ja eine völlig anders geartete epistemologische Struktur zugrunde. Einerseits hatte Kants Bemühung um ein Verständnis von Swedenborgs Visionen damit eingesetzt, „daß er so treuherzig war, der Wahrheit einiger Erzählungen von der erwähnten Art nachzuspü-
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Vgl. Stefan Niessen: Traum und Realität. Ihre neuzeitliche Trennung, Würzburg 1993. Vgl. Jurij M. Lotman: Über die Semiosphäre, übers, v. Wolfgang Eismann u. Roland Posner, in: Zs. f. Semiotik, Bd. 12, H. 4 (1990), S. 287-305. 20 Vgl. Sylvan: Wissenschaft, Mythos, Fiktion, S. 140. 19
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1. Kant als Geisterseher
ren" (ThW 2, 924), wie er auch dem Fräulein von Knobloch detailliert berichtet (KT, 102ff.), und diese Erzählung von Erzählungen konnte logisch auch gar nicht abgeschlossen werden - denn wie wäre von Erzählung positive Erfahrung abzuleiten, die zu einer Gesetzesaussage (KT, 6) hätte induziert werden können? Andererseits ändert sich am paradigmatischen Aufbau des Sachverhalts nichts. Die epistemologischen Strukturen werden lediglich - wenn mir das Wortspiel gestattet sei - „entgeistert", dafür aber um so mehr „vergeistigt". Da Kant das rhetorisch überzeugende, theoretisch aber zweifelhafte Unternehmen nicht eigentlich durchschaut, „erschleicht" er sich die apriorischen Erkenntnisse seiner Geisterseher-Kritik ebenso wie diejenigen, die durch „geheime und dunkle Schlüsse" die gegensätzliche Position eines Glaubens an die Materialität von Geistererscheinungen aufbauen (KT, 8). Wie schon bemerkt, hält er sich diese Konfrontation mit seinen Vorurteilen durch rhetorische Kunstgriffe vom Leibe (ThW 2, 971). Damit kann er Denkstrukturen Swedenborgs oder der Epoche unbedacht und unbedenklich selber weiterbenutzen.
1.4. Worte und Gespenster Die Frage, ob das 18. Jahrhundert ein „siecle des lumieres" oder ein „sidcle des t6nebres"21 sei, haben bereits Zeitgenossen abzuwägen versucht. Dabei waren sie sehr viel skeptischer - auch Kant z.B. - als die gegenwärtige Forschung. Der unbestreitbare öffentliche Erfolg der Aufklärung bis heute hat nämlich zwiespältige Folgen: sie wurde einerseits in einem dem 18. Jahrhundert unausdenkbaren Maße popularisiert, andererseits hat sie sich zu einem philosophischen Spezialdiskurs verengt, der sich dadurch, daß er sich seine Geschichte selber geschrieben hat, verabsolutierte. Die Asymmetrie von Aufklärung und Okkultismus wurde dadurch verkehrt. Gerade Kants berühmte „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?" ist ja umbrandet von einer Sturmflut des Okkultismus, die, wie etwa Christoph Martin Wieland feststellt, „unsre Zeit, all ihrer gerühmten Aufklärung zu Trotz, auf einmahl in die dickste Verfinsterung der barbarischen Jahrhunderte zurück zu stürzen scheint" (WAA 1/14, 327). Auch Kant schreibt zur Einleitung des ersten Teils seiner „Träume eines Geistersehers": „Wenn all dasjenige, was von Geistern der Schulknabe herbetet, der große Haufe erzählt, und der Philosoph demonstriert, zusammen genommen wird, so scheinet es keinen kleinen Teil von unserm Wissen auszumachen." (KT,
7) Es ist somit reine Spiegelfechterei, wenn Kant zunächst behauptet, nicht zu wissen, was das Wort „Geist" bedeute (KT, 8), zitiert er doch in der Abbi Fiard: La France trompie par les magiciens et d6monolätres du dix-huiti&ne siÄcIe, Paris 1781, zit. n. Kay S. Wilkins: Some aspects of the irrationel in 18th century France, in: Studies on Voltaire and the Eighteenth Century, Bd. 140 (1975), S. 107-201, hier S. 126.
1.4. Worte und Gespenster
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Folge mehrfach „Geister": vernunftbegabte immaterielle Wesen (KT, 12), Gott (KT, 10) oder die menschliche Seele (KT, 14, 18), spricht er doch ungeniert von einem „geistigen Wesen", das der Materie „innigst gegenwärtig" sei (KT, 19) usw. Es scheint eine von Kants großen Illusionen zu sein, von den „Erziehungsbegriffen" seiner Zeit, wie er sie selber treffend nennt (ThW 2, 958), durch philosophische Reflexion und Abstraktion loskommen zu können. „Philosophie nährt sich von Abstraktionen, Schwärmerei auch", schreibt der „Teutsche Merkur" 1776.22 Herbert Schnädelbach hat im übrigen herausgestellt, daß es keinen Irrationalismus gebe, solange überhaupt argumentiert werde.23 Daß wir heute Kant favorisieren und nicht hinter ihn zurückgehen wollen und können, ist Teil seiner Wirkungsgeschichte. Bekanntlich sucht sich Kant Erfahrungserkenntnisse hinsichtlich der Swedenborgschen Geisterseherei durch Interviews zu verschaffen - Auftragsarbeit, bei der er selber hübsch zu Hause an seinem Schreibtisch bleibt. Damit geht der „damals aufblühende Herr Magister" (KT, 152) zunächst denselben Weg zur Wahrheit wie der unverbesserliche Johann Heinrich Jung-Stilling in seiner späteren „Theorie der Geisterkunde" (1808), nämlich den über die Glaubwürdigkeit der Augen- und Ohrenzeugen, die wiederum von vertrauenswürdigen Mittelsmännern befragt und überprüft werden. Kants Bericht von seinen Recherchen im Brief an Charlotte von Knobloch wimmelt von einschlägigen Legitimationsformeln: Freundschaft, Ansehen, Ehrlichkeit, Vernunft usw. (KT, 102) - allesamt Propositionen, aber keine einschlägigen Fakten. Die ganze fur uns heute so überaschende Glaubensseligkeit des Jahrhunderts der Aufklärung war - gerade das Beispiel Kants zeigt es - im Grunde ein Sprachglaube, ein Wortglaube: Mit Worten läßt sich trefflich streiten, Mit Worten ein System bereiten, An Worte läßt sich trefflich glauben, Von einem Wort läßt sich kein Jota rauben. (MA 6.1,589, V. 1997-1999)
So Mephisto in der Schülerszene. Angesichts dieser grundsätzlichen Problematik können wir uns in der Tat die wörtliche Nacherzählung der Swedenborgschen Wunder und Visionen selber ersparen (KT, 103ff.). Es handelt sich um banale Formen des Fern- und Hellsehens sowie um Begegnungen der „dritten Art" - um Geisterkontakte.24 Paradoxerweise hat Kant
22
Anonym: Philosophie und Schwärmerei, zwo Schwestern, in: Der Teutsche Merkur, November 1776, S. 138-149, hier S. 138. 23 Vgl. Herbert Schnädelbach: Über Irrationalität und Irrationalismus, in: Oer Wissenschaftler und das Irrationale, hg. v. Hans Peter Duerr, Bd. 2: Beiträge aus Philosophie und Psychologie, Frankfurt/M. 1981, S. 155-164; vgl. auch ders.: Vernunft, in: Philosophie. Ein Grundkurs, hg. v. Ekkehard Martens u. dems., Reinbek/H. 1986, S. 77-115. 24 Vgl. die Klassifikation bei Florschütz: Swedenborgs verborgene Wirkung auf Kant, S. 1 Iff.
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1. Kant als Geisterseher
mit der Wiedergabe dieser Geschichten zu ihrer Bekanntheit, und d.h. zu ihrem Erfolg, erheblich beigetragen. Man könnte die meisten Geister- und Wundergeschichten ohnehin „Erfolgsgeschichten" nennen, denn vom propositionalen „output" eines Geistersehers wird in der Regel nur das weitererzählt, was eine scheinbare Bestätigung fand; daher auch der meist anekdotische Charakter der Geistererscheinungen. Swedenborgs „Arcana coelestia" dagegen sind, jedenfalls in den Teilen, die uns hier interessieren, ein fiktionaler, ja „surrealer" Text, der seine Fiktionalität lediglich nicht bekennt.25 Obwohl er eigentlich keinen Grund hätte, von seinen Informanten enttäuscht zu sein, bekennt Kant in der Vorrede seiner Schrift „mit einer gewissen Demütigung", er habe in der Tat, wo nichts zu suchen war, auch „nichts" gefunden (KT, 6). Was hat er denn dann aber überhaupt gesucht? Und mit welcher Hoffnung? - Und kann man „nichts" finden? Der Gegenstand verschwindet offenbar in der Negation, doch wir dürfen wohl vermuten: Kant suchte einen verbalen oder narrativen Referenzakt, einen Brückenschlag zwischen Wort und real existierendem Geist, statt wie Johann Georg Hamann beim „ästhetischen und logischen Vermögen" (SzS, 226) von Wörtern überhaupt anzusetzen. John R. Searle beschreibt die Zirkularität von Referenzakt und Referenzobjekt wie folgt: „[...] a precondition of any successfully performed reference is the existence of the object refered to (axiom of existence). And consequently the proposition containing that reference cannot be true if the proposition that the object exists is not true."26 Damit kommen wir auf eines der Grundprobleme der Kantschen Philosophie, einerseits nämlich immer „gegen die Sprache"27 denken zu wollen, andererseits aber den sprachlichen Repräsentationen dieser Gegnerschaft voll zu vertrauen. Freilich wäre diese These zu präzisieren: Es handelt sich nicht eigentlich um Gegnerschaft, sondern - wertfrei gesprochen - um eine epochaltypische Naivität. Manfred Frank weist zu Recht darauf hin, daß die Hermeneutik „eine romantische Erfindung"28 sei und daß bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts - ja weit darüber hinaus - die Auslegung als ein „spezifisches Problem in den sprachbezogenen Wissensformen" keine Rolle spiele.29 Eine prästabilisierte Harmonie macht seit Des-
25
Vgl. Wolfgang Iser: Akte des Fingierens oder Was ist das Fiktive im fiktionalen Text?, in: Funktionen des Fiktiven, hg. v. Dieter Henrich u. Wolfgang Iser, München 1983, S. 121-151, hierS. 136f. 26 John R. Searle: Speech Acts. An Essay in the Philosophy of Language, London u. New York 1976 (6. Aufl.), S. 160. 27 Günter Wohlfahrt: Hamanns Kantkritik, in: Kant-Studien, Jg. 75 (1984), S. 398-419, hier S. 401. 28 Manfred Frank: Die Grenzen der Beherrschbarkeit der Sprache. Das Gespräch als Ort der Differenz zwischen Neostrukturalismus und Hermeneutik, in: Text und Interpretation. Deutsch-französische Debatte [...], hg. v. Philippe Forget, München 1984, S. 181-214, hier S. 182. 29 Ebd., S. 183.
1.4. Worte und Gespenster
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cartes' „Regulae ad directionem ingenii" die grammatisch korrekte Rede zu einer unmittelbaren und verläßlichen Repräsentation. Obwohl es verfehlt wäre, Kant vorzuwerfen, daß er nicht mehr Sprachphilosoph gewesen sei, als er sein wollte, scheint er auf seinem Weg zur „Kritik" zentrale Sprachprobleme außer Acht gelassen zu haben, die von Zeichen, Referenz und Fiktion. Kants elementare Fallazität - oder einfach: Historizität - ist als solche noch in den „Träumen eines Geistersehers" erkennbar, wird aber später bis zur phänomenologischen Unscheinbarkeit einer Struktur verdichtet, denn was von den Geistern gilt, gilt erst recht von unsichtbaren Strukturen, in die sich Kant im Sinne Humboldts „einspinnt",30 indem er den kritischen Diskurs zu ihrer Überwindung entwickelt. Das Problem kann anhand eines Hamann-Zitats beleuchtet werden. Hamann schreibt: Wörter haben [...] ein ästhetisches und logisches Vermögen. Als sichtliche und lautbare Gegenstände gehören sie mit ihren Elementen zur Sinnlichkeit und Anschauung, aber nach dem Geist ihrer Einsetzung und Bedeutung, zum Verstand und Begriffen. Folglich sind Wörter sowohl reine und empirische Anschauungen, als auch reine und empirische Begriffe·, empirisch, weil Empfindung des Gesichts oder Gehörs durch sie bewirkt; rein, in so fern ihre Bedeutung durch nichts, was zu jenen Empfindungen gehört, bestimmt wird. Wörter als unbestimmte Gegenstände empirischer Anschauungen, heissen nach dem Grundtext der reinen Vernunft, ästhetische Erscheinungen: folglich sind nach der ewigen Leyer des antithetischen Parallelismus, Wörter als unbestimmte Gegenstände empirischer Begriffe, kritische Erscheinungen, G e s p e n s t e r , Nicht- oder Unwörter, und werden nur durch ihre Einsetzung und Bedeutung des Gebrauchs zu bestimmten Gegenständen für den Verstand. Diese Bedeutung und ihre Bestimmung entspringt, weltkundiger maaBen, aus der Verknüpfung eines a priori willkührlichen und gleichgiltigen, a posteriori aber nothwendigen und unentbehrlichen Wortzeichens mit der Anschauung des Gegenstandes selbst, und durch dieses wiederholte Band wird dem Verstände eben der Begriff vermittelst des Wortzeichens als vermittelst der Anschauung selbst mitgetheilt, eingeprägt und einverleibt. (SzS, 226; Sperrung Kf)
Natürlich ist es hier unmöglich, die furiose, ja gewaltsame Übertragung der Hamannschen Sprachtheorie auf Kants Transzendentalphilosophie kritisch zu würdigen, zumal es ja in diesem Rahmen auch nicht möglich ist, in eine Interpretation der „Kritik der reinen Vernunft" einzutreten. Hamanns Prädikation der „Wörter als unbestimmte Gegenstände empirischer Begriffe" als „Gespenster" (oder „Geister") kann aber aus dem gegebenen Kontext gelöst werden, und was bedeutet nun diese prädikative Gleichung sowohl für die Wörter als auch für die Gespenster? Wörter und Gespenster erscheinen zwar, d.h. werden empfunden, und bedeuten auch etwas, aber ihre Bedeutung wird „durch nichts, was zu jenen Empfindungen gehört, bestimmt". Sie sind a priori willkürlich, und nur a posteriori werden im Zeichen Anschauung und Begriff zusammengebracht. Hamann nimmt hier, nebenbei bemerkt, semiotische bzw. pragmasemiotische Einsichten vorweg. Kants Nachforschungen hinsichtlich der Swedenborgschen Geistererzählungen laufen im Lichte dieser Vorüberlegungen zwar ganz richtig auf der a posteriori-Schiene, allerdings lassen sie ganz den Gebrauchsaspekt,
30 Vgl. Wilhelm von Humboldt: Werke in fünf Bänden, hg. v. Andreas Flitner u. Klaus Giel, Darmstadt 1963 (4., unveränd. Aufl.), Bd. 3: Schriften zur Sprachphilosophie, SS. 224,434.
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1. Kant als Geisterseher
der Hamann zufolge Wort und Begriff verbindet, außer Acht. Auf der a priori-Schiene kann aber gar nichts anderes als eben diese Willkürlichkeit erkannt werden, wie denn auch Kant feststellt: „Man kann [...] die Möglichkeit immaterieller Wesen annehmen ohne Besorgnis widerlegt zu werden, wiewohl auch ohne Hoffnung, diese Möglichkeit durch Vernunftgründe beweisen zu können." (ThW 2,929)
1.5. Autor - Fiktionen Auf dem Weg zur Referenz stößt Kant auf eine unüberwindliche Barriere, einen „block", wie es Keith S. Donnellan nennt,31 nämlich die Autorschaft Swedenborgs selber. Wie heißt es doch in Kants erwähntem Brief an Charlotte von Knobloch: „Er [Swedenborg] sagte diesem [Kants englischem Informanten] ohne Zurückhaltung, daß Gott ihm die sonderbare Eigenschaft gegeben habe, mit den abgeschiedenen Seelen nach seinem Belieben umzugehen." (KT, 102; Hervorh. Kf) Einleitend in die „Himmlischen Geheimnisse" bekundet der Verfasser nichts anderes, als daß ihm nämlich vermöge der göttlichen Barmherzigkeit vergönnt worden sei, schon einige Jahre lang fortwährend und ununterbrochen im Umgang mit Geistern und Engeln zu sein, sie reden zu hören, und wieder mit ihnen zu reden, daher staunenswerte Dinge im andern Leben zu hören und zu sehen gegeben worden, die nie zu eines Menschen Kenntnis, noch in seine Vorstellung gekommen sind [...]. (HG 1,1)
Der „block" ist also, noch einmal verdeutlicht - denn die diskursiven Funktoren, Wörter wie „sagen" oder, jeden", sind ja so unscheinbar klein - der Autor selber, dessen fiktionale Rückhaltslosigkeit, seine „sonderbare Eigenschaft", ontologische Grenzen zu überschreiten. Die Legendenbildung durch den (literarischen) Hyperzyklus des „Hörensagens" (ThW 2, 969f.) funktionierte erfolgreich, wobei die Unterstützung durch das religiöse Erbe der Zeitgenossen kommentarlos in Rechnung zu stellen wäre, ein (gleichfalls literarisches) Erbe, das sich in sektiererischen oder esoterischen Umtrieben Ersatz schuf für seine zeitgenössischen Infragestellungen. Schiller z.B. führt den Romanhelden seines „Geisterseher"-Romans „durch Freigeisterei" (NA 16, 418), d.h. durch nihilistische Prüfungen - die er nicht besteht - , nicht zufallig in den Schoß der katholischen Kirche zurück. Es gab keinen anderen Schonraum vor dem semiotisch-literarisch arbiträr gewordenen Denken, das auf die Moderne vorausweist. Die Materialismus-Furcht Schillers32 drückt sich in dem Wort des Prinzen aus: „Zei-
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Keith S. Donnellan: Speaking of Nothing, in: The Philosophical Review, Bd. 83 (1974), S. 3-31, hier S. 23. Das Modell ließe sich auch auf Gottesbeweise übertragen. 32 Vgl. Harald Steinhagen: Der junge Schiller zwischen Marquis de Sade und Kant. Aufklärung und Idealismus, in: Deutsche Vierteljahresschrift fur Literatur- und Geistesgeschichte 56 (1982), S. 135-157.
1.5. Autor - Fiktionen
33
gen Sie mir ein Wesen, das dauert, so will ich tugendhaft sein." (NA 16, 161) Thomas G. Pavel hat den Begriff des fiktionalen Erfolgs am Beispiel des mythischen Weltbilds der Antike erläutert: „From a 20th century strongly normative point of view, the citizens of 5th century B. C. Athens lived in a perpetual state of reference failure. But from a merely descriptive point of view, their references to gods and goddesses were entirely successful."33 Mit seinem Postulat einer „komplexen Ontotogie"34 öffnet Pavel freilich allen Geistern und Gespenstern Tor und Tür. Der Relaxierung und Relativierung unserer eurozentrischen und logozentrischen Referenzpraktiken kann allerdings nur partieller Einhalt geboten werden. Hierzu greife ich eine Unterscheidimg Nelson Goodmans auf, nämlich die zwischen einstelligen und zweistelligen Repräsentationen. Ein Fabeltier wie „Einhorn" stattdessen könnte man auch von „Geistern" sprechen das in Ausdrücken auftaucht wie: „x ist ein Bild von einem Einhorn" oder „x stellt ein Einhorn dar", sei - so Goodman - eine (einstellige) Repräsentation mit „NullDenotation",35 verleite jedoch leicht zu (zweistelligen) Existenzschlüssen. Goodman stellt jedoch kategorisch fest: „From the fact that Ρ is a picture of or represents a unicorn we cannot infer that there is something that Ρ is a picture of or represents."36 Die bildliche oder verbale Darstellung eines (fiktiven) Tieres namens Einhorn nennt Goodman ein „unicom-picture" bzw. eine „unicorn-description", und er schreibt den oben zitierten Satz, um seine (Null-)Extension deutlich zu machen mit Bindestrichen: „x ist ein Bild-von-einem-Einhorn". Diese „Bilder von" oder „Beschreibungen von" können anhand von Beispielen gelernt und sprachlich vermittelt werden, ohne daß man jemals ein entsprechendes Denotat vor Augen gehabt haben muß. 37 Und so muß es denn wohl auch sein! Mit Kant zu sprechen, wären sie in der Tat „Erziehungsbegriffe" (ThW 2, 940 u. 958). Ob nun aber ein Bild oder eine Beschreibung tatsächlich nichts denotieren oder nur die Zeichenfunktion der Designation ausüben, hängt von den Spielregeln der jeweiligen Diskurswelt, der Semiosphäre ab. Goodman läßt indes keinen Zweifel daran, daß Fälle von „unbestimmter Denotation" eher die Regel als die Ausnahme darstellen.38 33
Thomas G. Pavel: Fiction and the Causal Theory of Names, in: Poetics, Bd. 8 (1979), S. 179-191, hier S. 187. 34 Ebd. 35 Nelson Goodman: Languages of Art. An Approach to a Theory of Symbols, Brighton/Suss. 1981 (3. Aufl.), S. 21. 36 Ebd., S. 22. 37 Vgl. ebd., S. 24f.; vgl. die Abb. von Einhörnern in: Emblemata. Handbuch zur Sinnbildkunst des XVI. und XVII. Jahrhunderts, hg. v. Arthur Henkel u. Albrecht Schöne, Stuttgart 1967, S. 420-423. 38 Vgl. Jens F. Ihwe: Fiktion ohne Fiktionen. Nelson Goodmans Beitrag zur Aktualität „nichtexistenter" und „fiktionaler" Objekte, in: Zs. f. Semiotik, Bd. 9 (1987), Η. 1, S. 107-127, bes. S. 115.
34
1. Kant als Geisterseher
1.6. Mesmeristische Aspekte Wenn Kant nach seiner reductio ad absurdum die „ganze Materie von Geistern" als „abgemacht" beiseite legt (ThW 2, 964), so schüttet er keineswegs das Kind mit dem Bade aus. Der „AUeszermalmer" ist vielmehr inkonsequent, insofern er den Begriff der Immaterialität im Falle von Swedenborgs Geistern radikal verwirft, im Falle des Sittengesetzes aber beibehält. Sein nicht gerade ingeniöses Gedankenexperiment im ersten Hauptstück des ersten Teils - man denke: Geister zu Klumpen geballt! (KT, 9) - vermag es immerhin, allzu konkrete oder gar figürliche Geist-Bilder auszugrenzen (ThW 2, 929f.); allerdings wirken andere Vorurteile bei Kant unvermindert fort: Er nimmt an, (1.) daß die Seele des Menschen immateriell und so etwas wie ein Geist sei (ThW 2, 931, 934), (2.) daß das „Prinzipium des Lebens" immaterieller und insofern geistiger Natur zu sein scheint (ThW 2, 934, Anm.) und schließlich (3.) daß Gott ebenfalls ein Geist, aber ein unendlicher sei (ThW 2, 927). Der „Urheber und Erhalter" des Weltganzen wird aber „außerhalb des Weltganzen" verwiesen (ebd.). Es mag sein, daß sich Kant mit diesem Euphemismus für „Gott" vor einem SpinozismusVerdacht und dem Zugriff der Zensur oder dem schon erwähnten Karriereknick bewahren wollte. Die Materialismus-Gefahr war für Kant gravierender als ein eventueller Okkultismus-Verdacht, ja er führt selbst das Prädikat der Körperlichkeit von Geisterscheinungen als akzidentiell in einem Nebensatz wieder ein: Diese immaterielle Welt [...] kann als ein vor sich bestehendes Ganze angesehen werden, deren Teile untereinander in wechselseitiger Verknüpfimg und Gemeinschaft stehen, auch ohne Vermittelung körperlicher Dinge, so daß dieses letztere Verhältnis zufällig ist und nur einigen zukommen darf, ja, wo sie auch angetroffen wird, nicht hindert, daß nicht eben die immaterielle [sie] Wesen, welche durch die Veimittelung der Materie ineinander wirken, außer diesem noch in einer besondern und durchgängigen Verbindung stehen, und jederzeit untereinander als immaterielle Wesen wechselseitige Einflüsse ausüben, so daß das Verhältnis derselben vermittelst der Materie nur zufällig und auf einer besonderen göttlichen Anstalt beruhet, jene hingegen natürlich und unauflöslich ist. (ThW 2,937f.)
Ich will nun nicht schildern, wie Kant immer mehr ins metaphysische „Träumen" gerät (vgl. ThW 2, 941), so wie es der Titel seiner Schrift ja auch angekündigt hat, ja er erteilt sich selbst als Verfasser noch einmal ausdrücklich die poetische Lizenz dazu: Es ist [...] so gut als demonstriert, oder, es könnte leichtlich bewiesen werden, wenn man weitläuftig sein wollte, oder noch besser, es wird künftig, ich weiß nicht wo oder wenn, noch bewiesen werden: daß die menschliche Seele auch in diesem Leben in einer unauflöslichen verknüpften Gemeinschaft mit allen immateriellen Naturen der Geisterwelt stehe, daß sie wechselweise in diese wirke und von ihnen Eindrücke empfange, deren sie sich aber als Mensch nicht bewußt ist, so lange alles wohl steht. (ThW 2, 941; Hervorh. Kf)
Daß er hier wahrlich nicht „die behutsame Sprache der Vernunft" (ebd.) spricht, möchte Kant in einem nachgeschobenen Forschungsdesiderat verbergen:
1.6. Mesmeristische Aspekte
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Es würde schön sein, wenn eine dergleichen systematische Verfassung der Geisterwelt, als wir sie vorstellen, nicht lediglich aus dem Begriffe von der geistigen Natur überhaupt, der gar zu sehr hypothetisch ist, sondern aus irgendeiner wirklichen und allgemein zugestandenen Beobachtung könnte geschlossen, oder auch nur wahrscheinlich vermutet werden. (ThW 2,942)
Das Geisterseher-Projekt war also aufgeschoben, nicht aufgehoben. Kant hätte, mit Karl Moor zu sprechen, indes sehr wohl „geholfen" werden können.39 Genau im Jahre der Veröffentlichung der Kantschen „Träume eines Geistersehers" legt Franz Anton Mesmer in Wien eine „Dissertatio Physico-Medica de Planetarum Influxu" vor, deren Inhalt und Bedeutung der Verfasser in seiner , Abhandlung über die Entdeckung des thierischen Magnetismus" wie folgt beschreibt: Meine Gedanken, über diesen Gegenstand, gab ich 1766 in Wien in einer Abhandlung: Vom Einfluß der Planeten in den menschlichen Körper heraus. Nach [...] bekannten, durch Erfahrung bestätigten Grundsätzen, der allgemeinen Attracktion, die uns überführen, daß ein Planet auf den anderen in seiner Laufbahn wirkt, und daß Mond und Sonne, auf unserer Erde, Ebbe und Fluth so wohl im Meer, als im Dunstkreis verursachen und lenken; behaupte ich: Diese Weltkörper wirken auch gerade zu auf alle wesentliche Bestandteile lebendiger Körper, vorzüglich aber auf das Nerven-System, vermittels einer alles durchdringenden Flüssigkeit [fluide]. 40
Nicht nur deshalb, weil Mesmers Kosmologie der Wechselwirkungen schlechthin alles erklärt, paßt auch Kants Moralkonzeption in ihren Rahmen - auch Zeitgenossen sahen die Verbindung mit Swedenborg.41 Der Mesmerismus erscheint, zumal in seiner romantischen Generalisierung42, als die konkrete Erfüllung des sittlichen Utopismus Kants. Dieser aber lehnt jenen fast kommentarlos ab (ThW 2, 987) - wie im übrigen auch Goethe - und weiß 1790 auf die Anfrage des Königsberger Bischofs, des bereits genannten Borowsky, wie denn dem Übel der .jetzt so überhand nehmenden Schwärmerei abgeholfen werden" könne, keinen besseren Rat, als nach der Polizei zu rufen: Wider diesen Unfug ist nun nichts weiter zu tun, als den animalischen Magnetiseur magnetisieren und desorganisieren zu lassen, so lange es ihm und andern Leichtgläubigen gefällt; der Polizei aber es zu empfehlen, daß der Moralität hierbei nicht zu nahe getreten werde [...]. Weitläufige Widerlegung ist hier wider die Würde der Vernunft und richtet auch nichts aus [...]. (KBr 446)
Daß diese Meinung nicht für den Kant der 60er Jahre gilt, ist mit einem Zitat aus den „Träumen" leicht zu belegen; hier stellt er sich nämlich die Frage:
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Vgl. dagegen Florschütz: Swedenborgs verborgene Wirkung auf Kant, S. 51. Franz Anton Mesmer: Abhandlung über die Entdeckung des thierischen Magnetismus. Aus dem Französischen übersetzt, Karlsruhe 1781, S. 8f. 41 Vgl. Benz: Theologie der Elektrizität. Zur Begegnung und Auseinandersetzung von Theologie und Naturwissenschaft im 17. und 18. Jahrhundert, Mainz 1970, S. 70. 42 Vgl. Friedrich [Franz; Kf] Anton Mesmer: Mesmerismus. Oder System der Wechselwirkungen, Theorie und Anwendung des thierischen Magnetismus als die allgemeine Heilkunde des Menschen, hg. v. Karl Christian Wolfart, Berlin 1814. 40
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1. Kant als Geisterseher
Sollte es nicht möglich sein, die Erscheinung der sittlichen Antriebe in den denkenden Naturen, wie solche sich auf einander wechselweise beziehen, gleichfalls als die Folge einer wahrhaftig tätigen Kraft,, dadurch geistige Naturen ineinander fließen, vorzustellen, so daß das sittliche Gefühl diese empfundene Abhängigkeit des Privatwillens vom allgemeinen Willen wäre, und eine Folge der natürlichen und allgemeinen Wechselwirkung, dadurch die immaterielle Welt ihre sittliche Einheit erlangt, indem sie sich nach den Gesetzen dieses ihr eigenen Zusammenhangs zu einem System von geistiger Vollkommenheit bildet? (ThW 2,944)
Dieser geistdurchwirkte „Rapport" - um es gleich magnetistisch auszudrücken - grundiert auch noch Kants spätere Moralphilosophie. Versteht sich, daß ihn Swedenborgs „Sprache der Engel" ganz besonders interessiert hatte und zugleich peinlich war, denn sie realisiert problemlos als und in der Fiktion, was sich der Philosoph, sei es nur erträumen kann, sei es, wie Swedenborg spöttisch schreibt, „vernünfteln" muß. (HG 3, 5) Während ein Geist aber „in eines andern Geistes Gedächtnis" (ThW 2, 976) quasi reibungslos und störungsfrei lesen kann - und Swedenborg schreibt ausdrücklich, diese „Universalsprache" (HG 3, 191) werde nicht erlernt, sondern sei einem jeden Engel eingepflanzt: „Sie fließt unmittelbar aus der Neigung und ihrem Denken hervor" (HuH, 148; vgl. HG 3, 6) muß Kant zur Begründung der moralischen Kommunikation Anleihen bei der Newtonschen Naturwissenschaft machen. Nur das physikalische Gesetz bietet ein Analogon zu dem von Kant paradox intendierten freiwilligen Zwang der Moral einerseits, zum Referenzbezug andererseits. Kant scheint jedoch vor einer mechanischen Übertragung zurückgeschreckt zu sein, auch wenn er schon in der Vorrede die Gesetzlichkeit imaginiert, was sei, wenn sich mehrere oder „auch nur eine einzige dieser [Geister-] Erzählungen als wahrscheinlich" (ThW 2, 923) herausstellen sollten. Weniger des Materialismus verdächtig war die zeitgenössische Optik. Als Erklärungsmodell funktioniert sie allerdings nur dann, wenn die damit überführten Geisterseher auch wirklich Geisterseher sind; will sagen: Kants optisches Experiment erlaubt es nicht, „Bilder der Einbildung" (ThW 2, 956) von anderen zu unterscheiden, es kann nur erklären, wie es, im Falle daß, dazu kommen konnte. Die Unterscheidung bahnt Kant mit einem Aristoteles-Zitat an, das allerdings von Heraklit stammt: „Aristoteles [Heraklit; Kf] sagt irgendwo: Wenn wir wachen, so haben wir eine gemeinschaftliche Welt, träumen wir aber, so hat ein jeder seine eigne." (ThW 2, 952; vgl. KAA1/2, 502) Daraus macht Kant zwar einen nützlichen Protokollsatz, aber dieser erlaubt es nicht, Einhörner oder Gespenster als Fiktionen zu erkennen, da dieses eben Goodman zufolge „pictures" sind, die überhaupt nur dank ihrer Sozialität existieren. Das bedeutet nicht, daß das von Kant aus Elementen von Descartes, Kepler und Hartley entwickelte optische Modell nicht in sich stimmig sei.43 An einem bei Rozenberg wiedergegebenen und gewis-
^ Vgl. Jacques Rozenberg: La thtorie optique de l'hallucination dans les „Reves d'un visionnaire" de Kant, in: Revue philosophique de la France et de l'Etranger, Jg. 110 (1985), Bd. 155, S. 15-26.
1.7. Okkulte Wirkungen - Kant im Kriege
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sermaßen nach den Anweisungen Kants entworfenen Schema44 kann sehr wohl demonstriert werden, wie es kommt, „daß der verworrene Mensch bloße Gegenstände seiner Einbildung außer sich versetzt, und als wirklich vor ihm gegenwärtige Dinge ansieht" (ThW 2, 956), aber deren Eigentümlichkeit selbst bleibt unberührt. Die anderen Beispiele, die Kant anfuhrt: das Doppeltsehen infolge starken Alkoholgenusses bzw. die figurale Verlebendigung von Fäden der Bettvorhänge oder von Wandflecken im Halbschlaf (ThW 2, 957) tragen wenig dazu bei, Vertrauen in Kantsche Geisterkritik zu fordern.
1.7. Okkulte Wirkungen - Kant im Kriege Statt nun kurz zu referieren, was Florschütz auf 218 Seiten ausbreiten konnte, greife ich auf meine eingangs erwähnte wirkungsgeschichtliche Analyse zurück, da sie, wie ich meine, von Florschütz bestätigt wurde und auch zeigt, wie man Aufklärungs- und Avantgarde-Forschung miteinander verbinden kann: Der Neukantianer Georg Simmel versucht 1913 in „Das individuelle Gesetz" in einer wahren Begriffsakrobatik das von Kant gestellte Rätsel zu lösen, „wie es denn überhaupt zu einem Sollen käme" 4 5 ohne auch nur im geringsten auf die peinliche „Verwandtschaft" zu Swedenborgs und Mesmers fiktionalen bzw. pseudomaterialistischen Diskurs abzuheben, und es ist nicht verwunderlich, daß Simmel bei der Reaktualisierung von Kants Prinzipien nur zu einer fiktionalen Aktanten greifen kann: „Nur der aus reinem BegrifFsmaterial konstruierte MoralHomunkulus Kants appelliert dauernd an die höchste Instanz eines Gesetzes."46 Nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs nahm die Kantsche Pflichtethik allerdings konkretere Gestalt an, insofern der nationale „Schicksalsrausch" die rationale Überformung des moralischen „Animismus"47 des „Geistersehers" Kant hinwegschwemmte. Ob beim unreifen Jüngling Brecht oder beim wenig reiferen Thomas Mann oder auch dem schon genannten Simmel, Kant wurde nicht nur als deutsche Geistesgröße im deutschen „Kulturkrieg" gebraucht,48 sondern bei Simmel läßt sich auch belegen, wie das kantische „Sollen" okkulte Qualitäten wiedererlangte: 44
Vgl. ebd., S. 23. Georg Simmel: Das individuelle Gesetz. Philosophische Exkurse, hg. v. Michael Landmann, Frankfurt/M. 1968, S. 176. 46 Ebd., S. 200. 47 Martin Popp (Aufklärung und Aberglaube. Die deutsche Frühaufklärung im Spiegel ihrer Aberglaubenkritik, Tübingen 1992, S. 356) bezeichnet eine Untersuchung der Kantschen Rezeption von Georg Ernst Stahls „ A n i m i s m u s " als Desiderat; vgl. ThW 2,939. 48 Neben Nietzsche mufite Kant als meistberufene Legitimationsfigur der deutschen Kriegsmentalität herhalten; vgl. An die Kulturwelt! Ein Aufruf [1915], in: Expressionismus. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1910-1920, hg. v. Thomas Anz u. Michael Stark, Stuttgart 1982, S. 314-316, hier S. 315; Thomas Mann: Der Taugenichts [1916], ebd., 45
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1. Kant als Geisterseher
[...] nicht erst durch den Kanal eines differenzierten Tuns oder Seins, sondern ganz unmittelbar ist auf einmal der Einzelne in das Ganze eingegangen, an und in jedem Gedanken und jedes Gefühl ist eine überindividuelle Ganzheit gewachsen.49
Der „Soldat aus Moralität" veranschaulicht für Simmel wie für Mann aufs „reinste" das Vermächtnis Kants.50 Kant galt für Mann als „der erste Moralist des deutschen Soldatentums".51 Es nimmt daher nicht Wunder, wenn der Avantgardist Carl Einstein 1919 mit dieser - kaum untersuchten kriegerischen Kant-Rezeption abrechnet: „Die kantische Denkerstirn explodierte in Lüge und Gas. / Auferlegte Verblödung, kategorisches Verrecken."52 Freilich, für seine posthume Re-Irrationalisierung trägt Kant ebensowenig Verantwortung wie Nietzsche. Der orthodoxen Kant-Forschung fallt es schwer einzusehen, daß zwischen Idealismus und Mystizismus Interferenzen bestehen, daß sowohl die Beseelung der Kantschen Imperative als auch ihr affektives „enactment" nicht ohne die Tiefenstruktur eines magischen Diskurses möglich ist,53 an dem Kant und Swedenborg auf je verschiedene, aber im Sinne Levy-Bruhls in gleich mystischer Weise partizipieren.54 Indem Kant selber derart an die Grenzen seiner Vernunft stößt, war er sicher gut beraten, die Metaphysik - eine in der Tat undankbare „Geliebte" (vgl. ThW 2, 982) - als eine „Wissenschaft von den Grenzen der menschlichen Vernunft" (ThW 2, 983) überhaupt zu definieren. Hätte er sich statt jener mit den Eigenarten einer anderen Schönen, der Schönen Literatur, beschäftigt, hätte er einige Scheinprobleme - einige Probleme mit Schein und Fiktion - weniger gehabt. Doch auch diese Geliebte ist launenhaft: Sie kann Gespenster erscheinen lassen.
S. 273-283, hier S. 283; Bertolt Brecht: Gesammelte Werke. Supplementband III: Gedichte aus dem Nachlaß 1, hg. v. Herta Ramthun, Frankfurt/M. 1982, S. 20. Simmel: Der Krieg und die geistigen Entscheidungen. Reden und Aufsätze, München u. Leipzig 1917, S. 11. 50 Vgl. ebd., S. 12 u. Th. Mann: Gedanken im Kriege [1914], in: ders.: Essays, Bd. 2: Politische Reden und Schriften, ausgew., eingel. u. erl. v. Hermann Kurzke, Frankfurt/M. 1977, S. 23-37, hier S. 32; vgl. auch Kiefer: „Das Deutsche ist ein Abgrund" - Deutscher Krieg und deutsche Kultur in Thomas Manns „Betrachtungen eines Unpolitischen", International Colloquium „What is National Identity?", Osaka Gakuin University 1991, S. 1-31. 51
Th. Mann: Gute Feldpost [1914], in: ders.: Gesammelte Werke in 13 Bänden, Frankfurt/M. 1974, Bd. 13, S. 524-527, hier S. 526. 52 Carl Einstein: Capelle und Genossen [1919], in: ders.: Werke, Bd. 2: 1919-1928, u. Mitarb. v. Henriette Beese u. Jens Kwasny hg. v. Marion Schmid, Berlin 1981, S. 21-23, hier S. 21. 53 Vgl. Tzvetan Todorov: Le discours de la magie, in: l'Homme. Revue franpaise d'anthropologie, Bd. 13 (1973), Nr. 4, S. 38-65, S. 39f. 54 Zur „participation mystique" vgl. Lucien Livy-Bruhl: Les fonctions mentales dans les soci&is inf&rieures, Paris 1951.
2. Zur Definition aufklärerischer Vernunft
2.1. Literatur und Philosophie Die im „Umgang mit avantgardistischer Kunst" gewonnene ästhetische Erfahrung besitzt Jürgen Habermas zufolge Modellfunktion für den philosophischen Diskurs der Moderne überhaupt.2 Die Avantgarde-Fabel par excellence, Carl Einsteins „Bebuquin", als Probe aufs Exempel zu nehmen, scheint jedoch in verschiedener Hinsicht problematisch. Kant, so tönt es keck im genannten Roman, habe „die Hauptsache" vergessen, nämlich: „was wohl das Erkenntnistheorie treibende Subjekt macht, das eben Objekt und Subjekt konstatiert". Die Sequenz schließt mit der rhetorischen Frage: „Ist das wohl ein psychisches Ding an sich?"3 Die interrogatio des - ohne Zweifel - philosophischen Dilettanten, der hier spricht, beabsichtigt keine bloße reductio ad absurdum. Sie erfüllt aber den Zweck, von der gnoseologischen bzw. ontologischen Fragestellung überhaupt abzulenken; sie soll die Rhetorizität oder allgemeiner: Literarität des Kantschen Denkkonstrukts enthüllen. Dies ist daraus zu schließen, daß die „kubistische Prosa" Einsteins die gestellte Frage implizit beantwortet, indem es sie gestalterisch umsetzt.4 Wenn nun die angekündigte Definition5 aus dem Blickwinkel der
1 Vortrag am 6. Dezember 1989 an der Universität Osnabrück, am 8. Dezember 1989 an der Universität Göttingen, am 14. Dezember 1989 in der Philosophischen Gesellschaft Zürich und am 29. August 1991 in der Kant-Gesellschaft Tokio, Sophia Universität; veröffentlicht in: Wirkendes Wort, Nr. 1 (1991), S. 15-27, aufgenommen in: Lehrermaterialien für den Deutschunterricht auf CD-Rom, Schöningh Verlag; überarbeitet. 2 Jürgen Habermas: Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen, Frankfurt/M. 1985 (2. Aufl.), S. 220. 3 Carl Einstein: Bebuquin oder die Dilettanten des Wunders, in: ders.: Werke, 4 Bde., hg. v. Rolf Baacke u.a., Berlin u. Wien 1980-1992, Bd. 1, S. 73-114, hier S. 82. 4 Vgl. dazu Klaus H. Kiefer: Diskurswandel im Werk Carl Einsteins. Ein Beitrag zur Theorie und Geschichte der europäischen Avantgarde, Tübingen 1994 u. ders.: Ätemalistisches Finale oder Bebuquins Aus-Sage. Carl Einsteins Beitrag zur Postmodeme, in: Neohelicon, Jg. 21 (1994), Nr. 1, S. 13-46. Nicht zufällig durchbricht gerade der von Einstein geschätzte Ε. Τ. A. Hoffmann durch narrative Verfahren der Perspektivierung den Diskurs der Aufklärung; vgl. John Reddick: Ε. T. A. Hoffmanns „Der goldene Topf' and Its „durchgehaltene Ironie", in: The Modem Language Review, Bd. 71 (1976), S. 577-594, bes. S. 590. 5 Zum Procedere von Ausgrenzung und Selbstbeschränkung vgl. Reinhart Meyer: Limitierte Aufklärung. Untersuchungen zum bürgerlichen Kulturbewußtsein im ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert, in: Uber den Prozeß der Aufklärung in Deutschland im
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2. Zur Definition aufklärerischer Vernunft
Literarität Kants angegangen wird, so erscheint dieser „return to philology" - ein Wort Paul de Mans6 - in der gegenwärtigen Theoriediskussion nur konsequent. Während Nietzsche mit seinem ,.Artisten-Evangelium"7 die Philosophenzunft noch zu provozieren vermochte, so braucht sich der philosophisch dilettierende Philologe heute nur bescheiden aufs Prinzip der Interdisziplinarität zu berufen. Der Unzuverlässigkeitsverdacht bezüglich der Literaten, den man seit Piatons „Staat" überliefert, muß ja auch nicht für Literaturwissenschaftler selber gelten, die ohnehin seit dem Anbrach der „Postmoderne" ihre Zuständigkeit für philosophische Texte nachdrücklich behaupten.
2.2. Allaussage - Sprechakt - Verschiebung Kants „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?", 1784 in der „Berlinischen Monatsschrift" veröffentlicht,8 ist ohne Zweifel ein klassischer und viel - auch heute noch mit Zustimmung - zitierter Text; aber hat man ihn auch wirklich „gelesen"?9 Und genau das, nämlich ein „close reading"10 der genannten Schrift soll im folgenden versucht werden, wobei allerdings thematische Begrenzungen unvermeidlich sind. Bekanntlich nimmt Kant eine Fußnote des Berliner Diakons Johann Friedrich Zöllner zu einem heute gewiß nebensächlich erscheinenden Traktat über die Zivilehe11 zum
18. Jahrhundert. Personen, Institutionen und Medien, hg. v. Hans Erich Bödeker u. Ulrich Herrmann, Göttingen 1987, S. 139-200. 6 Paul de Man: The Resistance to Theory. Foreword by Wlad Godzich, Manchester, S. 21. 7 Friedrich Nietzsche: Aus dem Nachlaß der Achtzigeijahre, in: ders.: Werke, hg. v. Karl Schlechte, Frankfurt/M. u.a. 1972 (Tb-Ausg.; Nachdr. d. 6., durchges. Aufl. 1969), Bd. 4, S. 286. 8 Kants Text ist in einem breiteren Kontext abgedruckt in: Ehrhard Bahr (Hg.): Kant, Erhard, Hamann, Herder, Lessing, Mendelssohn, Riem, Schiller, Wieland: Was ist Aufklärung? Thesen und Definitionen, Stuttgart 1974, ebenso in: Was ist Aufklärung? Beiträge aus der Berlinischen Monatsschrift, in Zus.arb. m. Michael Albrecht, hg. v. Norbert Hinske, Darmstadt 1981 (3., im Anm.teil erg. Aufl.), hier S. 452-465 u. in: Berlinische Monatsschrift (17831796). Herausgegeben von Friedrich Gedike und Johann Biester. Auswahl m. e. Studie „Die Berlinische Monatsschrift als Organ der Aufklärung", hg. v. Peter Weber, Leipzig 1985, S. 89-96. 9
Vgl. Oswald Bayer: Selbstverschuldete Vormundschaft. Hamanns Kontroverse mit Kant um „wahre" Aufklärung, in: Der Wirklichkeitsanspruch von Theologie und Religion. Fs. f. Emst Steinbach, hg. v. Dieter Henke u.a., Tübingen 1976, S. 3-34, hier S. 3, und schon Gisbert Beyerhaus: Kants „Programm" der Aufklärung aus dem Jahre 1784, in: Kant-Studien, Bd. 26 (1921), S. 1-16, hier S. 2. 10 Vgl. Joseph Hillis Miller: The Ethics of Reading. Kant, de Man, Eliot, Trollope, James, and Benjamin, New York 1987, S. 10: „Deconstruction is nothing more or less than good reading as such." ' ' Vgl. dazu Frieder Lötzsch: Zur Genealogie der Frage „Was ist Aufklärung?": Mendelssohn, Kant und die Neologie, in: Theokratia. Jb. des Institutum Judaicum Delitzschianum, Bd. 2 (1970-1972): Fs. f. Karl Heinrich Rengstorf z. 70. Geburtstag, Leiden 1973, S. 307-322 u.
2.2. Allaussage - Sprechakt - Verschiebung
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Anlaß, und es entbehrt nicht einer leichten Komik, daß der „zölibatäre" Philosoph12 seinen Text mit einer so einschlägigen wie umfassenden Definition beginnt: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit." (ThW 11, 53) Die Apodiktik dieser Aussage nimmt wunder, hatte Kant doch selber 1781 in der Methodenlehre davor gewarnt, einer philosophischen Abhandlung Axiome oder Definitionen vorauszuschicken. Diese könnten am angegebenen Ort nur „unvollständige Expositionen" (ThW 4, 625), Zergliederung schon gegebener Begriffe liefern. Eine vollständige Exposition und vollgültige Definition habe in der Philosophie das Werk in der Regel zu schließen. Wer freilich so einsetzt wie zitiert, wird sich die Rückfrage gefallen lassen müssen, ob er sich selbt in seine Definition einschließt oder nicht. Sowohl die terminative oder resultative Aktionsart13 des substantivierten Verbums „Ausgang" (von „ausgehen", „herausgehen") als auch der totalistische Appellativ „des Menschen" setzen den Autor einer Allwissenheitsaporie aus, die er im Fortgang seiner Argumentation denn auch nur zu bereinigen hoffen kann. In der Tat gibt ja Kant am Ende seines Aufsatzes „klein" bei. Er wendet das nomen acti „Aufklärung" zum nomen actionis: „Leben wir jetzt in einem aufgeklärten Zeitalter?, so ist die Antwort: Nein, aber wohl in einem Zeitalter der Aufklärung." (ThW 11, 59) Die Hyperbel des Texteingangs wird gewissermaßen am Ende ironisch gebrochen,14 und kein anderer als Goethe hat Kants schalkhafte Ironie als einen „Seitenwink" über Grenzen hinaus, die er selbst gezogen habe, gedeutet (MA 12, 98). Indessen ist die Kantsche Wortwahl .Aufklärung" statt „Aufgeklärtheit", wie etwa Mendelssohn zur Verdeutlichung sagte,15 keineswegs stilistisch salviert. Der propositionale Gehalt seiner Ausgangsdefinition läßt sich nur rechtfertigen, wenn man ihn als zweckhaft gerichtet, als Sprechhandlung interpretiert.16 Vor allem der wenige Zeilen später ausgesprochene Imperativ „Sapere aude!" (ThW 11, 53) läßt die Definition als integralen Teil Eberhard Günter Schulz: Kant und die Berliner Aufklärung, in: Akten des 4. Internationalen Kant-Kongresses Mainz 1974, hg. v. Gerhard Funke, Berlin u. New York 1974, Tl. II/l, S. 6080. 12 Kuno Fischer, zit. n. Hartmut u. Gemot Böhme: Das Andere der Vernunft. Zur Entwicklung von Rationalitätsstrukturen am Beispiel Kants, Frankfurt/M. 1983, S. 452. 13 Vgl. Wolfgang Eichler u. Karl-Dieter BQnting: Deutsche Grammatik. Form, Leistung und Gebrauch der Gegenwartssprache, Kronberg/Ts. 1978 (2. Aufl.), S. 85ff. u. Wolfgang Fleischer: Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache, Tübingen 1975 (4., durchges. Aufl.), S. 168ff. 14 Zur Figürlichkeit aller Diskurse vgl. Hayden White: Metahistory. The Historical Imagination in Nineteenth Century Europe, Baltimore u. London 1973. 15 Moses Mendelssohn: [Öffentlicher und Privatgebrauch der Vernunft], in: ders.: Gesammelte Schriften in 7 Bänden. Nach den Originaldrucken und Handschriften, hg. v. Georg B. Mendelssohn, Leipzig 1844, Bd. 4/1, S. 146-148, hier S. 146. 16 Vgl. dazu John R. Searle: Speech Acts. An Essay in the Philosophy of Language, Cambridge 1976 (6. Auf.), S. 54ff., auch S. 175ff.
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2. Zur Definition aufklärerischer Vernunft
einer „Programmschrift" (wie man schon immer gesehen hat),17 allgemeiner: als eine Art „Versprechen" erscheinen, daß „Aufklärung" als Zustand der Gesamtkultur eintrete, wenn bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind. (Einschlägige konditionale oder kausale Ausdrücke seien hier übergangen.) Während ein Programm gemäß der ihm entgegengebrachten soziokulturellen Erwartungen jedoch bloß ankündigt, bringt Kants „Beantwortung" Aufklärung ohne Zweifel selber schon zuwege (auf den Weg), d.h. treibt den Prozeß der Aufklärung zumindest voran (vgl. ThW 11, 45). Es handelt sich also eher um ein Manifest, eine perlokutive Textsorte, freilich nicht in der Übersteigerung etwa von Marinettis späterem „Manifeste du futurisme", das im Postulat futuristischer Kunst diese selbst schon schafft.18 Aber auch die Kantsche Programmschrift tendiert zu einer metonymischen Vertauschung des So-sein-sollens durch Kategorien des Seins, der Wirkung durch Angabe der Ursachen. Solange jedoch seine Prophezeiung sich nicht selbst verwirklicht hat, wird man textanalytisch festhalten müssen: „Aufklärung" wird von Kant regelrecht „verschoben".19 Daß sich Kant der Rationalitätslücke zwischen Versprechen und Realisation bewußt war, läßt sich aus einem anderen Text belegen, der ein ähnliches Problem behandelt: „Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte" (Hervorh. Kf). Erlaubt sei es, und erforderlich, „im Fortgange einer Geschichte Mutmaßungen einzustreuen [„Mittelursachen", wie Kant sagt], um Lücken in den Nachrichten auszufüllen" (ThW 11, 85). Dadurch solle das Nachfolgende als Wirkung begreiflich gemacht werden. Kant schränkt jedoch die poetische Lizenz sofort wieder ein: „Allein, eine Geschichte ganz und gar aus Mutmaßungen entstehen zu lassen, scheint nicht viel besser, als den Entwurf zu einem Roman zu machen." (ebd.; vgl. ThW 11, 48) Die „reine" Vernunft duldet also keine Literarität. „Storytelling is [Kant's] impurity [...]",20 erkennt auch Joseph Hillis Miller. Unser Text folgt diesem „Reinheitsgebot", indem es die „Schere" zwischen Fiktion und Wirklichkeit weit geöffnet läßt; und diese Vorstellung (s.u. Schaubild) kommt nicht von ungefähr, denn die raum/zeitliche Struktur von Kants Aufklärungsschrift ist in der Tat chiastisch:
17
Vgl. Karl Vorländer: Immanuel Kants Leben, Leipzig 1911, S. 119. Vgl. Adrian Marino: Le manifeste, in: Les avant-gardes litteraires au XX' siäcle, hg. v. Jean Weisgerber, Budapest 1984, Bd. 2: Theorie, S. 825-833. " Vgl. Jacques Lacan: L'instance de la lettre dans l'inconscient ou la raison depuis Freud, in: ders.: Ecrits, Paris 1966, S. 493-528, hier SS. 502,511,528. 20 Miller: The Ethics of Reading, S 23. 18
2.2. Allaussage - Sprechakt - Verschiebung
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Abb. 1: Schaubild
Als gewiefter Rhetoriker mehr denn als Philosoph nimmt Kant die Einwände seiner eingebildeten spectatores vorweg (Prokatalepse) - „Nun höre ich aber von allen Seiten rufen [...]" (ThW 11, 55) - , indem er aber seine Binnenfiktion wider Erwarten verdoppelt und verstärkt. Die Minidramen, die er trotz seines Literaritätsverbots inszeniert (eine Art Ethopöie) Der Offizier sagt: räsonniert nicht, sondern exerziert! Der Finanzrat: räsonniert nicht, sondern bezahlt! Der Geistliche: räsonniert nicht, sondern glaubt! (Nur ein einziger Herr in der Welt [Friedrich II.] sagt: räsonniert, soviel ihr wollt und worüber ihr wollt; aber gehorcht!) (ebd.) -,
diese Minidramen erhalten nun ex machina je einen fiktiven Mitspieler mehr und werden so - zum Teil jedenfalls - aus der Negation (räsonniert nicht) herausgeführt.21 Introit: der „Gelehrte". Dieser exerziert, bezahlt, glaubt und gehorcht, und dennoch räsonniert er. Das soll indes keine Stellungnahme zur Bedeutung der Geisteswissenschaften heute sein ...
21
Vgl. Jurij Striedter: Die Doppelfiktion und ihre Selbstaufhebung. Probleme des utopischen Romans, besonders im nachrevolutionären Rußland, in: Funktionen des Fiktiven, hg. v. Dieter Henrich u. Wolfgang Iser, München 1983, S. 277-330, hier S. 285.
44
2. Zur Definition aufklärerischer Vernunft
2.3. Ästhetizität und Fiktion Utopien im Zustand der Fiktion lassen sich nicht ohne weiteres falsifizieren, denn sie besitzen einen „ontologischen Sonderstatus";22 sie lassen sich allenfalls als Fiktionen entlarven, eben in ihrer Literarität. Auch Kant „non est supra Grammaticos" (ThW 11, 59). Offenbar rächt es sich nämlich, daß er das Thema „Aufklärung" nicht bloß im trockenen, „scholastischen Vortrage" wie die „Kritik der reinen Vernunft" abhandelt (abhandeln kann), sondern mit sinnlich-symbolischen „Beispielen" (ThW 3, 17; 12, 497f.) erläutert, denn: die anthropomorphen Figuren laufen dem Autor geradewegs aus der Hand - intentional ganz anders als Pirandellos „personaggi" „in cerca d'autore". Als literarische Figuren gleichwohl sind insbesondere die unter einer figura etymologica subsumierten dramatis personae des Aufklärungsprozesses zu fassen - schon Hamann spricht von einem „Schauspiel" (RA, 20) als da sind: die Mündigen und die Unmündigen sowie die Vormünder, und last but not least die Gelehrten. Kant versucht zwar, klare Verhältnisse zu schaffen: „denn daß die Vormünder des Volkes (in geistlichen Dingen) selbst wieder unmündig sein sollten, ist eine Ungereimtheit, die auf Verewigung der Ungereimtheiten hinausläuft" (ThW 11, 57). Entgegen aller Vorsicht und Absicht - wie Heidegger aufzeigt23 - hat Kant indessen die disseminal schwärmende Einbildungskraft zu sehr gereizt, um das angefangene Sprachspiel noch unter (rationaler) Kontrolle halten zu können. Doch will er das überhaupt? Oder überlistet sich die Vernunft nicht selbst? Wozu erwähnte Kant denn selbst schon einleitend seduktiv (statt: persuasiv) „Vormünder", die ihre Schutzbefohlenen „dumm" (ThW 11, 53), d.h. unmündig machen? Wozu dieses Spiel mit der Vorsilbe? (Ich komme am Ende auf dieses Paradoxon zurück.) Hamann hat natürlich - so in einem Brief 24 an Kraus vom 18. Dezember 1784 - die Gelegenheit genutzt, den „Purismum der Vernunft"25 metakritisch wieder zu versinnlichen, und er betont: „Alles Geschwätz und Raisonnieren der eximierten [d.h. entpflichteten] Unmündigen [gemeint wohl: der „Gelehrten" im Sinne Kants], die sich zu Vormünder der selbst unmündigen aber mit couteaux de chasse [also mit Macht] versehenen Vormünder aufwerfen", sei nur ein kaltes unfruchtbares Mondlicht ohne Aufklärung für den faulen Verstand und ohne Wärme fur den feigen Willen - und die ganze Beantwortung der aufgeworfnen Frage [gemeint ist:
22
Ebd., S. 322. Vgl. Martin Heidegger: Kant und das Problem der Metaphysik, Frankfurt/M. 1934, S. 153. 24 Hamanns Brief zit. n. RA, hier S. 18-22; vgl. auch Ausgabe und Kommentar in: Johann Georg Hamann: Briefe, ausgew., eingel. u. m. Anm. vers. ν. Arthur Henkel, Frankfurt/M. 1988, S. 145-148. 25 Vgl. ders.: Metakritik über den Purismum der Vernunft, in: ders.: Schriften zur Sprache, eingel. v. Josef Simon, Frankfurt/M. 1967, S. 219-228. 23
2.4. Das Schweigen des Philosophen
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Kants „Was ist Aufklärung?"] eine blinde Illumination für jeden unmündigen, der im Mittage wandelt. (RA, 21)
Indem er Kant parodiert, leistet Hamann ein Dreifaches: Zum einen entlarvt auch er (wie Einstein) Kants literarische Verfahren als solche, zugleich hält er ihm aber eine schlechte Wirkungsästhetik vor, und schließlich zeigt er scharfsinnig den Kantschen Verblendungszusammenhang überhaupt auf. Wie Günter Wohlfahrt sehr schön formuliert,26 verkehrt Hamann das Verkehrte und stellt dadurch die Wahrheit heraus: „Was hilft mir das Feyerkleid der Freyheit, wenn ich daheim im Sclavenkittel." (RA, 22) „Daheim" ist nur scheinbar Gegenbegriff zu Kants Öffentlichkeit. „Privatgebrauch" meint nämlich bei diesem paradoxerweise und entgegen jedem Sprachgefühl institutionalisierter Diskurs, „Berufsgeschäft", wie auch schon Mendelssohn bemerkte.27 Und hier geht es allein um die Macht, wie Kant noch am eigenen Leib verspüren sollte. Schon an dieser Stelle absehbare Folge ist, daß die gewaltige Antonymie zwischen bravem Staatsbürger und kritischem Gelehrten bei Kant kollabiert und in ihr krasses Gegenteil umschlägt. Der Gelehrte nämlich privatisiert ... Die Wirkungsgeschichte dieser figuralen Fehlkonstruktion Kants wäre zu schreiben!
2.4. Das Schweigen des Philosophen Trotz der Ermahnung des Boethius will, ja muß sich der aufklärerische Philosoph mitteilen. Allerdings stemmt sich die deutsche Aufklärung dem Postulat des französischen Materialismus mit aller Macht entgegen: „la philosophic doit tout dire"28 - so der Marquis de Sade. Dem historischen Blick nur wird offenkundig, was Kant in seiner Schrift verschweigt. Er ignoriert - bewußt oder unbewußt, auf jeden Fall signifikativ - die Problematisierung der Aufklärung durch einen gewaltigen Schub okkulter Bewegungen, die seit gut einem Jahrzehnt das „philosophische Jahrhundert" erschütterten. Aus dem Blickwinkel eines so elementaren wie traditionalen , Jiangs der Menschen an Magie und Geistererscheinungen zu glauben"
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Vgl. Günter Wohlfahrt: Hamanns Kant-Kritik, in: Kant-Studien, Jg. 75 (1984), S. 398-419, hier S. 403. 27 Mendelssohn: [Öffentlicher und Privatgebrauch der Vernunft], S. 146; vgl. Bayer: Selbstverschuldete Vormundschaft, S. 27 u. Horst Möller: Aufklärung in Preußen. Der Verleger, Publizist und Geschichtsschreiber Friedrich Nicolai, Berlin 1974. S. 50. Vgl. auch Kants Ausführungen in seinen Vorlesungen über Anthropologie unter dem Titel: Von der Majorennität (Mündigkeit) und der Minorennität (Unmündigkeit), in: Die philosophischen Hauptvorlesungen Immanuel Kants. Nach den neu aufgefundenen Kollegheften des Grafen Heinrich zu Dohna-Wundlacken, hg. v. Arnold Kowalewski, Hildesheim 1965, Nachtrag, S. 31-35. 28 Donatien-Alphonse-Franfois de Sade: CEuvres competes, Paris 1961, Bd. 24, S. 337; vgl. Dieter Hoffmann: Die Figur des Libertin. Überlegungen zu einer politischen Lektüre de Sades, Frankfurt/M. u. New Yoric 1984, S. 33ff.
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2. Zur Definition aufklärerischer Vernunft
versucht dagegen Wieland, der Leserschaft seines „Teutschen Merkur" „gewisse auffallende Thatsachen begreiflich zu machen, wodurch seit einigen Jahren unsre Zeit, aller ihrer gerühmten Aufklärung zu Trotz, auf einmahl in die dickste Verfinsterung der barbarischen Jahrhunderte zurück zu stürzen scheint" (WSW 8, 89). Die rhetorische Zurückhaltung seitens Kant dürfte zunächst verwundern, hatte dieser doch 1766 den „Erzgeisterseher unter allen Geistersehern" (ThW 2, 966) Swedenborg mit Witz und Verstand wahrhaft (literarisch!) hingerichtet - wie die SwedenborgGemeinde noch heute lamentiert.29 In der Tat gibt es jedoch einen expliziten Beleg für Kants späteres Schweigen, ein öffentliches Schweigen allerdings, sit venia verbo. Denn März 1790 schreibt er zunächst privatim an Ludwig Ernst Borowsky: „Sie fragen mich, wo der Hang zu der jetzt so überhand nehmenden Schwärmerei herkommen möge, und wie diesem Übel abgeholfen werden könne?" (KBr, 444) Nach einigen hochinteressanten, nichtsdestoweniger problematischen Ausführungen über „Lesesucht" und „Vielerleilernen", über „französische Allwissenheit" und Trugschlüsse der Schwärmerei zieht Kant den folgenden Schluß: Wider diesen Unfug ist nun nichts weiter zu tun, als den animalischen Magnetiseur magnetisieren und desorganisieren zu lassen, so lange es ihm und anderen Leichtgläubigen gefällt; der Polizei aber es zu emfehlen, daß der Moralität hierbei nicht zu nahe getreten werde [...]. (KBr, 446, Borowskys Brief vom 6. März 1790 ebd., 443f.)
Diesen Brief druckte der eben genannte Borowsky - seines Zeichens Bischof von Königsberg - im Anhang einer wie folgt betitelten Abhandlung: „Cagliostro einer der merkwürdigsten Abentheurer unseres Jahrhunderts. Seine Geschichte nebst Raisonnement über ihn und den schwärmerischen Unfug unsrer Zeit überhaupt." Die Veröffentlichung des Kant-Briefes erfolgte gewiß nicht ohne Zustimmung des Verfassers. Über den Pseudografen Cagliostro hätte im übrigen auch Goethe „gern" (MA 4.2, 457) geschwiegen, wie er fast gleichzeitig mit Kant betont, und zwar in „Des Joseph Balsamo, genannt Cagliostro, Stammbaum. Mit einigen Nkchrichten von seiner in Palermo noch lebenden Familie". Goethe setzt sich in dieser einerseits sachlichen, andererseits aber literarischen Darstellung über die moralische Zensur, an die Kant appelliert, hinweg. Indes fordert auch die Ökonomie unserer Studie, über die zwielichtige Gestalt Cagliostros an dieser Stelle zu schweigen... Statt über und gegen den aktuellen Okkultismus handelt Kants Beantwortung" nämlich von der Entmündigung durch Aufklärung: „Es ist so bequem, unmündig zu sein. Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, einen Arzt, der für mich die 29
Vgl. Emst Benz: Emanuel Swedenborg als geistiger Wegbahner des deutschen Idealismus und der deutschen Romantik, in: Emanuel Swedenborg 1688-1772. Naturforscher und Kundiger der Überwelt. Begleitbuch zu einer Ausstellung und Vortragsreihe in der Württembergischen Landesbibliothek Stuttgart 29. Januar - 25. März 1988, bearb. v. Horst Bergmann u. Eberhard Zwink, Stuttgart 1988, S. 116-121, hier S. 120 u.ö.
2.5. Von Affekten umstellt
47
Diät beurteilt, u.s.w.: so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen." (ThW 11, 53) „Seelsorge" steht, nebenbei bemerkt, nicht gegen Aufklärung.30 Man muß in dieser Hinsicht wenigstens Kant gegenüber Hamann in Schutz nehmen, denn er aktualisiert sehr wohl die Position der „selbstverschuldeten Vormundschaft" (RA, 20); freilich zählt er sich selbst nicht zur „Claße der Vormünder" (ebd.) - das sind Worte Hamanns - , obwohl er gewissermaßen von oben aufs gemeine Volk herabsieht. Indessen ist es nicht ganz fair, die Kantsche Meta-ebene, die er notwendigerweise einnehmen muß, die nämlich einer Aufklärung über die Aufklärung, als einen haltlosen „kosmopolitischplatonischen Chiliasmus" (RA, 19) zu ridikülisieren. Allerdings können wir Hamanns Hinweis auf die „Blindheit" (RA, 20) des Vormundes - gemeint ist nicht nur Kant - folgen. In der auktorialen Sprechhaltung einer Allwissenheit, die isotop nur der erfüllten Aufklärungsutopie sein könnte, nimmt Kant in der Tat seine eigene konkrete Person aus, geht um sie herum - so Hamann - „wie die Katzen um den heißen Brey" (RA, 19). Meine These ist, daß Kant aus demselben Grund sein Ego verschweigt wie den zeitgenössischen Okkultismus.
2.5. Von Affekten umstellt Kants gnoseologischer Infinitiv (sapere) ist rundum von „Affekten" umstellt, deren Wortfeld folgendermaßen zu beschreiben wäre: „Entschließung" und „Mut", „Faulheit" und „Feigheit", „gerne", „bequem", „nicht nötig haben", „verdrießlich", „beschwerlich", „gefährlich", „Gefahr", „schrecken" (ThW 11, 53f.) usw. Kant gibt damit „Ursachen" (ThW 11, 53) an, wie er selber sagt, die pro und contra Aufklärung wirken, die er selber aber nicht weiter rationalisiert. - Warum? Verdächtig auch - so schon Hamann - das „schiefe Maul, als er [Kant] dem ganzen schönen Geschlecht macht" (RA, 22). Und wie oder was soll der imaginierte „Gelehrte" (ThW 11, 55f.) raisonnieren? Bedarf dieser nicht der viel gescholtenen Einbildungskraft als des Mediums von Vorstellungen „ohne Gegenwart des Objekts" (KL, 105)? Da für Literaturwissenschaftler nichts in einem Text zufällig und akzidentiell ist, wäre auch auf „die Diät" (ThW 11, 53) hinzuweisen, die der Arzt im Beispiel Kants Unmündigen verschreibt. Solche Heilkunde wäre „philosophische" Diätik, wenn sich durch sie, d.h. bloß durch die „Macht der Vernunft", die sinnlichen Gefühle beherrschen ließen (ThW 11, 375). Gewiß wird die genannte „Diät" nicht gerade in diesem Sinne ausgewiesen. Der Parallelismus zu „Gewissen" erhellt sich aber aus Kants näherer Defi-
Vgl. Panajotis Kondylis: Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus, München 1986, S. 538ff.
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2. Zur Definition aufklärerischer Vernunft
nition: Der Mensch könne sich zwar „durch Lüste und Zerstreuungen betäuben [...], aber nicht vermeiden, dann und wann zu sich selbst zu kommen [...]", wo er „alsbald die furchtbare Stimme" eben des Gewissens vernähme (ThW 8, 573; Hervorh. Kf). Auch bei Kants Buch-Beispiel handelt es sich um ein Werk, das „Verstand" hat, keineswegs um eines, das zur sinnlichen „Lesesucht" verführte (vgl. KBr, 445). Nicht nur hindern Buch, Seelsorge und Diät am Mündigwerden, die Unmündigkeit scheint vielmehr verdoppelt, hat gewissermaßen einen doppelten Boden. Zum einen entziehen sich die Unmündigen ihrer autonomen Verantwortung, indem sie sich aber - zum anderen - nicht mit ihrer Sinnlichkeit konfrontieren. In dieser doppelten Verneinung gerät Kants Aufklärungsprojekt ins Wanken, denn bedürften sie nicht eben jener zur Zivilcourage? Im Licht der Psychoanalyse zeigt Alice Holzhey-Kunz die historische Grenze der Kantschen Rationalität auf: Die Befreiung aus gesellschaftlich-staatlicher und kirchlicher Vormundschaft genügt darum nicht, den Menschen autonom zu machen, wie es die Aufklärung postuliert hatte. Mächtiger als äußere Schranken ist die innere Schranke, die - über die aufklärerische Vorurteilskritik hinausgehend - der Begriff des Unbewußten [bei Freud] anzeigt.31
Nun kann man auch der Frage nähertreten, wozu bedarf es überhaupt des Muts zur Erkenntnis und worin liegt der Schrecken der Verfehlung? Das Kantsche „sapere" besitzt eine Aura der Gewalt gegen sich und andere, die jedoch nur Vorsorge aus Furcht vor Einbildungskraft und Sinnlichkeit ist32 - und deren grenzenlosen und - so Carl Einstein - „meist sichern Folgen wie Kinder, Abtreibung, Ekel, Verdummung, gegenseitige Gewöhnung, regelmäßiges Vollziehen der Lüderlichkeit usw."33 Schiller hat in einem Brief an Friedrich Christian von Augustenburg vom 11. November 1793 der dann zum achten Brief „über die ästhetische Erziehung des Menschen" umgearbeitet wurde (NA 20, 331) - , durch eine Kant-Paraphrase dessen maskuline Repressivität naiv herausgearbeitet: Ermanne Dich [später heißt es: „Erkühne Dich..."], weise zu seyn. Kraft und Energie des Entschlusses gehört also dazu, die Hindernisse zu besiegen, welche theils die natürliche Trägheit des Geistes, theils die Feigheit des Herzens der Aufnahme der Wahrheit entgegensetzen. Nicht umsonst wird uns die Weisheitsgöttin in der Fabel als eine Kriegerin vorgestellt, die in voller Rüstung aus Jupiters Haupte stieg. Denn schon die erste Verrichtung der Weisheit in den Köpfen ist kriegerisch. Schon in ihrer Geburt muß sie den schweren Kampf mit der Sinnlichkeit bestehen, die sich unter fremder Vormundschaft viel zu wohl befindet, als daß sie die Epoche der Mündigkeit nicht so weit als möglich zurücksetzen sollte." (SchBr 3, 370; Hervorh. Kf)
Von Verdrängung und Verlust (Lust an der Entsagung), die hier in Schillers Paraphrase zum Ausdruck kommen, nichts wissen zu wollen, ist ge31
Alice Holzhey-Kunz: „... nicht Herr im eigenen Hause" - Freud und Heidegger zusammengedacht, in: Freuds Gegenwärtigkeit. Zwölf Essays, hg. v. Aron Ronald Bodenheimer, Stuttgart 1989, S. 356-382, hier S. 360. 32 Vgl. H. u. G. Böhme: Das Andere der Vernunft, S. 387ff. 33 Einstein: Über den Roman, in: ders.: Werke, Bd. 1,S. 127-129, hier S. 128.
2.5. Von Affekten umstellt
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wissermaßen Kants „ödipales Drama", das sich als gegenläufig zur Inszenierung der Aufklärung im untersuchten Text entwickelt. Ich möchte mit dieser These allerdings nicht ganz so weit gehen wie Gemot und Hartmut Böhme, die in ihrem durchaus respektablen Kant-Buch diesen - gleichsam persönlich - einer Art „Tiefenanalyse" unterziehen. Der in der Tat breit dokumentierte Kampf des Philosophen mit der Einbildungskraft, auch mit seiner eigenen, repräsentiert den Gebrüdern Böhme zufolge Kants leibliche, d.h. sexuelle Frustration.34 Auch in Horkheimers und Adornos Aufklärungsschrift klingt dieses freudianische Motiv noch an: „Furchtbares hat die Menschheit sich antun müssen, bis das Selbst, der identische, zweckgerichtete, männliche Charakter des Menschen geschaffen war, und davon wird noch in jeder Kindheit wiederholt."35 Bei den Gebrüdern Böhme wie auch bei Horkheimer und Adorno wäre die Frage nach der literarischen Vermittlung zu stellen. Man kann indessen den Begriff des Verlustes schon in Baumgartens Vergleich von philosophischer und ästhetischer Erkenntnis, von philosophischem und ästhetischem Diskurs nachweisen. Dieser schreibt um 1750 in seiner „Aesthetica": [...] es müßte den Philosophen völlig klar sein, daß nur mit einem großen und bedeutenden Verlust an materialer Vollkommenheit all das hat erkauft werden müssen, was in der Erkenntnis und in der logischen Wahrheit an besonderer formaler Vollkommenheit enthalten ist. Denn was bedeutet die Abstraktion anderes als einen Verlust? [Quid enim est abstractio, si iactura non est?]36
Nicht nur bei Kant, sondern auch im Diskurs der (deutschen, d.h. nichtmaterialistischen) Aufklärung werden Sinnlichkeit und Dunkelheit gepaart der „lichtvollen" Ratio gegenübergestellt. Konsequenterweise versuchte Baumgarten, die Ästhetik als philosophische (sprich: aufklärerische) Disziplin zu konzipieren, um aber beim folgenden Paradox (wiederum eine definitio) innezuhalten: „Die Ästhetik ist die Logik des Undeutlichen."37 Erotik und Okkultismus jedoch subsistierten bis 1900 im ästhetischen bzw. literarischen Medium (nicht selten freilich in trivialen Gattungen der bürgerlichen Unkultur).
34
Vgl. H. u. G. Böhme: Das Andere der Vernunft, S. 452 u.ö. Max Horkheimer u. Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt/M. 1971, S. 33. 36 Alexander Gottlieb Baumgarten: Theoretische Ästhetik. Die grundlegenden Abschnitte aus der ,Aesthetica" (1750/59), übers, u. hg. v. Hans Rudolf Schweizer, Lateinisch-Deutsch, Hamburg 1983, S. 145. 37 Hans Adler: Fundus Animae - der Grund der Seele. Zur Gnoseologie des Dunklen in der Aufklärung, in: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, Jg. 62 (1988), S. 197-220, hier S. 205. 35
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2. Zur Definition aufklärerischer Vernunft
2.6. Mythos und Komödie Da aufklärerische Vernunft sich selbst rational konstruieren muß - „Der Rationalismus hat Grenzen, der Irrationalismus anscheinend nicht",38 so Herbert Schnädelbach - , grenzt sie sich wie selbstverständlich vom „Schwärmen" der Einbildungskraft ab; „Schwärmerei" ist ja bekanntlich der (asymmetrische) Gegenbegriff zu „Aufklärung".39 Daß sich Vernunft jedoch zu ihrem Geschäft rhetorischer bzw. literarästhetischer Mittel und Verfahren bedient, scheint paradox; daß Kant die Informationsdiskrepanzen, die sein kritischer Leser registriert, nicht auflöst, macht sein „ödipales Drama" „komisch" - diesen Begriff (komisch) gebrauchte schon Hamann (RA, 18). Kant spielt auch noch in anderer Hinsicht Komödie. Nicht nur erhält der von ihm postulierte Prozeß der Aufklärung einen negativen Gegenzug, wie Adorno in seiner „Negativen Dialektik" aufzeigt.40 Kants Utopie wird überhaupt ideologisch, ja bereits Gisbert Beyerhaus hat 1921 aus dessen Programmschrift einen „offiziösen" Unterton herausgehört.41 Wie sich anhand von Ministerialerlassen des Freiherrn von Zedlitz belegen ließ, war das Kantsche Modell eigentlich längst schon preußischfriederizianische Verwaltungspraxis, jedenfalls im Bereich des Kultus. Indes, wie Lessing 1769 an Nicolai schrieb, reduzierte sich die „Berlinische Freiheit zu denken und zu schreiben" allein darauf, „gegen die Religion so viel Sottisen zu Markte zu bringen, als man will" (LGW 9, 327). Es mag sein, daß Kant durch die Monumentalisierung Friedrichs des Großen einerseits und durch dissimulatorische und synekdotische Zuspitzung des Programms auf „Religionssachen" (ThW 11, 60) andererseits seiner Utopie (als dem Ganzen) einen Schonraum zur Verwirklichung verschaffen mochte. Der nach dem Regierungswechsel amtierende Minister Wöllner verstand jedoch „keinen Spaß". Er nimmt Kant zynisch beim Wort und schreibt ihm „auf S. Κ. M. Spezialbefehl" am 1. Oktober 1794: „Unsere Höchste Person hat schon seit geraumer Zeit mit großem Mißfallen gesehen: wie Ihr Eure Philosophie zu Entstellung, Herabwürdigung und Entehrung mancher Haupt- und Grundlehren der heil. Schrift und des Christentums mißbrauchet." (KBr, 680)
38 Herbert Schnädelbach: Über Irrationalität und Irrationalismus, in: Der Wissenschaftler und das Irrationale, hg. v. Hans Peter Duerr, Bd. 2: Beiträge aus Philosophie und Psychologie, Frankfurt/M. 1981, S. 155-164, hier S. 164. 39 Vgl. Norbert Hinske (Hg.): Die Aufklärung und die Schwärmer, Aufklärung. Interdisz. Halbj.schr. zur Erforschung des 18. Jahrhunderts und seiner Wirkungsgeschichte, Jg. 3 (1988), Η. 1 u. Hans-Jürgen Schings: Melancholie und Aufklärung. Melancholiker und ihre Kritiker in Erfahrungsseelenkunde und Literatur des 18. Jahrhunderts, Stuttgart 1977, SS. 143ff., 270ff.; vgl. auch Reinhart Koselleck: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt/M. 1979, S. 21 Iff. 40 Vgl. Theodor W. Adorno: Negative Dialektik, Frankfurt/M. 1982 (3. Aufl.), S. 21 Iff. 41 Beyerhaus: Kants „Programm" der Aufklärung, S. 11.
2.6. Mythos und Komödie
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Abb. 2: Constantin Franz de Cauz: De cultibus magicis, Wien 1967
Gerade er, Kant, müsse ja einsehen, wie unverantwortlich er gegen seine Amtspflichten handle, und wie wenn Kant seine eigenen Worte nicht recht verstehen könnte, schließt der Brief unmißverständlich: Wir verlangen des ehsten Eure gewissenhafteste Verantwortung; und gewärtigen uns von Euch, bei Vermeidung Unserer Höchsten Ungnade, daß Ihr Euch künftighin nichts dergl. werdet zu Schulden kommen lassen, sondern vielmehr, Eurer Pflicht gemäß, Euer Ansehen und Eure Talente dazu anwenden, daß Unsere landesväterl. Intention mehr als bisher erreicht werde; widrigenfalls Ihr Euch bei fortgesetzter Renitenz unfehlbar unangenehmer Verfügungen zu gewärtigen habt. (KBr, 680f.)
Kant gehorchte - wenn zwar mit einer fadenscheinigen reservatio mentalis 42 - und ging einer Konfrontation aus dem Weg; man mag diesen Aufschub nun beurteilen, wie man will. Die mythische Personifikation des Kantschen „Wahlspruchs", die gepanzerte Jungfrau Minerva, die das „Sapere aude" - wie Kant bekannt war43 -
42
Vgl. Paul Schwartz: Der erste Kulturkampf in Preußen um Kirche und Schule (1788-1798), Berlin 1925, S. 352f. 43 Vgl. Franco Venturi: Europe des Lumieres. Recherches sur le 18e sidcle, übers, v. Framboise Braudel, Paris u. La Haye 1971, S. 35-47; vgl. auch die „Gedächtnüß-Müntze, auf die Gesellschafft der Liebhaber der Wahrheit zu Berlin, von A. 1736", in: Der Wöchentlichen Historischen Münz-Belustigung 47. Stück (23. November 1740), S. 369, „das Brustbild der Minerva zeigt, auf deren Helm unter einem Lorbeerkranze die Gesichter des Leibnitz und des Wolff in der Weise eines Janus bifrons zu sehen sind mit der bedeutungsvollen Umschrift: sapere aude!" (Heinrich Wuttke: Über Christian Wolff den Philosophen. Eine Abhandlung, in:
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2. Zur Definition aufklärerischer Vernunft
als Imprese auf der Brust trug, steigt jedoch niemals unbeschadet von ihrem Sockel (Abb. 2), oder anders gesagt: der Mythos läßt sich nicht bruchlos logifizieren. Ebensowenig reichte Kants „Höllenfahrt der Selbsterkenntnis" hin, diesen Säkularisationsprozeß zur „Selbstvergötterung" und Remythisierung des Philosophen und seiner Vernunft umzukehren (ThW 8, 576). Hierzu hätte es mehr - sagen wir - goetheanischer Sinnlichkeit bedurft. Das Verdrängte kehrt lediglich einmal wieder in Kants irrationaler Lust an der (Französischen) Revolution, die kein Politiker - und man darf wohl auch sagen: kein Philosoph - „aus dem bisherigen Laufe der Dinge herausgeklügelt hätte" (ThW 11, 361). Als heimliche „Vorlust" indes könnte sie Kants Diskursordnung, daß es nämlich keine unmündigen Vormünder gäbe - von deren gewaltsamer Entmündigung ganz zu schweigen (ThW 11, 57), unterminiert haben. Damit wäre aber Kants Aufklärungsschrift gerade durch das „gerettet" - fur unsere postmodernen Zeiten - , was sie zu unterdrücken suchte: ihre literarische Subversivität.
Christian Wolffs eigene Lebensbeschreibung, hg. v. H. W. [1841], Königstein/Ts. 1982 (Nachdr.), S. 35.
3. Okkultismus und Aufklärung aus medienkritischer Sicht1 Ein echt Gespenst, auch klassisch hat's zu sein Goethe: Faust II, V. 6947
3.1. D a s Cagliostro-Syndrom Seine weltliterarische Geltung dankt der ominöse Graf Cagliostro zuallererst Schillers „Geisterseher" (1789) und Goethes „Groß-Cophta" (1791), und gewiß bürgen - auch nach seinem Verschwinden von der Weltbühne und aus den Geschichtsbüchern - die beiden genannten Werke von Rang für ein fortdauerndes, wenn auch nicht sonderliches Interesse an seiner Gestalt. Doch zum einen findet die eben bemerkte Disproportion von literarischem Kanon und stofflichem Unwert vor unserem geschichtlich geschärften Gespür für Massenpsychosen keine Rechtfertigung: Cagliostro interessiert als gesellschaftliches Syndrom durchaus; zum anderen verkehrt auch Elisabeth Frenzeis rein stoffgeschichtlicher Ansatz, der Cagliostro immerhin im Kontext der Halsbandaffäre2 würdigt, recht eigentlich die Perspektive. Gewiß entsprechen die beiden Klassiker mit Lustspiel und Kriminalerzählung so sehr der thematischen „Forderung des Tages", daß das Ergebnis nur strittig sein konnte. Goethe und Schiller verdanken Cagliostro aber nicht bloß einen höchst aktuellen Stoff, sondern sie sind in seiner Hinsicht mitverstrickt in epochale Bewußtseinsstrukturen, aus denen sie sich als Künstler nicht ohne Mühe befreien. Sie stehen also nicht nur einem Stoff gegenüber, den sie gleichsam unbeeindruckt bearbeiten. Entstehungsund Rezeptionsgeschichte belegen die oben erwähnte Strittigkeit bzw. Problematik ihrer ästhetischen Distanzierung zur Genüge: wir registrieren ein verhindertes und ein verleugnetes Meisterwerk! Aktualität und Trivialität aber bildeten und bilden zugleich eine Hemmschwelle in der konventionellen Klassik-Forschung, auch wenn man die Überwindung oder aber die
1 Veröffentlicht in: Klassik und Moderne. Die Weimarer Klassik als historisches Ereignis und Herausforderung im kulturgeschichtlichen Prozeß. Walter Müller-Seidel zum 65. Geburtstag, hg. v. Karl Richter u. Jörg Schönert, Stuttgart 1983, S. 207-227; überarbeitet. 2 Elisabeth Frenzel: Stoffe der Weltliteratur. Ein Lexikon dichtungsgeschichtlicher Längsschnitte, Stuttgart 1970 (3. Überarb. u. erw. Aufl.), S. 273-275. Zur Halsbandaffare vgl. Roberto Gervaso: Cagliostro. Storia di Giuseppe Balsamo, mago e aventurio, Mailand 1976 (12. Aufl.; Tb-Ausg.), S. 139-166.
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3. Okkultismus und Aufklärung aus medienkritischer Sicht
Integration von Irrationalem bei Goethe und Schiller schon immer diskutierte. Die personale Verengung einer schon zeitgenössisch breiten Diskussion um „Aberglauben und Schwärmerei in Wirkung und Rückwirkung zueinander"3 kann indessen nur als fatal bezeichnet werden, da gerade hier der Klassik-Begriff den Zugang zu Schriftstellern, die wir schätzen, zu Sachverhalten von epochalem Interesse verstellt. Goethes späteres Wort, die Halsbandaffare sei eine „Umkehrung der Welthistorie" (Biedermann/Herwig 2, 1138), wurde vielfach belächelt, seine Cagliostro-Komödie als „verfehlt"4 verworfen. Der Rang Schillers als Erzähler war lange Zeit unerkannt. Selten wurden Werturteile im Rahmen dessen, was man Klassik zu nennen pflegte, unbedachter ausgesprochen; denn gerade ein Trugschluß hier brachte auch anderes zum Einsturz: mehr noch als gattungspoetische Normen die historische Wertung. Doch geht es nicht nur darum, dem falschen Grafen einen Ehrenplatz im Rahmen einer fraglichen „Vorklassik" einzuräumen; der Klassik-Begriff erhält vielmehr über die Cagliostro-Rezeption einen konkreten sozialgeschichtlichen Bezug, der ihn jeder Zeitferne enthebt und ihn dem Jahrhundertthema „Aufklärung" zuordnet.5 Ein Giuseppe Balsamo, der Cagliostro vermutlich war, interessiert in diesem Zusammenhang nicht vorrangig, auch wenn Goethes genealogische Nachforschungen - Palermo 1787 - der Herkunft des Hochstaplers besondere Bedeutung beizumessen schienen. Der Betrüger selbst, nicht der biographische Normalfall: das „Monstrum" Cagliostro hat seinen Ort in Goethes morphologischen Reflexionen über Natur, Kunst und Gesellschaft, jenen „drei großen Weltgegenden" (HA 13, 103), über die er in Italien Klarheit gefunden hatte.6 Zwischen Auftauchen und Entschwinden entfaltet Cagliostro indessen eine einzigartige Magie des Scheins, die für ein Jahrzehnt die Welt zu verkehren drohte, war seine „romanhafte Existenz"7 das Medium, in dem Goethe das Ende des Zeitalters der Vernunft, das Ende des Ancien regime prognostizieren konnte. An dieser Stelle ist zu erläutern, was ich mit dem Begriff „Medienkritik" im Sinne habe. Seit dem Aufkommen der Neuen Medien kommt diesem mehr und mehr ein philosophisches und geschichtstheoretisches Moment zu. Der Zeichencharakter aller sozialen Erscheinungen unterliegt einer Apriori-Struktur der Vermittlung, wie man in Anlehnung an Karl-Otto 3
Johann E. Biester: Aberglauben und Schwärmerei in Wirkung und Rückwirkung zueinander, in: Berlinische Monatsschrift 6 (1785), S. 375-380. 4 Vgl. Fritz Martini: Goethes „verfehlte" Lustspiele, in: Natur und Idee. Fs. f. Andreas B. Wachsmuth, hg. v. Helmuth Holtzhauer, Weimar 1966, S. 164-210. 5 Vgl. Walter Müller-Seidel: Cagliostro und die Vorgeschichte der deutschen Klassik, in: Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte. Fs. f. Richard Brinkmann, hg. v. Jürgen Brummack u.a., Tübingen 1981, S. 136-163. 6 S. in diesem Band Kap. 4. 7 Etwas über Cagliostro [1786], in: Der Erzzauberer Cagliostro. Die Dokumente über ihn nebst zwölf Bildbeigaben, hg. v. Johannes v. Guenther, München 1919, S. 181-196, hier S. 183 = DAO, 281.
3.1. Das Cagliostro-Syndrom
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Apel sagen könnte,8 um mit dem bekannten Dictum Marshall McLuhans fortzufahren, daß das Medium nicht ohne Einwirkung auf die Botschaft bleibt. Steigt der Kunstwert des modernen Romans durch die besondere Gestaltung der personalen Reflektorfigur, so kompliziert sich der „Text der Geschichte" durch seine Medialität selber. Der Medienbereich des 18. Jahrhunderts reicht von der Laterna magica, die an Gespenster glauben machte, bis zu komplexen Kommunikationssystemen etwa des Schriftverkehrs, die alle ihren Teil zum mythischen Diskurs beitragen, in den sich die Individuen verstricken. Warum? Es ist so bequem, unmündig zu sein. Habe ich ein Buch, das fur mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, einen Arzt, der für mich die Diät beurteilt, u.s.w.: so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen [...]; andere werden das verdrießliche Geschäft schon für mich übernehmen. Daß der bei weitem größte Teil der Menschheit [...] den Schritt zur Mündigkeit, außer dem, daß er beschwerlich ist, auch für sehr gefährlich halte: dafür sorgen schon jene Vormünder, die die Oberaufsicht über sie gütigst auf sich genommen haben. (ThW 11,53)
Freilich gerät Kant hier in einen Zirkel - denn wer wäre in seinem Sinne nicht medienabhängig? - , den er nur appellativ (sapere aude!) aufbrechen kann, indem er den Vorgang des Räsonierens, des zur Räson-Kommens in die (zukünftige) Geschichte verlegt: „Wenn denn nun gefragt wird: Leben wir jetzt in einem aufgeklärten' Zeitalter? so ist die Antwort: Nein, aber wohl in einem Zeitalter der .Aufklärung'." (ThW 11, 59) Cagliostro ist ein illegitimes Kind zwar der Aufklärung; indes er gehört dazu. Eher Komplementär-, denn Gegenbegriff zu Aufklärung aber ist Okkultismus; auch und gerade die verschiedenen bürgerlichen Emanzipationsbewegungen bedienten sich ja des Geheimen. Damit erst ist die fundamentale Dialektik des Jahrhunderts bezeichnet. 1781 widmet Wieland z.B. dem „Hang der Menschen, an Magie und Geistererscheinungen zu glauben" eine aufschlußreiche Untersuchung. Er versucht darin, sich „gewisse auffallende Thatsachen begreiflich zu machen, wodurch seit einigen Jahren unsre Zeit, aller ihrer berühmten Aufklärung zu Trotz, auf einmahl in die dickste Verfinsterung der barbarischen Jahrhunderte zurück zu stürzen scheint" (WSW 8, 89). Wieland bemerkt - gewiß mit einem Seitenblick auf Cagliostro daß aus immer fortdauernden, in der schwachen Seite des Menschen gegründeten Ursachen, nicht nur Aberglaube und Schwärmerey unter dem größten Theile der Menschen mit der Aufklärung unter dem kleinsten Theile immer gleichen Schritt hält; sondern daß die Zeiten der größten Verfeinerung, des größten Luxus und der ungezähmtesten Liederlichkeit, von je her immer diejenigen gewesen sind, wo die schelmischen Schlauköpfe, die vor allem diesem zu Erreichung ihrer geheimen Absichten Vortheil zu ziehen wissen, das beste Spiel haben, (ebd., S. 329f.)
8 Vgl. Karl-Otto Apel: Transformation der Philosophie, Bd. 2: Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft, Frankfurt/M. 1973.
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3. Okkultismus und Aufklärung aus medienkritischer Sicht
Der Rationalismus des siecle des lumi&es war entgegen Horkheimers und Adornos Ansicht keineswegs „totalitär".9 Nicht jeder Mythos wurde zerbrochen - im Gegenteil - , noch war das Okkulte und Irrationale nur subkulturell angesiedelt. Bildlich gesprochen, stellt dieses nicht nur die „Nachtseite" der Aufklärung dar, sondern es ist der bei hellstem Sonnenschein unvermeidbare Schatten. Mythischer Glaube und rationales Wissen griffen im 18. Jahrhundert ineinander, gehörten zur selben bewußtseinsgeschichtlichen Struktur oder Strömung, mit der sich die Individuen auseinandersetzten: melancholisch oder schwärmerisch, politisch oder wissenschaftlich, betrügerisch oder religiös. Johann Caspar Lavater ist ein epochaltypisches Beispiel dafür, wie sich laut Goethe - so an Charlotte von Stein, 6. April 1782 - „der höchste Menschenverstand, und der krasseste Aberglaube durch das feinste und unauflöslichste Band" (HABr 1, 390) zusammenknüpften. Die nicht nur vielfach, sondern massiv zu belegende Summierung von okkulten Phähomenen zwischen 1779 und 1789 - dem Jahrzehnt Cagliostros - ist in der Tat erklärungsbedürftig. Waren irrationale Kräfte verdrängt worden oder waren solche nicht erst freigesetzt worden - durch aufklärerische Emanzipation? Elisa von der Recke schreibt 1787 rückblickend über Cagliostros Aufenthalt in Mitau im Jahre 1779: „Bei uns verband Cagliostro Religion, Magie und Freimaurerei sehr genau miteinander."10 Die Analyse ist treffend. Die Konjunktion einer Privatisierung der Religion, einer Psychologisierung der Magie, eines sich ankündigenden wissenschaftlichen und politischen Paradigmawechsels bestimmte ein geistiges und soziales Klima der Krise, in dem auch und gerade parasitäre Existenzen gediehen. Cagliostro war aber alles andere als „asozial". Das „Unrechte" seines Tuns gehörte zum System - wie Pietismus, Mesmerismus, Freimaurerei, politische Konspiration und eine spekulative Neuinterpretation naturwissenschaftlicher Befunde. „But to proceed with business", um mit Thomas Carlyle zu sprechen: The present inquirer, in obstinate investigation of a phenomenon so noteworthy, has searched through the whole not inconsiderable circle which his tether (of circumstances, geographical position, trade, health, extent of money-capital) enables him to describe: and, sad to say, with the most imperfect results. He has read Books in various languages and jargons: feared not to soil his fingers, hunting through ancient Magazines, to sicken his heart in any labyrinth of iniquity and imbecility.
9
Max Horkheimer u. Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt/M. 1971 (ungek. Neuausg.), S. 10. 10 Charlotte Elisa Konstantia von der Recke: Nachricht von des berüchtigten Cagliostro Aufenthalte in Mitau im Jahr 1779 und dessen dortigen magischen Operationen, hg. v. Friedrich Nicolai, Berlin u. Stettin 1787, S. 13 = DAO, 43. 11 Thomas Carlyle: Count Cagliostro, in two Flights [1833], in: ders.: The Complete Wortes, New York 1897, Bd. 15, S. 484-557, hier S. 492.
3.1. Das Cagliostro-Syndrom
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Die Reihe der Narrheiten, die in der Cagliostro-Rezeption Revue passieren, drängt zwar den Forscher in eine gattungsspezifische Haltung der Ironie, doch nur ein Zeitgenosse kann sich die Meinung erlauben: „Cagliostro hat Narren nach ihrer Narrheit behandelt, und da hat er eben nicht unrecht."12 Das Cagliostro-Syndrom, noch heute eine Gleichung mit zahlreichen und zwar definitiven Unbekannten, ist geradewegs ein Prüfstein für Vorurteile jeder Art. Man denke nur an das schlichte Prädikat ,3etrüger"! Woher schöpften denn die ihr „Kapital", von deren kostspieligen Hobbies Cagliostro profitierte? Cagliostro war kein Kleinkrimineller. Cette [sic] heureux Charlatan 6toit ηέ sans fortune, d'une famille obscure, dans une religion avilie, avec des passions fougueuses. II lui parut cruel de passer quarante ou cinquante ans sur la terre dans la privation, et de voir un tas de sots prospirer; plus de fripons encore occuper de grandes places, sans pouvoir partager ce qu'ils ont obtenu par l'intrigue et meme par des crimes.
Damit soll Cagliostro nicht zu einem Robin Hood des 18. Jahrhunderts stilisiert werden; Brechts durchaus relativierende Bemerkung zum modernen Räubertum ist allerdings in Erinnerung zu rufen. Hier anschließend sei zumindest bemerkt, daß Cagliostro bei seiner berufsbedingten Mobilität in mehreren europäischen Staatssystemen seinem Geschäft nachging: England, Rußland, Vatikan, Frankreich und in einigen Fürstentümern des zersplitterten deutschen Reiches. Jeder politische Kontext beeinflußt aber Rezeption und Interpretation in besonderem Maße. Eine Verurteilung Cagliostros seitens der Inquisition war quasi natürlich. Zu seiner geschichtlichen Signifikanz jedoch gehört auch Cagliostros mehrfach belegte vorrevolutionäre Wirkung, seine „progressive" Rezeption vor allem beim französischen Publikum.14 Daß Cagliostro in der Halsbandaffäre die Sympathien auf seiner Seite hatte, wurde aus Deutschland dagegen meist mit anderen Vorzeichen gesehen, sei es, daß man sich über die Dekadenz des französischen Hofes selbst mokierte, sei es, daß man im Hofskandal ein weltgeschichtliches Fanal erblickte - wie Goethe. Sein Auftreten in Deutschland rückte Cagliostro fast zwangsläufig ins „konservative" Lager, dem auch Goethe und Schiller teilweise zuzurechnen sind. Nicht zufällig reagierte gerade der Weimarer Illuminat Johann J. Ch. Bode mit einer der ersten Entlarvungsschriften auf den „neuen Thaumaturgen".15 Nicht zufällig paßt Cagliostro in Deutschland in die Verschwörungsszene der Jesuiten und Kryptokatholiken, wie berechtigt auch immer die Furcht vor einer antiauf-
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Franz R. M. Grossinger Beurtheilung der Klagschrift, die von der Gräfin von der Recke wider den berüchtigten Cagliostro im Druck erschienen ist, in: Franz Rudolph von Grossingers Staatenjoumal 1 (1787), S. 288-299, hier S. 296. 13 M6moire pour servir ä l'histoire du Comte de Cagliostro, au sujet de l'affaire du Cardinal de Rohan, ivdque et prince de Strasbourg, StraOburg 1786, S. 5. 14 S. Jacques Sold: La R6volution en questions, Paris 1988, S. 35. 15 Johann J. Ch. Bode: Ein paar Tröpflein aus dem Brunnen der Wahrheit. Ausgegossen vor dem neuen Thaumaturgen Caljostros, Am Vorgebürge 1781 = DAO, 177-198.
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3. Okkultismus und Aufklärung aus medienkritischer Sicht
klärerischen Rekatholisierung protestantischer Fürstentümer, vor „Proselytenmacherei durch Aberglauben"16 gewesen sein mag. Ein gewisser Wandel im System der Cagliostro-Rezeption machte sich schließlich nach Beginn der Französischen Revolution bemerkbar, indem nun Filiationen hergestellt werden zwischen Illuminaten- und Jakobinertum, politischer Reform und Terrorismus. „Religiöser und politischer Fanatismus erzeugen gleiche Wirkungen",17 schreibt etwa der volkstümliche, aber reaktionäre August von Kotzebue 1794 in einem „Memoire über den Revolutionsgeist". Goethes epigrammatische Attacken gegen die „Freiheitsapostel", gegen religiöse wie politische „Schwärmerei" sind bekannt: „Jeglichen Schwärmer schlagt mir ans Krem; im dreißigsten Jahre [...]." (HA 1, 179) Goethe bringt also Jesus und Cagliostro auf einen Nenner!18 An den „bereinigenden" Zugriff des Staatsapparates zu appellieren, bedeutete aber nicht selten eine absolutistische Parteinahme und war zudem im nicht zentral regierten und konfessionell gespaltenen Deutschland in praxi gar nicht so einfach, glaubte doch hier auch so manches gekrönte Haupt an Hexen und Gespenster ... Die Rechtslage war diffizil. Man wünschte gelegentlich gar die Zeit der Hexenprozesse zurück, nur um über eine rechtliche Handhabe gegen betrügerische Magie zu verfügen. Die Gesetzeslücke wurde in Preußen erst 1794, in Österreich erst 1803 geschlossen.19 Zur paradoxen politischen Legende Cagliostros gehört es schließlich, daß ihm nach der Verurteilung als Revolutionär in Rom und Einkerkerung und Tod in San Leo seitens des französischen Generals Dombrowski eine posthume Würdigung zuteil wurde: Als die napoleonischen Truppen die Festung im Jahre 1797 einnahmen, suchte man enthusiastisch nach Cagliostros Reliquien. So wird schließlich aus dem Schwarzkünstler und Dunkelmann ein Vertreter der Aufklärung - aus revolutionsbegeisterter Perspektive.
3.2. Cagliostro als Medienprodukt Cagliostro war kein Originalgenie, obwohl er - wenn in Deutschland und nicht in Palermo geboren (1743) - zur Generation des Sturm und Drang 16 Rez. Proselytenmacherei durch Aberglauben. Eine aus Criminalakten von dem Jahr 1788 gezogene Geschichte. Nebst philosophischen und historischen Untersuchungen über diesen Gegenstand, Tübingen 1791, in: Allgemeine deutsche Bibliothek 107 (1792), S. 590-596. 17 August von Kotzebue: Mimoire über den Revolutionsgeist [1794], in: Die Französische Revolution im Spiegel der deutschen Literatur, hg. v. Claus Träger u. Frauke Schäfer, Frankfurt/M. 1979, S. 208-219, hierS. 215. 18 Vgl. Conrad Rahe: Cagliostro und Christus. Zu den biblischen Anspielungen in Goethes Komödie „Der Groß-Cophta", Hamburg 1994. Vgl. Michael Titzmann: Zu Jung-Stillings „Theorie der Geisterkunde": Historischer Ort und Argumentationsstruktur, in: Johann Heinrich Jung-Stilling: Theorie der Geisterkunde [1808], hg. ν. Μ. T., München 1979, S. 381-417, hier S. 411.
3.2. Cagliostro als Medienprodukt
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gehört hätte. Lavater freilich hat ihn so verstanden: „Cagliostro ist ein höchst origineller, kraftvoller [...] Mensch." (SGG 16, 152f.) Goethe, an den diese briefliche Äußerung vom 22. April 1781 gerichtet war, repliziert am 18. März 1781, wie „Narr mit Krafft, und Lumpp doch so nah verwandt" (SGG 16, 162) sein könnten. Eine gewisse, ja „dämonische" Überzeugungskraft kann aber auch er Cagliostro nicht absprechen; zu sehr war überdies das Unwesen, das Cagliostro trieb, mit Goethes eigener Bildungsgeschichte verknüpft. Der Begriff der Individualität, der den des Originalen umfaßt und nach Alfred Baeumler auch zum „Wesen" des Irrationalismus gehört,20 ist dennoch nur schwer auf ihn anzuwenden. Cagliostro war - wie schon angedeutet - nicht der einzige zeitgenössische Zauberkünstler und Betrüger; ja der „Wundermänner kommen seit einiger Zeit öffentlicher und heimlicher, fast ein wenig zu viel",21 schreibt Bode 1781. Cagliostros magische Zunft besitzt zudem eine lange, ehrwürdige Tradition, die bis in biblische Vorzeiten reicht. Er hat unmittelbare Vorgänger, die er kopierte Swedenborg, Saint-Germain, Mesmer u.a. - , wie auch er kopiert wurde; er spielt - wohl nicht so stümperhaft, wie man zugunsten seiner Gläubiger und Adepten annehmen möchte - bekannte Rollen: vom Menschenfreund und Wunderdoktor (Abb. 3) bis hin zum faustischen Magier und neuen Messias;22 er unterstellt sich „unbekannten Oberen", gebraucht nach Art der Freimaurer oder Jesuiten Zeichen und Riten, ahmt das Abendmahl nach; kurz: er tut alles, um individuelle Züge abzustreifen - Herkunft, Bedürfhisse, Interessen - und typische Merkmale seiner Cophta-Rolle - die er auch nicht selber erfunden hat - herauszustreichen. Cagliostro insinuiert Alter und Weisheit der Propheten; ja der Divo imitiert Gott: „Ego sum qui sum."23 Selbst seine strengsten Richter stellten fest: „Unglaube und Betrügerei waren bei ihm so zur Natur geworden [...], ohne daß er es selbst gewahr wurde."24 Politische Geschichte wie Geistesgeschichte entsteht in der Regel dadurch, daß Zeugnisse geschaffen werden: Taten und Texte historischer Relevanz. Mag auch dabei der Zusammenhang von Resultat und Urheberschaft gelegentlich fraglich sein, im Falle Cagliostros scheinen die Relationen und Größenverhältnisse geradewegs vertauscht: Ohne Verfasser irgendwelcher bedeutender Schriften zu sein, erzeugt er eine Flut Cagliostrana aus der Feder von Autoren verschiedensten Ranges - „ghost writers" im wahrsten Sinn des Wortes - und Schriften verschiedensten Fiktionsgrades, 20
Vgl. Alfred Baeumler: Das Irrationalitätsproblem in der Ästhetik und Logik des 18. Jahrhunderts bis zur „Kritik der Urteilskraft", Halle/S. 1923, S. 4. 21 Bode: Ein paar Tröpflein, S. 7 = DAO, 179. 22 Zahlreiche weitere Abb. s. DAO. 23 Cagliostro, zit. n. Marc Haven: Le maitre inconnu: Cagliostro. Etude historique et critique sur la haute magie [1910], Lyon 1964 (Neuaufl.), S. 214. 24 Leben und Taten des Joseph Balsamo, sogenannten Grafen Cagliostro, S. 1-180, hier S. 62 = DAO, 505.
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3. Okkultismus und Aufklärung aus medienkritischer Sicht
wobei das Verhältnis von Fiktion und Sakralität besonders zu bestimmen wäre. Möglicherweise war er des Lesens und Schreibens nicht einmal recht kundig, wenn man u.a. Giacomo Casanova - alias Chevalier de Seingalt glauben darf,25 der ihm nicht nur dieses, eine gewisse Bildung, voraus hatte und ihn als einer der ersten durchschaute. Die charismatische Wirkung Cagliostros auf Frauen - man denke nur z.B. an Elisa von der Recke - scheint nicht vordergründig erotisch geprägt, sondern enthält in ihrem Mystizismus eine emanzipatorische Nuance. Als der Unterschicht entstammender Sizilianer sprach Cagliostro schlecht italienisch, gebrochen französisch - man hielt ihn lange für einen „portugiesischen Juden" - und fand sich mit diesem mehrfach bezeugten „baragouin",26 diesem „Kauderwelsch" in ganz Europa und in jeder sozialen Lage zurecht... Ohne geschichtlich zu handeln - wie weit er im Untergrund tätig gewesen sein mag und in wessen Auftrag, muß offen bleiben - , gerät er in politisch brisante Situationen; so insbesondere in Paris und Petersburg, wo sein allem Anschein nach politisch passives Wirken als Modearzt und „ägyptischer" Oberpriester zu einer Zerreißprobe des Ancien regime eskalierte. Dieser geschichtliche bzw. textuelle Negativposten, das bereits vermerkte Romanhafte seiner Geschichtlichkeit faszinieren mehr als die Aufhellung aller biographischen Schattenseiten; und diese mythische Existenz „in verbis", der sich gerade der Naturwissenschaftler Goethe mit aller Vehemenz entgegenstellte (HABr 1, 476), erlaubt es auch erst, von regelrechter Rezeption zu sprechen. Zu Recht hat man das 18. Jahrhundert das Jahrhundert des Briefes genannt; auf die Bedeutung der Autobiographie ist zurückzukommen. Briefliche Kommunikation scheint auch Jürgen Habermas typisch für gewisse Formen der Öffentlichkeit, auch wenn er übersieht, wie in einer angeblich auf Aufklärung und Vernunft gegründeten Gesellschaft Geheimhaltungsphänomene und Okkultismen eine umfassende Rolle spielten.27 Doch auch der Brief gehört nicht nur zur Konfessionsliteratur zartfühlender Privatleute, sondern ist ebenso Medium einer persuasiven Strategie, die sowohl Verführern und Betrügern als auch engagierten Aufklärern zur Verfügung steht. Ein ebenso klassisches Genre des Zeitalters der Vernunft war - mehr noch als die erst entstehende Zeitung - die Zeitschrift, deren vorzügliche Institution, die Lesegesellschaften, neben den Logen Ort kritisch moralischen Räsonnements wie okkulter Schauplatz waren. 25 Vgl. Giacomo Casanova: Soliloque d'un penseur. Correspondance in6dite 1773-1783, hg. v. Raoul νέζε u. Edouard Maynical, Paris 1926 (Pages Casanoviennes), S. 14f. u. ders.: Geschichte meines Lebens (Propyläen-Ausg.), 13 Bde., hg. v. Erich Loos u. übers, v. Heinz v. Sauter, Frankfurt/M. 1964, Bd. 11, S. 194-198. 26 Comte Beugnot: M6moires, 2 Bde., hg. v. Auguste Beugnot, Paris 1866, Bd. 1, S. 60. 27 Vgl. Jürgen Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Frankfurt/M. 1971 (5. Aufl.; Sonderausg.), bes. S. 66-69; vgl. auch Geheime Gesellschaften im 18. Jahrhundert, hg. v. Peter Ch. Ludz, Wolfenbüttel 1978 (Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung, Bd. 5).
3.2. Cagliostro als Medienprodukt
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Abb. 3: Christophe Guerin: Le Comte de Cagliostro, 1781
Zu erwähnen sind hier auch Kleindrucke wie Broschüren, Flugblätter und dergleichen, die freilich nicht immer der Aufklärung förderlich waren, aber zumindest nicht das Unbildungsmonopol gegenwärtiger Boulevardblätter und Fernsehsendungen besaßen. Hofrat Schiller war sich nicht zu gut, noch 1799 einen „Schauplatz der ausgearteten Menschheit oder Nachricht von
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3. Okkultismus und Aufklärung aus medienkritischer Sicht
den merkwürdigsten Lebensumständen berüchtigster Bösewichter und Betrüger" mit einer durchaus lesenswerten Vorrede zu versehen: einem Abdruck der einleitenden Passagen aus dem „Verbrecher aus verlorener Ehre". Ein Kapitel dieser fragwürdigen „Pitaval"-Fortsetzung ist natürlich Cagliostro gewidmet. Allerdings ist der Brief typischer für das Kommunikationssystem des 18. Jahrhunderts als der journalistische Artikel oder der Essay, die ja nicht zufallig häufig in Briefform abgefaßt werden. Der Brief nämlich beherrscht nicht nur das literarische Gattungssystem, sondern dominiert auch die Gattung, in die er eingerückt wird. Die Argumentationsstruktur des privaten oder öffentlichen Bekenntnis-Briefes hat auch über dessen engere Gattungsgrenzen hinaus Bedeutung. Hier muß man einerseits eine am „Buch der Bücher" exegetisch geschulte, autoritätsgläubige Mentalität in weiten Teilen des Publikums in Rechnung stellen, andererseits aber den Fortschritt darin sehen, daß das Subjekt nun durchaus seine Meinung an die Stelle des göttlich geoffenbarten Wortes setzen konnte. Empfehlungsschreiben verschafften Berufenen wie Unberufenen Eintritt in bestimmte, relativ geschlossene Gesellschaftsgruppen - Aristokratie, Freimaurerei, Klerus usw. - und definierten schon weitgehend den Erwartungsrahmen. Ohne Visitenkarte und Begleitbrief war es ohnehin schwer zu reisen. Autographen verbürgten die Glaubwürdigkeit ihrer Überbringer bzw. der Beschriebenen. Es gab Schutzbriefe wie Lettres de cachet. Cagliostro wurde im übrigen durch eine einzige briefliche Mitteilung aus Palermo denunziert. Briefe konnten freilich auch gefälscht sein; ein bekanntes Opfer des Briefverkehrs: Kardinal de Rohan! Briefe, integriert in andere Texte oder diese integrierend, schufen Mythos, insbesondere auch Reisebriefe. Kam der Prophet nicht an den Ort, so mußten Korrespondenten sich auf die Reise machen, um vom Ort des Geschehens zu berichten. Wie das Beispiel von Christoph Meiners' „Briefen über die Schweiz" zeigt, war es jedoch meistens nicht einmal vor Ort möglich, „den Grafen Cagliostro [...] in der Nähe [zu] sehen",28 geschweige denn zu sprechen, kurz: zu recherchieren. Die öffentliche Meinung bewegte sich in einem mythologischen Zirkel. Goethe, auch hier von epochaler Geistesgegenwart, hat 1805 diesen Punkt treffend aufgezeigt: Die Kommunikation der Weltbürger ging damals noch nicht so schnell wie gegenwärtig, noch konnte jemand, der an entfernten Orten wie Swedenborg [...] seinen Aufenthalt nahm, immer die beste Gelegenheit finden, sich in geheimnisvolles Dunkel zu hüllen, Geister zu berufen, und am Stein der Weisen zu arbeiten. Haben wir nicht in den neueren Tagen Cagliostro gesehen, wie er große Räume eilig durchstreifen, wechselweise im Süden, Norden, Westen seine Taschenspielereien treiben und überall Anhänger finden konnte? Ist es denn zuviel gesagt, daß ein gewisser Aberglaube an dämonische Menschen niemals aufhören, ja daß zu jeder Zeit sich immer ein Ideal finden wird, wo das problematische Wahre, vor dem wir in der Theorie allein Respekt haben, sich in der Ausübung mit der Lüge auf das allerbequemste begatten kann. (HA 10,485f.)
28
Christoph Meiners: Briefe über die Schweiz, 6 Bde., Berlin 1788 (2., verb. u. verm. Aufl.), Bd. 2, S. 421.
3.3. Erzählung oder Komödie
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Auch wenn Redakteure wie z.B. Schiller (1781) unermüdlich versicherten: „Viel Lärmens um nichts" (SW 5, 849) - so im Falle von Cagliostros Aufenthalt in Straßburg - , kamen die in Fortsetzung erscheinenden „Anekdoten vom Wunderglauben in .,."29 doch dem Publikumsgeschmack entgegen, prägten ihn mehr, als ihn zu bilden. So findet sich beispielsweise Kants Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?" im selben Band der „Berlinischen Monatsschrift" (1784) wohlvereint mit einer Anekdote vom „Pseudo-Grafen Cagliostro. Aus dem Tagebuch eines Reisenden" (Straßburg 1783). Diese Nachbarschaft, die Werkausgaben unterdrücken, ist signifikant.
3.3. Erzählung oder Komödie Bemerkenswert in diesem Zusammenhang: das Versagen der aufklärerischen Satire! Wenn Winfried Freund in einer Sozialgeschichte der deutschen Literatur betont: „Satirische Dichtungen treten verstärkt in Umbruchzeiten auf, in denen rivalisierende Werte nebeneinander bestehen oder einander ablösen",30 so handelt es sich entweder in den 80er Jahren um keine Umbruchzeit - was ich nicht annehmen möchte - , oder aber Freund bleibt für den genannten Zeitraum einen schlüssigen Beweis seiner These schuldig. War den Satirikern zu Cagliostro „nichts eingefallen" wie später Karl Kraus aus gegebenem Anlaß in der „Dritten Walpurgisnacht" (1933)? Gewiß finden sich bei Schiller, Bode, Moszinsky, Mirabeau u.a. schon früh konstitutive Elemente der Satire; „eine Satire, ein Werk, das ganz davon geprägt ist",31 kommt aber in der Prosa nicht zustande. Georg Christoph Lichtenberg, dem wir immerhin einen „AnschlagZeddel im Namen von Philadelphia" (1777) verdanken, stellt in einem Aufsatz über die „Schwärmerei unserer Zeiten" (1783) mit Bezug auf Cervantes fest: „gewiß ist jetzt der wichtigste Dienst, den die Bücher zuweilen leisten, Köpfe zu verrücken, von den Ritterbüchern auf die ,spagirischen' gefallen."32 Ein „Don Quixote", der diese Situation thematisierte, schreibt Lichtenberg, „ein solcher Roman würde zugleich ein Roman für Europa werden".33 Und an anderer Stelle postuliert er - vergeblich: ,Alles ist reif
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S. Berlinische Monatsschrift 7 (1786), S. 559ff. Winfried Freund: Prosa-Satire. Satirische Romane im späten 18. Jahrhundert, in: Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur, hg. v. Rolf Grimminger, München 1980, Bd. 3/2, S. 716-738, hier S. 716. 31 Jürgen Brummack: Zu Begriff und Theorie der Satire, in: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, Sh. 45 (1971), S. 275-370, hier S. 282. 32 Georg Christoph Lichtenberg: Prof. Lichtenbergs Antwort auf das Sendschreiben eines Ungenannten über die Schwärmerei unserer Zeiten [1783], in: ders.: Schriften und Briefe, hg. v. Wolfgang Promies, München 1972, Bd. 3, S. 414-426, hier S. 417. 33 Ebd. 30
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3. Okkultismus und Aufklärung aus medienkritischer Sicht
für einen Mann, der Juvenals Geißel ergreift, und darunter haut, damit Joseph Platz findet, wenn er dahin kommt."34 Jörg Schönert hat beobachtet, daß gerade nach 1780 die große Zeit der moralischen Wochenschriften vorbei war und erst ab 1790 politische Journale und essayistische Sachliteratur - freilich mit anderen thematischen Schwerpunkten - wieder aufblühen. Auch den Beginn der „Krise des satirischen Erzählens"35 um 1790 sollte man um ein Jahrzehnt vordatieren, wenn man schon mit Wielands „Abderiten" (1781) einen Endpunkt konstatiert. Einerseits dienten entsprechende Periodika natürlich in jeder Hinsicht der allgemeinen und kritischen Horizonterweiterung, ja waren im Falle der „Berlinischen Monatsschrift" oder der „Allgemeinen deutschen Bibliothek" eigentliches „Medium der Aufklärung";36 andererseits besaßen bei weiten Teilen der Bevölkerung Zeitschrift und Zeitung aber auch ein Informationsmonopol. Die Folgerung liegt nahe, daß damit Presseberichten von okkulten Erscheinungen prinzipiell mehr Wahrheitswert zugemessen wurde, als dies heute im Zeitalter der Massenmedien der Fall sein mag, wo zwischen biedermeierlicher RechtschafFenheit von Informationssendungen und unterhaltsamer Verblödung ein kleiner „zap" genügt... Statt allgemeinem Infotainment heute neutralisierte die mediale Faktizität des 18. Jahrhunderts gegebenenfalls satirische Untertöne. Kamen entsprechende Denkgewohnheiten - oder das „Unvermögen" zu denken - hinzu, wurde auktoriale Irritation nicht mehr wahrnehmbar, sondern stofflicher Reiz. Der Glaube der Aufklärer an die Macht des Wortes, die gutgemeinte aufklärerische Mischung von Unterhaltung und Belehrung hatten also auch ihre Schattenseiten. Dessenungeachtet, führten aufklärerische Zeitschriften einen regelrechten Kampf gegen jede Form von Aberglauben, enthüllten selbst mit fanatischer Beflissenheit jeden nur greifbaren Wundertäter worüber ebenso der Verfasser des J a u s t " wie der (selbst) magnetismusgläubige Jean Paul schon damals ihren Spott ausgossen. Entsprechende Titel sind z.B.: „Noch zwei Wundertäter", „Neue Aufklärung einer alten sächsischen Gespenstergeschichte", „Ein Pommerscher Cagliostro"37 usw. Die mirakulöse Thematik von damals ist heute durch „sex and crime" abgelöst - welch ein Fortschritt! Der feudale Tratsch ist ohnehin derselbe geblieben. Der kommunikative Status - Subjektivität - war bei Pro und Contra derselbe: das gilt für die briefliche Mitteilung wie für die autobiographische Ich-Form des Erinnerns und Bekennens. Meinung stand sozusagen gegen 34
Ebd., S. 419. Jörg Schönert: Roman und Satire im 18. Jahrhundert. Ein Beitrag zur Poetik, Stuttgart 1969, S. 167. 36 Paul Raabe: Die Zeitschrift als Medium der Aufklärung, in: Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung 1 (1974), S. 99-136. 37 Vgl. Berlinische Monatsschrift, Bd. 5 (1785), S. 8-32 [Graf Saint-Geimain u. Doktor Mesmer]; Bd. 6 (1785), S. 561-567; Bd. 8 (1786), S. 269-276. 35
3.3. Erzählung oder Komödie
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Meinung, was nicht selten erst recht zur Verunsicherung des Adressaten oder des Publikums beitragen mochte. Briefe von Privatleuten besitzen im literarischen Leben Cagliostros - auch im wortwörtlichen Sinne: solange er am Leben war - eine basiale Bedeutung. Sie vor allem sind Medien des Hörensagens, dem er seine geheime wie öffentliche Wirkung verdankt. Neben den bereits erwähnten Empfehlungsschreiben und Schutzbriefen, die natürlich im seltensten Falle erhalten sind, und den ebensowenig veröffentlichten, größtenteils über Briefkurier laufenden Informationen der Freimaurerlogen und der verschiedenen Geheimpolizeien gibt es umfangreiche, vielfach verzweigte und auch literarisch bedeutsame Briefwechsel, die Cagliostro gewidmet sind. So wurde bekanntlich der Bruch Goethes mit Lavater im brieflichen Austausch über Cagliostro besiegelt. Goethe bedeutet seinem Jugendfreund am 19. Februar 1781 mit aller endgültigen Schärfe: man werde nicht „darum älter, um wieder kindisch zu werden" (SGG 16,148). Dabei befand sich Johann Caspar Lavater noch in der privilegierten Situation, nicht nur aus zweiter oder dritter Hand Informationen zu empfangen, auch wenn Cagliostro auf seine brieflichen Anfragen zunächst nicht zu antworten geruhte. Lavater bezog sein Wissen über den „Arkanisten" und „Antiphilosophen" - so an Goethe, 22. April 1781 (SGG 16, 153) - nicht nur aus mündlichen Berichten Elisas von der Recke, derzeit noch gläubige Anhängerin Swedenborgs und Cagliostros, sondern auch aus einer persönlichen Begegnung mit diesem in Straßburg selber - die aber nicht gerade informativ verlaufen war. Die Perspektivität des Briefes, d.h. der subjektive Informations- und Weltzuschnitt, den wir aus der unmittelbaren Mythenproduktion um Cagliostro kennen, dient sowohl bei Schiller als auch weiterhin bei Ε. Τ. A. Hoffmann, Ludwig Tieck, Cajetan Tschink und natürlich beim SchillerFortsetzer Follenius als vorrangiges Gestaltungsmittel. Es erzeugt die geheimnisträchtige Spannung des Textes bzw. die ideologische Verunsicherung des Lesers, denn auch der Erzähler (als Figur) durchschaut die Geschichte nicht ganz. Der anonyme Rezensent des Schillerschen „Geistersehers" vermutet in der „Allgemeinen deutschen Bibliothek" (1792) zu Recht: „Man würde sich [...] sehr irren, wenn man den Eindruck, den die Erzählung macht, blos von der Erweckung der Neugierde, blos von der gespannten Erwartung herleiten wollte."38 Die subjektive Verrätselung selber erscheint also ästhetisch wirkungsmächtiger als die bei Schiller ohnehin ausbleibende Enträtselung - auch wenn das schlichtere Gemüter frustrieren mochte. Der von Gerhard Kaiser vermerkten „irritierenden Doppeldeutigkeit"39 der Schillerschen Erzählweise entspricht auch die Doppelung der GeheimRez. Schiller: Der Geisterseher. Eine Geschichte aus den Memoiren des Grafen von O** Leipzig 1789, in: Allgemeine Deutsche Bibliothek 109 (1792), S. 147-149, hier S. 148. Gerhard Kaiser: Aufklärung, Empfindsamkeit und Sturm und Drang, München 1979 (3., Überarb. Aufl.; Geschichte der deutschen Literatur, Bd. 3), S. 296.
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3. Okkultismus und Aufklärung aus medienkritischer Sicht
bundintrige im genannten Text: Der Armenier entlarvt den Sizilianer als Taschenspieler, nur um über diese Manifestation seiner Allmacht den Prinzen desto sicherer an sich zu binden - und der Sizilianer erzählt eine weitere Gruselgeschichte. Somit sind die magischen bzw. konspirativen Instanzen ebenso wie die literarischen Medien ineinander - doppelt oder mehrfach (Memoiren, Erzählung, Brief usw.) - integriert. Dadurch entsteht ein mystisch-mythischer Diskurs, der sich selbst beglaubigt und aus dem Protagonist wie Leser nicht mehr herausfinden. Der infinitive Regreß der Wahrheitsfindung überforderte insbesondere die öffentliche Meinung des 18. Jahrhunderts. Der Erzähler Schiller, der hier den Nerv seiner Zeit getroffen hatte - aber nicht so, wie er es wollte - , schreibt im „Geisterseher": „Ein entlarvter Betrug machte ihm [dem Prinzen] auch die Wahrheit verdächtig, weil er sich die Wahrheit unglücklicherweise durch gleich schlechte Gründe bewiesen hatte." (NA 16,104) Gerade in dieser unendlichen Semiose machte sich einerseits das Erzählproblem Schillers bemerkbar - das ihn ja zum Abbruch des Textes bewogen hatte - , andererseits aber auch sein Publikumserfolg: daß er nicht von der effektvollen und wirklichkeitstreuen Darstellung von Bewußtseinsstrukturen zu einem satirischen, wenn nicht überhaupt zu einem ästhetisch erzieherischen Konzept gefunden hatte. Die Befangenheit in einem epochalen Zirkel wurde weder von Schiller noch von seinen Zeitgenossen als das insgeheime Thema, das im Grunde unlösbare Problem des „Geistersehers", erkannt. Statt dessen regte sich Autoren- und Publikumsfrust. Auf die Frage künstlerischen Gelingens wird anläßlich von Goethes „GroßCophta"-Komödie zurückzukommen sein. Immerhin stammen einige wenige briefliche Autographen von Cagliostro selber, so etwa ein auf Italienisch abgefaßter Brief an Elisa von der Recke, abgesandt aus Petersburg, um jene offensichtlich zum Stillschweigen zu verpflichten.40 Aber schon im Falle seiner sog. „Lettre au Peuple fran^ais" bedient sich Cagliostro zumindest eines talentierten Übersetzers, und er berührt hier nicht zufällig die Problematik von Rechtsprechung und Information: Quand le roi signe une lettre d'exil ou d'emprisonnement [...] sur quoi a-t-il jug6? Sur le rapport de son ministre, et, ce ministre sur quoi s'est-il fondi? Sur des plaintes inconnues, sur des informations tenibreuses, qui ne sont jamais communiques: quelquefois meme sur de simple rumeurs, sur des bruits calomnieux, semis par la haine, et recueillis par l'envie.41
Eine einzigartige Hochblüte erlebte die Cagliostro-Presse verständlicherweise während des Halsbandprozesses. Neben den noch vorhandenen Gerichtsprotokollen, Anklage- und Verteidigungsschriften und anderen umlaufenden Mitteilungen, die sämtlich in großer Auflage vertrieben wurden,
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Cagliostros Brief ist abgedr. in: Recke: Nachricht von des berüchtigten Cagliostro Aufenthalte in Mitau, S. 147-150 = DAO, 123. 41 Cagliostro, zit. in: Haven: Le maitre inconnu, S. 184.
3.3. Erzählung oder Komödie
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florierte das Geschäft mit der Sensation auch mit noch weniger seriösen Schriften, Pamphleten, Broschüren etc. Das Pariser Volk sang Spottlieder über Kardinal de Rohan und Jeanne de la Motte; und daß der Ruf des Königshauses - des „bordel royal" - dabei noch mehr in Mitleidenschaft gezogen wurde als bisher, versteht sich. Aus der Feder des Rechtsanwalts Thilorier stammt das „Memoire pour le Comte de Cagliostro" (1786), in dem der wohl tatsächlich zu Unrecht Verklagte nicht nur den Sachverhalt aus seiner Sicht schildert, sondern auch die phantastische Geschichte seines Lebens, seiner Weltreisen und Kenntnisse - „la plus grande partie des langues de l'Orient"42 - erstmals öffentlich zum Besten gibt, worüber sich Goethe noch 1817 erboste (HA 11, 253). Nicht nur seine Verteidigungsschrift (memoire) besitzt im Falle des Halsbandprozesses und der Cagliostro-Rezeption einen ihrer juristischen Intention zuwiderlaufenden Memoirencharakter, auch die anderen Plädoyers tendieren zur reinen Fiktion. Schon während des Prozesses stellte Mirabeau fest: „La confession du Comte de Cagliostro ressemble ä un conte des mille et une nuits",43 und er nimmt an, daß diese „teinte Orientale" zu nichts anderem diene, als die „existence sociale" des „edlen Reisenden" zu verschleiern. Cagliostros autobiographische Konfession war ein literarisches Ereignis sondersgleichen, ein Geschäft im übrigen, in das recht bald auch andere, nicht weniger dubiose Autoren einsteigen sollten als der Graf selber. Apokryphe Cagliostro-Mitteilungen enthielten, sei es dokumentarischen, sei es Sensationswert, Sensation wurde mit Dokumentation verwechselt. Ein (falscher) Marquis de Luchet wiederum verarbeitet das wohl am wenigsten geeignete „Memoire", die Verteidigungsschrift der Hauptangeklagten und laut Urteilsspruch allein schuldigen Comtesse de la Motte - sie hatte ihre Schuld auf Cagliostro abzuwälzen versucht - zu Pseudomemoiren: „Memoires authentiques pour servir a l'histoire du Comte de Cagliostro" (1785). Ein gewisser Manuel veröffentlicht als Epigraph dazu eine „Lettre d'un garde du Roi pour servir de suite aux memoires sur Cagliostro" (1786), wo ein Zusammenwirken von Cagliostro und Jeanne de la Motte behauptet wird. Die nach grausamer Strafe aber bald aus der Haft entflohene Hauptschuldige publiziert im Londoner Exil „Memoires justificatifs de la Comtesse de Valois de la Motte, ecrits par elle-meme" (1788), in denen das Komplott wieder ganz anders dargestellt, Cagliostro und Marie-Antoinette insbesondere zu Mitwissern und Mitschuldigen abgestempelt werden. Überdies wird - nicht uninteressant - der „allwissende" Polizeichef Breteuil, erklärter Feind des Kardinal de Rohan, als derjenige bezeichnet, „qui va jouer,
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Memoire pour le Comte de Cagliostro, accuse; contre M. le procureur-g6n6ral, accusateur; en presence de M. le Cardinal de Rohan, de la Comtesse de la Motte, et autres co-accus6s. Paris 1786, S. 10 = DAC>, 286. 43 Lettre du Comte de Mirabeau ä *** sur M.M. de Cagliostro et Lavater, Berlin 1786, S. 8f.
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3. Okkultismus und Aufklärung aus medienkritischer Sicht
derriöre la toile, le role principal du drame horrible".44 Als Beweismittel fügt Jeanne de la Motte - zumindest eine geniale Intrigantin - 30 Briefe Marie-Antoinettes bzw. Louis' de Rohan bei, denen zufolge ab Brief 16 vom 15. August 1787 die Königin den Kardinal in verfänglicher Weise geduzt hätte. Das zweibändige 1792 erschienene „Vie de la Jeanne"45 in ähnlicher Aufmachung wurde von den französischen Behörden aufgekauft, um die den ohnehin angeschlagenen Ruf des Königshauses schädigende Auflage zu verbrennen; das ominöse Werk fand dennoch seine Verbreitung. Neben brieflichen und biographischen Formen im Medium der Skandalpresse gab es auch naivere Erzeugnisse im Stile der phantastischen Reiseerzählung und des ägyptischen Erziehungsromans nach Art Fenelons oder Terrassons, in deren Genre ja schon der Romanesque etranger"46 der Gerichtsverhandlung brilliert hatte. Zu nennen sind vor allem die „Confessions du Comte *** Avec l'histoire de ses voyages en Russie, Turquie, Italie, et dans les pyramides d'Egypte" (1787). Das in Cagliostros „M6moire" angedeutete ägyptische Reiseabenteuer mit den „immenses souterains creuses" 4 7 das ich herausgreife, wird nun von dem Anonymus ausgesponnen zu einer Episode eines Garten Eden unter der größten Pyramide - der Autor kennt nicht einmal deren Namen - , wo das Volk der Assiliden lebt. Cagliostro, ein zweiter Sindbad, gelangt dorthin mit Hilfe einer als authentisch abgedruckten Hieroglyphentafel,48 die freilich nur einfachste Bildzeichen enthält: die Abbildung eines Auges bedeutet .Achtung", die eines Feuers „heiß" usw. In der „Lettre du Comte de Cagliostro au Peuple anglais, pour servir de suite ä ses memoires" (1786) verteidigt Cagliostro wohl mit Hilfe Thiloriers - sein Londoner Exil. Seine Rolle als „out-law", die er zuvor zu seinen Zwecken zu gebrauchen wußte, macht ihm nun nach der Exponierung im Halsbandprozeß zu schaffen. Man versucht ihn zu erpressen, ja zu entfuhren. Der berüchtigte Pamphletist Thiveneau de Morande setzt in dem von ihm geleiteten und wohl vom französischen Hof finanzierten „Courier de l'Europe" zu einer Diffamierungs-, nicht unbe-
44
M6moires justificatifs de la Comtesse de Valois de la Motte, ecrits par elle-meme, London 1788, S. 120. 43 Vie de Jeanne de St. R6my de Valois, ci-devant comtesse de la Motte; contenant un R6cit d&ailte & exact des 6vinements extraordinaires auxquels cette Dame infortun£e a eu part depuis sa naissance, & qui ont contribu6 ä έΐβνβτ έ la digniti de Confidente & Favorite de la Reine de France; Avec plusieurs particularit6s ult6rieures, propres a 6claircir les transactions mystfrieuses relatives au Collier de Diamans, A son Emprisonnement, & ä son Evasion presque miraculeuse & c, & c, & sa Requete & l'Assemblie Nationale, ä l'effet d'obtenir une Rivision de son Procis, Ecrite par elle-meme, 2 Bde., Paris 1792/93 (L'an Premier de la R6publique Franijaise). 46 Lettre du Comte de Mirabeau, S. 8. 47 Memoire pour le Comte de Cagliostro, S. 10 = DAO, 286. 48 Vgl. auch Cagliostros ägyptische Pyramiden, in: Berlinische Monatsschrift, Bd. 7 (1786), S. 566-568.
3.3. Erzählung oder Komödie
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dingt Aufklärungskampagne an, die ihre Informationen zuallererst von Carlo Sachi, dem ehemaligen Kammerdiener Cagliostros, und wiederum dem „M6moire" der Jeanne de la Motte bezog. Der Kammerdiener war im übrigen selber mit einer Publikation hervorgetreten, die auch mehrfach ins Deutsche übertragen wurde. Seine „Aechten Nachrichten von dem Grafen Cagliostro. Aus der Handschrift seines entflohenen Kammerdieners" (1786) rücken mehrere pikante Details aus Cagliostros Leben - wie echt auch immer - dem Pornographischen nahe. Das Titelkupfer (s. Abb. 34) zeigt den nackten Cagliostro, eine kreisförmig gekrümmte Schlange in seiner Rechten, auf einer Weltkugel in den Kreis seiner entblößten Verehrerinnen herabschwebend ... Stimmten die biographischen Angaben des Kammerdieners zur Person Cagliostros und seiner Gemahlin mit Sicherheit nicht, drangen jedoch im „Courier de PEurope" erstmals Daten, zum Teil auch nur Halbwahrheiten über Cagliostros wirkliche Identität an die Öffentlichkeit - wohl aus Quellen der Pariser Polizei zugespielt. Ausgerechnet ein Ehekrach des Jahres 1772 war dort in die Akten gelangt, genauer gesagt: eine Kuppeleiaffare. Cagliostro dementiert natürlich mit gutem Grund die juristisch fragwürdige Identität des registrierten Paares, kann es aber bei aller Richtigstellung nicht unterlassen, seine Kunst, Lotteriezahlen vorauszusagen, gebührend herauszustreichen. Schließlich werden mehrere Briefe Cagliostros an Morande abgedruckt, deren einer den unbequemen Skandaljournalisten zu einem Duell-Essen herausfordert: Le lendemain de ce dijeuner il sera arriv6, de quatre choses l'une: ou nous serons morts tous les deux, ou nous ne serons morts ni l'un ni Γ autre, ou je serai mort et vous ne le serez pas: ou vous serez mort et je ne le serai pas. Sur ces quatre chances, je vous en donne trois; et je parie 5000 guin6es que le lendemain du dijeuner vous serez mort et que je me porterez bien. 9
Das Renommee des Magiers war noch groß genug, daß der Geforderte ablehnte und statt dessen einen Tierversuch vorschlug, worauf Cagliostro mit der spitzen Bemerkung reagierte, im ganzen Tierreich sei ein Morande vergleichbares Exemplar nicht aufzufinden. Der Brief schließt mit einer eindrucksvollen Liste von zehn Cagliostro-Gegnern, die auf mysteriöse Weise ums Leben gekommen waren. „Ma correspondance avec M. le Comte de Cagliostro" erfährt im selben Jahr ihres Erscheinens 1786 bereits eine zweite Auflage; eine „Suite de ma correspondance" folgt sogleich. Als Herausgeber firmiert eine Societe des Cagliostriens, beileibe nicht eine gläubige Anhängerschaft, sondern eine Art „Mythenverwertungsgesellschaft";50 der Magier wird also publizistisch, d.h. wirtschaftlich ausgeschlachtet. Neben weiteren Ereignissen aus dem „wunderlichen Leben des berüchtigten Grafen" - mit juristisch-pleonastischer Authentizitätsfor49
Lettre du Comte de Cagliostro au Peuple Anglais, pour servir de suite ä ses m£moires, Paris 1786, S. 42. 50 Vgl. Carl Einstein: G.F.R.G. [GmbH fur religiöse Gründungen], in: ders.: Werke, 4 Bde., hg. v. Rolf-Peter Baacke u.a., Berlin u. Wien 1980-1992, Bd. 1, S. 135-165.
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3. Okkultismus und Aufklärung aus medienkritischer Sicht
mel: „6crits sur le vu des preuves les plus authentiques"51 enthält sie Briefe Morandes mit verschiedenen Cagliostranischen Repliken aus dem „Courier de l'Europe", die zum Teil auch bereits in der „Lettre au Peuple anglais" erschienen waren. Vor allem bringt die Broschüre eine Antwort auf die offenbar vorausgegangene „Lettre ecrite ä Mforande] par Μ. le Comte de Cagliostro" (1786), der sog. „Lettre au Peuple franijais", die doch bei allen Mystifikationen und Gegenmystifikationen eine deutliche Ablehnung der vermeintlichen „republikanischen" Prophezeihungen Cagliostros enthält: „tant que nous aurons des Monarques aussi bienfaisans que Louis XVI pourquoi desirions-nous une nouvelle constitution?"52 In der „Suite de ma correspondance" werden im besten Bildzeitungsstil die Amouren Seraphinas bzw. Lorenzas, der Gräfin Cagliostro, ausgebreitet. Dieser Austausch von Briefen, Pamphleten usw. war derart grotesk, daß er wiederum in anderen Gattungen und Publikationen, wie dem „Proces comique et instructif pendant entre le fameux Cagliostro et le Sieur de Morande" (1787), zusammengefaßt werden konnte. Endlich hatten auch die Massenmedien das Gattungssignal gesetzt, das Goethe schon 1787 dem geschichtlichen Ausgangspunkt selber, der Halsbandaffare, zuerkannt hatte; schreibt er doch am 14. August dieses Jahres an den Komponisten Philipp Christoph Kayser: „Ich habe nichts weniger vor: als die famose Halsbands Geschichte des Card[inal] Rohan, zur Opera Buffa zu machen, zu welchem Zweck sie eigentlich geschehen zu seyn scheint." (B 8,244f.) Daß einem Krisenphänomen der Art des Cagliostro-Syndroms die Gottschedsche Poetik nicht mehr gewachsen war, läßt sich an der Plattheit der „drey Lustspiele wider Schwärmerey und Aberglauben" (1788) Katharinas II. leicht ablesen. Es geht um 1789 nicht mehr darum, einen Tartuffe im Gewände des Sarastro mit mehr oder weniger dramatischem Geschick zu entlarven, zu verlachen oder aus der gesellschaftlichen Ordnung zu verstoßen. In Goethes komödiantischem Lehrstück sind alle sozialen Schichten ins „Kophtische Wesen" (HABr 3, 67) verstrickt: Kirche, Adel, „la cour et la ville" (Madame de Courville im ursprünglichen Konzept), auch die Dienerschaft, die doch oft genug den „gesunden Menschenverstand" zu verkörpern hatte. Mißbrauch und Mißverstehen kennzeichnen die Beziehungen der Protagonisten. Die zentrale Figur ist ein Anti-Held, ein Scharlatan; seine Komplizin und Gegenspielerin zugleich eine kriminelle Marquise. Goethes Dramentechnik der „ironischen Identifikation" - wohlgemerkt eine Identifikation mit dem Mehrwissen erfolgreicher Betrüger - war effektvoll genug, um aus dem Sog der gesellschaftlichen Vorurteile, der Baconschen „idola" - Goethe sagt: Gespenster - , auszubrechen, in den sowohl die verschiedenen Entlarvungsschriften Cagliostros als auch sonsti-
51 52
Ma correspondance avec M. le Comte de Cagliostro, Mailand 1786 (2. Aufl.), S. 9. Ebd., S. 6.
3.3. Erzählung oder Komödie
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ge Darstellungen des Syndroms - etwa Schillers „Geisterseher" - geraten waren.
Abb. 4: Ohne Titel
Zwar hatte es Goethe vermocht, mittels der adäquaten Gattungswahl „die moralische Tendenz seines Stoffes durch die Behandlung zu überwinden" und „Freiheit des Gemüts" (SW 5, 845) für das Publikum zu gestalten, wie es Schiller lediglich postuliert hatte. Rezeptions- und Wirkungsgeschichte zeigen, daß das Problem von Goethes Zeitstück eher darin bestand, im Moment einer Zeitenwende, einer Revolution konzipiert und publiziert worden zu sein, als in etwaigen Kunstfehlern. Trotz einiger schmeichelhafter Rezensionen fiel Goethes „Groß-Cophta" auf der real existierenden Bühne durch, weil die Komödie weder für noch gegen die aktuellen politischen Parteiungen spielte, sondern auf „absolute moralische Gleichgültigkeit" (SW 5, 845) zielt. So blieb Goethe nur die Buchveröffentlichung, um sich „mit dem denkenden Teil" (HABr 2, 148) seiner Nation zu unterhalten, wie er am 29. Juli 1792 an Johann F. Reichardt schreibt.
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3. Okkultismus und Aufklärung aus medienkritischer Sicht
3.4. Zur Fragwürdigkeit der Historisierung Es ist nicht meine Aufgabe zu ergründen, weshalb der von seiner Publizität in Ausübung seines geheimnisbedürftigen Metiers behinderte Geisterseher Zuflucht gerade in Rom suchte, dessen Gesetze er doch wohl kennen sollte: auf Freimaurerei stand Todesstrafe. Vielleicht kannte er aber auch deren nachlässige Handhabung... Auf dem Weg von London nach Rom und nach vergeblichen Versuchen, in der Schweiz unterzukommen, machte Cagliostro 1788 in Rovereto Station, was nur deshalb wichtig ist, weil aus eben diesem Anlaß ein Text entstand, dessen Gattungszugehörigkeit nicht auf Anhieb zu erkennen war und ist. Sein Originaltitel lautet: „Liber Memorialis de Caleostro cum esset Roboreti" (1789). Mangels eindeutiger Ironiesignale konnte das erst 1910 von Marc Haven wiederentdeckte Werk eines „biblischen Reporters" geradewegs als „Evangile de Cagliostro" rezipiert werden. Der Evangelistenton war es wohl auch, der das Büchlein vorzüglich dem Autodafe der Inquisition zum Opfer fallen ließ. Dennoch fand es noch zeitgenössische Übersetzer, die es sich nicht leicht machten. Wiewohl nicht unangefochten tritt Cagliostro als „ein zweyter Menschenheyland"53 auf. Eine Leseprobe, die eine weitere Interpretation ersetzt: Im achten Jahre der Regierung des Kaisers Josephs Π. ist Kalioster in Roveredo hineingegangen: und hat sich da selbst aufgehalten. Und der dieses schreibt, hat ihn durch das Fenster der Herberge gesehen, als er durchging, und seyn Weib war bey ihm. Nachmittags ungefähr um die siebente Stunde. Und alles Volk schaute mit Achtung auf ihn. Und einiche zwar sagten: er sey der Antichrist, andere aber, er sey ein Magier, und stritten sich untereinander. Er selbst aber verlachte sie, sagend: „ich weis selbst nicht, wer ich sey: das aber weis ich, daB ich Kranke heile, Unwissende mit Rath unterstütze, und den Armen Geld austheile."54
Daß Cagliostro nicht endgültig ins Reich der Legende entrückt wurde, sondern ständig zwischen Fiktion, Mythos und Geschichtsschreibung oszillierte, verdanken wir der Feder des klerikalen Prozeßberichterstatters Barberi. Das von ihm (vermutlich) verfaßte „Compendio della vita e delle gesta die Giuseppe Balsamo denominato il Conte Cagliostro" (1791) ist dem Stile der „historischen Erzählung angemessen".55 Dem seiner darstellerischen Aufgabe bewußten Verfasser kann ein Bestreben zur objektiven Aufklärung der Lebensgeschichte Cagliostros nicht durchweg abgesprochen werden, auch wenn er häufig nach „moralischer Gewißheit"56 urteilt, d.h. nach katholischem Dogma, und er es nur zu deutlich darauf angelegt hat, die freimaurerische, mittlerweile „revolutionäre" Verschwörungsthese plausibel zu machen. In diesem Sinne ist das „Compendio" auch geglie-
53
Denkmal des Kagliostro. Gin nicht unwichtiger Beytrag zur Geschichte dieses berühmten Mannes, von Augen- und Ohrenzeugen. Aus dem Lateinischen nach einer getreuen Übersetzung v. Heinrich Faesi, Bregenz 1791, S. 10 = DAO, 295. 54 Ebd., S. 11 = DAO, 296. 55 Leben und Taten des Joseph Balsamo, S. 8 = DAO, 461. 56 Ebd., S. 9 = DAO, 462.
3.4. Zur Fragwürdigkeit der Historisierung
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dert: Kapitel 1 zeichnet das „Privatleben des Cagliostro von seiner Geburt an" 57 nach; Kapitel 2 und 3 handeln von der Freimaurerei im allgemeinen und Cagliostros Versuchen der Wiederherstellung des ägyptischen Ritus im besonderen. Kapitel 4 schildert die Aufdeckung der freimaurerischen Umtriebe in Rom. Die mehrfach mit Cagliostros „Irreligion"58 verknüpften gesellschaftlichen Reflexionen Barberis belegen, daß es dem inquisitorischen Tribunal nicht nur um den eingefleischten Ketzer Cagliostro zu tun war, sondern daß man einen politischen Prozeß betrieb, an dem Papst Pius VI. ob der besonderen Wichtigkeit persönlich teilnahm. Die religionspolitische Wirkungsabsicht ist auch der Grund dafür, daß das „Compendio" entgegen allen Gepflogenheiten des Santo Ufficio überhaupt veröffentlicht wurde. Da man in Rom von den anderen Gerichtsverfahren Cagliostros gelernt und alle zugänglichen Quellen ausgewertet hatte, war denn der Magier auch von „allen guten Geistern" verlassen. Weder das Argument, daß seine ägyptische Freimaurerei eigentlich katholisch sei, noch deren Widerruf fruchtete: den Widerruf freilich publizierte man. Cagliostro, der ja bekanntlich 1786 nach seiner Haftbefreiung dem französischen Volk das „Versprechen" gegeben hatte, erst nach dem Fall der Bastille zurückzukehren, war inzwischen von seinem eigenen Mythos, seiner Revolutionsprognose eingeholt worden. Den Kopf eines seiner schlimmsten Widersacher, des Gouverneurs der Bastille, De Launay, hatte man am 14. Juli 1789 auf einer Pike durch Paris getragen. Doch vor eben jenen revolutionären Wirren, die gerade Frankreich erschütterten, wollte man die Heilige Stadt bewahren. Hier ist ein weiteres anonymes Opus anzuschließen, das sich „Testament de mort et d£clarations faites par Cagliostro de la secte des Illumiηέβ" (1791) betitelt. Der Verfasser gibt sich nicht allzu große Mühe, die besondere Erzählsituation zu beglaubigen: II [Cagliostro] demanda dans les derniers temps la permission d'ecrire des mdmoires, tant pour sa justification, que pour l'instruction des Princes et des peuples. [...] on leur a donni la forme d'un Testament de Mort, parce qu'il ne sera plus question de leur auteur parmis les vivens.59
Cagliostro starb allerdings erst vier Jahre später. Diese Cagliostro-Schrift, ein fiktiver Widerruf seiner Taten, reiht sich in eine Welle antifreimaurerischer und gegenrevolutionärer Publikationen ein, zu der auch der oben genannte Marquis de Luchet einen obskuren „Essai sur la secte Illumin6s" (1789) beisteuerte. Oh, nein: ein Sieg der Aufklärung war es nicht gerade gewesen! Goethe schreibt zu Recht im Rückblick auf Cagliostros Inquisitionstribunal: „Wer hätte geglaubt, daß Rom einmal zur Aufklärung der Welt, zur völligen 57
Ebd., S. 8 = DAO, 461. Ebd., S. 4 = DAO, 458. 59 Testament de mort et Ddclarations faites par Cagliostro, de la secte des Illumin£s et se disant chef de la Loge Egyptienne: condamni ä Rome, le 7 Avril 1791, ä une prison ρβηρέtuelle, comme pertubateur du repos public, traduit de l'Italien, Paris 1791, S. 2. 58
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3. Okkultismus und Aufklärung aus medienkritischer Sicht
Entlarvung eines Betrügers so viel beitragen sollte, als es durch die Herausgabe jenes Auszugs aus den Prozeßakten geschehen ist!" (HA 11,256) Nach Verschwinden in der Isolierhaft und endlichem Tod 1795 - eine Erlösung bei den Haftbedingungen - geriet Cagliostro zusehends aus den Schlagzeilen. Im journalistischen oder dokumentarischen Bereich konnten nur noch und immer wieder die biographischen Daten und Fakten - so sie als solche überhaupt gelten dürfen - mehr oder weniger getreu re-zitiert werden. Attribute der Beglaubigung, die zuvor Cagliostros aktueller Legende galten, kamen nun seiner als historisch geglaubten Lebensbeschreibung selber zugute. Neu waren nach dem Erscheinen des „Compendio", das noch im selben Jahr in mehrere Sprachen, so auch ins Deutsche, übersetzt wurde, vor allem zielgruppengerechte Ausschnitte oder kürzere Bearbeitungen dieser offiziösen Hauptquelle. Die zum Teil volksbuchartigen Texte schöpften aber auch aus anderen apokryphen Quellen bzw. erfanden Episoden hinzu, so z.B. ein anonymer (nichts weniger als) „Gründlicher Abriß von Cagliostro Herkommen und Lebenswandel aus wahrhaften Quellen gezogen" (1791). Die Vorrede ist interessanter als der Inhalt, insofern hier die politische Tendenz unverhüllt zum Ausdruck kommt: In vielen Jahrhunderten zählten die Geschichten keine so gelehrten Männer, die der Religion und Tugend so gefahrlich waren, als in dem 18ten Jahrhundert. Im gegenwärtigen Säkulo waren die Stammväter davon Rousseau, Voltaire, Wittola, Roiko, Nicolai und noch andere mehr, die durch ihre Arbeiten so viel wirkten, daß sie in kurzer Zeit einen starken Anhang gutgesinnter Leute an sich zogen; und so artete eine große Anzahl der rechtschaffensten Männer in wirkliche Freigeister aus. Dergleichen Glieder waren an Religion und dem Staate gleich gefährlich; daher sie auch die erhabensten Regenten in ihren Ländern auszurotten suchten. Wehe dem Staate, der solche Glieder ohne sein Wissen hat.60
In diesem Sinne wird nun in den folgenden Jahrzehnten Cagliostro dem einfachen Publikum präsentiert: „Er ergab sich der Freydenkerey, allerley Ausschweifungen, machte an sich einen ersten Aufklärer im 18ten Jahrhundert."61 Es wäre historische Verblendung, forderte man unter den gegebenen Umständen geschichtliche Wahrheit, Offenlegung, „wie es eigentlich gewesen". Gewiß läßt sich einiges korrigieren, relativieren, ja erklären und verstehen. Ein beträchtlicher, unaufklärbarer - nur dichterisch erfaßbarer Rest bleibt jedoch, und möglicherweise scheiterten an diesem Rest auch manche Denker des 18. Jahrhunderts und späterer Zeiten, denn er ist prinzipiell! Die Medien sind nicht in jedem Falle durch einen Gang ad fontes hintergehbar. Zwischen Zeichen und Referenzobjekt vermitteln Interpretationen. Allerdings ist die Zeichenkonfiguration als solche rekonstruierbar und auch hinterfragbar. Fassen wir - wie vorausgehend demonstriert Cagliostro als Medienprodukt, nicht nur als historische Figur, nicht nur -
60
Gründlicher Abriß von Cagliostros Herkommen und Lebenswandel. Aus wahrhaften Quellen gezogen von Β. K. *** von B., Kehl 1791, Vorrede o.S. 61 Ebd., S. llf.
3.4. Zur Fragwürdigkeit der Historisierung
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moralisch wertend - als Betrüger, d.h. vorsätzlichen Verschleierer von Identität, sondern als Teil einer spezifischen Wissens- und Medienkultur, einer epochaltypischen Mentalität, so bietet sich Marshall McLuhans schon berührte These „The medium is the message"62 zu weiterem Gebrauch geradezu an. Hans Mathias Kepplinger definiert Medienkultur als „Gesamtheit aller zu einem bestimmten Zeitpunkt in bestimmten kulturspezifischen Selektionsmedien präsenten Elemente einer Realkultur einschließlich aller Informationen über sie".63 Unsere Analyse des Cagliostro-Syndroms bewahrt uns jedoch davor, just wie Kepplinger behaupten zu wollen: „Informationen über Elemente der Realkultur sind richtig oder falsch."64 Wie jener selbst betont, beeinflußt die Medienkultur ja jede Realitätswahrnehmung des gesellschaftlichen Subjekts, nach meiner Ansicht aber damit auch die „Wirklichkeit" selbst, die immer gesellschaftlich konstruiert ist. Das Medienprodukt „Cagliostro" war aber die Botschaft, die Allegorie eines Sachverhalts, die es zu entschlüsseln galt, nicht die okkulten oder biographischen Geheimnisse des Giuseppe Balsamo. Doch damit hätte man verlangt, daß das aufklärerische Subjekt, das sich selbst erst zu entdecken im Begriffe war, das Subjektive seiner Weltanschauung in Frage stellte zu welchem Ergebnis auch immer diese Dezentrierung geführt hätte. Gewiß hatte die Freimaurerei in ihrer rituell und graduell organisierten Subjektivitätsstruktur nicht dazu beigetragen, Individualität völlig freizusetzen - ein Anrecht unseres Jahrhunderts. Wenn nun aber mit Lessing die bürgerliche Gesellschaft in der Tat nur „ein Sprößling der Freimaurerei" (LGW 8, 581) wäre, so erkennen wir im zeitgenössischen Nicht-Begreifen Cagliostros als Teil des Cagliostro-Syndroms pathogene Züge unserer gesellschaftlichen Situation im 20. Jahrhundert wieder. Die späte Würdigung von Goethes und Schillers Cagliostro-Rezeption spielt dabei eine alarmierende Rolle.
62
Marshall McLuhan: Die magischen Kanäle. Understanding Media, übers, v. Meinrad Amann, Frankfurt/M. 1970, S. 17 u.ö. 63 Hans Mathias Kepplinger: Realkultur und Medienkultur. Literarische Karrieren in der Bundesrepublik, Freiburg/Br. u. München 1975, S. 18. 64 Ebd.
4. Groß-Cophta und Balsamo1
4.1. Okkultismus und Obskurantismus Cagliostro war schon im Jahre 1781 mehrmals Gegenstand, eine Art „roter Faden" (B 6, 21) des Briefwechsels von Goethe und Lavater gewesen. Er war wohl auch einer der Gründe, weshalb es zwischen den beiden zum Zerwürfnis und „völligen Bruch" (MA 19, 287) kam. Lavater glaubte, daß Cagliostro, dem er höchst poetische Namen gab wie „Parazelsischer Stemnarr" (SGG 16, 152) oder „personifizierte Kraft" (SGG 16, 147), die „sieben Geister [...] Gottes zu Dienste" (SGG 16, 162) stünden, die auch bei Wiedergeburtsprozeduren mitzuwirken hatten.2 Noch in seiner „Rechenschaft an seine Freunde" vom 16. Februar 1786 hält er an seiner Wertschätzung fest: Ich glaube, die Natur formt nur alle Jahrhunderte Eine Gestalt wie diese, und ich möge Blut weynen, daß ein solches Produkt der Natur durch so viele Prisen, die es über sich gab und giebt, theils so sehr mißkannt, theils durch so viele unläugbare Hartheiten und Kruditäten so drückend werden muß.
Goethe war jedoch von Anfang an „über diesen Fleck unbeweglich" (SGG 16, 162), wie er schon am 18. März 1781 schreibt. Für ihn ist Cagliostro zwar „immer ein merkwürdiger Mensch", an dem sich „Seiten der Menschheit sehen [ließen], die im gemeinen Gange unbemerkt blieben" (ebd.). Dennoch betrachtet er Cagliostro insbesondere als ein Beispiel dafür - wobei er Worte Lavaters parodiert - , wie „Narr mit Krafft und Lump so nah verwandt" (ebd.) sein können. Am 22. Juni 1781 schreibt dann Goethe an Lavater den häuftg zitierten, bislang aber noch nicht - jedenfalls in seinen konkreten Hintergründen nicht - eindeutig interpretierten Brief: Ich habe Spuren, um nicht zu sagen Nachrichten, von einer großen Masse Lügen, die im Finstern schleicht, von der du noch keine Ahndung zu haben scheinst. Glaube mir, unsere moralische und politische Welt ist mit unterirdischen Gängen, Kellern und Cloaken minieret,
1 Überarb. Kap. 3.2-3.8 meiner Diss. Wiedergeburt und Neues Leben. Aspekte des Strukturwandels in Goethes Italienischer Reise, Bonn 1978 (Abhandlungen zur Kunst-, Musik- und Literaturgeschichte, Bd. 280). 2 S. [Giovanni Barberi]: Leben und Taten des Joseph Balsamo, sogenannten Grafen Cagliostro, in: Der Eizzauberer Cagliostro. Die Dokumente über ihn nebst zwölf Bildbeilagen, hg. v. Johannes von Guenther, München 1919, S. 1-180, hier S. 86 = DAO, 527. 3 Johann Caspar Lavater Rechenschaft an seine Freunde vom 16. Februar 1786, in: ders.: Ausgewählte Werke, hg. v. Emst Staehelin, Zürich 1943, Bd. 3, S. 76-78, hier S. 77f.
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4. Groß-Cophta und Balsamo
wie eine große Stadt zu seyn pflegt, an deren Zusammenhang, und ihrer Bewohnenden Verhältniße wohl niemand denkt und sinnt; nur wird es dem, der davon einige Kundschaft hat, viel begreiflicher, wenn da einmal der Erdboden einstürzt, dort einmal ein Rauch aus einer Schlucht aufsteigt, und hier wunderbare Stimmen gehört weiden. Glaube mir, das Unterirdische geht so natürlich zu als das Überirdische, und wer bei Tage und unter freyem Himmel nicht Geister bannt, ruft sie um Mittemacht in keinem Gewölbe. (SGG 16, 184; vgl. WA 27, 113)
Wie ist dieser von Goethe dargestellte Zusammenhang von Okkultismus und Obskurantismus zu bewerten? Während der erste Begriff eher auf unpolitische Geheimwissenschaften zielt, ist für Campe „Obscurant" synonym mit „Verfinsterer, Verdüsterer, Nachtverbreiter, in Gegensatz von Aufklärer".4 Aus „Gegner der Aufklärung" wurde später auch „Revolutionsgegner" schlechthin. Obskurantismus ist also ein politischer Begriff. Es wird zu zeigen sein, daß Goethes in den frühen 80er Jahren einsetzende Okkultismuskritik politische Dimensionen besaß, Obskurantismuskritik war und daher einen dezidiert aufklärerischen Standort bezeugte. Da er diese kritische Einstellung auch nach 1789 beibehielt und in den Revolutionswirren nicht den „Gang der Vernunft" wahrnehmen mochte, wurde er selbst des Obskurantismus verdächtigt. Für ihn selber lichtete sich der Horizont erst 1795 mit Beginn des Directoire (s. in diesem Band Kap. 13). Die sozialpsychologischen Ursachen der gewaltigen Woge von Okkultismus und Obskurantismus, die in der Tat in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts durch Europa brauste und über die Goethe gerade auch in Italien nachdachte (B 8,239), hat man kaum untersucht5 oder gar literarhistorisch berücksichtigt. Weder kann ich jedoch in diesem Rahmen eine soziologische Studie bieten, noch von Goethe eine solche erwarten. Sicherlich handelt es sich dabei um ein Krisenphänomen des Ancien regime, aber auch der Aufklärung. Ich will seine bewußtseinsgeschichtliche Existenz und Relevanz zunächst an einigen Zitaten belegen. Wieland widmet z.B. dem „Hang der Menschen an Magie und Geistererscheinungen zu glauben" eine aufschlußreiche Untersuchung. Er versucht darin, sich gewisse auffallende Thatsachen begreiflich zu machen, wodurch seit einigen Jahren unsre Zeit, aller ihrer gerühmten Aufklärung zu Trotz, auf einmal in die dicke Verfinsterung der barbarischen Jahrhunderte zurück zu stürzen scheint. (WAA 14,329)
Wieland bemerkt auch - gewiß mit einem Seitenblick auf Cagliostro - , daß die Zeiten der größten Verfeinerung, des größten Luxus und der ungezähmtesten Liederlichkeit, von je her immer diejenigen gewesen sind, wo die schelmischen Schlauköpfe, die
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Joachim Heinrich Campe: Wörterbuch zur Erklärung und Verdeutschung der unserer Sprache aufgedrungenen fremden Ausdrücke. Ein Ergänzungsband zu Adelungs Wörterbuch in zwei Bänden, Grätz 1808 (2., verb. u. m. e. 3. Bd. verm. Aufl.), Bd. 2, S. 127. 5 Vgl. Alec Mellor: Introduction, in: Ren6 Le Forestier: Franc-Maponnerie templtäre et occultiste aux 18e et 19e siteles, Vorwort v. Antoine Faivre, Paris 1970, S. 15-21, hier S. 16 u. Henri d'Alm6ras: Les romans de l'histoire: Cagliostro (Joseph Balsamo). La FrancMa
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Abb. 15: Johann Wolfgang Goethe: Recension einer Anzahl französischer satyrischer Kupferstiche, Handschrift: Johann Jakob Ludwig Geist, 1797
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Ulrich Schmidt: Die privaten Kunstsammlungen in Frankfurt am Main. Von ihren Anfängen bis zur Ausbildung der reinen Kunstsammlung, Diss (masch.) Göttingen 1960. 39 S. Verzeichnis einer Sammlung von 325 Stück Pariser schwarzen und colorierten Kupferstichen, mehrentheils von verschiedenen guten Meistern, theils mit, theils ohne Glas und Rahmen, welche den 26"" September 1797 im Doct. Senkenbergischen Stift, hinter der Schlimm-Mauer Lit. D. N°. 104 durch die geschworenen Herren Ausrufer öffentlich an den Meistbietenden gegen baare Bezahlung verkauft werden sollen, Frankfurt am Mayn 1797. Angesichts von Anzahl, Provenienz und Versteigerungsdatum war die Enttäuschung groß.
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13. Goethe und die postrevolutionäre Bildsatire
Daß zwischen 1794/95 und 1797 für einen Kenner der Kunstszene 200 oder mehr Exemplare unterschiedlicher Qualität gesammelt werden konnten, braucht im übrigen nicht in Zweifel gezogen werden. Ein kleiner Taschenkalender oder Verkaufskatalog (in-32; 10,1 χ 6,7) mit dem Titel „Quelle Folie! ou Galerie des Caricatures, depuis ,Les Incroyables', jusqu'au ,Bceuf ä la mode'. Etrennes assez piquantes pour la presente annee [an VI6]" verzeichnet allerdings nur 70 Blätter (Abb. 16). Alle wichtigen Angaben sind in meine dtv-Edition der Goetheschen „Rezension" eingearbeitet. Überraschenderweise ist der Großteil der von Goethe genannten Stiche ebenfalls in diesem Almanach zu finden, freilich in völlig anderer (nur grob thematischer, fast beliebiger) Reihenfolge; auch gibt es zum Teil fast wörtliche Übereinstimmungen mit den Kurzbeschreibungen, die der Kalender anführt. Das Faktum überhaupt, daß Goethe eben diese deskriptive Kleinform wählt (vgl. MA 6.1, 824), läßt vermuten, daß er sich - oder der Sammler oder ein Informant, ein Kommentator - des Almanachs bedienten. Aber ist es überhaupt möglich, daß das auf das 6. Revolutionsjahr, das ist auf 22. September 1797 bis 22. September 1798, datierte Bändchen schon in Frankfurt war, war es nachdatiert? Sprach aus ihm die communis opinio? Gerade die Wertung der Graphik Nr. 39, die relativ untypisch zum Gros der Sammlung steht, scheint jedenfalls im Sinne einer Goetheschen Kenntnisnahme motiviert. Heißt es z.B. im Almanach „Les extremes y sont tellements oppos6s, que la gravure, d'ailleurs faible, tient un rang parmi les carricatures",40 so findet sich bei Goethe folgende Anmerkung: „Ein schlechtes Blatt das aber doch, indem es die neuen und die alten Absurditäten gegeneinander setzt, interessant ist." Was wäre auch der Grund gewesen, ein anderes schwaches Blatt, „Les Marionettes" (Nr. 29), aufzunehmen, außer daß es der Almanach anführt?41 Andererseits entschlüsselt Goethe nicht die Mercier-Satire (Nr. 54), was im Almanach durchaus geschehen war42 - eine Geste Goethescher politesse oder negligence? Wie dem auch sei, es läßt sich anhand des Almanachs, aber auch anhand anderer mehr oder weniger zeitgenössischer Texte, wie z.B. Merciers „Nouveau Paris"43 oder der Directoire-Studie der Brüder
40
Quelle Folie! ou Galerie des Caricatures, depuis „Les Incroyables", jusqu'au „Boeuf ä la mode". Etrennes assez piquantes pour la präsente ann6e [an VT = 1797/98], Paris: chez Ouvrier, Libraire, rue Saint-Andri, des Ares n° 41, S. 43, Nr. 43; die Zählung stammt von mir. 41 S. ebd., S. 15, Nr. 13. Nicht gefunden. 42 S. ebd., S. 55, Nr. 58: „Un Ine, I figure humaine (celle der Mercier), chargi de balais, roulant une brouette chargie d'un baril de vinaigre. (Un des Drames de Mercier, porte le titre de Brouette du Vinaigrier). Ce meme äne foulant aux pieds X'Apollon du Belvedere; l'Athalie de Racine, les (Euvres de Descartes, de Virgile, de Xenophon, et dormant un coup de pied & la transfiguration de Raphael." 43 Vgl. Louis-S6bastien Mercier: Le Nouveau Paris, 6 Bde. in 3 Bdn., Paris 1798; hier werden zahlreiche Stiche, die Goethe rezensiert, genannt und kontextualisiert.
13.2. Edition und Interpretation
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Goncourt,44 belegen, daß Goethes Auswahl für die damaligen Verhältnisse repräsentativ war und auch heute noch respektabel ist. Die beiden Goncourt haben im übrigen bereits den Wert ikonographischer Dokumente für eine Geschichtsschreibung der Revolution erkannt. Sie notieren in ihrem Vorwort von 1864: Pour cette nouvelle histoire, il nous a fallu dicouvrir les nouvelles sources du Vrai, demander nos documents aux journaux, aux brochures, ä tout ce monde de papier mort et Γηέρπβέ jusqu'ici, aux autographes, aux gravures, aux dessins, aux tableaux, ä tous les monuments intimes qu'une ipoque laisse derridre eile pour etre sa confession et sa insurrection.45
Abb. 16: Quelle Folie! ou Galerie des Caricatures, 1797/98
Goethe hat offenbar keine Anstalten gemacht, die Stiche oder zumindest einige davon zu erwerben - falls sie ihm überhaupt zum Kauf angeboten worden wären. Überhaupt dürften die aktuellen Kupfer weder hinreichend ästhetischen noch historischen Wert besessen haben - sie hatten zu beidem lediglich Tendenzen - , um Goethes Sammeleifer zu reizen. In seinem PropyläenAufsatz von 1799, „Der Sammler und die Seinigen" (MA 6.2,76ff.), finden 44
Edmond u. Jules de Goncourt: Histoire de la soci6t6 ftanfaise pendant le Directoire, Paris 1992 (zuerst 1855). 45 Ebd., S. 9.
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13. Goethe und die postrevolutionäre Bildsatire
sie keinen Ort, und noch in der Novelle „Die guten Weiber, als Gegenbilder der bösen Weiber, auf den Kupfern des diesjährigen Damenalmanachs" von 1800 ist der „Streit für und gegen Karikatur" (MA 6.1, 818) nicht entschieden. Goethes klassischer KunstbegrifF war zu übermächtig, um mehr als nur punktuelles Interesse hervorzurufen. Erst Karl Rosenkranz hat mit seiner „Ästhetik des Häßlichen" die Karikatur generell gerechtfertigt.46 Ohnehin zeichnet sich Gerhard Femmel zufolge eine sammlerische Eigenaktivität Goethes erst nach 1817/18 ab.47 Schon Christian Schuchardts Katalogisierung von Goethes Kunstsammlungen von 1848 jedenfalls erwähnt die Stiche nicht 48 und zuerst hat 1980 Femmel die Forschungslücke konstatiert.49 Allerdings wollte sich Goethe einer Notiz vom 24. September 1798 (WA 47, 282) zufolge auch in der Folgezeit mit dem Thema beschäftigen - im Hinblick auf seine eigene Zeitschrift „Die Propyläen" (WA 47, 283) - , was man sich ohne Vorlage der Stiche nicht recht denken mag, bei allem optischen Gedächtnis, das man dem , Augenmenschen" Goethe zubilligen möchte. Das könnte darauf hinweisen, daß Goethe die Sammlung als erreichbar, ja eigentlich in der Nähe wußte.50 Doch die Sammlungsgeschichte ist hier nicht von vorrangigem Interesse, zumal ein Großteil der von Goethe beschriebenen Stiche ermittelt werden konnte: mehrheitlich im Cabinet des Estampes der Bibliothöque nationale Paris (bes. Collection de Vinck und Collection Hennin), aber auch in der Bibliotheque de Γ Arsenal, im Musee Carnavalet, im Louvre (Collection Rothschild), schließlich in der Graphischen Sammlung Albertina in Wien, dem Historischen Museum Frankfurt, der Kunstbibliothek Berlin und den Kunstsammlungen der Veste Coburg - über die manchmal recht abenteuerliche und gleichsam detektivi-
46
Vgl. Karl Rosenkranz: Ästhetik des Häßlichen, m. e. Nachw. hg. v. Dieter Kliche, Leipzig 1990 (zuerst 1853), S. 309ff.; vgl. auch Günter u. Ingrid Oesterle: „Gegenfüßler des Ideals" Prozeßgestalt der Kunst - „M6moire progressive" der Geschichte. Zur ästhetischen Fragwürdigkeit von Karikatur seit dem 18. Jahrhundert, in: „Nervöse Auffassungsorgane des inneren und äußeren Lebens" - Karikaturen, hg. v. Klaus Herding u. Gunter Otto, Gießen 1980, S. 87130. 47 S. Gerhard Femmel: Goethes Grafiksammlung. Die Franzosen, München u. Leipzig 1980, S. 10; vgl. Margarete Oppel: Kunst-Ideal und Sammlungstätigkeit, in: Goethe und die Kunst, hg. v. Sabine Schulze, Kat. Schim Kunsthalle 21. Mai - 7. August 1994 u. Kunstsammlungen Weimar 1. September - 30. Oktober 1994, Ostfildern 1994, S. 60-61. 48 Christian Schuchardt: Goethe's Kunstsammlungen, Tl. 1: Kupferstiche, Holzschnitte, Radierungen, Schwarzkunstblätter, Lithographien und Stahlstiche, Handzeichnungen und Gemälde [...], Jena 1848. 49 S. Femmel: Goethes Grafiksammlung, S. 7. 50 Er ist unwahrscheinlich, daß Goethe die Kupfersammlung an den frankophilen, ja revolutionsbegeisterten Gothaer Hof vermittelt hätte (vgl. Bernhard Suphan: Goethe und Prinz August von Gotha, in: Goethe-Jb. 6 [1885], S. 27-58, bes. S. 43), da sich im Gothaer Kupferstichkabinett (Schloß Friedenstein) zwar etliche (15) der von Goethe rezensierten Stiche finden, sogar mit goethezeitlichen Signaturen, aber auch andere, die Goethe nicht erwähnt; es ergibt sich jedenfalls kein stringenter Zusammenhang.
13.3. Bildsatire 1795-1797
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sehe Suche habe ich andernorts berichtet.51 Mittlerweile macht es der Computer bzw. das Internet leichter,52 aber ohne persönlichen Einsatz an Ort und Stelle bleibt das Ergebnis bescheiden.
13.3. Bildsatire 1795-1797 Als ich 1984 mit der Herausgabe des Bandes 4.2 der Münchner Ausgabe betraut wurde, erkannte ich natürlich sofort, daß weder eine kritische Edition noch eine sinnvolle Kommentierung ohne die Bildvorlagen möglich sein würde, und als ich dann 52 der 57 Blätter ausfindig gemacht hatte, erkannte ich zu meiner Überraschung, daß die Bewertung von Text- und Bildmaterial einen neuen Akzent auf Goethes Revolutionsrezeption setzen könnte - auf seine Sicht der Revolution, wobei „Sicht" zunächst nur das Bildmedium meint, das allerdings vom Betrachter Goethe nicht voll ausgeschöpft wurde, d.h. Goethe sah mehr als er niederschrieb, und die GoetheForschung dachte sich dabei zu wenig, weil sie die Bilder nicht vor Augen hatte. Gewiß ist jede Aussage gegenüber dem Gesehenen Fragment, allerdings besitzt die Kupferstichsammlung, wenn man sie recht besieht, und d.h. interpretiert, eine Qualität, die bis dato unbekannte, gewissermaßen „unerhörte" Aussagen zuläßt - wodurch dann auch der Goethe-Text erweitert wird. Gewiß ist und bleibt die „Recension einer Anzahl französischer satyrischer Kupferstiche" eine Vorarbeit - jede Rezension bleibt es - , aber sie ist in sich geschlossen (auch die Reinschrift bezeugt es), genügt den Gat-
51
S. Rdtv, 9f. Auf den kolorierten Stich Nr. 10 „Les Impossibles. Journal de Francfort/M N: 124" (h 24,2 χ b 30,5 cm), signiert v. Bergen (Abb. 17), machte mich 1989 Victoria SchmidtLinsenhoff (Historisches Museum Frankfurt/M.) aufmerksam. Das „Journal de Francfort", Nr. 124 (3. Mai 1796) enthält einen Brief des ΰέηέπιΐ en chef Bonaparte vom 15. April desselben Jahres, in dem er vom siegreichen Verlauf des Italienfeldzugs berichtet. Daß der General in (keineswegs typisch direktorialen) „Weiberkleidem", wie Goethe notiert, Bonaparte ist, der kaiserlichen oder britischen Offizieren eine Pressemeldung seiner Siege übermittelt, kann dank seines ausgeprägten Profils und einer der phrygischen Mütze angenäherten Haube eindeutig festgestellt werden. Wenn Nr. 124 des Journals auf den 4. Mai 1797 zu datieren wäre, dann enthielte das Blatt eine Ankündigung des Friedensschlusses Bonapartes mit dem Kaiser und seines Vorhabens einer „descente en Angleterre, pour forcer le cabinet de St. James ä faire la paix avec la republique franpoise". Dieser Bezug könnte auch die Ortsangabe „Londres" (London) im Untertitel erklären. Allerdings kann dank eines Schreibens von Mrs. G. Brewer vom Department of Uniforms, Badges and Medals, des National Army Museums London vom 29. Oktober 2003 ausgeschlossen werden, daß die abgebildeten Uniformen britisch sind. Brigitte Holl vom Heeresgeschichtlichen Museum Wien weist (an den Verf., 13. Oktober 2003) daraufhin, daß sich die zentralen Figuren der Koalitionstruppen möglicherweise über ihre karikierten Gesichtszüge identifizieren lassen. 52 In der Abteilung „estampes et Photographie" sind die meisten Stiche unter http://opaline.bnf.fr zu ermitteln; die Angaben sind nicht immer exakt; z.B. sind Stiche, die Goethe 1797 gesehen hat, auf 1798 oder auf den Zeitraum 1794-1798 datiert.
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13. Goethe und die postrevolutionäre Bildsatire
tungsmerkmalen einer „recensio" durchaus und dürfte nicht zuletzt wegen ihrer geschichtlichen Bedeutung die Aufnahme in den Kanon von Goethes Werken verdienen. Die Sammlung der 57 mehr oder weniger bedeutenden Kupferstiche wiederum erhält den überzeitlichen, einmaligen Wert, der mit Goethes Namen nun einmal verknüpft ist. Mit der Wiederentdeckung der Stiche hat sich unterdessen auch unsere Sicht-Metapher personifiziert, denn niemand zuvor außer Goethe und - möglicherweise - sein Sekretär kannte und „sah" die Stiche in eben diesem einmaligen Zusammenhang, wie ich sie 1988 erstmals rekonstruiert habe. Da Goethe aus rund 200 Stichen (wie er sagt) 57 ausgewählt hat und wir die Masse des Corpus nicht kennen, steht die Wahrscheinlichkeit meiner inhaltlichen Mutmaßungen im Verhältnis von 1 zu 4. Angesichts der relativen Vagheit meiner Aussagen sei zunächst einmal betont, daß die frühe Sammlungsgeschichte selber in der Revolutionsforschung ein wenig bekanntes Terrain ist.53 Trotz einer wahren Flut von Dokumentationen, Ausstellungen und Kolloquien zum Thema Printmedien oder Bildpublizistik ich möchte fast sagen: deren Entdeckung war das Thema des Bicentenaire 54 - stehen Detailuntersuchungen aus. Wie war der Markt organisiert, wer sammelte sie, wurden die Stiche aufgehängt, wie lange erfüllten sie ihren Zweck usw.?55 Michel Vovelle, der selber fünf unschätzbare, aber auch unbezahlbare Bände „Images et recit" zur Französischen Revolution herausgegeben hat, würdigt zwar den „neuen Blick", den Bildsatire und Karikatur diesbezüglich erlauben; aber auch er stellt fest: „[...] une histoire de l'imaginaire, ou des mentalites [...] commence ä peine [...]."56 Ob nun Goethes Auswahl die Sammlung chronologisch auf die nachjakobinische Zeit hin profilierte oder ob der Sammler selber schon eine Vorauswahl getroffen hatte, ist schwer zu entscheiden. Die Stiche des Directoire entzogen sich auch deswegen dem Blick der Revolutionsforschung, weil
53 Es hat durchaus zeitgenössische Sammler der revolutionären Flugschriften gegeben; z.B. die „Histoire des caricatures de la revolte des Francis" (Paris 1792) von Jacques-Marie Boyer-Bruns, genannt Boyer de Nimes. 54 Ich gebe nur eine Auswahl: Philippe Bordes u. Regis Michel (Hg.): Aux Armes & aux Arts. Les Arts de la Revolution 1789-1799, Paris 1988; Antoine de Baecque: La caricature rfvolutionnaire, Paris 1988; Klaus Herding u. Rolf Reichardt (Hg.): Die Bildpublizistik der Französischen Revolution, Frankfiirt/M. 1989; Claude Langlois: La caricature contre-r6volutionnaire, Paris 1988; Politique et pol6mique. La caricature franfaise et la R6volution, 1789-1799. Catalogue d'une exposition organis6e conjointement par l'Universit6 de Califomie ä Los Angeles et la Biblioth£que nationale de France, Paris, däns le cadre de 1789-1989, Los Angeles 1988; Michel Vovelle: La R6volution fran^aise. Images et rfcit. 1789-1799, 5 Bde., Paris 1986. 55
Vgl. De Baecque: Kap. Le commerce de la caricature, in: ders.: La caricature r6volutionnaire, S. 23ff. u. Robert Darnton u. Daniel Roche (Hg.): Revolution in Print. The Press in France 1775-1800, Beikely - Los Angeles - London 1989. 56 Michel Vovelle: Un nouveau regard sur la Rivolution, Vorw. zu: De Baecque: La caricature r6volutionnaire, S. 9-11, hier S. 9.
13.3. Bildsatire 1795-1797
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sie weder revolutionär noch gegenrevolutionär waren,57 eher „postrevolutionär".
Abb. 17: v. Bergen: Les Impossibles. Journal de Francfort N: 124, Londres, 1796/97
Erst die Überwindung des ideologischen Gegensatzes von „rechts" und „links" dürfte auch dazu gefuhrt haben, daß das Directoire nicht mehr „le parent pauvre de l'historiographie r6volutionnaire"58 darstellte. Die Chance, daß man eine regelrechte Kunstsammlung von Karikaturen anlegte, war in der Tat nach dem pseudorevolutionären Kunstvandalismus der Terreur erheblich gewachsen.59 Zum einen war die ideologische Gefährdung des Sammlers oder Händlers geringer geworden, der zuvor - wenn er Bilder mit der falschen Couleur verkaufte oder sammelte - mit der Guillotine bedroht war; man weiß von Fällen, in denen aus eben dieser Angst heraus ganze Kollektionen verbrannt wurden. Zum anderen hielt der Neoklassi-
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Daher ist die Auswahl, die Claude Langlois (La caricature contre-revolutionnaire) getroffen hat, für die Goethesche Perspektive auch uninteressant; er datiert den (späten) Höhepunkt der gegenrevolutionären Bildpublizistik „dans les dix mois qui ont precddi la chute de la royauti" (ebd., S. 7); die Republik wurde am 22. September 1792 ausgerufen. 58 Francois Füret u. Denis Richet: La R6volutionfran